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German Pages [352] Year 2008
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft
Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler
Band 179
Vandenhoeck & Ruprecht
Stadt der Schieber Der Berliner Schwarzmarkt 1939–1950
von
Malte Zierenberg
Vandenhoeck & Ruprecht
Umschlagabbildung Schwarzmarkt in Berlin, 1945. Fotograf: Charles Haacker, © Bettmann / CORBIS
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abruf bar. ISBN 978-3-525-35111-6 Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, Köln.
© 2008, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehrund Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: OLD-Media OHG, Neckarsteinach. Druck und Bindung: b Hubert & Co., Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Verzeichnis der Diagramme, Grafiken, Karten und Abbildungen . . . . .
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Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I Vorgeschichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
1 Erfahrungsräume und Tausch-Semantiken in Berlin nach 1918 . . . .
37
2 Konsumräume der Zwischenkriegszeit, Interaktionsbedingungen und neue Marktgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
Teil II Tauschnetzwerke der Kriegszeit. Der »Fall Martha Rebbien« . .
85
1 Die Teilnehmer und ihre Praktiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Ein Netzwerk entsteht. Vertrautheit, Vertrauen und Kontakte. . 1.2 Netzwerkpositionen, Professionalisierung und Tauschtechniken 1.3 Sozialprofile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Tauschkultur als Wandel sozialer Beziehungen . . . . . . . . . . . . .
86 90 96 101 107
2 Tauschräume und Bewegungsmuster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Viertelstrukturen und Begegnungsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Schwarzhandelszentren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Waren aus ganz Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
123 125 137 144
3 »Illegale« Währungen, Waren und Buchhaltung . . . . . . . . . . . . . . .
151
4 Die üblichen Verdächtigen. Schieberstereotype der Kriegszeit . . . . .
163
Teil III Zerstörung, Orientierungslosigkeit und neue Ordnungsmuster. Der Wandel der Schwarzmarktlandschaft im Übergang vom Krieg zum Nachkrieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
177 5
Teil IV Schwarzhandel zwischen Kriegsende und Währungsreformen
201
1 Neue Räume. Die öffentlichen Schwarzmarktplätze. . . . . . . . . . . . . 1.1 Zentrale Orte. Verteilungslogiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Unsicherheit und neue Routinen. Praktiken auf den Schwarzmarktplätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201 201
2 Machtvakuum und neue Schwarzmarktpolitiken . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Strafverfolgung und Symbolpolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Legalisierung und erste Konfrontationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Konflikte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
229 235 239 242
3 Neue und alte Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Russische und amerikanische Besatzungssoldaten. Die Sieger als Tauschpartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Ein Markt der »kleinen Leute«. Der Schwarzmarkt und die soziale Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
246 246
4 Schwarzmarktwaren der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Internationale Warenströme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Bedeutende Sachen: Schwarzmarktwaren als Vertrauensmedien 4.3 Die Zigarette als Kollektivsymbol der Schwarzmarktzeit. . . . . .
268 269 275 279
Teil V Geschichten vom Neuanfang. Die Straßenökonomie zwischen Währungsreformen und »Wirtschaftswunder« . . . . . . . . . . . .
289
1 »Große Politik«, alltägliches Zeitmanagement und neue Währungspraktiken. Der Berliner Schwarzhandel unter dem Einfluss der Währungsreformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
289
2 Der Schwarzmarkt als Politikum. Die Debatten um eine neue Wirtschaftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Drängende Probleme. Von Preisen und Gerechtigkeit . . . . . . . . 2.2 Alte Probleme in neuem Gewand. Die Planwirtschaft . . . . . . . . 2.3 Ein erfolgreicher Ordnungsvorschlag. Die Soziale Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
212
259
298 299 303 307
Schluss: Schwarzhandel als radikale Markterfahrung . . . . . . . . . . . . . .
317
Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
325
Orts-, Sach- und Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
347
6
Verzeichnis der Diagramme, Grafiken, Karten und Abbildungen
Diagramm 1: Anteile kleinbetrieblicher Berliner Handelsgewerbebetriebe 1925 (in %) Diagramm 2: Alterstruktur weiblicher Angeklagter in Fällen von KWV Diagramm 3: Anteile einzelner Berufsgruppen in Fällen von KWV/ weibliche Angeklagte Diagramm 4: Alterstruktur männlicher Angeklagter in Fällen von KWV Diagramm 5: Anteile einzelner Berufsgruppen in Fällen von KWV/ männl. Angeklagte Diagramm 6: Wohnbereiche Berliner Schwarzhändler 1939–1945 Diagramm 7: Anteile einzelner Schwarzhandelswarengruppen nach Transaktionen Diagramm 8: Sozialprofil männlicher Verurteilter / Kammergericht 1949–1952 Diagramm 9: Sozialprofil weiblicher Verurteilter / Kammergericht 1949–1952 Grafik 1: Grafik 2: Grafik 3: Grafik 4: Grafik 5: Grafik 6: Grafik 7: Karte 1: Karte 2: Karte 3: Karte 4: Karte 5:
Verschiebungen der Angebot-Nachfrage-Relation bei reguliertem Angebot Das Netzwerk Martha Rebbien Netzwerk Martha Rebbien / Cluster 1 Netzwerk Martha Rebbien / Cluster 2 Bordell-Netzwerk Alexanderstraße Schematische Darstellung des F-Formations-Systems aus Abb. 5 Verteilungssystem für Razno-Zigaretten Wohn- und Tauschräume des Rebbien-Netzwerkes Verteilung der Berliner Schwarzmarktplätze nach 1945 Ungefährer Verlauf der »Schwarzmarkttour des Schwarzhändlers Heinz F. durch das Zentrum Berlins Transnationale Warenströme und lokale Verteilung Transnationale Warenströme und lokale Verteilung (Berlin)
70 103 104 105 106 138 162 266 267
78 88 92 92 148 223 244 126 202 211 274 275 7
Abbildung 1: Schwarzer Markt an der Fahrkartenverkaufsstelle des Hochbahnhofes Schönhauser Allee (Prenzlauer Berg) Abbildung 2: Razzia auf dem Berliner Schwarzmarkt (Ort unbek., April 1946) Abbildung 3: Schwarzer Markt im Bezirk Wedding (Müllerstraße) Abbildung 4: Schmuckträgerinnen auf einem Schwarzmarkt im Bezirk Zehlendorf Abbildung 5: Händler-Gruppe auf Schwarzem Markt in Berlin (um 1946) Abbildung 6: Warenprüfung und Verhandlung auf dem Berliner Schwarzmarkt Abbildung 7: Dresscode und Körperposen auf dem Berliner Schwarzmarkt 1948 Abbildung 8: Kinder verkaufen Zigaretten auf dem Schwarzmarkt in Schöneberg
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210 216 218 220 222 223 283 284
Vorwort Die Berliner Schieber begleiten mich nun schon einige Jahre. Doch dabei waren sie nie allein. Viele Kollegen und Freunde haben mir zugehört, mich bestärkt oder auch mal eine Augenbraue hochgezogen, wenn ich – wieder mal – eine „spannende“ Geschichte ausgegraben oder eine mehr oder weniger faszinierende Idee entwickelt hatte. Dafür möchte ich mich bedanken. Ohne sie wäre es nicht gegangen. Bedanken möchte ich mich bei Hans-Peter Ullmann, der die Arbeit betreute, und bei Margit Szöllösi-Janze, die am Historischen Seminar der Universität zu Köln das Zweitgutachten übernahm. Die Herausgeber der Kritischen Studien haben das Manuskript sorgfältig gelesen, mit Anmerkungen versehen und schließlich – nach einer Überarbeitung – in die Reihe aufgenommen. Auch dafür meinen Dank, insbesondere an Helmut Berding und Paul Nolte. Die Fritz Thyssen Stiftung, die Schmölders Stiftung und das DHI in London bewilligten großzügig Forschungsgelder und Stipendien. Der Verlag Pharus-Plan, die Berliner Geschichtswerkstatt, das Deutsche Historische Museum und das Landesarchiv Berlin haben mir das Recht eingeräumt, Bild- und Kartenmaterial für diesen Band zu verwenden. André Krischer – Freund und Kollege in einer Person – nahm mich in seinem Münsteraner Domizil auf, als ich ein bisschen zwischen den Stühlen saß. Dafür und für alles andere danke ich ihm herzlich. Am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam fand ich nach den Kölner Jahren vorübergehend eine neue akademische Heimat. Für die Anregungen, die ich hier erfahren durfte, danke ich stellvertretend dem Direktor des ZZF, Martin Sabrow, und Thomas Lindenberger. Viele Kollegen haben Papiere von mir gelesen, meinen Vorträgen gelauscht und Verbesserungsvorschläge gemacht. Ich kann hier nur einige wenige nennen. Bedanken möchte ich mich bei: Hartmut Berghoff, Till van Rahden, Molly Loberg, Aribert Reimann, Roger Chickering, Marcus Funck, Thomas Welskopp und Sven Reichardt. Christof Blome, Philipp Godron, Peter Hesse, Christian Kehrt, der schon erwähnte André Krischer, Tine Kutschbach, Alexander Meissner und Ute Zauft haben mich all die Jahre begleitet. Ein herzlicher Dank an Euch alle. Kerstin Poehls und Annelie Rammsbrock haben überdies mit angepackt, als es auf die Zielgerade ging, haben korrigiert und mich unterstützt. Danke dafür. 9
Ein ganz besonderer Dank geht an Thomas Mergel, der von allen Beteiligten wahrscheinlich die meisten Schiebergeschichten gehört, kommentiert und am Ende sichergestellt hat, dass daraus auch ein Manuskript werden konnte. Danken möchte ich auch meiner Familie: Julia, Oliver, Yvonne, Fynn, Paula und Hildegard Zierenberg. Elfriede, Lucy und Harro Lange gehören schließlich irgendwie auch dazu. Mein herzlicher Dank an Euch alle. Bei Danuta Kneipp kann ich mich eigentlich nicht bedanken. Es ist einfach schön, dass es sie gibt. Widmen möchte ich dieses Buch meinen Eltern: Gunda und Georg-Hartmut Zierenberg. Berlin, im Mai 2008
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Malte Zierenberg
Einleitung
Der wahre Krieg ist ein Kult der Märkte. Organische Märkte, von den Professionals sorgsam zu »schwarzen« stilisiert, schießen aus dem Boden, wohin man blickt. Besatzungsgeld, Sterlings und Reichsmark zirkulieren weiter durch ihre sterilen Marmorgrüfte, keimfrei wie klassisches Ballet. Doch draußen bei den Leuten kommen die gültigen Währungen in Umlauf. (Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel) 124536 Ta s c u h (Berlinerin, einen Tippfehler in ihrem Erinnerungsbericht korrigierend) Die Meinung weiter Kreise – und viele Anzeichen sprechen allerdings dafür – geht dahin, dass Schieber in der Regel zum Schluss vom Teufel geholt werden. (Max Brinkmann, Kleiner Knigge für Schieber)
Und noch ein »9. November«. Ein »kleinerer« vielleicht, jedenfalls ein anderer. Am 9. November 1944 wurde die Schwarzhändlerin Martha Rebbien in ihrer Berliner Wohnung verhaftet. Zu dieser Zeit hatte sie bereits vier Jahre lang Erfahrungen mit illegalen Geschäften gesammelt, hatte erste Tauschpartner gefunden, die Regeln des Berliner Schwarzmarkts gelernt und schließlich ein regelrechtes Verteilungssystem aufgebaut. Dieses Tauschnetzwerk von Martha Rebbien dient der vorliegenden Arbeit in weiten Teilen als roter Faden. Indem sie die Geschichte des Netzwerks in seine historischen Kontexte einbettet, schreibt sie nicht nur die Geschichte einer »Schieberin«, sondern auch die Geschichte eines Marktes, die Geschichte seiner Teilnehmer und ihrer Praktiken, der ökonomischen Makrobedingungen und einzelner alltäglicher Anpassungsleistungen. Und sie schreibt zugleich die Geschichte einer Stadt und ihrer Bewohner im Übergang vom Krieg zum »Nachkrieg«. Das bedeutet eine Erweiterung der Perspektive. Denn bislang überwiegt in der Historiografie der Blick auf das anachronistisch anmutende Schwarzhandelsgeschehen der Zeit nach dem Kriegsende. Doch der illegale Handel wurde – nachdem erste Ansätze bereits Mitte der dreißiger Jahre in Berlin erkennbar geworden waren – mit Kriegsbeginn zu einem Massenphänomen. In der Folgezeit wandelte sich sein Erscheinungsform: Bis zum Winter 1944/45 war er vor allem eine Praxis in geschlossenen Räumen mit überschaubaren Teilneh11
merzahlen. Martha Rebbiens Tauschgeschichte legt davon Zeugnis ab. Spätestens ab dem November 1944 fand der Handel jedoch auch auf den Straßen und Plätzen Berlins statt. Damit änderten sich zugleich die Teilnahmevoraussetzungen. Denn jetzt waren keine Verabredungen zum Tausch mehr notwendig, konnte der Auf bau komplexer Tauschnetzwerke entfallen. Wer etwas tauschen wollte, musste lediglich einen der öffentlichen illegalen Marktplätze aufsuchen, die sich über das gesamte Stadtgebiet verteilten. Die Berliner Schwarzmärkte der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs sind einerseits bekannte und oft besuchte »Erinnerungsorte«. Bilder von tauschenden Deutschen und Angehörigen der alliierten Besatzungstruppen vor dem Brandenburger Tor oder den Ruinen des Reichstags sind Bestandteile des kollektiven Gedächtnisses geworden. Sie bilden wiederkehrende Motive in den Erzählungen und Reportagen über das »Leben in den Trümmern«. Andererseits haben Historiker gerade diesen Ort gemieden und seine Entstehungsbedingungen während des Krieges vernachlässigt. Nicht, dass Schwarzmärkte in der Historiografie überhaupt keine Rolle spielten. Aber zumeist werden sie bloß erwähnt, so als seien sie wegen ihres flüchtigen, übergangshaften Charakters keiner eingehenden Überprüfung wert.1 Bis auf wenige Ausnahmen blieben sie deshalb zwar bekannte, aber unerforschte Orte der Zeitgeschichte.2 Das hat nur zum Teil mit dem schillernden Charakter der Märkte zu tun, der irgendwo zwischen Anrüchigkeit und hollywoodreifem Abenteurertum verortet wird. In erster Linie wird man hier einen generellen Trend der Zeitgeschichtsschreibung zur Erklärung heranziehen müssen: Den unmittelbaren Nachkriegsjahren ist lange Zeit eine stiefmütterliche Behandlung widerfahren; 1 Vgl. z.B. jüngst Wolfrum, S. 33; Görtemaker, S. 29; etwas ausführlicher die Darstellung in Kleßmann, Staatsgründung, S. 46ff. Vgl. für die DDR Mählert, S. 27; Staritz, S. 55; bei Weber fehlt jeder Hinweis auf die »Schwarzmarktzeit«. 2 Schwarzhandel und Schwarze Märkte, stellte Wildt, Beginn, S. 278, 1995 fest, gehören zu den »weißen Flecken auf der historischen Landkarte«. Das trifft nach wie vor zu. Vgl. die bislang einzige Monografie zum Thema von Boelcke; für Berlin liegt jetzt die umfassende, allerdings auf die Nachkriegszeit beschränkte Arbeit von Steege vor, die den Berliner Schwarzmarkt als Handlungsfeld und Austragunsort von Konflikten unter den Vorzeichen des »Kalten Krieges« analysiert; einzelne Aspekte bei Wildt, Beginn; ders.,Traum; Hudemann, S. 75ff.; Erker; Bühre; Haeser; Gries, Rationengesellschaft; Link. Vgl. zur Bekämpfung des Berliner Schwarzmarkts den Aufsatz von Roesler, Black Market. Als Gegenstand einer historischen Analyse von Kriminalitätsdiskursen Mörchen. In den Arbeiten zur Berliner Stadtgeschichte kommt der Schwarzmarkt nur am Rande vor. Vgl. etwa Large, S. 146. Vgl. für das Ruhrgebiet Niethammer, S. 61f.; vgl. auch die zeitgenössischen Arbeiten: zu den Ursachen Aderbauer, zu den Folgen Bay; ferner Meyer und Kromer. Bader behandelt den Schwarzmarkt nicht als eigenen Gegenstand, verweist aber immer wieder etwa im Zusammenhang mit »Frauenkriminalität«, Amtsvergehen oder Hehlerei auf seine Bedeutung. Vgl. auch die Erhebungen bei Thurnwald; eine erste, mit ethnologischem Blick auf den Markt und seine kriminelle Alltagswelt arbeitende Studie bietet Schoutz; zur zeitgenössischen Ökonometrie Chelmicki und die Kritik bei Hudemann, S. 74. Differenzierend hingegen schon die Arbeiten von Mendershausen.
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vor allem bei der Auseinandersetzung mit Fragestellungen, die abseits von Politik- oder Wirtschaftsgeschichte das Terrain erkunden. Diesen blinden Fleck haben Forschungen zu makroökonomischen Fragen wie etwa der Rekonstruktion auf wirtschaftlicher Ebene naturgemäß nicht vermeiden können. Sie haben – im Gegenteil – die Debatten um die Anfangsjahre der Bundesrepublik lange weitgehend dominiert, dabei ironischerweise die zeitgenössische Fixierung auf das Paradigma des wirtschaftlichen Aufstiegs wiederholt und damit das Augenmerk von einer Kulturgeschichte der Übergangszeit abgelenkt.3 Die in jüngerer Zeit intensivierte Erforschung der »modernen fünfziger Jahre« in Ost wie West im Zeichen von »Konsum- und Wohlstandsgesellschaft« hat die unmoderne »Trümmerzeit« lediglich als negativen Ausgangspunkt postuliert, ohne sich ihm eingehender zu widmen.4 Dabei war spätestens mit den Arbeiten des Instituts für Zeitgeschichte, welche die sozialgeschichtlichen, für eine politische Ereignisgeschichte subkutanen Kontinuitätslinien der Jahre zwischen »Stalingrad« und »Währungsreform« thematisierten, ein entsprechender Zeitraum abgesteckt und ins Blickfeld gerückt worden.5 Doch die Arbeiten, die diesem Ansatz folgten, haben die Lücke nicht vollständig schließen können, zumal mit dem Stichwort »Währungsreform« zwar ein Verweis auf die Bedeutung einer Konsumgeschichte des Alltags der vierziger Jahre erfolgte, die Erforschung dieses Themas aber nach wie vor ein Desiderat bildet.6 Dabei lassen sich »die außer Rand und Band geratenen Verhältnisse« dieses »epochalen Einschnitts«7 der deutschen Geschichte gerade in Bezug auf eine Ökonomie des Alltags bestimmen, die sich nicht alleine mit den Kategorien einer Wirtschaftsgeschichte erschöpfend beschreiben lässt, sondern den Umbruch als einen umfassenden Prozess der Aushandlung und Neu-Bewertung von Beziehungen zwischen Personen, Waren, Stadt-Räumen und gesellschaftlichen Normen begreift. Zu Recht betonen die Herausgeber des »Stalingrad«-Bandes, dass der Übergang von der Kriegs- zur Nachkriegszeit bei allen Merkmalen einer Ausnahmesituation nicht nur als »Episode« verstanden werden kann. Viel zu stark verbanden sich für die Zeitgenossen die Ereignisse der vierziger Jahre mit dem Vorangegangenen; vor allem die Kriegs- und Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs bildete als »Erfahrungsraum« eine vielfach Handlung leitende Grundlage für Praktiken, Wahrnehmungen und Einstellungen der folgenden Jahre. Als der Berliner Senat ältere Bewohner der Stadt in den siebziger Jahren im Rahmen eines Wettbewerbs dazu aufforderte, ihre Erinnerungen an die Nachkriegszeit aufzuschreiben, war das Echo groß. In den zahlreichen Erinne3 Vgl. die Zusammenfassung der Debatte um »strukturalistische« vs. »historistische« Deutungen des Wirtschaftsaufschwungs bei Wehler, S. 966ff. 4 Vgl. Schildt u. Sywotteck. 5 Broszat. 6 Gries, Rationengesellschaft. 7 Broszat, Einleitung, S. XXVf.
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rungsberichten spielte neben anderen Themen der Schwarzmarkt eine zentrale Rolle.8 Und als 1989 der »wilde Handel« in Gestalt der sogenannten »Polenmärkte« die Brachen des ehemaligen Mauerstreifens besiedelte, diskutierten offizielle Stellen wie Leserbriefschreiber über die neuen Marktflecken, indem sie auf Deutungsmuster rekurrierten, die ihren Bezug zu den Schwarzmärkten der vierziger Jahre nicht verleugnen konnten.9 Neue Impulse zur Erforschung der Übergangszeit kommen in jüngerer Zeit vor allem aus den USA. Diesen Arbeiten geht es um eine Kulturgeschichte der Kriegs- und Nachkriegszeit, die etablierte Erzählmuster auf bricht und einzelnen Akteursgruppen, ihren Handlungen und Wahrnehmungen mit Blick auf historische »Strukturen« größeres Gewicht einräumen will.10 Damit rücken neue Themen in den Fokus der deutschen Zeitgeschichte und andere Periodisierungsvorschläge, die das Verhältnis von Krieg und »Nachkrieg« neu zu bestimmen suchen. Unter diesen Vorzeichen konnte auch der Band von Klaus Naumann eine Reihe neuerer deutscher Arbeiten versammeln.11 Die vorliegende Arbeit widmet sich dem Schwarzhandel in Berlin zwischen 1939 und 1950 und analysiert den illegalen Handel der Berlinerinnen und Berliner, indem sie die Wirtschaftsgeschichte eines Marktes als Kulturgeschichte begreift.12 Die politische Entscheidung, durch umfangreiche Reglementierungen den Warenverkehr im Sinne der NS-Kriegswirtschaft zu lenken, setzte bereits ab 1936 den Entscheidungsspielräumen der Konsumenten erste Grenzen. Das zu Beginn des Krieges installierte Rationierungssystem radikalisierte diese Entwicklung.13 Die Einschränkungen hatten insofern eine egalisierende Wirkung, als sie ohne Ansehen der Person alle Zuteilungsempfänger bestimmten Gruppen zuordneten. Viele empfanden diesen Vorgang als soziale Deklassierung. Mit Empörung reagierten sie auf die Subsumierung unter die Kategorie »Normalverbraucher«. Außerdem setzte mit der Etablierung des Rationierungssystems jener Prozess ein, den Rainer Gries als Ausbildung einer »Vergleichsmentalität« bezeichnet hat.14 Das argwöhnische Beäugen anderer und im Gefolge eine große Anzahl von Denunziationen gehörten fortan zur Tagesordnung. Im Zuge einer »prophylaktischen« Politik der Herrschaftssicherung hatten die Entscheidungsträger in Politik und Justiz einen umfassenden Katalog neuer Straftatbestände formuliert, welche die Umgehung der Rationierungsvorschriften als »Kriegswirtschaftsverbrechen«, »Preisverstöße« oder Verge8 Vgl. den Bestand F Rep. 240 Acc. 2651 (Zeitgeschichtliche Sammlung) des Landesarchivs Berlin (LAB). 9 Weber, S. 110–117. 10 Schissler; Moeller, Germany. 11 Naumann. 12 Vgl. Berghoff u. Vogel. 13 Schmitz, S. 41ff. 14 Gries, Rationengesellschaft.
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hen gegen die »Verbrauchsregelungsstrafverordnung« markierten. Gleichwohl berücksichtigte die Ausgestaltung des Versorgungssystems die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg, als insbesondere die Erwartungshaltungen »ärmerer Berlinerinnen« die staatlichen Stellen vor neue Herausforderungen gestellt und das Versorgungsthema als wesentlichen Punkt auf der politischen Agenda langfristig verankert hatten.15 Diesem Spannungsfeld von Konsumentenerwartungen und Herrschaftsstabilisierung trugen auch die maßgeblichen Definitionen und Verordnungen Rechnung, die den Rahmen für weitere diskursive Aushandlungen über alles das absteckten, was seitdem unter dem Oberbegriff »Schwarzhandel« gefasst wurde. Zu Beginn des Krieges formuliert, blieben sie in Berlin – in zum Teil modifizierter Form – bis 1950 in Kraft.16 Beides zusammen, das Bemühen um eine umfangreiche und »gerecht« organisierte Versorgung einerseits, die Verfolgung von Zuwiderhandlungen andererseits, sollten die »Heimatfront« stabil halten und nach dem Krieg die Rückkehr zu einem »normalen« Wirtschaftsleben ermöglichen. Beträchtliche Teile von Stadtbewohnern, »Fremdarbeitern« und Angehörigen der alliierten Armeen aber übertraten die Verordnungen und Gesetze. Am bestehenden Zuteilungssystem vorbei tauschten sie Waren aller Art und schufen damit den wachsenden Sektor einer »informal economy«. Den genauen Umfang dieser illegalen Märkte kennt niemand. Er dürfte in jedem Fall beträchtlich gewesen sein. Zeitgenössische Schätzungen gingen davon aus, dass in Berlin zeitweise mindestens ein Drittel, bei einzelnen Warengruppen bis zur Hälfte aller Waren und Dienstleistungen im Schwarzhandel umgeschlagen wurden. Solche Zahlen illustrieren die große Bedeutung, die dem Tausch alleine schon wegen der gehandelten Mengen und der großen Zahl an Transaktionen zukam.17 Doch der Stellenwert des Berliner Schwarzhandels lässt sich nicht allein im Rückgriff auf quantitative Parameter erfassen. Denn der neu entstandene Markt kannte auch eigene Regeln. Im Vergleich mit liberalen Friedenswirtschaften etablierte sich ein System des alltäglichen Wirtschaftens, das »normale« Vorgänge des Einkaufens ablöste und die Marktteilnehmer zur Einübung neuer Praktiken zwang. An die Stelle des Kaufens im Einzelhandel trat der Tausch, der zu einer alltäglichen Tätigkeit wurde und zugleich neue soziale Trennlinien schuf, indem er diejenigen privilegierte, die über nachgefragte Tauschgegenstände verfügten. Es bildete sich eine spezifische Form von Tauschkultur heraus, die das Alltagsleben im Berlin der vierziger Jahre prägte. Diesem Phänomen und seiner Verortung im Kontext einer allgemeinen Geschichte der Übergangszeit gilt das Interesse der Arbeit. Dabei wird hier in dreierlei Hinsicht Neuland betreten: Durch eine vom »ethnologi15 Davis. 16 Reuß, S. 126ff. 17 »Die Wirtschaft« (1948/4), S. 120. Vgl. Roesler, Black Market, S. 92.
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schen Blick« inspirierte Perspektive auf Phänomene der Zeitgeschichte, durch die Fokussierung auf einen Bereich städtischer Konsum- und Alltagsgeschichte der Kriegs- und Nachkriegszeit und durch den Anspruch, beide Aspekte in einem umfassenden Konzept von Tauschkultur auf einen tragfähigen Nenner zu bringen, das sich als Beitrag zu einer Kulturgeschichte des Wirtschaftens versteht. Der Begriff der Tauschkultur umschließt in diesem Zusammenhang jene ökonomischen, politischen und kulturellen Aushandlungsprozesse, die mit den Tauschvorgängen zwischen den Marktteilnehmern verbunden waren. Die Berliner Tauschkultur manifestierte sich auf mehreren Ebenen und in unterschiedlichen Kontexten: Die Praxis des Tauschens organisierte Raumund Zeiterfahrungen der Berlinerinnen und Berliner neu, führte zur Einübung alternativer Konsumpraktiken, bildete neue personale Beziehungen oder Netzwerke aus und veränderte das Verhältnis zu Waren und Währungen; die ökonomische Praxis reagierte auf Wechsel der politischen Verhältnisse und militärischen Ereignisse, bildete einen Fixpunkt bei den Begegnungen zwischen Verlierern und Siegern des Krieges und schuf mehrere Teilöffentlichkeiten, die den Alltag im Berlin der Kriegs- und Nachkriegszeit prägten. Zudem verhandelten die Berlinerinnen und Berliner mit Bezug auf den Tausch und seine Randerscheinungen Fragen nach Loyalität und Illoyalität, Geschlechterrollen und Wirtschaftsformen. In der Rede über den Schwarzmarkt spiegelten sich damit eine ganze Reihe von Krisendiskursen der Übergangszeit, die das prägende Alltagsphänomen der vierziger Jahre in Berlin als Projektionsfläche nutzten. Erstes Ziel der Arbeit ist es, den Spuren einer Tauschkultur nachzuspüren, die auf der Ebene einer Alltagsgeschichte liegen. Ins Blickfeld rückt damit die in mancherlei Hinsicht »unmodernste« Zeit der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Weder davor noch danach waren die Bewohner deutscher Städte auf solche Art und Weise aus der modernen Zivilisation heraus katapultiert worden, hinein in eine Zeit, für die Beobachter den Vergleich mit »dem Naturzustand« einer Gemeinschaft fanden, in dem der Mensch dem Menschen wieder ein Wolf geworden sei. Ein Topos der Interpretationen der fünfziger Jahre hebt vor diesem Hintergrund auf die starken Normalitätssehnsüchte der Zeitgenossen ab. Ein anderer beschreibt das Deutschland dieser Jahre als Ort einer ökonomischen Aufstiegszeit, die nur mit dem Attribut des »Wunders« adäquat zu bezeichnen sei. Auch wenn, insbesondere was Periodisierungsfragen und die Ambivalenzen der fünfziger Jahre angeht, Differenzierungen angebracht sind, können beide Interpretationen nach wie vor gute Argumente anführen.18 Was aber bildete den zeitgenössischen Erfahrungshintergrund, vor dem solche Entwicklungen in dieser Form wahrgenommen werden konnten? Wie genau sah diese dann doch wohl unmoderne, unsichere und unnormale 18 Vgl. zu Differenzierungen Wildt, Beginn.
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Phase der deutschen Geschichte aus? Die Analyse des Berliner Schwarzhandels der Kriegs- und Nachkriegszeit als Kontinuum des Alltags ermöglicht es, Antworten auf solche Fragen zu finden. Um sowohl das Mikrophänomen des Berliner Tauschalltages wie auch die Kontextualisierungsleistungen im Blick zu behalten, verschränkt die Arbeit zwei Perspektiven. Einerseits orientiert sie sich in heuristischer Absicht am Ziel einer möglichst »dichten Beschreibungen« des Berliner Tauschalltages während der Kriegs- und Nachkriegszeit, ohne diesen Anspruch – vor allem wegen der Quellenlage – immer voll einlösen zu können. Das Tauschgeschehen des Händlerkreises um Martha Rebbien bildet dafür den einen, eine gewissermaßen mikroskopisch verfahrende Analyse des Handels auf den öffentlichen Tauschplätzen der letzten Kriegs- und der Nachkriegszeit den anderen Ausgangspunkt. Andererseits geht die Arbeit den dabei gewonnenen Spuren nach, indem sie systematisch politische, ökonomische und kulturelle Kontexte analysiert. Auf der Mikroebene rücken das Leben von kleinen und großen »Schiebern« und »Schieberinnen«, ihre Praktiken und Deutungen, ihre alltäglichen Lebensumstände und Bewältigungsstrategien in den Mittelpunkt. Im Sinne einer ethnologisch geschulten Analyse soll die Berliner Tauschgesellschaft hier in ihrer Fremdartigkeit zur Geltung kommen. Was, wenn nicht Phänomene wie Naturaltausch oder Straßenhandel, könnte dafür im eigentlich doch »modernen« 20. Jahrhundert besser geeignet sein? Die anachronistische Situation des Tauschens – etwa unter freiem Himmel am Alexanderplatz oder auch in Kneipen, Wohnungen und am Arbeitsplatz – wird deutlich, wenn man sich den Kontrast etwa zu den Warenhauspalästen der Jahrhundertwende, aber auch zu den Bedingungen des städtischen Einkaufens im Zeitalter des Einzelhandels vor Augen führt.19 Diese Situation markiert den Ausgangspunkt einer Analyse der Berliner Tauschgesellschaft, indem sie das Vorhaben erleichtert, einen Teil der »deutsche(n) Vergangenheit nicht als vertraute Vorgeschichte zu betrachten, sondern [ihn] methodisch zuerst einmal als (…) fremden Gegenstand zu konzeptualisieren«.20 Das erste Anliegen der Arbeit steht deshalb unter dem Vorzeichen einer historischen Wendung des Blicks auf das kulturell Fremde.21 19 Vgl. Spiekermann, Basis, und ders., Neighbour. 20 Wehler, Kulturanthropologie, S. 138. Vgl. ferner Sokoll sowie den darauf bezogenen Kommentar von Wehler in Mergel u. Welskopp, S. 359. 21 Vgl. zum Selbstverständnis der Ethnologie als Wissenschaft vom kulturell Fremden Kohl. Eine Skizze des hier vorgestellten Ansatzes bei Zierenberg, Tauschen. Zum Konstruktionscharakter der historischen Wissenschaft Lorenz, Konstruktion. Die Gefahr einer reinen und damit verengenden Konzentration auf das »Fremde in der eigenen Geschichte, das Sperrige und Eigensinnige« (van Dülmen, S. 705) im Hinblick auf die »Gegenwart«, wie sie Nolte, Simmel, S. 231f., befürchtet, scheint mir angesichts der immer notwendigen Historisierung nicht wirklich gegeben. Vielmehr gewinnt die Geschichtswissenschaft durch die Einbeziehung anthropologischer oder ethnologischer Konzepte neue Perspektiven hinzu, ohne damit gezwungen zu sein, den
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Dieser Ansatz läuft Gefahr, sich mit bereits des Öfteren formulierten Einwänden konfrontiert zu sehen. Das Hauptargument der Gegner eines solchen Verfahrens hebt dabei auf die mit einer »dichten Beschreibung« verbundene Gültigkeit der gewonnenen Erkenntnisse für den singulären Untersuchungsfall ab: »Berlin ist eben Berlin«, könnte man in Abwandlung formulieren;22 und erst der systematisierende Vergleich mit anderen Fällen bzw. Städten könnte den Ausweg aus diesem Singularitätsdilemma weisen.23 Dieser Einwand ist einerseits berechtigt. Sprachregelungen auf den Berliner Schwarzmärkten z.B. wichen von denen in anderen Städten ab. Andererseits lassen sich am Beispiel der Berliner Märkte Untersuchungsfelder aufzeigen, die im zweiten Schritt der Kontextualisierung auf gesellschaftliche Phänomene der Übergangszeit bezogen werden können. Bei aller Vorsicht gegenüber Generalisierungsleistungen ist es doch nicht von der Hand zu weisen, dass der historische Mikrokosmos nicht als abgeschlossene Entität jenseits seiner größeren »Umwelt« existiert, wie einschlägige Studien eindrucksvoll gezeigt haben. Wie das Große mit dem Kleinen zusammenhängt, und vice versa: was das Kleine über das Große, was der Schwarzmarktalltag in Berlin über die deutsche Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft aussagt – davon handelt diese Arbeit. Sie greift damit die Ansätze von Stadtgeschichten des Ersten Weltkriegs und der Inflationszeit wie auch von Regionalstudien über die vierziger Jahre auf, ohne die berlin-spezifischen Entwicklungen (wie z.B. die besondere Rechtslage, den intersektoralen Handel, die Blockade oder die Währungsreformen) zu vernachlässigen.24 Dabei zeigt die Beschreibung der Tauschbeziehung zwischen zwei oder mehr Partnern zunächst den Vorgang: z.B. die Kontaktaufnahme, Verabredungen zum erneuten Treffen und ein erstes, noch als Missverständnis auslegbares Angebot. Die Transaktion erweist sich als eine Praxis, die stets zugleich auf wirtschaftliche wie auch auf soziale, politische und kulturelle Kontexte bezogen ist. Mit Kontextualisierung ist gemeint, dass Bedingungen und Ereignisse auf der Meso- und Makroebene einbezogen werden, die den Rahmen einer Beschreibung erweitern. Ins Blickfeld rücken die Motive der Teilnehmer, ihre ökonomisch-soziale Ausgangssituation, ihr Beruf, der ihnen möglicherweise überhaupt erst den Zugang zu nachgefragten Waren oder einem entsprechen Käuferkreis eröffnete, sowie politische Auseinandersetzungen über die Grenzen zwischen Legalem und Illegalem, die sich als diskursiv ausgehandelte Beschreibungen des Phänomens niederschlugen. Anspruch auf Kontextualisierung des »Fremden« in das »Nahe«, Vertraut-Moderne aufzugeben. Vgl. ähnlich Nolte, ebd., der für eine Adaption Simmels plädiert, und Nipperdey, S. 33ff. 22 »Neckarhausen ist nicht Terling, sondern eben Neckarhausen«, hat Sokoll die Bedenken gegenüber einer möglichen »methodischen Sackgasse« in Sabeans Arbeit zusammengefasst und damit auf das Generalisierungsproblem des Ansatzes verwiesen. Sokoll, S. 260. 23 Ebd. 24 Vgl. insbesondere Geyer, Welt, S. 12ff., der die »Stadt als Synekdoche« begreift, und Davis.
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Gerade Märkte können als Paradebeispiel für die Verschränkung unterschiedlicher Ebenen gelten. Denn sie sind in ihrer konkreten Gestalt nicht nur Räume, in denen getauscht wird, sondern auch Orte vielfältiger Interaktionen, die nach ausdifferenzierten Regeln funktionieren und Schnittstellen gesellschaftlicher Kommunikation bilden. Neben den Markt als ökonomisches Phänomen tritt der Markt als soziales und kulturelles Ereignis, neben den Ort des Geschäftes derjenige einer politisch oder religiös »oktroyierten Ordnung«.25 Sowohl die Economic und die Social Anthropology als auch neuere ökonomische Theorien – insbesondere die Neue Institutionenökonomik (NIÖ) – begreifen ökonomische Vorgänge als in andere soziale Prozesse »eingebettete« Handlungen von Akteuren.26 Bei der empirischen Überprüfung konkreter (historischer) Märkte erweist sich das »reine« ökonomische Paradigma mit seinen Prämissen des Nutzen maximierenden Subjekts und des Equilibrium-Theorems als defizitär. Vielmehr gilt es aus dieser Sicht, den »nichtmarktlichen Koordinationsmechanismen« (Beckert) und den Faktoren »sozialer Einbettung« (Granovetter) Rechnung zu tragen.27 Harrison White hat diese Perspektive in der Formulierung von der »market activity« als einer Praxis zusammen gefasst, die als »as social as kinship« gelten kann.28 Diese Annahmen erweisen sich auch für die Analyse der illegalen Berliner Märkte als gewinnbringend, weil damit Faktoren wie die »moralischen Kosten« der Marktteilnahme, politische Implikationen, Solidarität oder Tauschgewohnheiten jenseits der reinen Nutzenmaximierung berücksichtigt werden können. Mit den ökonomischen kommen deshalb zugleich auch die in einem weiten Sinne kulturellen Bedingungen einer Geschichte der Kriegs- und Nachkriegszeit ins Blickfeld. Hier leuchtet ein Widerschein des »›totalen‹ sozialen Phänomens« Tausch auf, wie es Marcel Mauss anhand der Schenkkultur in Stammes-Gesellschaften analysiert hat; und zwar insofern, als die tauschenden Berlinerinnen und Berliner sich mit ihrer Praxis immer schon nicht nur zu anderen Personen, sondern auch zu rechtlichen, politischen und kulturellen Fragen (weniger zu religiösen, die bei Mauss eine größere Rolle spielen) in Beziehung setzten;29 etwa indem sie durch ihre Praxis den propagierten Rechtskonsens der NS-Volksgemeinschaft durchbrachen, damit den Herrschaftsanspruch von Politik negierten und zudem die Grundlage für eine Kultur des persönlichen situativen Wirtschaftens etablierten, die als mentalitätsprägendes Phänomen die Geburtsstun25 Zitat: Weber, Wirtschaft, S. 385. 26 Vgl. zum Ansatz der Economic Anthropology Narotzky, Economic, S. 4069, sowie als einschlägige Vorarbeiten: dies., New Directions; Plattner, Markets. Die klassisch-ethnologische Form bei Geertz, Bazaar, sowie ders., Suq. Für die NIÖ Voigt; Richter u. Furubotn. 27 Beckert. 28 White, Varieties, 232. 29 Mauss; zum zentralen Begriff der Reziprozität als Basis des Sozialen bei Mauss und Simmel vgl. Papilloud. Für den Zusammenhang hier Zierenberg, Tauschen.
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den der beiden deutschen Staaten und ihrer Wirtschaftskulturen mit formte. Schwarzhändlerinnen und -händler, aber auch die bekämpfenden Stellen und bloße Beobachter des Geschehen werden hier deshalb nicht als Objekte in einem Strom sich wandelnder »äußerer Umstände« verstanden. Es geht vielmehr um ihren Beitrag als historische Akteure. Berlinerinnen und Berliner tauschten vor einem spezifischen Hintergrund von »Prozessen« und »Ereignissen« – so die zu explizierende Hypothese – nicht nur Waren gegen Waren, sondern wirkten durch ihre Tauschpraxis zugleich an politischen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen mit. Mit dem Tausch von Waren gingen Wechsel von sozialen Beziehungen, das Unterstützen, Ignorieren oder Ablehnen politischer Zusammenhänge und Verschiebungen von diskursiven Bedeutungszuweisungen einher. Tauschleistungen sind dabei auf ein in jüngster Zeit ins Blickfeld der Forschung gerücktes Phänomen bezogen: dem Vertrauen oder Misstrauen gegenüber bzw. in Personen, Institutionen und Systeme.30 Vertrauen gewinnt seine Bedeutung dabei vor allem als Strategie zur Überwindung von Unsicherheit oder Komplexität.31 Das gilt auch auf der Ebene von Interpretationsleistungen, die durch einen reduzierten »Weltentwurf« Komplexität überhaupt erst in »strukturierte Möglichkeiten eigenen Erlebens und Verhaltens« umwandeln.32 Gerade die Berliner Schwarzmärkte der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts können als Orte permanenter Unsicherheit beschrieben werden, denen viele gewachsene und institutionalisierte Mechanismen der Vertrauensbildung und -sicherung (staatliche Aufsicht, Vertragssicherheit, Standardisierungen) fehlten. Der Zusammenhang zwischen »Tauschen« und »Vertrauen« erweist sich als zirkulär: Der erfolgreiche Tauschvorgang zwischen Personen bzw. das Akzeptieren von (unausgesprochenen) langfristigen Tauschbeziehungen zwischen Personen und Institutionen setzt Vertrauen voraus und bildet zugleich eine Zukunft sichernde, Vertrauen bildende Maßnahme. Misstrauen hingegen kann zur Auflösung von Tauschbeziehungen führen. Ein solchermaßen funktionierendes Wechselspiel bildet den sozialen Kitt, der gesellschaftlichen Zusammenhalt jenseits nutzenmaximierenden Verhaltens von Individuen ermöglicht.33 Indem die Arbeit diesem Komplex nachgeht, stellt sie einen Beitrag zu einer Kulturgeschichte des Wirtschaftens dar, der den Zusammenhang von »Tauschen und Vertrauen« in den Mittelpunkt rückt.34 30 Vgl. dazu grundlegend Luhmann, Vertrauen. Für die historische Forschung die Arbeiten von Frevert, Fiedler, Berghoff, Vertrauen, und Zierenberg, Tauschen. 31 Vgl. Luhmann, Vertrauen; ders., Soziale Systeme; aus ethnologischer Perspektive Geertz, Bazaar; ders., Suq; für die umfangreiche Literatur zur Institutionenökonomik vgl. pars pro toto North. 32 Luhmann, Vertrauen, S. 39. 33 Vgl. Frevert, Perspektive, S. 41, die sich auf Simmel bezieht. 34 Vgl. die Einleitung in Berghoff u. Vogel sowie Zierenberg, Tauschen.
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Ein weit gefasster Tauschbegriff, der unterschiedliche Praktiken umfasst und sich nicht auf einen engeren Fokus beschränkt, wie er hier Verwendung findet, bedarf einer systematisierenden Perspektivierung. I. Die erste Perspektive richtet sich auf die Tauschpraktiken zwischen mindestens zwei Marktteilnehmern, die auf ökonomische Vorteile zielen. Sie sei hier als die Mikro-Tauschebene und als Kern der untersuchten Tauschkultur bezeichnet. Sie umfasst die Tauschhandlungen der Berlinerinnen und Berliner im engeren Sinne, also Transaktionen bei denen Waren, Geld oder Dienstleistungen einen Tausch – im Sinne Max Webers – ermöglichten: »Tausch« bezeichnet in diesem Zusammenhang »jede auf formal freiwilliger Vereinbarung ruhende Darbietung von aktuellen, kontinuierlichen, gegenwärtigen, künftigen Nutzleistungen von welcher Art immer gegen gleichviel welche Art von Gegenleistung«.35 Vor dem Hintergrund des umfassenden staatlichen Rationierungs- und Zuteilungssystems bildeten diese Handlungen illegale Versuche, das eigene Auskommen zu verbessern, und bedeuteten nicht zuletzt auch eine Erweiterung der Konsumentensouveränität. Sie untergruben die Logik der Zuteilungen und stellten sich damit außerhalb der nationalsozialistischen Vorstellungen von einer »gerechten« Verteilung zu Kriegszeiten, die dem Gedanken der »Volksgemeinschaft« verpflichtet waren. Nach dem Ende des Krieges stellten sie die fortbestehende Rationierungswirtschaft der Alliierten und die Etablierung geregelter Wirtschaftsordnungen in Ost und West in Frage. Diesem Verhalten lagen die Erfahrungen aktuellen Mangels, aber auch ein wachsendes generelles Misstrauen in die Versorgungskompetenz staatlicher Stellen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund jenes »Erfahrungsraums« des Ersten Weltkriegs – zugrunde. Die Reaktionen der nationalsozialistischen Führung zeugten in diesem Zusammenhang von großer Besorgnis. Dies zeigte sich insbesondere bei der Ad-hoc-Politik, die auf schwere Bombenangriffe und damit entstehende Verluste und Engpässe mit Sonderzuteilungen zu reagieren versuchte. Doch die Bildung einer »informal economy« ließ sich damit nicht aufhalten. Anachronistischer Naturaltausch, Verrechnungen von Dienstleistungen und illegale Verkäufe von rationierten Waren standen dabei von Anfang an nebeneinander. Die damit im Vergleich zum Einzelhandel der Vorkriegszeit veränderten Bedingungen wirkten sich vor allem auf die Praktiken der Marktteilnehmer aus. Das Kontaktaufnehmen zu potentiellen Kunden bzw. Tauschpartnern, das Taxieren von nicht den staatlich sanktionierten Standards unterworfenen Produkten, das Aushandeln von Preisen und vieles mehr stellte die Teilnehmer vor zum Teil völlig neue Herausforderungen, auf die sie mit unterschiedlichem Geschick reagierten. Um die für den Handel wichtige Vertrauensgrundlage herstellen zu können, wählten und erlernten die Berliner Schwarzhändlerinnen und -händler unterschiedliche Strategien, die Situtio35 Weber, Wirtschaft, S. 37.
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nen einer »personal confrontation between intimate antagonists« (Clifford Geertz) ermöglichten. Zu den damit allmählich etablierten Marktorganisationsformen und Akteursstrategien gehörten kompensierende Techniken wie die Ausbildung von Vertrautheitsnetzwerken und Klientelbildung, die Etablierung von räumlichen und zeitlichen Marktkonstanten sowie die Anwendungen von Markt-Codes.36 Zugleich veränderten sich die Einstellungen zu einzelnen Waren; vor allem, wenn diese nicht als »anonyme« Gegenstände anzusehen waren, die man heute ein- und morgen weitertauschen konnte, sondern es sich um Dinge des eigenen (langjährigen) Besitzes handelte wie liebgewonnene Schmuckstücke, Erbstücke oder Andenken.37 Der Tausch beförderte vielfach – besonders wenn es sich um den Tausch handelte, der durch eine Notlage motiviert war – eine eigene Ökonomie derjenigen Gegenstände, die über ihren nach Angebot und Nachfrage ausgerichteten Marktwert hinaus die Biografien der Akteure reflektierten. Wovon sollte oder konnte man sich zuerst trennen? Wovon erst zuletzt? Diese Verschränkung von (ökonomischen und persönlichen) Wertbegriffen verweist auf den komplexen Prozess einer umfassenden Neubewertung von Vertrautem. Das scheinbar zusammenhanglose Nebeneinander von Dingen und »Verhältnissen«, die nicht mehr »an ihrem Platz« waren, gehörte zu den eindrücklichsten Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit. Im Zuge der damit notwendig gewordenen Neubewertung veranschlagten Berlinerinnen und Berliner – für sich selber und für andere – neu, was als lebensnotwendig einerseits und was als Luxus andererseits zu gelten hatte. Luxus als Begriff und Vorstellung unterlag einem rapiden Wandel. Die Berliner Tauschgesellschaft bildete – den Versorgungslagen entsprechend – eigene Warenhierarchien aus, die neben marktbedingten Angebot-Nachfrage-Relationen auch individuelle Mangellagen und Wunschvorstellungen reflektierten.38 Und im gleichen Maße, wie Dinge, die vormals eher den Charakter von »Besitz« hatten, als »Waren«, d.h. als Tauschmittel, in Betracht gezogen wurden, trat eine neue »Ware« als solche in Erscheinung: die Information. Denn im Gegensatz zu den ausdifferenzierten Informationsinfrastrukturen offizieller Märkte boten die Berliner Schwarzmärkte für viele Teilnehmer das Bild einer amorphen, unübersichtlichen Handelslandschaft. Die Informationsbeschaffung über Warenangebote, Preise und verlässliche Tauschpartner wurde damit zu einem wichtigen Faktor, der über Erfolg oder Misserfolg entscheiden konnte. Dieser Prozess der Veränderungen in der Warenlandschaft Berlins hing mit der Krise der offiziellen Währung zusammen, die vor allem zwei Ursachen hatte: 36 Zierenberg, Tauschen. 37 Zur Identität stiftenden Bedeutung von erstücken vgl. Langbein. 38 Vgl. auch den Einfluss der Waren, die nach Kriegsende durch die Besatzungstruppen in den Berliner Markt eingespeist wurden. Steege, S. 35.
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Erstens war mit der Einführung des Kartensystems der Geltungsbereich der »Reichsmark« per se beschnitten worden. Lebensmittel- und Kleiderkarten traten verstärkt an ihre Stelle, ohne die gleichen Leistungen erbringen zu können, da sie zeitlich und räumlich begrenzt gültig waren und personengebunden ausgegeben wurden. Fälschungen, Unterschlagungen und »Erschleichungen« waren die Folge. Zweitens erzielten Preis- und Lohnstopps zwar mindestens bis zu Beginn des Krieges den gewünschten Effekt, den drohenden inflationären Tendenzen im Sinne einer »geräuschlosen Kriegsfinanzierung« entgegenzuwirken. Zugleich maßen viele Zeitgenossen die wirtschaftliche Entwicklung vor allem an der in der Erinnerung noch sehr frischen Krisenzeit Anfang der dreißiger Jahre.39 Diese begünstigenden Faktoren konnten aber nicht verhindern, dass insbesondere zum Ende des Krieges die Erwartungen der Berlinerinnen und Berliner der »Reichsmark« und ihrem zukünftigem Wert immer mehr misstrauten. Diese Unsicherheit einer misstrauischen Berliner Tauschgesellschaft ließ erst mit den Währungsreformen nach. Eine Erfahrung, die sich nachhaltig ins kollektive Gedächtnis einprägte und die These vom abstrakten, die Person nicht tangierenden Charakter des Geldes in Frage stellt. Neben der offiziellen Währung etablierte sich als Reaktion auf die Vertrauenskrise eine ganze Reihe von Ersatzwährungen, von denen die unterschiedlichen Zigarettenwährungen nur das bekannteste Beispiel bilden. Wegen der Vielzahl der im Umlauf befindlichen internationalen Geldwährungen und der besonderen Situation Berlins als geteilter Stadt entwickelte sich der Devisenhandel zu einem fortdauernden Segment des schwarzen Marktes, das auch die Währungsreformen überlebte. Die bislang erschienenen Arbeiten zur Schwarzmarktzeit reflektieren kaum, dass Schwarzmärkte unterschiedliche Marktsegmente umfassen konnten. Diese unterschieden sich sowohl nach Warensortimenten als auch nach Teilnehmerkreisen, Praktiken und Orten des Handels.40 Neben dem alltäglichen Lebensmittel-, Bekleidungs- und Kleingütermarkt der Gelegenheitshändler etablierten sich semi-professionelle und professionelle Märkte für alle möglichen Warengruppen. Darüber hinaus entwickelten sich überregionale bis transnationale Vertriebsnetzwerke, wie etwa im Bereich des Handels mit Schmuck oder Kunstwerken, der Berlin zu einem Zentrum internationaler Schwarzmärkte werden ließ, die eindeutig dem Bereich der organisierten Kriminalität zuzurechnen waren.41 Allerdings gehörten Überschneidungen zwischen einzelnen Segmenten zur Tagesordnung. Zu den Kennzeichen der Berliner Tauschkultur gehörte auch ein Wandel sozialer Beziehungen, gehörten neue soziale Netzwerke und Netzwerkpraktiken, 39 Steiner, Preispolitik. 40 Vgl. zu den Orten Zierenberg, Trading City. 41 Roesler, Black Market.
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die alte Beziehungen zwischen den Partnern verändern konnten oder neue Verhältnisse zwischen Personen begründeten.42 Denn nicht in allen Fällen knüpften Tauschpartnerschaften an bereits bekannte (Verkäufer-Kunde-) Konstellationen an, wie es etwa bei Schwarzhandelsgeschäften zwischen den Stammkunden eines Geschäftes und dem Inhaber desselben der Fall sein konnte. Vorgesetzte, Kegelschwestern, Lehrer oder Zufallsbekanntschaften (um nur einige Beispiele zu nennen) konnten jederzeit zum Schwarzhandelspartner werden. Die Praxis des Tauschens ließ neue soziale Beziehungen entstehen oder veränderte bereits bestehende Beziehungen nachhaltig in ihrem Charakter, schuf Abhängigkeiten und gewalttätige Konfliktsituationen oder half Partnerschaften in Freundschaften oder Liebesverhältnisse zu verwandeln. Gerade die Geschlechterverhältnisse der Kriegs- und Nachkriegszeit wurden als Bestandteile der hier analysierten Tauschkultur neu ausgehandelt. Das Geschlecht der Tauschpartner konnte bei der Praxis des Tauschens eine entscheidende Rolle spielen; sei es, dass Männer und Frauen ihre Tauschpartner nach dem Geschlecht auswählten und unterschiedliche Strategien der Kontaktaufnahme und -pflege entwickelten; oder dass Liebesbeziehungen und Sex selber zu Gegenständen von Tauschhandlungen wurden. Die Dienstleistung Sex gehörte zu den Tauschobjekten der Berliner Schwarzmärkte. Zugleich wurde sie auf der Ebene moralischer Zuschreibungen, die das Verhalten der Geschlechter auf den Märkten thematisierten, zu einem wichtigen Bestandteil des zeitgenössischen Diskurses. So machte tauschenden Frauen eine weit verbreitete Meinung den Vorwurf, nicht alleine mit Dingen des täglichen Bedarfs zu handeln, sondern sich als Prostituierte auf den Märkten anzubieten und damit aus der Rolle der treuen, um Familie und Haushalt bekümmerten Mutter und Hausfrau zu fallen.43 In diesem Zusammenhang spielte das Auftreten von »Fremden« auf den Märkten eine entscheidende Rolle. »Ausländer« (Fremd- und Zwangsarbeiter) und Angehörige der alliierten Streitkräfte und ihr Verhalten auf den Märkten der Kriegs- und Nachkriegszeit wurden zu einem Politikum der Berliner Schwarzmarktgesellschaft. In der Bewertung ihrer Rollen mischten sich Einstellungen gegenüber »Fremden« allgemein, antisemitische Deutungen, Ausländerfeindlichkeit und Vorwürfe gegen ihre deutschen Tauschpartnerinnen und -partner. Dieser Themenkomplex weist über die zeitgenössische Berliner Erfahrungsebene hinaus und ist im Hinblick auf die Rolle der Alliierten geeignet, die besonderen Beziehungen zwischen Siegern und Besiegten, zwischen Besatzern und Besetzten sowie zwischen den neu gewonnenen Partnern in Ost und West vor dem Hintergrund der Erfahrungen der »Schwarzmarktzeit« auszuleuchten. In Zeiten, in denen einem Dinge einfach weggenommen werden konnten, gewann die Praxis des Tauschens, gewann das Geben, das eine Gegenleistung 42 Zur Netzwerkforschung Jansen. 43 Zierenberg, Trading City; Bandhauer-Schöffmann.
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erbrachte, für den tauschenden Verlierer oder die Verliererin zusätzlichen Gewinn: eine wenigstens partielle und temporäre Handlungssouveränität. Das bedeutete aber keineswegs, dass unterschiedliche Zugangsvoraussetzungen wie ökonomische oder physische Macht in der Tauschsituation völlig aufgehoben wurden: Vielmehr reagierten die Berlinerinnen und Berliner sensibel auf unterschiedliche – aggressive oder zurückhaltende – Gesten der Sieger beim Tauschen. Tauschen als alltägliche Praxis stand dabei zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite gab es das »Schenken«, das seinen paradigmatischen Ausdruck etwa im Schenken von Süßigkeiten an Kinder oder in den »Care-Paketen« fand. Diese Geschenke zielten in der Regel ebenfalls auf eine Gegenleistung: Sympathie und freundliche Aufnahme. Auf der anderen Seite stand das Wegnehmen (Selbstbedienungspraktiken von Soldaten, Vergewaltigungen, Demontagen). Der alltägliche Tausch changierte zwischen diesen beiden Extremen. Wegen der Notwendigkeit, z.B. auch teuren Schmuck für »eigentlich« wertlosere Lebensmittel hergeben zu müssen, empfanden viele Berlinerinnen und Berliner den Tausch – und sei es nur im Nachhinein – als verbrämten Diebstahl. Auch die Erfahrung, dass die Androhung physischer Gewalt ein bis dahin »regelgerechtes« Tauschgeschäft jäh abkürzen konnte, trug dazu bei, dass die Tauschsituation nicht von vornherein als ein Moment von »Partnerschaft« verstanden werden musste. Andererseits führten Tauschpraktiken auch zur Ausbildung von echten Partnerschaften zwischen Verlierern und Siegern. Einige deutsche Teilnehmer kamen ihren Besatzern im Alltag näher oder nutzten dabei geknüpfte Bande zum sozialen Aufstieg. Unterschiede im Umgang mit den Besatzungsmächten und in den Wahrnehmungen ihrer Rollen lassen sich exemplarisch in der Gegenüberstellung der Begegnungen mit US-Amerikanern und Angehörigen der Roten Armee herausarbeiten. Hier zeigen sich die Auswirkungen eines klaren Vertrauensgefälles, das seine Hauptursache in lang- und kurzfristig etablierten, ideologisch aufgeladenen Stereotypen hatte und durch die Bemühungen des sowjetischen »Brudervolkes«, als Partner aufzutreten, nur mühsam korrigiert werden konnte. Insbesondere die Beziehungen zwischen Berlinerinnen und den Angehörigen der Roten Armee und der U.S. Army spielten in der öffentlichen Bewertung des Verhältnisses von Siegern und Verlierern des Krieges eine entscheidende Rolle und wurden mit Bezug auf das Thema »Tauschen« verhandelt. Dabei verkannte der Prostitutionsvorwurf die individuellen Zwangslagen der Frauen, die sich als Gelegenheitsprostituierte mit dem »Feind« einließen, und überging eine ganze Bandbreite von unterschiedlichen Motivlagen der Teilnehmerinnen, die von »echter Liebe« bis zum »bloßen Broterwerb« reichten. Auch konnten die an der Oberfläche scheinbar klaren Machtverhältnisse, die diesen Beziehungen zugrunde lagen, in einzelnen Fällen andere Formen annehmen: Einige Berlinerinnen »hielten sich« wechselnde Partner oder redeten sich dieses immerhin ein. Gleichwohl beherrschten bis heute wirksame Stereotype die Wahrnehmungen der unterschiedlichen zeit25
genössischen Beobachtergruppen (»Veronika Dankeschön«, »verräterische Gelegenheitsprostituierte«, »brutale Angehörige der Siegermächte, die ihre Position ausnutzen« usw.), die den verschiedenen Kontexten von Tauschsituationen zwischen Berlinerinnen und »den Siegern« vielfach nicht gerecht wurden und vor allem Ressentiments sowie unterschiedliche Grade von Verbitterung, Verunsicherung und Angst, von Vertrauen oder Misstrauen abbildeten.44 Misstrauen gegenüber »Fremden« als Kennzeichen der Berliner Tauschkultur blieb aber nicht nur auf Ausländer beschränkt, sondern wirkte sich auch auf die Beziehungen unter deutschen Tauschpartnern aus, die sich in einem anderen Sinne als »Fremde« gegenüber standen: Georg Simmel hat die moderne städtische Lebenswelt als einen Zusammenhang von Begegnungen gefasst, in denen »Fremde« darauf angewiesen sind, Einschätzungen des fremden Gegenüber vor allem an »gewissen Äußerlichkeiten« festmachen zu müssen.45 Auf den Berliner Schwarzmärkten stellte sich dieses Problem für viele Teilnehmer in verschärfter Form. Der Wunsch oder der Zwang zum Tauschen führte zur Konfrontation zwischen Tauschinteressierten, die ihren zukünftigen Partnern nicht von vorne herein »blind« vertrauen konnten, weil sie ihnen nicht vertraut waren. Vertrautheit und darin begründetes Vertrauen aber bildeten eine der Schlüsselgrundlagen der Berliner Tauschgesellschaft. Denn erst wer vertraut, tauscht auch. Tauschkultur setzte mithin Strategien der interpersonalen Vertrauensbildung voraus, die essentiell für die Praktiken von kleinen und großen Schieberinnen und Schiebern waren. Damit bildeten sie zugleich eine wichtige Grundlage für das soziale Gefüge einer aus Tauschnetzwerken unterschiedlicher Größe, Komplexität und Stabilität bestehenden städtischen Tauschgesellschaft. Eine erfolgversprechende Strategie für risikoreiche Schwarzhandelsgeschäfte nutzte bereits bestehende Netzwerkbeziehungen zwischen Familienmitgliedern, Freunden oder Bekannten. In diesem Zusammenhang gilt, was auch empirische Analysen der Economic Sociology erbracht haben: dass Risikobewusstsein und Unsicherheit den Rückgriff auf »pre-existing noncommercial ties between byers and sellers« forcierten.46 Jene Berlinerinnen und Berliner, die ihren Tauschpartnerinnen und -partnern – und sei es nach langwieriger Prüfung – Vertrauen entgegen brachten, eröffneten sich mit einem erweiterten Handlungsraum zugleich einen Zukunftshorizont, der zwar häufig nicht den Erwartungshorizonten der Vorkriegszeit entsprechen konnte, aber doch über die Lethargie anderer Mitbürger hinaus wies. Damit ist ein weiterer wichtiger Aspekt der Berliner Tauschkultur angesprochen: die Reorganisation von Zeiterfahrungen. Niklas Luhmann hat darauf hingewiesen, dass »Vertrauen ein problematisches Verhältnis zur Zeit« auf44 Vgl. vor allem Naimark. 45 Simmel, S. 319. 46 Zelizer, Economic, S. 4131.
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weist. Denn »wer Vertrauen erweist, nimmt Zukunft vorweg« und »handelt so, als ob er der Zukunft sicher wäre«.47 Man wird den Umgang vor allem der Berliner Gelegenheits-Schwarzhändler mit ihren »Zeiten« eher als den permanenten, stets gefährdeten Versuch der Gewinnung einer besseren und sichereren Zukunft beschreiben können. In Friedenszeiten und auf staatlich sanktionierten Märkten schaffen Verträge langfristige Sicherheiten, bildet die Dauerhaftigkeit des Staates als Markt-Garant eine verlässliche Perspektive für die Teilnehmer des Marktgeschehens. Auf den Berliner Schwarzmärkten lösten sich Zeit-Konstanten der Vorkriegszeit auf. Dabei bildeten die »Erfahrungsräume« der Teilnehmer, sei es auf Seiten der Händler oder der mit der Bekämpfung befassten Stellen, einen ersten Fixpunkt. Hier prägten sowohl die Inflationszeit, die Erfahrungen mit Währungsverfall, »Wucher« und Knappheit als auch die Versorgungssituationen der zwanziger und dreißiger Jahre die Wahrnehmungen der Akteure. Insbesondere die Erwartungshaltung an bestimmte Versorgungsniveaus und die Einschätzung zukünftiger Entwicklungen (des Kriegsverlaufes, der eigenen ökonomischen und sozialen Lage) lassen sich nur vor dem Hintergrund dieser Erfahrungsmuster verstehen. Die Tauschpraxis funktionierte als ökonomisches und soziales Phänomen in eigenen Zeithorizonten, die von lokalen Konjunkturen und Preiserwartungen sowie den Zeithorizonten des »Alltags im Ausnahmezustand« abhingen.48 Der Faktor Zeit gewann für viele Marktteilnehmer insofern eine neue Bedeutung, als sie ihre Tauschpraxis an wechselnden Preisniveaus auszurichten und damit einen anderen Zeithorizont in ihren Alltag zu integrieren versuchten. Dabei gaben zunächst die Zuteilungsperioden den Takt des Berliner Konsumalltages vor. Das Rationierungssystem etablierte – unterhalb der politisch intendierten Ebene der Verbrauchseinschränkung und -lenkung – eine eigene Ökonomie des sparsameren oder verschwenderischen Umganges mit den für definierte Zeitperioden ausgegebenen Karten. Die Konsumentensouveränität unterlag damit nicht alleine dem Zwang der begrenzten Menge, sondern auch dem der auf der Zeitachse eingeschränkten Planbarkeit. Die Beteiligung am Schwarzhandel bot damit die Chance, zugleich der quantitativen wie der temporären Zwangslage zu entkommen. Dieser Umstand ist besonders wichtig, weil er hilft, den unterschiedlichen Motivlagen der Teilnehmer gerecht zu werden: Denn eine Teilnehmerin konnte zum Beispiel mit dem System an sich recht zufrieden sein, in einer Situation spezifischen Mangels aber trotzdem zur Schwarzhändlerin werden. Besonders häufig waren in diesem Zusammenhang jene Fälle, bei denen Eltern zum Geburtstag ihrer Kinder »etwas Besonderes« zu organisieren gezwungen waren, um den Tag zu einem Fest werden zu lassen und damit eine partielle Normalität aus Friedenszeiten herstellen zu können. 47 Luhmann, Vertrauen, S. 9. 48 Die Formulierung »Alltag im Ausnahmezustand« geht zurück auf einen Band von Nieden.
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Insbesondere die Erfahrungen des Mangels stellten die Berliner zudem vor die Aufgabe, noch in anderer Hinsicht ihre herkömmlichen Zeitbezüge zu reorganisieren. Denn der Mangel forderte den Tausch von etwas »Wertvollerem«, das nur in der Ausnahmesituation der Knappheit an Wert verlor, gegen »normalerweise« Alltägliches, keinen besonderen Wert Darstellendes wie Grundnahrungsmittel. Damit tauschte man zugleich ein Stück alten und womöglich zukünftigen Wohlstandes gegen das Überleben heute, Besitzstände des Gestern und einer erhofften Zukunft gegen die Gegenwart und allenfalls den nächsten oder übernächsten Tag der Übergangszeit. Neben diesen zeitlichen Aushandlungsprozessen spielten Anpassungsleistungen auch mit Blick auf die räumliche Dimension des Phänomens eine entscheidende Rolle. Der Handel in geschlossenen Räumen folgte anderen Gesetzen als der auf der Straße, der Tausch zwischen Nachbarn bezog sich auf einen engeren alltäglichen Wirkungskreis als der zwischen Pendlern und Stadtbewohnern oder der von »Hamsterern«, die eine besondere Variante der Stadt-LandBeziehungen begründeten. Bei aller Unübersichtlichkeit und Instabilität, die mit diesen neuen, räumlich ausgeweiteten Marktbeziehungen einher gingen, wiesen schließlich doch auch die Märkte auf der Ebene von Versammlungsöffentlichkeiten ein erstaunliches Organisationsniveau auf, das dem legaler (Wochen-) Märkte und dem von Clifford Geertz beschriebenen Basar ähnelte.49 Zwar war die Herstellung von Vertrauen über das, was Giddens als »facework commitments« bezeichnet hat, welche die Kontrolle von Vertrauensleistungen an den Faktor »soziale Einbindung« koppeln, so gut wie ausgeschlossen.50 Formen von Konstanz, die ein übersichtlicheres, Vertrauensbildung und damit positive Transaktionsbedingungen förderndes Umfeld kreierten, konnten aber durch kompensierende Techniken wie Netzwerk- und Klientelbildung, Segmentierung, die Etablierung von räumlichen und zeitlichen Marktkonstanten sowie Markt-Codes gestiftet werden. Insbesondere zum Ende des Krieges und in der ersten Nachkriegszeit organisierte sich das Berliner Alltagsleben zunehmend auf der Ebene begrenzter städtischer Segmente, die ein Ergebnis des »Endkampf«-Chaos waren und Beobachter an das Nebeneinander voneinander separierter Dorfeinheiten erinnerten.51 Dieser Kleinteiligkeit entsprach eine bereits während des Krieges ausgebildete Tendenz zur Ausbildung lokaler Tauschnetzwerke, deren Warenumschlag auf begrenztem Raum stattfand und damit moderne Formen des transregionalen und -nationalen Warenverkehrs umkehrte. Demgegenüber waren es gerade die großen öffentlichen Schwarzhandelsplätze der Stadtmitte etwa rund um das 49 Vgl. zum Öffentlichkeitsbegriff Gerhards u. Neidhart, Strukturen; daneben Requate sowie Zierenberg, Tauschen. 50 Vgl. Geertz, Suq; Fiedler, Vertrauen. Hier vor allem S. 584. 51 Vgl. zu den Auswirkungen des »Endkampfs« Beevor.
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Brandenburger Tor oder am Alexanderplatz, die den Einzugsbereich der Waren vergrößerten und darüber hinaus zusammen mit kulturellen Veranstaltungen erste Formen öffentlicher Geselligkeit ermöglichten und inszenierten. Die alten Muster räumlicher Orientierung und Stadtwahrnehmung in Friedenszeiten waren durch die Einwirkungen des Krieges in eine Krise geraten oder außer Kraft gesetzt worden. Die Märkte bildeten in ihrer Form als Versammlungsöffentlichkeiten wichtige Bezugspunkte einer räumlichen wie moralischen Neubestimmung des städtischen Lebens in Berlin. »Raum« als relationales Konstrukt repetetiven Alltagshandelns lässt sich gerade an der Beziehung von Berlinerinnen und Berlinern zu den umstrittenen Tauschorten aufweisen. Die alltägliche Orientierung an den Schwarzhandelsplätzen als Bezugsgrößen beförderte so auf der einen Seite die Reetablierung einer bestimmten, politisch nicht gewollten öffentlichen Ordnung im Chaos der Nachkriegszeit und rückte anderseits die Märkte in den Mittelpunkt des öffentlichen Lebens und der öffentlichen Verhandlungen über diese Praktiken. II. Die zweite Ebene umfasst daran anknüpfend das, was man den Bedeutungstausch nennen kann, also die diskursiven Elemente der Berliner Tauschkultur. Diese bildeten zunächst den Versuch einer komplexitätsreduzierenden Selbstbeschreibung der Berliner Gesellschaft zur Schwarzmarktzeit, der Phänomene wie »den Schwarzmarkt« oder »den Schieber« in gleicher Weise beobachtete wie mit konstruierte.52 Angesichts der Unsicherheit im Umgang mit der illegalen Praxis kreierten stereotype Bezeichnungen und scheinbar klare Oppositionsbegriffe Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, die das moralisch und politisch brisante Phänomen einzufangen suchten und damit die Krise des Vertrauens in stabile Bewertungskonzepte illustrierten. So ermöglichte die Kennzeichnung von Marktteilnehmern als »Schleich-« oder »Schwarzhändler«, »Schieber« oder »Volksschädlinge« eine Grenzziehung zum »kleinen« oder »privaten Eigenbedarfshandel«, die geeignet war, die weit verbreitete und deshalb kaum zu kontrollierende illegale Praxis im einen Fall zu verdammen, in einem anderen »noch mal durchgehen zu lassen«, ohne dass die Grenze generell eindeutig festgelegt werden musste. Die Flut an Verordnungen und erläuternden Kommentaren zu diesen Verordnungen formulierte einerseits zwar relevante Spezifizierungen (Was genau bedeutete »Eigenbedarf«? Wie ließen sich »Kriegswirtschaftsverbrechen« von Vergehen gegen die »Verbrauchsregelungsstrafverordnung« abgrenzen), sorgte andererseits aber vor allem für Verwirrung.53 Damit öffnete sich ein Interpretationsspielraum, der von beiden Seiten 52 Vgl. Zierenberg, Tauschen. 53 Der Gesetzgeber schuf auf diese Weise den Raum für einen neuen Markt – den der Beratungsliteratur. Sowohl Polizisten als auch tauschwilligen Konsumenten standen entsprechende »Leitfäden« zur Orientierung im Dschungel der Schwarzhandelsverordnungen zur Verfügung. Vgl. Kromer.
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– Schwarzhändlern wie staatlichen Stellen – genutzt wurde. Die Diskurse über den Schwarzmarkt und sein Personal stellten als Versuche der Komplexitätsreduktion zugleich Verhandlungen über jene prekären Definitionen dar, die das Legale vom Illegalen, das Moralische vom Unmoralischen und das Loyale vom Illoyalen zu unterscheiden beanspruchten. Im Spannungsfeld von politisch-juristischen und unterschiedlichen Alltagsdiskursen kristallisierten sich verschiedene »Schwarzmarkt«-Konzepte heraus, die ihre Ausformulierung den Interessenkonstellationen der handelnden Akteure verdankten. Der »Schieber« als Diskursfigur bildete so eine ganze Reihe von Bedeutungsebenen ab, die von einzelnen Akteuren oder Akteursgruppen in verschiedenen Kontexten unterschiedlich erkannt, gemeint oder bewertet wurden. War er für die nationalsozialistische Propaganda vor allem eine asoziale, jüdische oder ausländische, gegen die »Volksgemeinschaft« eingestellte und zudem an das soziale Elend der Inflationszeit erinnernde Idealfiktion, konnte er für den »kleinen Gelegenheitshändler« als der »eigentlich« Kriminelle vor allem die eigene Praxis als Bagatelle erscheinen lassen. Anstatt die zeitgenössische Terminologie der Verfolgungsbehörden als allein gültige Schwarzmarktdefinition zu verstehen, gilt es mithin, dem Konstruktionscharakter der gängigen Diskurs-Topoi gerecht zu werden und das komplexe Bedeutungstauschgeschehen zu rekonstruieren. Das politisch brisante Thema des illegalen Handels erweist sich als ein Gegenstand, der diskursive Konflikte um Deutungshoheiten als Ausdrücke von Machtbeziehungen abbildete.54 In der Rede über »den Schwarzmarkt« und sein Personal schienen damit einerseits die aktuellen Deutungsmachtkonstellationen zwischen unterschiedlichen Teilnehmergruppen, abseits stehenden Beobachtern und staatlichen Bekämpfungsstellen auf. Andererseits bedeutete jede weitere Äußerung einen neuen Beitrag zum Fort- oder Umschreiben dieser Konstellationen. So etablierten die Planer im Justizministerium zunächst den Typus des »Kriegswirtschaftsverbrechers« und »Volksschädlings«, ohne auf die umgangssprachlich gängigere, längst bekannte Figur des »Schiebers« öffentlich Bezug zu nehmen. Diese Diskursstrategie zielte erstens darauf ab, durch die Verbindung der einzelnen Straftatbestände mit dem Thema »Krieg« den Übergangs- und Vorläufigkeitscharakter sowohl der neuen Verordnungen als auch der mit ihnen verbundenen Rationierungswirtschaft zu betonen. Besondere Umstände, so diese Lesart, erforderten eben besondere Maßnahmen, die nach einem baldigen Ende des Krieges schnell wieder zurückgenommen werden konnten. Letztlich lag der Rede vom »Kriegswirtschaftsverbrechen« damit das Versprechen zugrunde, dass Krieg und Rationierung eine Episode bleiben würden. Zum zweiten hätte der Rekurs auf den Schieberdiskurs in der Öffentlichkeit sofort den »Erfahrungsraum« der Inflationszeit aktualisiert; und nichts 54 Vgl. für die unterschiedlichen Ansätze, Diskurse als Machtphänomene zu fassen den Überblick bei Landwehr.
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lag der nationalsozialistischen Führung ferner, als den kommenden Krieg als eine ähnlich chaotische Zeit, eine neue »Great Disorder« zu zeichnen. Dieses Kalkül ging jedoch nicht auf. Denn die in den 20er Jahren popularisierte Figur das »Schiebers« – Kabarettprogramme, Romane und karikierende »Stilfiebeln« hatten ihr zu einem schillernden Kultstatus verholfen – erwies sich als dominantes Diskurselement. Zu leicht ermöglichte der Bezug auf »den Schieber«, unterschiedliche Konnotationen zu artikulieren: von der moralischen Empörung über die Distanzierung bis hin zur Bewunderung für diesen besonderen Typus Überlebenskünstler. Mit der (politisch gesteuerten) Popularisierung des Themas in Zeitungsberichten über Verfahren gegen »Kriegswirtschaftsverbrecher« setzte sich der massenkompatible Rekurs auf die populäre Figur durch. Damit bezogen die Schreiber der Artikel den weitverbreiteten, auf dem Markt der Meinungen relevanten Erwartungshorizont ihrer Leser mit ein. Den Assoziationsraum der »Verkehrten Welt« gezwungenermaßen in Kauf nehmend betonten die propagandistischen Verwendungen der »Schieberfigur« in der Folge dessen »gemeinschaftszersetzende« und »jüdische« oder »ausländische« Konnotationen, die im Kontrast zur Vorstellung von der »Volksgemeinschaft« das »schädliche« Verhalten von Schwarzhändlerinnen und -händlern thematisierten. Dabei umriss der Begriff zwar einen festen Bedeutungskern, der bestimmte Praktiken und äußere Erscheinungsweisen der Händler typisierte. Die Anwendung auf einzelne Fälle blieb aber relativ offen und kontextabhängig. Auch die Äußerungen von hohen Parteifunktionären, die auf den Unterschied zwischen dem gelegentlichen Tausch »geringerer Bedeutung« im Gegensatz zum »gewerblichen Handel« abhoben, unterstützten ein Schwarzmarkt-Konzept, das die Grenze zwischen Legalem und Illegalem situativ zu ziehen suchte. Diese Deutung widersprach zwar der rigiden Verurteilungspraxis der Gerichte auch in »kleineren« Fällen, deckte sich aber mit den Vorstellungen vieler Berlinerinnen und Berliner, die selber für den »Eigenbedarf« tauschten und darin nichts Unrechtes sahen. Dieser labile Konsens funktionierte zum einen solange, wie die »gewöhnlichen« Berliner das Gefühl hatten, dass die Strafen für Vergehen gegen die Verordnungen »gerecht« verteilt wurden. Etwaige soziale Schieflagen (»Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen«) oder die Privilegierung von Parteifunktionären und Amtspersonen wurden in diesem Zusammenhang zu einem Politikum.55 Zum anderen konnte der Konsens überhaupt erst zustande kommen, weil die Strafverfolgungsbehörden nur einen marginalen Teil der begangenen Delikte aufdeckten. Die Politik der Schwarzmarktbekämpfung war im hohen Maße Symbolpolitik, die darauf abzielte, das mit der nationalsozialistischen Versorgungspraxis gegebene Versprechen einer »gerechten« und »ausreichenden« Verteilung einzulösen. »Abweichler«, die durch ihr Verhalten das System in Frage 55 Bajohr, Parvenüs, S. 62ff.
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stellten und das Vertrauen in das Funktionieren der »gerechten« Verteilung unterminierten, sollten öffentlichkeitswirksam an den Pranger gestellt werden. Dafür eigneten sich insbesondere spektakuläre Einzelfälle (große Mengen oder Fälle von Veruntreuung) und solche, in denen einzelne Teilnehmergruppen (Juden, »Ausländer«, Prostituierte) untereinander oder mit anderen Berlinerinnen und Berlinern tauschten. Solche Fälle, deren Protagonisten von vornherein leichter als »Schieber« zu bezeichnen waren, ermöglichten es sowohl »dem Staat« als auch der breiten Masse der Konsumenten an jener konstruierten, Grauzonen ausklammernden Grenze zwischen akzeptablem »Eigenbedarf« und den »großen Schiebereien« festzuhalten. Eine Krise erlebte diese Diskurs-Konstellation mit dem Auftreten regelmäßiger Schwarzmärkte auf der Ebene von Versammlungsöffentlichkeiten Ende des Jahres 1944.56 Die Nutzung von Straßen und Plätzen der »Reichshauptstadt« für den illegalen Handel wurde zu einem wichtigen Bestandteil eines allgemeinen Krisendiskurses, der den Untergang der Stadt verhandelte. Der Bezug auf den Ersten Weltkrieg, die Inflation sowie Fragen nach Schuld und Unschuld am gegenwärtigen Zusammenbruch – das alles bündelte sich in der Rede über den Schwarzhandel und seine Protagonisten: »Ausländer«, Berlinerinnen, die mit ihnen tauschten und denen der Vorwurf der Prostitution gemacht wurde, und Berliner, die ihrer »männlichen« Rolle als Bewahrer der öffentlichen Ordnung nicht gerecht wurden, wenn sie sich an den illegalen Geschäften beteiligten. Damit veränderte sich das Schwarzmarktbild. Im Zentrum der Beschreibungen stand jetzt der Handel als Symptom eines umfassenden Auflösungsprozesses, sprach man über die Märkte primär als Erscheinungen im Stadtbild, die den Verfall moralischer Ordnungsvorstellungen illustrierten. Dabei wurde auf der Ebene des Alltagsdiskurses die Chaos-Wahrnehmung schnell durch ein neues Element ergänzt, das denen der neu etablierten staatlichen Stellen widersprach, welche die Ansammlungen in den Straßen als »Verunreinigungen des Straßenbildes« und Störungen bei der »Normalisierung der Verhältnisse« begriffen: Anstatt die Märkte als Phänomene eines Ordnungsvakuums zu beschreiben, etablierte sich die Rede über die »blühenden« Märkte. Die Naturmetaphorik als Ausdruck des Lebendigen in der Ruinenlandschaft der Stadt korrespondierte mit dem Charakter von Geselligkeit und »neuem Leben« in einer Umgebung, die von Zerstörung geprägt war. Gleichwohl blieb das Bild ambivalent. Der moralisch-politische Diskurs über die Berliner Schwarzmärkte bestand neben diesen neuen positiveren Deutungen fort. Bestimmend wurden zwei Teilstränge. Der eine thematisierte die sozialen Verwerfungen: das »Prassen« der »großen Schieber« und das Elend der mittellosen, zumeist älteren Bewohner der Stadt. Der andere bezog sich auf unterschiedliche (wirtschafts-) politische Konzepte in Ost und West. Vor dem Hintergrund der staatlichen Grün56 Vgl. für die im Folgenden wichtigen Öffentlichkeitsbegriffe Gerhards u. Neidhardt.
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dungsprozesse spielte die Frage der Wirtschaftskonzepte eine wichtige Rolle; und das galt nicht nur für Spezialistenkreise. Die Debatten über Markt- und Planwirtschaft und deren Varianten nahmen einen breiten Raum in den neu gegründeten Berliner Zeitungen ein. Aus offizieller sowjetischer bzw. Ostberliner Sicht war der Schwarzmarkt zunächst das Produkt von Krieg und Faschismus, bildete darüber hinaus aber auch ein propagandistisch verwertbares abschreckendes Beispiel für die sozialen Schieflagen, die unkontrollierte Marktwirtschaften vermeintlich hervorbrachten. Die marktliberalen Deutungen westlicher Provenienz erwiesen sich beim Schwarzmarkt-Thema als nicht weniger konfliktträchtig. Insbesondere die Dehler-Kontroverse brachte den engen Zusammenhang von (wirtschafts-) politischen Neuordnungskonzepten und dem allgemeinen Schwarzmarktdiskurs der Übergangszeit ans Tageslicht. Das von Dehler nachträglich gebilligte Homo-Oeconomicus-Verhalten der Schwarzhändler widersprach insbesondere moralisch begründeten Abwehrhaltungen, welche die Verelendungserscheinungen der »Schwarzmarktzeit« dem unmoralischen Lebensstil der »großen Schieber« gegenüber stellten. Dieser Deutungskampf um die spezifische »moral economy« der Berliner Tauschkultur wurde vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz in Berlin besonders prekär.57 Daran anschließend stellt sich die Frage nach dem Stellenwert der illegalen Tauschkultur für die beiden neuen deutschen Wirtschaftsgesellschaften in Ost und West, dessen Analyse sich wegen der besonderen Situation der Teilung am Berliner Beispiel aufhängen lässt. Die vorherrschenden, quasi offiziösen Deutungen der Wirtschaftsgeschichte funktionierten in beiden deutschen Staaten als integrierende Erzählungen, die in ihrer Eigenschaft als Erfolgsgeschichten immer auch eine nationale (Ersatz-) Legitimation bereitstellen konnten. Die hier vertretene These lautet, dass einem Gutteil dieser Rede über ökonomische Sachverhalte die Erfahrungen mit der chaotischen Tauschzeit als Negativfolien unterlagen. Berlin ist wegen der besonderen Situation der Stadt geeignet, nicht nur die Einbettung der Tauschkultur in eine langfristige Perspektive der Geschichte seit dem Ersten Weltkrieg zu rücken, sondern auch nach einer Erfahrungsgeschichte des Marktes zu fragen, die sich auf die Entwicklungen in Ost und West bezieht. Ins Blickfeld rückt hier der illegale Markt als Vorläufer der Sozialen Marktwirtschaft und der ostdeutschen Planwirtschaft.58 Diese beiden As57 Vgl. zum Begriff der »moral economy« den Aufsatz von Thompson. Thompsons Konzept wird hier allgemein zur Kennzeichnung in erster Linie moralischer Deutungen von und Abwehrhaltungen gegenüber ökonomischen Sachverhalten verstanden. 58 Die Arbeit bleibt damit im »nationalen Gehäuse«, auch wenn die Besatzer als Akteure in den Blick kommen. Sie untersucht, wenn man so will, einen Sonderfall, nämlich die krisenhafte Geschichte ökonomischer Diskurse und Praktiken im Zeichen von »Schiebungen« und »Schiebern« in der Zeit zwischen dem Ersten und der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs. Für eine Untersuchung, die sich dem Nachkriegsberlin »transnational« widmet, demnächst Stefan-Ludwig Hoffmann.
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pekte – die Vorgeschichte der Berliner Tauschkultur und ihre Folgewirkungen – bilden die Klammern der Arbeit. So geht es im ersten Kapitel um »Vorgeschichten«, um Erfahrungsräume und Tauschsemantiken in Berlin einerseits, um Interaktionsräume und -bedingungen nach dem Kriegsende von 1918 andererseits. Erfahrungen mit Tauschpraktiken und eine radikalisierte politische Semantik bildeten den Hintergrund, vor dem die Entwicklung der Berliner Tauschkultur in Krieg und Nachkrieg ihren spezifischen Verlauf nahm. Das zweite Kapitel wendet sich – von Martha Rebbiens Tauschgeschichte ausgehend – den Akteuren des illegalen Netzwerkhandels, dem Sozialprofil seiner Teilnehmer und besonders auffälligen Wandlungsprozessen sozialer Beziehungen unter den Bedingungen der Tauschkultur zu. Ins Blickfeld rücken sowohl einzelne Schwarzhandelspraktiken und Professionalisierungsleistungen als auch Veränderungen in der Raumnutzung, rückt ein spezifisches city making, in dem die Berlinerinnen und Berliner in der Auseinandersetzung mit den Trägern staatlicher Gewalt ihre Stadt alltäglich neu definierten. Moralisch aufgeladene Bewertungen des illegalen Handels kreisten auch während des Krieges vor allem um die Figur des »Schiebers«, ein Diskurselement mit dessen Hilfe in erster Linie die »üblichen Verdächtigen«, also Randgruppen der NS-Gesellschaft, diskreditiert wurden. Das dritte Kapitel geht der Frage nach, welche Bedingungen den Wandel der Berliner Schwarzmarktlandschaft hin zu einem versammlungsöffentlichen Marktgeschehen begünstigten. Die vielfältigen Krisen eines Alltags im Ausnahmezustand beförderten das Entstehen eines sich über die ganze Stadt erstreckenden Netzes aus Marktplätzen. Das vierte Kapitel wendet sich diesen Plätzen, ihrer Verteilungslogik wie ihrer Mikrostruktur zu. Neben neuen Praktiken und Teilnehmergruppen geht es hier auch um veränderte Bekämpfungsstrategien der Verfolgungsbehörden, die Internationalisierung des Handels sowie um die gehandelten Waren und ihre Bedeutung für die Berliner Tauschkultur. Das fünfte Kapitel schließlich bettet die Entwicklung des illegalen Handels in die »Geschichten vom Neuanfang« unter den Vorzeichen der Währungsreformen in Ost und West ein. Es beschreibt den Währungsschnitt als Kulminationspunkt eines Verschränkungsprozesses von »kleinem Alltag« und »großer Politik« und fragt nach dem Stellenwert des Schwarzmarkts für die Geburtsstunde der neuen Wirtschaftskulturen auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze. Der Schluss greift diese Überlegungen auf und formuliert die übergreifende These vom »Schwarzhandel als radikaler Markterfahrung«. Wenn sich die Berliner Tauschkultur insgesamt als ein Raum beschreiben lässt, in dem für die Erfahrungshaushalte der Zeitgenossen einschneidende Modi im Umgang mit Vertrauens- bzw. Misstrauensleistungen erlebbar und artikulierbar wurden, dann kann dieser Raum als wichtige Referenz für Stabilitätssehnsüchte 34
und Sicherheitskulturen gelten, wie sie in beiden deutschen Gesellschaften seit den fünfziger Jahren erkennbar werden. Ein so flüchtiger und im Verborgenen blühender Gegenstand wie der Schwarzmarkt entzieht sich, könnte man meinen, von Natur aus einer quellengestützten Annäherung. Das trifft nicht zu. Allerdings gibt es keinen geschlossenen Bestand zu den Berliner Schwarzmärkten. Die Arbeit wertet eine Vielzahl unterschiedlicher Quellen aus. Da sind zunächst die Akten des Berliner Sondergerichts für »Kriegswirtschaftsverbrechen« (KWV), die einen Zugang zu den Schwarzhandelsaktivitäten der Kriegszeit eröffnen. An ihnen lassen sich sowohl »harte« Daten als auch »weiche« Informationen erheben. Die umfangreichen »Ermittlungssachen« der Berliner Polizeistellen, die in den Gerichtsakten enthalten sind, bilden den Ausgangspunkt für die Rekonstruktion eines vielgestaltigen Tauschgeschehens. Auch in der Nachkriegszeit haben die verfolgenden Behörden der Besatzungsmächte dem Schwarzmarkt ein Gutteil ihrer Aufmerksamkeit gewidmet, da er für sie ein zentrales Problem bei der Etablierung und Aufrechterhaltung eines geregelten Wirtschaftslebens bildete. Hervorzuheben sind die Unterlagen der Berliner Polizei, die Lageberichte zur Entwicklung der Schwarzmärkte enthalten. Zeitungsartikel und Erinnerungsberichte bieten eine umfangreiche Quellengrundlage, mit deren Hilfe sich sowohl die öffentlichen Debatten als auch individuelle Erfahrungen und Sichtweisen nachzeichnen lassen. Einen Zugang zur räumlichen Organisation öffentlichen Tauschgeschehens wie zu einzelnen Praktiken der Akteure eröffnet darüber hinaus das vorliegende Bildmaterial. Aus pragmatischen Gründen wurde auf eine umfassende Durchsicht aller Akten der Besatzungsmächte verzichtet. Exemplarisch (und aus einem in der Sprachkompetenz des Autors naheliegenden Grund) wurden allerdings die äußerst umfangreichen und detaillierten Dokumente der britischen Militärverwaltung hinzugezogen, die wertvolle Hinweise auf die Antischwarzmarktpolitik der Alliierten Kommandantur und interessante Unterlagen zum Themenkomplex »organized crime« enthalten.
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Teil I Vorgeschichten
Die Geschichte des Berliner Schwarzhandels zwischen Kriegsbeginn und der allmählichen Eindämmung der illegalen Praxis in den neuen Konsumgesellschaften, bildet eine relativ »geschlossene« Einheit, die von zeittypischen Charakteristika geprägt ist. Das gilt aus der Sicht einer den öffentlichen Diskurs prägenden medialen Erinnerungsperspektive mehr noch für die unmittelbare Nachkriegszeit. Der Schwarzmarkt als Sujet dient ihr als das Signum einer Übergangszeit, dessen Nennung stets eine ganze Reihe von bedeutungsgesättigten Schlüsselbegriffen mit aufruft. Doch sollte man weder die typischen Merkmale der Nachkriegszeit in einen Gegensatz zu ihrer Vorgeschichte stellen, noch jene weiter zurückreichende Traditionslinie vergessen, welche die Berliner Tauschkultur vor allem mit der Zeit des Ersten Weltkriegs und seiner Folgen, aber auch mit den »roaring twenties«, der Weltwirtschaftskrise und der beginnenden Aufrüstungswirtschaft der dreißiger Jahre verband. Für »kleine« und »große« Schwarzhändler genauso wie für die Protagonisten auf staatlicher Seite spielte deshalb jene anhaltende Auseinandersetzung über Fragen moralisch richtigen Verhaltens in einer über weite Strecken chaotischen wirtschaftlichen Situation eine wichtige Rolle. Die Geschichten von Schwarzhändlern wie Martha Rebbien sind somit weit mehr als bloße Wiederholungen eines bekannten Plots aus den Tagen des Ersten Weltkriegs, als Berlinerinnen mit allen Mitteln versucht hatten, ihren Alltag zu »organisieren« und die »home fires« am Brennen zu halten.1 Sie sind vielmehr Fortsetzungen, die einerseits auf solche Erfahrungen und die sie begleitenden politischen Diskussionen Bezug nahmen und dabei andererseits neue Situationen beschrieben. Verstehen kann man sie nur, wenn man ihre Vorgeschichten kennt.
1 Tausch-Semantiken und Erfahrungsräume in Berlin nach 1918 Während des Zweiten Weltkriegs lebten Schwarzhändler gefährlich. So entging Martha Rebbien, eine arbeitslose Kellnerin, deren Schwarzhandelsgeschichte im Folgenden im Mittelpunkt stehen wird, einer erheblichen Strafe 1 Davis.
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wegen des herannahenden Kriegsendes nur knapp. Landgerichtsrat Steinriede beantragte in seiner Anklageschrift vom 31. März 1945 eine Verurteilung auf der Grundlage der »Kriegswirtschaftsverordnung«.2 Wäre es noch zu einer Verhandlung gekommen, hätte Rebbien mindestens mit einer Gefängnisstrafe rechnen müssen. Zwar schöpften die Richter des Berliner Sondergerichts, vor dem die Verfahren gegen »Kriegswirtschaftsverbrecher« verhandelt wurden, keineswegs immer den zulässigen Bestrafungsspielraum aus. Erhebliche Gefängnis-, Zuchthaus- und in einzelnen Fällen auch Todesstrafen machten die illegale Praxis jedoch in jedem Fall zu einem riskanten Unterfangen.3 Das rigorose Vorgehen gegen die Akteure auf den illegalen Märkten fand durchaus Unterstützung in der Bevölkerung. Das hatte mindestens vier Gründe: Zum einen setzte die Bestrafungspraxis in den Augen vieler lediglich jenes mit der Rationierung formulierte Gleichheits- und Gerechtigkeitsversprechen durch, das den einzelnen »Volksgenossen« ohne Ansehen etablierter Schichten- wie Milieugrenzen zu behandeln vorgab. Zwar verlagerte sich der Argwohn damit im Laufe der Zeit lediglich auf reale oder vermeintliche Ungleichbehandlungen in der Strafverfolgung. Doch zunächst konnten die Urteile gegen Schwarzhändlerinnen und -händler durchaus als konsequentes Pendant zur Verteilungslogik des Rationierungssystems verstanden werden. Zum zweiten entsprach es einer gängigen Deutung, die eigenen Tauschgeschäfte – wenn man denn an welchen beteiligt war – in Abgrenzung zu »Schiebungen« als kleine »Gefälligkeiten« zu bezeichnen, die nicht als Schwarzhandelspraktiken verstanden werden mussten. Damit war eine Distanzierung möglich, die der empörten Forderung nach harten Strafen gegen »Schieber« Raum ließ. Drittens waren die Verfolgungsbehörden mit der bald gewaltig steigenden Zahl der Vergehen überfordert. Der Verfolgungsdruck konnte nicht umfassend ausgeübt werden.4 Das sorgte einerseits für Empörung, weil der illegale Handel anscheinend unbehelligt »um 2 LAB A Rep. 358–02 89667, Anklageschrift, unpaginiert. 3 Bei diesen Strafmaßen von »Kavaliersdelikten« zu sprechen, wie Spoerer, S. 562, es tut, ist problematisch. Die Tatsache, dass bei weitem nicht alle Fälle verfolgt werden konnten, sollte nicht über die rigorose Verurteilungspraxis hinwegtäuschen. In den Verhandlungen vor dem Berliner Sondergericht waren Haftstrafen die Regel. Vgl. als Beispiele, in denen Todesurteile wegen »Kriegwirtschaftsverbrechen« ausgesprochen wurden LAB A Rep. 358–02 89703, 89770, 87805. Spoerers Behauptung, wonach »die deutschen Behörden« Schwarzhändler gewähren ließen, »solange es sich um Geschäfte handelte, die der Deckung des persönlichen Bedarfs dienten«, ist in dieser Pauschalität falsch. Vgl. für einige Beispiele vor dem Sondergericht Köln Zierenberg, Herrschaftsfragen. 4 Dabei gilt es zeitlich zu differenzieren (was Spoerer unterlässt): Zunächst kann Prohibition durchaus effizient sein, weil sie bei entsprechenden Sanktionsmaßnahmen, schwach entwickelten Marktstrukturen und geringen Teilnehmerzahlen anfänglich relativ leichtes Spiel hat. Doch die Kosten steigen mit der Dauer der Aufrechterhaltung, und die Effizienz der Sanktionsmittel nimmt in dem Maße ab, wie sich entsprechende Marktstrukturen als alternative Infrastruktur herausbilden, was mit steigenden Teilnehmerzahlen korreliert. Im Ergebnis gilt: »The marginal cost of increased prohibition is (…) increasing«. Thornton, S. 75f.
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sich greifen« konnte. Andererseits konnte man unter diesen Umständen eigene Tauschgeschäfte umso leichter als offensichtlich nicht verfolgungswürdige Handlungen einordnen, ohne von der Verurteilung öffentlich verhandelter Schieber-Fälle Abstand nehmen zu müssen. Vor allem aber hatte die Bestrafung von Schwarzhandelspraktiken, viertens, eine eigene Vorgeschichte, die bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurück reichte. Als die nationalsozialistischen Planer am Vorabend des Zweiten Weltkriegs daran gingen, Verordnungen gegen die befürchteten Schwarzhandelsvergehen zu formulieren, hatte die deutsche Öffentlichkeit eine bald zwanzig Jahre andauernde Auseinandersetzung über Tauschpraktiken in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten hinter sich. Die in Teilen symbolische, aber gleichwohl mit großem Aufwand und Härte betriebene Anti-SchwarzmarktPolitik zwischen 1939 und 1945 konnte sich auf Abwehrhaltungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs stützen. In der Ablehnung des »Schiebers« und seiner Praktiken trafen sich die Vorbehalte ganz unterschiedlicher Akteursgruppen. Gleichzeitig verschwamm in der Rede über die unmoralischen Schieber-Praktiken die Grenze zwischen Ökonomie und Politik, wurde ökonomisches Fehlverhalten zu einer Blaupause für die politische Kultur der Zwischenkriegszeit. Zwar spielte das Thema »Tausch« etwa für die nationalsozialistische Politik auf den ersten Blick keine wesentliche Rolle. Die Revision von »Versailles«, Deutschlands Führungsanspruch in der Welt, die Idee vom »Volk ohne Raum«, die Abkehr vom Weimarer »System« und der Hass auf Juden, Kommunisten und »Volksfremde«: Das waren die Kernelemente einer »Weltanschauung«, wie sie in Hitlers »Mein Kampf« vorformuliert und in unzähligen Schriften der Partei- und später auch der Staatsführung variiert worden waren. Diese Versatzstücke verwiesen immer wieder gegenseitig aufeinander und ließen das Bild einer aggressiven rassistischen Ideologie entstehen, die mit jenem ambivalenten Prozess zwischen »Machtergreifung« und »Machtübergabe« zur Grundlage staatlichen Handelns werden konnte. Unabhängig davon, dass häufig genug pragmatische Gesichtspunkte die Umsetzung der »reinen Lehre« verhinderten, diese abmilderten oder radikalisierten, ergab das damit formulierte Gedankengebäude eine allgemeine, von unterschiedlichen Machtgruppen des Regimes interpretier- und anwendbare Handlungsanleitung, in deren Sinne Funktionäre und Beamte »dem Führer entgegenarbeiten« konnten.5 Doch »unterhalb« dieser Leitbilder hatte für die NSDAP bereits während der Weimarer Jahre auch der Tausch eine wichtige Rolle gespielt, weil er einerseits zu einem gesellschaftlichen Reizthema geworden war und sich andererseits zur Etablierung und Bestätigung einer ganzen Reihe von Feindbildern eignete. Öko5 Kershaw, Hitler, Bd. I, S. 663–744. Zur »Machtübergabe« Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 580ff. Zur Aufstiegsgeschichte allgemein Evans, Aufstieg.
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nomische Tauschhandlungen verstand die nationalsozialistische Politik mit dem Verweis auf die Weimarer »Schieberrepublik« vor allem als Partnerschaften der Wenigen zu Lasten der Vielen; oder, anders gesagt, als in der Regel »raffgierige Geschäfte« einer (»jüdischen«, »östlich-rückständigen« beziehungsweise »westlich-kapitalistischen«) Minderheit auf Kosten der deutschen »Volksgemeinschaft«. Die Berliner Tauschkultur der Jahre zwischen 1939 und 1950 nahm ihre Gestalt mithin nicht im luftleeren Raum an, sondern vor dem Hintergrund individueller und kollektiver Erfahrungen – gerade auch der handelnden Politiker. Der illegale Tauschhandel bedeutete für die nationalsozialistischen Machthaber nicht nur eine Gefahr, die ab 1939 das Rationierungssystem in Frage stellte und damit die »Moral an der Heimatfront« zu unterminieren drohte. Er war darüber hinaus ein politisch hochgradig aufgeladenes Thema. Die nationalsozialistische Propaganda diskreditierte die Weimarer Republik zu einem beträchtlichen Teil, indem sie auf die angeblich korrupte Cliquenwirtschaft des alten »Systems« rekurrierte. »Schiebungen« und anrüchige Arrangements in Politik und Wirtschaft wurden in propagandistischen Zerrbildern als Kennzeichen der Republik entworfen. Sie bildeten damit ein wichtiges Motiv der nationalsozialistischen Rhetorik im Kampf um die Macht. Bereits im Parteiprogramm des »Nationalsozialistischen Arbeitervereins« von 1920 gehörte das Vorgehen gegen »gemeine Volksverbrecher« zu den wichtigsten politischen Zielen. »Wir fordern«, hieß es darin, »den rücksichtslosen Kampf gegen diejenigen, die durch ihre Tätigkeit das Gemeininteresse schädigen. (…) Wucherer, Schieber usw. sind mit dem Tode zu bestrafen, ohne Rücksichtnahme auf Konfession und Rasse«.6 Insbesondere das Hintanstellen »rassischer« Abstufungen bei der Verurteilung von »Schiebern« mag zunächst verwundern, wenn man sich die später praktizierte Ungleichbehandlung vor Augen führt.7 Doch kann es als Hinweis darauf verstanden werden, dass die Prioritäten 1920 andere waren. Unabhängig davon, dass die nationalsozialistische Propaganda tatsächlich ihrer Empörung über den um sich greifenden illegalen Handel Ausdruck verlieh, war damit zugleich eine populäre Forderung formuliert, die an ein weithin geteiltes zeitgenössisches Stimmungsmuster anknüpfte. Auch der in der gleichnamigen Verordnung 1939 wieder aufgegriffene Begriff des »Volksschädlings« sollte ursprünglich »Schieber und Wucherer« bezeichnen.8 1920 hatte der »Völkische Beobachter« das »Versagen« des öffentlichen Rechts »gegen die gemeinen Volksschädlinge der Schieber und Wucherer« beklagt.9 Zugleich wurde der Terminus zur Verächtlichmachung des politischen 6 Feder, S. 9. 7 Spoerer; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 770. 8 Gemeint ist die »Verordnung gegen Volksschädlinge« vom 5.9.1939. Reichsgesetzblatt I, S. 1679. 9 Ausgabe vom 26.9.1920, S. 4.
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Gegners in die politische Auseinandersetzung übertragen. In den »Politischen Nachrichten« der Polizeidirektion München hieß es über eine Rede Hitlers im Hof bräuhausfestsaal: »Hitler (sprach) über ›Erzberger und Genossen‹. Dieses durch die (…) erfolgte Aufnahme des Verfahrens gegen Erzberger wegen Steuerhinterziehung wieder aktuell gewordene Thema gab dem Redner willkommenen Anlass, (…) mit diesem ›Verbrecher und Volksschädling‹ abzurechnen«.10 Die abfällige Rede über die »Weimarer Republik« unter dem Vorzeichen des illegalen Handels sollte die propagierte politische Kultur des Nationalsozialismus als Positivbeispiel erscheinen lassen – unabhängig davon, dass die nationalsozialistischen Partei- und Verwaltungshierarchien ab 1933 realiter selber einen Hort für »Schiebungen« aller Art bildeten.11 Schließlich gewann das entworfene Feindbild des »Schiebers« zwischen 1939 und 1945 eine inklusive Funktion, die den illegalen Handel dazu nutzte, »Gemeinschaftsfremde« zu identifizieren und die »Volksgemeinschaft« stärker zusammen zu binden. Der Erfolg der NS-»Bewegung« wurde nicht zuletzt deshalb möglich, weil ihre ideologischen Interpretamente in Teilen zugleich Erklärungs- und Weltdeutungsmuster nicht nur des nationalkonservativen Mainstreams waren, sondern auch Vorbehalte und Ängste anderer Milieus aufgriffen. Die Agonie der Weimarer Republik sahen viele Entscheidungsträger und Anhänger der rechten Parteien aus der Perspektive eigener Vorstellungen über eine wieder zu erlangende Geltung des »Vaterlandes«, die (Re-) Etablierung eines starken Staates, der sich den drängenden Problemen anzunehmen versprach, und: mit den Augen erklärter Revisionisten, Antikommunisten und Antisemiten. Diese Haltungen fanden vor allem in jenen Kreisen großen Zulauf, für die alleine die Existenz der Weimarer Republik schon skandalös war. Der Systemwechsel von 1918 war von Beginn an durch vielfältige Krisenerfahrungen überschattet, die zum einen Folgen des Ersten Weltkriegs, zum anderen solche langfristiger sozialer Wandlungsprozesse und einer ambivalenten Modernisierung Deutschlands im 19. Jahrhundert waren.12 Im Ergebnis bildete die Weimarer Republik ein Konglomerat gesellschaftlicher Fragmentierungen, die sich in besonders heftigen politischen und sozialen Auseinandersetzungen niederschlugen.13 Der 10 Nach: Schmitz-Berning, S. 671. 11 Bajohr, Parvenüs, stellt treffend fest, dass »die schärfsten Kritiker angeblicher ›Bonzenwirtschaft‹ der Weimarer Republik (…) eine tatsächliche ›Bonzenherrschaft‹ nie gekannten Ausmaßes« etablierten. Vgl. ebd., v.a. S. 49–97. Zitat: S. 67; sowie für die Debatten um Korruptionsfälle in Berlin Ludwig. 12 Vgl. allerdings die Differenzierungen im Hinblick auf das Krisenparadigma bei Föllmer u. Graf. 13 Vgl. etwa Lehnert u. Megerle, Identitäts- und Konsensprobleme; Wirsching, S. 84–95; bei Mergel, Parlamentarische Kultur, S. 27–29, der Hinweis, dass fragmentierte Gesellschaften in Europa vor 1945 eher die Regel als die Ausnahme waren. Vgl. allerdings zur besonderen Situation einer extremen politischen Antagonismenbildung unter den Vorzeichen eines Weimarer »Bür-
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politische Wettbewerb nahm unter den Vorzeichen einer ausgeweiteten Öffentlichkeit den Charakter von Deutungskämpfen an, die oftmals nicht die Behandlung systemimmanenter Probleme verhandelten, sondern mittelbar oder unmittelbar die parlamentarische Demokratie selber, ihre tragenden Ideen und Repräsentanten in Frage stellten.14 Der »Kampf gegen Wucher und Schiebereien« bildete ein Kernthema dieser Auseinandersetzungen, das auch »ein zentrales Schlagwort in der revolutionären Strategie der Kommunisten« formulierte und dabei als Synonym für kapitalistische Ausbeutung herhalten musste. Der republikfeindliche Schieberdiskurs war jedoch mehr als eine Agitationsplattform für radikale Parteien. Er »durchdrang die Sprache aller politischen Gruppierungen gleich welcher Couleur«.15 Der Republik fehlte ein Basiskonsens. Nicht genug, dass die systemoppositionellen Parteien die Legitimität des neuen Staates in Abrede stellten; auch die Mehrheit der Bevölkerung und die Eliten trugen dazu bei, dass die Stabilität des neuen Gemeinwesens schon bald nach der Staatsgründung zu erodieren begann. Die Rede von der Weimarer »Schieberrepublik« forcierte diesen Prozess.16 Der Aufstieg der NSDAP wurde auch deshalb möglich, weil er das Ende einer Reihe politischer Enttäuschungen zu versprechen schien, die das Ergebnis einer lagerübergreifend formulierten »Überforderung der Politik« waren. Die Repräsentationskrise der Republik gründete auf Erwartungsstrukturen breiter Bevölkerungskreise, die Repräsentationsmodi aus der Zeit des Ersten Weltkriegs wie Virtualisierung, Dramatisierung und Aktualisierung auf den politischen Alltag übertrugen. Das aber bedeutete unausweichlich eine Überforderung politischen Alltagshandelns, welches weitaus langwieriger, uneindeutiger und komplexer war. Jene für Weimar typische Ablehnung komplizierter und auf Geduld angewiesener Kompromisssuchen vertrug sich nicht mit der vorhandenen Sehnsucht nach »Eindeutigkeit« und »Gemeinschaft«. Die Erwartungen an politisches Handeln formulierten somit ein nicht aufzulösendes Paradox: eine umfassende (Volks-) Gemeinschaftsforderung einerseits, in der noch die »Ideen von 1914« nachhallten und die Verbesserungen ad hoc zu erreichen wünschte, und andererseits das wachsende Unbehagen und die offene Ablehnung des politischen »Klein-Kleins«, das schnell in den Ruch geriet, den moralischen Anforderungen »guter Politik« nicht gerecht zu werden, zugleich aber die Voraussetzung für gemeinschaftlich-parteiübergreifendes Handeln war.17 gerkriegs« in Berlin Wirsching, Weltkrieg, und die aus anderer Richtung am Beispiel Sachsens argumentierende Arbeit von Schumann. 14 Ebd., S. 376. 15 Geyer, Welt, S. 396. 16 Die Grundlinien dieser Interpretation bei Peukert, Weimarer Republik, S. 13–25 u. 213–242. Zu den damit gegebenen Unterschieden im Vergleich mit der Situation von 1949 vgl. Gusy, S. 16f., sowie die Bemerkungen von Theodor Heuss, zitiert bei Baumgärtner, S. 97f. 17 Hierzu Mergel, Führer, und Hardtwig.
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Eine wichtige Rolle spielten dabei jene »Skandale«, die das Verhalten einzelner Politiker und Geschäftsleute thematisierten, denen – berechtigt oder unberechtigt – wirtschaftskriminelle Vergehen vorgehalten wurden.18 Denn über die konkreten Einzelfälle hinaus bildeten die öffentlichen Debatten über Korruption, Bestechlichkeit und illegale Absprachen eine hasserfüllte Polemik gegen die »skandalösen Zustände« in der Weimarer Republik, die das gesamte Staatswesen als »Schieberrepublik« zu diskreditieren suchte. So wurde etwa der Barmat-Skandal zu einer republikfeindlichen Kurzformel, die es erlaubte, die sittliche Qualität republikanischer Politiker wie der Weimarer Republik als solcher zu bezweifeln.19 Schon bevor die Nationalsozialisten erfolgreich auf diesen Zug der »Systemkritik« unter den Vorzeichen des Schieberdiskurses aufsprangen, hatte sich die Rede über die »Weimarer Schieberrepublik« als ein Topos etabliert, der wirtschaftskriminelle Einzelfälle als typische Erscheinungen der Kriegs-, Revolutions- und Inflationszeit schilderte und zu einem destabilisierenden Diskurselement erhob.20 Das fiel auf den neuen Staat insgesamt zurück. »Ganz Deutschland«, hieß es in einem Artikel im »Montag« aus dem Jahr 1925, sei durch die Revolution, »ein Schieberlokal, eine Animierkneipe, ein aberwitziger Kientopp, ein wüster Rummelplatz« geworden.21 Solche vorwiegend von der politischen Rechten vorgebrachten Anwürfe blieben nicht unbeantwortet. So versuchten das »Berliner Tageblatt« und der »Vorwärts« zum Gegenangriff überzugehen, indem sie zwei Skandale aufgriffen, die zeigen sollten, dass auch »Rechte« an Skandalen beteiligt waren. In den Veröffentlichungen wurden dabei entweder die »arische« Herkunft oder die Adelszugehörigkeit der am Spekulationsgeschäft Beteiligten hervorgehoben, um so sozialen und rassischen Stereotypen des rechten Schieberdiskurses entgegen zu wirken.22 Beide Positionen thematisierten damit das Spannungsverhältnis zwischen universellen und partikularen Interessen und reklamierten das »Allgemeinwohl« als Anliegen für sich. Den Resonanzraum für diese heftigen Kontroversen bildeten die Rationierungserfahrungen der Bevölkerung in der Kriegs- und Nachkriegszeit und der aus dem Mangel entstandene Schwarzhandel. In der Inflation wurde die »Desorganisation des Marktes« (Martin Geyer) für jedermann sichtbar. Immer neue Banknoten und die in den Zeitungen abgedruckten Statistiken visualisierten dabei lediglich einen Währungsverfall, der im Alltag unmittelbar durchschlagende Konsequenzen hatte. Die »Preisfrage« war eine Einkommens- und 18 Vgl. Malinowski, Skandale; Bösch, Skandalforschung; zu den Fortsetzungen, die solche Formen politischer Instrumentalisierung in den beiden deutschen Diktaturen fanden, in vergleichender Perspektive die Beiträge in Sabrow. 19 Mergel, Parlamentarische Kultur, S. 378ff. 20 Vgl. Peukert, Weimarer Republik, S. 85f. 21 Nr. 43 vom 9.11.1925 S. 1f. 22 Vorwärts, Nr. 100, vom 28.2.1925, 2. Beilage, S. 1.
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damit letztlich auch einer »Ernährungsfrage«, betraf also direkt die Lebensverhältnisse großer Teile der Bevölkerung.23 Die nach dem Amtsantritt des Reichsministers für Ernährung, Andreas Hermes (Zentrum), im April 1920 allmählich durchgesetzte Auf hebung der »Zwangswirtschaft« verschärfte die Preissteigerung. Sie setzte das freie Spiel von Angebot und Nachfrage wieder ins Recht und stellte damit diejenigen besser, die über die Mittel verfügten, verteuerte Waren zu erstehen. Als Reaktion darauf kam es zu Protesten und Selbsthilfeaktionen. Letztlich war die Wuchergesetzgebung nichts anderes als eine symbolisch aufgeladene »moralische Sozialpolitik«, mit der die Regierung auf die moralische Ökonomie der Inflationszeit zu reagieren suchte. Die sogenannte »Wuchergerichtsverordnung« vom 27. November 1919 nannte der Reichstagsabgeordnete Breitscheid (SPD) ein Gesetz »for show«, das allein eine Konzession an die »hungernden Schichten« darstelle und ein nicht einzulösendes Gerechtigkeitsversprechen gebe. Scheinbar feste Ordnungsmuster lösten sich zusehends auf. Ins Rutschen gerieten so wichtige Garanten der bürgerlichen Ordnung wie der Vertragsbegriff und die stabile Relation zwischen Person, Ware und Währung.24 Die Tatsache, dass der Besitz von Geld in Zeiten fortschreitender Geldentwertung keine soziale Sicherheit mehr garantierte, war für viele eine traumatische Erfahrung. Sie machte vor Schichtgrenzen nicht halt.25 Neben dem »Durcheinanderwirbeln sozialer Hierarchien« (Martin Geyer) prägte sich vor allem die Auflösung einer Sicherheit vermittelnden individuellen Beziehung zu den Dingen und ihrem Wert in das kollektive Gedächtnis ein. Dass das Geld »sukzessive seine Funktion als vermeintlich neutraler Maßstab und damit als ein Mittel der Bestimmung von Differenzen« verloren hatte, war ein nur schwer zu verarbeitender Eindruck, der nicht zuletzt moralische Maßstäbe ins Wanken geraten ließ und in der Folge auch antisemitischen Strömungen Auftrieb gab.26 In den Auseinandersetzungen um den illegalen Berliner Handel der zwanziger Jahre rückten Mangelerscheinungen sowie die »Wahrnehmung [einer] durch staatliche Maßnahmen herbeigeführte(n) und moralischen Kriterien unterworfene Ungleichheit« langfristig auf der politischen Agenda ganz nach oben.27 Insbesondere Arbeitslose sowie Klein- und Sozialrentner verelendeten während der Inflationsjahre in Berlin. Das hätte eine Neuausrichtung des kommunalen Sozial- und Wohlfahrtswesens notwendig gemacht.28 Erste Maßnahmen wie die öffentlich getragenen »Notstandsarbeiten« konnten die um sich 23 Vgl. Geyer, Welt, 167–195. 24 Zur »Rechtsunsicherheit in den bürgerlichen Rechtsbeziehungen« ebd., S. 207ff. und die Einleitung bei Widdig. 25 Geyer, Welt, S. 214f. 26 Ebd., S. 383. Ders., Sprache. 27 Geyer, Welt, S. 239f. 28 Scholz. Vgl. als zeitgenössische Schilderung Böß.
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greifende Arbeitslosigkeit aber nicht entscheidend eindämmen. In der Hauptstadt wich die Entwicklung der Arbeitslosigkeit vom landesweiten Trend ab. Hier bildete sich in den ersten Nachkriegsjahren ein Sockel von »Dauerarbeitslosen«. Zeitweise wurden 40% aller Empfänger von Erwerbslosenunterstützung in Berlin registriert. Das hatte vor allem zwei Gründe: Erstens litt das neu gebildete Groß-Berlin besonders unter der Umstellung von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft, hatte sich hier doch vor und während des Krieges ein guter Teil der Rüstungsindustrie angesiedelt. Zweitens wurde die Stadt zur Anlaufstelle für Flüchtlinge aus den abgetretenen und besetzten Gebieten. Beides führte zu einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Ausgangsposition.29 In den chaotischen Monaten der Hyperinflation entlud sich der soziale Sprengstoff. Hungerkrawalle und Teuerungsunruhen waren im Oktober 1923 an der Tagesordnung. Der Zorn richtete sich dabei auch gegen Sündenböcke. Dazu zählten die im »Scheunenviertel« lebenden »Ostjuden«. Hier kam es im November zu Ausschreitungen. In der Innenstadt wurden Geschäfte geplündert.30 Vor diesem Erfahrungshintergrund gewann die in der Kriegszeit etablierte Figur des »Schiebers« ihre Bedeutung. Der Begriff und seine Varianten – wie etwa »Spekulant« oder »Kriegsgewinnler« – gingen rasch in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. Da sie eng an die alltäglichen Erfahrungen des Kriegs- und Nachkriegsalltags anknüpften und auf eine Vielzahl unterschiedlicher »Fälle« anwendbar waren, bildete der »Schieber« eine gängige Chiffre zur Kennzeichnung nicht nur einzelner Personen, sondern auch der von vielen als »verkehrte Welt« wahrgenommenen chaotischen »Zustände« insgesamt: Der »Typus des Spekulanten [war] nichts anderes als ein Kürzel, mit dem die ›verkehrte Welt‹ der Nachkriegszeit gleichermaßen erklärt wie verdammt wurde«.31 Zugleich war er geeignet, die für den Nationalsozialismus bedeutsamsten Feindbilder abzubilden. Denn in der »Schieber«-Figur bündelten sich antisemitische und antimarxistische, antiliberale wie antikapitalistische Deutungsmuster.32 In einem Artikel aus dem Jahr 1931 widmete sich der NS-Lokalpolitiker Franz Schwede der Frage, wie man einen kommunalen Volksentscheid gewinnen könne. Er verwies auf entsprechende Skandalisierungstechniken. Seiner Meinung nach kam es vor allem darauf an, »Mißstände in der Stadtverwaltung aufzudecken« und über eine gezielte Presseberichterstattung eine »Atmosphäre des Misstrauens« zu schaffen. NS-Agitatoren sollten »einen Skandal, eine 29 Scholz, S. 55ff. 30 Ebd., S. 64f. Loberg. 31 Geyer, Welt, S. 243. 32 Peukert, Volksgenossen, S. 233. Zur Strategie der »Völkischen«, »Wucher«, »Versailles«, die Revolution und antisemitische Stimmungen zu einem eigenen Propaganda-Mix zu vermengen, vgl. Geyer, Welt, S. 396. Antisemitischen Stereotype, die auf Juden als »Wucherer« und Störer der öffentlichen Ordnung abzielten, fanden sich allerdings auch in sozialdemokratischen Zeitschriften. Vgl. Schäfer.
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Korruption, einen Terror in ganz außerordentlicher Weise« herausstellen »und möglichst unter Zuspitzung und Konzentrierung auf eine der Bevölkerung ohnedies unsympathische Persönlichkeit (kapitalistischer Jude, marxistischer Bonze und dergleichen) zu einer derartigen grundsätzlichen und brennenden Kardinalsfrage« machen, »dass die Bevölkerung überhaupt nicht mehr aus der Erregung herauskommt und im Schwunge dieser bis zum Wahltage immer mehr zu steigernden Hochstimmung sich zu der entscheidenden Tat [Wahlentscheidung für die NSDAP, MZ] mitreißen lässt«.33 Die Schieberfigur konnte erfolgreich für Kampagnen instrumentalisiert werden, weil sie den Gegenentwurf zu einer sich selbst als »rechtschaffen und deutsch« imaginierenden Gemeinschaft abbildete, die sich durch die Inflation einer Auflösung bestehender materieller wie immaterieller Werte ausgesetzt sah. Der »Schieber« nutzte aus dieser Sicht die Gunst der Stunde, um Gewinne zu machen und seine Skrupellosigkeit in einer Zeit des allgemeinen moralischen und ökonomischen Werteverlustes zum eigenen Nutzen und auf Kosten der Gemeinschaft rücksichtslos zur Geltung zu bringen. Als besonders skandalös galt sein angeblich exquisiter Lebensstil, den er keineswegs vor der Öffentlichkeit verbarg, sondern in demonstrativem Konsum zur Schau stellte.34 Die Empörung hierüber reichte quer durch die politischen Lager, allerdings mit unterschiedlicher Akzentuierung. Während rechte Kommentatoren Einzelfälle als systemtypische Erscheinungen in ein antirepublikanisches Gesamtbild einpassten, beschäftigten sich sozialdemokratische Stimmen mit dem in der Inflation reich gewordenen deutschen Wirtschaftsbürgertum als vermeintlichem Träger des »Schieberwesens«.35 Insbesondere die Rechtspresse bestätigte, kreierte und mobilisierte Affekte und Ressentiments gegenüber der Republik und ihren Vertretern. Die Denunziationsbereitschaft war entsprechend hoch. Die Konzentration auf den »Schieber« und seine Machenschaften erlaubte großen Teilen der fragmentierten Weimarer Gesellschaft, sich in einer Empörungsgemeinschaft zusammen zu finden. Bei solchen Empörungsgesten handelte es sich um Erfahrungs- und Verarbeitungsprozesse der Akteure. Sie waren Ausdrucksformen im Repertoire einer »Kultur der Niederlage«.36 Die Rede vom »Schmach-« oder »Schandfrieden von Versailles« verwies zusammen mit den Deprivationserlebnissen und -deutungen der Nachkriegszeit auf die enge psychologische Beziehung zwi33 In: Mitteilungsblatt 4 (1931), S. 175ff.; zitiert nach: Ludwig, S. 33. 34 Geyer, Welt, S. 244–246. 35 »Seht doch hin auf die lange Reihe der Luxusautos, in denen Großindustrielle, Großhändler, Bankiers durch die Städte fahren. (…) Sie wurden angeschafft zur Zeit, als das ganze Volk dem schrecklichen Elend ins Gesicht sehen mußte. Seht doch die Zunahme der Luxusgaststätten, der Schlemmerlokale, in denen die Bourgeoisie ihre Beutegelder verpraßt«. Vorwärts Nr. 548 vom 20.11.1924 S. 1. 36 Schivelbusch.
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schen einem Demütigungsgefühl der Kriegsverlierer, einem durch die Inflation bewirkten »dynamischen Vorgang der Erniedrigung« (Elias Canetti) und einer weit verbreiteten Sehnsucht nach der Abkehr von politischen Verfahren, die als unlautere, republiktypische Tauschhandlungen verstanden wurden. Die Niederlage, der »Verlust von Regelvertrauen« in der Inflations-Krise und die Diskussionen über die zu leistenden Reparationen bildeten Fixpunkte eines erregten Verständigungsprozesses, in dem die apodiktische Rede häufig nur die Kehrseite des weit verbreiteten Unsicherheitsgefühls bildete.37 Eine weit verbreitete Interpretation der Niederlage sah in einem »Verständigungsfrieden« und der »Erfüllungspolitik«, die alliierten Reparationsforderungen wenigstens in Teilen nachkommen wollte, eine symbolische Wiederholung der (militärischen) Niederlage. »Man will uns nicht nur wirtschaftlich töten, sondern man will uns die Ehre nehmen«, hatte der Abgeordnete Graf Posadowsky von der DNVP in der großen Sitzung der Nationalversammlung am 12. Mai 1919 in der Aula der Berliner Universität erklärt.38 Die Verknüpfung der »Kriegsschuldfrage« mit den zu leistenden Reparationen im Artikel 231 des Versailler Vertrages öffnete in Deutschland die Tür für eine den Zeitgenossen nur zu eingängige Deutung. Diese war letztlich das Ergebnis »unterschiedlicher Formen und Stufen der Realitätsverleugnung« und einer »introvertierten Abwehrhaltung«, die keine positiven Anknüpfungspunkte in den Verträgen erblicken konnte.39 Sie sah in den Vertragsbedingungen eine »Ehrverletzung« und wollte Leistungen an die Sieger entweder begrenzen oder rundheraus ablehnen – die »Tragödie der Reparationen« (Adolf Weber) nahm ihren Lauf. Zum Kernthema, auf das vor allem die politische Rechte mit offenem Hass und hasserfüllter Polemik reagierte, entwickelte sich die so genannte »Erfüllungspolitik« der Regierung Wirth. Wer mit den Siegern über die Höhe von Reparationen und damit die Abtragung von Schuld verhandeln wollte, vermischte aus dieser Sicht einen moralischen mit einem ökonomischen Schuldbegriff, musste in jedem Fall aber die moralische Schuld anerkennen und konnte demnach die »Schmach« nur vergrößern. Eine solche ließ sich nicht durch Verhandlungen aus der Welt schaffen. Letztlich konnte man diese nicht im finanziellen Sinne »tilgen«, sondern nur durch eine »Tilgung« von Ehrenschulden, die auf die ursprüngliche Wortbedeutung, nämlich »Zerstörung«, rekurrierte. 37 Geyer, Welt, analysiert die Hyperinflation in diesem Sinn als Entwertungsprozess eines Kommunikationsmediums, der soziales Handeln verkomplizierte. In diesem Sinne auch Siegenthaler, S. 15ff., der ökonomische Krisen als Katalysatoren von kommunikativen Vergewisserungsprozessen begreift. Vgl. grundlegend zur Versailles-Forschung Krumeich; Boemeke; sowie Kolb, und zur »Last der Vergangenheit« Heinemann. Die Apodixe als rhetorisches Wesensmerkmal einer eigentlich verunsicherten Gesellschaft war vielleicht mit am stärksten in der DolchstoßLegende präsent. Vgl. hierzu Barth. 38 Zit. nach Berliner Tageblatt, Nr. 215, 13. Mai 1919. 39 Niedhardt, S. 205.
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Diese Sicht machte sich einen Topos der Fremd- und Feindwahrnehmung zu nutze, der vor allem das Verhältnis zu England propagandistisch formulierte: die Dichotomie zwischen »deutschen Helden und englischen Händlern« (Werner Sombart). Hierin zeigte sich die eigentümliche semantische Vermischung von Ökonomie, Politik und Moral der erhitzten Weimarer Debatten. In der vermeintlich klaren Abgrenzung des berechnenden englischen vom moralisch einwandfreien deutschen Wesen kamen die Sehnsucht nach Eindeutigkeit und eine Ehrverletzung zum Ausdruck, denen die Forderung nach der sauberen Trennung unterschiedlicher Politikstile entsprach. (Ver-) Handeln (als immer auch ökonomisch konnotierte Praxis) war »undeutsch« und trug zugleich die Bedeutung des in Hinterzimmern erzielten Gewinns statt eines in »offener Schlacht errungenen« Sieges. Die deutsche Niederlage war aus dieser Sicht die Konsequenz eines verräterischen »Deals«, bei dem Verträge das Ergebnis von den Verhandlungen Weniger in geschlossenen Räumen waren. Dem »äußeren Feind«, den Siegermächten, wurde damit ein »innerer Feind« an die Seite gestellt. Denn wer sich in Verhandlungen auf das »fremde« Terrain des Aushandelns, von Absprachen und »Hinterzimmer-Kungeleien« begab, der vollzog den »Verrat« auf doppelte Weise. Nicht nur, dass »Erfüllungspolitiker« den Tatbestand der Niederlage und eine Kriegsschuld anerkannten; zugleich begingen sie durch die Praxis des Verhandelns einen gewissermaßen performativen Verrat, indem sie sich auf einen Politik-Modus einließen, der dem des Feindes entsprach, und sich mit ihm an einen Tisch setzten.40 Solche Vorbehalte wurden bereits unmittelbar im Anschluss an die Unannehmbarkeitserklärung der Regierung im Frühjahr 1919 deutlich. In der Sitzung der Preußischen Landesversammlung am 13. Mai erklärte der Abgeordnete Herght von den Deutschnationalen: »Dieses Unannehmbar muss ohne Vorbehalt sein, nur keine Scheinerfolge, nur kein Kuhhandel um den ein oder anderen Punkt«.41 Damit war eine Maximalforderung in die Welt gesetzt, an deren Rigorosität eine Politik scheitern musste, welche – die reale politische Lage berücksichtigend – den Kompromiss einkalkulierte.42
40 Vgl. zur Übertragung des Feinddenkens Geyer, Welt, S. 294. Diese Übertragung des Feindbegriffs hatte eine tauschsemantische Stoßrichtung. Immer wieder malte die empörte Niederlagenrhetorik ein propagandistisches Zerrbild, in dem »innere« wie »äußere« Feinde über unlautere ökonomische Praktiken definiert wurden. Diese Rhetorik klang keineswegs ab, sondern überdauerte die Weimarer Republik. Gerade in der Agitation gegen England wurde sie auch im Zweiten Weltkrieg zu einem wichtigen Motiv. »Das perfide Albion« blieb für die nationalsozialistische Propaganda ein Hort der »Kriegshetzer« und »Kriegsgewinnler«. Vgl. die auf Flugblättern verteilte »Parole der Woche« Nr. 44 aus dem Jahr 1940. Abgedruckt in: SOPADE, 1940, S. 31. 41 Zit. nach Berliner Tageblatt, Nr. 217, 14. Mai 1919. 42 Wobei zugleich eigentlich Einigkeit im Ziel mindestens der Reparationsminderung bestand und lediglich die Meinungen über den dafür einzuschlagenden Weg differierten. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 244.
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»Versailles« und die fortlaufenden Reparationsverhandlungen galten solchen republikfeindlichen Meinungen als (nicht immer explizit gemachter) Sündenfall. Der »Schieber«-Diskurs, der zu Beginn der zwanziger Jahre die öffentlichen Debatten durchzog, formulierte ein von Kriegsniederlage und Demütigungsgefühl nicht zu trennendes Deutungsmuster, das eng mit den Reparationsverhandlungen als quasi perpetuierter Niederlagenerfahrung verknüpft war. Denn in der Figur des »Schiebers« bündelten sich die Ohnmachtgefühle jener, die sich selber als Angehörige einer »im Felde unbesiegten« Nation verstanden. Bildete der »Schieber« als populäre Idealfiktion doch eine Gruppe von Leuten ab, die in der Situation der allgemeinen Niederlage Gewinne machten. Auf diese Weise verkörperte er ein zur ubiquitären Debattengestalt verwandeltes Handlungsmuster. Er war ein »innere Feind«, der durch sein eigennütziges (»händlerisches« und »jüdisch« konnotiertes) Verhalten in Teilen dem »äußeren Feind« entsprach.43 Berlin rückte in diesen Auseinandersetzungen ins Zentrum der Kritik. Antiliberale und antiwestliche, antisemitische wie antimarxistische Elemente einer umfassenden Modernekritik, die – nicht nur, aber besonders heftig – von nationalsozialistischer Seite vertreten wurden, mischten sich dabei mit einer aggressiven Ablehnung der »Metropole« als Symbol der »neuen Zeit«. Insbesondere Goebbels’ Fixierung auf Berlin als Sinnbild großstädtischer Verdorbenheit, später kaum verhohlen in seinem Buch »Kampf um Berlin« propagiert, fiel auch hellsichtigen Zeitgenossen auf. Victor Klemperer hörte genau hin und entdeckte Feinheiten, die anderen Zuhörern entgangen waren: »Das immer wiederkehrende Wort heißt hier ›Asphalt‹«.44 Bei Goebbels, erkannte er, »blüht eine ganze Asphaltflora auf, und jede ihrer Blüten ist gifthaltig und will das auch zeigen. Berlin ist das Asphaltungeheuer, seine jüdischen Zeitungen, Machwerke der jüdischen ›Journaille‹, sind Asphaltorgane, die revolutionäre Fahne der NSDAP muss man gewaltsam ›in den Asphalt rammen‹, den Weg ins Verderben (der marxistischen Gesinnung und Vaterlandslosigkeit) ›asphaltierte der Jude mit Phrasen und gleisnerischen Versprechungen‹. Das ungeheure Tempo dieses ›Asphaltungeheuers‹ hat den Menschen herz- und gemütlos gemacht«.45 Die Gegenüberstellung von »widernatürlichem« Großstadtleben und einer heilen Provinz-Welt, die bereits im 19. Jahrhundert – etwa bei Friedrich Nietz43 Einen wesentlichen Strang des antisemitischen Diskurses machten ökonomische Termini aus. Dazu gehörte etwa die Rede vom »Börsen-«, »Bank-« oder »Geldjuden«. Othmar Plöckinger, S. 115ff. 44 Klemperer, S. 308. Zur Bedeutung der Alltagssprache als Medium politischer Radikalisierung vgl. Fritzsche. 45 Ebd., S. 308f. Die vermeintliche Notwendigkeit, Berlin nicht nur im engeren Sinne politisch umzugestalten, sondern auch als kollektiven Raum für die »Volksgemeinschaft« neu zu entdecken, demonstrierten nazistische Filme, in denen ein Bild der Stadt als Hort deutscher Größe und als Bollwerk gegen feindliche Eindringlinge propagiert wurde. Vgl. Schulte-Sasse.
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sche – als der eigentliche Hort des »deutschen Wesens« geschildert worden war, gehörte nicht allein zur nazistischen Rhetorik. Die »in Angst gebundene Lust des Provinzlers« schlug sich in einer ganzen Reihe von zeitgenössischen Darstellungen der Stadt nieder, die um den Massenbegriff, vermeintlich typische Figuren des kriminellen Milieus und »ungesunde Auswüchse« einer hektischen Stadtexistenz kreisten. Berlin galt als der Inbegriff solcher Verkommenheit.46 Die Stadt verkörperte als »Hure Babylon« für die konservative Kulturkritik, für Künstler der Avantgarde aber auch für weite Teile der Bevölkerung eine merkwürdig schillernde, zugleich abschreckende wie faszinierende Synthese all dessen, was an den neuen Zeiten großartig-verlockend und abstoßend war. Ein zentrales Motiv dieses männlichen Blicks auf die Stadt bildete die Fokussierung auf die »Berliner Kokotten«, die als vorgeblich omnipräsentes Stadtphänomen »leibhaftig die Erotik der Ware (verkörperten)«. Hanne Bergius hat in zeitgenössischen schriftlichen und bildlichen Darstellungen Berliner Prostituierter eine auffallende Analogie zu anderen schnell und anonym zu konsumierenden »Massenartikeln« ausgemacht.47 Hier fand eine Übertragung unterschiedlicher Triebbefriedigungswünsche im Medium metropolenspezifischen Konsumverhaltens statt, die in einer beinahe obsessiven Fixierung Archaisches und Modernes zu einer »neuen Form städtischer Inszenierung« verband.48 Die Verlockungen der Berliner Warenwelt erstreckten sich auf beides: auf Frauenkörper und die Produkte hinter den Schaufenstern der Stadt. Die Auflösungserscheinungen gesellschaftlicher Normen durch Krieg und Inflation spiegelten sich in der Krise von klar erkennbaren Grenzen zwischen moralisch konnotierten Stadträumen. Prostituierte und »Kriegskrüppel« prägten in der zeitgenössischen Malerei und in Karikaturen die »babylonische Physiognomie der Stadt« und »hockten (…) am Rinnstein«, den »das Bürgertum floh«.49 Unter diesen Vorzeichen wurde die (männliche) Trieb- und Affektkontrolle zu einem Reiz-Thema, wie es etwa in der ausführlichen Beschäftigung mit Geschichten aus dem kriminellen Milieu oder Artikeln über Lust- und Massenmördern aufschien.50 Im Rekurs auf extreme und damit klar zu verurteilende Verbrechen suchten verstörte Bürger eine verlorengegangene Eindeutigkeit wieder zu gewinnen. In dieser Situation, in der das Rollenangebot für männliche Stadtbewohner vor bedrohlich-faszinierende Herausforderungen gestellt war, gab es – zwischen dem schweren Gewaltverbrecher und »normalen« Anständigkeitsvorstellungen – zweifelhafte Ersatzangebote. Zu diesen gehörten unterschiedliche out-laws, also Gauner und Verbrecher, die sich – so die Außenperspektive – von 46 47 48 49 50
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Geyer, Welt, S. 273ff. Bergius, S. 107f. Vgl. auch die Beiträge bei Ankum. Ebd., S. 104. Ebd., S. 110. Vgl. Lewis.
der in die Krise geratenen bürgerlichen Moral verabschiedet und den chaotischen Bedingungen im Nachkriegsberlin angepasst hatten. Und so, wie sich in gängigen Berlin-Beschreibungen das Abstoßende mit dem AbenteuerlichReizvollen verband, schienen auch in den Schilderungen von zeitgenössischen Kriminellen neben dem moralischen Vorwurf Bewunderung und der Wunsch, ›ein bisschen zu sein wie er‹, mit durch.51 Der »Schieber« bildete einen der prominentesten Sonderfälle krimineller Existenzen im Nachkriegsberlin, wie es in Reportagen, Bildern und Romanen der Zeit gezeichnet wurde.52 Die beiden Eigenschaften aber, die ihn so faszinierend machten, korrespondierten eindeutig mit dem Bild der »Berliner Kokotten« als verlockender Metropolen-Ware. Denn »Schieber« – so die weit verbreitete Zuschreibung – hatten das Geld und die Chuzpe, um sich diese Frauen leisten zu können und ihrer herausfordernden bis dominanten Art gewachsen zu sein. Ein sprechendes Beispiel für dieses Deutungsmuster findet sich in Klabundes »Berlin Weihnachten 1918«: »Am Kurfürstendamm da hocken zusammen die Leute von heute mit großem Tamtam. Brillianten wie Tanten, ein Frack mit was drin, Ein Nerzpelz, ein Steinherz, ein Doppelkinn. Perlen perlen, es perlt der Champagner. Kokotten spotten: Wer will, der kann ja Fünf Braune für mich auf das Tischtuch zählen. Na, Schieber, mein Lieber? – Nee, uns kann’s nicht fehlen. Und wenn Millionen vor Hunger krepieren: Wir wolln uns mal wieder amüsieren.«53
Dem Spott der Prostituierten war nur ihr männliches Pendant ökonomisch und habituell gewachsen; nämlich jener »rücksichtslose Emporkömmling, der die Anonymität der Großstadt nutzte, um in den unterschiedlichsten hochstapelnden Rollen seine Schiebergeschäfte zu betreiben«.54 Die einzigen, die sich in dieser zum »Warenhaus« gewordenen Metropole zu ihrem eigenen Vorteil zu bewegen wussten, waren damit zwei komplementäre Figuren. In diesem Entwurf bildeten sich die Ohnmachterfahrungen vieler kleiner und großer 51 Gleichwohl blieben die Begegnungen mit dem kriminellen Milieu selbstverständlich problematisch und mussten etwa durch eine »höhere Macht des Schicksals« – wie etwa die Liebe zu einem schwachen Mädchen – motiviert und am Ende in einem Läuterungsprozess gereinigt werden. Vgl. den in dieser Hinsicht aufschlussreichen Plot des 1929 in die Kinos gekommenen Films Asphalt unter der Regie von Joe May. Bereits das Filmplakat, das – ganz in Blau-Grau-Tönen gehalten – den Schriftzug »ASPHALT« auf einer schrägen, spiegelglatten Fläche ins Rutschen geraten zeigte, verdeutlichte, worum es ging: Die Gefahren des modernen Asphalt-Stadtraums, denen der junge Protagonist in Berlin ausgesetzt war. Vgl. G. Korff u. R. Rürup, S. 471–473. Vgl. dort auch die aufschlussreichen Szenenentwürfe. 52 Vgl. zum medienvermittelten Bild des Kriminellen allgemein Brown. 53 Zitiert nach Bergius, S. 113. 54 Ebd.
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Verlierer des Krieges und der neuen Ordnung ab. Der (männliche) Blick auf die »vermenschlichte Ware« Frau und den Schieber war aber nicht nur in einem passiven Sinn ohnmächtig und neidvoll, er war zugleich Teil des Versuchs eine verstörende Kontingenzerfahrung in handhabbare moralische Kategorien zu überführen: »Womit wird die Kokottenkultur bezahlt, die sich gerade in der Zeit der größten Not und des Zusammenbruchs der kleinen Existenzen in Deutschland breit machte«, fragte ein Leser des »Vorwärts«, um die Antwort gleich mitzuliefern: »Mit den Geldern, die die Großindustrie und neben ihr das Schiebertum aus den Taschen der Sparer, der Gläubiger, der Hypothekenbesitzer, der unterentlohnten Arbeiterschaft zogen«.55 Diese Anti-Schieber- und Anti-Metropolenstimmung griffen nationalsozialistische Polemiken auf, die ihre Bestrebungen, der »Verstädterung« entgegenzutreten, als eine »Abkehr von (den) bisherigen Fehlentwicklung(en): (…) Verstädterung, Industrialisierung, westlerische Ideen, Weltwirtschaft« propagierten.56 Auf politischer Ebene reflektierte das Misstrauen in die Arrangements unzähliger Regierungskoalitionen, die statt zu »führen« nach Kompromissen suchten, genau jene am Beispiel des »Schiebers« formulierte Stimmung einer permanenten Ausnutzung der eigenen Schwäche durch »Tricksereien« der »Mächtigen«. Krieg und Niederlage, Macht und Ohnmacht bildeten auf diese Weise Kernmotive der politischen Kultur der Weimarer Republik, die vor allem durch die Erfahrung der Inflation einen alltagspraktischen sozialen »Unterbau« fanden. Damit spielte das Thema des (politischen und ökonomischen) Tauschgeschäftes eine zentrale Rolle, bündelten sich in der Rede über das »System von Weimar« als Synonym für »Schiebungen« und »Korruption« tief sitzende Hassgefühle heterogener Akteursgruppen gegen »die Politik«, »die Juden« oder »die Inflationsgewinnler«. Gemeinsam war diesen Feindbildern, dass die ihnen zugeschriebenen typischen Praktiken in die Nähe von »unsauberen« Tauschgeschäften gerückt werden konnten. Die große Sehnsucht nach »Führung« und dem »Führer« bildete eine Phantasmagorie, die auf Entscheidungen, Identifikation und »Größe« hoffte und dabei den mühseligen – und zum Teil schwer zu vermittelnden – Politikarrangements der Weimarer Zeit als Varianten unlauterer Tauschabsprachen eine klare Absage erteilte.57 Es war kein Zufall, dass 55 Vorwärts Nr. 548 vom 20.11.1924 S. 1. BLA Nr. 208 vom 3.5.1925 7. Beiblatt S. 1 (Leserbrief ). 56 Schmitz-Berning, S. 637. 57 Eine Sehnsucht, die in abgeschwächter Form auch in wissenschaftlichen Diskursen aufschien, etwa im ökonomischen. In der Auseinandersetzung mit Joseph Schumpeters Werk »Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung«, in deren Zentrum der kapitalistische Unternehmer als Agent »neuer Kombinationen« und damit als der Motivator des ökonomischen Fortschritts stand, stellte beispielsweise Walter Eucken 1932 die Frage, ob es nach 1918 genügend Unternehmer gegeben habe, die »Willen und Fähigkeiten besitzen, Führer der [wirtschaftlichen] Entwicklung zu
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die Rechte gerade die fortlaufenden Reparationsverhandlungen – etwa bei der Agitation rund um den »Young-Plan« – zu nutzen versuchte. Waren hier doch die Abgrenzungsleistungen besonders leicht zu verdeutlichen. Das Versprechen des Bündnisses aus »Stahlhelm« und der NSDAP, weitere Reparationszahlungen an die Sieger des Ersten Weltkriegs zu verhindern und eine nationale »Aufwertung« Deutschlands zu erreichen, war ein attraktives Angebot – weit über die eigene Anhängerschaft hinaus. Immerhin vier Millionen Wähler stimmten beim »Volksbegehren« über die Behandlung des »Gesetzes gegen die Versklavung des deutschen Volkes (Freiheitsgesetz)« im Oktober 1929 für dieses »verfassungswidrige Agitationsvehikel« (Patrick Heyde). Die Anti-Versailles-Stimmung wurde bei den vom Arbeitsausschuss Deutscher Verbände organisierten Protestveranstaltungen anlässlich des zehnjährigen Jahrestages der Vertragsunterzeichnung einmal mehr deutlich, als allein in Berlin 40–50 000 Menschen auf die Straße gingen.58 In einem Flugblatt aus dem Umfeld der DNVP hieß es zum neuen Zahlungsplan: »Wir sollen also unsere Kinder und Enkel in die Sklaverei verkaufen. Unsere Erfüllungspropaganda macht aus der Verkleinerung der Annuitäten durch ihre zeitliche Ausdehnung einen Fortschritt und Erfolg, sogar ein ›Geschenk‹. Wer das tut, ist wert, Sklave zu sein«.59 Im Begriff des »Geschenks« bündelte sich dabei – in ironisierender Form – die Empörung über als unzulässig verstandene Tausch-Semantiken. Die NSDAP griff solche Abwehrhaltungen auf, wenn sie im »Völkischen Beobachter« die »staatstragenden Parteien« für die »Versklavung des deutschen Volkes« mitverantwortlich machte und hinzu setzte, dass »Weimarer Republik« nur ein »anderer Ausdruck für den Tributfrieden von Versailles« sei.60 Insgesamt vertrat die NSDAP mit dieser und anderen Positionen zwar ein »in der deutschen Rechten weit verbreitetes und keineswegs originelles Konglomerat von Ressentiments und Ideen«. Neu waren aber »Leidenschaft«, »Konsequenz« und »Dynamik« der NS-Bewegung.61 sein«. Auch wenn Eucken die Frage mit ja beantwortete, blieb seine Fragestellung doch auf einen skeptischen Fragehorizont verwiesen, der die Suche nach entscheidungsfähigen Persönlichkeiten als umfassendes Krisenphänomen absteckte. Zudem sah Eucken als Ursache der Krise die »staatlich-gesellschaftliche Organisation« und verschob damit implizit das »Führungs-« Problem in den Bereich des Politischen. Vgl. Eucken, S. 298. (Hervorhebung nicht im Original.) Haselbach dürfte dem Ökonomen eine zu klare Distanznahme unterstellen, wenn er Euckens Argumentation eine längerfristigen, auf die Weimarer Zeit kaum Bezug nehmenden Erntwicklung übernimmt. Mindestens die Wortwahl belegt den semantischen Anschluss an zeitgenössische Krisendiskurse, unbeschadet der Tatsache, dass Eucken den weit verbreiteten Glauben an den »totalen Staat« kritisierte und sich schon alleine deshalb in strikter Opposition zu nationalsozialistischen »Führer«Vorstellungen befand. Vgl. ebd., S. 125f., sowie zur Nähe zu den Ideen Carl Schmitts S. 129f. 58 Vgl. Heinemann, S. 239; Heyde, S. 65ff. 59 Zit. nach Schottmann, S. 514. 60 Ebd., S. 518 61 Peukert, Volksgenossen, S. 233.
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Solche Absetzbewegungen von horizontalen öffentlichen Verhandlungs-, Vertrags- und Tauschbeziehungen, denen die mindestens operativ wirksame Fiktion von Partnerschaft zugrunde lag, waren nicht nur Rhetorik. Sie spiegelten sich zugleich in dem ab 1933 auf staatlicher Ebene durchgesetzten System persönlicher Gefolgschaft. Der Nationalsozialismus gründete auf einem »Herrschaftstyp, bei dem neofeudale, persönliche Loyalitäten Vorrang vor bürokratischen Regierungsstrukturen gewonnen« hatten und »formeller Status durch den persönlichen Rang im Gefolge des obersten Führers ersetzt« worden war.62 Dieser Vorgang einer Ablösung bürokratischer und demokratischer Amtsbzw. Mandatsbeziehungen durch persönliche Bindungen korrespondierte mit der massiven semantischen Verschiebung weg von expliziten Tauschsituationen hin zu freiwillig geleisteten »Gaben« und »Opfern«, »Geschenken« und »Beiträgen« des einzelnen »Volksgenossen« zum großen Ganzen. Versteht man Tausch als Wechselbeziehung zwischen mindestens zwei Personen, deren Ziel Kooperation in Form eines wie auch immer gearteten Güterkompromisses besteht, der das Ergebnis von Verhandlungen ist, dann bedeutete auch die neue politische Kultur des Nationalsozialismus eine radikale Abwendung vom Tausch als Kommunikationsverhältnis. Die Verlagerung der Gewichte weg von einem durch Vertrauensentzug gefährdeten Tauschverhältnis hin zur Forderung möglichst »bedingungsloser Treue« markierte einen wichtigen Wandel der politischen Kultur im Übergang zur nationalsozialistischen Herrschaft.63 Das bedeutet nicht, dass das auf Vertrauen fördernden Leistungen beruhende Verhältnis zwischen Politik und Bürger von beiden Seiten nicht mehr als Tauschhandlung gesehen wurde.64 Gerade der nationalsozialistischen Führung lag daran, Loyalität über Zugeständnisse etwa bei der Frage der ausreichenden Versorgung einzuhandeln. Doch es bedurfte der massiven propagandistischen Beschwörung von »Opfer«, »Treue« und »volksgemeinschaftlicher Einheit«, die den realen Zusammenhang überdecken sollte, um für große Teile der Bevölkerung ausgesprochen attraktive Chimären zu beschwören, die der »Zerrissenheit« der Weimarer Jahre ein Ende zu bereiten versprachen.65 Es war damit die Abkehr von einer komplexen, auf Spielregeln und das Wissen der Akteure um diese Regeln setzenden politischen Kultur, die dem Nationalsozialismus die Bereitschaft einer Mehrheit der Deutschen sicherte mitzumachen. Besondere Bedeutung kam in diesem Zusammenhang dem 62 Kershaw, Hitlers Macht, S. 248. 63 Ein Wandel, den das Regime sich explizit auf die eigenen Fahnen schrieb, etwa wenn der Parteitag von 1934 als »Parteitag der Treue« deklariert wurde. 64 So reagierten breite Bevölkerungskreise zum Beispiel zurückhaltender, wenn neue Korruptionsvorwürfe ihr Vertrauen in den Sinn etwa von Sammelaktionen der NSV untergruben. Vgl. Bajohr, Parvenüs, S. 179. 65 Ob in diesem Zusammenhang von einer »Gefälligkeitsdiktatur« (Götz Aly) gesprochen werden kann, scheint damit auch unabhängig von den realen Transfers äußerst fraglich.
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»Führer-Mythos« zu.66 Denn die Krise der Weimarer Republik gründete auch in dem Versagen einer das System stabilisierenden Vertrauenskommunikation. Im Führermythos verband sich eine sehnsuchtsvolle Hoffnung auf »bessere Zeiten« mit der Möglichkeit, diese Hoffnung an ein scheinbar »rohes«, nämlich streng auf eine einzelne Person fixiertes Vertrauen zu koppeln. An die Stelle eines in Face-to-face-Situationen geschenkten »rohen Vertrauens« trat die propagandistisch inszenierte und massenmedial vermittelte Bindung an den »Führer«. Die verschwimmende Grenze zwischen »roh« geschenktem Vertrauen und reinem Hoffen darauf, dass jemand eine Änderung herbeiführen möge, konvergierte in der Heilserwartung in den »Führer« als »Erlöser«. Wie erfolgreich diese Ablösung demokratischer Verfahren der Wahl und der Kontrolle war, beweist die Kritikbereitschaft der »Volksgenossen« gegenüber politischen Missständen und einzelnen staatlichen Stellen bei gleichzeitig hohem Vertrauen in Hitler selbst.67 Das »Führerprinzip« ermöglichte zugleich in Teilen die Ablösung anonymer Hierarchien in Politik und Verwaltung und bildete damit scheinbar die konsequente Umsetzung eines personalen und »organischen« Gesellschaftsauf baus, der an die Stelle von checks and balances mit Aufgaben betraute Personen setzte. Insofern bildete die nationalsozialistische politische Kultur eine Absetzbewegung, die sich als Gegenentwurf zu einer demokratischen, auf Verfahren, Dauer und Kompromiss setzenden Alternative positionierte. Dabei verfolgte sie eine Politik der massiven Diskreditierung partnerschaftlich-horizontaler Geschäfts-Verbindungen, die sowohl ökonomisch als auch politisch motiviert sein konnten. An die Stelle einer Sozialordnung, die auf die operativ wirksame Fiktion von tauschpartnerschaftlicher und situativer Gleichheit setzte, sollte eine Gegensätze überwölbende Hierarchisierung treten. Diese kannte keine institutionalisierten Konflikte, keinen notwendigen Kompromiss und damit auch keine Tauschgeschäfte im Sinne einer gegenseitigen Kontrolle, sondern stellte den Einzelnen an seinen Platz im organisierten Ganzen. Die Dynamik dieses Systems richtete sich nicht mehr auf Verfahren, die in immer neuen Aushandlungsprozessen eine demokratische Ordnung ausloteten und fortlaufend bestätigten, sondern gegen eine als feindlich verstandene Umwelt, gegen die jeweils alle Teile des »Organismus« als Ganzes vorgehen sollten. Damit fand eine Verschiebung der Semantik hin zum Begriffsfeld der »Treue« statt, die an die Stelle demokratischer Vorstellungen eines auf Bewährung angewiesenen, auf Zeit gestellten Vertrauensverhältnisses der Bürger zur 66 Kershaw, Hitler-Mythos; Schreiner, Retter; Mergel, Führer. 67 Zum Gegensatz von Vertrauen und Hoffen vgl. Wenzel. Zur Sonderstellung Hitlers, den die Kritik an den »Goldfasanen« nicht betraf, vgl. Bajohr, Parvenüs, S. 180, der den Berliner Polizeipräsidenten mit den Worten zitiert: »Die Bevölkerung weist demgegenüber stets auf das zurückhaltende und bescheidene Auftreten des Führers hin«.
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Politik trat.68 Diese Verschiebung konnte vor dem Hintergrund einer als defizitär erfahrenen politischen Kultur des demokratischen Verfahrens und unter den Bedingungen einer umfassenden Krise moderner »Sprachen des Vertrauens« (Harald Wenzel), wie etwa des Geldes in der Inflation, erfolgreich werden.69 Denn die neue Metaphorik war unter den Vorzeichen der »charismatischen Herrschaft« in der Lage, die Enttäuschungen mit dem Weimarer »System« in Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zu transzendieren. Die Krise der Weimarer Republik war zum Teil eine Krise der Kommunikation von Vertrauenswürdigkeit durch die politischen Systemrepräsentanten. Moderne Gesellschaften aber sind als abstrakte Systeme auf solche Vermittlungsleistungen an ihren »access points« (Anthony Giddens) angewiesen.70 Die »charismatische Herrschaft« Hitlers stieß genau in diese Lücke, indem sie personales »rohes« Vertrauen über mediales »face-work« herzustellen in der Lage war. Zusammen mit der Verabschiedung von expliziten Tausch-Formulierungen erwies sie sich als durchsetzungsfähig. Die Absetzbewegung von politischen Mitkonkurrenten wurde durch konsequent durchgehaltene Verschiebungen in der politischen Semantik erreicht. So verabschiedete sich die Sprache des Nationalsozialismus zur Beschreibung der eigenen Politik, wo es nur ging, vom Vokabular des Tausch-Handels, das sie als unzulässige Vermischung von »Geschäft« und »Politik« diskreditiert hatte. An die Stelle von Verhandlungen und Absprachen traten Ereignisse: Nicht der politische Vorgang, sondern das Ergebnis beherrschte den Diskurs. An die Stelle des korrekten Verhaltens trat – zumindest nach außen hin – die Treue, an die Stelle der Verwaltungsvorschrift der Befehl, an die Stelle politischer Willensbildung das immer schon vorhandene Wissen um den richtigen Weg Deutschlands in die Zukunft. Damit schien die NS-Herrschaft die Defizite einer auf den (Meinungs-) Markt, auf Verhandlungen und den Kompromiss als Wesensmerkmal repräsentativer Demokratien setzenden Politik überwinden zu können. An die Stelle von Aushandlungen zwischen Politikern, Parteien und Interessengruppen trat vordergründig eine umfassende Umgestaltung öffentlicher Sozialbeziehungen, die im Kern auf eine »organische« Ordnung von Gesellschaft setzte. Dieser Anspruch fand seinen Niederschlag etwa in dem umfangreichen Katalog von neugeschaffenen bzw. umbenannten etablierten Institutionen. An die Stelle des »Systems von Weimar« traten neue Organisationen: »Sie haben kein System, sie haben eine Organisation, sie systematisieren nicht mit dem Verstande, sie lauschen dem Organischen seine Geheimnisse ab«, notierte Viktor Klemperer in seinen Überlegungen zur »Lingua Tertii Imperii«.71 Die sprechendsten Be68 69 70 71
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Frevert, Perspektive, S. 54f. Wenzel, S. 65. Ebd., S. 71. Klemperer, S. 129.
griffe dieser »organischen« Umwandlungen bildeten solche wie »Führer« und »Treuhänder«.72 Darin drückte sich die Vorstellung einer an die Person gebundenen Rolle aus, die diese an ihrem Platz und zum Wohle des Ganzen auszufüllen habe. An die Stelle auf Zeit geliehener Abgeordneten- oder Amtsmacht trat eine die Person einbindende und ihre »Treue« zum »Führer« zugleich voraussetzende wie einfordernde Beschreibung von Amts- oder Mandatsfunktionen.73 Jeder, so die zugrunde liegende Idealvorstellung, war an seinen Platz gestellt. Wahlen, Verhandlungen und Kompromisse schienen demnach überflüssig geworden zu sein. Damit bot der Nationalsozialismus auf der Ebene öffentlicher Sozialbeziehungen ein einbindendes Gefüge, eine »intense inclusivity in a society that had been scarred by deep divisions«.74 Über ein gutes Beispiel für diese Gemeinschaft stiftende Funktion nationalsozialistischer »Aktion« und Propaganda aus der frühen Kriegszeit, berichtete der amerikanische Journalist William Shirer am 14. März 1940 leicht verwundert seinen Hörern. Es ging um die gerade in Deutschland angelaufenen Altmetallsammlung: »Der Feldmarschall ruft die Deutschen auf, bei der Sammlung dieser Altmetalle mitzuhelfen. Es solle ein Geburtstagsgeschenk für den ›Führer‹ werden (…). Und Göring fügt hinzu: ›Die Spende ist die schönste Geburtstagsgabe für den Führer. Gebe jeder Volksgenosse hier freudig seinen Beitrag! Er hilft damit dem Führer in seinem Kampf um Deutschlands Freiheit‹«.75 Was Göring den »Volksgenossen« damit vorschlug, war im Kern ein klassischer Tauschhandel: Metall gegen »Deutschlands Freiheit«, was man auch mit »neuer Größe« übersetzen konnte. Charakteristisch für »charismatische Herrschaft« und Tauschsemantik des Dritten Reichs war allerdings die persönliche Konnotation des Tauschaktes, die den Tauschcharakter verschleierte. Statt einer Vereinbarung oder einem Vertrag ging es um eine »Geburtstagsgabe« an den »Führer« und damit um die direkte Wertschätzung der Person. An die Stelle einer politischen Persönlichkeit, deren Leistungen zur Wahl stan72 Mergel, Führer, weist auf den Alltag betreffende Beispiele hin, etwa wenn Mieter und Vermieter als Hausgemeinschaft beschrieben wurden. Juristen sollten seit dem Juristentag von 1936 nur mehr als »Rechtswahrer« bezeichnet werden. Diese Änderung sei »Ausdruck einer vollkommenen Wesenswandlung«, wie der Staatssekretär im Reichsjustizministerium, Roland Freisler, behauptete: »Rechtswahrer (…) – das ist schon nach dem Wortbild jemand, der für eine Aufgabe eingesetzt ist, jemand, dessen Beruf es ist, das Recht zu wahren. Und wer sich selbst als Rechtswahrer bezeichnet, gelobt damit, diese Aufgabe erfüllen zu wollen«. Freisler, S. 86f. 73 Eine Verlagerung, die sich auch als Bevorzugung der Personengesellschaft im Recht niederschlug. Zwar wich der anfängliche ideologische Radikalismus nach 1939 dem Nachdenken über die Ausgestaltung einer sogenannten »volkstümlichen GmbH«. Insgesamt blieb die Personengesellschaft jedoch »die bevorzugte Rechtsform innerhalb der nationalsozialistischen Wirtschaft«. Vgl. Stupp, S. 350. 74 Burleigh, S. 12. 75 Shirer, S. 193.
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den, trat die Verehrung für den Führer, die im persönlichen Medium eines Geburtstagsgeschenkes symbolisiert wurde. Der Begriff »Gabe« darf dabei als sprechend gelten. Auf diese Weise konnte der selbstlose, ein Gemeinschaftsritual evozierende Charakter der Sammelaktion auf den Punkt gebracht werden, bei dem keine Gegenleistung offen verhandelt wurde. Zugleich schwang in Görings Äußerung mit, dass Hitler, der stellvertretend für das deutsche Volk kämpfte, die Unterstützung jedes einzelnen Volksgenossen gebrauchen konnte. Hitlers »Kampf« transzendierte gewissermaßen jeden einzelnen »Beitrag« in eine Teilnahme am Befreiungsakt und wirkte so zugleich mobilisierend und zusammenschließend.76 Bei den internen Besprechungen im Propaganda-Ministerium gab Goebbels am 29. April bekannt, dass bei der »Aktion« insgesamt 61 000 t Metall zusammen gekommen seien.77 Angeblich um dem »Feind« keine Zahlen zu verraten, sollte das Ergebnis geheim gehalten werden.78 Zugleich unterstützte dieses Vorgehen aber auch die »Geschenk«-Propaganda – der Wert des »Geschenkes« durfte zwar beschrieben, nicht aber beziffert werden. Allerdings traten bereits bald unerwünschte Nebeneffekte auf. Denn die massive Umverteilung des vorhandenen Metallbestandes sorgte für einen deutlichen Preisauftrieb. In Zeitungsanzeigen suchten Interessenten »Metallgegenstände zu hohen Preisen« – ein Schwarzmarkt in der Entstehungsphase. Sofort wurde ein Mitarbeiter angewiesen, solche Anzeigen zu »unterbinden«.79 Der als »Sammelaktion« und »Schenkung« bezeichnete Propaganda-Coup war davon abgesehen nicht nur wirtschaftlich ein Erfolg. »Der 20. April«, so fasste der Abschnitt »Allgemeines« des SD-Berichtes vom 22. April 1940 zusammen, »wurde (…) mit einer besonderen Anteilnahme der Bevölkerung erlebt«, wobei dazu vor allem beigetragen habe, »dass sich ein großer Teil der Bevölkerung dadurch besonders mit dem Führer verbunden fühlte, weil man dieses Mal – wie häufiger geäußert wurde – im Rahmen der Metallspende dem Führer auch etwas geschenkt habe«.80 Zufrieden notierten die SD-Berichte, dass es öfter vorgekommen sei, dass »Spender, die auf den Kunstwert ihrer Spende hingewiesen 76 Bei den strategischen Beratungen im Propaganda-Ministerium belegten Goebbels Ausführungen einmal mehr die Bedeutung von Erstem Weltkrieg und »Schieber«-Diskurs als »Erfahrungsraum«, wenn er anwies: »Für die Presse soll in einer Gegenüberstellung klargemacht werden, wie die Metallsammlungen bei unseren Gegnern und ebenso auch bei uns im Weltkrieg nach plutokratischem Muster eine Angelegenheit waren, an der ein bestimmter Kreis verdiente, während jetzt bei uns das Volk ein Geschenk darbringt, ohne dass sich irgendjemand bereichern kann«. (Kriegspropaganda 1939–1941. Geheime Ministerkonferenzen im Reichpropagandaministerium. Hg. u. eingel. von W. A. Boelcke, Stuttgart 1966, S. 311.) Vgl. auch die PropagandaPublikation von Ley, die schon im Titel ihren appelativen Inklusionsanspruch zur Schau stellt. 77 Ebd., S. 336. 78 Ebd., S. 324. 79 Ebd., S. 315. 80 Boberach, Meldungen, Bd. 4, S. 1032.
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wurden, erklärten, sie seien sich [darüber] im klaren und könnten sich nur sehr schwer von diesem Familienbesitz trennen, wollten aber gerade deswegen dem Führer dieses Opfer bringen«.81 Noch im April vermerkten die Mitarbeiter des Dienstes zur »Metallspende für den Führer«, dass »Meldungen aus allen Teilen des Reiches über das Ergebnis (…) den vermuteten Erfolg« bestätigten, »der aufgrund der außerordentlich günstigen Aufnahme des Aufrufs in der Bevölkerung zu erwarten« gewesen sei. Die »überaus freudige Bereitschaft« der »Volksgenossen« zu geben, habe ihren »Ausdruck nicht allein in einem mengenmäßigen Ergebnis (…), sondern in den Opfern, die in einem Verzicht auf Verbrauchsgegenstände, Erinnerungsstücke, Kunstgegenstände und Münzen aller Art zu erkennen« gewesen seien gefunden.82 Auch begrüßte eine Vielzahl von Bürgern offensichtlich, dass eine Verordnung eigens zum »Schutze der Metallsammlung« aufgelegt wurde, die Diebstähle von Sammelgut generell unter Todesstrafe stellte, wogegen sich in der Folge nur vereinzelt kritische Stimmen erhoben.83 Allerdings zeigte sich bald, dass jene »Desillusionierung durch alltägliche Erfahrungen«, die der »Führermythos« ein Stück weit auszugleichen versprach, auch vor dem Beispiel der Metallsammelaktionen nicht Halt machte.84 Im Herbst des Jahres 1942 – nach drei Kriegsjahren – hatte die »Opferbereitschaft« der »Volksgenossen« erheblich nachgelassen. Mit dem Verweis auf »die Riesenmengen erbeuteten Materials aus dem Ostfeldzuge« wurde argumentiert, dass eine erneute Sammelaktion damit doch wohl »gegenstandslos« geworden sei.85 Gleichwohl blieb der Begriff des »Opfers« ein propagandistisches Leitmotiv der Kriegszeit.86 Die NS-Propaganda konnte damit an einen im Ersten Weltkrieg geprägten, vor allem durch den Langemarck-Mythos popularisierten Begriff anknüpfen, der ein archaisches Motiv der Antike aufgriff und Gemeinschaft herstellen sowie politisches Handeln motivieren sollte.87 Zu den 81 Ebd., S. 959. 82 Ebd., S. 1004f. 83 Ebd., S. 989. Vgl. auch Engeli u. Ribbe, Geschichte Berlins Bd. II, S. 998. Bemerkenswerte Unterschiede – vor allem wegen unterschiedlicher religiöser Konnotationen und nationaler »Erfahrungsräume« aus der Zeit des Ersten Weltkriegs – ergeben sich im Vergleich mit der italienischen Gold- und Eheringsammlung 1935/36. Vgl. Terhoeven, S. 444ff. 84 Vgl. zum »Alltagskonsens«, der »Desillusionierung« und dem Faktor »Führermythos« die unübertroffen konzise Darstellung bei Peukert, Volksgenossen, S. 78–93. 85 Boberach, Bd. 11, S. 4275. Das vielleicht bekannteste Beispiel für die von den Nationalsozialisten gepflegte »Geschenk«-Rhetorik bildete der Propaganda-Aufruf an deutsche Frauen, dem »Führer ein Kind zu schenken«. 86 Vgl. Berning. Auch wenn Goebbels in einem Artikel für »Das Reich« 1942 gefordert hatte, den Begriff des »Opfers« für die Front zu reservieren und mit Bezug auf die »Heimat« nur von »Einschränkungen« zu sprechen, wurde diese strikte Trennung doch nie durchgehalten. Vgl. Berning, S. 145f. 87 Hüppauf, Langemarck, S. 756f.
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gängigsten Begründungen von »Einschnitten« in der Versorgung an der »Heimatfront« gehörte der Verweis Hitlers und anderer Parteiführer auf die »Opferbereitschaft« der Soldaten an der Front. Letztlich funktionierte der 1914 geprägte, in der Zwischenkriegszeit präsente und in den Märtyrer-Legenden der NSDAP adaptierte Begriff während des Krieges als Instrument beim gegeneinander Ausspielen von Heimat und Front: Beiden Adressaten wurde im Rekurs auf die »Opferbereitschaft« des anderen Loyalität abgetrotzt. Eingedenk der »Opfer«, welche die Frontsoldaten zu bringen bereit seien, müsste die »Heimatfront« schließlich ebenfalls notwendige und vorübergehende »Einschnitte« hinnehmen können. Und, anders herum: Den Krieg und die »Opferbereitschaft« der Familien in der Heimat bedenkend, sollte sich jeder deutsche Soldat »aufopferungsvoll« in die Schlacht werfen. Hierin spiegelte sich neben der pragmatisch-propagandistischen Absicht auch das Trauma der NS-Führung wider, die Nation könne ähnlich wie im Ersten Weltkrieg in Heimat und Front gespalten werden: Eine Situation, in der »die kämpfende Front der Heimat ihre Sekurität« und »die hungernde Heimat der Front ihre privilegierte Ernährung vorwerfen konnte«, sollte sich auf keinen Fall wiederholen.88 Dieser offizielle, mit hehren Motiven gespickte und unablässig in allen Medien verbreitete Opferdiskurs wurde durch eine Formulierungsopposition des Alltags ein Stück weit ausgehöhlt. Witze, karikierende und ironische Redewendungen machten deutlich, dass die Diskrepanzen zwischen aufgesetzter Staatsrhetorik und der Realität vielen »Volksgenossen« nicht verborgen blieben. Davon war auch das Spannungsfeld unterschiedlicher Tauschsemantiken betroffen. Allein, dass es einer der sprechendsten Termini des Schwarzmarkts, das »Organisieren«, obwohl in offiziellen Texten konsequent totgeschwiegen, zu einer erheblichen Popularität brachte, verdeutlichte diese Kluft. Mit besonderem Gespür für die Bedeutungsambivalenz und die Verwendungsweisen des Begriffs notierte Victor Klemperer in sein »Tagebuch eines Philologen«: »Das Wort war anrüchig geworden, es roch nach Machenschaft, nach Schiebertum, es war genau mit dem Geruch behaftet, den die offiziellen nazistischen Organisationen ausströmten. Dabei aber hatten die Leute, die von ihrem privaten Organisieren sprachen, durchaus nicht die Absicht, sich zu einer fragwürdigen Handlung zu bekennen. Nein, ›organisieren‹ war ein gutartiges, überall in Schwang befindliches Wort, war die selbstverständliche Bezeichnung eines selbstverständlichen Tuns«.89 Für die NS-Ideologie insgesamt und insbesondere für die Idee der »Volksgemeinschaft« waren hingegen eindeutig konnotierte Tauschmotive entscheidend, die unterschiedliche Praktiken des Gebens und Nehmens und Beiträge von Individuen oder Gruppen zum »Ganzen«, zur »Idee« der »Bewegung« 88 Schivelbusch, 279f. 89 Klemperer, S. 133.
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und des Staates kennzeichneten. Zu den wichtigsten Themen, die eine Rolle im NS-Diskurs über die Beiträge von Einzelpersonen und Gruppen spielten, gehörten jedoch »Geschenke« und »Opferleistungen«; und damit gerade jene Leistungen, die das do ut des jeder Tauschhandlung hinter dem Schleier einer einseitigen Bereitschaft zur Gabe verbargen.90 Die individuelle Bereitschaft, für das Wohl der Partei, des Führers oder eines allgemeinen »größeren Ganzen« auf eigene Annehmlichkeiten zu verzichten, gehörte zum Kernbestand nationalsozialistischer Propaganda. Dieser Kult des Spendens und Schenkens hatte bereits die frühe Parteiarbeit der NSDAP geprägt. Hilfen für in Not geratene Parteimitglieder bildeten den Kern einer fürsorglichen Politik, die an die Stelle der bürokratischen Prozedur der Weimarer Zeit eine unbürokratische, im Wesen auf die Teilhabe an einer gemeinsamen »Sache« gegründete Hilfe zu bedeuten schien.91 Die Spenden-Semantik wurde in der Folge ein Mittel der – von Überwachung flankierten – Bemühungen, die »Volksgemeinschaft« herzustellen, indem man sie propagandistisch beschwor. Das zeigte sich schon in den dreißiger Jahren, etwa bei den Aktionen für das »Winterhilfswerk«. Dabei wich der öffentlich weiter propagierte Freiwilligkeitscharakter in der Praxis schnell Zwangsmaßnahmen. Die Spende für das Winterhilfswerk wurde teils vom Lohn abgezogen, teils unter Drohungen in den Häusern eingesammelt. Auf die Frage, warum die Regierung nicht einfach eine neue Steuer einführte, antwortete Hitler in einer Rede vom 5. Oktober 1937, dass dieser Weg das vermissen lassen würde, »was wir durch das Winterhilfswerk mit erreichen wollen, die Erziehung zur deutschen Volksgemeinschaft«.92 So erfolgreich die Politik des Abschieds von horizontalen Tausch-Relationen auch war, ließen sich solche propagandistischen Beschwörungen für weite Teile der Bevölkerung kaum noch mit den neuen Belastungen der Kriegszeit in Einklang bringen. Das Tauschthema rückte spätestens mit Inkrafttreten des umfassenden Rationierungssystems und der 1939 formulierten Verordnungen – unter neuen Vorzeichen – wieder auf die Tagesordnung.
2 Konsumräume der Zwischenkriegszeit, Interaktionsbedingungen und neue Marktgrenzen Der Schwarzmarkt im Berlin der Kriegszeit war ein neuer Konsumraum, der nach eigenen Regeln funktionierte. Das lag vor allem daran, dass unter den Bedingungen der Illegalität und wegen fehlender Infrastrukturen neue, für viele 90 Bourdieu, S. 163. 91 Reichardt, Kampf bünde, und ders., Formen. 92 SOPADE, 1938, S. 78.
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Teilnehmerinnen und Teilnehmer ungewohnte Tauschpraktiken an die Stelle regulärer und eingeübter Kaufabläufe treten mussten. Getauscht wurde in Wohnungen, in Cafés und Kneipen, in Läden oder am Arbeitsplatz. In vielen Fällen fand hier zunächst auch die Anbahnung, d.h. das Kennenlernen und ins Gespräch kommen, statt. Keiner dieser Orte war eigentlich dafür vorgesehen, als Tauschraum zu fungieren. Unsicherheit, Absicherungstechniken und Improvisation prägten das Bild. Im Vergleich mit dem regulären Einkauf von Waren brachte der illegale Handel deshalb wichtige Veränderungen mit sich. Diese neue Form alltäglichen Wirtschaftens wird bei einem Blick auf die Berliner Konsumräume der Vorkriegszeit deutlich. Dabei geht es um Praktiken und Praxisräume als Bestandteile einer Interaktionsgeschichte des Konsums.93 Die Rahmenbedingungen für Interaktionsräume und -skripte in Einkaufssituationen wandelten sich auch im legalen Markt bereits vor der Einführung des Versorgungssystems im Jahr 1939. Doch markierten die Rationierungsmaßnahmen eine deutliche Zäsur. Die zu ihrer Absicherung formulierten Verordnungen steckten einen (relativ klaren) Raum ab, in dem Konsum legal stattfinden konnte, und definierten damit ex negativo zugleich jenen Bereich, der fürderhin vom Schwarzhandel gefüllt wurde. Von drei Dingen soll hier die Rede sein: von den Praxisräumen der Berliner Konsumlandschaft der Vorkriegszeit, den neuen Marktgrenzen, die durch die einschlägigen (Kriegs-) Verordnungen gezogen wurden, und den Zielen, welche die nationalsozialistischen Grenzzieher damit verfolgten. Als der in Karlshorst lebende Karl Deutmann am 24. Juni 1945 die Eindrücke einer »Fahrt in die Stadt« festhielt, spielte das Markttreiben in den Ruinen eine prominente Rolle. Für das anachronistisch anmutende Treiben auf den Berliner Straßen, wo Butter aus Fässern verkauft wurde und eifrige Preisverhandlungen stattfanden, fand Deutmann eine vielsagende Formel. Er verglich den illegalen Handel mit einem »Warenhaus auf der Straße«. In dieser Wendung schwang Ironie mit. Denn der Unterschied zwischen dem »wilden Schwarzhandel« und den einst in der Stadt zu bewundernden »Konsumtempeln« stand Deutmann bei seinem Blick auf die provisorischen und unhygienischen Marktflecken nur zu deutlich vor Augen. Wo noch vor wenigen Jahren elegante Geschäfte zum Bummeln und Einkaufen eingeladen hatten, konnte man jetzt an einer Straßenecke »im freien Handel eine Art Wasserrübengemüse« kaufen.94 Solche Kontrastbeschreibungen führten indirekt einen seit dem 19. Jahrhundert gängigen Diskurs fort, der Berlin als moderne Stadt des Konsums geschildert hatte. Doch wie groß war die damit beschriebene Fallhöhe wirklich? Wie sah die Berliner Konsumlandschaft aus, bevor Kriegswirtschaft 93 Spiekermann, Neighbours. 94 Deutsches Historisches Museum (DHM), Rep I/ 2. Weltkrieg/ F1/ M, Tagebuch Deutmann, Eintrag vom 24.6.1945. (Im Folgenden zitiert als DHM, Tagebuch Deutmann).
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und die Bedingungen der »Zusammenbruchgesellschaft« den Boden für die Etablierung illegaler Märkte bereitet hatten? Welche Konsumräume und Praktiken hatten die Vorgeschichte der Berliner Schwarzmarktzeit geprägt? Konsum war im Berlin der Zwischenkriegszeit zu einem Gegenstand politisch aufgeladener Diskussionen geworden. Die Ursache dafür lag vor allem in der chaotischen Wirtschaftslage. In kurzer Abfolge bestimmten der Erste Weltkrieg, die zu einem guten Teil aus ihm resultierende Inflation und die Weltwirtschaftskrise die Lebensverhältnisse. Zugleich unterlagen die Rahmenbedingungen für Konsumpraktiken einem langfristigen Wandel, der das Entstehen einer neuen Konsumgesellschaft ankündigte. Das hatte nicht nur nachhaltige Veränderungen im alltäglichen Wirtschaften von Berlinerinnen und Berlinern zur Folge, sondern wirkte sich über die neu entstandenen und entstehenden Konsumräume auch auf das Erscheinungsbild der Hauptstadt aus. Im Zuge dieser Entwicklung wurde der Berliner Stadtraum immer stärker im Rückgriff auf Konsummotive beschrieben. Die Stadt galt spätestens seit den Kauf hausgründungen zu Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts als »Konsummetropole«. Gestützt auf Reportagen und fiktionale Bearbeitungen in Literatur und Film etablierte sich das Bild einer Urbanität, die über neuartige, fasziniert bis argwöhnisch betrachtete Einkaufsmöglichkeiten und -inszenierungen definiert war. Bereits nach der Reichsgründung hatte sich die bis dahin für ihre spartanisch-preußische Anmutung bekannte Stadt immer stärker verändert. Unter den Linden waren in der Boomphase der siebziger Jahre Wohnhäuser Modegeschäften, Restaurants, Banken und Hotels gewichen. Das war durchaus im Sinne der auf Repräsentation setzenden kaiserlichen Politik. In der neuen, nach einem Mailänder Vorbild gestalteten Kaiser-Galerie konnten sich seit 1873 die Kunden in über fünfzig Läden, Cafés und anderen Etablissements dem Konsum widmen. Solche Aufsehen erregenden Neubauten beherrschten die zeitgenössische Wahrnehmung.95 Dieser Trend setzte sich nach dem Ersten Weltkrieg fort. Konsummöglichkeiten wurden nicht mehr bloß beschrieben, sondern als Bestandteil des Zeitgeistes und zeitgemäßer Lebensentwürfe betrachtet. Beobachter suchten deshalb in den zwanziger Jahren den Vergleich mit dem in dieser Hinsicht als Vorbild bewunderten Chicago. Ins Blickfeld solcher Beschreibungen rückten vor allem die großen Kauf häuser, wie das 1907 eröffnete »Kauf haus des Westens«. Sie standen für eine ungeahnte Warenvielfalt und Formen der Präsentation, die das Einkaufen zum Erlebnis werden ließen. Daneben veränderten neue Vergnügungseinrichtungen und auch die öffentliche Reklame das Stadtbild, begannen Plakate und Leuchtreklamen zu Objekten einer sich wandelnden Stadtwahrnehmung zu werden.96
95 Large, S. 35. Vgl. zur Entwicklung der Warenhäuser im Kaiserreich Ullmann. 96 Vgl. Boberg.
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Neue Konsumräume und Waren-Inszenierungen bildeten die Veränderungen einer entstehenden Konsumgesellschaft ab. Und sie beförderten die Etablierung eines neuen Berliner Selbst- und Fremdbildes. Im Angesicht der Nachkriegs-Trümmerlandschaft des Zweiten Weltkriegs vermerkte ein Bericht des »Tagesspiegel« unter der Überschrift »Warenhäuser – Wahrzeichen der Weltstadt«, dass Touristen und Geschäftsreisende sich neben den Linden und dem Schloss immer auch den Kurfürstendamm und den Potsdamer Platz ansähen. Das sei auch nach dem Krieg der Fall, wie der Artikelschreiber in einer Mischung aus trotzigem Lokalpatriotismus und Verwunderung festhielt. So habe zu den bewunderten Sehenswürdigkeiten immer der mittlerweile ausgebrannte Wertheim-Bau am Leipziger Platz gehört. Das Besondere dieses Gebäudes sah der Reporter darin, dass es auch als Ruine noch als »etwas für Berlin Typisches und Geist und Wesen dieser Stadt Symbolisierendes« erscheine. Schließlich sei das 1904 von Walter Messel vollendete Kauf haus »der erste nicht staatliche oder städtische Bau«, der zeige, dass »Berlin keine Landstadt, keine Provinzstadt, nicht einmal nur eine Landeshauptstadt, sondern eine Weltstadt ist«.97 Doch Zuschreibungen wie diese, die Modernität und Weltgeltung mit spezifischen Konsumräumen verbanden und zur Charakterisierung der Stadt heranzogen, hatten nicht unbedingt viel mit den Lebenswirklichkeiten von Berlinerinnen und Berlinern zu tun. Sie kaprizierten sich auf Teilaspekte. Solche – ganz gleich, ob positiv oder negativ gemeinte – Beschreibungen von Modernität übersahen jene Vielfalt unterschiedlicher Konsumräume, die Berlin prägte. Neben neuen Verkaufsformen des Einzelhandels hielten sich traditionellere Formen des Einkaufens auf Märkten, bei Wander- oder Straßenhändlern und »fliegenden Börsen«. Diese Verteilerstellen blieben lange Zeit bestehen, prägten einzelne Stadtteile, in denen die neue Konsumwelt der Warenhäuser und Ladengeschäfte, Schnellimbisse und Vergnügungseinrichtungen wenn überhaupt, dann nur langsam Einzug hielt.98 Wahrscheinlich war der Modernitätstopos auch Ausdruck einer rhetorischen Absetzbewegung. Denn die zwanziger Jahre sahen zu Beginn auf den Berliner Straßen alles andere als moderne Erscheinungen einer Konsummetropole. Ganz im Gegenteil: Das Bild war von chaotischen Szenen geprägt, die – erinnert sei an Deutmanns Schilderung – in einem starken Kontrast zu den neueren Formen der Warenrepräsentation und des Einkaufens standen. In Berlin hatte bereits während des Ersten Weltkrieges ein »lebhafter Tauschhandel« eingesetzt, der sich in den frühen zwanziger Jahren fortsetzte 97 Ausgabe vom 5. November. 98 Als eindrückliche Schilderung einer »fliegenden« (Geflügel-) Börse an der Volksbühne in Mitte vgl. Joseph Roths Reportage »Der Orient in der Hirtenstraße. Besuch in der fliegenden Börse«, wieder abgedruckt in: Roth, S. 72–75. Ebd., S. 84, auch eine Fotografie des Markttreibens in der Grenadierstraße (Scheunenviertel) aus dem Jahr 1934.
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und auch durch die so genannten »Wuchergerichte« nicht entscheidend eingedämmt werden konnte.99 Für das neue Phänomen gab es eine ganze Reihe von Begriffen. Schwarzhandelspraktiken konnten als »Schleich-« und »Kettenhandel«, »wilder Straßenhandel« oder auch »Wuchergeschäft« firmieren. Insbesondere die Unterscheidung zwischen »reellem« und »wildem Straßenhandel« beschäftigte empörte Beobachter und reflektierte den Umstand, dass der legale Straßenhandel Anfang der zwanziger Jahre in Berlin noch verbreiteter war, als es in den dreißiger Jahren der Fall sein sollte. Zudem nahm der illegale Handel unter freiem Himmel immer größere Ausmaße an. Zwischen 1920 und 1921 stiegen die Teilnehmerzahlen Zählungen zufolge um einige tausend.100 Damit wurde er zum Problem für unterschiedliche Akteursgruppen. In unzähligen Eingaben und Schreiben zwischen dem Berliner Polizeipräsidium und dem Magistrat kam das Thema immer wieder auf die Tagesordnung. Im Juni 1919 berichtete die zuständige Abteilung der Polizei dem Magistrat, dass die »wilden Straßenhändler und deren Anhang« versucht hätten, »sich auf dem Küstriner Platz festzusetzen, nachdem sie aus dem Schönhauser Viertel und vom Andreasplatz vertrieben« worden seien. Der leitende Beamte versicherte, er sei »bestrebt, dem sich in Ärgernis erregender Weise breitmachenden wilden Straßenhandel mit allen (…) zu Gebote stehenden Mitteln« zu begegnen. Dass das keine leere Drohung war, wurde schnell klar. Mit »Militärmannschaften« ging die Obrigkeit gegen den unerwünschten Handel vor.101 Das Problem tauchte jedoch nicht nur in Berlin auf. In einiger Hilflosigkeit suchten lokale Verwaltungsstellen Rat bei den Kollegen in der Hauptstadt. Am 17. Januar 1920 bat der Geschäftsführer des Deutschen Städtetages die Berliner Verwaltung um Auskunft. Nach seiner Kenntnis argumentierten die lokalen Polizeibehörden in der Regel, dass der Handel keinerlei Beschränkungen unterliege und überdies ein Einschreiten auch nicht wünschenswert sei, da er überwiegend von Arbeitslosen betrieben würde, die damit »zumindest nicht der Erwerbslosenfürsorge anheim fielen«. Von den Berliner Kollegen erbat der offensichtliche überforderte Geschäftsführer Hinweise darauf, wie dem Problem begegnet werden könnte.102 Marktangelegenheiten waren eigentlich streng geregelt. Die unterschiedlichen »Marktpolizeiverordnungen für die städtischen Markthallen und die öffentlichen Wochenmärkte« der einzelnen Berliner Bezirke regelten etwa das »Marktgebiet« oder die »Freiheit des Zugangs«. Aber auch an einen »Gewerbebetrieb im Umhergehen« hatten die Planer gedacht – und ihn sogleich ver99 Davis; Roehrkohl. 100 LAB A Rep. 001–02 Nr. 2310, Bl. 54. Der Stadtverordnete Merten von der Demokratischen Partei gab in der Stadtverordnetenversammlung vom 26. Juni 1921 die Zahl der Straßenhändler mit 20.-25 000 an. Vgl. ebd., Bl. 139. 101 Ebd., Bl. 42. 102 Ebd., Bl. 44.
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boten. Die Namen der Standinhaber und die geforderten Preise mussten sichtbar angebracht werden. Ferner waren »jeder zwecklose Aufenthalt, sowie jede Verletzung des Anstandes oder Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, jedes laute Anpreisen und das Versteigern von Waren, sowie die Abhaltung oder Störung Anderer von dem beabsichtigten Kauf oder Handel durch Zurückdrängen, Überbieten oder auf andere Weise« untersagt.103 Umso deutlicher traten die Unterschiede zum ungeregelten »wilden Handel« auf der Straße zu Tage. Beim Magistrat häuften sich die Eingaben von Einzelhändlern, welche die Konkurrenz fürchteten und etwa mit den schlechten hygienischen Bedingungen auf den illegalen Straßenhandelsplätzen, Belästigungen durch »lautes Ausrufen« und dem Gedrängel auf den Straßen argumentierten oder aber schlicht die unbotmäßige Konkurrenz beklagten.104 Der Bund Deutscher Fahrrad- und Kraftfahrzeughändler ging noch einen Schritt weiter. Der Straßenhandel in der Weinmeisterstraße mit »neuen und gebrauchten Fahrrädern, Decken, Schläuchen sowie Ersatzteilen« habe sich »zu einer Kalamität herausgebildet, die sowohl den Verkehr« behindere als auch obendrein die Existenz dreier Fahrradhandlungen vor Ort gefährde. Zudem unterstellte der Vertreter des Verbandes, Fritz Schultz, den Händlern Kontakte zur Halbwelt. Bei den gehandelten Waren müsse es sich um Diebesware handeln, da diese »weit unter Fabrikpreis verkauft« würden. Zum Schluss erlaubte sich Schultz den Hinweis, dass »diese Leute weder Umsatz- noch Gewerbesteuern abführten«, wodurch der Staat große Verluste erleide.105 Lebensmittelproduzenten und die Berliner Markthallen-Vereinigung schlossen sich der Kritik am Straßenhandel an. Zwar sollte nicht verkannt werden, hieß es in einer Beschwerde aus dem Jahr 1919, dass »sehr viele sonst Erwerbsunfähige, Kriegsbeschädigte und Arbeitslose sich durch den Straßenhandel eine Erwerbsquelle zu verschaffen« suchten. Das dürfe aber nicht »dahin ausarten, dass ganze Straßenzüge« dadurch »dem Verkehr für das Publikum« entzogen würden. Besonders schwer wiege dieser Umstand »in der Umgebung der beiden Zentral-Markthallen in der Neuen Friedrichstraße und auf dem Alexanderplatz«. Der solchermaßen unter Druck gesetzte Magistrat ersuchte die Polizei »dringend, insbesondere die Umgebung der Markthallen, aber auch die Hauptverkehrsadern durch ein stärkeres Polizeiaufgebot vom Straßenhandel frei zu halten«.106 Anwohner beschwerten sich ebenso wie Ladenbesitzer über verstopfte Straßen und Zufahrtswege.
103 LAB A Rep. 037–08, Bl. 51. 104 Vgl. den von neun Einzelhändlern unterschriebenen Brief an den Magistrat vom 23. April 1921. LAB A Rep. 001–02 Nr. 2310, Bl. 116f. Vgl. ferner das Schreiben des Interessenvereins für Handel und Gewerbe vom 12. Mai 1921. Ebd., Bl. 122f. 105 LAB A Rep. 001–02 Nr. 2310, Bl. 60, Schreiben vom 28. August 1920. 106 LAB A Rep. 001–02 Nr. 2310, Bl. 54.
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Dieser letzte Punkt schien schließlich derjenige zu sein, für den die Berliner Polizei am empfänglichsten war. Darauf konditioniert, die Straße als Austragungsort einer alltäglichen »Straßenpolitik« wahrzunehmen, verstanden die Berliner Beamten den Handel als eine Störung der öffentlichen Ordnung, die sie unter dem Begriff »Verkehrsproblem« subsumierten.107 Akribisch führten sie Buch, erstellten Listen der bevorzugten Schwarzhandelsplätze und versuchten zugleich, der Situation mit Razzien Herr zu werden, was lediglich Teilerfolge brachte. Wie ein Schreiben des Stettiner Lebensmittelamtes verdeutlichte, fehlte es aber auch an entsprechenden juristischen Grundlagen zur Bekämpfung. Dass die Polizei ihr Vorgehen vor allem mit dem Verweis auf die Straßen-Polizeiverordnung begründete, hatte seinen Grund darin, dass andere Verordnungen nicht vorlagen. Die Stettiner Verwaltungsstelle beabsichtigte deshalb, die Gewerbeordnung entsprechend zu ergänzen, um eine bessere Kontrolle ausüben zu können.108 In Berlin blieb das Problem die ganze Weimarer Zeit hindurch auf der Tagesordnung. In einem Bericht des Magistrats an den Berliner Polizeipräsidenten hieß es, dass anlässlich einer Stadtverordnetenversammlung das Thema mit einiger Empörung diskutiert worden sei. Von »schweren Anklagen« war die Rede. Dabei wurden auch einzelne Schwerpunktgebiete benannt: So mache sich das »schädliche Treiben« insbesondere in der Alten und Neuen Schönhauser- und der Weinmeisterstraße in Mitte sowie im Bereich Urbanstraße/ Hermannplatz/Hasenheide in Kreuzberg und Neukölln »breit«. Hier würden »Waren aller Art, sogar Brillanten und andere Schmucksachen (…) in wildem Handel öffentlich vertrieben«.109 Die seit dem 1. Oktober 1920 in Kraft gesetzte »Polizeiverordnung betreffend den Straßenhandel« verbot den Handel in der Nähe sämtlicher Bahnhofsund Markthalleneingänge. Zudem enthielt sie eine Liste 28 weiterer Straßen und Plätze, auf denen lediglich Schnittblumen und Zeitungen gehandelt werden durften; darunter waren so prominente Orte wie die Friedrichstraße, der Potsdamer Platz und der Hackesche Markt sowie eine Vielzahl von Straßen und Plätzen in der Spandauer Vorstadt, in Kreuzberg und in Prenzlauer Berg.110 Doch offensichtlich hatten solche Verbote nur wenig Durchschlagskraft. Der Straßenhandel wurde zum Politikum. Die im Berliner Magistrat vertretenen Parteien waren in dieser Frage höchst unterschiedlicher Auffassung. SPD und USPD schlugen sich auf die Seite des Straßenhandels. Ihrer Meinung nach hingen vor allem arme Berlinerinnen und Berliner und damit die eigentlichen Kriegsverlierer von ihm ab. Auf der 107 108 109 110
Lindenberger, Straßenpolitik. LAB A Rep. 001–02 Nr. 2310, Bl. 59. LAB A Rep. 001–02 Nr. 2310, Bl. 46. LAB A Rep. 001–02 Nr. 2310, Bl. 76f.
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Rechten, so die Wahrnehmung der Linken, formierte sich demgegenüber eine Koalition, die vor allem Interessenpolitik für »Besitzende«, »Großhändler« und »Kapitalisten« betrieb. In der Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung am 4. März 1920 reagierte der SPD-Vertreter Zimmermann auf einen Zuruf, der den Straßenhandel in die Nähe des Schiebertums gerückt hatte: »Wenn hier von Schiebern gesprochen wird, so könnte ich mit demselben Rechte sagen, dass auch der Kaufmannsstand von Schiebern durchsetzt ist. (…) Ich brauche nur auf die großen Warenhäuser Wertheim und Tietz hinzuweisen, die ihre Verkaufsstellen immer an den besten Ecken errichten. So zieht selbstverständlich auch der Händlerstand systematisch in die belebtesten Gegenden der Stadt«.111 Seine Partei sehe den Straßenhandel als »notwendiges Gewerbe« des Berliner Wirtschaftslebens an, da er nicht nur Arbeitsplätze für Bedürftige schaffe, sondern darüber hinaus auch für eine schnelle und kostengünstige Verteilung der Waren sorge. Allerdings müsse der »reelle Handel« gestärkt und zusammen mit der »Organisation der Händler« auf eine »Ausrottung der Missstände« hingearbeitet werden.112 Der USPD-Verordnete Nawrocki erklärte nur wenige Wochen später, am 26. Mai, dass die von den Liberalen und Deutschnationalen geforderten Maßnahmen gegen den Straßenhandel Ausdruck von Klientelpolitik seien: »Tatsächlich sieht man eine gewisse Gefahr darin, dass die Straßenverkäufer preisregulierend wirken könnten, dass die Geschäftsleute die Preise nun nicht mehr so heraufsetzen können, wie sie wollen. Während des Krieges haben die Geschäftsleute gerade Schindluder getrieben mit der proletarischen Bevölkerung«.113 Liberale und (national-) konservative Abgeordnete betonten demgegenüber, dass der Straßenhandel dem Einzelhandel schade und es sich bei den Teilnehmern überwiegend nicht um Arme, sondern um Kriminelle handele. Zudem führte das »wilde Treiben« ihrer Meinung nach zu »Verunstaltungen« des »Stadtbildes« und massiven Straßenverkehrsproblemen. Einen bemerkenswerten Bericht gab der Stadtverordnete Roeder von der Wirtschafts-Partei. Seine Ausführungen lesen sich wie ein Prolog zu Szenen, die den Berliner Schwarzmarkt der vierziger Jahre prägen sollten: »Sie wissen ja alle – Sie brauchen nur in belebtere Straßen zu gehen; es braucht nicht der Westen zu sein, es kann auch das Zentrum sein – wenn Sie so nach Hause gehen, hören Sie oft: Zigaretten gefällig, Schokolade gefällig! Aber in der Hand hat so ein Mann niemals etwas, sondern er holt alles aus dem Überzieher. Ist das legitimer Straßenhandel?« Die Antwort auf Roeders rhetorische Frage war klar. In der Ablehnung des wilden Handels stimmte er mit dem Stadtverordneten Frank überein. Dieser vertrat zwar den Standpunkt, »dass es heute schwer sein dürfte, eine genaue Grenze festzusetzen 111 Ebd., Bl. 84. 112 Ebd. Ein Standpunkt, den auch das Bezirksamt Mitte vertrat. Vgl. ebd., Bl. 153f. 113 Vgl. LAB A Rep. 001–02 Nr. 2310, Bl. 141f.
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zwischen dem ehrlichen und dem unehrlichen Straßenhandel«. Zugleich bezog er aber »energisch Stellung (…) gegen das Unwesen, das immer mehr um sich greift, des Schleich-, Ketten- und Schwarzhandels«. Die »Macher dieses Handels« seien »begüterte Leute, die im Westen Berlins wohnen und bei diesem erträglichen Geschäft Millionen verdienen«. Dieselben Leute hätten auch den Geldhandel in ihrer Gewalt und sicherten sich »durch Valutaverschiebungen große Gewinne«. Außerdem müsse er darauf aufmerksam machen, »dass im Westen durch Straßenhändler ein ziemlich schwunghafter Cocain-Handel betrieben« werde. Unbeschadet der Tatsache, dass es seiner Meinung nach schwer war, zwischen »ehrlichem« und »unehrlichem« Handel zu unterscheiden, sprach er sich dafür aus, »geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um unter vollster Schonung der Interessen des legitimen Straßenhandels den illegitimen, auf der Straße betriebenen Schleichhandel zu unterdrücken«.114 Franks Ausführungen formulierten eine moralische Stadtaufteilung, die sich als äußerst dauerhaft erweisen sollte. In eine ähnliche Richtung ging der Beitrag des Stadtverordneten Warthemann. Er stellte in Abrede, dass es sich bei den Händlern in der Weinmeister- oder der Grenadierstraße um »Berliner Bürger« handelte. Vielmehr steckten hinter den illegalen Handlungen »vom Osten her zugewanderte Juden«. »Wir können und dürfen nicht dulden«, fuhr er fort, »dass ein derartiger Handel in den Straßen Berlins weiter sein Unwesen treibt«. Der Vertreter der LDP Hausberg unterstützte solche Appelle. Von »Schädlingen des Wirtschaftslebens« sprach er, die es »aus unserem Straßenleben zu entfernen« gelte. In seiner Replik auf die Redebeiträge verwies der SPD-Vertreter Zimmermann darauf, dass er auf unverhältnismäßig harte Maßnahmen gegen Straßenhändler aufmerksam machen wolle. Er sah gravierende Unterschiede zwischen den kleinen Straßenhändlern und den vom Stadtverordneten Frank genannten Schieber-Kreisen: »Der Schleichhandel arbeitet doch mit Waggonladungen und ganzen Zügen, während der Straßenhandel nicht ganze Waggons und Züge mit Lebensmitteln usw. verschieben kann«. Ein Zurufer bemerkte darauf hin: »Wir verurteilen beides«. Obwohl die Straße damit zu einem umstrittenen Konsumraum geworden war, blieben die Berliner Straßenhändler bis in die dreißiger Jahre eine alltägliche Erscheinung in der Stadt. Im Jahr 1925 waren 16 958 Hausier- und Straßenhandelsbetriebe mit insgesamt 20 885 Beschäftigten registriert, von denen 13 553 als »Alleinbetrieb« zugelassen waren. Hausierer und Straßenhändler stellten damit (nach Einzel- und Großhandel) die drittgrößte Gruppe aller Beschäftigten im kleinbetrieblichen Handelsgewerbe. Betrachtet man die Betriebszahlen dieses Gewerbezweiges, verschiebt sich das Bild noch einmal. Hier stellten Hausier- und Straßenhandel die zweitgrößte Gruppe (Diagramm 1). 114 Ebd.
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Diagramm 1: Anteile kleinbetrieblicher Berliner Handelsgewerbebetriebe (bis 5 Beschäftigte) 1925 (in %) Quelle: Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 5 (1929), S. 78
Zwar musste der Straßenhandel nicht per se als unmodern erscheinen. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte er als geradezu typisch für das großstädtische Leben gegolten.115 Einen bedeutenden Anteil machten während der zwanziger Jahre zudem die Zeitungs- und Zeitschriftenverkäufer aus. Im Jahr 1929 waren dafür in Berlin allein 3 700 Händlerinnen und Händler offiziell registriert. Der Verkauf von Zeitungen auf den Straßen der Stadt stand für das Bedürfnis nach aktuellen Informationen, vermittelte mithin ein Bild von Schnelligkeit und Schnelllebigkeit, das zur Vorstellung einer modernen Urbanität unbedingt dazu gehörte.116 Doch so, wie diese Sparte des mobilen Gewerbes in das Bild einer modernen Metropole zu passen schien, konnte der Straßenhandel mit Kleinartikeln und Lebensmitteln andererseits als rückständig gelten. Er stand im Kontrast zu den neuen opulenten Geschäftsräumen. Mit seiner unmittelbaren Konfrontation zwischen Verkäufer und Käufer, der provisorisch anmutenden Warenpräsentation und unter den unhygienischeren Bedingungen 115 Spiekermann, Basis, S. 202. 116 Vgl. Reuveni, S. 274f.
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des Verkaufs unter freiem Himmel haftete ihm der Charakter einer (allenfalls liebenswerten) Unmodernität an. Den staatlichen Stellen war das nicht gleichgültig. Doch zum einen verdiente der Staat an den mobilen Händlern. Erst im Jahr 1937 ging das Auf kommen der Wandergewerbesteuer an den Landessteuern verglichen mit den Zahlen von 1929 deutlich um über 80% zurück.117 Zum anderen bot der mobile Handel Arbeitsplätze für Angehörige der Unterschichten, vor allem für Frauen, Rentner, Kinder und Menschen mit Behinderung. Den Handel zuzulassen, hatte damit auch eine sozialpolitische Bedeutung.118 Außer dem Straßenhandel prägten auch die Markthallen das Bild der Berliner Konsumlandschaft während der Zwischenkriegszeit.119 Neben den Viehund Schlachthöfen stellte die Stadt mit den Markthallen »die wichtigsten Betriebe (…) zur Organisation der Lebensmittelverteilung« in Berlin.120 Während die in der Neuen Friedrichstraße gelegene Halle ausschließlich dem Großhandel vorbehalten blieb, standen die anderen zehn Hallen entweder Groß- und Einzelhandel oder dem Einzelhandelsgeschäft offen. Ihre Verteilung erstreckte sich über das ganze Stadtgebiet. Ende der zwanziger Jahre hatten die Hallen ihre Gesamtnutzfläche noch einmal ausgebaut: Von unter 27 000 m2 im Jahr 1926 stieg sie innerhalb von drei Jahren auf 28 000 m2. Jährlich wurden hier schätzungsweise 500 000 Tonnen Gemüse, Obst und Südfrüchte umgeschlagen.121 Eine Schilderung, die auf den Wandel der urbanen Konsumlandschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts abhebt, darf darüber hinaus nicht vergessen, dass noch 1927 im Wedding und in Friedrichshain regelmäßig Heu- und Strohmärkte, in Charlottenburg und Spandau Pferdemärkte abgehalten wurden.122 Während beispielsweise am Potsdamer Platz, Unter den Linden und am Kurfürstendamm das Neue in Gestalt moderner Konsumtempel, eleganter Cafés oder Varietés Einzug hielt, blieben andernorts anachronistisch anmutende Konsumräume bestehen. Weitaus wichtiger als die Spezialmärkte waren für den Konsumalltag der Berlinerinnen und Berliner die regelmäßig stattfindenden Wochenmärkte, auf denen vor allem Lebensmittel gehandelt wurden. Insgesamt gab es 1927 114 öffentliche und privat betriebene Wochenmärkte mit insgesamt mehr als 250 Markttagen pro Woche. Die 58 öffentlichen Märkte verteilten sich relativ gleichmäßig auf die nicht zur Kernstadt gehörenden Bezirke. Spitzenreiter waren hier Charlottenburg, Schöneberg, Steglitz und Treptow. Die Märkte der Kernstadt lagen sämtlich in den Händen privater Betreiber. Die weitaus meisten, nämlich sieben, fanden im Wedding statt.123 117 118 119 120 121 122 123
Statistisches Landesamt der Stadt Berlin, S. 360. Reuveni, Wohlstand, S. 275. Vgl. zur Bedeutung der Hallen die ältere Arbeit von Rindt. Büsch, S. 126. Vgl. ebd., S. 127, und Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, Jg. 5, 1929, S. 56. Ebd. Ebd.
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Mit dem Verweis auf Straßenhandel, Markthallen und Wochenmärkte sind einige Einschränkungen genannt, die gegen eine zu glatte Erfolgsgeschichte der modernen neuen Konsumräume in der Stadt sprechen. Der Wandel fand gleichwohl statt. Die »Basis« dieser neuen »Konsumgesellschaft« (Uwe Spiekermann) bildete auch in Berlin der Einzelhandel. Ein wichtiger Einwand gegen den Straßenhandel insgesamt hatte die Unsicherheit des illegalen oder zumindest flüchtigen Geschäfts auf der Straße thematisiert. »Da muss ich doch hervorheben«, erklärte der Stadtverordnete Dr. Falckenberg von der DVP, »dass die Ladeninhaber einen festen Stand haben, dort wohnen, so dass der Käufer, der etwas bekommt, was ihm nicht passt oder schlecht ist, zum Ladeninhaber wieder hingehen und es ihm zurückgeben kann. Die Straßenhändler aber sind in der nächsten Minute verschwunden, und wer von ihnen betrogen wird, hat eben das Nachsehen«.124 Damit war ein entscheidender Punkt benannt, der als Argument gegen den Handel auf der Straße taugte. Andererseits reflektierte Falckenbergs Äußerung auch eine zeitgenössische Wahrnehmung, die vor allem darin gründete, dass sich die Konsumenten an die sicheren Konsumräume der Einzelhandelsläden gewöhnt hatten. Den Sicherheitsbedürfnissen kam der moderne Einzelhandel entgegen. Und dass er das tat, war neben der dezentralen und effizienten Verteilerfunktion ein Grund mehr für seine Erfolgsgeschichte. In immer stärkerem Maße verdrängten Läden und die großen Kauf häuser traditionellere Konsumräume. Reichsweit stieg die Zahl der großen Warenhäuser, der Konsumgenossenschaften und Läden mit größerer Sortimentvielfalt vor allem zwischen 1924 und 1932 überdurchschnittlich stark. Nach wie vor bildeten allerdings kleinere und mittelgroße Läden das Rückgrat des Einzelhandels in Deutschland.125 Bei der Betriebszählung vom 17. Mai 1939 wurden in Berlin insgesamt 31 Warenhäuser registriert. In ihnen arbeiteten knapp 23 000 Beschäftigte. Die Einheits-, Klein- und Serienpreisgeschäfte kamen auf 30 Einträge und eine unwesentlich geringere Beschäftigtenzahl von knapp 19 000 Mitarbeitern.126 In ganz anderen Dimensionen – was die Betriebszahl anging – lagen vor allem die Einzelhandelsbetriebe für Lebens- und Genussmittel. Ihre Zahl war bis zum Mai 1939 auf 31 395 Geschäfte nach oben geschnellt. Knapp 7 000 Betriebe zählte zudem der Einzelhandel mit Bekleidungsgegenständen.127 Diese beiden Bereiche müssen nicht zuletzt deshalb hervorgehoben weil, weil Lebensmittel und Bekleidungsartikel zu den am häufigsten getauschten Waren der Berliner Schwarzmarktzeit gehören sollten.
124 125 126 127
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LAB A Rep. 001–02 Nr. 2310, Bl. 142. Spiekermann, Neighbour, S. 153. Statistisches Landesamt der Stadt Berlin, S. 167. Ebd.
Mit der Ausweitung des Laden- und Kauf haushandels waren die Grundlagen für eine neue Kultur des Einkaufens gelegt, die sich als langfristiger Modernisierungstrend nachhaltig auf den Konsumalltag auswirkte. Das betraf vor allem die Interaktionsbedingungen. Zwischen Verkäufer und Käufer bildeten sich neue Rollenmuster heraus. Diese Rollen unterlagen relativ festen Regeln: »Shopping was transformed into a ritual, where the process of, aim and subject of commercial communication between retailer and consumer were increasingly regulated«.128 Doch diese Festlegungen hatten durchaus einen ambivalenten Charakter. Einerseits wurde ein dem Großstadtleben allgemein zugeschriebener Anonymisierungsprozess wirksam, der an die Stelle persönlicher Bindungen an einen Händler und damit verbundene Kontaktformen eine relativ uniforme Weise des Bezahlens ohne längeres Verkaufsgespräch setzte. Die Voraussetzung dafür boten die Standardisierung der Waren und (zum Teil an Markenartikel) gebundene Preise. Dabei bestimmte – als Erbe der Kriegs- und Inflationsjahre – ein eingeschränkter Wettbewerb das Bild. Bis in die späten zwanziger Jahre hinein blieben die Preise für Brot und andere Backwaren im ganzen Land festgeschrieben. Die Milchpreise legten lokale Verwaltungsstellen fest. Marken mit Preisbindung machten über die Hälfte des Lebensmittelumsatzes aus. Nur wenige Waren wie z.B. Salz, Zucker oder Schmalz wurden als »Wettbewerbsartikel« geführt.129 Zusammen mit solchen letztlich politisch bestimmten Preisniveaus sorgte die Einführung von Standards für ein verändertes Einkaufen. Sie ermöglichten eine schnellere Orientierung, weil langwierige Warenprüfungen entfallen konnten. So veränderte sich der Einkaufsvorgang insgesamt: Er wurde anonymer, konnte schneller abgewickelt werden und beförderte damit zugleich, dass neue Rollenmuster das Verhalten von Käufern wie Verkäufern lenkten. Andererseits hatte der Laden als »Basisinnovation« (Uwe Spiekermann) die Bindungen zwischen Verkäufern und (Stamm-) Kunden gestärkt, ja, sie überhaupt erst möglich gemacht. Als eine im 19. Jahrhundert sich durchsetzende neue »Kommunikations- und Erfahrungswelt« schuf er den Raum für sich wiederholende und damit sichere Einkaufssituationen. Ansprüche des Käufers – etwa bei schlechter Warenqualität – wurden leichter einklagbar. Verlässlichkeit und Stetigkeit des Konsums konnten im Laden erfahrbar werden. Einkaufen fand hier zudem in einem sozialen Kontext statt, der über den reinen Warenaustausch hinausging. Gerade der kleine Laden »an der Ecke« war der ideale Umschlagplatz nicht nur für das vorhandene Sortiment, sondern auch für Neuigkeiten aus dem Viertel. So modern das dezentrale Verteilernetz der kleinen Einzelhandelsgeschäfte auch war; es bildete zugleich im angeblich so anonymen Großstadtleben einen Anlaufpunkt sozialer Integration, der 128 Spiekermann, Neighbour, S. 149. 129 Ebd., S. 156.
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die Unübersichtlichkeit der modernen Metropole in überschaubare Einheiten gliederte.130 Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten veränderten sich nicht nur die Bedingungen für den Berliner Straßenhandel erheblich. Jene Maßnahmen, die in der Folge auf die Konsumlandschaft einwirkten, entsprangen nicht allein ideologischen Motiven. Vielmehr handelte es sich um ein Motivbündel, in dem sich ideologische Vorgaben mit Fragen des Städtebaus und der Stadthygiene sowie mit strikt wirtschaftspolitischen Intentionen mischten. Vielleicht das wichtigste Motiv bildeten Vorstellungen der nationalsozialistischen Führung – namentlich Hitlers und Goebbels’ –, die auf eine komplette »Bereinigung« des Berliner Stadtbildes abzielten. Der »rote Moloch« wurde nach dem »Kampf um Berlin« (Goebbels) das Objekt nationalsozialistischer Umgestaltungsgigantomie.131 Die Fackelparaden und Aufmärsche der Jahre ab 1933, die Inszenierungen rund um die Olympischen Spiele und die städtebaulichen Veränderungen ließen den nationalsozialistischen Herrschaftsanspruch in der Stadt auf demonstrative Weise erkennbar werden. Berlin war das Zentrum nicht nur des Reiches, sondern auch der nationalsozialistischen Machtentfaltung, war nicht nur die Regierungs- und Verwaltungsmetropole, sondern auch der bedeutendste Aufmarschraum für die geordnet-machtvollen »Massen«, in deren Zurschaustellung die nationalsozialistische Herrschaft ihren Ausdruck und eine Stütze fand.132 »Berlin ist das Reich, und das Reich ist Berlin«, hieß es im Programmheft für die 700-Jahr-Feier der Stadt im Jahr 1937. Kaum hatten die Nationalsozialisten Berlin »zu ihrer Hauptstadt gemacht, verwandelte sie sich unter ihren Händen unversehens in eine Bastion der Ordnung, des Anstands und des richtigen Denkens«, nachdem sie zuvor in ihren Augen nicht viel mehr als eine Ansammlung von Stricherkneipen, Amüsiertempeln und Drogenumschlagstätten gewesen war.133 Der Prozess der Übernahme der Stadt erfasste sowohl die Berliner Verwaltung, für deren »Säuberung« der Vorsitzende der NSDAP-Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung und Reichskommissar für Berlin, Dr. Julius Lippert, verantwortlich war als auch den öffentlichen Stadtraum. Die Herrschaft über die Straßen Berlins übten nach Jahren erbitterter Straßenschlachten zwischen der SA und kommunistischen Gruppen fortan paramilitärische NSTruppen aus. Bevorzugt ging die Berliner Polizei gegen Randgruppen vor. Im 130 Vgl. Spiekermann, Basis, S. 138ff. 131 Vgl. das vom GBI Albert Speer ab 1937 forcierte Umbauprogramm der Hauptstadt, das zunächst ohne Rücksicht auf finanzielle Vorbehalte durchgeführt werden sollte, vor allem ab 1941 jedoch zunehmend problematischer wurde, weil sowohl Arbeitskräfte als auch Materialien fehlten. Die tatsächlichen Ausgaben des GBI erreichten deshalb nie die vorgesehenen Volumina. Vgl. Engler, S. 387–430. 132 Zum Begriff der »Masse« Mosse. 133 Large, 242. (Hervorhebung im Original).
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Dezember 1933 feierten Presseartikel die »Säuberung Berlins« von »Bettlern«, die als ein »Übel« bezeichnet wurden, »dessen Ausbreitung eine unerträgliche Belästigung der Berliner und der Besucher ihrer Stadt gebracht« habe.134 Gerade diese gewaltsame »Befriedung« der Straßen schien durchaus auf Gegenliebe in der Bevölkerung zu stoßen. Dass die Umgestaltung der Stadt und die Etablierung eines neuen nationalsozialistischen Berlin-Bildes ein Produkt des Terrors war, fiel dabei kaum ins Gewicht.135 Ein Kernbereich dieser gewalttätigen Beherrschung des Stadtraums betraf die antijüdische Politik der neuen Machthaber. Als wichtige Schnittstelle von Antisemitismus, »Säuberungs«- und lokaler NS-Gewerbepolitik erwies sich das Verbot des Straßenhandels für Ausländer, das insbesondere die sogenannten »Ostjuden« treffen und die Straßen der Stadt »rein« halten sollte. »Wilder« Straßenhandel war das Gegenteil eines »sauberen« deutschen Straßenbildes und musste deshalb aus der Sicht der neuen Machthaber unterbunden werden. Damit knüpften sie an vorhandene antisemitische Stimmungen an. Neu war allerdings, dass es nicht bei spontanen oder vereinzelten geplanten Übergriffen blieb. Im Gegenteil: Das Vorgehen gegen den Straßenhandel wurde radikalisiert und systematisiert. Das Ideal dieser nationalsozialistischen »deutschen Sauberkeit« im öffentlichen Raum kam auch bei den Vorbereitungen der Olympischen Spiele zum Tragen. Mit Rücksicht auf das Bild im Ausland wurden Maßnahmen ergriffen, um zu zeigen, »was für eine zivilisierte Stadt Berlin war: Bettler (…) wurden aus dem Verkehr gezogen, Preiswucher (…) unter Strafe gestellt«.136 Zum zweiten spielten ideologische Motive bei der Umgestaltung von Konsumräumen in der Stadt eine Rolle. Das betraf vor allem die Vorstellung einer partnerschaftlichen Beziehung zwischen Käufer und Verkäufer als organischem Teil der deutschen Volksgemeinschaft. Staatliche Regelungen legten Händler wie Konsumenten in den dreißiger Jahren immer stärker auf bestimmte Rollen fest. Beide Seiten sollten als Partner mit gleichen Rechten verstanden werden, die in der Wirtschaft zum Wohle des Ganzen zu handeln hatten. Mittelgroße Einzelhandelsgeschäfte wurden deshalb verstärkt unterstützt, Großunternehmen, kleine Läden und das Wandergewerbe hingegen zurückgedrängt.137 Zwischen 1933 und 1941 reduzierten die Verantwortlichen die Zahl der Handelsgenehmigungen drastisch. Waren 1933 noch 6 620 Händler auf den Straßen der Stadt unterwegs, verringert sich ihre Zahl auf unter 2 000 im Jahr 1941. Vor allem im Zuge der Vorbereitungen für die Olympischen Spiele 1936 schränkte die Stadtverwaltung den Handel ein, weil er aus ihrer Sicht nicht 134 135 136 137
Zitiert nach: Gellately, Hingeschaut, S. 58. Ebd., S. 35. Large, S. 280. Spiekermann, Neighbour, S. 157.
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in das propagierte Bild einer sauberen und modernen Metropole passte. Den zweiten Einschnitt brachte der Kriegsbeginn. Er fiel aber weniger dramatisch aus und lag im Trend einer allgemeinen Einschränkung von Konsummöglichkeiten während der gesamten Dauer des Krieges.138 Hinzu kamen, drittens, wirtschaftspolitische Faktoren. Die Wirtschaftspolitik des nationalsozialistischen Deutschland verfolgte zwei einander widersprechende Ziele. Den Aufrüstungsbemühungen des Regimes stand die Befürchtung gegenüber, eine über die Maßen forcierte Rüstungspolitik könne auf Kosten des Konsums und damit des Rückhalts in der Bevölkerung stattfinden. Die Konsequenz waren konsumpolitische Rücksichtnahmen, die Hitler selber 1935 angesichts einer angespannten Versorgungslage formulierte.139 Das Thema der »ausreichenden Versorgung« bezog seine Brisanz aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und der Interpretation der nationalsozialistischen Führung, die den Hungererlebnissen der Jahre ab 1916 eine entscheidende Mitschuld am Zusammenbruch des Kaiserreichs zuschrieb. Eine hungernde Heimatfront sollte nicht ein zweites Mal zum Risiko für die Staatsführung werden können. Zwar wurde die Reichshauptstadt besonders wohlwollend berücksichtigt, wenn es um die Versorgung der Bevölkerung ging. Das änderte allerdings nichts daran, dass wichtige Lebensmittelimporte durch die intensivierten Rohstoffeinfuhren gefährdet waren.140 Schon bald wurden Vorläufer der 1939 eingeführten Kriegs-Rationierung – wenn auch zunächst noch verdeckt – eingeführt, die auf den Konsumalltag in Berlin durchschlugen. Bereits vor Beginn des Krieges reagierte die Regierung mit der offenen Rationierung einzelner Waren. Aufmerksame Beobachter hatten erste Schritte auf dem Weg zu einer kriegswirtschaftlichen Erfassung und Reglementierung der Lebensmittelversorgung sowie die daraus erwachsenden Konsequenzen bereits Mitte der dreißiger Jahre festgehalten. Für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse seien die entsprechenden Maßnahmen bereits »bis ins einzelne vorbereitet«, hieß es etwa in einem Bericht der Sopade aus dem Jahr 1934. Zwar habe die »Absatz- und Marktregelung« für Lebensmittel wie Milch, Butter oder Eier »gewiss auch wichtige preispolitische 138 Vgl. Statistisches Landesamt der Stadt Berlin, S. 183. Mit der Eindämmung des Straßenhandels konnten die zuständigen Stellen zugleich die laut werdenden Beschwerden von Einzelhändlern beruhigen. Solche Beschwerden erreichten im März 1936 sogar die Staatskanzlei. In einem »dringenden Appell« machte beispielsweise ein Standinhaber der in der Neuen Friedrichstraße gelegenen Zentralmarkthalle I seinem Unmut Luft. Er habe »seit 1933 versucht, hier im Berliner Marktgebiet geordnete Zustände (…) zu schaffen«, ohne dass insbesondere eine »Änderung geschehen wäre, den Straßenhandel einzudämmen oder zu unterbinden«. LAB Pr. Br. Rep. 57 Nr. 511, Schreiben vom 30. März 1936 an Staatssekretär Lummers. 139 Kershaw, Hitler, Bd. 1, S. 724–28. 140 Vgl. ebd. Entsprechend sank etwa der Pro-Kopf-Verbrauch an Fleisch von 71,6 kg im Jahr 1934 auf 55,2 kg im Jahr 1936. Vgl. Statistisches Landesamt der Stadt Berlin, S. 206.
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Ziele«, zugleich stellten sie aber auch »das fertige Gerüst einer Zwangswirtschaft für den Kriegsfall dar«.141 Nur ein Jahr später bemerkten die Berichterstatter, dass der Stellvertreter des Führers »zwar noch Anfang Oktober [1935] (…) die Einführung einer Zwangsrationierung oder eines Markensystems in Abrede gestellt« habe, schon Ende November aber doch für »sämtliche Fette (…) ein indirektes Kartensystem in der Form der Kundenlisten bei den Einzelhändlern und Fleischern eingeführt« worden war. Dieses Verfahren, vermuteten die Autoren, sei gewählt worden, »weil man die Wiedereinführung der noch aus der Kriegszeit verhassten Lebensmittelkarten vermeiden« wollte.142 Als Folge der damit gegebenen Einschränkungen hatte sich bereits im Juni 1938 in Berlin ein Schwarzmarkt für kontingentierte Lebensmittel gebildet. Vor allem die in der Stadt angebotenen Eier verdächtigte der Sopade-Bericht, Waren auf einem sich langsam ausbreitenden illegalen Tauschmarkt zu sein.143 Einen Markstein der Wirtschaftspolitik bildete die Einführung des Vierjahresplans von 1936. Die Kriegsvorbereitungen des Regimes verschärften die Lage auf den Konsumgütermärkten. Das hatte im Alltag Konsequenzen, die bis hinunter zu den Beziehungen zwischen Händlern und Konsumenten reichten. Denn jetzt konnte es darauf ankommen, Kontakte zu pflegen, um bevorzugt behandelt zu werden. Umgekehrt konnte jeder Kauf Informationen über – vielleicht nicht konforme – Konsumgewohnheiten liefern. Händler waren damit zu potenziellen Agenten jener um sich greifenden Überwachungskultur geworden, die nach »Abweichlern« aus der »Volksgemeinschaft« Ausschau hielt. In der Folge verschoben sich die Machtverhältnisse eindeutig zu Ungunsten des Konsumenten, entstand ein Verkäufermarkt. Die neuen Marktbedingungen waren das Produkt einer Wirtschaftspolitik, die vor allem auf die Aufrüstung setzte und den Konsumenten deshalb als einen Risikofaktor betrachtete.144 Damit war zusammen mit den die Rationierungen absichernden Verordnungen jener sich allmählich ausweitende legale Konsumraum umschrieben, den in der Kriegszeit immer mehr Berlinerinnen und Berliner zu umgehen suchen sollten. Der entstehende Berliner Schwarzmarkt bildete eine Ausweichbewegung, wie sie Märkte mit reguliertem (Konsum-) Angebot kennen. Er war der Sonderfall einer Angebot-Nachfrage-Relation unter Prohibitionsbedingungen.145 Ökonomische Theorien erklären die Bildung von Schwarzmärkten in diesem Sinne als eine Reaktion auf (staatliche) Marktregulierungsvorgaben. Als Folge dieser Restriktionen verringert sich die Angebotsfunktion. Es kommt zu ei141 SOPADE, 1934, S. 179f. 142 SOPADE, 1936, S. 1405f. 143 SOPADE, 1938, S. 637f. 144 Spiekermann, Neighbour, S. 158. 145 Sonderfall deshalb, weil die Rationierungen nicht auf ein generelles Verbot des Handels mit bestimmten Waren abzielten, sondern lediglich eine reduzierte und kontrollierte Abgabe organisieren sollten, mithin eine »supply-reduction policy« bedeuteten. Vgl. Thornton, S. 71ff.
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nem Nachfrageüberschuss, der wiederum die Bildung von Schwarzmarktpreisen bewirkt. Sofern die »staatlichen Instanzen keine weiteren Maßnahmen« ergreifen, fließt die relativ geringe Gütermenge zunächst denen zu, welche die Verkaufsstellen als erste erreichen (Windhundverfahren), oder denjenigen, die über einen privilegierten Zugang zu nachgefragten Waren oder entsprechende Beziehungen verfügen. Schließlich kann es zur Bildung von Schwarzmärkten kommen, »wenn entweder in den Verteilerstellen die Einhaltung des Höchstpreises nicht gewährleistet werden kann oder wenn die Güter nach Verteilung an anderen Orten gehandelt werden«.146
Grafik 1: Verschiebungen der Angebot-Nachfrage-Relation bei reguliertem Angebot (Quelle: Mark Thornton, The Economics of Prohibition, Salt Lake City 1991, S. 74)
Grafik 1 gibt eine schematische Darstellung der mit einer (radikalisierten) Konsumregulierung veränderten Bedingungen auf dem neuen Markt. Regulierung hieß: Verringerung der angebotenen Menge an nachgefragten Gütern, was wiederum mit einer erhöhten Nachfrage nach den knapper gewordenen Produkten und im Ergebnis gestiegenen Preisen auf dem Schwarzmarkt als »alternativer Infrastruktur« korrelierte. Die Versorgungslage sollte sich mit zunehmender Kriegsdauer weiter verschlechtern. Das führte dazu, dass immer mehr Waren der Bewirtschaftung unterworfen und die Höhe der Rationen stets aufs Neue der Verknappung angepasst werden mussten. Bereits vor Kriegsbeginn war mit der Verordnung 146 Vgl. Henrichsmeyer, S. 202f.
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vom 27. August 1939 eine Bezugsscheinpflicht für alle Reichsbewohner eingeführt worden, von der zunächst Brot, Mehl und Eier ausgenommen blieben. Im Verlauf des Jahres 1940 sank der Anteil der frei verfügbaren Nahrungsmittel allerdings auf nur noch 20% am Gesamtauf kommen.147 Die Ausgabe der Waren erfolgte bei den Verteilungsstellen, die in bestehenden Läden eingerichtet worden waren. Während erste Engpässe noch kompensiert werden konnten, mussten die Fleisch- und Fleischwarenrationen für Normalverbraucher im Sommer 1941 um wöchentlich 25% auf 400 g herabgesetzt werden. Den »bisher tiefgreifendsten Einschnitt in die Lebensgrundlagen des deutschen Volkes« brachte die Verordnung vom 24. Februar 1942 mit sich: Die Brot-, Fleischund Fettrationen wurden drastisch gekürzt.148 Das war ein Wendepunkt. Die folgenden Erhöhungen der Rationen waren nur von kurzer Dauer und dienten propagandistischen Absichten. Die Stabilisierung des Jahres 1943 währte nicht lange und blieb zudem auf niedrigem Niveau. Für die weitere Entwicklung waren die Kriegsereignisse ausschlaggebend.149 Es kam zu einem Rückgang in der Produktion und massiven Problemen bei der Distribution. Der Winter 1943/44 bildete einen weiteren Tiefpunkt. Im letzten Kriegsjahr schließlich »verschlechterte sich die Ernährungssituation in einem erschreckenden Ausmaß«. Nach Corni und Gies sank der durchschnittliche Nährwert für Normalverbraucher im Verlauf des Krieges um etwa 40%, wobei die Lage gerade in den Städten äußerst dramatisch war.150 Die ausgegebenen Lebensmittelkarten verknüpften zudem zwei Ebenen: Waren und Zeit. Denn im Gegensatz zum Tauschmittel Geld, das idealerweise für einen unabsehbaren Zeitraum Konvertierbarkeit garantierte, etablierte das Kartensystem lediglich Räume einer begrenzten und vom weiteren Kriegsverlauf abhängigen Sicherheit der Gegenwerte. Die operativ wirksame Fiktion, die durch kollektives Vertrauen in Währungen deren Stabilität zugleich voraussetzt wie fortschreibt, konnte durch die Ersatzwährungen des Zuteilungssystems niemals im gleichen Maße erreicht werden. Es bedurfte im Gegenteil immer neuer Beteuerungen der staatlichen Stellen, dass die Versorgungslage und damit das System der Versorgung nicht gefährdet seien. Diese Beteuerungen illustrierten eindrücklich die Besorgnis der zuständigen Stellen. Auf einer Sitzung im Frühjahr 1944 ließ sich der Magistrat von Stadtrat Dr. Petzke über die allgemeine Lage und die bevorstehenden Kürzungen informieren.151 Dieser erläuterte Rationskürzungen, Frostzeiten und Probleme bei der Kohleversorgung, erwähnte aber gleichfalls, dass es ihm gelungen sei »beim Ernährungs147 148 149 150 151
Corni u. Gies, S. 558. Ebd., S. 562. Dülffer, Geschichte, S. 139f. Corni u. Gies, S. 581. A Rep. 001–02 Nr. 1552, S. 118ff.
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ministerium eine Verteilung von 250 g Heringen pro Kopf der Bevölkerung für die nächste Zeit in Berlin durchzusetzen«. Nicht ohne Stolz setzte er hinzu: »Die Heringe rollen bereits«. Das Protokoll vermerkte »Heiterkeit«. Doch wie prekär die Lage war und wie sehr nicht nur die Verbraucher, sondern auch die Planer mit knappen Zukunftshorizonten kalkulierten, zeigt die unmittelbar anschließende Bemerkung Petzkes: »Das wird in den nächsten vier Wochen die Versorgung der Bevölkerung erleichtern«.152 Dass nicht nur den Eliten im Ministerium die insgesamt angespannte Situation Probleme bereitete, zeigte Petzkes im Zusammenhang mit der Kohleversorgung geäußerte Besorgnis: »Das war damals [im Kohlenwirtschaftsjahr 1940/41], wenn sie sich entsinnen, außerordentlich prekär, denn wir mussten zum 31. März, obgleich die Ansprüche nicht erfüllt waren, die Kohlenkarte für ungültig erklären. (…) Es war dies eine Maßnahme, die wir nur sehr ungern vorgenommen haben, weil das Vertrauen der Bevölkerung durch derartige Maßnahmen natürlich stark erschüttert wird«.153 Die Wendung »Vertrauen der Bevölkerung« kann als Schlüsselbegriff gelten. Dabei war es mit dem Vertrauen der Obrigkeit in die Empfänger der Rationen nicht weit her. Denn bereits lange bevor Schwarzhändler wie Martha Rebbien verhaftet wurden, hatten die Planer im Justizministerium Fälle wie ihren antizipiert und, indem sie eine Verschiebung der Grenze zwischen Legalem und Illegalem vornahmen, einen neuen Marktraum definiert, der zugleich mit den erlaubten Praktiken ex negativo einen Rahmen für den entstehenden Schwarzmarkt absteckte. Was – hatte die Frage der Verantwortlichen gelautet – würde passieren, wenn bei einer längeren Dauer des Krieges und eventuell auftretenden Versorgungseinschränkungen die Deutschen an der »Heimatfront« versuchten, ihr Auskommen in großer Zahl am bestehenden Rationierungssystem vorbei zu verbessern? Konnte das nicht zu massiven Problemen bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung führen und das Vertrauen in die (Versorgungs-) Kompetenz des Staates unterminieren? Was, wenn die »Heimatfront« nicht mehr primär ihrem Auftrag nachkam, die für den Sieg unabdingbare Produktion von (Rüstungs-) Gütern zu gewährleisten, sondern den Sieg gefährdete, indem sie instabil und damit zum Risiko wurde? Die handelnden Akteure, die diese Fragen stellten, konnten mit einer gewissen Berechtigung auf Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg verweisen, als eine wachsende Zahl von Frauen und Männern an der »Heimatfront« illegale Tauschpraktiken in ihren Alltag integriert hatte.154 Allerdings war diese Sorge auch Ausdruck einer besonderen Fixierung der nationalsozialistischen Führung, war zu einem guten Teil die fixe Idee einer Gruppe von Männern, die ihren ganz eigenen Deutungsmustern der Niederlage im Ersten Weltkrieg 152 Alle Zitate ebd., S. 128. 153 Ebd., S. 134f. 154 Davis; Roerkohl.
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nachhingen. Beides zusammen, Erfahrung und Erfahrungsinterpretation, bildete den Fixpunkt der Lagebeurteilung zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Auch auf diese Weise wirkte damit die Zeit des Ersten Weltkriegs noch nach, als Martha Rebbien und viele andere Berlinerinnen und Berliner anfingen, ihre Tauschbeziehungen aufzubauen. Die Verordnungen, die den befürchteten Auflösungserscheinungen entgegen wirken sollten, schufen allerdings vor allem Verwirrung. Als der Hamburger Oberregierungsrat Herbert Klüber im März 1948 die mittlerweile dritte Auflage seiner Übersicht über die »Gesetzlichen Grundlagen zur Schwarzmarkt-Bekämpfung« vorlegte, hatte sich die vorher schon verwirrende Gesetzeslage noch einmal verkompliziert.155 Zum Leidwesen des Verfassers konnte auch über ein Jahrzehnt nach Inkrafttreten der ersten Verordnungen die Bekämpfung des illegalen Handels »nicht auf Grund eines einheitlichen Gesetzes« erfolgen, »sondern nur an Hand außerordentlich zahlreicher Bestimmungen«.156 Neben den für das Vorgehen gegen Schwarzhändler grundlegenden Verordnungen zur Kriegswirtschaft, zur Verbrauchsregelung und zum Preisstrafrecht umfasste Klübers Aufstellung noch zwölf weitere. Die Liste der Verordnungen, die sich mindestens mittelbar auf Schwarzhandelsvergehen bezogen, enthielt solche zum Verbot von Preiserhöhungen (1936), zu »Kopplungsverbot und Kettenhandel« (1937), zu Fragen der Preisauszeichnung (1944) und über Höchstpreise für gebrauchte Waren (1942). Hinzu kamen ferner eine ältere Verordnung über Auskunftspflicht (1923) sowie insgesamt sieben von der alliierten Militärregierung erlassene Bestimmungen; unter ihnen das Kontrollratsgesetz Nr. 50 vom 18. Dezember 1947.157 Die wichtigste Verordnung, die den Rahmen für alle weiteren Interpretationen dessen, was als »Schwarzhandel« zu verstehen sei, absteckte, war die so genannte Kriegswirtschaftsverordnung (KWVO).158 Diese hielt fest, dass derjenige mit Gefängnis, Zuchthaus oder – in besonders schweren Fällen – mit dem Tode zu bestrafen sei, der »Rohstoffe oder Erzeugnisse, die zum lebenswichtigen Bedarf der Bevölkerung gehören, vernichtet, beiseite schafft oder zurückhält und dadurch böswillig die Deckung dieses Bedarfs gefährdet« (§ 1 Absatz 1). Gleiches galt – so der folgende Absatz – für Bescheinigungen über eine Bezugsberechtigung sowie das Herstellen und Verwenden solcher Dokumente. Bereicherungsabsichten wurden zudem mit Geldstrafen geahndet (§ 1 Absatz 3). Begriffe wie »Beiseiteschaffen« oder »lebenswichtiger Bedarf« blieben auslegbar. War bereits »in dem Verlagern des Lagerortes einer Sache ein Beiseiteschaffen« im Sinne der KWVO zu sehen, wie es in einem Urteil aus dem Jahr 155 Klüber 156 Ebd., S. 5. 157 Ebd. 158 Vgl. für das Folgende die Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. September 1939 in der letzten gültigen Fassung vom 25. März 1942. RGBL. I, S. 147.
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1940 hieß? Fielen »ausgesprochene Luxusartikel und Artikel, die zur Schönheitspflege bestimmt sind«, unter den »lebenswichtigen Bedarf«?159 Solche Fragen beantworteten die Richter, weil die Verordnungen reichlich Spielraum ließen, zum Teil recht unterschiedlich. In einem Beitrag für die »Deutsche Justiz« erläuterte der Berliner Staatsanwalt Karl-Heinz Nuse im Frühjahr 1940 den Sinn der Kriegswirtschaftsverordnung, die »in erster Linie einen bestimmten Tätertyp, nämlich den des ›Kriegsschiebers‹, treffen« sollte. Damit sei sicher gestellt, dass eine Situation wie im Ersten Weltkrieg nicht wieder eintreten könne: »Während im Weltkriege zumindest in den ersten Jahren Kriegsgewinnler und Kriegsschieber ungestört ihr volksschädliches Verhalten treiben durften und so wesentlich mit zum Zusammenbruch der inneren Front beitrugen, wird in diesem Krieg von vornherein jede derartige Möglichkeit ausgeschlossen«, hieß es in Nuses Artikel. Die Verordnung sei den Richtern und Staatsanwälten als »scharfes Kampfmittel gegen die Parasiten des Krieges in die Hand gegeben worden«. Diese dürften daher, »wenn sich der Täter als besondere asoziale Persönlichkeit« erweise, auch »nicht vor der Todesstrafe zurückschrecken«. Zur Frage nach der Bedeutung des Passus »lebenswichtiger Bedarf« führte Nuse aus: »Die Bestimmung des § 1 soll den ordnungsmäßigen Umlauf der Wirtschaft, insbesondere die Versorgung der Bevölkerung mit allen zum lebenswichtigen Bedarf gehörenden Erzeugnissen sichern. Der Begriff der Dinge, die zum ›lebenswichtigen Bedarf der Bevölkerung‹ gehören, ist weit auszulegen. So fallen nicht nur die lebensnotwendigen Artikel darunter, sondern auch Genussmittel wie Kaffee, Tabakwaren und alkoholische Getränke. Überhaupt wird es nur wenige Gegenstände geben, die nicht unter § 1 zu rechnen sind«. Die Sprache des NS-Rechts führte alle als Schwarzhandel zu fassenden Delikte als Vergehen gegen die oben genannten Verordnungen und subsumierte sie generell – auch ausweislich der auf den Akten geführten Deliktgruppen – unter dem Begriff des »Kriegswirtschaftsverbrechens«. Erst in den einzelnen Vernehmungsprotokollen, aber auch den Urteilsbegründungen tauchen Begriffe wie »Schwarzhandel«, »Schleichhandel« oder »Schieber« auf. Zwar war die generelle Haltung gegenüber dem »Schiebertum« durch Äußerungen Hitlers kurz auf den Punkt gebracht. Des Öfteren hatte er geäußert, dass »man den Berufsschieber barbarisch bestrafen«, andererseits aber nicht »Züge und Omnibusse anhalten« solle, »um die Fahrgäste auf eventuell gehamsterte drei Eier zu durchsuchen«.160 Wie dieses »Programm« aber in der Praxis durchgeführt werden konnte, blieb das Problem einer ganzen Heerschar von Ministeriumsmitarbeitern und der staatlichen Stellen am Ort. Die Formulierung der Verordnungen und die weiteren Debatten um ihre detaillierte Ausgestaltung 159 LAB A Rep. 358–02 89673, Bl. 45f. 160 Picker, S. 541.
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sowie Fragen der adäquaten Anwendung nahmen eine breiten Raum in den Diskussionen der nationalsozialistischen Planer ein, die um die Aufrechterhaltung einer kontrollierbaren öffentlichen Ordnung und einer stabilen »Heimatfront« kreisten. Den wichtigsten Stichwortgeber für die weitere Ausgestaltung reichsweiter wie lokaler Politik in diesem Bereich bildete das Reichsjustizministerium. Die strikte Zentralisierung der NS-Justiz vor allem im Bereich der so genannten Sondergerichtsbarkeit führte dazu, dass die in Berlin getroffenen Entscheidungen das Bild der NS-Schwarzhandelspolitik entscheidend prägen konnten. Den Sondergerichten oblag mit der Ahndung der in Kraft gesetzten Verordnungen ein wesentlicher Teil der Umsetzung dieser Politik. Auch wenn lokale Unterschiede in der Verurteilungspraxis erkennbar sind, muss man davon ausgehen, dass die generelle Linie der Bekämpfungspolitik auf staatlicher Ebene vorgegeben und auch – entsprechend der Bedeutung, die ihr zukam – permanent kontrolliert wurde.161 Ein Großteil der genannten Debatten spielte sich auf Tagungen, bei Lagebesprechungen der Vorsitzenden der Sondergerichte im Justiz-Ministerium oder in den einschlägigen Journalen der NS-Rechtsexperten ab. Das Hauptorgan der Juristen, die »Deutsche Justiz«, räumte Fragen »Aus der Praxis der Sondergerichte« einen breiten Raum ein. Hier spielten etwa die »neuen Strafvorschriften auf dem Gebiet des Preisrechts« eine wichtige Rolle, was auch auf den erheblichen Diskussionsbedarf bei der Umsetzung der nicht immer eindeutigen Paragrafen und Begriffe verwies. In der »Deutschen Justiz« wurden auch die Richtung weisenden Referate von Justizminister Gürtner oder seinem Staatssekretär Freisler unter der Rubrik »Was den Rechtswahrer interessiert« abgedruckt. Grundsätzliche rechtspolitische Positionen wurden ebenso erörtert wie Detailprobleme, etwa bei der Strafzumessung, bei der Definition von »großen« oder »kleineren Warenmengen«, bei der Frage schließlich, was als »Eigenverbrauch« zu verstehen sei und wo die Grenze zum »gewerblichen Handel« überschritten würde. In den Worten von Freisler ging es in Kriegszeiten vor allem darum, »jede Zersetzungserscheinung, kaum dass sie erkennbar wird, zu beseitigen« und »jeden Spaltpilz (…) mit Stumpf und Stiel auszurotten«.162 Bei einer Tagung im Reichsjustizministerium unterstrich er, dass unter den Bedingungen des Krieges auch Fragen der Strafzumessung neu beantwortet werden müssten. Das gelte insbesondere für die »Zurückhaltung lebenswichtiger bewirtschafteter Waren«, die einem »Dolchstoß in den Rücken des Volkes« gleichkomme.163 Mit Blick auf die Lage an der »Heimatfront« führte Justizminister Gürtner bei der gleichen Gelegenheit aus, dass »im Kriege (…) auch in der Heimat das 161 Zierenberg, Herrschaftsfragen. 162 Deutsche Justiz, 1939, S. 1753. 163 Ebd., S. 1754.
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persönliche Schicksal rücksichtslos der Idee der Verteidigung des eigenen Volkes untergeordnet werden« müsste.164 Der Berliner Magistratsrat Brombach ergänzte: »In dem gegenwärtigen uns aufgezwungenen Krieg ist die Sicherstellung des lebenswichtigen Bedarfs des deutschen Volkes eine der wichtigsten Aufgaben der Regierung. Um eine gerechte und gleichmäßige Verteilung der Verbrauchsgüter zu gewährleisten, erging daher bereits am 27. August 1939 die ›Verordnung zur vorläufigen Sicherstellung des lebenswichtigen Bedarfs des deutschen Volkes (RGBl. I S. 1498)‹. Diese Verordnung führte die Bezugsscheinpflicht (…) für eine große Anzahl von Verbrauchsgütern ein und enthielt auch Strafvorschriften über die Abgabe von bezugsscheinpflichtigen Verbrauchsgütern ohne gültigen Bezugsschein, über die Erschleichung von Bezugsscheinen und ähnliche Verstöße«.165 Dabei konnten die Richter der Sondergerichte auch »Kriegswirtschaftsverbrecher« als »Volksschädlinge« identifizieren und damit ein in der Regel höheres Strafmaß für Schwarzhändlerinnen und -händler erreichen. Wie ein Kommentar unter der Rubrik »Entscheidungen deutscher Gerichte« in der »Deutschen Justiz« 1940 klarstellte: »Es trifft nicht zu, dass Zuwiderhandlungen gegen kriegswirtschaftliche Vorschriften begrifflich nicht den Tatbestand des § 4 VolksschädlingsVO. erfüllen können«. Allerdings müssten für diesen Fall »besondere in dem Kriegszustand begründete Umstände vorliegen, die in den Tatbestandsmerkmalen der Kriegsstraftat an sich noch keine Berücksichtigung gefunden« hätten.166 Solche strengen und relativ konkreten Vorgaben steckten in der Folgezeit den Raum ab, innerhalb dessen legale Konsumpraktiken überhaupt noch möglich sein sollten. Umgekehrt galt: Wer die genannten Verordnungen missachtete, musste mit schweren Strafen rechnen. Das war das Ergebnis einer Politik prophylaktischer Herrschaftssicherung, die den illegalen Handel für die Kriegszeit – mit guten Gründen – in Rechnung stellte, ihn damit gleichzeitig aber auch definierte. Aus diesem Dilemma gab es aus staatlicher Sicht kein entkommen. Intelligentere Lösungsansätze, wie etwa der Versuch einer kontrollierten Legalisierung des Tauschs in überwachten Räumen, wurden gar nicht erst diskutiert. Das lag in der Logik einer binären, in der Zwischenkriegszeit virulenten Freund-Feind-Wahrnehmung, die das Bild des vermeintlichen »Burgfriedens« schnell in identifizierbare Schuldbestandteile aufgelöst hatte. Die Mechanismen von Einschluss (aller in die »Volksgemeinschaft«) durch Ausschluss (definierter Randgruppen) griffen auch hier. Das sollte zu einer Belastung werden. Denn sehr schnell wurde klar, dass Verordnungen und Strafen den massenhaften illegalen Tausch nicht eindämmen konnten. 164 Ebd. 165 Deutsche Justiz, 1940, S. 256. 166 Ebd., S. 1271.
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Teil II Netzwerke der Kriegszeit. Der »Fall Martha Rebbien«
Während des Krieges fanden die Transaktionen des Berliner Schwarzhandels überwiegend in Tauschnetzwerken statt. Anders als bei den versammlungsöffentlichen Schwarzmarktplätzen der späten Kriegs- und der Nachkriegszeit konnten die Teilnehmer nicht einfach einen bestehenden Markt aufsuchen und ihre Tauschpartner aus den anwesenden Personen auswählen, sondern mussten Kontakte herstellen und Verabredungen zum Tausch treffen. Dieser besonders klandestine Teil der (Berliner) Tauschkultur zwischen 1939 und 1950 ist bislang von der Forschung weitgehend übersehen worden.1 Dabei bildet er mehr als eine vernachlässigenswerte Auftaktphase der Schwarzmarktzeit. Er ist vielmehr der Ort vielfältiger Verschiebungen auf praktischer wie diskursiver Ebene, die einen wichtigen Teil jener Geschichte der urbanen Tauschkultur zwischen dem Kriegsbeginn und den neuen Wirtschaftsgesellschaften in Ost und West ausmachen. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen hier die Praktiken einer Frau, steht die Geschichte von Martha Rebbien und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eines Schwarzhandelsnetzwerkes rund um den S-Bahnhof Gesundbrunnen im Berliner Norden. An diesem Beispiel lassen sich wichtige Wandlungsprozesse ablesen, die das Leben der Millionenmetropole Berlin unter den Bedingungen der Tauschkultur prägten. Dazu gehören neue alltägliche Konsumgewohnheiten und -praktiken. Der erste Teil des Kapitels fragt deshalb danach, wie Tauschnetzwerke entstanden, nach Professionalisierungsgraden der Handelspraxis, den Sozialprofilen der Teilnehmer und den Veränderungen, die der Tausch für die sozialen Beziehungen in der Stadt bedeutete. Der zweite Teil geht jenen Veränderungen in der urbanen Raumnutzung und -bewertung nach, die eine spezifische Form von gemeinschaftlichem city making, eine praktische und moralische Aushandlung der Stadträume und ihrer Bewohner formulierten, und fragt nach den Kontinuitätslinien dieses Prozesses. Der dritte Teil widmet sich einer Besonderheit der Schwarzhandelspraxis, nämlich dem Umgang der Händlerinnen und Händler mit Waren und Währungen. Gefragt wird – auch hier – nach Professionalisierungsschritten, nach der »Markierung« von Geld und der Bedeutung, die unterschiedlichen Tausch-Äquivalenten zu1 Vgl. den kurzen Einstieg bei Boelcke und Gries, Rationengesellschaft, sowie – allerdings auf Korruptionsfälle konzentriert – Bajohr, Parvenüs.
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gemessen wurde. Das die Tauschkultur nicht allein auf die im engeren Sinne praktische Dimension des Gütertauschs beschränkt blieb, ist am augenscheinlichsten an der Bewertung ihrer Protagonisten abzulesen. Den Schieberdiskurs der Kriegszeit und damit den Kern jener andauernden Auseinandersetzungen über moralisch richtiges Wirtschaften analysiert der vierte Abschnitt. Welche Gruppen traf der Schiebervorwurf der empörten »Volksgemeinschaft« in erster Linie? Prinzipiell konnte er zwar jeden treffen. Doch steht zu vermuten, dass einige Randgruppen besonders in den Fokus rückten, wenn es darum ging, die »volksschädliche« Praxis Täterkreisen zuzuordnen. Bei Martha Rebbien und ihren Tauschpartnern lag der Fall nicht ganz so eindeutig.
1 Die Teilnehmer und ihre Praktiken Die Analyse der Geschichte von Martha Rebbien und ihren Tauschpartnern ist eine Fallstudie, an der sich typische Merkmale des Berliner Tauschhandels der Kriegszeit aufzeigen lassen. Inwieweit Rebbiens Geschichte als repräsentativ gelten kann, lässt sich nur ermitteln, wenn man vergleichend vorgeht. Die Untersuchung basiert auf der Auswertung von insgesamt 183 Einzelfällen. Dieses Sample wurde aus vom Landesarchiv Berlin zur Verfügung gestellten Verfahrenslisten der Staatsanwaltschaft beim Sondergericht Berlin gebildet. Um Verzerrungen zu vermeiden, die zum Beispiel entstehen können, wenn man von einem Fall ausgehend lediglich Querverweisen auf andere Fälle nachgeht, wurde jede zehnte Akte aus den Listen zur Auswertung herangezogen. In einzelnen Fällen ließen sich Ergebnisse durch Querverweise verfeinern oder verifizieren. Der Fall von Martha Rebbien bietet sich als Exemplum an, weil hier eine vierjährige Tauschgeschichte durch die ermittelnden Beamten relativ dicht rekonstruiert werden konnte. Zudem sind die Ermittlungsunterlagen vollständig und unbeschadet geblieben. Die 55jährige arbeitslose Kellnerin Martha Rebbien hatte zum Zeitpunkt ihrer Festnahme am 9. November 1944 mindestens vier Jahre lang das Leben einer Schwarzhändlerin in der Reichshauptstadt geführt.2 In der Anklageschrift konzentrierte sich die Staatsanwaltschaft auf die leichter nachzuweisenden Vorgänge der Jahre 1943 und 1944. Die akribischen Recherchen der Ermittler zeichnen das Bild einer regen Geschäftstätigkeit. Durch die pejorativ eingefärbten Berichte, Vernehmungsprotokolle und Vermerke hindurch werden charakteristische Details des Berliner Schwarzhandels erkennbar. Auf über 200 Seiten dokumentieren die Unterlagen von Polizei und Staatsanwaltschaft, aber 2 Vgl. für die folgende Analyse LAB A Rep. 358-02 89667.
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auch Aufzeichnungen der beteiligten Schwarzhändler selber die Geschichte von Martha Rebbiens Tauschnetzwerk. Die Ermittler waren vor allem an den beteiligten Akteuren und den umgeschlagenen Warenmengen interessiert. Wer wann wen auf welche Art und Weise kennen gelernt, Geschäfte angebahnt und abgewickelt hatte und welche Preise oder Tauschäquivalente »gezahlt« worden waren, kam dabei aber ebenso zu Sprache wie Angaben über die Lebensumstände und Motive der Tauschpartner. Am Ende hatte die Berliner Polizei Hinweise auf über 60 Personen erhalten, Dutzende Befragungen durchgeführt und Waren im Gesamtwert von mehreren Hundert Reichsmark beschlagnahmt. Um an die strafrechtlich relevanten Informationen zu gelangen, waren die Beamten gezwungen, wesentliche Teile des Tauschalltags von Martha Rebbien zu rekonstruieren. Dem Schneeball-Prinzip folgend führten sie einzelne Spuren vom Zentrum zu den Rändern des Netzwerkes. Dabei endeten sie mehr als einmal auch in Sackgassen, verliefen Ermittlungen wegen besonderer Umstände (vor allem der hohen Fluktuation in der Stadt) im Sande. Andererseits ergaben sich auch Verknüpfungen zu anderen Netzwerken. Prinzipiell konnte jeder Teilnehmer des Rebbien-Netzwerkes also wiederum Teil eines weiteren Netzes sein. Unter der Oberfläche des legalen Alltags in der Kriegsstadt Berlin existierte eine große Zahl von Tauschnetzwerken unterschiedlicher Größe, die zum überwiegenden Teil nicht isoliert voneinander existierten sondern Geflechte bildeten. Die befragten Personen gaben nicht nur Namen preis, sondern äußerten sich, wenn auch meistens nur en passant, ebenso zur Art und Weise von Kontaktherstellung, -aufrechterhaltung, und -pflege und den Abbruch von Geschäftsbeziehungen. Strategien des Kennenlernens, geeignete Orte und Partner wurden genauso deutlich wie der Umgang mit dem Vertrauensproblem und die einzelnen Tauschvorgänge. Preisabsprachen, Vermittlungen, Erfolge und Misserfolge gehörten zum Tauschalltag einer Schwarzhändlerin, wie der Fall Rebbien verdeutlicht. Zugleich vermitteln die Ermittlungsergebnisse der Polizei einen Eindruck von dem Stellenwert, den das Tauschen als alltägliche Praxis für etliche Berliner hatte. Mögliche Lieferanten und Abnehmern im Auge zu behalten, der Warenumschlag – kurz: alle Strategien und Techniken des illegalen Gewerbes fanden Erwähnung. Martha Rebbien stand als Mittelpunkt ihres Tauschnetzwerkes nachweislich mit mindestens 20 Personen in direktem und mit mindestens weiteren 20 in indirektem Kontakt (vgl. Grafik 2). Dabei ist es wahrscheinlich, dass durch die Arbeit der Polizei lediglich ein Ausschnitt ihrer Geschäftsbeziehungen aufgedeckt wurde. Die Staatsanwaltschaft ging in ihrer Anklageschrift davon aus, dass die »Angeschuldigten (…) untereinander und mit anderen Personen in erheblichem Umfang Schleichhandel getrieben« hätten, »von dem sich offensichtlich nur ein Teil feststellen« ließ.3 3 Ebd., Anklageschrift vom 31. März 1945 (unpaginiert).
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Grafik 2: Gesundbrunnen-Netzwerk von Martha Rebbien Die Abbildung umfasst alle im diachronen Verlauf ermittelbaren Kontakte. N bezeichnet die Anzahl der Teilnehmer, L die Zahl der Verbindungen und D die Dichte des Netzwerkes. Dabei ist D = L / (N2 – N)4
Die Beobachtung von »einschlägigen« Lokalen, Hinweisen aus der Bevölkerung nachzugehen und die kriminalistische Detailarbeit zur Aufdeckung von komplexen Tauschnetzwerkbeziehungen bildeten einen wesentlichen Bestandteil nicht nur der Arbeit des Gewerbeaußendienstes, sondern auch der Kriminalpolizei und der Gestapo. Die misstrauische NS-Politik, die darauf abzielte, etwaigen Destabilisierungserscheinungen der »Heimatfront« mit einem umfassenden juristischen Verordnungs- und Strafenkatalog zu begegnen, wurde von der Berliner Polizei, der Staatsanwaltschaft und dem Berliner Sondergericht umgesetzt. Am 9. November 1944 traf es Martha Rebbien und einige ihrer Tauschpartner. Das Tauschgeschehen zwischen Martha Rebbien und ihren Partnern lässt sich anhand der Polizeiunterlagen bis zum November 1940 zurückverfolgen. Dem Erinnerungsvermögen bzw. der Auskunftsbereitschaft der Zeugen und der an handfesten Nachweisen interessierten Behörden-Perspektive geschuldet, wird das Bild, je weiter man zurück geht, etwas diffuser. Insgesamt finden sich Hinweise auf über 30 Begegnungen, die Tauschgeschäfte anbahnen, vorbereiten oder abschließen sollten. Allein elf von diesen fallen in die letzte Woche vor der Festnahme, in die Zeit zwischen dem 2. und 9. November 1944. 4 Vgl. zur Begrifflichkeit Jansen, S. 127–162 u. 193–236.
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Martha Rebbiens Geschäftstätigkeit durchlief mehrere Phasen. Diese Phasen ihrer Schwarzhandelspraxis bilden zum Teil äußere Umstände und Ereignisse ab: Dreimal musste sie während des Krieges umziehen. Zweimal waren Bombenschäden die Ursache. Der Kriegsverlauf an der Heimatfront, der die Reichshauptstadt zum Ziel von Angriffen britischer und amerikanischer Bomber machte, wirkte sich unmittelbar auf Rebbiens Alltag – und damit auch auf ihre illegalen Geschäfte – aus. Wie sich insbesondere an den am besten dokumentierten Geschäftskontakten der letzten Phase ablesen lässt, baute sie ihr Tauschnetzwerk auf dem engen Raum des jeweiligen Stadtteils oder »Kiezes« auf. Umzüge bedeuteten deshalb den Neuauf bau von Tauschbeziehungen. Die Räume für Kontaktanbahnungen, Begegnungen und Geschäftsabschlüsse der letzten Phase lagen – wie die Wohnungen und Arbeitsplätze der meisten Beteiligten – beinahe ausschließlich in der Nähe des Bahnhofs Gesundbrunnen und von Rebbiens Wohnung in der Swinemünder Straße. Im Verlauf der langwierigen Ermittlungen – Befragungen führten zu neuen Verdächtigen und Zeugen, Gegenüberstellungen sollten Klarheit in die widersprüchlichen Versionen des Geschehens bringen – kristallisierte sich nach und nach ein deutlicheres Bild heraus. Zwar legte Martha Rebbien gleich in ihrer ersten Vernehmung vom 18. November ein Geständnis ab.5 Zugleich bestand sie aber darauf, »lediglich Mittelsperson von anderen größeren Lieferanten« gewesen zu sein und »nur wenig an der Sache verdient« zu haben.6 Ziel der Ermittler war es im Folgenden, die einzelnen Beteiligungen, den Umfang der Geschäfte, kurz: das ganze Ausmaß des Kiez-Tauschnetzwerkes rund um den Gesundbrunnen festzustellen. Am 24. November erhielten die Ermittler einen Hinweis auf den frühesten feststellbaren Zeitpunkt von Martha Rebbiens Schwarzhändlerkarriere: Hanna Zabel, bei der Rebbien vom 4. November 1941 bis zum 1. April 1942 zur Untermiete gewohnt hatte, berichtete den Beamten von ihren Schwierigkeiten mit der Beschuldigten.7 In solchen zum Teil konfliktträchtigen Mietverhältnissen, in denen das Maß sozialer Kontrolle besonders hoch sein konnte, lebten in Berlin insgesamt ca. 4% aller Einwohner.8 In Rebbiens Fall hatten die Auseinandersetzungen mit ihrer Vermieterin augenscheinlich vor allem mit ihren illegalen Geschäften zu tun. Als Grund für die ablehnende Haltung und ihren letztlich erfolgreichen Versuch, Rebbien aus ihrer Wohnung zu bekommen, nannte Zabel Rebbiens »Verhalten und (…) Umgang«: »Sie erhielt sehr viel Besuch von Personen, die ich nicht kenne«, erklärte sie in ihrer Vernehmung und fuhr fort: »Ich hatte aber das Gefühl, dass die Personen einen nicht vertrauens5 6 7 8
LAB A Rep. 358-02 89667, Bl. 45ff. Ebd. Ebd., Bl. 86. Vgl. Statistisches Landesamt der Stadt Berlin, S. 83.
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erweckenden Eindruck machten. Was die Leute dort wollten, kann ich nicht sagen, da ich mich nicht darum gekümmert habe und sehr wenig zu Hause war«. Im Übrigen bestritt sie »entschieden«, »Lieferant von Kaffee, Fleischkonserven und Schokolade« gewesen zu sein, Waren, die sie angeblich von ihrem Mann, einem Gefangenenaufseher, erhalten haben sollte. Rebbien allerdings belastete ihre ehemalige Vermieterin und gab an, von ihr diverse Lebensmittel erhalten zu haben.9 Zabel bestätigte Rebbiens eigene Aussage, wonach diese bereits 1940 zur Schwarzhändlerin geworden war. Einen ersten Schritt In die Illegalität hatte Rebbien nachweislich schon gemacht, bevor die Berliner Schwarzmärkte der Kriegszeit etabliert waren. Im Jahr 1937 war sie wegen Unterschlagung zu einem Jahr Gefängnishaft verurteilt worden.10
1.1 Ein Netzwerk entsteht. Vertrauen und Kontakte Zu den wichtigen Grundlagen für das Funktionieren des Netzwerkes im Gesundbrunnen-Kiez wie für alle Schwarzhandelsgeschäfte gehörte das Vertrauen der Teilnehmer in die Verlässlichkeit ihres Tauschpartners. Am Beispiel des Rebbien-Netzwerkes lassen sich einige wichtige Strategien der Vertrauensbildung, -stabilisierung und -erhaltung studieren. Ein zentrales Problem aller Berliner Schwarzhändlerinnen und -händler stellte die Kontaktanbahnung mit potentiellen Tauschpartnern dar. Dabei die richtige Mischung aus Misstrauen oder Vorsicht auf der einen und notwendigem Vertrauen bzw. Zuversicht auf der anderen Seite zu finden, war für die Tauschpraxis von Rebbien und ihren Partnern entscheidend. Das zeigt nicht zuletzt das Ende des Gesundbrunnennetzwerks. Denn indem Rebbien sich auf Geschäfte mit einer gewissen Erna Kuschy einließ, eröffnete sie dieser Einblicke in ihre alltägliche Praxis, die schließlich zur Auflösung der Tauschbeziehungen durch Polizei und Staatsanwaltschaft führten, nachdem Kuschy ihre Informationen den Ermittlungsbehörden zur Verfügung gestellt hatte. Vertrauen und Misstrauen bildeten somit in mehrerlei Hinsicht entscheidende Faktoren der Tauschpraxis. Zunächst mussten die Partner darauf vertrauen können, dass der Andere das Gebot der Konspiration wahrte. Martha Rebbien etwa versuchte solches Vertrauen zu ermöglichen, indem sie potentielle Tauschpartner wissen ließ, dass sie diese im Falle einer Verhaftung nicht verraten würde.11 Unabhängig davon, ob ihre Partner sich darauf verlassen konnten, bildete diese Aussage den Versuch Vertrauen zu begründen. Die Bekämpfung des Schwarzhandels durch die ermittelnden Behörden knüpfte an dieses 9 LAB A Rep. 358-02 89667, Bl. 59. 10 Ebd., Bl. 46. 11 Ebd., Vernehmung Kuschy (unpaginiert).
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Problem der Berliner Schwarzmarktgesellschaft an, indem sie »Vertrauenspersonen« zu gewinnen versuchte, die ihrerseits um das Vertrauen ihrer Tauschpartner warben, um es dann – in einem Akt der Vertrauensenttäuschung – zu »missbrauchen«, indem sie ihr Wissen den Behörden »anvertrauten«. Eine absolute Sicherheit gab es für die Teilnehmer des Gesundbrunnennetzwerkes nicht. Aber man konnte auf unterschiedliche Weise versuchen, die Unsicherheit zu minimieren. Eine Strategie lag darin, auf Vertrauensleistungen zu setzen, die an Vertrautheit anknüpften.12 Mit jemandem ins Gespräch und ins Geschäft zu kommen, den eine Person aus dem unmittelbaren Umfeld schon kannte, hatte mehrere Vorteile. Erstens entfiel langwieriges Suchen. Das Ausnutzen bestehender Kontakte zur Herstellung weiterer vereinfachte den Suchvorgang und ersparte damit wertvolle Zeit. Zweitens konnten – je nach Vertrautheitsverhältnis und der Vertrauenswürdigkeit der ersten Kontaktperson – auch die weiteren Tauschkandidaten als von vorne herein vertrauenswürdiger betrachtet werden als irgendein völlig Fremder. Die Freundin einer Freundin war bereits auf ihre Vertrauenswürdigkeit hin überprüft worden. Das Risiko war damit geringer, eine erneute Überprüfung konnte dementsprechend verkürzt werden oder ganz entfallen. Drittens verband sich mit dem Einholen der »Personendaten« häufig schon ein Vorabgespräch, in dem die Tauschinteressierte ihre Mittelsperson darüber befragen konnte, ob die potentielle Tauschpartnerin überhaupt an bestimmten Waren interessiert war oder diese von ihr zu bekommen wären. Informationen über die Vertrauenswürdigkeit der Person verbanden sich mit dem Informationsaustausch über Warensortimente. Damit konnte wiederum Zeit gespart werden. Auch Martha Rebbien suchte eine ganze Reihe von Tauschpartnern auf diese Weise aus (vgl. Grafik 3). Solche multiplexen Beziehungen, bei denen die Tauschbeziehung auf der Grundlage anderer Beziehungskontexte (Kollegenverhältnis, Nachbarschaft oder Freundschaft) aufgebaut werden konnte, bildeten höchst wahrscheinlich den überwiegenden Anteil aller Tauschbeziehungen der Berliner Tauschkultur zwischen 1939 und 1945. Dem in Grafik 3 abgebildeten Tausch-Cluster lagen Multiplexitätsbeziehungen der Netzwerkteilnehmer zugrunde. Die Teilnehmer der Netzwerkgruppe kannten sich zum überwiegenden Teil als Kollegen. Mit Ausnahme von zwei Teilnehmern arbeiteten sie alle als Kellnerinnen und Kellner in einer der Kneipen des Gesundbrunnen-Kiezes. Die für Tauschbeziehungen nicht nur positive Folge der relativ hohen Netzwerkdichte (0,24),13 die auch ein höheres Maß an sozialer Kontrolle und damit die Möglichkeit von Konflikten (und Verrat)
12 Vgl. Luhmann, Vertrauen, S. 23f. 13 Vgl. Jansen, S. 65.
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bot, ermöglichte es den Teilnehmern andererseits, auf engem »Netzwerkraum« schnell Informationen und Waren umzuschlagen.
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Grafik 3: Netzwerk Martha Rebbien / Cluster 1
Doch Martha Rebbien ging noch einen Schritt weiter. Statt es beim Tausch unter Bekannten zu belassen, »expandierte« sie. Sie erweiterte ihre Tauschoptionen vor allem dadurch, dass sie Kontakt zu einem anderen Makler des illegalen Gewerbes aufnahm, Friedrich Wiggers. Auch Wiggers wurde allerdings eingeführt und war kein vollkommen Fremder. Beide hatten eine gemeinsame Bekannte. Wiggers und Rebbien lernten sich durch die Vermittlung von Ursula Förster kennen, die Wiggers an Rebbiens ehemaligem und Försters aktuellem Arbeitsplatz, der Bahnhofswirtschaft Gesundbrunnen, des Öfteren getroffen hatte und mit ihm »näher bekannt« geworden war.14 Nach Wiggers’ Angaben kam er im September 1944 mit Förster in Kontakt. Ursula Förster bestätigte diese Aussage und schilderte ihr erstes Treffen: »Wiggers habe ich vor ca. einem Monat in der Bahnhofswirtschaft Gesundbrunnen kennen gelernt. Er erzählte mir, dass er Reisender sei, und zwar Maggivertreter«. Insgesamt habe sie ihn fünf Mal und zwar zumeist in einem Café in der Danziger Straße getroffen. Bereits bei ihrem ersten Treffen sei ihr aufgefallen, »dass er sich sehr viel in der Bahnhofswirtschaft Gesundbrunnen auf hielt«. Auf die Frage, »warum er dies tue, gab er (…) keine rechte Antwort«.15 Schließlich habe sie ihn dann mit in Rebbiens Wohnung genommen, wo ihm eine »Martha« vorgestellt wurde. Angeblich um sich nach Förster zu erkundigen, besuchte Wiggers Rebbien darauf hin noch einmal. Bei dieser Gelegenheit sei es zum »Tauschhandel« gekommen. Das Thema »Tauschhandel« war Förster zufolge bereits vorher in der 14 Das Folgende nach LAB A Rep. 358-02 89667, Bl. 25ff. 15 Ebd., Bl. 32.
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Gegenwart von Wiggers zwischen ihr und Rebbien behandelt worden: »Wir unterhielten uns über allgemeine Sachen. Auch haben wir uns unterhalten über Waren, die jetzt im allgemeinen im Schleichhandel vertrieben werden. So kam auch das Gespräch auf Stadttaschen. Wiggers meinte, er hätte welche zum Verkauf zur Verfügung. Er meinte, dass er der Rebbien ca. 10 Stück abgeben könnte«.16 Martha Rebbien widersprach dieser Darstellung und meinte, dass bei ihrem Kennenlernen am 2. November von »Geschäften« zunächst keine Rede gewesen sei.17 Allerdings sei Wiggers »am gleichen Tage (…) einige Stunden später« zu ihr gekommen und habe gefragt, ob sie »Verwendung für Einholetaschen hätte«. Die Geschäftsbeziehung verstetigte sich. Damit hatte Martha Rebbien ihr Netzwerk erheblich erweitert. Denn über Wiggers erschloss sich ihr ein neuer Netzwerk-Cluster (Grafik 4).
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Grafik 4: Netzwerk Martha Rebbien / Cluster 2
Diese Erweiterung brachte zwei Geschäftsmodelle der illegalen Tauschpraxis zusammen. Denn Rebbien und Wiggers verfolgten unterschiedliche Strategien beim Auf bau ihrer Handelbeziehungen. Im Gegensatz zu Rebbiens Bekanntenkreis bildet der Wiggers-Cluster eine andere Technik der Netzwerkbildung und des Schwarzhandelklientelsauf baus ab. Wiggers handelte bei seiner Tausch16 Ebd. 17 Ebd., Bl. 57.
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praxis in erster Linie als Vertreter. Er sprach unbekannte Personen in Kneipen und Cafes an, um mit ihnen ins Geschäft zu kommen. Anders als Rebbien (im Cluster 1) setzte er sich damit nicht der Gefahr einer hohen sozialen Kontrolle aus. Das belegt die relativ geringe Dichte seines Netzwerkclusters. Wiggers nahm den höheren Preis bei der Kontaktanbahnung, mit allen ihren Implikationen wie etwa der Vertrauensprüfung, in Kauf, um andererseits der Kontrolle durch multiplexe Beziehungen zu entgehen. Diese Strategie kann als gezieltes Vorgehen bezeichnet werden. Denn Wiggers sicherte die Unverbindlichkeit seiner Beziehungen auch durch Anonymisierung und Geheimhaltung ab. Diese Technik ergänzte seine als »Vertreter im Nahrungsmittelgewerbe« gewonnen Fertigkeiten. Das Ansprechen und in ein Verkaufsgespräch Verwickeln war ihm schon lange vertraut. Jetzt passte er sein Tun dem Vorsichts- und Geheimhaltungsgebot des illegalen Handels an – fertig war eine ziemlich erfolgreiche Schwarzmarktstrategie.18 Damit lassen sich am Beispiel des Rebbien-Netzwerkes zwei unterschiedliche Techniken der Netzwerkbildung aufweisen: einerseits das Setzen auf einen höheren Multitplexitätsgrad der Schwarzhandelsbeziehungen. Diese Technik hatte mehrere Vorteile: Rebbien kannte einen Teil ihrer Partnerinnen und Partner bereits aus anderen Kontexten und konnte deshalb eine Vorauswahl treffen, um die Gefahr, entdeckt zu werden, zu minimieren. Sie sparte damit nicht zuletzt Zeit. Sie kannte die wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer Partner, deren Bonität, ihre Möglichkeiten, an nachgefragte Waren zu gelangen, ihre Vorlieben und charakterlichen Eigenschaften. Andererseits – und das Beispiel ihrer Beziehung zu Erna Kuschy zeigt dies – bildete die damit getroffene Auswahl an Tauschpartnern keine Garantie dafür, dass sich alle an die Regeln des illegalen Gewerbes und an erster Stelle an die Regel der Geheimhaltung halten würden. Wiggers wiederum setzte auf unverbindlichere Tauschbeziehungen. Er lernte seine Partner in teilöffentlichen Räumen kennen, gab wenig über sich preis und verringerte damit das Risiko, dass andere soziale Faktoren sein Geschäft stören konnten. Andererseits war ein solches Vorgehen aufwändiger. Er musste mehr Zeit und Energie in die Kontaktanbahnung und -pflege investieren. Während Rebbien den größten Teil ihrer Geschäfte in den eigenen vier Wänden abwickelte, brachte es Wiggers’ Tauschpraxis mit sich, dass er als »anonymer« Vertreter von Haus zu Haus unterwegs war und fremde Personen ansprach. Solche Begegnungen mit Fremden waren problematisch. Vor allem dann, wenn man keine Übung darin hatte. Ein Beispiel dafür, dass dabei Misstrauensvorbehalte durch Überprüfungsstufen überwunden werden mussten, bevor Schwarzhändler miteinander ins Geschäft kommen konnten, bietet der Fall des kroatischen Arbeiters Stevo Calic. Calic war im Februar 1942 zum »Arbeits18 Zu Wiggers’ Berufsleben vgl. ebd., Bl. 24ff.
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einsatz« bei der AEG nach Berlin gekommen, bald »ohne Genehmigung der Arbeit ferngeblieben« und zu einer Reise nach Swinemünde und Wien aufgebrochen, bevor er im Februar 1943 wieder in Berlin eintraf.19 Im Lokal »Aschinger« am Alexanderplatz lernte er einen Landsmann, Wladimir Savo, kennen, der ihm anbot, ihm für 100,– RM einen Bedarfsschein für Lebensmittelkarten zu besorgen. Doch Calic war seinem neuen Bekannten gegenüber vorsichtig, weil er ihn »noch nicht kannte und ihm nicht traute«. Erst bei Lieferung der Karten wollte er das Geld aushändigen.20 Vertrauen in die Person, Vertrauen in den regelgerechten Tauschvollzug und Vertrauen in die Ware gingen hier wie bei allen Schwarzhandelsgeschäften Hand in Hand. Ein Beispiel für die Verstetigung einer einmal eingegangenen Tauschbeziehung zwischen Fremden schilderte die zum Cluster 2 des Rebbien-Netzwerks gehörende Hildegard Mielke, als sie die Entstehung ihrer Tauschpartnerschaft mit Wiggers rekapitulierte.21 In der Vernehmung am 28. November erklärte sie zunächst, den ihr von den Beamten beschriebenen Wiggers nicht namentlich zu kennen. Wiggers habe sich ihr als »John« vorgestellt und auf ihr »vieles Fragen nach dem Namen« lediglich geantwortet, »dass der Name keine Rolle spiele«. Auch seine genaue Adresse habe er ihr nicht genannt, sondern nur von einer Wohnung in der Nähe der Danziger Straße gesprochen. Kennen gelernt hatten sich Mielke und Wiggers im Lokal »Dachgarten« in der Badstraße: »Ich wollte noch etwas Warmes trinken und setzte mich an einen Tisch, wo 3 Herren saßen. Wiggers und ich kamen ins Gespräch. Da ich heiraten will, wollte ich Trauringe kaufen. Dies erzählte ich Wiggers.« Mielke macht keine Angaben dazu, ob sie die Bemerkung über die Trauringe mit der Absicht machte, in Erfahrung zu bringen, ob Wiggers ein potentieller Lieferant sein könnte oder ob das Gespräch rein zufällig auf die gesuchten Ringe kam. Wiggers erwiderte, dass er Ringe besorgen könne, worauf hin Mielke ihm ihre Anschrift gab. Acht Tage später wechselten die Ringe den Besitzer, nachdem sich die beiden Tauschpartner noch in der Nacht ihrer ersten Begegnung auf zwei Briefmarkenalben und einen Detektorapparat mit zwei Kopfhörern als Gegenwert verständigt hatten. Bei einem von Wiggers mitgebrachten Stück Lachs, das beide »gemeinschaftlich verzehrten«, saßen sie in Mielkes Wohnung zusammen. Als Wiggers acht Tage später die Trauringe brachte sei für sie »der Fall erledigt« und das Tauschgeschäft zu Ende gewesen. Doch »nach weiteren 8 Tagen stand Wiggers wieder vor der Tür, brachte eine gebratene Ente mit« und fragte, ob Mielke diese haben wolle. In der Vernehmung erklärte sie: »Ich hatte keine Bedenken, die Ente zu nehmen. Bezahlt wollte er die Ente nicht haben. Geschenkt wollte ich die Ente nicht nehmen und 19 A Rep. 358-02 79976. 20 Ebd. 89667, Bl. 6ff. 21 Das Folgende nach LAB A Rep. 358-02 89667, Bl. 25ff.
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gab ihm einen Fön.« Einige Tage später wechselten erstmals Waren gegen Geld den Besitzer: Wiggers brachte, nachdem Mielke vorher von ihrem Mangel diesbezüglich gesprochen hatte, Mehl, das seine Tauschpartnerin für 10,– RM pro Pfund erstand, sowie Tabak. »An dem gleichen Tage brachte er mir noch eine Bluse mit, dunkelblau, für die er 150,– RM verlangte.« Die Tauschbeziehung verstetigte sich. »Im Laufe der Zeit«, gab Mielke zu Protokoll, erhielt Wiggers von ihr »noch einen Vogelbauer, ein kleines Stück technisches Silber und einen defekten Füllfederhalter«. Diese Dinge habe sie ihm allerdings geschenkt, eine Verrechnung mit anderen Waren habe nicht stattgefunden. Der Tauschvorgang zwischen Wiggers und Mielke ist ein gutes Beispiel für den sukzessiven Ausbau einer anfangs zumindest von einer Seite nur als einmalig gedachten Tauschaktion zu einer durch Wiederholungen begründeten Tauschbeziehung. Aus dem Geschäft zwischen Ringsucherin und Ringanbieter entwickelte sich eine feste Konstellation, in der Wiggers als »Vertreter« von Schwarzhandelswaren regelmäßig bei Mielke vorstellig wurde, wobei er die Trauringsuche als Einstiegschance nutzte. Ob er in dem besagten Moment des Kennenlernens in der »Dachstube« tatsächlich schon zwei Trauringe hatte oder diese nicht vielmehr zu »besorgen« suchte, um eine weitere Abnehmerin für seine Waren zu gewinnen, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die Tatsache, dass er acht Tage später erst lieferte, spricht allerdings für die zweite Option. Die Geschichte der Tauschpartnerschaft von Friedrich Wiggers und Hildegard Mielke ist damit, wenn man für einen Moment die Perspektive der Händler einnimmt, eine Erfolgsgeschichte. Anbieter findet Abnehmerin, gewinnt ihr Vertrauen und zu guter Letzt kommt es zu mehreren Geschäftsabschlüssen. Zugleich ist sie aber auch ein Beleg für den Aufwand, den das illegale Gewerbe mit sich brachte. Statt einfach in ein Geschäft zu gehen, musste man viel Zeit und Nerven auf bringen, um an die begehrten Waren zu kommen. Wenn sie denn überhaupt vorrätig waren. Mit diesen Widrigkeiten fertig zu werden – das war die alltägliche praktische Herausforderung für die »kleinen« und »großen« Schwarzhändler, für die »cleveren Schieber« und die ängstlichen »Gelegenheitsteilnehmer«. Aber stimmte diese populäre Aufteilung der Teilnehmergruppen überhaupt? Gab es wirklich nur den gerissenen Profi und sein Opfer, wie es die weit verbreitete zeitgenössische Deutung glauben machen wollte?
1.2 Netzwerkpositionen, Professionalisierung und Tauschtechniken Die Tauschbeziehungen im Berlin der Kriegszeit lassen sich als Netzwerkbeziehungen beschreiben. Ein solcher Ansatz berücksichtigt auch, dass die Tauschrelationen zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Ausdrücke einer zu dechiffrierenden Verteilung sozialen Kapitals darstellten. Netzwerke bil96
den sowohl strukturelle Bedingungen des Handels als auch strategische Entscheidungen der handelnden Akteure ab und verdeutlichen so den Status der Tauschpraxis als soziale Realität zwischen der Makro-Ebene »äußerer« Bedingungen oder Strukturen und der Mikro-Ebene individueller Handlungsspielräume: »Mit diesen beiden Dimensionen – Zwängen und Gelegenheiten für Akteure – wird sowohl die prägende und einschränkende Wirkung von Sozialstruktur eingefangen, als auch der in diesen Grenzen vorhandenen Handlungsfreiheit von Akteuren Rechnung getragen«.22 Soziales Kapital ist nicht durch einzelne Akteure vollständig beherrschbar, sondern kann lediglich bedingt und nicht immer absehbar erweitert werden, etwa indem der oder die Einzelne versucht, seine sozialen Beziehungen strategisch im Sinne einer Kapitalvermehrung zu optimieren. Dabei erlaubt eine Analyse der Praktiken, sowohl die in den Handlungen ablesbaren Struktur-Zwänge als auch einzelne Lernprozesse und Spielraumerweiterungen sichtbar zu machen. Denn im Sinne eines relationalen Verständnisses von historischem Geschehen reproduzieren die Handlungen der Akteure nicht nur die in den Strukturen angelegten Muster, sondern können durch ihr Tun selber eine – wenigstens partielle – Verschiebung der »Rahmen« bewirken. Die netzwerktheoretische Analyse von Tauschpraktiken kann sich auf eine breite Grundlage theoretischer und empirischer Vorarbeiten stützen. Sie trägt nicht nur dem Netzwerkcharakter des Phänomens Rechnung, sondern erlaubt darüber hinaus auch eine genauere Bestimmung der Strukturen des Handels und relevanter Details auf der Praxis-Ebene. So lassen sich mit den Netzwerkformationen eine Reihe von unterschiedlichen Akteurspositionen oder -rollen, Gruppenbildungsprozesse und Anpassungsleistungen untersuchen. Die Zentralität der Akteure, ihr jeweiliger Vernetzungsgrad (Degree), Cutpoint-Positionen, Brücken, Netzwerkpfade und nicht zuletzt die Dichte von Netzwerken und ihren Teilen korrespondierten mit verschiedenen Schwarzhandelspraktiken und bildeten die Logik des illegalen Handels ab. Die Grundlage zur Rekonstruktion der einzelnen Netzwerke bilden die Ermittlungsergebnisse der Behörden. Damit ist eine Perspektive vorgegeben. Zwar bemühten sich die Kriminalbeamten der Berliner Polizei, ein möglichst umfassendes Bild von den Aktivitäten und Verbindungen einmal ins Visier ihrer Ermittlungen geratener Händler zu bekommen. Allerdings blieben sie dabei auf die Kooperationsbereitschaft von Zeugen angewiesen und waren zudem nicht in der Lage, jedem Hinweis und jeder Verbindung im Einzelnen nachzugehen.23 Das bedeutet, dass die hier ausgewerteten Akten zum einen 22 Jansen, S. 26f. 23 Die Unterlagen der Gestapo enthalten Hinweise auf organisatorische Probleme der Polizeiarbeit. Da die »nachrichtenmäßige Verbindung« Erna Kuschy auch über das »politische Gepräge« der Aktivitäten in der Wohnung von Franz Seidemann und Martha Rebbien (»Feindsender«
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nur Ausschnitte wiedergeben und zum anderen eine perspektivische Verzerrung produzieren. Die Ermittlungen folgten einer Schneeball-System-Logik, waren aber nicht frei von pragmatischen Schwerpunktsetzungen bei der Verfolgungspraxis und zeigten ein um einzelne Personen oder Personengruppen gezogenes, ausschnitthaftes Bild komplexerer Tauschnetzwerke. Die hier vorgenommene Analyse geht deshalb davon aus, dass die rekonstruierten Netzwerke unvollständig sind. Einzelne Netzwerkpositionen und unterschiedliche Professionalisierungsgrade oder Schwarzhändlertypen sind aber eindeutig identifizierbar. Unter den für die illegalen Berliner Märkte gegebenen Voraussetzungen von Zugangsrestriktionen im Netzwerk bildeten sich unterschiedliche Machtpositionen heraus, die sich auch im Fall des Gesundbrunnen-Tauschnetzwerkes als sogenannte Makler-Positionen verfestigten (in Grafik 2 fett gedruckt).24 Akteure, die kraft ihres Zugangs zu nachgefragten Waren oder wegen ihres stärkeren Engagements bei der Beschaffung privilegiert waren, konnten ihre Stellung nutzen, um als Makler vom System des Netzwerkes zu profitieren. Als Makler werden hier jene Akteure verstanden, die »nicht mehr [ausschließlich] nach ihren eigenen Interessen [tauschten], sondern im Hinblick auf die Interessen von Dritten, die selbst keinen Zugang zu dem Tauschpartner [hatten]«. Diese professionelleren Akteure »[handelten] also unternehmerisch«, indem sie gezielt Angebots- und Nachfragesituationen kalkulierten und »sich ihre Dienste in der Vermittlung auf den durch die Sozialstruktur blockierten Tauschpfaden mit Extra-Profiten bezahlen«25 ließen. Sie nutzten ihre gegebenen oder erarbeiteten Kontaktvorteile, um Waren zu erwerben, an denen sie selber als Endverbraucher nicht interessiert zu sein brauchten, und konnten diese an weniger privilegierte oder interessierte Netzwerkteilnehmer mit Aufschlag (Provision) wieder veräußern. Makler traten mithin nicht nur als Gelegenheitskäufer auf, sondern übernahmen auf den illegalen Märkten auch die Verkäuferrolle. Allerdings bildete der Übergang vom Nicht-Makler zum Makler, vom Gelegenheitsteilnehmer zum Profi keinen abrupten Übergang in dem Sinne, dass jemand von heute auf morgen den Schritt vom Amateur zum professionellen »Schieber« getan hätte. Vielmehr bietet sich hier ein abgestuftes Bild sukzessiver Professionalisierung, das auch den einen quasi-professionellen Teilnehmer noch vom anderen abhebt. Denn nach dem Schritt in den unternehmerischen Bereich des Schwarzhandels eröffnete sich eine ganze Reihe von Optimierungsoptionen. Diese konnten ihren Niederschlag etwa in Buchhaltungstechhören, »Hetze gegen politische Einrichtungen und Persönlichkeiten«) berichtete, hatte die Gestapo die Federführung übernommen. Allerdings klagte diese bald über das »Unvermögen zur Bereitstellung von Beamten durch die Kriminalpolizeileitstelle«. (LAB A Rep. 358-02 89667, unpag., Schreiben der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Berlin, vom 11.11.1944.) 24 Jansen, S. 173ff. 25 Alle Zitate ebd., S. 175.
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niken oder Bonitätsanforderungen finden: Profis des illegalen Berliner Gewerbes systematisierten ihren Geschäftsablauf so gut dies unter den widrigen Bedingungen der Illegalität möglich war. Zunächst lassen sich zwei Gruppen von Schwarzhändlertypen ausmachen: Gelegenheitsteilnehmer und Makler. Die Gruppe der Makler umfasst aber so unterschiedliche Handelspraktiken und Unternehmensgrößen, dass es sinnvoll erscheint, zwischen kleinen und großen Maklern zu unterscheiden. Kriterien, die zur Abgrenzung aller drei Typen dienen, sind der investierte Zeitaufwand, die Menge der gehandelten Waren bzw. der Umsatz, der Degree im Netz, das Einzugsgebiet und systematisierende Techniken. In den rekonstruierten Netzwerken nehmen Makler in der Regel zentrale Positionen mit einem höheren Degree als die zumeist an den Rändern angesiedelten Gelegenheitshändler ein. Ausnahmen von dieser Regel bilden vor allem solche Makler, die sich auf besonders schwer zu beschaffende (also auch transnational umgeschlagene Waren) spezialisierten. Der Faktor Zeit spielte eine entscheidende Rolle. Martha Rebbien und ihr Tauschpartner Wiggers beispielsweise betrieben ihr illegales Gewerbe quasi hauptberuflich und gehörten schon allein deshalb zu den Maklern der Berliner Tauschkultur. Eine relativ uneingeschränkte Verfügbarkeit über den eigenen Zeithaushalt oder die Möglichkeit der Verschränkung von illegalem und legalem Geschäft bildeten die Hauptvoraussetzungen für den professionellen Betrieb des Schwarzhandelsgeschäftes. So konnte Martha Rebbien ihr Netzwerk nur deshalb in dieser Größe und mit dem erzielten Erfolg unterhalten, weil sie keiner anderen regelmäßigen Beschäftigung nachging.26 Eine Sonderstellung nahmen jene Makler ein, deren Beruf sich mit der Tätigkeit als Schwarzhändler überschnitt. An erster Stelle sind hier die in beinahe allen Ermittlungsfällen auftauchenden Kneipenbesitzer, Verkäufer, selbständigen Einzelhändler und Kellner zu nennen.27 Andere betrieben ihre Schwarzhandelstätigkeit nur in der Freizeit. Gelegenheitsteilnehmerinnen wie Hildegard Mielke handelten lediglich in Einzelfällen, zumeist weil ihnen eine bestimmte Ware fehlte. Eine große Zahl dieser Gelegenheitshändler beteiligte sich aus bestimmten Anlässen am Schwarzhandel. Häufig bildete die Gestaltung von Feierlichkeiten (Geburtstagsfeiern, Weihnachten oder Fronturlaub), bei denen »etwas Besonderes« angeboten werden sollte, das Motiv.
26 LAB A Rep. 358-02, Bl. 49. 27 Dass diese Personengruppe einen überproportionalen Anteil stellte, hing allerdings nur zum Teil mit ihrem privilegierten Zugang zu nachgefragten Waren und der guten Kontaktsituation zusammen. Hinzu kommt, dass der Gewerbeaußendienst (Gad) der Berliner Polizei, zu dessen Aufgaben die Überwachung von Läden und Lokalen gehörte, einen Großteil der Ermittlungsarbeit leistete. Vgl. unten Kap. II.2.
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Das zweite Kriterium, der Umsatz, bildet für die Unterscheidung zwischen Gelegenheitsteilnehmern und Maklern – wenn man es isoliert betrachtet – ein Problem. In der Sprache der NS-Justiz fand es als Grenze zwischen »Eigenbedarf« und »gewerblichem Schleichhandel« seinen Niederschlag. Die Debatte darüber wo der »Eigenbedarf« auf hörte und »gewerblicher Handel« anfing, gehörte zu der kontroversen Auseinandersetzung zwischen den beteiligten Akteuren auf beiden Seiten.28 Sie lief auf die Definition von Mengenangaben hinaus – eine Frage die nicht abschließend geklärt und letztlich in das Ermessen der Richter des Sondergerichts gestellt wurde. In der Rückschau lassen sich die festgestellten Warenmengen in der Regel allerdings relativ klar den einzelnen Händlertypen zuordnen – vor allem dann, wenn sie nur ein Kriterium unter mehreren bilden. Hinzu kommt, dass eine markante Trennlinie nicht alleine durch die Warenmenge, sondern auch durch die jeweilige Quelle erkennbar wird. Hildegard Mielke tauschte Gegenstände ihres persönlichen Besitzes, die sie entbehren konnte, und nicht Waren, die sie wiederum selber beschaffen musste. Diese Unterscheidung berührt somit auch die Frage des Einzugsbereiches. Makler des illegalen Gewerbes hatten einen größeren Waren-Einzugsbereich, der transregional oder sogar transnational ausgeweitet sein konnte.29 Um den gesamten Umfang eines Schwarzhandelsunternehmens ermessen zu können, spielt daneben die Zahl der rekrutierten Tauschpartner eine entscheidende Rolle, die sich im Netzwerk als Degree ablesen lässt. Allerdings konnten Spezialisierungen bewirken, dass auch große Makler nicht unbedingt darauf angewiesen waren, einen hohen Degree aufzuweisen, sondern sich primär als Vermittler – von besonders schwer zu beschaffenden Waren – betätigten. Damit rückt schließlich das Kriterium systematisierender Techniken ins Blickfeld. Diese Techniken konnten sich in ebensolchen Spezialisierungen niederschlagen, aber auch in Verrechnungspraktiken und Absicherungsmaßnahmen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die drei Händlertypen des Berliner Schwarzhandels über unterschiedliche Praktiken und die Größe ihrer Schwarzhandelsunternehmung definiert werden können. Diese Faktoren wiederum korrelieren in den meisten Fällen mit den Netzwerkpositionen der Akteure. Martha Rebbien und Wiggers waren kleine Makler des illegalen Gewerbes. Die investierte Zeit und erste Systematisierungstechniken unterschieden ihre Handelspraxis eindeutig von Teilnehmern, die bloß sporadisch am Schwarzhandel teilnahmen. Andererseits erreichte ihre Praxis aber nie den Professionalisierungsgrad großer Makler. Das Beispiel eines Neuköllner Maklers führt die Unterschiede vor Augen.
28 Die KWVO hatte hier keine konkreten Angaben formuliert. Vgl. Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. September 1939 (RGBl. I. S. 1609). 29 Vgl. unten das Beispiel von Hermann Weese.
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Hermann Weese, Hauptakteur eines Neuköllner Tauschnetzwerks, in dem vornehmlich Schmuck umgeschlagen wurde, den ein holländischer Zulieferer regelmäßig nach Berlin transferierte, systematisierte seinen Handel zum Beispiel dadurch, dass er mit Warenproben operierte. Den Absatz des transnational gehandelten Schmucks auf dem lokalen Berliner Markt organisierte Weese, der einen Billard-Salon am Hermannplatz führte, indem er potentiellen Tauschpartnern Zeichnungen der vorhandenen Ringe zeigte, ehe das Geschäft abgeschlossen wurde. Wie einer von Weeses Tauschpartnern in seiner Vernehmung ausführte: »Um weiter seine Angaben mir gegenüber zu bekräftigen, insbesondere betreffs des Verkaufs der Ringe, holte er aus seiner Brieftasche etwa 2 bis 3 Tabellen, auf denen mit Bleistift die einzelnen Ringe, die Weese zu verkaufen hatte, aufgezeichnet waren. Er meinte, dass er doch die Ringe, wenn er sie absetzen wolle, nicht immer bei sich tragen würde und dann dem Käufer die Skizze vorlegen könne. Nach meiner Schätzung hatte er in dieser Form etwa 50 bis 60 Ringe aufgezeichnet«.30 Anstatt die wertvollen Tauschwaren permanent mit sich herumzutragen, verringerte der Neuköllner Schmuckhändler das Risiko durch seine Ringwerbung im Karteikartenformat. Mit dieser Technik befand sich Weese in der Nähe regulärer Praktiken des angemeldeten Einzelhandels – zwischen den Notwendigkeiten des illegalen Gewerbes und modernen Werbeformen.31 Weeses Tauschpraxis war nicht nur hochgradig spezialisiert, sondern erfüllte auch alle anderen Merkmale der Geschäftsabläufe großer Makler. Dazu gehörten die effektive Nutzung transnationaler »weak ties« in die Niederlande, das Vermischen – und damit Verbergen – der illegalen Aktivitäten mit den Geschäften in seinem Billard-Salon, der Auf bau eines lokalen Verteilernetzes, welches mindestens den Neuköllner Markt abdeckte, sowie absichernde Beziehungen zu Kriminalbeamten.32
1.3 Sozialprofile Legt man die medial popularisierte Figur des Schiebers zugrunde, handelte es sich bei Schwarzhändlern vornehmlich um junge Männer, die dem Typus eines klassischen Aufsteigers entsprachen. Schieber waren jung, unabhängig und skrupellos. Zugleich lebten sie auf großem Fuß, waren entweder durch ihre illegalen Machenschaften zu Wohlstand gekommen oder hatten ihre vorhande30 LAB A Rep. 358-02 8443, Bl. 20. Der Neuköllner Markt war so überschaubar, dass eine Zeugin einen vorher bereitsangebotenen Ring beim Besuch einer Gaststätte an einem Bekannten wiedererkannte. Vgl. ebd., Bl. 28. 31 Ebd. 32 Ebd., Bl. 31.
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nen (Geschäfts-) Kontakte für »schmutzige« Deals nutzbar gemacht. Doch entsprach dieses Bild der Realität? Vielleicht lässt sich anhand der Mitglieder von Martha Rebbiens Tauschnetzwerk ein realistischeres Bild der sozialen Wirklichkeit auf den illegalen Märkten zeichnen. Wie repräsentativ war die Gruppe der Schwarzhändlerinnen und -händler des Gesundbrunnen-Netzwerks? Handelte es sich bei der sozialen Zusammensetzung um einen Sonderfall, oder bildete die Gruppe insgesamt einen repräsentativen Querschnitt der Berliner Schwarzhandelsgesellschaft der Kriegszeit ab? Aufschlüsse hierüber kann der Abgleich der Sozialprofile von Martha Rebbien und ihren Partnern mit den Daten einer Sample-Auswertung geben. Für die Analyse wurden die personenbezogenen Angaben von 500 Angeklagten in Fällen von »Kriegswirtschaftsverbrechen« (KWV) ausgewertet, die sie selber in ihren Vernehmungen durch die Berliner Polizei gemacht haben. Die Erhebung statistischer Daten aus den Akten der Berliner Staatsanwaltschaft ist leicht möglich. Die Vernehmungsbögen der Polizei enthalten Angaben sowohl zum Beruf der Verdächtigten (und späteren Angeklagten) als auch zu ihren Einkünften. Doch diese Angaben erweisen sich gleich in mehrfacher Hinsicht als problematisch. Da sind, erstens, Unklarheiten in der Berufsbezeichnung.33 Ob ein Bäcker selbständig tätig war oder aber in einer Bäckerei angestellt, geht aus den Papieren nicht immer eindeutig hervor. Auch die Bezeichnung »Arbeiter« deckte eine Bandbreite von Tätigkeiten ab, hinter denen nicht nur unterschiedliche Ausbildungsgänge, sondern auch verschiedene Entlohnungsniveaus stecken konnten. Inwiefern die angegebenen Einkommen als verlässlich anzusehen sind, ist aber nicht immer rekonstruierbar. Ein geringeres Einkommen anzugeben, mochte in den Augen manches Delinquenten eine gewisse Bedürftigkeit illustrieren und damit eventuell strafmildernd wirken. Noch unklarer liegen die Einkommensverhältnisse bei den Selbständigen. Hier vertrauten die Polizeibeamten in der Regel den Angaben der Vernommenen, ohne weitere Überprüfungen vorzunehmen oder sich Belege vorlegen zu lassen. Zuweilen wurden auch einfach Überschläge der Befragten notiert und mit der Bemerkung »eigene Schätzung« versehen. Diese Unzulänglichkeiten veranlassten den Leiter des Gewerbeaußendienstes im Juli 1943, dass Problem in einem »Tagesbefehl« zur Sprache zu bringen. Darin kritisierte er, dass »in vielen Fällen nur der Umsatz, nicht aber der Reingewinn, und dann auch nur für das Jahr 1942 angegeben« wurde. Über den erzielten Mehrerlös fehlten die Angaben grundsätzlich. Um der zuständigen Abteilung IV in allen Fällen ein klares Bild über die Einkommensverhältnisse und über den durch die Preisüberschreitung erzielten Mehrerlös zu geben«, sollten »insbesondere [dann] die erzielten Umsätze und Gewinne der Jahre 1939–1942« herausgestellt »und die Gewinnsteigerung bzw. Verminderung prozentual zum 33 Vgl. zu den Schwierigkeiten bei der Auswertung von Sozialprofilen am Berliner Beispiel Federspiel.
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Ausdruck« gebracht werden, »wenn eine besonders strenge Bestrafung für erforderlich gehalten« werde. Ferner sei anzugeben, »ob das Einkommen festgestellt oder geschätzt worden ist«.34 Zudem ergeben sich Unklarheiten bei der zum Zeitpunkt der Vernehmung ausgeübten Tätigkeit. Häufig gaben die Vernommenen Berufsabschlüsse und Berufe aus der Vorkriegszeit an, ohne dass gewährleistet war, dass sie diesen Beruf auch weiterhin hatten ausüben können; sei es, dass sie mittlerweile als Soldaten Wehrsold bezogen, oder aber einer anderen Tätigkeit nachgingen, weil die Kriegswirtschaft Verschiebungen in der Berufsstruktur mit sich gebracht hatte. Teilweise lassen sich diese Angaben allerdings durch den Textteil der Vernehmung präzisieren, wo einige Personen Angaben zu ihren Lebensläufen machten. Diese Vorbehalte gilt es zu bedenken, wenn man einen Blick auf solchermaßen gewonnene Statistik wirft. Gleichwohl lassen sich die Ergebnisse als Hinweise auf die Teilnehmerstruktur auswerten, zumal sie plausible Deutungen möglich machen. Allerdings sollten diese Deutungen mit Vorsicht behandelt werden. Der Schwarzmarkt war zu einem guten Teil ein Markt der Gelegenheiten und stand damit quer etwa zu schichtenspezifischen Zugangsvoraussetzungen. Martha Rebbien, die Protagonistin des Netzwerkes, gehörte zunächst zu einer Minderheit der Berliner Schwarzmarktgesellschaft, und das schlicht, weil sie eine Frau war. Rund 70% aller Angeklagten waren männlich, nur etwa 30% weiblich. Im gesamten Netzwerk hielt sich das Verhältnis etwa die Waage (vgl. oben). Zudem war Rebbien mit Mitte Fünfzig älter als die Durchschnittshändlerin. Der Schnitt lag bei etwa 40 Jahren (vgl. Diagramm 2).
Diagramm 2: Alterstruktur weiblicher Angeklagter in Fällen von Kriegswirtschaftsverbrechen (in Prozent gerundet) (Quelle: eigene Auswertung) 34 LAB A Pr. Br. Rep. 030, Tit. 90 Nr. 7619/2, Der Leiter des Gad, Tagesbefehl Nr. 13 vom 6.7.1943.
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Besonders ins Auge fällt der hohe Wert für die Kohorte der 40–50jährigen Händlerinnen. Das bildet zum einen den hohen Anteil dieser Altersgruppe an der gesamten Einwohnerschaft Berlins ab. Bei der Zählung vom 17. Mai 1939 hatten die Frauen dieser Gruppe mit 418 000 Personen die zweitgrößte Kohorte gebildet, übertroffen nur noch von den 30–40jährigen, von denen einige in den nächsten Jahren in die nächste Kohorte wechselten.35 Zum anderen erklärt sich der hohe Wert, wenn man einen Blick auf die Berufsgruppen wirft.
Diagramm 3: Anteile einzelner Berufsgruppen in Fällen von KWV / weibliche Angeklagte (in Prozent gerundet) (Quelle: eigene Auswertung)
Dabei fällt vor allem auf, dass die große Mehrheit der weiblichen Angeklagten berufstätig war. Arbeitslose, wie Marta Rebbien, oder »Hausfrauen«, die hier beide unter die Kategorie »Keine« fallen, machten gerade einmal 7% aus. Die dominierenden Berufgruppen bildeten die unteren Angestellten, Selbständige und Arbeiterinnen. Auch das war zum Teil ein repräsentatives Abbild. Besonders hoch hatten die Anteile weiblicher Erwerbstätiger 1939 im Bereich des öffentlichen Dienstes und der privaten Dienstleistungen gelegen.36 Vor allem aber wird man die hohe Zahl der überhaupt erwerbstätigen Händlerinnen mit zwei Faktoren erklären können. Zum einen gehörten zu den Berufen der An35 Statistisches Landesamt der Stadt Berlin, S. 16. 36 Statistisches Landesamt der Stadt Berlin, S. 96.
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gestelltengruppe solche des Gaststättengewerbes. Auch Martha Rebbien hatte ja, ehe sie ihren Arbeitsplatz verlor, als Kellnerin gearbeitet. Das aber bedeutete den Umgang mit und den Zugang zu nachgefragten Lebensmitteln. Zum anderen boten alle Berufe die Möglichkeit der Kontaktaufnahme in teilöffentlichen Räumen wie Läden, Gaststätten oder auch Amtsstuben. Frauen, die arbeiteten, eröffneten sich mit ihrem größeren Mobilitäts- zugleich auch einen erweiterten Bekanntenkreis.
Diagramm 4: Alterstruktur männlicher Angeklagter in Fällen von KWV (in Prozent gerundet) (Quelle: eigene Auswertung)
Anders sieht das Bild bei den männlichen Angeklagten aus. Hier fällt vor allem auf, dass die Gruppen der 20–30jährigen wie der 30–40jährigen unter-, die älteren Jahrgänge überrepräsentiert waren.37 Dafür gibt es eine nahe liegende Erklärung. Angehörige der Kohorten zwischen 40 und 60 waren weitaus häufiger vom Dienst in der Wehrmacht freigestellt, weil sie ihre Berufslauf bahn bereits in Positionen gebracht hatte, die häufiger eine Einstufung als „unabkömmlich“ rechtfertigten. Demgegenüber war ein Großteil der jüngeren Jahrgänge zum Wehrdienst gezogen worden. Bei der Verteilung nach Berufsgruppen sind in erster Linie die beiden Spitzenreiter auffällig, die Selbständigen und die unteren Beamten und Angestellten. Wenn man einen genaueren Blick auf die Zusammensetzung der Selbständigengruppe wirft, zu denen auch Meister gehörten, dann wird ein Zusammenhang schnell klar. Zu den Personen aus dieser Gruppe gehörten in großer Zahl Lebensmittelhändler, Bäcker, Tabakwarenhändler aber auch Schneider, Werkstattbesitzer oder Gastwirte. Gerade diese Marktteilnehmer sahen sich in der Lage, an nachgefragte Waren zu kommen. Der illegale Handel mit Lebensmitteln, Stoffen, Tabakwaren und einzelnen Dienstleistungen war vor allem ein Gelegenheitsmarkt: Der Zugang zu Mangelwa37 Ebd., S. 16.
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ren ermöglichte den Markteintritt. Dieser wurde zudem dadurch erleichtert, dass Kundenkreise durch die legalen Geschäftskontakte leicht erreichbar waren. Zugleich standen diese Berufsgruppen allerdings auch unter besonderer Beobachtung durch die Polizeistellen. Die Kontrolle von Geschäften und Gaststätten gehörte zu den Routineaufgaben des Gewerbeaußendienstes. Entsprechend hoch war die Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden. Das trug ebenfalls dazu bei, dass der Anteil der Angeklagten mit diesen Berufen deutlich überrepräsentiert war.
Diagramm 5: Anteile einzelner Berufsgruppen in Fällen von KWV / männliche Angeklagte (in Prozent gerundet) (Quelle: eigene Auswertung)
Die Gruppe der unteren Beamten und Angestellten setzte sich vor allem aus Angestellten des Hotel- und Gaststättengewerbes, kaufmännischen Angestellten und Angestellten in Ernährungsämtern zusammen. Hinzu kamen Kraftfahrer, Reichsbahnbedienstete, Werkschutzleute und Postbedienstete. Für sie galt – grosso modo – das gleiche wie für die Personen der ersten Gruppe. Angestellte in Hotels, Großküchen und Gastwirtschaften hatten ebenfalls leicht Zugang zu Lebensmitteln. Auch ihnen boten sich am Arbeitsplatz Kontaktmöglichkeiten. Einem Kellner war es ein Leichtes, seinen Kundenstamm unter den Restaurantgästen zu rekrutieren. Wo andere Personen aufwändige Such106
bewegungen machen mussten, konnten solche Schwarzhändler auf ein großes Reservoir potentieller Tauschpartner zurückgreifen. Beim Vergleich der männlichen mit der weiblichen Angeklagtengruppe muss man ein Ungleichgewicht konstatieren. Während die Zahlen für die männlichen Angeklagten einen relativ repräsentativen Schnitt der sozialen Schichten abbildeten, dominierten bei den Frauen Angehörige der Unterschicht das Bild. Schichtenspezifische Hemmschwellen, die den Zugang zum illegalen Markt erschwerten, scheinen vor allem für »bürgerliche« Frauen bestanden zu haben. Wie die Analyse der Tauschräume zeigt, fand ein Großteil des von der Polizei aufgedeckten Marktgeschehens in Kneipen und Gaststätten statt, die einer »Bürgerlichen« nach den zeitgenössischen Moralvorstellungen kaum offen standen. Solche Hemmschwellen erschwerten den Markteintritt. Und selbst wenn es einem gelungen war, die Vorteile des illegalen Gewerbes für sich zu nutzen, bedeutete die Teilnahme in jedem Fall eine Belastung. Neben dem Druck, den Illegalität und die Gefahr entdeckt zu werden mit sich brachten, wirkte sich der Tausch häufig auch auf die sozialen Beziehungen der Partner aus.
1.4 Tauschkultur als Wandel sozialer Beziehungen Die illegalen Tauschhandlungen der Akteure auf den Berliner Schwarzmärkten waren soziale und kulturelle Tatsachen. Sie wirkten auf die Gesamtgesellschaft und ihr Gespinst aus sozialen Beziehungen ebenso zurück, wie sie die Auflösung bestehender Strukturen reflektierten. Eine Betrachtung, die bloß die wirtschaftlichen Aspekte des illegalen Handels berücksichtigte, würde die Augen vor einem markanten Charakteristikum der »Schwarzmarktzeit« verschließen: davor nämlich, dass die Märkte zu Katalysatoren eines umfassenden Umbewertungsprozesses wurden, der eine andere soziale Realität des Stadtlebens auf der Ebene interpersonaler Beziehungen hervor brachte. Als ein Markt, der in gleichem Maße auf persönlicher Nähe auf baute wie er sie bestätigte und intensivierte, bildete der illegale Handel eine der wichtigsten Institutionen alltäglichen Miteinanders in der Kriegs- und Krisenstadt Berlin.38 Schwarzhändler handelten Freundschaften und Liebesverhältnisse, Beziehungen zu Nachbarn, Vorgesetzten und Untergebenen unter den Bedingungen der Berliner Tauschkultur neu aus. Symmetrische und asymmetrische Relationen zwischen Teilnehmern, die sich bereits vorher gekannt hatten, wurden in ihrer jeweiligen Abhängigkeit revidiert oder bestätigt. Neue, speziell für den Tauschzweck eingegangene Partnerschaften entwickelten sich in die eine oder andere Richtung. 38 Ein Umstand, den die Schwarzmarkt-Forschung als gegeben hinnimmt, ohne ihn hinreichend zu reflektieren. Vgl. zum Beispiel Boelcke, S. 47ff.
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So konnten etablierte (Milieu-) Grenzen und Rollenmuster überwunden und vorher unübliche Machtverteilungen begründet werden. Damit verkehrte die Berliner Tauschkultur einen Prozess der Moderne in sein Gegenteil. Der Trend einer zunehmenden »Entbettung« (Anthony Giddens) interpersonaler Kommunikation und deren Verlagerung in unpersönliche gesellschaftliche Regelungssysteme wurde durch die aufwändige, das generalisierte symbolische Zeichen Geld aushöhlende Tauschpraxis der Berliner Schwarzhändler auf den Kopf gestellt. Zugleich forderte der illegale Handel auch die als Reaktion auf den Anonymisierungsprozess etablierten »Rückbettungsleistungen« heraus. Denn das höfliche Nichtbeachten und der spezifisch großstädtische Takt, der das Leben in modernen Metropolen zu prägen begonnen hatte, spielten bei der Anknüpfung von Tauschpartnerschaften eine eher hinderliche Rolle. Damit waren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gezwungen ihren »kommunikativen Haushalt« wenigstens in Teilen umzustellen. Das fiel ihnen leichter, wenn andere soziale Relationen die Basis für den zukünftigen Handel bilden konnten.39 Die Mehrzahl der Tauschpartnerschaften knüpfte an etablierte soziale Beziehungen an. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kannten sich bereits als Nachbarn, Freunde oder Kollegen, bevor sie zu »intimate antagonists« (Clifford Geertz) auf den illegalen Märkten wurden. Es lag nahe, zunächst auf bestehende Kontakte zurückzugreifen, die sich in der Vergangenheit bewährt hatten und eine unsichere und aufwändige Suche unnötig machten. Der Tausch beruhte einerseits auf existierenden Verknüpfungen und veränderte andererseits deren Charakter. Eine grundsätzliche Veränderung betraf alle Typen von sozialen Beziehungen unter den Bedingungen der Tauschkultur. Da die Teilnahme am Schwarzhandel den Schritt in die Illegalität bedeutete, bewirkte die Partizipation an den Geschäften, dass die bereits vorhandenen Vertrauensmomente zwischen den Tauschpartnern auf die Probe gestellt und – bei einer positiven Beurteilung – vertieft wurden. Tauschpartner teilten, vor allem wenn sie über einen längeren Zeitraum miteinander handelten, die Erfahrung, gemeinsam an einem Vorgang teilzunehmen, der von dritter Seite nicht gebilligt und verfolgt wurde. Die Konspiration wiederum bewirkte zweierlei: eine gesteigerte Abhängigkeit vom Partner, der einen verraten konnte, und daraus folgend eine gruppenbildende Kohäsion, in der die sozialen Beziehungen zwischen den Teilnehmern enger und intensiver wurden. Dieser Prozess umfasste alle Tauschrelationen unabhängig von Machtverteilungsanordnungen und beförderte auf der Makro-Ebene der Berliner Kriegs-Gesellschaft die Ausbildung eines parzellierten Alltags. Dieser war dadurch geprägt, dass sich neben den legalen Prozeduren und Räumen eine »Schattenwelt« bildete, in der eine wach39 Vgl. Föllmer, Einleitung, S. 14f.
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sende Zahl von Einwohnern lebte und die den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wenigstens zeitweise abverlangte, in Distanz zum »normalen«, von der Obrigkeit und großen Teilen der »Volksgemeinschaft« überwachten Alltag zu leben. Insofern bildete der Schwarzmarkt einen Prozess der Privatisierung ab: Er entzog sich der nationalsozialistisch kontrollierten städtischen Öffentlichkeit und schuf den Raum einer weitgehend unpolitischen Gegenöffentlichkeit. Die NS-Schwarzmarktpolitik, die eigentlich darauf abzielte, das Ausmaß der Tauschhandlungen auf ein Minimum zu reduzieren, erreichte lediglich, dass eine Verlagerung »in den Untergrund« stattfand. Dass dieser »Untergrund« existierte, war damit das Ergebnis der Prohibitionsvorschriften. Aber erst die Praktiken der Schwarzhändler und die sich verändernden Beziehungen erfüllten diesen Raum mit Leben und sorgten dafür, dass er zu einer eigenständigen und dauerhaften sozialen Realität des Berliner Alltags wurde. An vier Beispielen lassen sich diese weitreichenden Auswirkungen im Einzelnen festmachen. 1. Den »normalen« Typus sozialer Beziehungen zwischen Tauschpartnern, die Waren oder Dienstleistungen gegeneinander oder gegen Geld tauschten, bildete derjenige zwischen Kunde und Verkäufer. Schwarzhandelpartner führten solche bereits vorher bestehenden legalen Relationen fort und aktualisierten sie damit unter veränderten Umständen: der Bäcker, der an seine Kunden neben den offiziell zugeteilten Waren nicht angerechnete Brote »verkaufte« und sich dafür andere Waren »besorgen« ließ, oder die Schneiderin, die gegen entsprechende Maßanfertigungen Fleisch erhielt. Diesen Verbindungen zwischen Kunden und Verkäufern lagen typische Interaktionsskripte zugrunde. Sozialisationsforschung und Beziehungspsychologie machen die in dieser Hinsicht weiterführende Unterscheidung zwischen »Rollenbeziehungen« und »persönlichen Beziehungen«.40 Denn in der Begegnung zwischen Kunden und Verkäufern wurden »stabile Interaktionsmuster« abgerufen, die sich an wechselseitigen Rollenerwartungen orientierten: »›Rolle‹ bezeichnet dabei eine kulturell bestimmte Erwartung an das Interaktionsverhalten«.41 Beim Aufeinandertreffen wussten beide um eigene und fremde Interaktionserwartungen und -praktiken. Sie verfügten mithin über ein Interaktionsskript für die Situation, in der sie sich befanden.42 Die (theoretische) Trennung zwischen Rollenbeziehungen und persönlichen Beziehungen bestand gleichwohl auch beim Austausch auf den legalen Märkten nie in Reinform. Anbieter und Abnehmer trafen – je dauerhafter die Verbindung etwa zwischen einem Kunden und dem Händler an der Ecke vorher bereits gewesen war, desto mehr – nicht bloß als abstrakte Interpreten vorgegebener Rollenmuster aufeinander. Stattdessen bildete eine gemeinsame Geschichte den Kontext der Beziehung: Händler und Kunden 40 Vgl. Joas, sowie Asendorpf u. Banse, S. 7ff. 41 Ebd. 42 Vgl. hierzu auch Goffman, Interaktionsrituale, und ders., Individuum.
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waren als Teilnehmer eines Viertelgeschehens nicht nur über die Vorgänge in der gemeinsamen Nachbarschaft, sondern auch übereinander (über Vorlieben oder Gewohnheiten) »im Bilde«. Dennoch unterschieden sich die teilweise durch die eingenommenen Rollen definierten Beziehungen zwischen ihnen von anderen sozialen Relationen wie etwa Liebes-Partnerschaften, bei denen die Interaktionsmuster überwiegend von den Persönlichkeiten der Beteiligten abhingen: Die Persönlichkeiten der Bezugspersonen hatten in Rollenbeziehungen eine geringeren Stellenwert. Im Prinzip konnte sowohl die Kundenals auch die Anbieter-Rolle genauso gut von anderen Personen eingenommen werden, ohne dass sich am Interaktionsmuster Wesentliches änderte, und das umso mehr, je unpersönlicher das Verhältnis war.43 Die Situation des Einkaufens markierte in diesem Zusammenhang eine der wichtigsten Alltagssituationen in Konsumgesellschaften überhaupt. Doch gerade bei der Warenbesorgung durch Einkaufen tat sich ein entscheidender Unterschied zwischen den Käufer-Verkäufer-Relationen im legalen und im illegalen Sektor auf: Einkaufen als moderne städtische Praxis folgte festgelegten Regeln. Ein vorhandenes Sortiment konnte nachgefragt, in begrenztem Umfang auch vor Ort geprüft und schließlich gegen einen festgeschriebenen Preis erworben werden. Auf dem schwarzen Markt galten diese Regeln nicht. Denn erstens waren feste Sortimente die Ausnahme.44 Auch beim Handel mit Bäckern, Schneidern oder Tabakwarenhändlern, die auf bestimmte Sortimente spezialisiert waren, mussten Gelegenheiten abgepasst werden. Der Zugriff auf Waren war damit weder jederzeit möglich, noch konnte man Ansprüche stellen, wenn es um bestimmte Marken oder andere Sonderwünsche ging. Dafür trat an die Stelle einer oberflächlichen Warenprüfung, die durch den Siegeszug normierter Waren mit (staatlich) geprüfter Qualität im Zuge eines rationellen und modernen Einzelhandels möglich geworden war, eine aufwändigere, auch basale Produkteigenschaften überprüfende Qualitäts- und Mengenkontrolle durch den Abnehmer. Der Preis schließlich war häufig das Ergebnis von Verhandlungen. Zwar machten viele Abnehmer (wenigstens am Anfang) keinen Gebrauch von ihren Verhandlungsoptionen und zahlten die von den Anbietern geforderten Preise. Das war einerseits ein Zeichen für die große Nachfrage und die damit gestiegene Macht der Anbieter. Andererseits bedeutete der Verzicht auf die Preisaushandlung auch, dass die Interaktionsmuster noch ganz den legalen Kunde-Verkäufer-Rollen entsprachen. Allerdings waren auf beiden Seiten Lernprozesse zu beobachten: Anbieter, welche die Erfahrung gemacht hatten, dass die von ihnen festgesetzten Prei43 Asendorpf u. Banse, Psychologie, S. 7. 44 Erst ab einem erheblichen Professionalisierungsgrad konnten Makler relativ stabile Kontingente vorhalten und damit die Angebotssituation – wenn auch nach wie vor eingeschränkt – verstetigen.
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se anstandslos gezahlt worden waren, versuchten bei der nächsten Transaktion den Preis zu erhöhen – häufig mit der lapidaren Feststellung: »die Preise sind gestiegen«.45 Sie konnten dabei in Rechnung stellen, dass Neulinge keine Informationen darüber haben konnten und sie auch Gelegenheitsteilnehmern gegenüber in der Regel einen Informationsvorsprung hatten. Abnehmer wiederum lernten (auch durch solches Anbieter-Verhalten), dass die Preise des illegalen Gewerbes anders als Ladenpreise flexibel und damit verhandelbar waren. Das freie Spiel der Preisbildung trat offen zu Tage und stellte die eingeübten Interaktionsmuster der an ein anderes Rollenverhalten gewöhnten Teilnehmer vor neue Herausforderungen. Händler, die durch ihren legalen Beruf in den Techniken des Taxierens, Kalkulierens und Preisaushandelns geübt waren, hatten deshalb entscheidende Vorteile. Nicht professionell vorgebildete Teilnehmer mussten demgegenüber erst Lernschritte vollziehen, wenn sie ihren Nachteil ausgleichen wollten – immer vorausgesetzt, der oder die Einzelne war überhaupt willens und in der Lage, sich intensiver auf die Bedingungen des illegalen Handel einzulassen. Gelegenheitsteilnehmer, die sich das leisten konnten, neigten dazu, Transaktionen auch zu ungünstigen Konditionen, also teurer, abzuschließen, um mit dem »dunklen Geschäft« so wenig wie möglich »in Berührung« zu kommen. Zu dem Personenkreis, dessen Verhandlungsposition in diesem Zusammenhang besonders eingeschränkt war, gehörten Teilnehmer, die als politisch Verfolgte im Untergrund lebten und folglich keine Rationen beziehen konnten.46 Auf den illegalen Märkten verschoben sich auf diese Weise die Machtverhältnisse zwischen den beteiligten Akteuren. Rechte, die insbesondere den Kunden ehedem vor Missbrauch geschützt hatten, galten auf dem Schwarzmarkt nicht. Damit waren die Anbieter des illegalen Gewerbes im Vorteil. Die limitierten Zugangsmöglichkeiten zu den knappen Waren der Kriegs- und Nachkriegszeit privilegierten solche Berufsgruppen, die überhaupt in Kontakt mit diesen Produkten kamen (v.a. Einzelhändler, Produzenten und Verarbeiter von knappen Waren wie Lebensmitteln oder Stoffen), und ermöglichten ihnen in der Folge die Vorteile eines Angebotsoligopols:47 Die weitreichende, durch die Rationierung organisierte Verknappung eröffnete etwa Einzelhändlern eine Vielzahl von potentiellen Abnehmerkanälen, sodass die Abschlusskonditionen nur bedingt vom Abnehmer verhandelt werden konnten. Wer nicht zufrieden war, hatte kaum Sanktionsmöglichkeiten – abgesehen vom Abbruch der Tauschbeziehung, der negativen Werbung und – was riskant war 45 LAB A Rep. 358-02 80961, Bl. 34. 46 So im Fall des ehemaligen deutschen Ringer-Meisters Werner Seelenbinder, der über »kommunistische Verbindungen« versuchte an Lebensmittel zu kommen, dabei aufflog und dem »Volksgerichtshof« überstellt wurde. Vgl. LAB A Rep 358-02 91164. Vor dem gleichen Problem standen jüdische Marktteilnehmer. Vgl. ebd. 80408, Bl. 20. 47 Vgl. Henrichsmeyer, S. 52ff.
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– der Denunziation. Fälschungen oder auch das Strecken von Waren (Verdünnen, Untermischen minderwertiger Produktbestandteile etc.) mussten durch die Kunden sofort erkannt und gegebenenfalls als preismindernder Faktor in die Verhandlungen eingebracht werden, wollten sie sich nicht betrügen lassen. Das Risiko der Qualitätsprüfung und die Kontrollkosten der Schwarzhandelsgeschäfte lagen ganz bei ihnen. Einklagbare Rechte, wie sie der Staat auf den legalen Märkten garantierte, hatten die Kunden der illegalen Berliner Märkte nicht. Diese Asymmetrie in den auf dem Schwarzmarkt fortgeführten VerkäuferKunde-Beziehungen wurde durch die soziale Einbettung des Handels teilweise ausgeglichen. Aus der Sicht der Abnehmer eröffneten Tauschbeziehungen zu persönlich bekannten Maklern, die sie bereits als Geschäftspartner des legalen Marktes kennen gelernt hatten, entsprechende Vorteile. Gerade Einzelhändler, die den Wert von Stammkunden zu schätzen wussten, erwiesen sich insgesamt als die verlässlicheren Gegenüber. 2. Die Logik von Gabe und Gegengabe als Ausdruck geschlechterspezifischer Machtpositionen bildete ein Motiv, das während der zwanziger Jahre den »Auftritt« der »Neuen Frau« als Protagonistin einer modernen weiblichen Lebens- und Arbeitsweise begleitet hatte. Die Bereitschaft sich für den sozialen Aufstieg auf sexuelle Tauschhandlungen mit männlichen Vorgesetzten einzulassen, gehörte zugleich zur alltäglichen Erfahrungswelt einer wachsenden Zahl von weiblichen Angestellten wie zum Debattenkanon der Zeit. In Erich Kästners Roman »Fabian. Die Geschichte eines Moralisten« kommentierte ein Zeitgenosse die Zweifel einer Schauspielerin angesichts dieser Praktiken: »Überrascht dich das? Kamst du nicht deswegen nach Berlin? Hier wird getauscht. Wer haben will, muss hingeben, was er hat«.48 Der Schwarzmarkt machte solche Verquickungen von sexuellen und sozial-ökonomischen Tauschleistungen nur offensichtlicher, ohne dass deshalb von einer negativen Wirkung des Marktes auf Intimbeziehungen ausgegangen werden muss.49 In den öffentlichen Verhandlungen über die illegalen Märkte spielte die Verbindung von (materiellen) Tauschgeschäften und Liebesleistungen eine wichtige Rolle. Insbesondere das Verhalten deutscher Frauen, die mit »Ausländern«, d.h. während des Krieges mit Fremd- oder Zwangsarbeitern und nach dem Krieg mit alliierten Soldaten oder DPs, tauschten, erregte den Unmut der Beobachter. Die Tauschenden waren in den Augen vieler Verräterinnen. Der Mythos von der schnellen Kapitulation der deutschen Frauen im Mai 1945 beschrieb nichts anderes als den vermeintlichen »Sündenfall« derjenigen Frauen und Mädchen, die sich – so die obsessive, vorwiegend männliche Sicht – für ein paar Zigaretten oder Nylonstrumpf hosen an 48 Zit. nach Kupschinsky, S. 165. 49 So – in Abwehr eines populären Mythos, der sich auf die negativen Auswirkungen von Marktbeziehungen auf »private« Beziehungen bezieht – Zelizer, Markets.
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die Sieger »verkauften«.50 Tauschen als Prostitutionspraxis, davon handelte auch Marlene Dietrichs »Black Market Song« aus Billy Wilders in Berlin spielendem Film A Foreign Affair. »Chewing gum for kisses« offerierte die von Dietrich verkörperte Hauptdarstellerin und machte damit den Zusammenhang von illegalem Handel und Prostitution offensichtlich. Das Thema der Verbindung von Tausch oder Kauf und Sex war omnipräsent. Doch abseits der Frage, welche Rolle der Tausch und seine Verquickung mit Formen der (Gelegenheits-) Prostitution für die prekäre Definition einer moralischen Ökonomie der Übergangszeit und den Umgang der Verlierer mit ihrer Niederlage und den Siegern spielte, zeigt sich, dass der illegale Warentausch und die Liebesleistungen der Berliner Schwarzhändlerinnen und -händler bereits während des Krieges eng miteinander verflochten waren. Und auch für die damit gegebenen Typen persönlicher sozialer Beziehungen galt, dass die ökonomische Praxis und der Charakter von multiplexen Relationen wechselseitig aufeinander einwirkten. (Liebes-) Partner tauschten ohnehin: Zärtlichkeiten und Zeichen der Zuneigung, die zuweilen die Gestalt von Gegenständen annahmen – Geschenke erhielten nicht nur die Freundschaft, sondern dienten auch in der Liebe als Beweismittel für Gefühle. Sie bildeten in der Regel – lange bevor die Ehe als besondere Form des Vertrages ins Spiel kam – einen wichtigen Teil jener komplexen sozialen Realität, die als Liebesbeziehung bezeichnet wurde. Denn insofern Liebe auf eine (längerfristige) Partnerschaft abzielte, beeinflussten Faktoren die Partnerwahl, die jenseits der Idee einer rein »romantischen Liebe« lagen: Ähnliche Lebenshintergründe, Status und Einkommen gehörten dazu.51 Geschenken und anderen Tauschvorgängen, die auf den durch Verzögerung bewirkten Schleier der Einseitigkeit von Geschenken verzichteten, kam damit eine zentrale Rolle im Liebes- und Partnerspiel zu: Sie dienten nicht nur als Gefühlsbelege, sondern informierten den umworbenen Partner zugleich über die ökonomische und soziale Potenz des Anbieters.52 Gerade unter den Bedingungen des verknappten Warenangebots konnten Partner beiderlei Geschlechts, die in der Lage waren, nachgefragte Produkte zu »besorgen«, ihren Marktwert steigern. Zwar spielten viele Motive bei der Partnerwahl eine Rolle, und die Versorgungskompetenz war sicherlich nur eines unter mehreren. Aber in Verbindung mit unklaren Familiensituationen, Versorgungsunsicherheit und der Unge50 Vgl. Nieden, Fraternisierung. 51 »Der Heiratsmarkt«, hält Merith Niehuss mit Blick auf das 19. Jahrhundert fest, »zumal des Bürgertums, war (…) von materiellem Denken geprägt; es zählte der ›Marktwert‹ des zukünftigen Ehepartners«. Auch im hier untersuchten Zeitraum folgten Partnerwahlen Strukturmustern, die Liebesheiraten nicht ausschlossen, aber Grenzen vorgaben. Allgemein ließ sich vor allem eine »starke Neigung zur Heirat innerhalb derselben sozialen Schicht« beobachten. Vgl. dies., S. 302f. Sowie: Borscheid, S. 112–134. 52 Vgl. zur Verschleierung des Tausches durch zeitliche Verzögerung Bourdieu.
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wissheit über die eigene Zukunft konnte dieser Aspekt durchaus den Ausschlag geben. Dabei hatten sich die Rahmenbedingungen während des Krieges entscheidend verändert. Denn die Rekrutierung einer wachsenden Zahl von Männern für den Kriegsdienst führte zu einem erheblichen Frauenüberschuss in Berlin. Mithin machte sich das zeittypische Phänomen der Verknappung nicht nur im Bereich der Konsumwaren bemerkbar, sondern betraf auch den Heirats- oder allgemeiner den Partnerschaftsmarkt. Neben die Mangelwaren wie Fleisch, Fett oder »Spinnstoffwaren« trat die Mangelware »Mann«. Das bereitete außer den nachfragenden weiblichen Marktteilnehmerinnen auch den staatlichen Stellen erhebliche Sorgen, da sie um eine erfolgreiche Umsetzung der NS-Familienpolitik fürchteten. Die Abwesenheit der Männer erschwerte Partnerschaften und musste deshalb unweigerlich zu sinkenden Geburtenraten führen.53 Das aber widersprach den Plänen der NS-Führung, die auf Kinderreichtum als Grundstein ihrer expansiven und rassenideologischen Umgestaltung des Reiches und ganz Europas setzte. Die offiziellen Bemühungen, rassisch erwünschte heterosexuelle Partnerschaften zu fördern und damit der »sexual segregation« (Heineman) während des Krieges entgegen zu wirken, fanden ihren Ausdruck im staatlich organisierten Briefverkehr und dem Sponsoring von entsprechenden Kennenlern-Veranstaltungen, blieben aber ziemlich erfolglos. Der weit überwiegende Teil von sexuellen Kontaktanbahnungen fand außerhalb staatlicher Aufsicht statt.54 Dieser Befund wird durch den Blick auf den Schwarzmarkt als Kontaktbörse ergänzt. Versteht man die staatliche Familienpolitik als Marktintervention und die Versuche der Partnerschaftsstiftung als offiziellen Markt, dann kann auch in diesem Zusammenhang der Schwarzmarkt als »alternative« – und zudem wesentlich erfolgreichere – alltägliche »Infrastruktur« verstanden werden. Denn beträchtliche Teile des Berliner Schwarzhandels fungierten zugleich als ein Markt für Partnerschaften. In rund 20% aller Schwarzhandels-Fälle des hier ausgewerteten Samples finden sich Hinweise darauf, dass sexuelle und Tausch-Beziehungen eng miteinander verwoben waren. Der Tausch von Waren und der Tausch von Liebes- oder Fürsorgeleistungen aller Art standen in einem engen Zusammenhang.55 Diese Verschränkung fand auf zwei Ebenen statt: Zum einen bildete der Schwarzhandel als gesellige soziale Praxis die ideale Grundlage für das Kennenlernen potentieller (Liebes-) Partner. Ob alleinstehend, verheiratet oder verwitwet – der Schwarzmarkt brachte als ein Markt, der auf Nähe auf baute, Frauen und Männer unter den Vorzeichen, manchmal 53 Heineman, Difference, S. 46. 54 Ebd. 55 Dadurch wird Heinemans Befund in Frage gestellt, Frauen seien nicht »worried enough« und eher zögerlich gewesen, sich auf neue Partnerschaften einzulassen (ebd., S. 50), den sie aus den Misserfolgen der staatlichen Bemühungen abliest.
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auch unter dem Vorwand des Warentausches zusammen und fungierte damit als ein wichtiger Raum alltäglicher (sexueller) Interaktion.56 Dabei war es unerheblich, ob sich die Tauschpartner vorher bereits kannten. In jedem Fall folgte der Tauschablauf einer Logik des sozialen Austauschs, die vom Ansprechen, über die Prüfung des Gegenübers bis zur Transaktion jener Abfolge von Situationen entsprach, die auch den Kennenlernvorgang von Liebespaaren auszeichnete. Das Beispiel des Teilnehmers Wiggers aus dem Rebbien-Netzwerk, der als Makler gleich mit einer ganzen Reihe von Frauen Tauschgeschäfte tätigte, sich mit ihnen regelmäßig in Cafés oder bei ihnen zu Hause traf, verdeutlicht – unabhängig davon, ob die Bezeichnung »freundschaftlicher Verkehr« aus der Akten-Sprache jeweils auch sexuelle Handlungen implizierte oder nicht – die durch den Handel eröffneten Kontaktchancen.57 Zudem deckten sich die Orte, waren die beiden Märkte auch in räumlicher Hinsicht eng miteinander verschränkt. Restaurants und Kneipen, mit die wichtigsten Räume des klandestinen Gewerbes, dienten als Kontakt-Räume für beide Tauschgruppen. Und häufig tauschten die Paare beides: Waren und menschliche Nähe. Damit ist die zweite Ebene der Verschränkung genannt. Denn sowenig sich die beiden Märkte in räumlicher Hinsicht strikt voneinander trennen ließen, so unklar blieb oftmals die Trennlinie zwischen materiellen und sozialen oder körperlichen Tauschäquivalenten. Wo hörte zum Beispiel das »Schenken« als freundliche Geste oder als Teil der Paarbindungsstrategie auf, wo fing das »Aushalten« eines Partners an? Schwarzhandelswaren konnten im Extremfall sowohl als Zahlung eines Freiers an eine Prostituierte gesehen oder aber auch als Geschenk interpretiert werden, wie das Beispiel eines Fischhändlers zeigt, der in seiner Vernehmung ausführte: »In der Zentralmarkthalle wurde mir bekannt, dass sich im Hause Alexanderstraße 42 bei einer Frau Bienert ein Absteigequartier mit schönen Mädchen befindet. Auch ich bin wiederholt dort gewesen, um mich mit einer gewissen Pia in geschlechtlichem Verkehr einzulassen. Nach der ersten Zusammenkunft (…) erhielt sie RM 10,– von mir. In ca. 5 weiteren Fällen beschenkte ich die Pia mit Fisch (…). Es können insgesamt 6 kg Fische gewesen sein, die sich die Bienert und Pia teilten.«58 Offensichtlich fiel es dem Bordellbesucher leichter, den Tausch von Waren gegen Sex als »Geschenk« zu deklarieren, während Geldbeträge eindeutig dem – gesellschaftlich nicht goutierten – Kauf von Liebesleistungen zugerechnet werden mussten. Die Tauschkultur verwischte damit eindeutige Zuordnun56 Heterosexuelle Tauschpartnerschaften bildeten den Regelfall. Vgl. aber LAB A Rep 358-02 89841, S. 21ff. als Beispiel für homosexuelle Tauschnetzwerke. 57 Die Wendung »freundschaftlicher Verkehr« deutete in der Regel auf sexuelle Kontakte. Vgl. ebd. 58 LAB A Rep. 358-02 80384, Bl. 3.
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gen. Den Schwarzmarkt als Markt von Liebespartnerschaften zu beschreiben, bedeutet deshalb, eine ganze Bandbreite von unterschiedlichen Transaktionen, von Deutungen dieser Transaktionen und von damit begründeten Beziehungen zu unterscheiden. Dabei gehörten die Komplexe »Versorgung« und »Partnerschaft« traditionell eng zusammen. Ein Beispiel, das die Veränderungen deutlich vor Augen führt, welche mit den kriegsbedingten Allokationsverschiebungen und den unterschiedlichen Verknappungen einher gingen, bildet der Fall von Elisabeth Hanke und Edgar von Vahl. Die beiden hatten sich im Januar 1940 in einer Gastwirtschaft kennengelernt, wo Hanke mit ihren Arbeitskolleginnen nach Feierabend einige Stunden verbrachte und von Vahl Stammgast war.59 Abgesehen von den emotionalen Aspekten, die aufgrund des vorhandenen Materials nur andeutungsweise erkennbar werden und deshalb hier keine Berücksichtigung finden, bildete das Tauschgeschäft, das Hanke und von Vahl eingingen, den klassischen Fall eines Handels mit knappen Gütern. Hanke hatte als Angestellte in der Kartenstelle 12 in Charlottenburg Zugang zu den begehrten Lebensmittelmarken. Wie sie gegenüber der Polizei – nicht ohne Stolz – berichtete, hatte sie bei der Entscheidung darüber, ob Nachzügler, die aus welchen Gründen auch immer ihre Karten nicht in der vorgesehenen Frist abgeholt hatten, ihr Kontingent nachträglich ausgehändigt bekamen oder nicht, ein Wort mitzureden: »Ob eine Sache in Ordnung ging oder nicht, war mehr oder weniger Fingerspitzengefühl. Wenn ich den Wunsch eines Volksgenossen auf Aushändigung von Karten ablehnen wollte, dann musste ich zum Leiter gehen und dessen Entscheidung einholen. Bewilligen aber konnte ich allein.« 60 Bei etlichen Gelegenheiten unterschlug sie in der Folge nicht abgeholte Kontingente und wurde so zu einer interessanten Bekanntschaft für andere Schwarzhändler: »Eines Abends im November nach Dienstschluß sass ich im Löwenbräu in der Tauentzienstrasse. Es gesellte sich ein Herr zu mir (…). Wir kamen ins Gespräch und er fragte mich, wo ich tätig sei. Ich erzählte ihm, dass ich auf einer Kartenstelle wäre. Im weiteren Verlauf der Unterhaltung liess der Herr mich wissen, dass er Kaffee loswerden wollte, den er aus Frankreich bekommen hätte, und dass er in der Lage sei, mir Stoff zu besorgen. Ich brauchte nötig Stoff für einen Mantel. Er sagte mit ausdrücklichen Worten, wir könnten zusammen ein Geschäft machen«.61 Doch im Fall ihres Tauschpartners von Vahl waren die Dinge offensichtlich komplizierter. Hatte sie mit dem Herrn aus dem »Löwenbräu« bloß Waren getauscht, kamen bei der Bekanntschaft mit von Vahl Gefühle ins Spiel. Für Elisabeth Hanke bildete er das begehrte knappe Gut: den männlichen Lebens59 LAB A Rep. 358-02, 80004, Bl. 44. 60 Ebd., Bl. 42. 61 Ebd.
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partner. Ihre erste Ehe, gab sie bei einer Vernehmung an, sei 1931 geschieden und sie als schuldiger Teil erkannt worden. Seit 1933 lebte sie deshalb zusammen mit ihrer Mutter und der Schwester in deren Wohnung in Zehlendorf.62 Offensichtlich gab es für sie unter diesen Umständen gute Gründe, von Vahl an sich binden zu wollen. Er hatte die Kadettenschule besucht, sich als Landwirt und Bankbuchhalter betätigt, war geschieden und arbeitete seit 1939 als Referent beim Reichsluftfahrtministerium. Nach eigenen Angaben verdiente er dort 500,– RM pro Monat.63 Damit erfüllte er – wie gesagt neben nicht nachprüf baren Kriterien wie emotionalen Qualitäten oder Attraktivität des Äußeren – zwei wichtige Bedingungen: Er besaß einen gewissen Status und war zudem präsent.64 Darüber hinaus schien er auch für andere Frauen attraktiv zu sein. Hanke kam in ihren Vernehmungen mehrmals darauf zu sprechen, dass ihr Tausch- und Liebespartner von anderen Frauen angehimmelt wurde, was seinen Wert in ihren Augen nur steigern konnte.65 Doch da dieser darum zu wissen schien, stieg der Preis. Nicht nur, dass Hanke ihn mehrfach aushielt, ihn zu Abendessen einlud und auch auf einer gemeinsamen Reise für den Unterhalt sorgte, indem sie »bezugsbeschränkte Waren der öffentlichen Verteilung entzog«.66 Zu den Tauschäquivalenten, die Hanke zu zahlen bereit gewesen war, gehörte auch Sex. Obwohl es ihr unangenehm gewesen sei, habe sie sich von Vahl zu »unanständigen« Sexpraktiken verleiten lassen, gab sie in ihrer Vernehmung zu Protokoll. Überdies war sie bereit, falsche Angeben sowohl ihm als auch später der Polizei gegenüber zu machen. Ihm suggerierte sie eigenen Wohlstand (trotz seiner Einkünfte hatte von Vahl offensichtlich Schulden abzuzahlen); der Polizei gegenüber deckte sie solange es ging seine Beteiligung an den illegalen Transaktionen und ließ sich erst nach einem Gespräch mit ihrem Anwalt davon überzeugen, eine vollständigere Aussage über ihre Tauschgeschäfte zu machen. Sie gab später zu, nachdem von Vahl aus dem Vernehmungszimmer geführt worden war, dass sie ihm falsche Angaben über ihre Besitzverhältnisse gemacht hatte, weil sie sich habe denken können, »dass [er] eine Frau mit Geld lieber bei sich sehen würde, als eine Frau ohne Geld«.67 Von Vahls Leistungen hatten unverbindlicheren Charakter. Die gemeinsam verbrachte Zeit und die angebliche Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft und die Heirat waren seine Tauschäquivalente: »Während der Reise hat mir von Vahl in Aussicht gestellt, mich zu heiraten, bezw. mit mir zusammen ein 4-Zimmer-Wohnung zu nehmen, in der ich ihm den Haushalt führen sollte, ich sollte aber weiter arbeiten gehen. Ich habe, offen gesagt, das Angebot nicht 62 63 64 65 66 67
Ebd., Bl. 41. Ebd., Urteilsabschrift, S. 3. Vgl. Heineman, Difference, S. 55. LAB A Rep 358-02, 80004, Bl. 45. Ebd., Bl. 44ff. Ebd., Bl. 81.
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ernst genommen.« 68 Doch obwohl sie angeblich das Angebot nicht ernst genommen hatte, schien Hanke auf die gemeinsame Zukunft wenigstens weiter zu hoffen. Ihre Versuche, von Vahl festzulegen, waren allerdings gescheitert. Die Besichtigung einer Wohnung, die sie beide gemeinsam hätten beziehen können, wollte er lediglich unverbindlich mitgemacht haben. »Mitgehangen, mitgefangen« hatte er – Hanke zufolge – nach bekannt werden der Ermittlungstätigkeit zu ihr gesagt, um ihr zu verstehen zu geben, dass er zu ihr stünde. Erst als Hanke bei der polizeilichen Gegenüberstellung merkte, dass ihr Tausch- und Liebespartner sich nicht daran zu halten schien, änderte sie ihre Taktik und belastete ihn schwer, indem sie seine Beteiligungen an den illegalen Tauschgeschäften offen legte. Doch nicht immer führte der durch die ermittelnden Behörden ausgeübte Verfolgungsdruck dazu, dass Tauschpaare sich gegenseitig beschuldigten und die Partnerschaft auf diese Weise ein Ende fand. Eine besondere Ausprägung der Veränderungen, welche die klandestinen Abläufe des illegalen Handels mit sich brachten, bildeten Fälle, in denen die Tauschbeziehung durch die Ermittlungen der Polizei an Intensität gewannen. Dabei kreierten sexuelle Interessen, die Konsumwünsche der Beteiligten und die konspirative Gemeinschaft der Tausch-Partner ein eigentümliches Gemisch: Die fiktional auf bereitete und romantisch verklärte Rollenkonstellation eines Liebespaares auf der Flucht vor den »Häschern der Staatsgewalt« nahm hier konkrete Gestalt an. Wie in der Geschichte von Bonnie & Clyde, den später berühmt gewordenen Ikonen dieses Genres, das vorher bereits in vielfältigen Varianten der Geschichte vom Gauner und seinem Mädchen Verbreitung gefunden hatte, erlebten sich eine ganze Reihe von Liebespaaren als besondere Einheit. Die Geheimhaltung als Kernvoraussetzung des illegalen Handels wirkte als zusätzliche Stimulans der erotischen Beziehung. Wie »partners in crime« konnten sich die Schwarzhändler und -händlerinnen als außerordentlich eng verbundene (Liebes-) Einheit erfahren und damit die für Paarbindungen konstitutive Abgrenzungsleistung gegenüber der (in diesem Fall als bedrohlich wahrgenommenen) Umwelt intensivieren. Sie radikalisierten das für Liebesbeziehungen charakteristische Singularitätsgefühl – »wir, und nur wir, gehören zusammen« – indem sie ihre konspirativen Techniken weiter entwickelten, gemeinsame Fluchtpläne schmiedeten und gemeinsam untertauchten.69 Einen besonders markanten Fall dieser »partners in crime«-Beziehungen bildete die Tausch-, Liebes- und Fluchtpartnerschaft von Erich Bruselat und 68 Ebd., Bl. 45. 69 Allerdings bestätigt diese Ausnahmesituation damit – in umgekehrter Form – letztlich doch die Beobachtung Luhmanns, dass Zweierbeziehungen »aus ihren eigenen Bedingungen heraus (…) ohne soziale Vernetzung selten und problematisch« sind. Denn die demonstrative, emphatische Loslösung aus der sozialen Vernetzung verweist gerade auf die fundamentale Bindung an die Umwelt. Vgl. Luhmann, Liebe, S. 39.
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Margot Engel.70 Obwohl (oder vielleicht: weil?) Bruselat Engel bei ihrem Kennenlernen suspekt vorkam und sie eigens eine Privatdetektei damit beauftragt hatte, Nachforschungen über seinen – wie sich herausstellte recht schillernden – Lebenswandel anzustellen, ließ sie sich auf eine Beziehung mit ihm ein.71 In einer Vernehmung durch die Kriminalpolizei gab sie später an, dem ehemaligen Geschäftsführer des Vergnügungslokals »Lichtburg« durch die »sexuellen Kontakte (…) hörig geworden« zu sein.72 Ob das stimmte oder lediglich eine Schutzbehauptung war, ließ sich nicht klären, wohl aber, dass Margot Engel die Schwarzhandelskompetenzen von Bruselat in Anspruch nahm. Zwar gab sie bei ihrer Vernehmung am 4. November 1944 zu Protokoll: »Ich bestreite, dass durch das Verhältnis zu B. meine Verwandten und auch ich irgendwelche wirtschaftlichen Vorteile hatten«.73 Doch Bruselat konnte glaubhaft darlegen, dass sein »teurer Lebensunterhalt« nicht zuletzt mit den exquisiten Geschenken zu tun hatte, die er für seine Geliebte im Schwarzhandel erstand.74 Als der umtriebige Schwarzhändler, der u.a. mehrfach per Flugzeug Waren aus Ostpreußen nach Berlin transportiert hatte, untertauchen musste, begann die Geschichte eines Paares auf der Flucht.75 Engel deckte ihren Geliebten, täuschte die ermittelnden Polizeibeamten und traf sich heimlich mit Bruselat und einem vermeintlichen Passfälscher, um diesem die notwendigen Fotos für gefälschte Papiere zu übergeben. Das Ziel der beiden war die Schweiz.76 Die in diesem Fall besonders romanhaften Züge des Geschehens sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass der damit beschriebene Effekt der »partners in crime«-Situation auch in weniger spektakulären Beziehungsdramen eine Rolle spielte. 3. Die Praxis des Tauschens stieß an zwei gesellschaftlich definierte Tabus: Liebe war der vorherrschenden Meinung nach ein Vorgang, dem – zumindest in der wahrhaft romantischen Ausprägung – keine materiellen Leistungen offen zugrunde liegen durften, es sei denn, dass die Regeln gesellschaftlicher (Partnerschafts- und Heirats-) Übereinkünfte gewahrt blieben. Der ausgesprochen differenzierte Kanon, der die Unterscheidung zwischen akzeptablen und nicht-akzeptablen Verhaltensweisen festschrieb, verwies auf die große Bedeutung, die entsprechenden Konventionen zumindest in bürgerlichen Kreisen zukamen. Und zweitens: Für innerfamiliale Geschäfte galten nicht die Regeln des freien Marktes. »Hausgemeinschaft«, hatte Max Weber formuliert, bedeute »ökonomisch und persönlich (…): Solidarität nach außen und kommunistische Gebrauchs- und Verbrauchsgemeinschaft der Alltagsgüter (…) nach innen in 70 71 72 73 74 75 76
A Rep. 358-02 80692. Ebd., Bericht der »Privat-Auskunftei u. Detektei Herbert K. Krause« vom 12.5.1943. Ebd., Bl. 55. Ebd., Bl. 20. Ebd., Bl. 54. Vgl. wegen der Ostpreußen-Geschäfte ebd., Bl. 101ff.; wegen des »Untertauchens« Bl. 18. Ebd., Bl. 43f.
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ungebrochener Einheit auf der Basis einer strengen Pietätsbeziehung«.77 Zwar gelte das zunächst nur für »reine« und »primitive« Formen, aber »der hauskommunistische Grundsatz, dass nicht ›abgerechnet‹ wird«, lebte, wie er feststellte, »noch heute als wesentlichste Eigentümlichkeit der Hausgemeinschaft unserer ›Familie‹ fort«.78 Und im Zusammenhang mit der auf »Gefälligkeiten« ausgelegten »Nachbarschaftshilfe«, die den Tauschcharakter gegenseitiger Leistungen diskursiv verschleierte, erinnerte er an den wirkmächtigen Grundsatz: »Unter Brüdern feilscht man nicht«.79 Deshalb ergänzte der Tausch die Beziehungen zwischen Familienmitgliedern nicht bloß um eine weitere Variante sozialer Interaktion. Vielmehr stellte er das Konzept von »Familie« grundsätzlich in Frage: War eine Familie nicht gerade dadurch gekennzeichnet, dass ökonomische Leistungen nicht thematisiert wurden, oder wenn, dann nur in konventionellen Formen wie der elterlichen Fürsorge? Konnte man also mit Familienmitgliedern, konnte man mit einem Bruder, einer Schwester oder dem Onkel tauschen, d.h. kalkulieren, Forderungen geltend machen oder sogar auf einem Vorteil bestehen? Die medial popularisierte Figur des »Schiebers« ging als Einzelkämpfer seinen dunklen Geschäften nach und war als Familienmensch schlechterdings nicht vorstellbar. Das führte aus Sicht der »normalen« und »anständigen« Berlinerinnen und Berliner seine »Asozialität« nur umso eindrücklicher vor Augen. Im Gegensatz zur dieser Idealfiktion waren Schwarzhändler häufig nicht nur Familienmenschen, sondern nutzten ihre Familien auch als Helfer im illegalen Geschäft und tauschten sogar mit ihnen. Die populäre Rede über »den Schieber« verschwieg damit den vorhandenen familialen Kontext von Schwarzhandelsnetzwerken. Die in der staatlich kontrollierten Presse veröffentlichten Urteile gegen »Kriegswirtschaftsverbrecher« und die dabei formulierten Schilderungen von Schwarzhandelsgeschäfte brandmarkten dagegen gerade die »Verfehlungen« von Schwarzhändlern, die im Familienverbund oder miteinander gehandelt hatten, und spielten in solchen Fällen auf den vermeintlich »asozialen« Charakter der Familien an. Diese Sprachregelung unterstützte die auf stereotype Täter-Typen setzende NS-Diskurspolitik, die darauf abzielte, angebliche »Gemeinschaftsfremde« zu stigmatisieren und so über abschreckende moralische Beschreibungen eine negativ verstärkte Kohäsion der »Volksgemeinschaft« zu bewirken.80 Doch das hielt eine ganze Reihe von Teilnehmerinnen und Teilnehmern nicht davon ab, ihre Tauschpartner auch unter Familienmitgliedern zu suchen. Zum Teil waren diese lediglich Kontaktvermittler. Zu diesem Zweck erinner77 78 79 80
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Weber, S. 214. Ebd. Ebd., S. 216. Vgl. Gellately, Social Outsiders, und ders., Hingeschaut.
ten sich Schwarzhändler an bis dahin kaum gepflegte Familienbande und entferntere Verwandte: Die Aussicht auf begehrte Waren oder lukrative Geschäfte führte zur Wiederbelebung nicht gepflegter familialer Beziehungen.81 Gleichwohl blieb die Konvention wirkmächtig: Wo Familienmitglieder miteinander tauschten, wurden diese Geschäfte überwiegend nicht als Tausch wahrgenommen oder zumindest nicht als solcher bezeichnet: »Es trifft zu, dass ich einmal von meiner Schwester 100 Zigaretten bekommen habe«, gab etwa die 40jährige Martha Tomczak in ihrer Vernehmung auf dem Kriminalkommissariat Schöneberg zu Protokoll. Diese Zigaretten habe sie aber nicht bezahlt, sondern ihrer Schwester »dafür auf andere Art wieder einen Gefallen getan«.82 Diese Angabe bestätigte die Schwester in einer späteren Vernehmung. Eine Bezahlung habe sie für die Zigaretten »nicht erhalten und auch nicht gefordert«.83 Das, was Schwarzhändlerinnen und Schwarzhändler, wenn sie mit Fremden handelten, durchaus als Tauschgeschäfte bezeichneten, wurde bei Familienmitgliedern in der Regel als »Gefälligkeit« deklariert. Unter Schwestern, könnte man die von Weber zitierte Regel abwandeln, tauschte man nicht und forderte auch keine Gegenleistung. Doch das galt nicht für alle Marktteilnehmer. Diverse Schwarzhändlerinnen und Schwarzhändler ließen solche Konventionen hinter sich. Der Motorenschlosser Arthur Wissel etwa, der bei den Awia-Flugwerken in Prag beschäftigt war, schilderte den Gang seiner Geschäfte wie folgt: »Im September 1944 brachte ich anlässlich meiner Besuche in Berlin von Prag aus einzelne Flaschen Alkohol mit. (…) Anfang Oktober 1944 brachte [ein Lieferant] mir auf einmal 45 Flaschen Alkohol verschiedener Marken. Ich zahlte an ihn pro Flasche 110,- RM. Diese 45 Flaschen brachte ich im Dezember 1944 (…) nach Berlin zu meiner Frau. (…) Meine Frau hat an mich pro Flasche 130 bis 140,– RM abgeführt«. Auch wenn Wissel nicht vom »Tauschen« oder »Verkaufen« sprach, war doch klar, dass er erwartete, von seiner Frau einen höheren Preis als den Einkaufspreis zurückzubekommen. Nicht selten wirkten Geschäfte, in die Ehepartner eingebunden wurden, als eine überaus konfliktfördernde Praxis, die den Zusammenhalt der Beziehung auf die Probe stellte. Das gleiche galt allerdings auch für Beziehungen, in denen sich nur einer der beiden Partner auf Tauschgeschäfte einließ, während der andere dieses »Treiben« ablehnte. Die illegalen Geschäfte separierten die Partner und führten zu massiven Spannungen. Solche Konflikte eskalierten regelmäßig dann, wenn den Beteiligten die Konsequenzen bei den Vernehmungen durch die Polizei vor Augen geführt wurden.84 81 82 83 84
Vgl. etwa LAB A Rep. 358-02 79555. LAB A Rep 358-02 89841, Bl. 20. Ebd., Bl. 41. Vgl. als weiteres Beispiel für das bestätigte Tabu ebd. 80384, Bl. 8. Vgl. etwa ebd. 89842, Bl 17f., sowie 80067, Bl. 34.
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4. Zu den regelmäßigen Kontakten des Alltags gehörten jene zwischen Arbeitskolleginnen und -kollegen. Deshalb verwundert es nicht, dass das Tauschen am Arbeitsplatz eine weit verbreitete Praxis der Berliner Tauschkultur bildete. Unter Kollegen kannte man sich, hatte Freundschaften geschlossen oder eine Einheit innerhalb eines größeren Kollegenkreises gebildet und damit notwendige Schritte der Vertrautheits- und Vertrauensbildung bereits gemacht. Einen bemerkenswerten Wandel sozialer Beziehungen am Arbeitsplatz erfuhren allerdings weniger die Verbindungen unter gleichrangigen Kollegen als vielmehr die Relationen zwischen Untergebenen und Vorgesetzten, die zu Tauschpartnern wurden. Die asymmetrische Machtverteilung in diesen definierten Rollenbeziehungen konnten durch die Tauschpraktiken nachhaltig verändert werden und sich zum Teil sogar in ihr Gegenteil verkehren, wenn Vorgesetzte zu Abhängigen ihrer in den Arbeitsbeziehungen machtloseren Partner wurden. Der Schlosser Emil Gierschner etwa machte im Auftrag und mit Genehmigung seines Vorgesetzten eine Geschäftsreise nach Ostrowo, um dort für sich und die Belegschaft seines Betriebes Altkleider gegen Lebensmittel zu tauschen: »In Berlin packte ich 1 Anzug von mir und von anderen Arbeitskameraden bzw. Bekannte (!) 4 weitere Anzüge, 2 Paar Stiefel und Herrenunterwäsche zusammen. (…) Wenn ich vorher von Arbeitskameraden sprach, so bin ich in der Lage folgende Namen anzugeben: 1.) mein Betriebsleiter Schumann – der mir 1 Paar Stiefel mitgab (…). Die durch Umtausch vorstehender Kleidungsstücke gehamsterten Waren sollten unter die Vorgenannten zur Verteilung kommen.«85 Der Vorgesetzte Schumann besorgte überdies die notwendigen Reisegenehmigungen und gewährte seinem Mitarbeiter Urlaub, damit dieser die Tauschgeschäfte durchführen konnte. Die Beteiligung an den Tauschgeschäften setzte an die Stelle einer eindeutigen Machtverteilung zwischen Untergebenem und Vorgesetztem eine kompliziertere, den Schwächeren aufwertende Beziehung. Vor allem für die auf der Autorität des Höhergestellten ruhenden Relationen in Arbeitsverhältnissen, hatten solche Verschiebungen nachhaltige Konsequenzen. Im Extremfall konnten sie zur völligen Auflösung bestehender Macht- und Ordnungsstrukturen führen, wie im Fall einer Lagerverwaltung beim »Generalbauinspekteur der Reichsstadt Berlin«. Die gesamte Leitung des Lagers hatte, wie die äußerst umfangreichen Ermittlungen ergaben, in denen auch vom Einschalten des »Reichsführers-SS« die Rede war, in beträchtlichem Umfang Unterschlagungen und »Schiebergeschäfte« getätigt und gebilligt. In der Folge lösten sich die Autoritätsstrukturen nahezu vollständig auf. Untergebene sagten ihren Vorgesetzten »auf den Kopf zu«, dass sie »Schieber« seien, und kamen – aus Angst vor Anzeigen – ungeschoren davon.86 85 Ebd. 80006, Bl. 26f. 86 LAB A Rep 358-02 80354-55.
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Solche Veränderungen des Sozialen in der Berliner Tauschkultur hatten neben dem Inter-Persönlichen Aspekt auch eine Dimension, die größere soziale Gefüge und Stadträume einschloss. Die Wandlungsprozesse, denen der Berliner Alltag im Krieg unterlag, bedeuteten auch Neuerungen oder markante Fortführungen in der Nutzung wie in der Bewertung ganzer Stadträume. Der Schwarzhandel legte sich in der Wahrnehmung der Zeitgenossen wie eine Folie über die Stadt. Sowohl die Teilnehmer als auch Beamte der Strafverfolgungsbehörden und bloße Beobachter beteiligten sich an jenem Prozess eines city making, der die Stadt der Schieber praktisch und rhetorisch zum Leben erweckte.
2 Tauschräume und Bewegungsmuster Schon bevor der illegale Handel im Lauf des Jahres 1944 die Straßen und Plätze Berlins besiedelte, fingen Schwarzhändlerinnen und -händler damit an, einzelne öffentliche Plätze für ihre Geschäfte zu nutzen. Insbesondere banden sie bekannte Treffpunkte des städtischen Alltags in ihre Tauschpraxis mit ein. Elisabeth Hanke und ihr Tauschpartner Strassburger aus dem Gesundbrunnennetzwerk nutzten zum Beispiel einen Blumenstand am Wittenbergplatz als Treffpunkt wie als Tauschort.87 Doch bedurfte es nicht in jedem Fall einer Verabredung zum Tausch. Der Fahrstuhlführer Otto Stock gab am 13. Februar 1943 bei seiner Vernehmung durch die Kriminalpolizei an, ihm sei bekannt gewesen, dass »in der Linienstraße, am Rosentaler Platz, ein reger Tausch- und Schleichhandel betrieben« würde. Kurz vor Weihnachten sei er deshalb dorthin gegangen, um sich »diesen Betrieb« in der Spandauer Vorstadt »mal anzusehen«. Und tatsächlich: »Die Ecke Linien- Kleine Rosentaler Straße wurde von einer dichten Menschenmenge bevölkert«.88 Wie die Aussage eines anderen Zeugen verdeutlichte, tat man allerdings selbst im September 1944 noch gut daran, solche Tauschhandlungen unter freiem Himmel nicht überall am hellen Tag vorzunehmen. Denn die Übergabe von 1 200 Zigaretten fand in seinem Fall auf dem Hohenstauffenplatz statt, wo ihm die Ware zwar »auf dem öffentlichen Platz« aber erst »in den Abendstunden ausgehändigt« worden war.89 Einen anderen öffentlichen Tauschraum boten die nach wie vor stattfindenden Wochenmärkte, etwa jener in der Winsstraße im Bezirk Prenzlauer Berg. Hier konnte man im Markttreiben Waren gegeneinander tauschen, ohne dass es weiter auffiel. Lose Bekannte wie Frau Kehler und Frau Menge, die sich lediglich gegenseitig zu grüßen pflegten, aber sonst keinen »freundschaftlichen Umgang« 87 Ebd. 80004, Bl. 9. 88 Ebd. 87593, Bl. 35. 89 Ebd. 80139, Bl. 47.
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miteinander hatten, trafen sich hier im Januar 1945, kamen ins Gespräch – und schließlich bot die eine der anderen Fleisch zum Tausch an.90 Wie die Entstehungsgeschichte des Tauschnetzwerkes von Martha Rebbien verdeutlichte, fanden die Tauschaktionen der Kriegszeit auf unterschiedlichen Öffentlichkeits-Ebenen statt.91 Der Tausch unter freiem Himmel bildete dabei die Ausnahme. Zu den bevorzugten Räumen gehörten geschlossene Begegnungs-Orte. Zum Teil waren sie selber gewerblich definiert. Der illegale Handel fand in solchen Fällen an Orten statt, die eigentlich legalen Tauschleistungen wie etwa Bestellungen in einer Gastwirtschaft vorbehalten bleiben sollten. Das erleichterte die Umwidmung zu Treffpunkten des illegalen Handels. Denn diese Orte waren als Räume städtischer Geselligkeit codiert. Sowohl das Zustandekommen von Begegnungen als auch der Konsum gehörten zu ihren angestammten Funktionen. Einerseits wurde damit eine situative Anknüpfung möglich. Andererseits veränderten die neuen Praktiken etablierte Raumkonzepte. Der Handel verwandelte den Charakter bestehender städtischer Räume. Er führt dazu, dass Raumbewertungen neu ausgehandelt und auch nicht am Schwarzmarkt teilnehmende Nutzer mit den Folgen der illegalen Praxis konfrontiert wurden.92 Zudem reorganisierten sich auf dem Schwarzmarkt Nahund Fernverhältnisse, wurden bestehende Vorstellungen von Privatheit und Öffentlichkeit in Frage gestellt, waren Bewegungen im Viertel-, Stadt- und Fernbereich notwendig geworden, die nur zum Teil an bestehende Muster anknüpften. Warum bevorzugten die Berliner Schwarzhändlerinnen bestimmte Räume? Wie wirkte sich der illegale Handel auf die städtischen, regionalen und darüber hinaus gehenden Bewegungsabläufe seiner Teilnehmer aus? Welche Handelsrouten und Warenströme verbanden einzelne Marktgebiete miteinander? Wie veränderten oder bestätigten solche Verschiebungen in der Raumnutzung die Wahrnehmung von Orten? Und schließlich: Was bedeuteten die für 90 Ebd., Bl. 13. 91 Vgl. Gerhards u. Neidhardt. 92 Gerade öffentliche Räume einer limitierten »meeting public« wurden von den Polizeibehörden misstrauisch beobachtet. Vgl. den interessanten Hinweis auf einen Laden als »Ersatzöffentlichkeit« im Urteil gegen einen später wegen Kriegswirtschaftsvergehen verurteilten Angeklagten, der sich im vorliegenden Fall wegen »heimtückischer Äußerungen« verantworten musste. Die Richter hielten in ihrer Begründung fest: »Er hat seine Äußerungen zwar nicht öffentlich, aber doch vor anderen Personen gebraucht, von denen er wusste, dass sie mit diesen Äußerungen nicht übereinstimmen. Er musste deshalb damit rechnen, dass diese Personen die Äußerungen in die Öffentlichkeit bringen werden (Ersatzöffentlichkeit)«. LAB A Rep. 358-02 89673, Bl. 45. Gerade Geschäfte und Restaurants wurden damit zu verdächtigen »Ersatzöffentlichkeiten«, die nicht nur die Aufmerksamkeit der Verfolgungsbehörden fanden, sondern auch zum Gegenstand verallgemeinernder Zuschreibungen wurden, was bestimmte Berufsgruppen wie Kellner oder Einzelhändler vorab als »Schieber« diskreditierte. Vgl. Zierenberg, Berlin. Von Saldern, Öffentlichkeiten, S. 451–456, hat vorgeschlagen in diesem Zusammenhang von »informellen Öffentlichkeiten« zu sprechen, was allerdings – wie sie selber einräumt – eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Öffentlichkeitssituationen einschließt.
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den Handel notwendigen Mobilitätsvoraussetzungen für die Chancen unterschiedlicher Personengruppen, erfolgreich am Handel teilnehmen und von seinen Allokationsleistungen profitieren zu können? Ausgehend von der Beobachtung, dass sich ein großer Teil des Schwarzhandels in engen Raumeinheiten abspielte, rücken Viertelstrukturen und die einzelnen Tauschräume wie Wohnungen und Gaststätten in den Blickpunkt. Doch darüber hinaus spielten auch Bewegungsmuster eine Rolle, die sich über den gesamten Stadtraum, das Umland und ganz Europa erstreckten. Die Verschiebungen in der alltäglichen Raumnutzung waren vor allem das Produkt von Geheimhaltungstechniken. Der Tausch bildete zugleich ein Medium der Auseinandersetzung zwischen Schwarzhändlerinnen und -händlern auf der einen und den Strafverfolgungsbehörden auf der anderen Seite über die Nutzung von Stadträumen auf unterschiedlichen Öffentlichkeitsebenen.
2.1 Viertelstrukturen und Begegnungsräume Das Tauschnetzwerk von Martha Rebbien gibt einige Anhaltspunkte für die räumliche Organisation des Schwarzhandels zu Kriegszeiten. Am auffälligsten ist jener Praxisraum, den das jeweilige Stadtviertel oder der »Kiez« absteckten. Für ihre Geschäfte – das »Besorgen« von Nachschubware, die Organisation von Abnehmern und den Warenumschlag selber – verließ Rebbien ihren »Kiez« so gut wie nie. Karte 1 gibt einen Überblick über die Verteilung der Wohnungen der beteiligten Händlerinnen und Händler und die aufgesuchten Tauschorte im Rebbien-Netzwerk. Einige wenige Straßen rund um den Bahnhof Gesundbrunnen bildeten den Kernbereich. Die Tauschpraxis der Händlerinnen und Händler fand damit in unmittelbarer Nähe eines der wichtigsten »Nadelöhre« des nicht straßengebundenen Berliner Verkehrs statt. Bereits Erich Gieses Studie über das »zukünftige Schnellbahnnetz für Groß Berlin« aus dem Jahr 1919 hatte festgestellt, dass der nördlich des Stadtzentrums gelegene Bahnhof beim Verkehrsauf kommen den Spitzenplatz unter den Ringbahnhöfen einnahm. Über 9,5 Millionen Personen waren hier bereits 1912/13 abgefahren. Knapp die Hälfte davon entfiel auf den Vorortverkehr Richtung Norden. Und noch 1936 lag der Gesundbrunnen bei den verkauften Fahrkarten deutlich vor einem der bekanntesten und zentralsten Bahnhöfe Berlins, dem Alexanderplatz.93 Dieses hohe Verkehrsauf kommen hing vor allem damit zusammen, dass die Station einen ausgesprochenen »Arbeiterbahnhof« darstellte, der die Beförderung großer Belegschaftsteile der Berliner Industriebetriebe ermöglichte.94 Der Handel zwischen Martha Rebbi93 Statistisches Landesamt der Stadt Berlin, S. 222. 94 Giese, S. 71ff. Vgl. Lindenberger, Straßenpolitik, S. 43–45.
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en und ihren Tauschpartnerinnen und -partnern spielte sich überwiegend auf einer Fläche von nicht einmal 1 km2 rund um diesen Verkehrsknoten ab. Zum Kernbereich gehörten die Wohnungen, Kneipen und Cafés in der Bad- und der Bellermann-, der Swinemünder und der Brunnenstraße sowie diejenigen in der Prinzenallee.
Karte 1: Wohn- und Tauschräume des Rebbien-Netzwerkes (Wohnung Rebbien = schwarz-weiß; alle übrigen Teilnehmer-Wohnungen = weiß; Tauschräume (Kneipen, Cafés, Warteräume etc.) = schwarz; transregionale Verbindungen = Balken). Die einzelnen Positionierungen weichen z.T. aus Gründen der Übersichtlichkeit von der exakten Angabe ab, die aus den Hausnummern ersichtlich wird. (Planausschnitt: Nachdruck des Pharus-Plans (Mittel-Ausgabe) Berlin von 1944, Berlin 2004; Ortsangaben: LAB A Rep. 358-02 89667, Bl. 2, 3, 24, 26, 30, 31, 33, 35, 40, 41, 42, 57, 58, 63, 64).
Der Tausch der Netzwerkteilnehmer fand damit in einem durch die Laufweite definierten Alltagsraum statt. Wiederholt schilderte Rebbien den Polizeibeamten ihre Fußmärsche durch die Straßen des Stadtviertels.95 Für diesen Handel 95 Vgl. etwa die Vernehmung vom 18.11.1944, LAB A Rep. 358-02 89667, Bl. 45ff. Auch nach Kriegsende bildeten Fußmärsche das Gros der alltäglichen Schwarzmarktbewegungen. Das hing aber vor allem mit der zerstörten Verkehrsinfrastruktur und dem Bedürfnis nach einer –
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im Kiez gab es mehrere Gründe. Räumliche Nähe war ein Faktor gewesen, der die Entstehung der Tauschbeziehungen ermöglicht hatte. So bedurfte der Informationsaustausch über Waren und Preise, Angebote und mögliche Interessenten einer relativen räumlichen Dichte. Den meisten Schwarzhändlern fehlte ein Telefonanschluß. Lediglich Erna Kuschy hatte einen, Anna Auricht konnte immerhin bei ihren Vermietern erreicht werden.96 Der Postweg dagegen war umständlich, brachte eine zeitliche Verzögerung und Mehrkosten. Ein großer Teil der Händler war deshalb darauf angewiesen, seine Tauschpartner aufzusuchen, um Waren überbringen bzw. abholen zu können.97 Hinzu kam, dass die »pre-existing noncommercial ties between byers and sellers« als Vertrautheitsgrundlage der Berliner Tauschgesellschaft räumliche Nähe – wie hier bei Nachbarn oder Viertelbekanntschaften – voraussetzten.98 Der Ausbau von überschaubaren Tauschräumen war damit eine logische Folge. Und schließlich bot der Gesundbrunnenkiez mit seinem dichten Angebot von Kneipen und Cafés eine gute Infrastruktur, in die einige Teilnehmer ohnehin integriert waren, weil sie als Kellner oder Kellnerin arbeiteten. Der Handel im Rebbien-Netzwerk fügte sich auf diese Weise eng in bestehende alltägliche Beziehungen zu Personen und Räumen ein. Das war eine Bedingung für die relativ lange erfolgreiche Tauschpraxis. Dieser Nahbereich des Berliner Schwarzmarkts bildete die Basis des illegalen alltäglichen Handels. In beinahe jedem der hier untersuchten Fälle tauchte das Stadtviertel als Tauschraum auf.99 Das ist nicht verwunderlich. Denn bereits im 19. Jahrhundert hatten sich Beziehungen unter Nachbarn häufig zugleich zu Klientelbeziehungen entwickelt. Dazu gehörte es, dass etwa »der Ladenbesitzer eines Viertels, der Kredit gab, (…) in ein solches nachbarschaftliches System einbezogen« worden war.100 Auch »Anlässe zur informellen gegenseitigen Hilfe unter Gleichen« waren Katalysatoren, die Nachbarschaft nach der »Bunkerzeit« – notwendig gewordenen Wiederaneignung der Stadt zusammen. Vgl. unten Kap. III. 96 LAB A Rep. 358-02 89667, Bl. 10 und unpaginiert, Vernehmung durch die Geheime Staatspolizei vom 12.12.1944. Das Berliner Fernsprechnetz blieb lange Zeit für viele Bewohner im Alltag relativ unbedeutend. Die Zahl der »Sprechstellen« im Stadtgebiet hatte sich zwar zwischen 1925 und 1930 von rund 234 395 auf 524 627 mehr als verdoppelt. Dabei handelte es sich aber vor allem um Behördenapparate. Nachdem diese Infrastruktur geschaffen war, entwickelte sich der weitere Ausbau eher schleppend. Zwischen 1930 und 1940 kamen etwas mehr als 100 000 neue Stellen hinzu. Die Zahl der Ortsgespräche stieg innerhalb desselben Zeitraums um gerade einmal 10%. Öffentliche Anschlüsse blieben selten. Hatte ihre Zahl 1930 5 586 Einheiten betragen, waren es 10 Jahre später lediglich 30 Stück mehr. Statistisches Landesamt der Stadt Berlin, S. 243. 97 Vgl. etwa LAB A Rep. 358-02 89667, Bl. 57, 70. 98 Zelizer, Meaning. 99 Vgl. als eine der wenigen Ausnahmen LAB A Rep. 358-02 79783. Insbesondere scheinen langfristig erfolgreiche, stabile Netzwerkbeziehungen auf eine räumlich begründete Vertrautheit der Teilnehmer angewiesen gewesen zu sein. 100 Gestrich, S. 643.
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als einen umfassenden Raum von »Soziabilität« begründen halfen.101 In diesem Raum konnten die Händlerinnen und Händler ihre Tauschpraxis mit geringem Aufwand relativ sicher betreiben. Durch die häufigen Bewegungen von einer Wohnung zur anderen, durch das Aufsuchen der gleichen Gaststätten, Kneipen und des Bahnhofs verwoben die Teilnehmer ihre illegale Praxis mit dem bekannten Alltag, wurden die unterschiedlichen Orte des Stadtviertels selber zu einem Netzwerk von Schwarzhandelsräumen zusammengefügt. Erst durch solche Wiederholungen konnten einzelne Stadtviertel zu Schwarzhandelszentren werden. Die Gegend um den Ringbahnhof Gesundbrunnen gehörte dazu, und das auch deshalb weil Händlerinnen und Händler wie Martha Rebbien hier ihren Geschäften nachgingen und mithalfen, zum Beispiel die Bahnhofsgaststätte zu einem Treffpunkt des illegalen Handels werden zu lassen. Damit wurde zugleich ein über das Viertel hinausweisender Raumbezug begründet. Denn Rebbiens Kiez war schließlich für Pendler attraktiv geworden, die zuvor zwar bereits den Verkehrsknoten als innerstädtischen Verteilerpunkt, jetzt aber mit dem Schwarzhandel auch eine neue alternative Infrastruktur nutzen konnten. Der Kiezhandel hatte seinen Einzugsbereich vergrößert und eröffnete damit wiederum den lokalen Händlern verbesserte Absatzchancen. Auch Schwarzhändler, die bislang gar nicht im Viertel präsent gewesen waren, konnten sich auf der Suche nach Tauschpartnern sofort auf den Weg in den Berliner Norden machen, um etwa, wie ein Zeuge zu Protokoll gab, »in der Umgebung des Stettiner Bahnhofs oder des Bahnhofs Gesundbrunnen in Gastwirtschaften oder dergl. Zigaretten (…) zu kaufen«.102 Damit bot der Tauschraum beiden Seiten Standortvorteile. Der lokale Kiez-Markt dehnte sich aus und konnte dabei von der verkehrsgünstigen Lage profitieren, die es Pendlern erlaubte, schnell und problemlos vor Ort zu erscheinen oder ihre Geschäfte in ohnehin bestehende Pendlerrouten auf dem Weg zur Arbeit oder auf dem Nachhauseweg zu erledigen. Doch der illegale Handel ergänzte das Stadtviertel nicht nur um eine neue Infrastruktur, sondern veränderte auch den Charakter einzelner Begegnungsräume im Viertel. Dazu gehörten die Wohnungen der Teilnehmer. Als »zentrale Orte des privaten Lebens« (Andreas Gestrich) hatten Wohnungen eine eminent wichtige Bedeutung für das Leben in der Stadt. Handlungen in der Wohnung waren weitgehend Privatsache, waren anderen Personen und der öffentlichen Rechtsordnung bis zu einem gewissen Grad entzogen. Der Schutz der Privatsphäre bildete ein Recht, das allerdings de facto durch gesetzliche Bestimmungen, Normen und nicht zuletzt die nachbarschaftlich begründete soziale Kontrolle eingeschränkt war. Andererseits war es vor allem das im 19. Jahrhundert geprägte Idealbild der bürgerlichen Familie, das im Wohnraum 101 Ebd., S. 644. 102 LAB A Rep. 358-02 80139, Bl. 8. Vgl. auch ebd., 89659, Bl. 18.
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einen wichtigen Ausdruck fand und ein Mindestmaß an Privatheit einforderte. Der Wohnraum galt als schützende wie als zu schützende Sphäre dieses Rückzugs aus der Öffentlichkeit.103 In einem langfristigen Prozess hatten sich bürgerliche Vorstellungen vom familiären Zusammenleben darüber hinaus auf die Gestaltung der Wohnungen selber ausgewirkt. Nicht nur galt der innerhäusliche Bereich als angestammter Raum für Frauen, sondern es etablierte sich auch eine innerhäusliche Verräumlichung der Geschlechtsunterschiede, die etwa den Küchenbereich vom »Gesellschaftsraum« trennte.104 Dieser Trend war Teil der bürgerlichen Kultur, strahlte jedoch auch in die Arbeiterschaft aus, wo ebenfalls eine Tendenz zur »Privatisierung des Familienlebens« zu beobachten war.105 Die Wohnung als »Etui des Privatmannes« (Walter Benjamin) entsprach einem schichtenübergreifenden »Abschließungsbedürfnis«.106 Zu wohnen bedeutete, »sich die Gewissheit des Beschütztseins real und symbolisch zu bewahren«;107 ein Bedürfnis, das besonders bei Verlusterfahrungen sichtbar werden konnte. Offensichtlich hatte der als Luftkriegsfachmann geltende südwestfälische Gauleiter Albert Hoffmann ein Gespür dafür. Denn bei entsprechenden Beratungen im August 1943 plädiert er aus psychologischen Gründen dagegen, Ausgebombte in Behelfsheim-Siedlungen unterzubringen, wie es der Leiter des Deutschen Wohnungshilfswerks, Ley, propagierte. Die – und sei es nur provisorische – Unterbringung zumindest in der Nähe des alten Wohnortes hielt er für besser, weil sie Irritationen unter den Ausgebombten vielleicht vermeiden konnte.108 Die Aufgabe der Wohnung bedeutete für viele Berlinerinnen und Berliner eine einschneidende Verlusterfahrung. Die »Entbehrung des vertrauten Innenraums« hatte bei den kriegsbedingten Wohnungsaufgaben eine »oft verzweifelte Suche nach einem neuen alten Darinnen« zur Folge und führte zu Versuchen, »ein provisorisch abgetrenntes Zuhause« wenigstens zu simulieren. Bedeutete der vertraute innere Auf bau der eigenen Wohnung doch Sicherheit und die Möglichkeit, »Abgrenzungen verschieden definierter Privatheit« klar zu strukturieren. So hatte zum Beispiel der Flur die Zone markieren können, in der darüber entschieden wurde, wer als Klient und wer als Gast anzusehen war. Der Verlust solcher stabiler Praxisräume war einer von mehreren »tiefe(n) Einschnitte(n) in die Ordnung des Alltags«. Das Fehlen einer Wohnung, »von Raum für Intimsphäre, von Platz überhaupt« sollte »das Leben von Millionen von Menschen« von nun an »bis weit in die fünfziger Jahre« prägen.109 103 104 105 106 107 108 109
Gestrich, S. 463. Ebd., S. 469. Ebd., S. 472. Selle, S. 13. Ebd., S. 21. Vgl. Blank, S. 419. Bessel, Leben, S. 252.
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Die Bedeutung von Wohnungen als städtischer Lebensraum hatte, wenn man die Zahl der in Berlin gebauten Wohnungen als Indikator nimmt, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kontinuierlich zugenommen. Vor allem in den Jahren zwischen 1929 und 1932 sowie 1937 und 1940 waren deutliche Zuwächse zu verzeichnen. Insgesamt wurden zwischen 1925 und 1944 $ 272 361 Wohnungen neu erstellt.110 Die Zahl der Wohnungen stieg von 1.210 602 im Jahr 1927 auf 1 551 356 im Jahr 1939. Ihren Höhepunkt erreichte diese Zunahme, als man am Jahresanfang 1943 1 562 641 Wohnungen zählte. Erst die Zerstörungen durch den Luftkrieg sorgten für einen Rückgang. Ende 1944 gab es nur noch 1 222 085 Einheiten.111 Allein 1943 wurden über 200 000 Wohnungen in Berlin wegen starker Zerstörungen unbewohnbar. Der weitaus größte Teil davon – rund die Hälfte – in der dicht bebauten »Kernstadt« (Mitte, Tiergarten, Wedding, Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Kreuzberg).112 Diese Neubauten waren zugleich Ausweis einer anhaltenden Wohnungsnot. Wenigstens in der Propaganda hielten die nationalsozialistischen Stadtplaner deshalb die Bemühungen zur Erhaltung und Sanierung der Berliner Arbeitermietskasernen hoch. Insbesondere ab 1934 wurden sie intensiviert, galt es aus Sicht der neuen Machthaber doch, diese »Bestandspolitik« nicht nur als »Mittel (zur) Produktion von Konsens« in den als »rot« verdächtigten Vierteln einzusetzen, sondern diese zwar arbeits- aber wenig kapitalintensiven Maßnahmen darüber hinaus auch als Beschäftigungsprogramm zu nutzen.113 Gleichwohl gelang es zu keiner Zeit, genügend Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Wohnungen blieben, verstärkt noch durch die kriegsbedingte Konzentration von Verwaltungsstellen in der Hauptstadt und den Zuzug von Apbeitskräften für die Rüstungswirtschaft, eine begehrte Mangelware.114 Doch das änderte natürlich nichts daran, dass sich gerade »die eigenen vier Wände« während des Krieges zu einem bevorzugten Terrain der Berliner Tauschkultur entwickeln sollten. Denn Wohnungen bildeten einen relativ privaten und damit schwer zu kontrollierenden Raum. Hier konnten Schwarzhändlerinnen und -händler einigermaßen ungestört mit ihren Tauschpartnern zusammentreffen, Waren prüfen, über Preise oder Gegenleistungen verhandeln und die Transaktionen selber zum Abschluss bringen. Zunächst dienten sie als Treffpunkte, in denen man ungestört über Schwarzhandelsgeschäfte 110 Statistisches Landesamt der Stadt Berlin, S. 145. 111 Ebd., S. 137. 112 Ebd., S. 139. 113 Bodenschatz, S. 75. Sowie: SOPADE, 1938, S. 1109. 114 Large, S. 313. Die in der zweiten »Neubau-Welle« zwischen 1937 und 1940 errichten Bauten wiesen zum Teil erhebliche Mängel auf. Immer wieder kam es zu Klagen über die in der Eile mangelhaft konzipierten Gebäude. Zudem waren die Mieten hoch. Für eine 1-Zimmer-VorortWohnung zahlte man 1938 75,–, für Neubau-Wohnungen auf einem geräumten Laubengelände in Lichtenberg immer noch 40,– RM monatlich. Vgl. SOPADE, 1938, S. 1126f.
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sprechen konnte. Das musste nicht von vorne herein die Absicht der Beteiligten gewesen sein. Häufig ergab es sich einfach, dass im Gespräch über die allgemeine Versorgungslage der eine oder die andere zu erkennen gab, über einen entsprechenden Kontakt zu einem Lieferanten zu verfügen. Mitunter geschah dies auch gegen den eigenen Willen, wie die Aussage einer vernommenen Schwarzhändlerin belegte: »Eines Sonntags hörte die Angeklagte Drosdowska in ihrem Bett, wie Anita Schwarz und die Dubtschak sich über (…) Geschäfte unterhielten. Sie wurde auf diese Weise Mitwisserin der straf baren Handlungen. Sie erhielt nun auch von der Schwarz einen Bezugsschein.«115 Der Wohnungsraum bildete mithin zuweilen auch den Ort einer ungewollten Nähe, die das Schwarzhandelsgeschäft gefährden konnte. Die Beteiligung von Mitwissern am Geschäft bildete eine Möglichkeit, deren Stillschweigen zu erkaufen. Doch in der Regel dienten Wohnungen als Anbahnungsraum für von beiden Seiten intendierte Tauschaktionen. Die nationalsozialistischen Bemühungen, auch die Privatsphäre der »Volksgenossen« unter Kontrolle zu bringen, erschwerten den ungestörten Ablauf von Schwarzhandelsaktivitäten. Eine ganze Reihe von staatlichen Maßnahmen und neuen alltäglichen Verkehrsformen unterminierte den privaten Charakter von Begegnungen sowohl in der Viertelöffentlichkeit als auch in Wohnungen und versuchte, den »absoluten Machtanspruch der NSDAP im Wohnbereich« durchzusetzen.116 Selbst die einfache interpersonale Kommunikation unter Nachbarn wurde mit der Einführung des Hitlergrußes zu einem Teil jener Überwachungskultur, die das Alltagsleben zunehmend bestimmte, die Mehrheit integrierte, Minderheiten aber umso klarer erkennbar machte, ausgrenzte und die Verfolgung vereinfachte.117 Die Bestrafung von Vergehen gegen die »Rundfunkverordnung«, die Ernennung von Blockwarten und Brandschutzbeauftragten und die sich ausweitende Sozialkontrolle unter Nachbarn führten zu einer größeren Durchlässigkeit der Privatsphäre.118 Denunziationen richteten sich neben Familienangehörigen und Verwandten vor allem gegen Nachbarn. Wie Robert Gellately feststellte, passten »die Deutschen (…) nicht nur auf die ›Verbrechen‹ und Abweichungen sozialer Außenseiter und ethnischer Minderheiten auf, sie belauerten sich auch gegenseitig«.119 Diese Einbindung der Berliner Wohnbevölkerung in die NS-Herrschaftspraxis erfolgte teilweise durch die bereitwillige Anpassung an ein System gegenseitiger Überwa115 LAB A Rep. 358-02 8933, Abschrift des Urteils (3. Januar 1945), Bl. 5. 116 Von Saldern, Häuserleben, S. 252. Vgl. auch die Arbeiten – etwa zur Bedeutung des »Blockwarts« – von Schmiechen-Ackermann. 117 Dazu konnte auch gehören, dass man – wegen eines misstrauischen Blockwarts – HitlerPorträts in der Wohnung auf hängte, um so Verdächtigungen zu entgehen. Vgl. SOPADE, 1940, S. 16. 118 Vgl. Gellately, Hingeschaut, S. 256ff. 119 Ebd., S. 261.
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chung, das auch in harmlos erscheinenden Einrichtungen wie Hilfsdiensten oder Haushaltskursen zum Ausdruck kam. Die Durchdringung des städtischen Wohnbereichs funktionierte damit in einer Art Zangenbewegung von »oben« und »unten«. Staatliche Überwachung und die Bereitschaft zur Denunziation markierten die Enden einer Skala von Praktiken, die den Wohnbereich zu einem nicht ungefährlichen Feld für den illegalen Handel werden ließen.120 Gleichwohl verwies gerade die hohe Zahl an Denunziationen auf die Bedeutung, die der Schwarzhandel in Nachbarschaftsbeziehungen und im Wohnbereich spielte; zumal die Dunkelziffer hoch blieb.121 Der Versuch, die Wohnräume der »Volksgenossen« unter staatliche Kontrolle zu bringen, war zu keiner Zeit vollständig erfolgreich. Der Schwarzhandel bildete eine weit verbreitete Praxis, die darauf angewiesen war, ein Mindestmaß von Privatheit herzustellen. Damit beförderte er eine Bewegung, sich der öffentlichen Kontrolle in Zeiten einer zum Teil ungewollten Gemeinschaftserfahrung (wie der »Hausund Bunkergemeinschaft«) zu entziehen.122 Wer in seiner eigenen Wohnung tauschte, behielt sich das Recht auf Privatheit vor und bewahrte oder eroberte sich zugleich ein Stück eigener Raumnutzungssouveränität. Doch dieser Anspruch blieb permanent bedroht. Denn Nachbarschaft war einerseits zwar eine derjenigen Sozialbeziehungen, die ein großes Reservoir potenzieller Tauschpartner bereit stellte, sie gefährdete andererseits aber auch den illegalen Handel. Nachbarn beobachteten genau, welche Personen im Hause ein- und ausgingen und gewannen damit erste Anhaltspunkte für illegale Geschäfte, etwa wenn sie ungewöhnlich viele fremde Personen oder solche mit ungewöhnlichem Gepäck beobachten konnten. Die Aussage von Rebbiens Vermieterin Hanna Zabel belegte das eindrücklich.123 Schnell richtete sich die soziale Kontrolle in Nachbarschaften auf eventuelle »Schiebergeschäfte«, registrierte die »Hausgemeinschaft« misstrauisch, welche und wie viele Waren bei Geburtstagen in der Nachbarschaft »aufgefahren« wurden und wer vielleicht über besondere »Beziehungen« verfügte und diese auszunutzen versuchte. So hieß es in einem Bericht des Kriminalpolizeireviers 107 kurz vor Weihnachten 1944: »Vertraulich wurde dem hiesigen Kriminalbüro mitgeteilt, dass der (…) Paul-Heinz Brinkmann (…) schon monatelang keiner Arbeit nachgeht und sich von Schiebergeschäften ernährt. Diese Schieberware bringt er nach Mitteilung der Vertrauensperson in der Regel in der Nacht von Freitag zu Sonn120 Von Saldern, Häuserleben, S. 252. 121 Vgl. ebd. 122 Allerdings kam es auch zu Tauschgeschäften im Luftschutzbunker. Vgl. LAB A Rep. 358-02 80562, Bl. 15. Die geringe Anzahl der Belege deutet aber darauf hin, dass das zum Handel notwendige Vertrauen und die Privatheit in der »Bunkergemeinschaft« nicht in ausreichendem Maße herstellbar waren. Als zu groß wurde wahrscheinlich die Gefahr eingeschätzt, von »unsicheren Kantonisten« denunziert zu werden. 123 LAB A Rep. 358-02 89667, Bl. 46.
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abend in seine Wohnung, wo er dieselbe dann im Laufe der anderen Tage an Käufer, die ihn in seiner Wohnung aufsuchen, weiterverkauft«.124 Die Nutzung von Wohnungen als Tauschräume veränderte den Charakter etablierter Wohnkonzepte nachhaltig. Aus Räumen der Entspannung, Familiarität und Privatheit wurden – mindestens temporär – Geschäftsräume. Man empfing mehr oder weniger bekannte Tauschpartner, richtete sich einzelne Räume als Geschäfts-, andere als Lagerräume ein, legte Verstecke an oder versuchte, Tauschgeschäfte vor anderen Wohnungsmitbewohnern geheim zu halten. Die Reichsbahnbedienstete Anna Auricht gab in ihrer Vernehmung an, dass Martha Rebbien meistens »in ein anderes Zimmer« gegangen sei, wenn sie selber die Wohnung nicht verlassen habe, weil sie »mit den ganzen Sachen nichts zu tun haben wollte«.125 Schwarzhändler, die ihre Wohnungen regelmäßig als Tauschorte nutzten, passten ihre Privaträume deshalb den Bedürfnissen des illegalen Gewerbes an. So erinnerte sich ein Kunde: »Über die Leute, die bei G. in der Wohnung verkehrten, kann ich keine genaueren Angaben machen, wenn ich zu ihm kam, ließ er mir immer einen Separatzimmer hinein (sic) und fertigte mich dort ab. Ich habe selten die Besucher zu Gesicht bekommen.«126 Wohnungen dienten sowohl als Abgabestellen von Anbietern als auch als Lieferadressen. Interessenten wurden in die Wohnung des Anbieters bestellt, wo dann entweder die Verhandlung noch geführt oder lediglich die Übergabe abgewickelt werden musste.127 Ließen sich die Berliner Schwarzhändlerinnen und -händler darauf ein, ihre Wohnungen als Tauschräume zu nutzen, dann hoben sie damit jene unter »normalen« Umständen konstitutive Trennung zwischen öffentlichen städtischen Konsum- und Privaträumen auf, die zu einem der wichtigsten alltäglichen Raummarker urbanen Lebens gehörte. Die Haustür und der Flur als Schwellenbereiche des Wohnungsalltags wurden durchlässiger. Das gefährdete die Sekurität des Wohnraums, schuf Spannungen unter Familienmitgliedern oder Mitbewohnern und setzte deshalb einen gewissen Leidensdruck oder aber eine nicht unerhebliche Risikobereitschaft voraus.128 Nicht jeder war deshalb in der Lage, sich auf den Tausch in den eigenen vier Wänden einzulassen. Scheueren Naturen stand mit dem Gaststättenhandel eine Alternative offen. Doch auch der Handel in diesen Räumen einer begrenzten Begegnungsöffentlichkeit war nicht ungefährlich. Warum suchten überhaupt viele Berliner Schwarzhändlerinnen und -händler bevorzugt teilöffentliche Räume wie Kneipen, Cafes oder Restaurants auf, 124 125 126 127 128
Ebd. 79932, Bl. 1. Ebd. 89667, Bl. 12f. Ebd. 80099, Bl. 6. Vgl. z.B. Ebd. 79946, Bl. 13 Vgl. LAB A Rep. 358-02 89842, Bl. 17; ebd., 80067, Bl. 34.
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um ihre Geschäfte abzuwickeln? Dafür gab es eine ganze Reihe von Gründen. In ihrer Eigenschaft als Orte einer limitierten meeting public bildeten sie eine situativ nutzbare Plattform für mehrere Praktiken, die zum Schwarzhandel unbedingt dazu gehörten. Zunächst trafen sich hier Leute. Begegnungen zwischen untereinander bekannten oder unbekannten Tauschpartnern fanden damit an einem höchst unverdächtigen Ort statt: Wo, wenn nicht hier, konnte man – getarnt durch eine institutionalisierte Geselligkeit – den Beginn jeden Geschäftes, die Begegnung, wagen? Kamen die Tauschpartner regelmäßig, gehörten sie zu den Stammkunden, dann hatten sie zudem den Vorteil, sich auszukennen, mit den örtlichen Gegebenheiten, den Gewohnheiten des Personals und der Gäste vertraut zu sein. Für die Beamten des Berliner Gewerbeaußendienstes waren Lokalüberwachungen Routinearbeit. Das hatte zunächst nichts mit der Bekämpfung des Schwarzhandels zu tun, sondern fiel schlicht in ihren angestammten Aufgabenbereich, der auch die Kontrolle von Preisen, Schankkonzessionen, Auszeichnungsvorschriften und vieles mehr umfasste. Die Beobachtung der Schwarzmarktszene kam als zusätzliches Arbeitsfeld hinzu. Es erschwerte die Arbeit erheblich. Denn anders als etwa die Kontrolle von Preisauszeichnungen erforderte die Überwachung von Geschäften zwischen Kunden und Angestellten eines Lokals ganz andere Ermittlungstechniken. Dazu gehörte etwa das Einschleusen von V-Leuten in verdächtige »Kreise« und das Belauschen von Gesprächen zwischen den anwesenden Personen.129 Am 30. Dezember 1944 etwa begaben sich zwei Beamte auf eine »vertrauliche« Mitteilung hin in ein Schöneberger Lokal, um dort eine »unauffällige Beobachtung« des Personals vorzunehmen. In ihrem Bericht hielten sie hinterher fest, dass sich ein Kellner des Lokals nicht nur mit einem Gast »rege unterhalten«, sondern von diesem auch »etliche Zigaretten zugesteckt« bekommen habe. Festnahme und Durchsuchung erfolgten sofort.130 Solche Methoden waren aus Sicht der Polizei notwendig geworden, weil Gaststätten ein für den illegalen Handel günstiges Mittelding zwischen Klandestinität und Offenheit, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit bereit stellten. Einerseits boten sie als öffentliche Räume die Gelegenheit, eine prinzipiell unendliche Zahl potentieller Tauschpartner treffen zu können. Andererseits erlaubten die Größe der Räume und eine Binnenseparierung unterschiedlicher Kleingruppen auch eine gewisse Kontrolle über den jeweiligen Gesprächs- bzw. Tauschpartner. Ein Restaurant zu betreten und mit Leuten ins Gespräch zu kommen, war zunächst ein harmloser Vorgang, dem nichts Verdächtiges anhaftete. Solche Begegnungen konnten allerdings jederzeit und ohne dass das überhaupt umfassend zu kontrollieren gewesen wäre, in eine Tauschsituation umschlagen. 129 Vgl. etwa LAB A Rep. 358-02 79946, Bl. 30; ebd., 87908, Bl. 1. 130 LAB A Rep. 358-02 79946, Bl. 1.
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Aber auch die relativ überschaubare Öffentlichkeit von Gaststuben in Restaurants, Kneipen und Cafes reichte einigen Schwarzhändlern nicht aus. Statt ihre Geschäfte an den Tischen oder der Bar abzuwickeln, nutzten sie solche Räume nur für die Verhandlungen und zogen sich danach zur Warenübergabe zurück, wie aus der Notiz eines V-Mannes hervorging: »Am 12.10.44 gegen 20 Uhr konnte Unterzeichneter eine Person mit Aktentasche im Lokal Schirmer in der Linienstr. beobachten (…). Ich konnte beobachten, dass der Mann mit seiner Aktentasche mit anderen Personen mehrmals zur Toilette ging. Auf diese Art werden bekanntlich die Schleichgeschäfte abgeschlossen«.131 Und über den Tauschhandel von Kellnern und Gästen im »Hotel Bristol«, das direkt am Schöneberger Rathaus gelegen war, wusste ein Teilnehmer zu berichten, er habe am Tag seiner Festnahme seinem Tauschpartner dort »etwa 16 500 RM übergeben, die aus dem Verkauf« der Ware herrührten. »Die Übergabe des Geldes«, erinnerte er sich weiter, »erfolgte an der Toilettentür des Lokals«.132 Weniger vorsichtige Lokalhändler mussten sich nicht auf die Toilette zurückziehen, sondern konnten ihre Ware direkt im Gaststättenraum anbieten, verwahrten sie aber zum Beispiel in einer unauffälligen Tasche. So erinnerte sich eine Zeugin: »In den letzten 4 Wochen vor der Festnahme des S. habe ich gesehen, dass [er] mit einer Aktentasche das Lokal der Frau Lipp betrat und laufend Strümpfe verkaufte. Er erschien so stets gegen 21 Uhr«. Jeden Tag habe er auf diese Weise »den Inhalt von (…) einer Aktentasche Strümpfe verkauft«.133 Zu diesem Vorgang vernommen gestand der Verdächtigte, dass es »sich so langsam herumgesprochen« habe, dass er Strümpfe verkaufe. Lediglich den angeblichen Umfang seiner Geschäfte bestritt er.134 Kellner hatten es besonders leicht, ihre Waren an den Mann oder die Frau zu bringen. Da sich sowohl die Übergabetechnik als auch die Preise unter den Besuchern eines Lokals – insbesondere unter den Stammgästen – schnell herumsprachen, mussten sie lediglich darauf warten, dass sich ein Gast mit der »richtigen« Frage an sie wandte. So gab der Kellner eines Schöneberger Restaurants zu Protokoll: »Die betr. Gäste sind mir namentlich nicht bekannt, deren Wohnung kann ich ebenfalls nicht angeben. Der Verkauf dieser Zigaretten ging so vor sich, dass mich die betr. Personen nach Zigaretten fragten und ich diesen ohne einen Preis zu nennen, eine Schachtel auf den Tisch legte«. Die Geschäfte liefen ab, ohne dass langwierige Verhandlungen erforderlich gewesen wären. Denn die Kunden zahlten, ohne nach den Preisen zu fragen, einen fest stehenden Betrag, der sich offensichtlich herumgesprochen hatte.135 Insbesondere in Gegenden der Stadt, die über eine dichte Gaststätteninfrastruktur verfügten, bildeten sich regelrechte Tauschnetzwerke zwischen den 131 132 133 134 135
LAB A Rep. 358-02 80067, Bl. 1. Ebd., S. 28. Ebd., S. 62. Ebd., S. 63. LAB ARep358-02 79946, Bl. 5.
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einzelnen Lokalen heraus. Händler suchten hier mehrere Lokale hintereinander auf und gaben die in einem Lokal erworbenen Waren im nächsten direkt an andere Interessenten weiter. Die Partnerin eines auf diesem Weg offensichtlich erfolgreichen Händlers belastete ihren Kompagnon schwer. Den ermittelnden Polizisten erläuterte sie seine Geschäfte und nannte dabei die Namen mehrerer Gaststätten in der Spandauer Vorstadt. Das eine, die »Münze« in der Münzstraße, habe ihm dabei vor allem als Beschaffungsraum gedient, da er hier von »Holländern und Franzosen alles aufgekauft« und später in benachbarten Etablissements weiter veräußert habe.136 Solche Gegenden profitierten von einem Markt-Bewegungsmuster, das sowohl von kleinen Maklern als auch von Gelegenheitsteilnehmern genutzt wurde. Häufig machten diese Gruppen Schwarzhandelsgeschäfte auf die gleiche Weise, wie Stadtbewohner unter legalen Umständen ihre »Besorgungen« erledigten: Dazu fuhren sie gezielt zu zentral gelegenen Gaststätten, Restaurants oder Läden, von denen sie gehört hatten, dass diese als Schwarzhandelsorte bekannt waren. Manchmal hatten sie solche Orte zuvor schon einmal besucht, etwa wenn es sich um eine Kneipe handelte, deren Lage sie von einem »legalen« Aufenthalt bereits kannten. Hier mischten sich das Neue, die Teilnahme am illegalen Handel, und der Rückgriff auf eine immerhin schon vertraute Umgebung. Weil man zuvor schon einmal dort gewesen war, fiel es von vornherein leichter, diesen Ort aufzusuchen. Sollte es zu Komplikationen kommen, konnten sich innerstädtische Pendler hier sicherer fühlen. Diese Pendel-Markt-Räume deckten sich mit bekannten Geselligkeits-Zentren: die Kneipen und Läden der Spandauer Vorstadt rund um die Oranienburger Straße, am Alexanderplatz oder der Friedrichstraße, rund um das Kottbusser Tor oder die Restaurants und Cafés am Kurfürstendamm waren einige Beispiele.137 Für Gelegenheitsteilnehmer aus anderen Stadtgegenden boten sie den Vorteil, dass sie gerade nicht in der unmittelbaren Nähe ihrer Wohnung lagen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Schwarzhändler hier auf Nachbarn trafen, war damit gering. Gerade ungeübte Gelegenheitsteilnehmer wussten die damit gegebene Anonymität zu schätzen. Indem sie ein Lokal in solchen Gegenden aufsuchten, umgingen sie die nachbarschaftlich begründete soziale Kontrolle: einerseits eine geschickte Strategie, wenn man bedenkt, dass eine große Zahl von Ermittlungen der Polizei auf Beobachtungen und Anzeigen von Nachbarn zurückgingen. Dafür nahmen sie andererseits aber in Kauf, dass solche Kneipen und Restaurants in stärkerem Maße von den Kontrollen durch die Beamten des Gewerbeaußendienstes betroffen waren. Bei der Etablierung von Schwarzhandelszentren in der Stadt spielten entsprechende Informationen eine entscheidende Rolle. Auf die Frage an einen 136 LAB ARep358-02 80408, Bl. 27. 137 Vgl. als Beschreibung für den Alexanderplatz etwa LAB A Rep. 358-02 79813, Bl. 1.
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Händler, warum er auf den Gedanken gekommen sei, gerade die von ihm ausgewählten Lokale aufzusuchen, antwortete dieser: »Ich habe gehört, dass in diesen Lokalen Lebensmittel verkauft werden«. Die Beamten glaubten ihm offenbar nicht und hielten ihm vor, dass das unwahrscheinlich klinge, da ihn die unbekannten Partner ja gar nicht kannten. Der Beschuldigte blieb aber bei seinen Angaben: »Ich habe zu diesen Lokalen keine Verbindung gehabt und ich kann nur sagen, dass ich aufs Geratewohl dorthin gefahren bin«.138 Schwarzhandelspraktiken zogen auf diese Weise neue Interessenten nach, erweiterten den Einzugsbereich eines Schwarzhandelslokals und führten so zur Konzentration des Handels an bestimmten Orten.
2.2 Schwarzhandelszentren Um sich ein Bild von der räumlichen Verteilung des Berliner Schwarzhandels während der Kriegszeit machen zu können, kann ein Blick auf die Wohnorte der Angeklagten hilfreich sein (Diagramm 6). Denn da es sich bei den meisten Schwarzhandelsaktivitäten der Kriegszeit um lokale Vierteltauschnetzwerke handelte, gibt die Analyse der Wohngegenden der verhafteten Händlerinnen und Händler auch Hinweise auf die Handels-Zentren, auf Ballungsräume des illegalen Gewerbes. Der Bezirk Mitte nahm deutlich den Spitzenplatz unter den Berliner Schwarzhandelsgegenden ein. Mit einigem Abstand folgten Charlottenburg und Prenzlauer Berg. Das Mittelfeld bildeten Schöneberg und Kreuzberg, die in etwa gleich auf lagen, Wilmersdorf, der Wedding, Neukölln und Friedrichshain. Der Rest der nennenswerten Relationen verteilte sich demnach auf Lichterfelde, Lichtenberg und Friedenau, während sich der übrige Anteil von etwa 15% auf das verbleibende Stadtgebiet erstreckte. Insgesamt wies das Bild eine eindeutige Zentrumslastigkeit auf: Mehr als zwei Drittel aller angeklagten Berliner Schwarzhändler wohnten im oder in großer Nähe zum Stadtzentrum. Insbesondere die als Konsum- und Vergnügungsräume etablierten Stadtteile Mitte und Charlottenburg boten anscheinend attraktive Handelsplätze. Das ist insofern plausibel, als die beiden großen, nur durch den Tiergarten getrennten Kernbereiche des Schwarzhandels, sowohl zentral gelegen waren als auch mit ihren zahlreichen Konsumeinrichtungen eine ideale Ausgangsbasis für die klandestinen Tauschpraktiken auf der Ebene einer limitierten meeting public abgaben. Die Ballung dieser für den Schwarzmarkt wichtigen legalen Infrastruktur verdeutlichen einige Zahlen. Von den 10 128 Gast- und Schankwirtschaften, die 1938 eine »volle Konzession« zum Ausschank alkoholischer Getränke erhalten hatten, lag beinahe die Hälfte allein in der Berliner »Kernstadt«. Die Zahl dieser Schankwirtschaften 138 LAB ARep358-02 80407, Bl. 9.
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Diagramm 6: Wohnbezirke Berliner Schwarzhändler 1939–1945 (in Prozent) (Quelle: eigene Auswertung)
sank bis Ende März 1941 nur unwesentlich auf 9 809 Lokale, was an der Verteilung nichts änderte.139 Ein ähnliches Bild ergab sich bei der Verteilung der Hotels und Gasthöfe. Von den 18 685 1937 in ganz Berlin zur Verfügung stehenden Betten, offerierte Mitte alleine 9 612, 2 188 waren es immerhin noch in Charlottenburg. Knapp zwei Drittel entfielen also auf die Spitzenreiter in der Wohnbereichsstatistik. Die Zahl der Übernachtungen hatte sich zwischen 1932 und 1942 mehr als verdoppelt. Im dritten Kriegsjahr zählte man mit 1 990 333 »Übernachtungsfremden« einen neuen Rekord.140 Auch die Distribution des 139 Statistisches Landesamt der Stadt Berlin, S. 180f. 140 Ebd., S. 245. Zu den Profiteuren dieser Entwicklung gehörte zum Beispiel Aschinger. 1892 als Bierimbiss in der Leipziger Straße gestartet, hatte sich das Unternehmen in den 30er Jahren zu Europas größtem Hotel- und Restaurantkonzern aufgeschwungen. Von der Regierung wurde das Unternehmen durch Aufträge für die 1.-Mai-Feiern oder die Olympischen Spiele unterstützt. Die »Arisierung« des Konkurrenten Kempinski ermöglichte Aschinger 1937 eine Übernahme, die den eigenen Konzern konsolidierte. Da es dem Unternehmen mit Billigung der nationalsozialistischen Führung gelang, auch während des Krieges »markenfreie Stammessen« in seinen zentral gelegenen Restaurants und Imbissstuben anbieten zu können, dürfte Aschinger von
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Einzelhandels im Stadtgebiet wies ein eindeutiges Zentrum-Peripherie-Gefälle auf. Die Betriebszählung vom 17. Mai 1939 hatte ergeben, dass rund 48% aller Betriebe des Berliner Einzelhandels in der Kernstadt angesiedelt waren. Bei den Beschäftigten lag der Fall noch klarer: 55% hatten ihren Arbeitsplatz in einem der zentralen Stadtbezirke.141 Die Verlagerung kleiner und mittlerer Betriebe der Berliner Konsumgüter- und Bekleidungsindustrie trug zusätzlich dazu bei, dass sich der zuvor noch stärker industriell geprägte Innenstadtbereich »immer mehr zum Wohn- und Geschäftsviertel« entwickelte.142 Insgesamt folgte diese Agglomeration von Konsumräumen in einem Kernstadtbereich, der zunehmend auch den Westteil mit einschloss, einer Entwicklung, die professionellen Beobachtern bereits während der 20er Jahre aufgefallen war. Der Berliner Oberbürgermeister Gustav Böß hatte 1929 festgestellt, dass »der Entwicklungszug in Stadtinnern (…) von Osten nach Westen (geht). Die Hauptgeschäftsgebiete, die ursprünglich nur die Altstadt rechts der Spree umfassten, haben sich über die Linden, die Friedrichstraße, Leipziger und Wilhelmstraße auf den Potsdamer Platz und seine Umgebung ausgedehnt«. Diese Entwicklung hatte zum Teil mit der Errichtung des S-Bahn-Ringverkehrs zu tun, dessen Zentrum der Bahnhof Potsdamer Platz bildete.143 Folgerichtig sah Böß die weitere Entwicklung voraus: »Die Gegend am Zoologischen Garten wird ein – wenn auch besonders gearteter – Teil der City werden«.144 Das gewonnene Bild der Schwarzhandelszentren allerdings alleine mit der Zentralität ihrer Lage und den Anknüpfungsmöglichkeiten an den entstandenen Berliner Kernkonsumraum zu erklären, würde einen wichtigen Faktor außer Acht lassen. Denn die Bekämpfung des Handels richtete sich nicht alleine nach tatsächlich vorhandenen Tausch-Ballungsräumen, sondern war auch das Ergebnis einer Polizeipraxis, die nicht vorurteilsfrei und nach rein sachlichen Erwägungen vonstatten ging. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass es sich zu einem guten Teil um eine punktuelle Ermittlungstätigkeit des Gewerbeaußendienstes handelte, die mit anderen Stadtraumbewertungsmustern dazu beitrug, »Schwarzhandelshorte« zu konstruieren. Zwar verfügte der Gewerbeaußendienst über ein weit gespanntes Netz von »Stützpunkten«, und die einzelnen »Stellen-Führer« hatten dem Leiter ihrer Abteilung wöchentlich über Vorkommnisse in den betreffenden Abschnitten zu berichten. Doch spätestens seit der Einrichtung eines »Arbeitsgebiets ›Sonderkommando‹« im Juli den Rationierungen massiv profitiert haben. Vgl. Allen, S. 107ff. Jedenfalls verwundert es bei den Gästezahlen, die solche Angebote anlockten, nicht, dass sich Aschinger-Filialen auch zu prominenten Tauschräumen des Berliner Schwarzmarkts entwickelten. Vgl. LAB A Rep. 358-02 3016; 79976; 80099, Bl. 11; 80408, Bl. 28. 141 Ebd., S. 169. 142 Vgl. Engeli u. Ribbe, S. 982; sowie Zimm, S. 174. 143 Bodenschatz, S. 67. 144 Böß, S. 115.
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1942, das direkt dem Leiter der Abteilung unterstand und zu »Sonderkontrollen« im ganzen Stadtgebiet eingesetzt wurde, fand die Kriminalitätserfassung nicht mehr standortgebunden statt.145 Ermittelt wurde von jetzt an dort, wo die Polizeileitung Schwerpunkte ausgemacht zu haben glaubte und ein Vorgehen opportun erschien. Und selbst bei den lokal gebundenen Stützpunkten spielten subjektive Entscheidungen eine Rolle, die den Wert des gewonnen Verteilungsbildes für eine Einschätzung der realen Verteilung relativieren. Im Extremfall hing die Strafverfolgung sogar vom Engagement einzelner Beamter ab. So fahndeten einige besonders engagierte zum Beispiel noch in ihrer Freizeit nach »Kriegswirtschaftsverbrechern«.146 Darüber hinaus wirkten die einzelnen Bearbeiter auch an der Einstufung von Delikten mit, etwa wenn sie bei der Feststellung der Einkommensverhältnisse »die erzielten Umsätze und Gewinne der Jahre 1939–1942 (…) prozentual zum Ausdruck« brachten, weil sie »eine besonders strenge Bestrafung für erforderlich« hielten.147 Weit davon entfernt, rein sachbezogen und objektiv vorzugehen, fand die Arbeit des Gewerbeaußendienstes im Kontext von Deutungsvorgaben statt, die eine politische Bewertung des Schwarzhandels formulierten. Die in Polizeivermerken und Urteilsbegründungen regelmäßig auftauchende Wendung »es ist allgemein bekannt, dass in dieser Gegend Schleichhandelgeschäfte getätigt werden«, war Teil eines kollektiven Prozesses, in dem offizielle Stellen und »einfache« Stadtbewohner den Berliner Stadtraum moralisch aufteilten. Hier kam eine von der Ethnomethodologie als »Delikt produzierend« bezeichnete polizeiliche Praxis zum Tragen, die einzelne Stadträume als Schwerpunkte identifizierte und eine moralische Aufteilung antizipierte, bestätigte und auch verstärkte. Diese Aufmerksamkeitsmuster der alltäglichen Polizeiarbeit konnten zum Teil an eine lange Tradition anknüpfen, die bereits im Kaiserreich Stadträume »von oben« als politische Konfliktfelder definiert hatte.148 Die Definition solcher »Problembezirke« funktionierte in der Folge als Wahrnehmungsraster, das die praktischen Maßnahmen der Strafverfolger gegen Gaststätten-»Schieber« und Halbwelt in der Stadtmitte und dem »dekadenten Westen« lenken konnte. Solche über einen längeren Zeitraum geprägten Aufmerksamkeitsmuster knüpften einerseits an die Verfolgungspraktiken gegen »jüdische«, »asoziale« und »halbweltliche Elemente« etwa im Scheunenviertel oder in der Friedrichstraße an. Gerade das Scheunenviertel hatte bereits 145 LAB A Pr. Br. Rep. 030, Tit. 90 Nr. 7619/2, Der Leiter des Gad, Entwurf Sonderbefehl Juli 1942. 146 Vgl. zum Beispiel ebd., den Tagesbefehl Nr. 3 vom 20. Januar 1943, sowie Tagesbefehl Nr. 13 vom 6.7.1943. 147 LAB A Pr. Br. Rep. 030, Tit. 90 Nr. 7619/2, Der Leiter des Gad, Tagesbefehl Nr. 13 vom 6.7.1943. 148 Lindenberger, S. 105f. Zur Ethnomethodologie Sacks. Vgl. für die Aufteilung nach »Problembezirke« über bestimmte Bars des Prostituiertenmilieus Timm, S. 200.
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in den Jahren der Weimarer Republik einen schlechten, von antisemitischen Ressentiments geprägten Ruf.149 Berliner Stadtplanern galt es als »Schandfleck«, den sie aus dem Stadtbild zu verbannen suchten. Nach den Plänen von Hans Poelzig wurde Ende der zwanziger Jahre deshalb der Versuch unternommen, das Viertel durch Wohnungsneubauten für den »neuen Mittelstand« aufzuwerten. Das gelang vor allem wegen der Weltwirtschaftskrise nur teilweise. Die nationalsozialistische Stadtumgestaltung schien an dieser Stelle an die Weimarer Pläne anzuknüpfen, verstand die Sanierung des »Scheunenviertels« aber vor allem als bauliche Umsetzung einer rassisch-ideologischen Stadtraumpolitik oder – wie es Harald Bodenschatz formuliert hat – als »politische und soziale Säuberung und Neuinterpretation der Altstadt«.150 So hieß es in einer als »Heimatkunde« bezeichneten Schrift von 1938: »In wenigen Jahren (…) werden wir diese Straßenzüge kaum noch wiedererkennen; denn in diesem Stadtteil, wo einst der Jude herrschte und der Rotmord am schlimmsten wütete, wo Horst Wessel kämpfte, litt und starb (…), hier wird sich ein neuer Stadtteil mit sonnigen Wohnungen und mit nur deutschen Menschen als Bewohnern erheben«.151 In der Polizeiarbeit der dreißiger und vierziger Jahre konvergierten deshalb zum Teil zwei Interpretationsstränge, die das Viertel aus nicht deckungsgleichen, aber sich überlagernden Gründen als »Problembezirk« konstruierten. Andererseits konnte die Berliner Polizei auch Erfahrungen aus dem Vorgehen gegen die Drogenmärkte der zwanziger Jahre aktualisieren und damit sowohl andere Stadtteile als auch andere Akteure ins Zentrum ihrer Arbeit rücken.152 Der Kriminalkommissar a.D. Ernst Engelbrecht hatte 1924 in einer eher populär gehaltenen, auf die Sensationslust der Leser setzenden Publikation seine Razzien-Erfahrungen im Kampf gegen die Berliner »Unterwelt« zu Papier gebracht.153 In dem Kapitel »Kokain-Seuche in Berlin« machte er seine Leser nicht nur mit den gängigen Praktiken der Drogendealer vertraut (Zwischenhändler, Straßen- und Lokalhandel etc.), sondern wies auch auf die Schwerpunkte des Handels und des lasterhaften Konsums hin. Entsprechende Cafés befänden sich den »Kreisen ihrer Besucher« entsprechend »hauptsächlich im Westen und Süden Berlins«. Insbesondere nannte er eine »größere Anzahl (von) Kokainkeller(n), in denen jeder Eingeweihte sein Kokain« bekäme und die vor allem in Charlottenburg und rund um den »Zentraltreffpunkt der Homosexuellen«, den Wittenbergplatz, gelegen seien. Als einen weiteren Umschlagplatz nannte er den Bahnhof Zoo, wo sich in der sogenannten »Zoo149 Die Gegend des nördlichen Teils von Mitte war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Siedlungsgebiet Berliner Juden. Hier war 1866 die große Neue Synagoge in der Oranienburger Straße errichtet worden. 1925 wohnten 30 000 Juden in Mitte. Vgl. Richarz, S. 217. 150 Bodenschatz, S. 73. 151 Grüneberg. 152 Vgl. Large, S. 103–105. 153 Engelbrecht u. Heller.
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Diele«, dem Wartesaal der 1. und 2. Klasse, die »Hauptbörse« des »wilden Kokainhandels« befände. Zum Teil deckten sich in Engelbrechts Schilderungen sowohl die genannten Orte mit den Aufmerksamkeitsmustern der Berliner Schwarzmarktbekämpfer als auch die Bezeichnungen für Drogenszene und Schwarzhandel. So forderte er zum Beispiel ein »scharfes Einschreiten gegen (die) Kokainschieber«. Von »Grossisten« sprach er, die einem bürgerlichen Beruf nachgingen, der ihnen – etwa als Apotheker oder Arzt – erlaubte, »nebenberuflich mit Kokain (zu) wuchern«.154 Damit gab Engelbrecht nicht nur einen Einblick in den Erfahrungsraum der Polizeiarbeit, die den Stadtraum in kriminelle Einheiten aufteilte, sondern belegte zugleich auch eine semantische Nähe, die den Schwarzhandel eng mit den Drogenmärkten verknüpfte und die Protagonisten beider Szenen unter dem Schieberstereotyp subsumierte. Die Kontinuität dieser Kriminalitätsbeschreibungen ließ sich auch deshalb ohne größere Probleme bewahren, weil sie an den Schieberdiskurs anknüpfte, der in seiner anti-dekadenten Stoßrichtung die genannten Stadtviertel – wie den »besseren Westen« – verurteilte. Wenig verwunderlich ist darum andererseits das weitgehende Fehlen der gehoben »bürgerlichen« Stadtteile wie Dahlem, Zehlendorf oder Lichterfelde in der durch die offiziellen Quellen erkennbaren Schwarzhandelsverteilung. Zwar wurde auch hier – wie Einzelfälle belegen – schwarz gehandelt; aber die geringere Beobachtungsdichte der Polizei dürfte das Bild erheblich verzerrt haben. Liest man die Statistik auf diese Weise als Beleg für eine durch die Wahrnehmung der staatlichen Akteure geprägte Sicht auf Handels-Zentren, dann fällt auf, dass es sich vor allem um »Arbeitergegenden« und »jüdische Viertel« handelte: die Spandauer Vorstadt, das Scheunenviertel und der Berliner Norden einerseits sowie Orte der »Dekadenz« oder des »Luxus« in den westlichen Bezirken. Insbesondere Charlottenburg, Schöneberg und Wilmersdorf tauchten immer wieder im Zusammenhang mit einer Schwarzmarktetikettierung auf, die auf den verschwenderischen (und damit von Bürgerlichen wie Arbeitern abzulehnenden) »Luxus« in diesen Stadtteilen abhob.155 Solche Schmähungen, die das vermeintlich Bohèmehafte des »dekadenten Westens« anprangerten, konnte auf ein Label für die Boomtown der Jahrhundertwende zurückgreifen, das auch nach dem Zweiten Weltkrieg wirksam blieb. So stellte eine Glosse des Tagesspiegel noch im Jahr 1947 auf den vermeintlichen, historisch gewachsenen Unterschied zwischen Schöneberg und Charlottenburg ab: »Aufgeschlossen, wohlhabend und ehrgeizig, glaubte man [um 1870 in Schöneberg] auf dem 154 Ebd., S. 43–46. 155 Auch wenn keine genauen Angaben vorlagen, übernahm die Berliner Polizei aus »vertraulichen Mitteilungen« bereitwillig Hinweise darauf, dass Waren »nach dem Kurfürstendamm geliefert« wurden. Vgl. LAB A Rep. 358-02 89798, Bl. 1.
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Boden zukunftsträchtigen Bürgertums zu stehen (…). Kein allzu utopisches Selbstbewusstsein, wenn man bedenkt, dass zu jener Zeit Charlottenburg nicht eben viel näher lag, als Potsdam heute von der Stadtgrenze entfernt ist, während der Kurfürstendamm noch in Spekulantenträumen (sic!) ruhte.«156 Auch wenn hier die Bauspekulanten des ausgehenden 19. Jahrhunderts gemeint waren, verknüpfte sich damit doch auch die Vorstellung eines »neureichen«, unsoliden und damit von irgendwie anrüchigen Praktiken geprägten Stadtteils, dessen Bewohnern ihre »Parvenühaftigkeit« mehr als einmal vorgeworfen wurde und sich schließlich im Klischee verfestigte. Eine Ahnung davon schwang schon in Alfred Kerrs harmlosem Diktum vom Berliner Westen als »eleganter Kleinstadt« mit, »in welcher alle Leute wohnen, die etwas können, etwas sind und etwas haben und sich dreimal soviel einbilden, als sie können, sind und haben«.157 Zugleich reflektierte dieses Aufmerksamkeitsmuster jene durch sozialen Aufstieg ermöglichte Binnenwanderung, die immer mehr Berliner Juden seit den 1880er Jahren in den Westen der Stadt hatte ziehen lassen. Bereits 1910 lebten hier 40% aller Berliner Juden. Die 1912 in der Fasanenstraße fertig gestellte Synagoge machte diesen Prozess des »Ankommens« der Juden im bürgerlichen Berliner Westen im Stadtbild deutlich sichtbar. Wilmersdorf stellte 1925 mit 13% den höchsten Anteil jüdischer Einwohner. Einzelne Gegenden wie das Hansaviertel in Tiergarten und die Gegend rund um den Bayerischen Platz in Schöneberg hatten sich zudem zu regelrechten Ballungsräumen des jüdischen Berliner Lebens entwickelt.158 Damit waren zwei Pole der moralischen Stadtbewertung für die Kriegszeit entscheidend: einerseits der in der Tradition Berliner Polizeiarbeit wurzelnde »Kampf« gegen »Asoziale«, zu denen eben auch die »Scharen der kleinen Schieber« in der Spandauer Vorstadt, Prenzlauer Berg, dem Wedding oder in Teilen Kreuzbergs und Neukölln gerechnet wurden; und andererseits die Verurteilung der »eleganten Café-Besucher« des »besseren Westens«, die entweder als »gedankenlose Verschwender« galten oder in die Kategorie des gerissenen Schieber-Parvenüs zu passen schienen. Diese Aufteilung führte teilweise ältere Deutungsmuster der zwanziger Jahre fort und konnte in beiden Fällen antisemitische Stereotype adaptieren. Zugleich bildete sie die räumliche Umsetzung des in Krisenzeiten gemeinschaftsstiftenden Sündenbock-Mechanismus ab. Solche Zuschreibungen erlaubten eine moralische Distanzierung und waren deshalb nützlich, wenn es darum ging, das prekäre »volkschädliche« Verhalten als Praxis von Minderheiten zu kennzeichnen, die man räumlich zuordnen konnte. Insofern formulierte die »Volksgemeinschaft« in großer Übereinstimmung mit offiziellen Stellen bereits während des Krieges ein unklares, bei Bedarf flexi156 Ausgabe vom 9. November 1947. 157 Kerr, S. 5. 158 Richarz, S. 217f.
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bel auslegbares Schwarzhandelsinterpretament, das bestimmte Stadtviertel mit unterschiedlichen negativen Tauschkonnotationen belegte und damit eine ideale Vorlage für die ab 1944 einsetzenden Krisendiskurse abgab.
2.3 Waren aus ganz Europa Zu den Besonderheiten, die Zeitgenossen dem Schwarzmarkt zurechneten, gehörte sein Sortiment an Luxuswaren. Und mit der Vorstellung von Luxus verband sich in der Regel zugleich das Bild exquisiter ausländischer Produkte, die von gewieften Schiebern über den ganzen Kontinent verschoben wurden. Doch die Wirklichkeit war meist profaner. Selbst kleine Makler der Berliner Schwarzmarktgesellschaft verknüpften – wie ihre professionelleren »Kollegen« – bereits zwei Raumgrößen miteinander: lokale und transregionale. Damit fand auf dem Schwarzmarkt eine Anpassung von Raumbezügen statt. Einerseits bewirkte er eine Kontraktion in der Stadt. An die Stelle einer freien Konsumraumwahl im Stadtgebiet trat häufig die viertelbezogene, an nachbarschaftliche Relationen anknüpfende Organisation des alltäglichen Handels. Das entsprach jener durch die sogenannte »Kundenbindung« im Rationierungssystem angelegten Bindung von Konsumenten an bestimmte, in der Nachbarschaft gelegene Geschäfte. Hier musste man eingetragen sein, um seine Ration der nach den Kundenlisten festgesetzten Kontingente abholen zu können.159 Andererseits ergaben sich insbesondere durch die Ausweitung des Wareneinzugsgebiets mit dem Vorrücken der Wehrmacht neue Verbindungen. Ein Teil der Berliner Händler wusste diese neuen Märkte zu nutzen und wurde damit zum Mitträger einer Extraktionsbewegung, die Netzwerkverbindungen des illegalen Gewerbes mit Frankreich, Polen, den Niederlanden oder der Sowjetunion herstellte. Die Marktteilnehmer eröffneten sich damit, neben den an bekannte Einkaufsmuster erinnernden Viertel- und Pendelgeschäften im Stadtraum, Verbindungen mit weit entfernten Märkten, ohne allerdings den gleichen Organisationsgrad des legalen transnationalen Großhandels zu erreichen. Eine besondere Variante überregionaler Marktverknüpfung, die den Berliner Raum in ein über den gesamten Kontinent gespanntes Handelsnetz einband, bildete der umfangreiche Postverkehr mit Wehrmachts-Soldaten in den besetzten Gebieten. Der deutlich ausgeweitete Radius privater Fernbeziehungen bot eine ideale Grundlage für solche Geschäftssendungen. Im Gepäck, das die Soldaten auf Fronturlaub mit nach Hause brachten, befanden sich Waren aus ganz Europa. Die Bedeutung dieses Problems stand bald auch den zuständigen Stellen vor Augen, die eigens neue Bestimmungen zur Eindämmung 159 Dabei handelte es sich um eine räumliche Festlegung von Konsummöglichkeiten, die in Teilen bis 1951 in Kraft blieb. Vgl. Scholze, S. 544.
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solcher Praktiken formulierten. So erließ das Oberkommando der Wehrmacht eine ganze Reihe von »Regelungen« über »Versand und Mitnahme von Waren« aus den besetzten Gebieten.160 Darin wurden vor allem Höchstmengen festgelegt. »Neben der dienstlichen Ausrüstung«, hieß es etwa, dürfe »jeder nur soviel Gepäck mitnehmen, wie er ohne Zuhilfenahme von Tragriemen oder Tragvorrichtungen in beiden Händen tragen« könne. Auch der Begriff der »dienstlichen Ausrüstung« musste offenbar spezifiziert werden. Dazu gehörten nach dem Oberkommando »bei Selbsteinkleidern auch die Offiziersfeldkoffer oder statt dessen beschaffte Reise[koffer] von Offizieren oder Beamten mit festem Scharnierdeckel«.161 Anscheinend gab es Anlass zu solchen Gegenmaßnahmen, war es der Aufmerksamkeit der militärischen Führung doch nicht entgangen, dass Offiziere in beträchtlichem Umfang Mitbringsel aus der Fremde mit in die Heimat brachten. Warensendungen per Post unterlagen nicht nur einer Mengenbeschränkung. Die »zuständigen Wehrmacht- oder Militärbefehlshaber« konnten darüber hinaus auch ganze Warengruppen von der Versendung ausschließen, zumindest de jure. De facto ließ sich der schnell auf blühende Warenversand durch Soldaten und anderes Personal kaum einschränken. Daran änderten auch die erlassenen Straf bestimmungen nichts, die ausdrücklich »die entgeltliche Weiterveräußerung der eingeführten Waren an fremde Personen durch Verkauf oder Tausch (…) strengstens« untersagten.162 Schließlich gehörte der illegale Handel nicht nur in Berlin zum Alltag, sondern wurde von deutschen Soldaten und vielen Dienststellen in den besetzten Gebieten auch vor Ort betrieben. Obwohl etwa der »Reichsführer SS« Heinrich Himmler wiederholt auf entsprechende Verbote hinwies, deckte sich auch die SS auf den lokalen Märkten mit Waren ein.163 Doch beschränkte sich der über den Stadtraum hinaus gehende Marktverkehr keineswegs nur auf Angehörige der Wehrmacht. Berliner Schwarzhändler aller Professionalisierungsgrade beteiligten sich neben den lokalen Marktbewegungen in einzelnen Vierteln oder zwischen unterschiedlichen Stadträumen auch an einem weiter reichenden Tauschverkehr. Zum Teil ging es dabei lediglich darum, Waren aus dem Umland oder aus durch Bekanntschaften festgelegte Orte nach Berlin zu schaffen. Große Makler nahmen dafür LieferDienstleistungen in Anspruch. Sie mussten lediglich die Kontakte und Provisionen bereit stellen, um ihre Geschäfte über die Grenzen der Stadt hinaus abwickeln zu können, überließen den Transport aber Verbindungsleuten, die das 160 Vgl. etwa LAB PR. Br. Rep. 57, Nr. 365, Abschrift vom 21. Januar 1942, »Regelung über Versand und Mitnahme von Waren aus den besetzten französischen, belgischen und niederländischen Gebieten durch Wehrmachtangehörige usw.« 161 Ebd. 162 Alle Zitate ebd. 163 Bajohr, Parvenüs, S. 88f.
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damit verbundene Risiko auf sich nahmen. Das Beispiel von Hermann Weese aus dem Netzwerk rund um den Neuköllner Hermannplatz verdeutlicht den Zusammenhang zwischen einem lokal organisierten Handel in der Stadt und der transnationalen Verflechtung des Berliner Schwarzhandels. Weese hatte dabei die entscheidende Cutpoint-Position inne: Über einen Mittelsmann erhielt er Gold aus Holland, das dann auf dem lokalen Markt weiter verkauft werden konnte. Aber auch kleine Makler organisierten ihren Handel zum Teil über die Grenzen der Stadt hinaus. Regelmäßige Lieferungen aus Krakau, Warschau, Bulgarien oder Holland waren keine Seltenheit.164 Durch Martha Rebbiens Netzwerk flossen sowohl Waren aus der näheren Umgebung als auch solche aus Hamburg oder Prag.165 Vorteile hatten Ausländer, die sich Waren aus ihrer Heimat nach Berlin schicken lassen konnten. Was in Frankreich noch relativ leicht aufzutreiben war, dafür konnte man in Berlin wegen der Mangelsituation zum Teil sehr hohe Beträge verlangen. Als besonders erfolgreich erwiesen sich Einrichtungen, die beide Geschäftskreise, Wehrmachtssoldaten auf Heimaturlaub aus den besetzten Gebieten oder von der Front und lokale Berliner Händlerinnen und Händler zusammen brachten: beispielsweise ein Bordell in der Alexanderstraße, unweit des Alexanderplatzes. Die Berliner »Freudenhäuser« rückten schnell auf der Liste der verdächtigen Orte ganz nach oben, wenn es um die Kontrolle des Schwarzhandels ging. Ein Bericht der Kriminalinspektion Mitte hielt am 6. November 1943 fest, dass »gerade Bordelle und derartige Betriebe (…) sehr oft von Personen aufgesucht« würden, »die bezugsbeschränkte Waren zu Überpreisen an den Mann bringen« wollten. Es sei eine »Erfahrungstatsache, dass Prostituierte gerade unter Berücksichtigung ihrer verhältnismäßig hohen Einnahmen keinerlei Hemmungen« hätten und »wahllos« auf kauften, was ihnen angeboten würde.166 Diese Schilderung war allerdings in einer Hinsicht schlichtweg falsch und in einer anderen verzerrend. Denn weder hatten alle Berliner Prostituierten »verhältnismäßig hohe Einnahmen«, noch wurde man dem Bordellhandel gerecht, wenn man die Gruppen der männlichen Tauschpartner außen vor ließ. Prostitution, der Tausch der Dienstleistung Sex gegen Geld oder Waren, war nicht nur ein fester Bestandteil der illegalen Berliner Tauschkultur. Wie Annette Timm am Beispiel Berlins zeigen konnte, wandelte sich die Prostitutionspolitik des NS-Regimes während der dreißiger Jahre und zu Kriegsbeginn. Einerseits rückten Prostituierte schnell in den Rang von Asozialen, wurden zunehmend streng von den Berliner Behörden überwacht und davon abgehalten, ihrem Ge164 Vgl. etwa LAB ARep358-02 89962; ebd. 79932, 79809, 79946, 87970 sowie 80164 Bl. 3, 80429 Bl. 3, 80342 Bl. 10. 165 Ebd. 89667, Bl. 59. 166 Ebd. 88234, Bl. 22.
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werbe öffentlich nachzugehen.167 Andererseits war ihre Dienstleistung höchst willkommen, wenn es darum ging, die »Moral« von Soldaten und Arbeitern zu stärken. Von der rhetorischen und rechtlichen Marginalisierung, über eine zunehmende Akzeptanz entwickelte sich die NS-Prostitutionspolitik schließlich zu einem Instrument, das eine möglichst effektive und umfassende soziale Mobilisierung der deutschen Kriegsgesellschaft befördern sollte.168 Die Einrichtung, Organisation und Unterhaltung von Bordellen wurde von staatlicher Seite sowohl im Hinblick auf die eigenen Wehrmachtssoldaten als auch für im »Reichsgebiet« beschäftigte Arbeiter als eine Notwendigkeit betrachtet. Neben Bordellen für einheimische Zivilisten errichteten staatliche Stellen auch einige für »ausländische Arbeiter«. Das brachte zuweilen organisatorische Probleme mit sich: »Die Errichtung von Bordellen« für ausländische Arbeiter »in Staaken und Königsheide geht in Ordnung«, hielt ein Bericht der zuständigen Stellen vom Februar 1942 fest, um allerdings im Anschluss gleich darauf hinzuweisen, dass die Verhandlungen wegen ähnlicher Einrichtungen in Wilhelmsruh und Friedrichsfelde »nicht vorwärts« kämen, da das Hauptplanungsamt noch keine »Lagepläne der hierfür in Frage kommenden Grundstücke« herausgegeben habe. Das sei umso verwunderlicher, als der Bau voran kommen müsse und sowohl »der Herr Minister«, gemeint war Göring, als auch das »Sicherheitshauptamt« bereits »auf Erledigung« gedrängt hätten.169 Offensichtlich legten das Innenministerium und die nachgeordneten Behörden größten Wert sowohl auf eine ausreichende Versorgung mit Bordellen als auch auf eine saubere Trennung der unterschiedlichen Einrichtungen für unterschiedliche Kundengruppen. Zur Begründung für dieses eigens errichtete Bordell-System wurde immer wieder darauf verwiesen, dass man im Fall deutscher Bordell-Besucher durch die staatliche Aufsicht der Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten vorbeugen und im Falle der Ausländer-Bordelle deutsche Frauen vor Übergriffen schützen könne.170 Unabhängig davon, ob diese Aufteilung im Hinblick auf die Personengruppen wirksam war oder nicht, sollte sich bald herausstellen, dass Bordelle in einer anderen Hinsicht für unerwünschte Allokationsleistungen verantwortlich waren, die den Verfolgungsbehörden erhebliche Probleme bereiteten. Der illegale Handel in den Berliner Bordellen und auf dem Straßenstrich gehörte zu jenem Bereich des Schwarzhandels, der häufig an etablierte KäuferKunde-Beziehungen anknüpfen und damit auf bereits begründete Vertrautheits- und Vertrauensverhältnisse auf bauen konnte. Den Tauschbeziehungen zwischen Freiern und Prostituierten kam zusätzlich der Umstand zu Gute, dass 167 Insbesondere zu Beginn der NS-Herrschaft, vor Beginn der Olympischen Spiele 1936 und zu Kriegsbeginn wurden Prostituierte zu Opfern ideologisch motivierter Aktionen. Vgl. Bock, S. 417. 168 Timm, S. 192. 169 LAB Pr. Br. Rep 57, Nr. 365, S. 6. 170 Timm, S. 201.
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das »halbseidene« Gewerbe von vorneherein die Anonymität der Kunden in Rechnung stellte und damit eine gute Ausgangslage für die illegalen Tauschpraktiken der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bot. In den Berliner Bordellen und Hotels begegneten sich Kunden und Anbieterinnen in einer gemeinschaftlich gepflegten Klandestinität, die ideale Bedingungen für Schwarzhandelsgeschäfte bot. In vielen Fällen nannte man sich einfach beim (nicht immer richtigen) Vornamen. Weiter gehende Informationen zur Person wurden gar nicht oder nur freiwillig gemacht oder waren bei der jeweiligen Bordellbetreiberin als besonderer Vertrauensperson, die davon lebte, dass sie die Wünsche ihrer Kunden respektierte, gut aufgehoben. Diese Voraussetzungen lassen sich auch an der sternenförmigen Anordnung eines Bordell-Netzwerkes ablesen (Grafik 5). In Nachbarschafts-Netzwerken waren eine ähnliche Zentralität und eine ebenso geringe Pfadlänge schlechterdings unmöglich. Die Pfadlänge betrug jeweils 1. Das lag daran, dass sich die einzelnen Kunden/Tauschpartner, die das Bordell aufsuchten, untereinander nicht kannten und nur mit der Bordellinhaberin und ihren Angestellten, nicht aber direkt untereinander, Geschäfte machten. Die Dichte lag damit denkbar gering bei einem Wert von 0,18.
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Grafik 5: Bordell-Netzwerk Alexanderstraße (Quelle LAB A Rep. 358-02 80384)
Das sorgte für eine geringe soziale Kontrolle. Die Kunden konnten sich auf die Verschwiegenheit ihrer Tauschpartnerinnen verlassen. »Fremde Personen, die mir nicht näher bekannt sind, haben kaum Zutritt«, erläuterte die Betreiberin Clara Biniek gegenüber den Beamten des Gewerbeaußendienstes ihre Geschäftspolitik.171 Wie sich herausstellte, hatte sie allerdings Ausnahmen von dieser Regel gemacht, wenn Kunden oder potentielle Lieferanten entweder durch Stammkun171 LAB A Rep. 358-02 80384, 7/2.
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den eingeführt worden waren oder aber ein ertragreiches Geschäft versprachen. Denn vor das Problem gestellt, dass die männlichen Besucher ihres Etablissements nicht nur Sex, sondern auch alkoholische Getränke und Tabakwaren nachfragten, für die sie keine Schankkonzession besaß, fing Biniek damit an, den Schwarzmarkt zunächst als Quelle und schließlich als eigenes Geschäftsfeld für sich zu entdecken. Der Anspruch ihrer Kunden, die Geselligkeit durch den Genuss von Spirituosen und Lebensmitteln angenehmer zu machen, bildete den Ausgangspunkt für ihre Karriere als Schwarzhändlerin. Dieser Zweig ihres Gewerbes überschnitt sich von Anfang an mit ihrem regulären Bordellbetrieb, entwickelte sich im Laufe der Zeit aber zu einem einträglichen zweiten Standbein, das ihr schließlich einen größeren Ertrag brachte als das Stammgeschäft. Nach ihren eigenen Angaben konnte sie für ein Glas (2 cl) Schnaps 10 bis 15 Reichsmark verlangen. Eine »Bedienung« durch eines ihrer beiden »Kontrollmädchen« brachte im Schnitt lediglich 20 Reichsmark, wovon Biniek die Hälfte erhielt.172 In der Regel zahlten die Kunden für den Geschlechtsverkehr mit Geld. Aber da – wie der Polizeibericht vom 13. März 1945 festhielt – »vorwiegend Geschäftsleute« bei ihr verkehrten, wodurch »der unrechtmäßige Erwerb bewirtschafteter Waren besonders leicht gemacht worden« war, wurde auch in Naturalien gezahlt. Insbesondere Einzelhändlern, denen es relativ leicht fiel, bei der Abrechnung ihrer Kontingente etwas »abzuzweigen«, griffen auf diese Form der Tauschäquivalente zurück. So hatte der Fischhändler Heinrich Kierspel etwa, der – wie der Beamte des Gad empört festhielt – für seinen Betrieb »u.k. gestellt« worden war, offiziell die Verteilung von Fisch für 3 500 Kunden zu organisieren. Statt dieser Aufgabe gewissenhaft nachzukommen, habe er sich »dazu hinreißen« lassen, die Ware seinem vorgesehenen Kundenstamm zu entziehen. Dementsprechend sei festzustellen, dass »sein Verhalten (…) im 6. Kriegsjahr« als »besonders verwerflich« zu gelten habe.173 Traf der Vorwurf, »als Treuhänder einer gerechten Verteilung« versagt zu haben, damit einen »Volksgenossen, der das NS-Versorgungssystem als Mitstreiter an der »Heimatfront« stützen sollte, fällt andererseits auf, dass die zweite Teilnehmergruppe in Binieks Bordell relativ ungeschoren davon kam. Denn das »Absteigequartier«, hatten die Ermittlungen ergeben, fungierte als Ort des Warentausches, der die lokalen Verteilungsströme der Reichshauptstadt mit dem besetzten Europa verband. Soldaten, insbesondere »Urlauber«, bildeten 172 »Bedienung« war die übliche Bezeichnung für Geschlechtsverkehr. Vgl. ebd., 15/2. Der Begriff »Kontrollmädchen« bezeichnete registrierte und regelmäßig einer Gesundheitskontrolle unterworfene Prostituierte. Vgl. Timm, Outsider. Die Bezeichnung war bereits in der Weimarer Zeit gängig. Das Statistische Jahrbuch der Stadt Berlin verzeichnete im 5. Jahrgang von 1929 (S. 257) für den Zeitraum vom Dezember 1926 bis zum August 1927 eine leichte Abnahme der als »Kontrollmädchen« registrierten Frauen von 7 113 auf 6 267 im gesamten Stadtgebiet. Ab dem September änderten sich die Erfassungsgrundlagen durch das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 18.2.1927. Vgl. ebd. 173 LAB A Rep. 358-02 80384, Bl. 21.
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die zweite Säule ihrer Kundschaft. Nur zu einem Teil nahmen diese auch die Dienste der »Mädchen« in Anspruch. Der andere Teil betätigte sich als Lieferant vor allem ausländischer Waren, die der einzelne im Gepäck mit an die »Heimatfront« brachte; etwa jene Cognac-Lieferung aus Frankreich, die den Weg nach Berlin in einem Armeerucksack gemacht hatte. Wie die Soldaten in den Besitz der jegeiligen Ware gekommen waren, ließ sich in den meisten Fällen nicht rekonstruieren. Allerdings stellten die Beamten des Gewerbeaußendienstes auch Fleischkonserven aus Beständen der Wehrmacht bei Biniek sicher. Als Quellen für die Lieferungen aus dem besetzten Europa kamen also nicht nur gekaufte oder requirierte ausländische Waren, sondern auch Armeebestände und Hehlerware in Frage.174 Zwischen der Reichshauptstadt und den besetzten Gebieten bestand damit ein besonderes Tauschverhältnis. Über Schnittstellen wie das Bordell in der Alexanderstraße konnten Wehrmachtssoldaten Mitbringsel in das lokale Verteilungssystem der Berliner Schwarzhandelsökonomie einspeisen. Die Gegenleistungen bildeten von Berliner Händlern dem legalen Versorgungsgang entzogene Waren, vor allem Lebensmittel, aber auch die »Dienste« der Prostituierten. Mithin könnte man auch von der Heimat als einem Entlastungs- und Erholungsraum sprechen, in dem die »Mädchen« ihre Körper gegen die aus der Fremde mitgebrachten Waren offerierten und darüber hinaus zum Bestandteil einer Infrastruktur gehörten, die mit den Soldaden und den lokaden Berliner Händlern zwei männliche Teilnehmerkreise zusammen brachten. Damit funktionierte der illegale Handel als Katalysator eines Tauschvorganges, der eigentlich unter staatlicher Aufsicht stattfinden sollte. Nicht erwünscht war hingegen, dass sich dieser Ausgleich körperlicher und seelischer Passiva der staatlichen Kontrolle entzog und fatale Allokationsleistungen erbrachte. Dass Prostituierte eine gewissermaßen »kriegswichtige« Dienstleistung anboten, war aus Sicht der Behörden in Ordnung; dass dabei dem lokalen Berliner Lebensmittelmarkt Waren entzogen wurden, hingegen ein Skandal. Die Verschränkung von Front und Heimat, die Umwidmung von Viertelstrukturen und das Entstehen von Schwarzhandelszentren waren das Ergebnis einer räumlichen Reorganisation des Berliner Alltags unter den Bedingungen der Tauschkultur. Diese Prozesse reflektierten nicht zuletzt individuelle und gruppenspezifische Mobilitätsmöglichkeiten und -grenzen. Für mobile Frauen, Männer und Jugendliche ergaben sich gute Chancen, die Angebote des Schwarzhandels zu ihren Gunsten zu nutzen. Die unterschiedlichen Raumnutzungskonzepte der Schwarzhändlerinnen und -händler bildeten aber auch geschlechts- und milieuspezifische Diskrepanzen ab. Das Aufsuchen bestimmter Stadtviertel und Kneipen oder Restaurants blieb überwiegend Männern, daneben Frauen aus unteren sozialen Schichten 174 Vgl. Bajohr, Parvenüs.
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vorbehalten. Dass eine »Bürgerliche« zum Tauschen in eines der Schwarzhandelszentren im Scheunenviertel, in die Gegend um das Schlesische Tor oder nach Mitte fuhr, kam so gut wie nie vor. Tat sie es trotzdem, musste sie damit rechnen, als »gefallenes Mädchen« oder asoziale Person zu gelten, wenn ihre Tauschpraktiken bekannt wurden.175 Allenfalls Bekanntschaften, die zu Tauschpartnerschaften führten, waren »bürgerlichen« Frauen und Frauen der Oberschicht in Cafés oder Restaurants möglich. Kneipenbesucherinnen, die beim Tauschen erwischt wurden, so zeigen Stichproben der Sample-Auswertung, gingen hingegen fast ausschließlich einer »niederen« Tätigkeit nach und gehörten zu den unteren Einkommensbeziehern. Allen Frauen standen dagegen Privaträume und damit vor allem die lokalen Verteilernetze der jeweiligen Stadtviertel als Tauschorte zur Verfügung. Damit setzte sich auf dem Schwarzmarkt in weiten Teilen jene geschlechterspezifische Raumnutzungsdiskrepanz fort, die Männern den Zugang zu beinahe allen öffentlichen Stadträumen gewährte, Frauen hingegen auf eng begrenzte Aktionsradien im häuslichen Umfeld verwies.176 Wem solche Hemmnisse nicht im Weg standen oder wer sie nicht beachtete, dem eröffneten sich auf dem Schwarzmarkt eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die eigene Tauschpraxis kreativ zu gestalten oder sie den jeweiligen Umständen anzupassen. Das betraf auch den Umgang mit den Waren und Währungen, die auf den illegalen Märkten gehandelt wurden.
3 »Illegale« Währungen, Buchhaltung und Waren »Da das Geld, als der existierende und sich betätigende Begriff des Wertes, alle Dinge verwechselt, vertauscht, so ist es die allgemeine Verwechslung und Vertauschung aller Dinge, also die verkehrte Welt, die Verwechslung und Vertauschung aller natürlichen und menschlichen Qualitäten.« (Karl Marx, Die anthropologische Seite des Geldes) »Das Gefühl der persönlichen Sicherheit, das der Geldbesitz gewährt, ist vielleicht die konzentrierteste und zugespitzteste Form und Äußerung des Vertrauens auf die staatlich-gesellschaftliche Organisation und Ordnung.« (Georg Simmel, Die Philosophie des Geldes)
Zeitgenössische Beschreibungen des chaotischen Schwarzmarkttreibens scheinen auf den ersten Blick mindestens in einer Hinsicht zutreffend: Auf den illegalen Märkten herrschte eine schwer zu überschauende »Währungsunord175 Vgl. zur entsprechenden Diskriminierung etwa den Fall von Elisabeth Hanke. LAB A Rep. 358-02 80004. 176 Saldern, Stadt.
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nung«. Waren ersetzten Währungen. Karten und Bezugsscheine traten an die Stelle von Geld. Funktionen der gültigen Reichsmarkwährung wie Tausch-, Verrechnungs- und Wertauf bewahrungsleistungen waren außer Kraft gesetzt. Was heute noch für Geld zu haben war, dafür musste man morgen schon Zigaretten anbieten können. Die Auflösung der Grenze zwischen Waren auf der einen und Währungen auf der anderen Seite schien unauf haltsam, ein »normaler« Umgang mit Tauschäquivalenten damit unmöglich zu sein. Doch sollten jene Händlerinnen und Händler, die zum Teil über Wochen, Monate und Jahre hin miteinander tauschten, die Absprachen trafen und Preise verhandelten, kalkulierten und sich auf die Regeln des Geschäftes einließen oder sie neu schrieben, sollten diese Akteure keinen geregelten Umgang mit »ihren« Waren und Währungen eingeübt haben? Das erscheint unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass solche Chaoszuschreibungen eine weit verbreitete negative Interpretation der modernen Geldwirtschaft, die Geld als einen Dämon und als Medium sozialer Kälte beschrieben hatte, im Angesicht der Auflösung stabiler Praxisfelder umdrehten. Der Verlust der komplexitätsreduzierenden und damit handlungsentlastenden Funktion des Geldes wurde vielen Zeitgenossen schmerzlich bewusst. Mit den Folgen der »Geldunordnung« konfrontiert, erschienen eindeutige Relationen zwischen Person, Geld und Ware wünschenswerter. In der Ablehnung des »Währungschaos« übersahen diese Deutungen allerdings, dass das »Chaos« immerhin einige Regeln kannte. Und sie wiederlegten – vermutlich ohne sich dessen bewusst zu sein – jene älteren Interpretationen, wonach Geld lediglich ein zerstörerisches und »entfremdendes« Neutrum war, dass sich zwischen den einzelnen Menschen und seine Umwelt stellte. Denn auch das Gegenteil war richtig. In seiner Mittlerstellung zwischen Personen und Dingen hatte Geld eine Bedeutung erlangt, die über seinen ökonomischen Zweck hinauswies, ohne per se an der »Zerstörung« menschlicher Lebenswelten mitzuwirken. »Das Gefühl der persönlichen Sicherheit, das der Geldbesitz gewährt(e)« (Georg Simmel) war nur ein Teil davon. Einflussreiche Arbeiten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sahen im Geld ein Kennzeichen der Moderne. Es war ein Symbol für Anonymisierung, die um sich greifende Auflösung zwischenmenschlicher Beziehungen und einen dem Kapitalismus eigenen, alle sozialen Bereiche erfassenden Konvertierungsanspruch. Als »Band aller Bande« hatte Marx das Geld bezeichnet und gemeint, in ihm »die wahre Scheidemünze, wie das wahre Bindungsmittel, die galvanochemische Kraft der Gesellschaft« erkannt zu haben.177 Diese Auffassung lebte 177 Die Formulierung von der »Verbrüderung der Unmöglichkeiten« geht zurück auf William Shakespeare, aus dessen Timon von Athen Marx wiederholt zitiert: »Sichtbare Gottheit / Die du Unmöglichkeiten eng verbrüderst / Zum Kuss sie zwingst! Du sprichst in jeder Sprache, / Zu jedem Zweck! O du der Herzen Prüfstein«. Auf das damit beschriebene Charakteristikum des Geldes legte Marx höchstes Gewicht. Er kam darauf an prominenter Stelle zurück. Vgl. Marx, S. 145f.
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in Georg Simmels 1900 erschienener »Philosophie des Geldes« fort. In der ein Jahr später veröffentlichten Selbstanzeige wies Simmel darauf hin, dass die moderne Geldwirtschaft zwar mit einer »Entwicklung individueller Freiheit« zusammen gehangen habe. Doch habe diese Freiheit häufig die Aufgabe von »Lebensinhalten« bewirkt und sei deshalb lediglich eine »Freiheit von etwas, aber nicht (…) zu etwas« gewesen.178 »Angehörige einer alten oder primitiven Kultur« hätten in einem Abhängigkeitsverhältnis zu »einem Minimum von Menschen« gestanden, wodurch ein »enge(r) (…) viel mehr personal festgelegt(er) (Kreis)« entstanden sei. Demgegenüber sähe sich der moderne Mensch einer ganz anderen Situation ausgesetzt: »Von wie vielen ›Lieferanten‹ allein«, stellte Simmel fest, »ist (…) der geldwirtschaftliche Mensch abhängig!«.179 Aber es waren nicht nur die Auswirkungen des Geldes auf interpersonale Bindungen, die Simmel beklagte. Auch das Verhältnis jeder einzelnen Person zu den Dingen litt seiner Meinung nach unter den Bedingungen der modernen Geldwirtschaft. Denn die »Individualform des Wertes« werde »in dem selben Maße negiert, in dem die Objekte tauschbar werden, so dass das Geld, der Träger und Ausdruck der Tauschbarkeit als solcher, das unindividuellste Gebilde [der] praktischen Welt« geworden sei. Man könne »den Mangel jenes spezifischen Wertes an einem Dinge nicht schärfer ausdrücken, als dass man seine Stelle durch sein Geldäquivalent ausfüllen lässt, ohne eine Lücke zu empfinden«.180 Solche Thesen zur negativen Allmacht des Mediums Geld blieben nicht unwidersprochen. Der seiner Meinung nach zu glatten (Miss-) Erfolgsgeschichte des Geldkapitalismus und seiner Schattenseiten setzte Karl Polanyi 1944 eine eigene Interpretation entgegen. Zwar habe die »Great Transformation« in den entwickelten Staaten zur Herausbildung eines relativ autonomen, zur »Herrschaft der Märkte« tendierenden ökonomischen Systems geführt. Die Wirtschaft sei damit »nicht mehr in die sozialen Beziehungen (…), sondern die sozialen Beziehungen« seien »in das Wirtschaftssystem eingebettet«.181 Zugleich aber bezeichnete Polanyi die einschlägigen Vorläufer-Interpretationen als einen »Mythos des 19. Jahrhunderts, wonach das Geld eine Erfindung war, die durch die Schaffung von Märkten, durch die beschleunigte Entwicklung der Arbeitsteilung und dadurch, dass der natürlichen menschlichen Neigung zu Tausch, Tauschhandel und Tauschgeschäften freie Bahn gegeben wurde, zwangsläufig 178 Simmel, S. 719ff. Zitate: 719 u. 722. 179 Ebd., S. 721. Der sprechendste Vergleich, der von Simmel zur Charakterisierung der Geldwirtschaft gezogen wird, ist derjenige mit Prostitution. Seiner Meinung nach gleicht die Geldwirtschaft der Prostitution, weil in ihr alles zur Ware werden kann. Offensichtlich meinte Simmel, auf diese Weise die moralisch zweifelhaften Folgen des um sich greifenden »cash nexus« besonders drastisch illustrieren zu können. Vgl. ebd., S. Zelizer, Meaning, S. 8. 180 Ebd., S. 128. 181 Polanyi, S. 88f.
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die Gesellschaft umgestaltet« habe.182 Denn »die Gesellschaft«, meinte Polanyi, »schützte sich selbst gegen die einem selbstregulierendem Marktsystem inne wohnenden Gefahren«.183 Er dachte dabei an Regelungssysteme auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, die auf eine »Einschränkung der Freiheit des Marktes in bezug auf die Produktionsfaktoren Arbeit und Boden« als »Hauptziel des Interventionismus« abzielten.184 Auf andere Art »schützten« sich auf der Mikroebene Individuen gegen die vermeintlich um sich greifende Ökonomisierung von Sozialbeziehungen. Nur, dass sie es nicht als Abwehr begreifen mussten, wenn sie – am staatlich sanktionierten Geldverkehr vorbei – alternative Währungen etablierten und durch individuelle Geldpraktiken und Bedeutungszuschreibungen ein eigenes System überschaubarerer, mit Sinn versehener Privat-Ökonomien auf bauten. Diese individuellen Geldpraktiken hatten eine soziale Funktion. »The Social Meaning of Money« ließ sich am Beispiel der USA für jene Transformationsperiode des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als Organisationsprinzip von Lebenswelten nachweisen. Über Geld und seine sozialen Wirkungen, so die Quintessenz von Analysen der Economic Sociology, lässt sich nur im Plural und mit Blick auf höchst unterschiedliche Praktiken des alltäglichen Unterscheidens und »Markierens« verschiedener Geldsorten sprechen. Haushaltsgelder, Ausbildungsrücklagen, Spenden oder Geschenke bildeten demnach nur einige Verwendungsdefinitionen, die einzelne Posten voneinander abgrenzten, ihnen einen sozialen Sinn zu sprachen und von den Akteuren etwa geschlechts- oder schichtenspezifisch höchst unterschiedlich behandelt und verstanden wurden.185 Dadurch wurde der Behauptung, der zerstörerische Geld-Kapitalismus habe zur Verödung sozialer Lebenszusammenhänge geführt und zwischenmenschliche Beziehungen in ihrem eigentlich unantastbaren Kern getroffen, die Spitze genommen. Simmels Urteil, dass das Geld »zu denjenigen normierenden Vorstellungen« gehöre, »die sich selbst unter die Norm beugen, die sie selbst sind«, muss deshalb relativiert werden.186 Selbst wenn die Ausweitung der »modernen« Geldwirtschaft »normierende« Wirkungen gehabt hatte, blieben diese doch in ein Netz sozialer Sinnbezüge eingebunden, die Familien-, Freundschafts- und andere Gruppenbeziehungen nicht aufgaben, sondern Geldpraktiken mit sozialen Tatsachen in Einklang zu bringen vermochten. Solche Anpassungsstrategien griffen auch im Umgang der Berliner Schwarzhändler mit ihren Währungen. Dabei behielt die Reichsmark als Währung lan182 Ebd., S. 90. 183 Ebd., S. 112. 184 Ebd., S. 183. 185 Zelizer, Meaning, S. 3, spricht etwa von »divided economies« und »moral earmarking«, wenn Geldbeträge nach ihrer Einnahmequelle unterschieden und für unterschiedliche Ausgabezwecke verwandt wurden. 186 Simmel, S. 126.
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ge nicht nur ihre offizielle Gültigkeit, sondern wurde auch auf dem Schwarzmarkt als gängiges Zahlungsmittel akzeptiert. Schwarzmarktpreise wurden nicht nur in Reichsmark berechnet, sondern auch bezahlt. Die staatlich anerkannte Währung funktionierte damit als Verrechnungseinheit wie als Tauschmittel. Ein Schwarzhändler, der im Herbst 1944 zum Tauschen in die Stadt hatte fahren wollen, gab in einer Befragung an, dass er eine Bekannte explizit danach gefragt habe, was denn »in Berlin im Schwarzhandel ein Kilo Butter« kosten würde. Darauf hin war die angesprochene in der Lage, ihm präzise Auskünfte zu geben: »Frau K. sagte mir ein Kilo Butter kostet etwa 120–130 RM«, wie sich der Interessent erinnerte.187 Gerade für kleine Makler, die Provisionsgeschäfte betrieben, erwies sich die Papierwährung als wichtiges Tauschäquivalent. Waren die gehandelten Waren doch häufig nicht teilbar, so dass der eigene Gewinn am leichtesten in Reichsmark ausbezahlt werden konnte.188 Dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Reichsmark so lange relativ stabil blieb, hatte folglich einen ambivalenten Charakter. Denn einerseits dämmte dieses Vertrauen Inflationsängste ein und verhinderte damit eine umfassende Flucht in die Sachwerte.189 Andererseits bot das vorhandene Nebeneinander unterschiedlicher Praktiken des Tausches unter Rückgriff auf die offizielle Währung dem sich ausweitenden Schwarzhandel ideale Verrechnungsmöglichkeiten und eröffnete damit Handlungsspielräume. Zudem hatte die Reichsmark nach wie vor den Vorteil, dass sie – zumindest vorläufig – nicht so schnell verfallen konnte, wie dies bei den für begrenzte Zeiträume ausgegebenen Kartenabschnitte der Fall war. Die Reichsmark blieb deshalb die bevorzugte Währung des Schwarzhandels. Doch einige Schwarzhändler mieden bereits während des Krieges die Reichsmark und verlangten ausdrücklich eine Gegenleistung in Naturalien.190 Schwarzhändlerinnen und -händler behandelten ihre illegal erzielten Gewinne zum Teil wie »normale« Haushaltseinkünfte. So gab der Tuchhändler Capaldo zwar an, über den Verkauf von Stoffen im Schwarzhandel kein Buch geführt und auch keine Quittungen ausgegeben zu haben. Doch die eingenommenen Reichsmarkbeträge ließ er wie andere Einnahmen auch von seinem Sohn auf ein Konto bei der Dresdner Bank einzahlen, das offenbar nicht eigens dafür angelegt worden war.191 In der Regel allerdings trennten die Händler ihre unterschiedlichen Gelder voneinander, hoben Geldbeträge und andere aus dem Schwarzhandel stammende Äquivalente zu Hause auf oder sorgten dafür, dass diese möglichst schnell umgesetzt und etwa in Lebensmit187 188 189 190 191
Ebd. 87908, S. 95. Vgl. etwa LAB A Rep 358-02 80067, S. 3. Vgl. Boelcke, Kosten, S. 112. Vgl. 80139, Bl. 60. Ebd. 80099, Bl. 33.
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teln »realisiert« wurden.192 Dieses Vorgehen deckt sich mit Verhaltensweisen, die von der Forschung regelmäßig im Bereich legal oder halblegal agierender Akteursgruppen analysiert worden sind. Dem schnellen Umsetzen illegal erstandener Waren lag nicht allein die Absicht zu Grunde, einen neuen, eigentlich gewollten Gegenstand zu erstehen oder Beweismittel los zu werden. Der Besitz von unrechtmäßig erworbenen Waren belastete offenbar das Gewissen, ein schneller Umsatz konnte erleichternd sein.193 Die Trennung zwischen »legalen« und »illegalen« Geldern bedeutete, dass im Schwarzhandel erzielte Gewinne seltener in den legalen Konsumraum gelangten und statt dessen in erster Linie erneut für Transaktionen auf dem Schwarzmarkt Verwendung fanden. Für eingetauschte Waren lag das auf der Hand, bestand doch kaum eine Möglichkeit, sie in Geschäften wieder abzusetzen. Doch selbst wenn ein Händler etwa einen Anzug oder eine Uhr im Schwarzhandel gegen Reichsmark verkauft hatte, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er den Gewinn wieder in den Kauf von Schwarzhandelswaren investierte oder Lebensmittel aus dem illegalen Handel bezog.194 Die Geld- und Warenkreisläufe zwischen legalem und illegalem Konsumraum überschnitten sich zwar permanent. Doch die Händler legten Wert auf eine für sie geltende Unterscheidbarkeit. »Sauberes« und »schmutziges« Geld trugen unterschiedliche (moralische) Bedeutungen und wurden deshalb auseinander gehalten. Besondere Ausgaben, wie sie etwa Anschaffungen für Kinder oder Geschenke zu Weihnachten, an Geburtstagen oder aus Anlass einer Hochzeit sein konnten, rechtfertigten Grenzüberschreitungen: Mit Verweis auf solche rechtfertigenden Gründe war es einer ganzen Reihe von Händlerinnen und Händlern möglich, sich von Geldbeträgen oder Dingen zu trennen, die eigentlich nicht für Konsumausgaben und schon gar nicht für illegale Transaktionen gedacht waren.195 Andere Händler legten von vornherein weniger Wert auf die saubere Trennung ihrer Gelder. Eine gängige Praxis bildete es, »Ersparnisse« zum Ankauf von Schwarzhandelswaren zu verwenden, wenn vorher bereits Abnehmer gefunden worden waren. Die dabei gemachten Provisionserlöse flossen in der 192 Ebd. 79809, S. 53. 193 Dieses Phänomen ist etwa bei den Einnahmen von »Strichjungen« beobachtet worden. Das eingenommene Geld sei »like a hot stone that burns a hole in your pocket«, beschrieb ein Befragter den Charakter seiner »Stricher«-Beträge. Zelizer, Meaning, S. 70. 194 Vgl. etwa LAB A Rep 358-02 80139, Bl. 4. 195 Vgl. F Rep 240 Acc. 2651 Nr. 4, S. 402/4. Daneben ebd., S. 412/4: »Weihnachten und keinen Baum (…), aber ein kl. Kind. Was machen?«. Als Beispiel für eine Hochzeitsvorbereitung ebd., S. 364/4: »Als Hochzeitsmahl setzten wir unseren Trauzeugen Spargel und Ei vor, das hatte 200 RM gekostet, soviel brachten meine alten Tennisschuhe«. Eine weitere »festliche Gelegenheit«, die nach Kriegsende Schwarzmarktausgaben rechtfertigen konnte, bildeten »Wiedersehensfeiern«. Vgl. ebd., Nr. 3, S. 193/2.
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Regel zu einem guten Teil in eigene Konsumausgaben, konnten aber auch den Grundstock für eine Ausweitung des Schwarzmarktgeschäftes bilden. Der kaufmännische Angestellte Heinz Binder etwa, der im März 1945 ins Berliner Umland fuhr, um dort einem Bauern Schweinefleisch abzukaufen, gab in seiner Vernehmung zu Protokoll, dass die von ihm für 27 kg gezahlten 1 450 Reichsmark sein »eigenes Geld« gewesen seien, das aus »Ersparnissen (her gerührt)« habe.196 Der Staat machte bei der Strafzumessung keinen Unterschied zwischen Fällen, in denen bezugsbeschränkte Waren, und solchen, in denen entsprechende Karten gehandelt worden waren. In der Urteilsbegründung des Verfahrens gegen Elisabeth Hanke und ihre Mitangeklagten führten die Richter des Berliner Sondergerichts aus, »dass Bezugskarten für lebenswichtige Erzeugnisse den Erzeugnissen selbst gleichzuachten« seien. Das sei »von dem erkennenden Sondergericht in ständiger Rechtsprechung betont worden.«197 Schließlich ginge es bei dem korrekten Umgang mit Lebensmittelkarten durch Angestellte der Kartenstellen um einen besonders sensiblen Bereich der Kriegswirtschaft. Die Angeklagte, der die Unterschlagung von Karten nachgewiesen werden konnte, habe durch »ihr böses Beispiel die Gefahr der Nachahmung durch Dritte und der Auflehnung anderer Personen gegen den staatlichen Verteilungsgang herauf beschworen«. Das »Volk« aber müsse sich »darauf verlassen können, dass die Kartenstellen unbedingt ehrlich und zuverlässig« arbeiteten »und dass jeder Verstoß strengstens geahndet« werde«.198 Auch wenn die Praxis des Gerichts vor allem auf eine gleich strenge Bestrafung des Handels mit Karten im Vergleich mit Naturaltauschhandlungen abstellte, trug es damit doch zugleich zur Verwischung der Grenze zwischen offiziell anerkannten Tauschmitteln und den im engeren Sinne gegenständlichen Tauschwaren bei. Die Vermengung von Waren- und Währungscharakter einzelner Tauschäquivalente war nicht alleine das Ergebnis entsprechender Praktiken der Schwarzhändler, sondern ebenso eine Konsequenz des komplizierten Ersatzsystems aus Karten, Bezugsscheinen und realen Waren. Die dadurch geschaffenen Unklarheiten fanden ihren Ausdruck in offiziellen Bezeichnungen, die auf geldwirtschaftliche Ausdrücke verwiesen. So firmierten etwa die Bezugsscheine für Gewerbetreibende unter relativ unspezifischen, von der Ware selbst abstrahierenden Begriffen wie »Punktschein«, »Coupon« oder auch »Punktescheck«.199 Gerade für Einzelhändler, die regelmäßig größere Mengen 196 LAB A Rep 358-02 80398, S. 4. Vgl. auch LAB A Rep 358-02 80164, S. 5ff. Bei Martha Rebbien ist unklar, woher sie ihr »Startkapital« hatte. Es liegt aber nahe, dass sie einen größeren Teil einmal erzielter Gewinne zur Aufrechterhaltung ihres Handels investierte. 197 LAB A Rep 358-02 80004. 198 Ebd. 199 Vgl. für einen Fall, der diesen schleichenden Übergang schildert LAB A Rep. 358-02 80067, Bl. 8ff. Daneben ebd., 80099, S. 5ff. u. 30ff.
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unterschiedlicher »Bezugsscheine« verwalteten, lag die Betrachtung solchen Geldersatzes als Währung ziemlich nahe. Zumal ihnen Kontingente zugeteilt wurden, die einen gewissen zeitlich-mengenmäßigen Spielraum ließen, der normalen »Verbrauchern« nicht bekannt war. Die Scheine gewannen damit einen flexibleren Tauschwert, der sie in die Nähe der Wertauf bewahrungsund der Verrechnungsfunktion einer Währung wie der Reichsmark rückte. Das System der Zuteilungen, so normierend und starr es einerseits verglichen mit den Wahlmöglichkeiten freien Einkaufens war, wurde andererseits auch flexibel gehandhabt. Das beste Beispiel bildete eine zur Beruhigung »der Bevölkerung« nach Bombenangriffen eingesetzte Auflockerung, die so genannte Sonderzuteilung. Sonderzuteilungen scherten aus dem bekannten Rationen-Schema aus, das Kontingente strikt an die einzelnen Ausgabeperioden band, konnten aber gerade deshalb schnell in die Handelspraxis der Händler integriert werden. Sie bildeten beliebte Tauschgegenstände, weil sie nicht in die individuellen Haushaltspläne eingerechnet und damit freier verfügbar waren. Immer wieder berichteten Schwarzhändler, dass es sich bei denen von ihnen gehandelten Waren um Kontingente aus solchen Zuteilungen gehandelt habe. Dass sie das taten, hatte freilich noch einen anderen Grund. Weil die Abgabe dieser Sonderzuteilungen unregelmäßig zustande kam, nach Bombenangriffen Berechtigte ihre Zuteilung nicht abholten und Geschäftsinhaber somit über freie Kontingente verfügten, waren die Wege, die diese Zuteilungen nahmen, schwer zu kontrollieren. Sie als Quellen anzugeben, war deshalb eine Möglichkeit, sowohl Mitwisser zu decken als auch zu verhindern, selber in den Verdacht zu geraten, mit Hehlerware gehandelt zu haben.200 Ähnliches galt für Kontingente, die angeblich noch aus der Vorkriegszeit stammten.201 Die Währungspraktiken der Berliner Händlerinnen und Händler waren Umwidmungsleistungen, die den Schwarzmarkt als alternative Infrastruktur organisieren halfen und mit konstituierten. An anderer Stelle versuchten Akteure, diese Konstituierungsleistung »von oben« im Sinne des staatlichen Verteilungssystems zu korrigieren. Damit traten sie allerdings in einen Ordnungswettlauf ein, der dazu beitrug, die Grenzen zwischen Legalität und Illegalität permanent zu bestätigen, ohne das Phänomen dauerhaft eindämmen zu können. Konfiszierte Schwarzmarktgelder, welche die Berliner Polizei bei Hausdurchsuchungen und Verhaftungen eingetrieben hatte, wurden eindeutig als solche markiert. Die bei den Tauschgeschäften erzeugte Vermischung von legalen Waren- und Währungseigenschaften schien dabei auf den ersten Blick wieder aufgelöst zu werden. So wanderten die beschlagnahmten Schwarzhandelswaren in die Asservatenkammern der Polizeidienststellen, um später den zuständigen Verteilerstellen »zugeführt« zu werden, die dann die 200 Vgl. ebd. 80375, Bl. 8. 201 Ebd. 89781, Bl. 19.
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vorhandenen Güter wieder in den legalen Konsumraum einspeisten. Die bei Martha Rebbien sicher gestellten Schwarzhandelswaren etwa wurden von den Beamten säuberlich aufgelistet und auf genau diesem Weg weiter geleitet. Mit besonderem Eifer nahmen Polizisten die Waren »gewissenloser Kriegshyänen« in ihre Obhut. In einem »Schlussbericht«, der die verdächtigten Schwarzhändler mit harschen Worten charakterisierte, wurde abschließend angemerkt: »Um die [sicher gestellten] Sachen vor einer Vernichtung durch Terrorflieger zu bewahren, wird gebeten, alsbald darüber Verfügung treffen zu wollen. Da der Eigentümer nicht zu ermitteln ist, dürften die Stoffe vielleicht der Wirtschaftsgruppe und die Stiefel der NSV zur Verfügung gestellt werden«.202 Solche Besorgnis um die rasche Wiedereinführung der Waren in den regulären Verteilungsgang war begründet, kam es doch vor, dass bei den Bombardierungen vor allem zu Kriegsende Waren vor ihrer Weiterleitung vernichtet wurden, wie ein Vermerk des Gewerbeaußendienstes vom 13. März 1945 festhielt. Die bei Schwarzhandelsgeschäften in einem Bordell sicher gestellten Waren, hieß es dort, seien der »Versehrtenabteilung des Staatskrankenhauses zugeführt« worden, weil es sich um »leicht verderblich(e)« Gegenstände gehandelt habe. Von den im Polizeipräsidium im der Magazinstraße gelagerten Waren seien allerdings diverse bei dem »Fliegerangriff« vom 10. März 1945 vernichtet worden. Säuberlich listete der zuständige Beamte insgesamt 17 Posten auf, darunter mehrere Liter alkoholische Getränke, Gänseleberund andere Konserven.203 Das konfiszierte Geld ging eigene Wege, die Trennung zwischen Waren und Währung war damit wieder hergestellt. So wurde etwa der im oben genannten Beispiel von der »Versehrtenabteilung« für die aus dem Schwarzhandel stammenden Waren gezahlte Betrag zusammen mit den bei der Bordellbetreiberin vorgefundenen 14 807 Reichsmark »bei der Polizeikasse als Verwahrgeld eingezahlt«. »Die bei der Verdächtigen pol. sichergestellten RM 250,– wurden bei der Polizeikasse Alexanderplatz unter Buchhalterei 2, Buchn. Tageb. Nr. 215 Titelbuch I, Seite 133 Nr. 1047 eingezahlt«, hieß es im korrekten Amtsdeutsch eines typischen Vermerks.204 Damit ging ein Großteil der Schwarzmarktgelder, nachdem sie »sicher gestellt« worden waren, den verwaltungsmäßig üblichen Weg, waren damit legalisiert und der Aufsicht staatlicher Organe (durch Quittungen und Belege) unterworfen. Buchführungstechniken bildeten andererseits auch einen Gradmesser für die individuellen Professionalisierungsstufen der Berliner Schwarzhändler. Informationen zu notieren erwies sich ab einem gewissen Umfang der Handelstätigkeit als notwendig, wollte man nicht den Überblick über ausstehen202 LAB A Rep 358-02 80067, S. 36. 203 LAB A Rep 358-02 80384, Bl. 22. Vgl. ferner ebd., 89717, Bl. 10/2. 204 LAB A Rep 358-02 80164, Bl. 40f.
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de Lieferungen, zu zahlende Provisionen oder Schulden, Kontaktpartner oder auch Preisniveaus verlieren. Die erhaltenen Aufzeichnungen der Händlerinnen und Händler, die oftmals als Beweismittel von der Polizei genutzt und deshalb sorgfältig aufgehoben wurden, deckten eine ziemlich breite Palette professioneller oder amateurhafter Buchführungsstile ab.205 Von auf anderen Dokumenten am Rand notierten Telefonnummern oder Preisberechnungen bis hin zu systematischen Aufstellungen reichten die Beispiele. Das Gros der Schwarzhändler erreichte bei seinen Aufschreibetechniken nie den Grad der akkurat geführten Asservatsaufstellungen der Berliner Polizei. Gerade wenn die Tauschpartner sich bereits aus relativ engen multiplexen Beziehungen kannten, konnten sie das erreichte Maß an Überblick über ihre Kontakte einfach um den Tausch als einen weiteren Aspekt ergänzen, ohne deshalb auf umständliche Notizen angewiesen zu sein. Anders gesagt: Wenn Nachbarn miteinander tauschten, stellte diese Tätigkeit nur einen von vielen Austauschprozessen dar, die ohnehin stattfanden. Der Tausch von Waren komplizierte die Beziehung deshalb nicht erheblich, wenn es darum ging, sich zu merken, wem man was und wofür gegeben hatte. Anders lag der Fall, wenn ein Schwarzhändler mit relativ fremden Personen eine Tauschbeziehung einging. In solchen Fällen mussten in der Regel Informationen über Treffpunkte, Telefonnummern oder nachgefragte Waren ausgetauscht und – je nach Umfang der Tauschkontakte und der individuellen Gedächtnisleistung – auch festgehalten werden. Handelte es sich um – mitunter zufällig zustande gekommene – Einzelfälle konnten diese noch auf jeder Art von mitgeführtem Papier notiert werden. Mehrten sich die Kontakte und Transaktionen gingen Schwarzhändler dazu über, ständig mitgeführte Hefte für Telefonnummern oder Kalender zu benutzen. Häufig wurden auf einigen Seiten dieser Hefte auch Berechnungen oder Überschläge angestellt. Auflistungen, die Namen mit Waren und Preisen verbanden, standen neben neu notierten Kontakten und Telefonnummern. In seiner Vernehmung erläuterte Martha Rebbiens Tauschpartner Friedrich Wiggers seine Notizen, indem er die auf den Zetteln vorgenommenen Zuordnungen von Namen und Waren als getätigte Transaktionen bestätigte, aber auch darauf verwies, dass es sich zum Teil um Gedächtnisstützen gehandelt habe, die ihn an entsprechende Anfragen bei bestimmten Personen erinnern sollten.206 Solche Formen einer improvisierten Buchführung erfüllten mehrere Zwecke: Zum einen dienten sie als Gedächtnisstützen. Bei einem umfangreicheren Geschäftsbetrieb, wie ihn etwa Martha Rebbien ausübte, wurde es unmöglich, 205 Vgl. die ausführliche Befragung, der Martha Rebbiens Tauschpartner Wiggers auf Grund seiner umfangreichen Notizen unterzogen werden konnte, LAB A Rep 358-02 89667, Bl. 62–65. 206 LAB A Rep 358-02 89667, Bl. 62/2f.
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sich alle Preise, Mengen-, Zeit- und Personenangaben zu merken. Insbesondere das Notieren von Terminen und Telefonnummern gehörte für eine ganze Reihe von Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowieso zu einer normalen Praxis und wurde nun einfach fortgesetzt und modifiziert. Daneben konnten Notizen auch als Argumente dienen, wenn es zu Auseinandersetzungen zwischen Tauschpartnern kam. Ein schriftlicher Vermerk musste den Gegenüber zwar nicht unbedingt überzeugen, machte in einigen Fällen aber doch Eindruck, vor allem wenn der oder die andere es versäumt hatte, selber Buch zu führen. Wer mit Ansätzen einer Buchführung aufwarten konnte, war in der Lage in jedem Fall Eindruck zu schinden, weil er oder sie als »Profi« angesehen werden konnte. Das verbesserte die Verhandlungschancen.207 Buchführung war zudem in jedem Fall die Voraussetzung für eine qualitative Weiterentwicklung des Geschäftes. Erst wer über seine Geschäfte Buch führte, konnte auf längere Sicht Preisniveaus vergleichen, Nachfrageschwerpunkte ausmachen und so seine Geschäftsabläufe verbessern. Händler, die dazu übergingen, ihre Geschäfte in diesem Umfang zu systematisieren, dokumentierten dadurch eine mindestens teil-professionelle Einstellung zum Schwarzmarkt. Sie organisierten ihre Zeitabläufe, Kontaktanbahnungen und beruflichen Verpflichtungen um den illegalen Handel herum. Der Systematisierungsgrad, der sich in den Buchführungsstilen der Berliner Schwarzhändler wider spiegelt, verweist damit eindrücklich auf die Bedeutung, die der Schwarzhandel für einige Teilnehmer mittlerweile erhalten hatte. Ein anderer Aspekt schriftlicher Hilfsmittel des Schwarzhandels betraf Angebots- oder Nachfragenotizen. Der »Bekannte« von Erna Kuschy, Heinz Zeisberger, hatte Martha Rebbien beispielsweise einen Zettel zukommen lassen, auf dem die Schuhgrößen von Kuschy, ihm und seinem Bruder notiert waren, damit seine Tauschpartnerin die entsprechenden Schuhe auftreiben konnte. Ihrer eigenen Aussage nach, wollten Kuschy und Zeisberger dadurch »Beweismittel erbringen um die Rebbien des Schleichhandels überführen zu können«.208 Doch selbst wenn diese Angabe stimmt, was durchaus wahrscheinlich ist, da solche Unterlagen von der Polizei als Belege geschätzt wurden, liefert das Beispiel den Hinweis auf eine gängige, keineswegs nur von Spitzeln initiierte Praxis. Aber womit handelten die Schwarzhändler während des Krieges, welche Waren wurden hauptsächlich umgeschlagen? Diagramm 7 gibt eine Übersicht, der nicht Mengenangaben zugrunde liegen, sondern die Anteile der Transaktionen, bei denen die einzelnen Warengruppen auftauchten.
207 Vgl. LAB A Rep. 358-02 8443. 208 LAB A Rep. 358-02 89667, unpaginiert, Vernehmungsprotokoll der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Berlin, vom 12.12.1944.
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Diagramm 7: Anteile einzelner Schwarzhandelswarengruppen (in Prozent, gerundet) nach Transaktionen (Quelle: eigene Auswertung)
Diese Auswertung liefert auf den ersten Blick keine Überraschungen, belegt sie doch, dass an erster Stelle die kontingentierten und knappen Warengruppen der Lebensmittel und Textilien standen. An dritter Stelle folgten Tabakwaren, die nicht bloß als Konsumwaren um-, sondern auch als Zahlungsmittel eingesetzt wurden. Dienstleistungen waren vor allem Handwerkstätigkeiten, bei denen etwa die Leistungen eines Schneiders in Naturalien bezahlt wurden. Interessant ist, dass Schmuck, also die im eigenen Besitz befindlichen Wertsachen, im Krieg noch keine große Rolle spielten. Zugleich belegt der geringe Wert für Waffen und Drogen, dass es sich bei den hier ausgewerteten Fällen von Schwarzhandelsvergehen kaum um traditionelle Halbweltgeschäfte, sondern tatsächlich um einen »alltäglichen« Schwarzmarkt handelt. Das wird auch bei einem Blick auf jene Warengruppe deutlich, die hier unter »Sonstiges« firmiert. Zu einem guten Teil handelte es sich dabei nämlich um nicht leicht zu typisierende Haushalts- und Einrichtungsgegenstände, die über ihren Warenwert hinaus oftmals eine besondere Bedeutung hatten, weil sie als Andenken die Biografie ihrer Besitzer reflektierten. Gleichwohl sollten diese persönlichen »Wertsachen« nach dem Kriegsende – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung und Selbstbeschreibung der Berliner Schwarzmarktgesellschaft – eine ungleich größere Rolle spielen. Das verwies auf einen grundlegenden Wandel: Zwar bildeten auch die Tauschgeschäfte der Kriegszeit den Versuch, das eigene Auskommen zu verbessern. Doch erst mit den bedrückenden Versorgungslücken der Nachkriegsjahre, als die Zulieferungen aus 162
den besetzten Gebieten ausblieben und Ernteeinbrüche die Lage verschlimmerten, wandelte ein Teil des Berliner Schwarzhandel sich zu jenem »Markt der Armen«, der zugleich das Belegbeispiel für die empörten Reaktionen einer verunsicherten und misstrauischen Nachkriegsgesellschaft abgab.209
4 Die üblichen Verdächtigen. Schieberstereotype der Kriegszeit Die Politik des Regimes stand beim Thema Schwarzhandel vor einem Dilemma. Der Schieber konnte einerseits eine nützliche Negativfigur abgeben. Das Herausstellen und Anprangern von Einzelfällen war geeignet, jene Grenze zwischen der propagierten Einordnung der »Volksgenossen« in die Kriegsgesellschaft, vor allem in das Verzicht einfordernde Rationierungssystem, und dem »selbstsüchtigen« Verhalten einzelner Schwarzhändler immer wieder aufzuzeigen und damit eine inklusive Funktion zu erfüllen. Doch hatte der SchieberBegriff andererseits auch seine Tücken. Zunächst verzichteten die Juristen im Justizministerium auf seine Verwendung. Eigentlich wäre es ein Leichtes gewesen, eine explizite Anti-Schieber-Verordnung zu entwerfen. Dass sie das nicht taten, hatte vor allem einen Grund: Jede Assoziation mit dem »Steckrübenwinter« (1916/17), mit Mangel, Hunger, Schwarzhandelsaktivitäten in Kriegszeiten und mit der chaotischen Inflationsära war aus ihrer Sicht unbedingt zu vermeiden. Wer vom Schieber sprach, brachte den Erfahrungsraum der »verkehrten Welt« in Erinnerung. Dagegen lag allen Begriffen, die den »Krieg« als Präfix führten, gewissermaßen ein Versprechen zugrunde: Rationierung und Folgen der Kriegswirtschaft, wie die Bestrafung von Vergehen gegen die einschlägigen Verordnungen, würden ein Übergangsphänomen bleiben. Der Ausdruck »Kriegswirtschaftsverbrechen« lag ganz auf dieser Linie. Besondere, kriegsbedingte Zustände bedurften eben besonderer Maßnahmen, würden aber – so die implizite Aussage – temporäre Erscheinungen bleiben und auf keinen Fall mit den Niederlagensymptomen von »1918« vergleichbar sein. Diese Vermeidungsstrategie wurde jedoch weder konsequent umgesetzt, noch wäre sie ohne Widersprüche überhaupt durchzuhalten gewesen. Das in den frühen 20er Jahren geprägte Schieber-Bild erwies sich auch während des Zweiten Weltkriegs als äußerst populär. In unzähligen Publikationen hatte der »Schieber« in den Weimarer Jahren als prägende Gestalt erstmals reüssiert, in der sich eine ganze Reihe von vermeintlich typischen Verhaltensweisen miteinander verbanden. Dabei reichte das Spektrum von politisch aufgeladenen Schmäh- und Diffamierungspamphleten bis zu kabarettistischen Schil209 Vgl. unten Kap. IV.3.2.
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derungen. In seiner Fibel »Aufgewärmte Kartoffeln. Ein Büchlein für Politiker, Schieber und Schornsteinfeger, für Reichspräsidenten, Schuster, Minister, Jungfrauen und solche, die es werden wollen« hatte zum Beispiel Alfred Müller-Förster den Zusammenhang von Politik und »Schiebertum« zu parodieren versucht.210 Max Brinkmanns »Kleiner Knigge für Schieber« schilderte die peinlichen Situationen, in die der Berliner »Schieber« und seine Frau als Neureiche geraten konnten, wenn sie ihre kleinbürgerlichen Attitüden nicht ablegten und es versäumten, sich den Gepflogenheiten der wirklich »feinen Gesellschaft« etwa beim »Diner« oder im Theater anzupassen.211 In erster Linie waren »Schiebungen« und »Schieber« aber zu Negativsymbolen der »verkehrten Welt« geworden. Diese Sicht auf die Protagonisten des Schwarzmarkts prägte nicht nur die nationalsozialistische Propaganda, sondern auch die Wahrnehmungen der meisten Berlinerinnen und Berliner. Als allmählich sich im öffentlichen Diskurs etablierendes Stereotyp vereinfachte und überzeichnete das Bild vom »Schieber« einerseits den komplexen Sachverhalt der illegalen ökonomischen Praxis. Andererseits konnten einzelne Merkmale der Diskurs-Figur immer wieder mit realen Personen und Vorgängen in Deckung gebracht werden. Das Wahrnehmungsschema »Schieber« und die beobachteten Handlungen von Akteuren funktionierten als sich wechselseitig beeinflussende Größen. Sie folgten damit jenem Wechselspiel der Strukturierung, das auch das Verhältnis einzelner Aussagen zum Diskurs kennzeichnet. Interessant für eine diskurstheoretischen Blick auf die Figur des »Schiebers« sind vor allem die im zeitgenössischen Diskurs vorhandenen, das Wahrnehmungsverhalten der Beobachter strukturierenden Elemente, die bei einer erneuten Zuschreibung von Attributen aufgerufen, zugeordnet und damit bestätigt werden konnten. Sprache funktionierte dabei als Vorprägung, die »Erfahrungsmöglichkeiten nach Vorgaben der Sprachbilder, der Metaphern, der Topoi, der Begriffe, der Textualisierung, überhaupt der Artikulationsfähigkeit, die das Bewusstsein zugleich prägen und begrenzen« sortierte.212 Der Schieberdiskurs der Kriegszeit war in weiten Teilen eine Fortführung bekannter Motive. Dabei schwenkten auch die eigentlich an den Begriff des »Kriegswirtschaftverbrechens« gebundenen Juristen bald um. Sowohl in den Anklageschriften gegen Personen, denen einschlägige Vergehen vorgeworfen wurden, als auch in den Urteilsbegründungen tauchte der »Schieber« regelmäßig auf. Was war zum Beispiel davon zu halten, wenn es in einer Urteilsbegründung des Berliner Sondergerichts hieß, der Angeklagte sei »durch sein Verhalten zum ›Schieber‹ geworden«, und es müsse »durch strenge Anwendung der Gesetze dafür gesorgt werden, dass solche Erscheinungen, die im vorigen 210 Hamburg 1926. 211 Berlin 1921. 212 Vgl. Landwehr, S. 103–106 u. 130–133. Zitat: Koselleck, S. 267.
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Kriege eine traurige Rolle gespielt und nicht wenig dazu beigetragen« hätten, »den Willen des Volkes zum Durchhalten zu unterhöhlen, nicht wieder« aufkämen?213 Die Erwähnung des populären Begriffs verwies auf eine semantische Verschiebung, die sich letztlich der Wirkungsmacht eines vorhandenen Stereotyps beugte. Die relativ sperrige Bezeichnung »Kriegswirtschaftsverbrecher« konnte die Diskursstelle nicht füllen, für welche die Alltagssprache den Protagonisten der Inflationszeit bereit hielt. Noch untauglicher waren die »Vergehen gegen die Verbrauchsregelungsstrafverordnung«. Dafür ließ sich nicht einmal eine Akteurs-Bezeichnung ableiten. Der »Schieber« und seine Praktiken waren damit nicht zu ersetzen.214 Das hatte – von der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg einmal abgesehen – aus Sicht der politischen Führung auch unbestreitbare Vorteile. Vor allem wenn es darum ging, Schwarzhändlerinnen und -händler als »soziale Außenseiter« stigmatisieren oder »Gemeinschaftsfremden« Schieberpraktiken unterstellen zu können.215 Damit sind zwei Stoßrichtungen der während der Kriegszeit vorherrschenden Deutungen benannt. Denn mit dem negativ konnotierten Begriff des »Schiebers« wurden vor allem zwei unterschiedliche Personengruppen gekennzeichnet: erstens verfolgte Randgruppen, deren hauptsächliches »Vergehen« oftmals nicht der illegale Tauschhandel war. Vielmehr waren sie ohnehin zum Gegenstand jener Verfolgungspraxis der Nationalsozialisten geworden, die auf einen von »fremden« und »asozialen Elementen gereinigten Volkskörper« abzielte. Diese Politik adaptierte seit Generationen in Deutschland gepflegte Ressentiments und wandte sich vor allem gegen Juden, Ausländer, Prostituierte und vermeintliche Kriminelle. Wie auch schon in dem fremdenfeinlich-antisemitischen Diskurs der zwanziger Jahre vermischten sich hier »rassische« und ökonomische Diskurselemente. Zweitens traf der Schiebervorwurf – häufig gestützt auf schwache Indizien, die der Überwachungskultur des Berliner Alltags entstammten – vor allem junge, anscheinend ohne Anstrengung zu Wohlstand gekommene Männer, die ihren Reichtum demonstrativ zur Schau stellten. Das war der Prototyp des Schiebers als Kriegsund Krisengewinnler, auf den ein guter Teil der deutschen Gesellschaft schon in den Inflationsjahren Neid und eigene Verlustängste projiziert hatte. Hinzu trat schließlich, drittens, die Gruppe jener (Einzel-) Händler, die mit begehrten Tauschwaren handelten. Viele Berlinerinnen und Berliner gingen – wie gesehen nicht vollkommen unbegründet – von vornherein davon aus, dass 213 LAB A Rep. 358-02 80128, Bl. 77. 214 Dass sich Rechtsbegriffe der gesellschaftlichen Realität anpassten, war kein neues Phänomen. Geyer, Welt, S. 220, hat darauf hingewiesen, dass in der »Wucherfrage« der frühen 20er Jahre die Richtersprache eine semantische Verschiebung erkennen ließ, die das zeitgenössische Unbehagen am Auseinanderklaffen zwischen populärem Rechtsempfinden und den Gesetzen spiegelte. 215 Gellately u. Stoltzfus.
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Ladenbesitzer oder auch Angestellte des Hotel- und Gaststättengewerbes wie Martha Rebbien, illegalen Tauschgeschäften nachgingen. Auch das war kein neues Phänomen, war der »preistreibende« Zwischenhandel doch schon zu Beginn der Weimarer Republik zum Ziel von Konsumentenprotesten geworden.216 Das Verhältnis breiter Bevölkerungskreise zu dieser letzten Gruppe ist vor allem mit Blick auf die Folgewirkungen der »Schwarzmarktzeit« wichtig. Hier soll die Rede von den beiden ersten Gruppen sein, von den »klassischen« Randgruppen und den »Krisengewinnlern«. In einer Unmenge von Denunziationen, Anzeigen und Zeugenaussagen tauchte der »Kriegswirtschaftsverbrecher« nur vereinzelt auf. Statt dessen wimmelte es von »Schiebern«, »Schleich-« oder »Schwarzhändlern« und ihren vermeintlichen Helfershelfern und Tauschpartnern. Auch Hitler, oberster Gerichtsherr des Deutschen Reiches, vermied das von den Juristen seiner Regierung geprägte Vokabular, wenn er über Schwarzhandelsgeschäfte räsonierte.217 Von »Lebensmittelschiebungen« statt »Kriegswirtschaftsverbrechen« sprachen bald mehr oder weniger häufig alle beteiligten Akteure. Das betraf nicht nur die im engeren Sinn mit der Schwarzhandelsbekämpfung befassten Stellen in Polizei und Justiz. Auch der »Abwehrbeauftragte« des Daimler-Benz-Werkes in Berlin-Marienfelde machte da zum Beispiel keine Ausnahme, als er mehrere ausländische »Gefolgschaftsmänner« wegen »Lebensmittelschiebungen« der Kriminalpolizei überstellte.218 Besonders auffällig war der Rekurs auf »Schiebungen« und »Schieber« allerdings in den zahlreichen Denunziationsschreiben, die häufig erst polizeiliche Ermittlungen in Gang setzten. In Kreuzberg passierten im Winter 1943 »Wunderdinge«, zumindest wenn man einem anonymen Schreiber Glauben schenken konnte. Seine Eingabe an die Staatspolizei dürfte dem Kriminalassessor, der mit der Abschrift beauftragt worden war, einiges Kopfzerbrechen bereitet haben. Akribisch hatte dieser offensichtlich alle grammatischen Fehler seiner Vorlage kopiert. Der Text blieb deshalb in Teilen kryptisch. Doch eins war eindeutig: Die anonyme Person, die hier das Verhalten einiger Schwarzhändler schilderte, wollte »eine Anzahl Grosschieber zur Kenntnis bringen«. In dem Brief an die Polizei hieß es: »Die frühere Pächterin Frohlschläger ein Strassenmädchen von Alexanderplatz verstand es eine grosse Anzahl Hehler und Schieber zu sich in dem Lokal v Weidicke Gitschienerstr. 31 ran zu ziehen so dass sie der W. 900 Mk Pacht zahlen konnte. Ganze Schweine wurden im Lokal geschlachtet Centnerweis Butter Fleisch Caffe Zucker verhandelt, Federvieh in rauen Mengen aus den Colonien gebracht, ebenso Stoffe und alle Kartenwaren verhandelt. Im Lokal sowie beider Wohnungen Juden beherbergt und die Waaren an solche mit Vorliebe 216 Geyer, Welt, S. 180. 217 Picker, S. 213. 218 LAB A Rep. 358-02 89506, Bl. 2.
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zu Riesenpreisen verkauft. Jetzt betreibt die W. das Schiebergeschäft in noch grösserem Stiel allein und die O. in ihrer Wohnung, die Ad. weiss die W. (Oranienstr)«. Der Absender empfahl den Beamten deshalb eine »ganz unauffällige Überwachung des Lokals sowie des Telephons und der Mädicke und der Ohlschläger, danach eine gründliche Haussuchung«. Diese, hieß es weiter, »wird Wunderdinge ans Licht bringen, auch sogleich mit dem Lokal auch ihre Privatwohnung Katzbachstr. Die M. hat 100 tausende schon beiseite geschafft.« Schließlich wurde auf einen zweiten Fall im benachbarten Schöneberg hingewiesen, wo ein Fischhändler angeblich »im Kellerverschläge ganz gross Wurst Cognack Butter überhaupt alle erdenkliche Waare die er zu enorme Überpreise mit und ohne so ne Brüder verkauft« lagere. Auch für das weitere Vorgehen in dieser Angelegenheit hatte der Absender des Briefes einen Ratschlag zu erteilen: »Telephon bewachen, Angestellten scharf vernehmen (…) seine Privatwohnung gleich mit untersuchen«. Offensichtlich handelte der anonyme Schreiber in dem Gefühl, einen Auftrag zu erfüllen. Denn er schloss: »Nach Erledigung dieser Fälle folgen sofort einige weitere. Heil Hitler«.219 Diese etwas wirre Anzeige versammelte mit dem »Straßenmädchen« und der Wirtin, dem Juden und dem Fischhändler Vertreter beinahe aller Personengruppen, denen eine intensive Beteiligung am illegalen Handel nachgesagt wurde. In einem anderen Schreiben an die Polizei kam ein weiterer anonymer Absender, nachdem er seine eigene politische Position dargelegt hatte, auf die einzige Gruppe zu sprechen, die in diesem ersten Beispiel ausgespart worden war. »Als Nationalsozialist und Vorkämpfer der Nationalsozialistischen Weltanschauung, Kriegsteilnehmer von 1914–1918, Inhaber des EK I und II sowie der Tapferkeitsmedaille und des Verwundetenabzeichens« fühle er sich gezwungen, teilte der Absender mit, sein Wissen nicht länger zu verschweigen. Darauf hin schilderte er, wie er angeblich von einem belgischen Kellner im Continental-Hotel am Bahnhof Friedrichstraße Zigaretten im Gesamtwert von 1 000 Reichsmark angeboten bekommen habe. »Wir Deutsche«, fuhr der empörte Schreiber fort, »arbeiten in dem einen Gedanken an unseren Führer und unser Vaterland. Unser Glaube gibt uns die Stärke, alle Entbehrungen ertragen zu können. Und dann kommen diese lästigen Ausländer und besitzen die Schamlosigkeit ganz offensichtlich mit unseren Volksgütern Wucher zu treiben«. Jedenfalls habe er die »dunklen Machenschaften« weiter verfolgt und sei dabei auf eine »Bande« gestoßen. »Eine ganze Menge Franzosen, unter anderem auch Frauen«, hätten in der Ludendorffstraße 82, wo sich nach seinen Worten »sozusagen die Metropole des Schleichhandels« befand, eine Wohnung als regelrechtes »Schmugglernest« eingerichtet: »An ehrbare Arbeit scheint kein Mensch zu denken, denn ich konnte noch nie ein geregeltes Kommen und Ge-
219 Alle Zitate LAB A Rep. 358-02 88105, Bl. 2.
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hen beobachten«, fuhr er fort. Diese Leuten, forderte der Absender, sollten zu spüren bekommen, »dass mit Ihnen bei uns kurzer Prozess gemacht wird«.220 Zwar machten die Verfolgungsbehörden mit ausländischen Schwarzhändlern keinen »kurzen Prozess«; aber wann immer sich »Fremdarbeiter« oder andere in Berlin lebende Ausländer am Tauschhandel beteiligten, festgenommen und vor die Richter der Berliner gebracht wurden, konnten sie mit einer harten Bestrafung rechnen. So stellten die Richter des Amtsgerichts in der Begründung eines Urteils gegen belgische Händler fest, dass es »besonders unverantwortlich« sei, »wenn ausländische Arbeiter, die hier Arbeit gefunden haben, ihren Aufenthalt in Deutschland dazu benutzen, um Schiebergeschäfte zu machen und auf derartige leichtsinnige Art und Weise Nebenverdienste sich zu verschaffen«.221 Der Handel mit Lebensmittelmarken unter »Ausländern«, hieß es an anderer Stelle in einem Polizeibericht, habe »einen rein säuchenartigen (sic) Umfang angenommen«.222 Ausländer konnten von zum Teil erheblichen Gewinnspannen profitieren, wenn sie sich Waren, die vor Ort kaum oder gar nicht zu bekommen waren, aus ihren Heimatländern von Familienangehörigen schicken ließen und diese auf dem Schwarzmarkt verkauften. In einem von der Auslandsbrief-Prüfstelle der Gestapo in Köln-Riehl abgefangenen Brief hatte der belgische Arbeiter Robert Parmentier diese Praxis seinen Eltern mit den Worten geschildert: »Mit der Ernährung hilft man sich, wie man kann. Ich sage Dir, dass ich nicht Hunger leide, denn Du würdest staunen über die Art wie ich mir helfe. (…) Nur ein Beispiel: Hier in Deutschland sind Filme fast nicht zu haben, und ich verkaufe deren mindestens 50 jede Woche. Da kannst Du Dir denken, welche Gewinne ich einheimse«. Da er nicht das ganze auf diese Weise eingenommene Geld verschicken mochte, ging Parmentier auf Einkaufstour und erstand u.a. einen Anzug, ein Grammophon und etliche Bücher.223 Trotz ihrer damit gar nicht mal schlechten Ausgangslage bildeten Ausländer (»Zwangsarbeiter«, »Fremdarbeiter« und andere in Berlin wenigstens vorübergehend ansässige Ausländer) keineswegs eine so zahlreich vertretene Teilnehmergruppe des Schwarzmarkts, wie es sowohl die zeitgenössischen Schilderungen als auch einzelne Forschungserträge vermuten lassen.224 Der Anteil aller ausländischen Marktteilnehmerinnen lag bei 5%, derjenige der männlichen Teil220 LAB A Rep. 358-02 88069, Bl. 4. 221 Ebd. 8723, Abschrift des Urteils (unpag.). 222 Ebd. 88446, Bl. 14. 223 LAB A Rep. 358-02 88580, Bl. 2. 224 Hier hat sich eine perspektivische Verzerrung herausgebildet, die vor allem damit zusammenhängt, dass der Schwarzmarkt insgesamt bislang kaum untersucht, im Zusammenhang mit Forschungen über »Fremd-« und »Zwangsarbeiter« sowie »Displaced Persons« allerdings regelmäßig thematisiert wurde. Das ist nicht den einzelnen Arbeiten vorzuwerfen, hat aber zu einer Eigendynamik geführt: Immer dann, wenn von schwarzen Märkten die Rede ist, tauchen die
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nehmer bei 15%. Berücksichtigt man die im Kriegsverlauf ansteigende Zahl ausländischer Arbeiter in der Stadt, war der Anteil zumindest in den vor den Berliner Gerichten verhandelten Fällen vergleichsweise gering. Reichsweit war die Zahl ausländischer Arbeitskräfte bis 1944 auf etwa 7,7 Millionen gestiegen. Damit stellten sie 20% der vorhandenen Arbeitskräfte. Zugleich entsprach diese Zahl etwa 10% der gesamten Wohnbevölkerung.225 Verzerrend kam hinzu, dass ausländische Schwarzhändler in den Lagern, aber auch in der Stadt einer intensiveren Beobachtung unterstanden, sich die »Wachsamkeit« der Behörden wie auch die von Nachbarn auf diese Außenseitergruppe fokussierte.226 Mindestens genauso groß war diese »Wachsamkeit«, wenn es um die Beteiligung von Juden an Schwarzhandelsgeschäften ging. Im Sommer 1943 verhandelte das Amtsgericht Berlin einen Fall, bei dem der eine Angeklagte als »jüdischer Mischling« in den Akten geführt wurde. Es ging um die Parfümeriegroßhandlung Walter & Liebe.227 Die beiden Inhaber, Ulrich Walter und Karl-Heinz Liebe, handelten mit Kosmetikartikeln aller Art und unterhielten Geschäftsbeziehungen zu Parfümerien in Wien, Prag und Mailand. Ihr Ladengeschäft lag in der Uhlandstraße in Charlottenburg. Weil sie zwischen April 1941 und dem Sommer 1943 »Ware für rund 20 000 RM unter der Hand verkauft« haben sollten, erhob die Staatsanwaltschaft am 5. Juli 1943 Anklage. Die Ermittlungen gegen die beiden Kaufleute ins Rollen gebracht hatte ein Schreiben an die Staatspolizeileitstelle.228 Der Soldat G. Müller brachte darin den Fall zur Anzeige und kommentierte ihn zugleich mit allerhand antisemitischen Äußerungen. Er sei, schrieb Müller, »als Soldat, der seit dem 1. Kriegstage für ausländischen Teilnehmer auf. Damit wird (unfreiwillig) ein zeitgenössisches schiefes Bild wiederholt. Vgl. Spoerer; Herbert; Boelcke, Schwarzmarkt. 225 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 769. Herbert, Fremdarbeiter. 226 Auswertung des Samples. Vgl. oben Kap. II.1.4. Ausländer-Netzwerke bildeten eigene Segmente des Berliner Schwarzhandels, welche als »ethnic economies« funktionierten und zugleich mit anderen »einheimischen« Netzwerken verflochten waren. Vgl. als ein Beispiel für ein Netzwerk italienischer Schwarzhändler, die als »paesani« ihre Tauschbeziehungen organisierten LAB A Rep. 358-02 80099. Vgl. Zum Phänomen der »Paesani« Foote Whyte; zu den Italienern im Reich Lang. 227 Zum Folgenden LAB A Rep. 341-02 9792. Wohl wissend, dass sich die Etikettierung als »Halbjude« o.ä. äußerst negativ auf das Strafmaß auswirkte, versuchten einzelne Verdächtigte nach ihrer Verhaftung noch, ihre Einstufung zu ändern. Besonders deutlich lässt sich das an den in der Untersuchungshaft angefertigten Argumentationsskizzen von Ernst Abrahamson erkennen, der handschriftlich notierte: »1. Arische Frage. Bitte noch einmal persönlich anschneiden zu dürfen«. Anschließend legte er dar, dass die Vaterschaft in seinem Fall nie ganz geklärt worden sei und er deshalb vor einiger Zeit schon um eine »Namensänderung u. Rehabilitierung in der arischen Frage zumindest auf 25%« im Innenministerium nachgesucht habe. Vgl. LAB A Rep. 358-02 89717, Bl. 23. Seine Aufzeichnungen wurden ihm, da er darin auch etliche Warentauschgeschäfte festgehalten hatte, zum Verhängnis. Die Staatsanwaltschaft brachte sie als Beweismittel ein. Vgl. ebd., Bl. 85. 228 Ebd., Bl. 1.
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die bessere Zukunft unseres Vaterlandes« kämpfe, »auf einer kurzen Dienstreise durch Wien« gekommen. Als er dort am Hotel Imperial vorbeigekommen sei, habe er zu seinem »größten Erstaunen den Kaufmann Walter (…) mit (seinem) Mädchen« aus dem Hotel kommen sehen. Wahrscheinlich, vermutete Müller, habe Walter seine Begleitung »im Hotel auch noch als seine Frau ausgegeben«. Gewissenhaft notierte der Soldat dahinter in Klammern: »Also Falschmeldung, werde mich das nächste Mal wenn ich in Wien bin danach erkundigen«. Doch Müllers Schilderung gewann neben dem gängigen Klischee vom faulen, sein erschwindeltes Geld mit Frauen verprassenden Schieber, das hier bereits anklang, noch eine andere Wendung. Denn er fuhr fort: »Walter ist Halbjude und haute vom Militär ab laut dem Erlass des Führers betreffend die Halbjuden. Nun führt er schon über zwei Jahre wieder sein Geschäft in der Uhlandstraße, verdient dicke, denn er geht viele krumme Wege«. Walter sei, schrieb Müller weiter, in letzter Zeit sehr häufig in Prag gewesen, wo er sich »lange Zeit bei einem Juden viele Schuhe« habe machen lassen und überdies »Anzüge, Pelze und dergleichen« aus dem »Protektorat« mitgebracht habe. An Schuhen und Bekleidung, vermutete Müller, müsse der Parfümerieinhaber »sozusagen ein Regiment zuhause haben«. Auch sein angeblicher Lebensmittelkonsum gab dem Briefschreiber Anlass zur Empörung. Walter habe Lebensmittel zu »Höchstschleichhandelspreisen« eingekauft, »Waren gegen Lebensmittel« getauscht und zudem Waren aus dem eigenen Sortiment nur dann abgegeben, wenn er dafür bekommen habe, was er selber gerade brauchte. Bei seinem letzten Aufenthalt in Berlin, wollte Müller gehörte haben, dass Walter »sein Warenlager« auf »verschiedene Keller« verteilt auf bewahre. Auch verdächtigte er einen von Walters Angestellten, der »ebenfalls Halbjude« sei und »wahrscheinlich (mit Walter) gemeinsame Sache« mache. Den Geschäftsinhaber nannte er einen »ausgesprochenen Volksschädling, der alle und alles im Dritten Reich« beschimpfe und »ausgiebige Flüsterpropaganda« betreibe. Es sei »außerordentlich erbitternd« für die kämpfenden Soldaten, dass sie »unter unvorstellbaren Entbehrungen und Leiden für Großdeutschland« kämpften, während sich »die Halbjuden als Geschäftsinhaber krumm« verdienten und sich dazu wie »politische Schweine« benähmen. Wie könne es möglich sein, »dass Halbjuden Geschäftsinhaber sein dürfen?« Das rufe »schon lange eine Erbitterung« unter den Soldaten hervor. Sie hofften, »dass da schnellstens eine Änderung« erfolge. Abschließend fasste er seine Sicht der Dinge zusammen: »Schwindelgeschäfte machen, Lebensmittel zu Höchstschleichhandelspreisen kaufen, Vergnügungsreisen mit arischen Mädchen unternehmen, kurz ein Leben führen, wie wir anständige Geschäftsleute es uns im Frieden nicht mal leisten können und inzwischen fallen draußen die wertvollen Menschen für Deutschlands Größe. Viele meiner Kameraden deckt schon fremde Erde und ich kann ebenso gut heute wie morgen tot sein. Sehen Sie diesem Herrn wenigstens auf die Finger und machen Sie einen Vorschlag, dass dieses Halbjudengesindel, das sich nur staatsfeindlich betätigt, 170
nicht selbst ein Geschäft haben kann. Walter hat einen anständigen arischen Kompagnon, den er wahrscheinlich auch ordentlich übers Ohr haut, aber der kann ja nichts machen, denn er ist eingezogen.«229 Auch der Abschlussbericht der Staatspolizei übernahm die antisemitische Stoßrichtung der Denunziation: »Während er (Walter) als jüdischer Mischling hätte vorbildliche Geschäfte in Abwesenheit seines Teilhabers machen müssen«, hieß es darin, »war er nur darauf bedacht, durch unsaubere Geschäfte viel Geld zu verdienen«.230 Solche Äußerungen, die unmittelbar an jenen durch die Herrschaft des Nationalsozialismus zur Staatsdoktrin gewordenen Antisemitismus anknüpften, waren keine Seltenheit. Zugleich enthielten sie Motive, die auf den demonstrativen Konsum der Verdächtigten abstellten. Mit solchen Motiven wurde allerdings auch eine andere Schieber-Gruppe gekennzeichnet. Zwei Tage vor seinem 33. Geburtstag vernahmen Beamte des dritten Kommissariats der Kriminalinspektion Schöneberg einen Mann namens Erwin Frank. Der 1911 in Berlin-Lichterfelde geborene junge Mann gab an, seinen Lebensunterhalt als selbständiger Kaufmann zu verdienen. Als Wohnsitz nannte er eine Wohnung in der Babelsberger Straße.231 Frank wohnte nicht schlecht. Die Babelsberger Straße lag unweit des Bayerischen Viertels, das erst um 1900 von der Berlinischen Bodengesellschaft als Bauland entwickelt worden war. In den folgenden Jahren hatte sich die Gegend – den Konzepten der Planer entsprechend – schnell in eine »bessere Wohngegend« gewandelt. In den zum Teil großzügigen Wohnungen mit bis zu 12 Zimmern lebten vor allem Vertreter des liberalen Bürgertums: Ärzte, Rechtsanwälte, Intellektuelle und Künstler.232 Dem jungen Mann schien es hier zu gefallen. Für Freunde und Bekannte, die ihn in seiner Wohnung in der Babelsberger Straße besuchten, hatte er immer einige Zigaretten da. Frank war, wie sich während der Ermittlungen gegen ihn heraus stellte, ein Makler des Berliner Schwarzmarkts. Nicht nur verfügte er als Lebensmittelhändler über ein weit verzweigtes Netz an Einzelhändlerkollegen, mit denen er tauschen konnte, er hatte auch Kontakt zu einem Büroleiter der Reichsverteilungsstelle für Tabak und Tabakwaren.233 Die genaue Zahl der von ihm getauschten Zigaretten blieb unklar – die Angaben schwankten zwischen 15 000 und 50 000 Stück. Den Gesamtwert der von Frank und den anderen Mitgliedern seiner »Kriegsschieberbande« gehandelten Waren schätzte ein Beamter auf 3 Millionen Reichsmark.234 Der zu Franks Tauschpartnern ge-
229 230 231 232 233 234
Ebd. Ebd., Bl. 65. LAB A Rep. 358-02 89778, Bl. 3. Vgl. Schmidt, S. 11–14. LAB A Rep. 358-02 89778, Bl. 8. Ebd., Bl. 9.
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hörende Obergefreite Wagner wurde »wegen Schleichhandels und Beamtenbestechung« von einem Kriegsgericht zum Tode verurteilt.235 Ein Fall wie der von Erwin Frank erfüllte alle Voraussetzungen, um als skandalöses Schieberbeispiel zu gelten. Und tatsächlich sprachen die Staatsanwaltschaft wie auch Polizeibeamte sowohl von einem »Kriegswirtschaftsverbrechen größeren Umfangs« als auch von den Beteiligten als »Kriegsschiebern«. Doch ein Großteil der Akteure auf den Berliner Schwarzmärkten ließ sich nur schwer mit dem Bild des prassenden, einem luxus- und vergnügungssüchtigen Lebensstil sich hingebenden »Schiebers« in Deckung bringen. Der Tausch von einigen wenigen Lebensmittelmarken oder der Versuch, zum Geburtstag eines Verwandten einige Kerzen auf dem Tauschwege zu erwerben, passten nicht in diese Kategorie. Gleichwohl waren auch »Eigenbedarfs«-Händler nicht davor sicher, zu »Schiebern« gestempelt zu werden. Die unklare Grenze zwischen verachtenswertem »Schieber«-Verhalten und minderen Vergehen eröffnete den beteiligten Akteuren, die über Deutungsmacht verfügten, die Möglichkeit, ganz unterschiedliche Fälle als Beispiele für »gewissenlose Schiebungen« heranzuziehen. Anders herum konnten die Beamten der Berliner Kripo, aber auch die anzeigenden Zeugen, Nachbarn und Kollegen ihre Eindrücke sofort unter dem Schieberstereotyp subsumieren. Festgehalten wurden in solchen Fällen vermeintlich typische Details, die den beobachteten Schwarzhändler als »Schieber« erscheinen ließen. Im Fall des 32jährigen Max Scheffler, der zwischen 1940 und 1942 mehrere Fässer mit Industrie-Ölen unterschlagen und in Tauschgeschäften umgesetzt hatte, fielen Zeugen wie ermittelnden Beamten gleich eine ganze Reihe von Merkmalen auf, die Scheffler in ihren Augen zum Prototyp eines »Schiebers« machten. Dazu gehörten seine Weltgewandtheit (Scheffler sprach mehrere Sprachen); sein rotes Mercedes Cabriolet, mit dem er regelmäßig durch Berlin fuhr; seine Frauengeschichten (zu allem Überfluss war eine seiner Freundinnen Französin); und sein insgesamt ausschweifender Lebensstil (laut einer Zeugenaussage lebte er »auf großem Fuß«).236 Insbesondere der Wagen und seine Frauengeschichten nahmen neben dem eigentlichen Ölgeschäft einen breiten Raum in den Ermittlungsakten der Polizei ein. Mit Akribie vermerkten die ermittelnden Beamten den Umgang des »Schiebers« mit seiner deutschen Freundin Lieselotte Stange, die angeblich ein »Opfer des hemmungslos genusssüchtigen Scheffler« geworden und ihm wegen sexueller Praktiken verfallen war. Auch wenn die Befragung von Stange im Zuge der Fahndung nach dem Schwarzhändler sicherlich notwendig erscheinen konnte – Scheffler war es gelungen, einen Ortstermin zur Flucht in seinem Wagen zu nutzen –, hätte sie aber sicher nicht auf das Thema der Defloration einer 235 Ebd., Bl. 26. 236 LAB A Rep. 358-02 80477, Bl. 29, 86, 94.
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jungen Frau ausgeweitet werden müssen.237 Hier wie in der peinlich genauen Recherche wegen des Autobesitzes machte sich eine gewisse Fokussierung bei der Ermittlungsarbeit bemerkbar, die den »typischen« »Schieber«-Merkmalen Schefflers besondere Aufmerksamkeit schenkte. Einer Trophäe gleich konnte schließlich der Schlüssel des Mercedes-Cabriolet in einem Umschlag mit in die Akte geheftet werden, nachdem es gelungen war, Scheffler zu stellen und ihm das Fahrzeug – mit dem er die Beamten bei seinem Entkommen gedemütigt hatte – wieder abzunehmen. Die Fixierung auf den Wagen als Schieber-Kennzeichen wiederholte jenen zwischen Erschrecken, Neid und Faszination changierenden Blick auf den demonstrativen Automobilgebrauch, der in den »Roaring Twenties« zum Merkmal eines modernen und dandyhaften Lebensstils geworden war.238 Die Vorstellungswelt, wie sie mittelbar aus den Handlungen der ermittelnden Beamten sichtbar wird, hielt für junge und scheinbar erfolgreiche Männer vom Schlage eines Max Scheffler solch einprägsame Vorbilder wie den »GentlemanSchriftsteller« Arnolt Bronnen als Vergleichsfigur bereit. Bronnen hatte in den 20er Jahren die unerhörte Honorar-Summe von 12 000 Mark in den Kauf eines »schnellen Wagens« investiert, um, einem »Tiger im Asphalt-Dschungel« gleich, »durch die Straßen Berlins« zu sausen.239 Automobilbesitz und Autofahren waren sowohl Ausdrücke einer urbanen Modernität und Bohème-Exis237 Ebd., Bl. 100. Der mit dem Vorgang betraute Beamte sprach von Schefflers Freundin als seiner »geliegten (sic) Lieselotte Stange«. Ebd. 238 Die Verbindung zwischen Straßen- oder Schleichhandel und Automobilen wurde schon in den frühen 20er Jahren gezogen. In der Sitzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung vom 26. Mai 1921 bemerkte der Vertreter der Deutschnationalen, Linke: »Wenn Sie sich nun das Bild des heutigen Straßenhandels ansehen, dann geht schon aus der Art seines Betriebes hervor, dass unter ihm nicht wenige kapitalskräftige Leute sein können; denn der Straßenhandel wird aus Autobussen, Droschken usw. betrieben, und Sie wissen ganz genau, wieviel heute ein Auto oder eine Droschke einen halben Tag kosten«. LAB A Rep. 001-02 Nr. 2310, Bl. 141. Vgl. Geyer, Welt, S. 244. Vgl. zur Ambivalenz des Begriffs der »roaring twenties«, der gewalttätige und freudigorgiastische Konnotationen trug, Lethen, S. 191f. 239 Ebd., S. 198. Gumbrecht, S. 43f., weist darauf hin, dass Autofahren neben seinem glamourösen Aspekt per se immer auch als »potentiell straf bare Handlung angesehen« wurde, wie die raschen Verhaftungen der Fahrer bei Unfällen durch die Polizei nahe legten. In einem von Gumbrecht zitierten Berliner Beispiel konnte andererseits eine aufgebrachte Menschenmenge nur durch die Polizei davon abgehalten werden, den Fahrer eines Unfallwagens, der vermeintlich schuld am Tod von mehreren Menschen war, an Ort und Stelle zu lynchen. In einem Fall, der einige Parallelen zum Beispiel Schefflers aufwies, hielt der vernehmende Beamte auf dem Fragebogen zwar fest, dass sich der Verdächtigte nach eigenen Angaben keine Vorstrafen habe zuschulden kommen lassen, notierte aber peinlich genau einen Autounfall aus dem Jahr 1937 sowie insgesamt vier Ordnungsstrafen wegen des Fahrens eines »unbeleuchteten Wagens«. Vgl. LAB A Rep. 358-02 89778, Bl. 3. Schon in den 30er Jahren hatte die rigide Praxis der Polizei im »Kampf gegen Asoziale« in Berlin »hartnäckige Verkehrssünder« zu jenen Randgruppen gezählt, gegen die im Interesse der »Volksgemeinschaft« vorbeugend vorzugehen war. »Verkehrssünder« rückten damit auf ähnliche Weise in den Fokus der Überwachung wie Bettler, Landstreicher,
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tenz als auch Mittel der sozialen Differenzierung.240 In Thomas Manns Novelle »Unordnung und frühes Leid« war der einzige Autobesitzer ein Börsenmakler, den der Autor wie folgt charakterisierte: »Ein bleicher, lang aufgeschossener Jüngling mit Perlen im Hemd, Sohn eines Zahnarztes, ist nichts als Börsenspekulant und lebt (…) in dieser Eigenschaft wie Aladdin mit der Wunderlampe. Er hält sich ein Auto, gibt seinen Freunden Champagner Soupers und liebt es, bei jeder Gelegenheit Geschenke unter sie zu verteilen, kostbare kleine Andenken aus Gold und Perlmutter«.241 Die moderne, für viele Beobachter nicht nachvollziehbare »spekulative« Geldwirtschaft, ein in ihr begründeter Reichtum und das Fahren von Autos verschmolzen zu einem keineswegs nur bewunderten, sondern auch beneideten und verachteten Signum der »modernen Zeiten«. Neben dem Problem der Umwertung bestehender sozialer und ökonomischer Ordnungsmuster (wie dem zwischen Gläubiger und Schuldner) prägte – verbunden mit dem Währungsverfall in der Hyperinflation – eine verunsichernde Beschleunigungserfahrung den zeitgenössischen Emotionshaushalt: »Die Geldentwertung fährt im Auto und die Gesetzgebung läuft ihr atemlos zu Fuße nach«, hatte 1923 ein Beobachter jene Versuche beschrieben, die Rechtsprechung nach neuen Formeln von Gerechtigkeit und Billigkeit auszurichten.242 Alle drei, Manns Börsenmakler, der Schriftsteller Bronnen und der Schieber Scheffler, gehörten damit zu den wenigen, die mit den Auflösungserscheinungen Schritt halten und sich deshalb »bereichern« konnten. Zugleich dienten sie als Beispiele für einen Individualismus, der sich von der Idee der »Volksgemeinschaft« demonstrativ abzugrenzen schien. Sie waren aus der Sicht manches »Volksgenossen« unverdient zu Reichtum (und damit zu Luxus und Frauen) gekommene Männer, die keiner produktiven Arbeit nachgingen. Als »Geldmensch« verkörperte der Spekulant zugleich »das höchstmögliche Maß an Individualismus und – weil in seinem Handeln nicht an Tradition gebunden – auch von Freiheit«.243 Es waren vor allem der demonstrative Konsum von Luxuswaren, seine Reisetätigkeiten und seine Frauenbekanntschaften, die Scheffler auch in den Augen von Belastungszeugen als »Schieber« auswiesen. In den teilweise nur über Dritte bezogenen Informationen über den Schwarzhändler und seine Aktivitäten verdichteten sich schließlich mehrere Elemente zu einem Konglomerat von Prostituierte, Zuhälter, Homosexuelle, Psychopathen oder auch »Preisbrecher und Schieber«. Vgl. Dreßen, S. 271. 240 Autos blieben trotz der seit den 20er Jahren stetig wachsenden Motorisierung eine relativ seltene Erscheinung im Berliner Straßenbild. Im Jahr 1929 wurden 42 844 PKW registriert. Der kontinuierliche Zuwachs erreichte 1939 mit 122 326 PKW seinen Vorkriegshöhepunkt. Damit lag die Motorisierungskennziffer bei gerade mal 1 : 35. Vgl. Stimmann, S. 139. 241 Mann, S. 679. 242 Hachenburg zitiert nach Geyer, Welt, 207. 243 Ebd., S. 385.
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»Einzelheiten, die Scheffler als Schieber charakterisier(t)en«.244 Die Wäscherin Emilie Paul, die ihre Informationen über ihren Schwiegersohn bezog, der mit dem Angeklagten zusammen gearbeitet hatte, erwähnte etwa Schefflers »Hamsterfahrten«, bei denen er Verstecke in seinem Auto benutzt haben sollte; eine Fahrt mit seiner französischen Freundin nach Frankreich; von 50 Litern Cognac war die Rede, von Devisengeschäften und mitgebrachten Radioapparaten.245 Der Schwiegersohn wiederum hatte von einem Kollegen Geschichten von geheimnisvollen Schmuggel-Autofahrten gehört, von »Lichtzeichen« mit der Taschenlampe bei Nacht und einer Fahrt nach Paris.246 Für ihn war es deshalb keine Überraschung, dass Scheffler als »Schleichhändler« gesucht wurde. Zu den Kernmotiven des negativ aufgeladenen »Schieber«-Stereotyps gehörte eine spezifische Sexualisierung der Figur, wie sie auch zum Kanon antisemitischer Zuschreibungen gehörte. Immer wieder anklingende Bestandteile dieses Topos waren Promiskuität, gefährliche Verführungskünste, eine Vorliebe für junge und hübsche Mädchen und »perverse« Sexualpraktiken. Damit reihte sich der »Schieber« als Diskursfigur in eine lange Ahnengalerie von innergemeinschaftlichen Feindbildern ein, die über sexuelle Devianz konstruiert wurden und zum Teil Wunschprojektionen waren.247 Dabei wurden die demonstrativen Konsumpraktiken des »Schiebers« eng mit seinen sexuellen Erfolgen verknüpft: Durch »Geschenke« aller Art, die er sich aufgrund seiner illegalen Praktiken leisten konnte, so diese Interpretation, war es ihm ein leichtes, junge und unerfahrene Mädchen für sich zu gewinnen, die damit – aus dieser Sicht – letztlich in den Stand von Prostituierten absanken. Dass auch Beobachter, die eigentlich nicht dazu neigten, (Vor-) Urteile allzu leichtfertig übernehmen, nicht dagegen gefeit waren, Schieber-Stereotypen anzuhängen, zeigt ein Eintrag im Tagebuch der Journalistin Ursula von Kardorff. Am 12. April 1944 notierte sie: »Neulich, in einem Lokal, wurde mir klar, wie es noch kommen wird. Neben uns saß ein Paar, sie in fleckigem Pullover, er in Hosenträgern. In einer großen Feldflasche hatten sie Eierkognak und boten davon den Kellnern an. Als wir unser kümmerliches Menü mit einem IG-Pudding von giftiger Farbe beendet hatten, servierte man ihnen gebratene Ente, dazu roten Sekt. Das sind die Typen, denen die Zukunft gehört. Bei uns steht alles auf der Kippe, jeden Tag kann sich der Untergang vollziehen, aber jene werden in jedem Regime oben schwimmen«.248 Der Schieber-Begriff war einerseits relativ uneindeutig. Auf die Frage, was genau einen Schieber auszeichnete, hätten wohl die meisten Beobachter zwar 244 Ebd., S. 107. 245 Ebd. 246 Ebd., S. 107f. 247 Vgl. zur Stigmatisierung und Diskriminierung von promisken Personen währen der Kriegszeit Timm, S. 202ff. 248 Kardorff, S. 137.
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einige Merkmale, aber keinen abschließenden Katalog von Eigenschaften und Praktiken benennen können. Doch darum ging es gerade. Die Offenheit des Begriffs erlaubte eine situative Zuschreibung, die den einen Fall (etwa im eigenen Bekanntenkreis) noch als Gefälligkeit beschreiben konnte, während in einem anderen eindeutige Verurteilungen möglich waren. Andererseits waren solche empörten Anklagen und Verdächtigungen auf einen Kernbereich von Schieber-Merkmalen angewiesen. Dazu gehörten typische Praktiken wie der demonstrative Konsum (von Mangelwaren), ein geschickte (»gewieftes«) Auftreten und eine gewisse Skrupellosigkeit. Hinzu traten äußerliche Merkmale, etwa der typische (elegante) Kleidungsstil. Nicht umsonst tauchte der Anzug als Schieber-Kennzeichen sowohl in Manns Novelle als auch in der Anzeige des Soldaten Müller auf. Die Schieber-Zuschreibungen fokussierten sich zudem auf Automobile. Das hatte sowohl mit dem Wagen als Symbol von Reichtum zu tun als auch mit einer in den Quellen durchscheinenden Mobilitätsvorstellung. Der Schieber war immer unterwegs, war heute hier und morgen dort, reiste ins Ausland oder fuhr mit seinem Auto durch die Stadt. Damit schien er unfassbar – und im Vorteil. Statt wie andere »Volksgenossen« an einen Ort oder an berufliche Verpflichtungen gebunden zu sein, teilte er seine Zeit frei ein und bestimmte seinen Platz selber. Der Schieber – das scheint in den zeitgenössischen Äußerungen immer durch – war eben auch sein eigener Herr und niemandem Rechenschaft schuldig. Das war aus der Sicht des »unfreien« Beobachters unmoralisch, aber eben auch attraktiv. In diesen Zusammenhang gehörte es auch, schwarz handelnden Personen ihre »Arbeitsscheu« vorzuwerfen. Schieber mussten nicht arbeiten, weil sie ihren Lebensunterhalt komplett durch illegale Geschäfte verdienen konnten. Unklar blieb meistens, ob der Schieber erst ein Schieber und dann arbeitsscheu war, oder umgekehrt, ob gerade arbeitsscheue »Elemente« zu Schiebern wurden, weil das ihrem Naturell entsprach. Alle diese Zuschreibungen erfüllten eine zentrale Funktion. Sie erlaubten, eine diskursiv hergestellte Eindeutigkeit zu erreichen. Auf Kosten von Minderheiten wurde eine sinnhafte Inklusion der Mehrheit in die »Volksgemeinschaft« ermöglicht, indem man einige Wenige diskursiv und praktisch ausschloss. Weil sich die Kriegsgesellschaft einer ganzen Reihe von massiven sozialen Verschiebungen und hierarchischer Neuordnungen ausgesetzt sah, wuchs das Bedürfnis, Ordnung und Eindeutigkeit in die zunehmend kontingenten Verhältnisse zu bringen und Sündenböcke für Fehlentwicklungen zu finden. Genau das ermöglichte jene Umformulierung komplexer Sachverhalte und Fragen nach moralischen Maßstäben, die keine Abstufung mehr zuließen, sondern Fehlverhalten simplifizierten und bestimmten Personengruppen von vornherein zuordneten. 176
Teil III Zerstörung, Orientierungslosigkeit und neue Ordnungsmuster. Der Wandel der Schwarzmarktlandschaft im Übergang vom Krieg zum Nachkrieg »The notion of extermination is exemplary in Berlin. In the unerasable city, the impression one gets when looking at the photographs (…) is that the one thing that was not erased in all the bombings – and almost everything was – were the streets: the makings of the streets, the curb, only a few centimeters high.« (Daniel Libeskind, Radix – Matrix)
Bereits in den letzten Monaten des Krieges veränderte sich die Berliner Schwarzhandelslandschaft. Denn neben den Handel in geschlossenen Räumen trat der Markt als ein im Stadtbild sichtbares Phänomen von Versammlungsöffentlichkeit. Vereinzelt hatten Tauschpartner bereits zuvor Straßen und Häuserecken zu Treffpunkten und Tauschplätzen auserkoren. Doch spätestens ab Oktober 1944 waren Gruppen von Händlerinnen und Händlern als »focused gatherings« permanent im Stadtbild präsent.1 Dieser Prozess hatte mehrere Ursachen. Neben den Versorgungsschwierigkeiten hing er vor allem mit einer umfassenden Krise des städtischen Lebens unter den Vorzeichen des »Alltags im Ausnahmezustand« zusammen.2 Die mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung befassten Stellen waren zunehmend zum Zuschauen verurteilt. Die brutale Härte, mit der gegen »Kritikaster«, Plünderer und Deserteure vorgegangen wurde, bildete die schreckliche Kehrseite einer staatlichen Gewaltausübung, die längst nicht mehr in der Lage war, allen Auflösungserscheinungen umfassend entgegen zu treten.3 Zu diesen Auflösungserscheinungen gehörte in zunehmendem Maße das Auftreten von Händlerinnen und Händlern in der Öffentlichkeit sowie eine spezifische Form von Konsum, die ein Bestandteil der Krise des städtischen Alltags war und ihn zugleich reflektierte.4 1 Hinweise darauf finden sich sowohl in den Berichten der Wehrmachtpropaganda (vgl. Wette, S. 151ff.), als auch in einzelnen Polizeiberichten und Gerichtsakten. Vgl. LAB A Rep. 358-02 123725; 79979, Bl. 12ff.; LAB Pr. Br. Rep. 030-01 Nr. 1095, Bl. 5. Vgl. zum Begriff »focused gatherings« Kendon. 2 Vgl. Nieden, Alltag. Für die Auflösung eines »normalen« Alltags unter den Bedingungen des »Endkampfs« in Berlin auch Beevor. 3 Vgl. für die Gewaltausübungen durch Gestapo und Strafjustiz Blank, S. 386-390. 4 Vgl. zur wechselseitigen Beeinflussung von geografischem Stadtraum und Konsumformen Glennie, S. 944.
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In den Wirren der letzten Kriegswochen kam es bisweilen zu absurd anmutenden Situationen. Am 23. April 1945 etwa warfen Angehörige der japanischen Botschaft eine Chiffriermaschine, die auf den Namen »Hinoki« (Lebensbaum) hörte, in einen im Grunewald gelegenen See, die Krumme Lanke.5 Diese wegen der vorrückenden feindlichen Armeen getroffene Sicherheitsmaßnahme hätten sie sich allerdings sparen können. Längst hatten die Briten den Code entschlüsselt und abgefangene Telegramme mit großem Interesse darauf hin durchgesehen, ob sie relevante Informationen über die Lage in der Stadt enthielten. Denn für die Lebensbedingungen in Berlin, die der Bildung alternativer Infrastrukturen Vorschub leisteten, interessierten sich neben deutschen Sicherheitsorganen, wie dem SD, auch gegnerische Geheimdienststellen. Nicht nur wollte man in London über die militärische Stärke der deutschen Truppen informiert sein; auch die »Moral« in der eingekreisten Stadt gehörte zu dem Bild, das sich die britischen Lagebeurteiler über den Alltag in Berlin zu machen versuchten. Am 15. März 1945 verteilten Decodierer die Zusammenfassung einer abgefangenen Nachricht. Kopien dieses als »Top Secret U[urgent]« eingestuften Schriftstückes gingen an das Foreign Office, die einzelnen militärischen Stäbe und den Nachrichtendienst M.I. 5. Dabei handelte es sich um einen dechiffrierten Text des Botschafters, General Oshima, an seinen Vorgesetzten, den japanischen Außenminister in Tokio. Informiert wurde die mit dem Deutschen Reich befreundeten »Achsenmacht« über die »living conditions in Berlin« – eine von »Hinokis« letzten Amtshandlungen.6 Die britischen Auswerter filterten aus dem »long telegram« die für sie wichtigen Informationen über die Infrastrukturbedingungen und den Alltag in der »Reichshauptstadt« heraus. Dabei ging es hauptsächlich um den Ausfall von U- und S-Bahnen und die Knappheit an Dingen des täglichen Bedarfs. Die beinahe permanenten Alarme wirkten, wie sich der Botschafter ausdrückte, »certainly annoying«. Insgesamt zeichnete das Telegramm das Bild einer Stadt in der Krise, die kaum noch Kontakt zur Außenwelt hatte. Allerdings gaben die Auswerter auch den Eindruck des japanischen Diplomaten wieder, »that in spite of the continued presence in Berlin of large numbers of foreign labourers and Soviet prisoners-of-war labourers there is no evidence of anxiety as to the maintenance of order. Petty thefts of food, liquor tobacco, etc., continue, but he has not heard of any particular increase in robberies or heinous crimes«. Außerdem war dem Botschafter aufgefallen, dass »although food ›points‹ are being limited in various ways one’s rations can be obtained so that at least a minimum livelihood is assured«. Die staatlichen Stellen, gaben die Auswerter den Bericht wider, hätten die Situation nach wie vor weitgehend im Griff. 5 Nobuo, S. 70. 6 PRO HWI/3607, Japanese Ambassador Reports on Life in Berlin, 15th March, 1945. Alle folgenden Zitate aus ebd.
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Wie die einzelnen britischen Stellen diese Informationen bewerteten, ist nicht überliefert. Sie wären gut beraten gewesen, den Bericht des Botschafters, der sich vor allem um die Versorgung seiner Behörde mit Benzin sorgte und zudem mit der Illoyalität seiner Untergebenen zu kämpfen hatte, kritisch zu bewerten.7 Denn Oshima hatte offensichtlich nicht einmal mehr den Überblick über das, was in seinem eigenen Haus geschah. Fixiert auf das BenzinProblem berichtete er nach Tokio, dass »the allowance of 200 litres [of fuel] hitherto assigned to the Embassy has been stopped as from March. Supplies are accordingly being bought on the black market in exchange für coffee, though even such purchases are becoming more and more difficult«. Was er hingegen nicht zur Kenntnis nahm: Neben diesen offiziell bekannten Bemühungen, die Fahrbereitschaft der eigenen Wagen zu gewährleisten, hatte sich der Berliner Schwarzmarkt längst in der Botschaft selbst eingenistet. Der Bau im Diplomatenviertel des Tiergartens, in den 30er Jahren als nationalsozialistisches Repräsentationsobjekt entworfen, hatte sich in einen illegalen Tauschraum verwandelt.8 Wesentlich besser informiert als der Hausherr war die Berliner Polizei. Wie die erstaunten Beamten der Kriminalinspektion Schöneberg am 5. September 1944 erfuhren, hatte der von ihnen in anderer Sache vernommene Autosattlermeister Eduard Sternhagen sowohl Eier als auch »Telefunken-Radioapparate« von Angehörigen der Botschaft erhalten.9 Dass die 360 Eier zu 700 Reichsmark, die Sternhagen von einem dort angestellten Fahrer namens »Lio oder so ähnlich« erworben hatte, ebenfalls aus der Botschaft stammten, war höchst wahrscheinlich. Schließlich wies eine so große Zahl auf entsprechende offizielle Quellen hin. Allenfalls konnte man dem japanischen Botschafter zugute halten, dass ihn solche »kleineren« Vergehen vielleicht nicht weiter interessieren mussten. Das wäre aber lediglich ein weitere Beleg dafür, dass sich die Maßstäbe, die an eine einigermaßen funktionierende öffentliche Ordnung angelegt wurden, massiv verschoben hatten. Diese Verschiebung der Maßstäbe war ein Produkt der sich langsam verstärkenden und insbesondere mit dem Einsetzen der schweren Luftangriffe auf die Stadt radikalisierten Auflösung normaler Lebensumstände. »Alle Wegmarken der LTI«, hatte Victor Klemperer in seinem »Notizbuch eines Philologen« festgestellt, »zählen auf Stalingrad zu oder von Stalingrad her«.10 Damit brachte er in seiner Untersuchung der »Lingua Tertii Imperii« eine von den Zeitgenossen gemachte Erfahrung auf den Punkt, die später von der Historiografie aufgenommen werden sollte. Nach der militärisch-strategisch wie psychologisch desaströsen Niederlage im Winter 1942/43 kam es zu einem Stimmungsum7 8 9 10
Vgl. Martin, S. 31. Vgl. zur Planungs- und Baugeschichte Dülffer, Botschaft, S. 87ff. LAB 358-02 89781, Bl. 21. Klemperer, S. 322.
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schwung, mehrten sich die Anzeichen, dass einen wachsenden Teil der »Volksgenossen« die Zuversicht verließ und die Kritikbereitschaft zunahm.11 Doch das Wendejahr 1943, das mit der Niederlage von Stalingrad begann und jenen mentalen Einschnitt markierte, der vielfach die zuvor vorhandene Zuversicht durch Skepsis oder sogar Defätismus ablöste, wurde für eine ganze Reihe von Bewohnern Berlins auch aus Gründen zur Zäsur, die den Alltag in der Krisenstadt unmittelbarer betrafen. Eine große Zahl der in den Schwarzhandelsakten erfassten Lebensgeschichten nahm im Laufe des Jahres 1943 eine neue Richtung. Dazu gehörte vor allem die Erfahrung einer durch den Krieg erzwungenen Mobilität.12 Bevor Angeklagte, Verdächtige und Zeugen zu Teilnehmerinnen und Teilnehmern auf dem illegalen Markt wurden, hatten viele von ihnen sich mit dem gleichen Problem konfrontiert gesehen: Sie wurden ausgebombt und mussten umziehen. Solche kleinen Zäsuren des städtischen Alltags deckten sich nicht immer mit den »großen« Daten, wie sie der Krieg im Ganzen vorgab, sondern waren zuweilen leicht verschoben. Nicht 1939, sondern vor allem der ab November 1943 intensivierte Luftkrieg markierte für viele Berlinerinnen und Berliner jenen Einschnitt, den man als eine verspätete und dramatische Begegnung mit der Kriegswirklichkeit bezeichnen kann. Für eine öffentliche Auseinandersetzung mit den schrecklichen Erlebnissen der Bombardierung war in der Kriegsgesellschaft kein Raum. Die durch die Bombardements verursachte »kollektive Verletzung« konnte kaum artikuliert werden, sollte das Leben doch bereits kurze Zeit nach den Angriffen möglichst »normal« weiter gehen.13 Kontinuität und Routine hatten vor dem Krieg und abgeschwächt auch in der ersten Kriegsphase das städtische Leben geprägt. »Normale« Rhythmen waren Bestandteile der Überlebensfähigkeit der einzelnen Akteure wie der Stadt als Gesamtheit gewesen. Urbanes Leben vollzog sich als ein Zusammenspiel individueller »Handlungsströme« (Giddens), die ein großes Maß an Entlastung für jeden einzelnen bedeutet hatten, weil sie als automatisierte Handlungsvollzüge handlungsentlastende Routinen ermöglichten. Jene untrennbare Bezogenheit von vorbewusster Körperkontrolle und alltäglichen Handlungen hatte unter den Bedingungen eines noch wenig vom Kriegsgeschehen beeinträchtigten Stadtalltags den meisten Einwohnern ein Gefühl von Sicherheit vermit11 Broszat. 12 Dieses gestiegene Mobilitätsbedürfnis wurde durch eine weitere Wendemarke der Berliner Kriegsgesellschaft konterkariert. Die innerstädtische Mobilität im öffentlichen Nahverkehr hatte seit 1933 kontinuierlich zugenommen. Zwischen 1933 und 1943 hatte sich die Zahl der beförderten Personen auf 2,27 Mio. nahezu verdoppelt. Wegen der Zerstörungen ging 1944 die Zahl auf 1,82 Mio. zurück. Vgl. Statistisches Landesamt der Stadt Berlin, S. 216f. Zu den Schäden an Industrie- und Verkehrsbetrieben innerhalb des »letzten halben Jahres« im gesamten Reichsgebiet vgl. Blank, S. 446-448. 13 Neumann, Bombenkrieg, S. 324.
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telt. Routinen, die eine friedensähnliche Normalität ermöglichten, konnten »konstitutiv sowohl für die kontinuierliche Reproduktion der Persönlichkeitsstrukturen der Akteure in ihrem Alltagshandeln, wie auch für die sozialen Institutionen« wirken.14 Sie ermöglichten Körperpraktiken, die zur individuellen Sicherheitserfahrung beitrugen. Der Körper und das »Erleben der Körperbewegungen« bildeten »das Zentrum der Handlungs- und Bewusstseinsformen«, und es war die »Aktivität des Körpers im Fluss des Handelns«, die »unmittelbar an der Seinsgewissheit bzw. der ›Vertrauens‹haltung gegenüber der Kontinuität der Welt und des Selbst, die in der durée des Alltagslebens steckt(e), beteiligt« war.15 Solche Erfahrungen waren bis in die Kriegszeit hinein weit gehend ungefährdet möglich gewesen. Wie Aufnahmen aus den ersten Kriegsjahren zeigen, blieben viele Routinen – der Ausflug ins Schwimmbad, »normale« Arbeitsabläufe, Fahrten durch die Stadt etc. – zunächst erhalten und konnten ein Mindestmaß an individueller Sicherheit tagtäglich erlebbar machen.16 Damit konnte die Stadtbewohner jene selbstverständliche Geltung der Alltagswelt als Garant sozialer Ordnung durch alltäglich Vertrauen stiftende Bestätigungen von routinierter »Normalität« immer wieder neu erfahren.17 Auch die ersten Bombardierungen hatten zwar für Erschrecken gesorgt, blieben aber für die meisten Stadtbewohner, die nicht in den betroffenen Stadtteilen lebten oder arbeiteten, relativ unbedeutend.18 Erste Anzeichen der bevorstehenden Auflösungserscheinungen machten einige Beobachter im Verlauf des Jahres 1943 aus. So notierte die in der Redaktion der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« arbeitende Ursula von Kardorff am 25. September in ihr Tagebuch: »In unserem Haus brannte es nur auf dem Dachboden ein wenig. (…) Überall brannten Phosphorblättchen (…), die wir aber zum Glück mit Sand abdecken konnten (…) Schließlich bemächtigte sich unser eine Art fatalisti14 Vgl. Giddens, S. 111f. 15 Ebd., S. 117. 16 Vgl. die lange Zeit in Moskauer Archiven gelagerten Filmaufnahmen, die Irmgard von zur Mühlen unter dem Titel »Bomben auf Berlin. Leben zwischen Furcht und Hoffnung« (Chronos Film GmbH, Kleinmachnow) bearbeitet und zugänglich gemacht hat. An ihnen lässt sich der Auflösungsprozess alltäglicher Routinen deutlich ablesen. Die zum Teil unmittelbar nach Bombenangriffen aufgenommenen, von Goebbels unter Verschluss gehaltenen Aufnahmen der zweiten Kriegshälfte stehen in scharfem Kontrast zu den Bildern eines weitgehend friedlichen Alltags zu Kriegsbeginn. 17 Die Bedeutung dieser Stabilisierungsleistung experimentell belegt bei Garfinkel: »The critical phenomenon is (…) the perceived normality of environmental events as this normality is a function of the presuppositions that define the possible events«. Zitat: S. 198. Damit bestätigt sich der Befund von Wegner, S. XXII, dass »auch Zeiten des Krieges immer wieder Inseln der Friedfertigkeit aufweisen«, die scheinbar klare Dichotomie von Krieg und Frieden räumlich und zeitlich differenziert betrachtet werden muss. 18 So starben bei den Angriffen 1940 und 1941 222 bzw. 226 Personen. Large, Berlin, S. 311. Dagegen waren es allein bei dem kaum zweistündigen Angriff am 23. November 1943 nach den offiziellen Angaben 3 758 Personen. Vgl. Kellerhoff u.Giebel, S. 221.
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sche Heiterkeit. Suchten etwas zu trinken. (…) Dann zogen wir los. Gingen schließlich auf den Kurfürstendamm. (…) ›Rund um die Gedächtniskirche‹ hatten andere Gewalten die Lichtreklame angezündet als in den Zeiten der Vergnügungen. (…) Der Zoo ist ebenfalls schwer getroffen, viele Tiere sollen umgekommen, andere ausgebrochen sein. Es ist ein unheimliches Gefühl, hier könnte plötzlich ein Tiger auftauchen.«19 Noch konnte ein solches Erlebnis für die Verfasserin als erschreckende, aber auch exzeptionelle, glücklicherweise gut ausgegangene und irgendwie exotische Begebenheit (ein Tiger an der Gedächtniskirche!) gelten. Zwei Tage später hielt sie fest: »In der Redaktion geht alles seinen normalen Gang. Berlin ist so groß, dass viele Kollegen von dem Angriff überhaupt nichts gemerkt haben. Vom Promi [Propagandaminister Joseph Goebbels, M.Z.] wird zugegeben, dass die Angriffe bei weitem die schwersten waren, die je auf eine Stadt heruntergegangen sind.«20 Nur ein halbes Jahr später war die Wahrnehmung eine vollkommen andere. Am 1. März 1944 findet sich in Kardorffs Aufzeichnungen der Eintrag: »Heute herrscht wieder einmal Alarmpsychose, weil genau vor einem Jahr, am ›Tag der Luftwaffe‹, der erste schwere Alarm auf Berlin gestartet wurde. Wie harmlos das damals war, man sehnt sich fast danach zurück«.21 Karl Deutmann war hingegen bereits bei den Angriffen im Sommer 1943 von einer dunklen Vorahnung ergriffen, als er in sein Tagebuch schrieb: »Die Häuser erbebten (…) wirst du nun leben, Häusermeer Berlins, oder aber gleiten die Fittiche des Todes über dich hin, – über eine sterbende Stadt? Die Menschen sind still und leerer als sonst die Straßen. Die große Stadt hält den Atem an und --- wartet«.22 Die Veränderungen des städtischen Lebens unter den Vorzeichen des Luftkrieges erfassten nicht den Alltag aller Einwohner in gleicher Weise. Machte es objektiv auch einen Unterschied, ob man mitten in der Stadt in der Nähe größerer Infrastruktureinrichtungen oder weiter außerhalb wohnte, war das vorherrschende Gefühl doch, dass Ausbombungen individuelle Schicksalsschläge seien, die prinzipiell jeden treffen konnten. Nicht wenige ereilte das Schicksal mehr als einmal. Martha Rebbien musste innerhalb der vier Jahre zwischen 19 Kardorff, S. 88f. 20 Ebd., S. 93. 21 Ebd., S. 130. 22 Deutsches Historisches Museum (DHM), Rep. I/ 2. Weltkrieg/ F1/ M, Tagebuch Deutmann, Eintrag vom 1.9.1943, Nr. 122 (Nummerierung des Verfassers). (Im Folgenden zitiert als DHM, Tagebuch Deutmann). Deutmanns Tagebuch ist eine der besten Quellen für die Alltagsgeschichte Berlins zur Kriegs- und Nachkriegszeit. Der Verfasser hielt darin – einen weitgehend distanzierten und chronistenhaften Stil pflegend – lückenlos seine Beobachtungen zu den Auswirkungen des Bombenkrieges auf den städtischen Alltag fest. Die Angaben sind nicht nur außergewöhnlich dicht, sondern decken sich auch – was Orts-, Zeit- und Intensitätsangaben angeht – mit den Quellen einer Geschichte des Bombenkriegs »von oben«, wie sie aus offiziellen Statistiken ablesbar wird. Vgl. Demps. In tabellarischer Form wieder abgedruckt in Kellerhoff u. Giebel, S. 216–230.
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1940 und 1944 insgesamt drei Mal umziehen. Zwei Mal waren Bombenschäden die Ursache gewesen. In jedem Fall hatten solche erzwungenen Umzüge Umstellungen zur Folge, die in der Regel Einrichtungs- und damit Besorgungsfragen nach sich zogen. »Meine Frau und ich zogen nun zum drittenmal um«, notierte Karl Deutmann im Februar 1944 in sein Tagebuch, und fuhr fort: »Wieder habe ich in der neuen Wohnung Wände vernagelt und Fenster mit Pappe dicht gemacht. Wieder hat meine Frau für unsere Sachen ein Plätzchen gefunden, alles sauber, schön und wohnlich gemacht, die Kuckucksuhr aufgezogen und Blumen auf das Fensterbrett gestellt und alles getan mit Sorgfalt und frohem Mut (…) Vorgestern kehrte nun die Wohnungsinhaberin (…) zurück. (…) Deshalb ziehen wir in den nächsten Tagen zum viertenmal um. (…) Ob es damit wohl abgetan ist?«23 Umzüge brachten es nicht nur mit sich, dass Einrichtungsgegenstände besorgt oder Wohnungen notdürftig instand gesetzt werden mussten. Sie bedeuteten auch bürokratische Probleme. Man musste eine neue Bleibe zugewiesen bekommen, neue Möbel mussten beantragt, die zuständigen Kartenstellen aufgesucht, neue ortsgebundene Zuteilungen eingetragen werden. Das alles funktionierte – wie das Beispiel der in ihre Wohnung zurück kehrenden Wohnungsinhaberin zeigt – häufig nicht reibungslos: Anreize zur Umgehung waren damit zuhauf gegeben, »wilde« Umquartierungen die Folge.24 Der Umzug bedeutete für viele wegen der Zerstörungen von Hab und Gut eine schmerzliche Verlust- wie eine prekäre Mobilitätserfahrung, bedeutete die Auflösung der heimischen Sphäre und brachte zudem bei Umzügen in andere Stadtteile ein Gefühl der Fremde in der neuen Umgebung mit sich. Auch wenn der Verlust »der Geborgenheit in der Wohnung« nicht »bis zum Zusammenbruch des persönlichen Identitätsgefühls führen« musste, blieb er für viele doch eine traumatische Angelegenheit.25 Am 1. Februar 1944 notierte Ursula von Kardorff, nachdem sie vor den Luftangriffen für ein paar Tage nach Neuhardenberg ausgewichen war, in ihr Tagebuch: »Vier Nächte ungestört schlafen, das ist heute ein Geschenk. (…) Lieber nicht nachdenken, wie alles noch werden kann. (…) In unser Haus ging beim letzten Angriff eine Mine. Nun ist nichts mehr erhalten, auch die anderen sieben Wohnungen, in denen wir in Berlin gewohnt haben, stehen nicht mehr. Ich fühle eine wilde Vitalität, gemischt mit Trotz, in mir wachsen, das 23 DHM, Tagebuch Deutmann, 10.2.1944, Nr. 182 24 Die Kriegsschädensämter waren zunehmend überfordert. Sachmittel fehlten häufig, an finanziellen Entschädigungen hatten die Behörden nicht zuletzt wegen der Inflationsgefahr kein Interesse. Vgl. Blank, S. 425. Zu »Umgehungen« gehörten immer wieder auch Bestechungen, Gefälligkeiten und attraktive Tauschangebote. Vgl. den Fall eines Bauleiters für Fliegerschadenbeseitigung, der sich mehrfach bestechen ließ und zum Beispiel »Fliegerschäden in Schlächterläden« bevorzugt beseitigte. LAB A Rep. 341-02 6475. 25 Vgl. Selle, S. 23.
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Gegenteil von Resignation. Ob es das ist, was die Engländer mit ihren Angriffen auf die Zivilbevölkerung erhoffen? Mürbe wird man dadurch nicht. Jedermann ist mit sich beschäftigt. Steht meine Wohnung noch? Wo bekomme ich Dachziegel, wo Fensterpappe? Wo ist der beste Bunker? Die Katastrophe, die Nazis wie Antinazis gleichermaßen treffen, schweißen das Volk zusammen. Dazu gibt es Sonderrationen nach jedem Angriff: Zigaretten, Bohnenkaffee, Fleisch. ›Gib ihnen Brot, und sie hangen dir an‹, siehe Großinquisitor bei Dostojewski.«26 Für die »Betreuung« der Bevölkerung nach Luftangriffen sollten seit Kriegsbeginn vor allem »Parteieinsätze« der NSDAP sorgen. Die eigentliche Bewältigung der Bombenschäden wurde nach den Erfahrungen mit den ersten Großangriffen neu organisiert und unterstand vor allem den Reichsverteidigungskommissaren, die sogenannte Gaueinsatzstäbe zur »Bekämpfung schwerer Schäden nach Fliegerangriffen« einrichteten. Die Beschaffung von Ersatzwohnungen, Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen gelang aber nur unzureichend. Mit zunehmender Kriegsdauer entwickelten sich solche Versorgungsfragen zu einem immer drängenderen Dauerproblem.27 Ausbombungen, aber auch temporäre – unmittelbar kriegsbedingte oder aus Versorgungsabsichten unternommene – Stadt-Land-Bewegungen sorgten dafür, dass die Stadt über das gewohnte Maß hinaus von neuen Bewegungsund Auflösungsmustern erfasst wurde. Solche alltäglichen Verschiebungen betrafen die Zeit- und Raumbezüge der Einwohner, alltägliche Praktiken, feste Rollenverteilungen zwischen den Geschlechtern, aber auch zwischen älteren und jüngeren Bewohnern. Nach den Anspannungen durch Bombenangriffe brach, so hat es Kardorff geschildert, »unter den Menschen, die nichts verloren haben, eine durch nichts zu dämmende Heiterkeit aus, und die vielen Strohwitwer verbringen ihre Abende dann zügelloser als ihre Frauen, die sich auf dem Lande langweilen, es je vermuten können. Alle Bindungen haben aufgehört, nichts wird mehr ernst genommen angesichts der Möglichkeit, heute oder morgen zu sterben. Was überhaupt hält dieser Auflösung noch stand?«28 Und an einem ihrer Adlon-Abende, bei denen sie hin und wieder Entspannung suchte, fand sie sich in dieser Einschätzung bestätigt: »Dort rauschendes Leben. Viele Männer, wenige, aber elegante Frauen. Ehemänner, deren 26 Kardorff, S. 119f. Auch die Schwierigkeiten bei der Organisation der Sonderzuteilungen nach Bombenangriffen waren Teil der Auflösungserscheinungen. Die eigentlich zentral in Berlin hergestellten Karten konnten ab Mitte September 1943 wegen der unsicheren Transportsituation zum Beispiel Städte im Ruhrgebiet nicht mehr zeitnah erreichen. Damit erschien ihr Zweck, durch Bombenangriffe verursachte Versorgungsprobleme aufzufangen und vor allem die »Moral« der Stadtbevölkerung zu stärken, in Frage gestellt. Die psychologisch wichtige Wirkung des ausgegebenen »Zitterkaffees« oder »Zitterschnapses« sollte deshalb durch eine Dezentralisierung der Kartenproduktion gewährleistet werden. Vgl. Schmitz, S. 149. 27 Vgl. Vgl. Blank, S. 385 u. 417–432. 28 Kardorff, S. 160.
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Familien evakuiert sind, lassen sich nur allzu bereitwillig in ihrer Einsamkeit trösten. Pech nur für die Mädchen, wenn die Ordnung eines Tages wieder hergestellt ist und sie merken, dass sie nur Ausweichexistenzen waren.«29 Das Phänomen der Auflösung erfasste nicht nur räumliche und zeitliche Orientierungskonstanten, sondern wirkte sich auch auf Rollenverhalten und soziale Beziehungen aus. Vormals fest gefügte Bindungen verloren an Bedeutung oder waren zumindest in Frage gestellt. Berlin war damit zu einer Stadt chaotischer Handlungsabläufe geworden, die nur noch zum Teil den von den staatlichen Stellen etablierten Ausgleichsund Ersatzmustern folgten. Diese den Kriegsverhältnissen angepassten alltäglichen Routinen hatten das städtische Leben teilweise in »ordentliche« Bahnen zu lenken gewusst. Dazu gehörten eingeübte Verhaltensweisen wie die Brandbekämpfung, das Aufsuchen der Keller und Bunker, aber auch die geregelte Verteilung von Lebensmitteln in den zugewiesenen Abgabestellen. Solche staatlich organisierten Ersatzinfrastrukturen blieben erstaunlich lange intakt, waren aber überwiegend defizitär und wurden zudem in immer stärkerem Maße von anderen, nicht staatlich kontrollierten ergänzt und abgelöst. Der augenfälligste Beleg dafür, dass auch den Behörden die Aufrechterhaltung eines geordneten städtischen Lebens zunehmend entglitt, bot das Evakuierungsprogramm.30 Nachdem zwischen dem Sommer 1943 und dem Ende des Krieges rund 1,2 Millionen Menschen die Stadt verlassen hatten und nur eine reduzierte und weitgehend auf Verteidigung ausgerichtete Bewohnerschaft von etwa 2,8 Millionen Menschen verblieben war hatte Berlin eher den Charakter einer Festung denn einer Stadt angenommen.31 Gerade in den Evakuierungen sahen die Berliner Jugendämter eine Ursache für die massiven Auflösungserscheinungen. Besonders konzentrierten sich ihre Berichte auf die Auswirkungen, die diese Maßnahmen auf Kinder und Jugendliche hatten. Die »infolge des Luftkriegs« notwendig gewordenen Evakuierungen, hieß es darin, hätten Familien auseinander gebracht. Deshalb fehle vielen – vor allem weiblichen – Jugendlichen eine »geordnete Häuslichkeit«. 32 29 Ebd., S. 122f. Vgl. auch die Feststellung von Koselleck, 266f., dass zu den Ereignisstrukturen der beiden Weltkriege habe die »Durchbrechung der Intimwelt« gehört habe, »so dass die sexuellen Verhaltensweisen der bürgerlichen Gesellschaft zerschlagen« wurden. 30 Zu den Hintergründen Torrie, S. 47–62. Die Folgen der Evakuierungen hatten auch Familienväter zu tragen, die mit der Bekämpfung des Schwarzhandels ihr Geld verdienten. So wurde den Beamten des Gewerbeaußendienstes der Berliner Polizei im März 1944 mitgeteilt, dass ihr »Jahresurlaub 1944/45« einschließlich der »Beurlaubungen zum Besuch der evakuierten Familien« wegen der angespannten Lage nur dann zu gewähren sei, wenn die Zahl der Urlauber höchstens 15% der »Iststärke« erreichen würde. Ausnahmen könnten »unter keinen Umständen zugelassen werden«. LAB A Pr. Br. Rep. 030, Tit. 90 Nr. 7619/2, Der Leiter des Gad, Tagesbefehl Nr. 4 vom 2.3.1944. 31 Statistisches Landesamt der Stadt Berlin, S. 58; Large, S. 327. 32 LAB APrBr Rep 030-01, Nr. 1095, Absatz 4.
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Aber auch männliche Jugendliche blieben häufig »sich selbst überlassen«, der einzelne sei vielfach »keinem anderen Menschen Rechenschaft über seine Zeit und sein Handeln schuldig«, und so suche »er Gelegenheiten auf, die ihm die Welt des Erwachsenen als begehrenswert erscheinen« ließen. Vom Vergreifen an fremdem Eigentum wurde berichtet, von der »Versuchung, Sachen an sich zu nehmen«, der viele nicht widerstehen könnten. Es mehrten »sich die Fälle, wo Jugendliche nach Angriffen als angebliche Fliegergeschädigte auftreten, sich die entsprechenden Bescheinigungen, Bezugsausweise und Gelder aushändigen lassen, verschickt werden und alle Vergünstigungen eines Fliegergeschädigten erhalten«. Allgemein steige die Zahl der »Anzeigen von straf baren Handlungen, die in ursächlichem Zusammenhang mit dem Luftterror gegen die Zivilbevölkerung« stünden und »infolge der eingetretenen Schäden begangen« würden. Diese richteten »sich in den verschiedensten Fällen auch gegen Kinder beiderlei Geschlechts (Mädchen treten allerdings kaum in Erscheinung) und gegen weibliche Jugendliche als Beschuldigte.« Bei der Motivforschung verwiesen die Berichterstatter auf einen »spielerische(n) Drang nach Betätigung, eine gewisse Abenteuerlust, wie sie das Kriegserleben in einem jungen Menschen« hervorrufe, und ein »Verlangen, unbekannte Dinge zu ergründen und zu erforschen«, welche die Jugendlichen Handlungen begehen ließen, »die bei Erwachsenen, durch ihr überlegtes Handeln, an Straf barkeit« grenzten. Kindern sei schließlich die »Schwere ihrer Tat, wie sie durch das Kriegsgeschehen hervorgerufen wird, nicht bewusst«. Wohl könnten sie Recht von Unrecht unterscheiden. Aber in vielen Fällen führe sie das »Sprichwort ›Gelegenheit macht Diebe‹, (…) in Versuchung«. Schließlich müsse man berücksichtigen, dass das »fremde Eigentum (…), was mehr denn je in verlockender Weise und unbeaufsichtigt« herumliege, »zum Zugreifen« geradezu »auffordere«.33 Der »jugendliche Mensch« sei »durch das Kriegserleben frühzeitig gefördert und auf Dinge hingewiesen worden, die über den Rahmen des alltäglichen normalen Geschehens« hinausgingen. Insbesondere »das kriegsbedingte Eingreifen in das Familienleben, die Umstellungen im Berufsleben, der Ablauf des täglichen Geschehens in Beruf und Freizeit« ließen »den Jugendlichen immer wieder den Krieg als Tatsache und in seinen Auswirkungen spüren«.34 Regelmäßig wurde auf die aufgelösten Familienbande als Ursache verwiesen. Von einer »ungenügende(n) Beaufsichtigung der Kinder«, von der »Abwesenheit des Vaters«, der »stärkere(n) Inanspruchnahme der Mutter durch Berufsarbeit und erschwerter Haushaltsführung« und von der »fehlenden Schulaufsicht« war die Rede. In ihrer unkontrollierten Freizeit gingen Jugendliche deshalb auf »ausgedehnte Entdeckungsreisen durch die ausgebombten Stadtgegenden« und wür-
33 Ebd., Absatz 3. 34 Ebd., Absatz 3/2.
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den Diebstähle begehen, die häufig ein klares Motiv hätten. Denn regelmäßig spielten dabei »Tauschgeschäfte der Kinder untereinander eine große Rolle«.35 Die Kriminalität unter Kindern und Jugendlichen rückte besonders dann in den Fokus der Aufmerksamkeit, wenn es sich dabei um öffentliche Praktiken von ausländischen »Tätern« handelte. So hielt ein Bericht aus den letzten Kriegstagen fest, dass »auf den Straßen und in den Bahnhöfen (…) im Laufe des Winters vielfach Kinder zu beobachten« gewesen seien, »die den Passanten buntbemaltes Spielzeug gegen Brotmarken anboten«. Dabei habe es »sich um Kinder aus Ostarbeiter-Lagern« gehandelt, die »von Erwachsenen hergestellte Sachen in Form getarnter Bettelei« verkauft hätten.36 Insgesamt könne man fest stellen, dass der »herumstreunenden Jugend« unter den kriegsbedingten Umständen »die feste Hand« fehle. Jener umfassende Auflösungsprozess bestehender Ordnungsmuster erfasste damit sowohl alltägliche Routinen als auch moralische Standards, die vor allem mit dem Verweis auf die Verrohung von Kindern und Jugendlichen drastisch geschildert werden konnten.37 Doch blieben solche Tendenzen keineswegs auf die Gruppe jugendlicher Personen beschränkt. Kriminalität war ein »um sich greifendes« Phänomen.38 Juristen und Soziologen sprachen in der Nachkriegszeit von einer »Kriminalität des totalen Ruins« (Hans von Hentig) und davon, dass Kriminalität zu einer »Lebensform selbst geworden« sei.39 Die Veränderungen, die in dieser Hinsicht beobachtet wurden, versuchte der Freiburger Generalstaatsanwalt Karl Bader in seinem Buch zur deutschen Nachkriegskriminalität auf den Punkt zu bringen. 1927 habe ein Mord in der Provinz die Bevölkerung »nah und fern (…) monatelang« in Atem gehalten. Erfuhren die Leute hingegen während des Krieges von einem derartigen Verbrechen, »zuckte (…) man die Achseln, und selbst grauenhafte und abstoßende Mordtaten, die wir noch im Zusammenbruch zur Sühne brachten, gingen im Durcheinander des Alltags fast unter«.40 Aber nicht nur die Zahl der Schwerverbrechen stieg in Berlin. Von den 11 724 zwischen Juni 1945 und Juni 1946 im Kammergerichtsbezirk verurteilten Personen hatten sich allein rund 10 000 eines Vergehens schuldig gemacht, das mittelbar oder unmittelbar Wirtschaftsstrafsachen betraf. Dazu gehörten an erster Stelle Diebstähle und Vergehen gegen die Verbrauchsregelungsstrafverordnung, zu denen illegale Tauschgeschäfte gehörten.41
35 Ebd., Absatz 5, Bericht vom 9.4.1945. 36 Ebd. 37 Zur Jugendkriminalität der Kriegs- und Nachkriegszeit vgl. Kebbedies. 38 Vgl. Wagner, S. 316ff. 39 Bader, S. 1. In unzähligen Publikationen widmete sich die juristische wie die soziologische Forschung des »um sich greifenden« Kriminalitätsproblems. Vgl. die Bibliografie ebd. 40 Ebd., S. 2. 41 Statistisches Landesamt der Stadt Berlin, S. 144.
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Solche moralischen Verwerfungen wurden in den zeitgenössischen Schilderungen regelmäßig mit der sichtbaren Zerstörung der Stadt in Zusammenhang gebracht. Den äußeren Schäden des Stadtbildes entsprach eine mentale Zerrüttung vieler ihrer Bewohner. Nicht nur die Gebäude Berlins lagen in Schutt und Asche, auch die seelischen Haushalte jedes einzelnen waren angegriffen. Die Auflösung gewohnter Ordnungssysteme verursachte eine Krise, die auch eine moralische Dimension hatte. Neuorientierung bezog sich damit einerseits auf im engeren Sinne praktische Probleme, wie etwa die räumliche Orientierung in der zunehmend zerstörten Stadt. Dazu gehörte auch, dass ehedem problemlose Bewegungsmuster, wie etwa die alltägliche Fahrt zur Arbeit, erheblich erschwert wurden. So notierte Ursula von Kardorff, dass sie »manchmal vier Stunden zur Redaktion unterwegs« und dann dort »vom Arbeiten« doch »nicht viel die Rede« gewesen sei: »Es ist mehr zum Schein, dass man sich dort zeigt«.42 Andererseits spiegelte die steigende Kriminalität sowohl die veränderten Umstände wider als auch einen Bewusstseinswandel. Angesichts der täglichen Gefahr, von Unordnung und Verlusten wogen »kleinere Vergehen« nicht so schwer. »Verfehlungen« wie massive Gesetzesübertretungen bildeten ein Kernthema des zeitgenössischen Diskurses. Was durfte man unter den gegebenen Umständen, und was nicht? Diese Frage erlangte im Chaos zwischen Krieg und Nachkrieg eine wichtige Bedeutung. Zur Debatte standen die Geltungsbereiche einer als zeittypisch wahrgenommenen »Grenzmoral«.43 Die Parallelisierung der Krisen von Stadt und einzelnen Individuen war erst vor dem Hintergrund der aus den aus den Fugen geratenen Raumbezüge plausibel geworden. Der Bombenkrieg etablierte die Vertikale als bestimmende Bezugskonstante und veränderte damit die alltägliche, jetzt ängstliche Blickrichtung: die Gefahr durch die Bomber am Himmel, der durch Suchscheinwerfer, Feuer und Rauch markierte Lichtraum oberhalb der städtischen Dachlinie, das brennende Dach selber, die bedrohten Wohnungen samt Einrichtungen, das Straßenniveau als vielfach außer Kraft gesetzter Lebensraum und schließlich – das Gegenstück zur Ausweitung des Raumes in die Höhe durch die angreifenden Flugzeuge: der Keller. Bunker und Keller gehörten als Aufenthaltsorte mit Beginn der schweren Luftangriffe zum festen Repertoire der Berliner Alltagsräume und zu einem »beherrschenden Moment des Kriegsalltags«.44 Am 25. Januar 1944 hielt Kardorff eine typische Bunker-Situation in ihrem Tagebuch fest: »Neulich war ich (…) im Zoo-Bunker. Gespenstisch. Eine Herde Menschentiere läuft, während die Flak schon zu schießen beginnt, im Dunkeln auf die Eingänge zu, die klein und viel zu eng sind. Taschenlampen gehen an, und alles schreit: ›Licht aus!‹ Dann schiebt und stößt 42 Kardorff, S. 94. 43 Vgl. Schöllgen. 44 Vgl. Blank, S. 377.
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und drängt das Volk hinein, wobei man sich wundert, dass es noch verhältnismäßig gut abgeht. Die Bunkerwände, massige Steinquadern, wirken wie das Bühnenbild zur Gefängnisszene im ›Fidelio‹.«45 Waren Bunkeraufenthalte zunächst noch etwas Neues gewesen, verlagerte sich der Berliner Kriegsalltag vor allem ab dem Winter 1943/44 zunehmend in den Untergrund; nicht in erster Linie in die Bunker, sondern vor allem, weil die Bauprojekte unter dem Generalbauinspektor Albert Speer weit hinter den Planungen zurück geblieben waren, in Keller und Schutzräume.46 Unterhalb der Berliner Wohnhäuser war ein eigenes »System von Gängen und Tunneln« entstanden. Hier, wie in den Bunkern, sollten klare Hierarchien mit Luftschutzund Bunkerwarten sowie Ordnern eine behelfsmäßige Ordnung aufrecht erhalten. Der Aufenthalt in diesen Notunterkünften wurde für die Insassen allerdings zusehends zur Qual. Mangelhafte hygienische Bedingungen, gepaart mit der akuten Lebensgefahr und entsprechenden, zwischen Panik und Apathie schwankenden Stimmungen, prägten das Bild. Berichte von Bunkerärzten registrierten »das langsame Vertieren und Verrohen von sonst ordentlichen Menschen, die plötzlich nach Verlust bzw. Zerstörung von Hab und Gut zu Höhlenbewohnern geworden sind«. Gereiztheit und Gewalt waren häufig die Folge.47 Die Krise der Stadt zeichnete sich daran ab, dass sie die Hoheit über den sie in Friedenszeiten auszeichnenden Mittelteil zwischen Straße und Trauf höhe weit gehend preisgeben musste. In dem Maße, wie die Akteure, wenn sie die Schutzräume verließen, den schützenden Dachraum als Orientierungspunkt verloren, gewann der dem Körper vorgelagerte Orientierungsraum der Straße an Bedeutung. Der Bombenkrieg hatte nicht nur die geschlossenen, sondern auch die offenen Räume der Stadt verändert und damit zugleich die Seins- wie auch die Bewegungsmodi der Überlebenden. Der Alltag schrumpfte in der »Ruinenstadt« stärker als zuvor auf Körperhöhe und damit auf den prekären Raum persönlicher Begegnung.48 Ein Beispiel, welches diese Reduzierung städtischer Bewegungsräume illustriert, ist das typische Bewegungsmuster des Flanierens oder Schlenderns. Mit diesen Begriffen war in Friedenszeiten eine der prominentesten Bewegungsformen in der Stadt beschrieben worden.49 Jene ziellose, dem Straßen-, Menschen- und Häuserbild der Stadt zugewandte Bewegung, die 45 Ebd., S. 110f. 46 Ebd., S. 396f. 47 Zunächst erfolgte die Organisation im Bunker noch mit Hilfe von Bunker, Sitz- und Liegeplatzkarten. Dazu und für das Zitat: ebd., S. 410f. 48 Das »Wegducken« des städtischen Alltags illustrierten auch die zur Verwirrung angreifender Bomber entwickeltren Camouflage-Praktiken, womit beispielsweise die zur Orientierung aus der Luft wichtige Ost-West-Achse entlang der Charlottenburger Chaussee verdeckt werden sollte. Vgl. die Abb. in Engeli u. Ribbe, S. 999, sowie allgemein zum Wettlauf zwischen Bombardierungs- und Camouflagetechniken Deriu. 49 Vgl. Schlögel, S. 260–265, und Benjamin. Hier v.a. S. 527.
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zugleich nahtlos in den Schaufensterbummel als urbane Konsumpraxis übergehen konnte, markierte eine individuelle Gangart, die als Ausdruck entspannter Souveränität galt. Wer durch die Stadt schlenderte (oder flanierte) löste sich aus den hektischen zielgerichteten Bewegungsströmen und gab sich ganz dem Schauspiel hin, das die Stadt ihm bot. Zu schlendern bedeutete: freie Zeiteinteilung und ein nur scheinbar unbeteiligtes, eigentlich aber die Stadt als urbanen Lebensraum wahrnehmendes Aufmerksamkeitsniveau. Schlendern war Luxus, aber ein demokratischer Luxus, der Flaneuren die Gelegenheit bot, die Beherrschung jener typischen urbanen Stadtaneignung vor allen anderen demonstrieren zu können. Doch solche Bewegungsmuster waren nur möglich gewesen, weil sie in einer gewohnten und schon gar nicht von Zerstörung bedrohten städtischen Umwelt statt finden konnten. Schlendern war damit zugleich eine sich des Bekannten (noch einmal) vergewissernde Praxis, ein Abschreiten von sicheren Räumen und Anordnungen, das allenfalls kleine Korrekturen des Bestehenden zu verarbeiten hatte. Die dabei registrierte Stadtlandschaft bildete ein Agglomerat institutionalisierter, dauerhafter Anordnungen, die nicht nur sicher waren, sondern diese Sicherheit zugleich auch vermittelten.50 All dies war in der Ruinenlandschaft der Stadt nicht mehr möglich. Das Flanieren war nur noch in erinnernden Verweisen auf die Stadt vor dem Krieg präsent. Jetzt verglich Ursula von Kardorff die Bewegungen der von ihr beobachteten Menschen, wenn sie in die Bunker eilten, mit einer »nervösen Ameisenmenge« und sprach von dem Leben in der bedrohten Stadt als einer »Termitenexistenz«.51 Als nach Kriegsende die verbesserte Sicherheitslage das Schlendern auf den Märkten wieder erlaubte, wurde dies mit Erleichterung wahrgenommen. Das war ein Bestandteil jenes Diskurses, der in den Märkten und ihren Praxisfeldern ein Zeichen friedlicher Zeiten und der beginnenden Normalisierung sah.52 Kardorff notierte am 20. September 1945: »War abends noch am Kurfürstendamm. Hübsche Mädchen mit Schleifen im Haar und Umhängetaschen schlendern zwischen englischen, amerikanischen und französischen Soldaten einher«.53 Doch in solchen Beschreibungen konnten auch negative Konnotationen mitschwingen. 50 Vgl. zur Bedeutung von Räumen zur Konstituierung alltäglicher Sicherheit – im Rückgriff auf Giddens – Löw, S. 161–163. 51 Kardorff, S. 122 u. 133. Vgl. auch ebd., S. 110, wo sie von »einer Herde Menschentiere« spricht. Der Vergleich Mensch-Tier bildete eine gängige Chiffre, um die Auflösung normaler Lebenszusammenhänge zu beschreiben. Ruth Andreas-Friedrich vermerkte kurz nach Kriegsende am 12. Mai 1945 in ihrem Tagebuch: »Wir biegen in die Wilhelmstraße ein. Ruinen und Staub. Staub und Ruinen. Wo irgendwo ein Keller stehenblieb, tummeln sich die Trophäisten, zappeln treppauf und treppab, gleich Maden auf einem Käse«. Andreas-Friedrich, S. 30ff. 52 Solche Beschreibungen glichen Selbstverortungsdiskursen, in denen – etwa nach (Natur-) Katastrophen – Stadtbewohner als »therapeutische Gemeinschaften« Dispositive des »Überlebens« und »Weitermachens« entwerfen. Vgl. Ranft u. Selzer. 53 Kardorff, S. 309.
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Beobachter, die gewohnte städtische Praktiken und Sicherheit gewährende Routinen weiterhin schmerzlich vermissten, sahen darin ein unverhältnismäßig lässiges Verhalten, dass sich nur Besatzer und Schieber im wahrsten Sinne des Wortes »leisten« konnten. Ein solches Verhalten passte aus dieser Sicht nicht in eine Zeit, in der die Stadt einem »Trümmerhaufen« glich und viele Bewohner um ihr Überleben bangen mussten. Besonders die Kontrastwirkung zwischen Bewegungsablauf und der »Kulisse« der zerstörten Stadtlandschaft wurde von diesen Interpretationen hervor gehoben. Wenn einzelne Akteure sich stadttypisch in der nicht mehr intakten Stadtlandschaft verhielten, fiel das besonders auf. Karl Deutmann hielt in seinem Tagebuch Eindrücke fest, die er auf mehreren Erkundungsgängen im Frühling und Sommer 1945 gesammelt hatte: »Fahrt in die Stadt. Berlin ist zu einem Haufen Dreck geworden. (…) Auf allen Straßen und Plätzen türmen sich Trümmerhaufen, aus denen man Barrikaden baut. Wo auf dem Kurfürstendamm noch ein besseres Café geöffnet ist, da flegeln sich gut genährte Weiber in Herrenanzügen auf den Polsterstühlen herum, die bestimmt für das deutsche Volk noch nicht einen Finger krumm gemacht haben. (…) Was ist aus dir geworden, schönes, sauberes, leuchtendes Berlin. Ein gewaltiger unsichtbarer Einreißhaken hat die Schlösser und Dome, Universitäten, Theater, Museen, Kauf häuser, Villen, eleganten Luxusstraßen, Konsulate, Reisebüros, Sportpaläste, Ministerien, Bahnhofsgebäude, Fabriken, Markthallen, Restaurants, Arbeiter- und Villenviertel niedergerissen in den Staub. Asche und – nichts. Das ist das Leben. (…) Wir Überlebenden aber werden viel hungern müssen in der nächsten Zeit und bitter kämpfen um jeden Tag unseres Lebens. Das ist der Frühling von Berlin«.54 Hatte sich Deutmann in diesem Fall vor allem an dem »Herumflegeln« der »gut genährten Weiber« gestört, das in einem scharfen Kontrast zum Zustand des zerstörten Stadt stand, schilderte er einige Wochen nach Kriegsende bei einer weiteren Tour durch die Innenstadt (über die Kreuzberger Adalbertstraße, die Michaelkirchbrücke und den Alexanderplatz bis in die Brunnenstraße) vor allem die eigenen tastenden Bewegungsabläufe, die eine normale Stadtbegehung ersetzten: »Die Straßen sind, soweit es möglich ist, aufgeräumt, um den Verkehr notdürftig wieder herzustellen. (…) Zeitweise geht man über einen Teppich aus Staub. Oder man geht wie ein Seiltänzer über wackelnde flache Steinplatten, die auf den eisernen Querträgern einer zerstörten, schiefen Brücke liegen. (…) Die Stadt ist ein öder, unheimlich wirkender Trümmerhaufen mit gespenstischen Formen ehemaliger Häuser, Straßen, Plätze und Stadtviertel. Russische Soldaten durchziehen die Trümmerstadt, Autos hupen«.55 Zu zentralen Bezugspunkten der Stadtwahrnehmung entwickelten sich in diesem Chaos die spontan entstandenen Schwarzmarktreffpunkte. »An einer 54 DHM, Tagebuch Deutmann, Eintrag vom 4.3.1945. 55 Ebd., Eintrag vom 24.6.1945.
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Straßenecke«, notierte Deutmann hinterher, »war ein wilder Schwarzhandel im Gange. Hier gab es alles zu kaufen oder zu tauschen. Für eine Armbanduhr je nach Qualität gaben russische Soldaten u. Offiziere einige Pfund Butter, Fleisch, Tabak oder Geld an die Deutschen. Es gab Anzüge, Schuhe, Wäsche, Strümpfe, Oberhemden, Ringe, Taschenuhren und anderes mehr«. Von dem »Leben und Treiben« habe er allerdings Kopfschmerzen bekommen, meinte Deutmann und war erleichtert, als er zusammen mit seiner Frau Berlin wieder verlassen hatte.56 Die Ergänzung negativer Schwarzmarktbewertungen durch positivere Motive sollte sich nur allmählich durchsetzen. Für viele Beobachter hatte sich an ihrer Einstellung gegenüber den »Schiebern« und ihrem »volksschädlichen Verhalten« nichts geändert. Im Gegenteil: Zum Ende des Krieges, die drohende Niederlage vor Augen, reagierten sie nur umso sensibler auf den Schwarzmarkt als Auflösungssymptom der bestehenden Ordnung. In den »Stimmungsberichten der Wehrmachtpropaganda-Aktion«, die im Stile der SD-Berichte den Stimmungen und Haltungen der Berliner Bevölkerung nachzuspüren suchten, spielte der illegale Handel eine zentrale Rolle.57 Die öffentlichen Tauschpraktiken riefen eine Welle der Empörung hervor. Vielen Beobachtern erschien der öffentliche Tausch ein Vorbote der Niederlage zu sein. Der Schwarzhandel weckte Erinnerungen an das Kriegsende von 1918. In den aufgezeichneten Äußerungen gingen die Auflösung der bestehenden Ordnung, der Schwarzmarkt als Symptom dieses Vorgangs, die drohende Niederlage und das Inflationsgespenst eine Symbiose ein. Der Schwarzhandel bildete dabei das im Stadtbild sichtbare Symbol dieses Prozesses. Wo illegale Handlungen »am hellichten Tag« auf öffentlichen Plätzen unkontrolliert oder sogar unter den Augen der Polizei stattfinden konnten – so diese Interpretation –, da konnte das Ende nicht weit sein. In der Verurteilung der »Schiebereien« trafen sich noch einmal die ablehnenden Haltungen von »einfachen Berlinern« und der NS-Führung. Hierin zeigte sich zum wiederholten Mal, dass ein beträchtlicher Teil der Stadtbewohner wenigstens in der generellen Beurteilung der Lage mit den ausgegebenen Parolen übereinstimmte.58 Doch die Motive für diese Interpretationseinheit zwischen politischer Führung und Bevölkerung waren unterschiedlich. Zwar hatten beide Seiten Grund genug, die Niederlage zu fürchten und den Schwarzhandel deshalb als (vermeintlichen) Vorboten eines drohenden persönlichen Unglücks abzulehnen. Aber aus der Perspektive der »einfachen Leute«, die sich nicht zuerst als politische Verantwortungsträger begriffen, spielten Erinnerungen oder Ahnungen des »Untergangs« die wichtigere Rolle. Der Schwarzmarkt als Symbol verhieß für sie vor allem die Auf56 Ebd. 57 Wette, S. 127–355. 58 Zur Zustimmung auch im Krieg und in der letzten Kriegsphase vgl. Gellately, Hingeschaut, S. 15 u. 311ff.
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lösung einer bestehenden Ordnung, wie »unnormal« und »aus den Fugen« sie auch gewesen sein mochte, und die Radikalisierung des Ungewissen. Die Erfahrungen der Inflationszeit bezogen sich deshalb auf mehr als nur die militärische Niederlage. Für viele verband sich mit der Auflösung staatlicher Ordnung das Erleben chaotischer Lebenszusammenhänge, deren ganze Wirkungsmacht nicht zuletzt in der Popularisierung des »Schiebers« als immerwährender Gewinnerfigur der Unordnung Gestalt angenommen hatte. Das Auftauchen von »Schiebern« und »Schiebungen« war damit für diese Beobachter ein Anzeichen für den Beginn der Unordnung; und gleichzeitig die Erinnerung an eigene Deprivationserfahrungen.59 Die Deutungselemente des Schwarzmarkt- und Untergangsdiskurses knüpften somit über den aktualisierten »Erfahrungsraum« des Kriegsendes von 1918 und der »Inflationszeit« an bekannte Deutungsmuster an und modifizierten sie.60 Dazu gehörte auch jener Subtext, der in einer ganzen Reihe von Äußerungen die illegalen »Schieber«-Praktiken mit dem Vorwurf des Vaterlandsverrats verknüpfte. Ausdrücklich wurde der Vorwurf, Tauschende würden die öffentliche Ordnung unterminieren, im Zusammenhang mit einer bestimmten Teilnehmergruppe erhoben: den »Ausländern«. Zwar waren ausländische »Fremdarbeiter« auch in den vorangegangenen Kriegsjahren als besondere, den Schwarzhandel forcierende »Elemente« stigmatisiert worden. Doch im Angesicht der drohenden Niederlage und mit dem »wilden Herumvagabundieren« ausgebombter Lagerinsassen nahmen die Reaktionen an Schärfe zu. In immer wiederkehrenden Klagen wurde insbesondere diese Teilnehmergruppe für das »Auf blühen« des Handels auf öffentlichen Plätzen und in Gaststätten verantwortlich gemacht.61 Deutsche Teilnehmergruppen wurden geschlechtsspezifisch verurteilt. Die Teilnahme von deutschen Frauen und Mädchen interpretierten Beobachter des illegalen Handels in erster Linie dann als besonders verwerflich, wenn sich diese mit »Ausländern einließen«. Auch hier galt, dass der Tausch mit »Fremdarbeitern« zwar bereits vorher als »Übel« gebrandmarkt worden war, jetzt jedoch verstärkt in den Fokus des öffentlichen Interesses rückte. Immer wieder notierten die Mitglieder der Wehrmachtpropaganda-Aktion empörte Äußerungen, die das Verhalten deutscher Frauen, die öffentlich mit »Ausländern« in Cafés tauschten, thematisierten: »In den Lokalen der Innenstadt (…) aber auch in den 59 Vgl. Zierenberg, Trading City. 60 Sie waren damit die Vorläufer jener Verknüpfung, die den Anfang der Weimarer Republik mit jenem der neuen Bundesrepublik vergleichen sollte. Als eines der berühmtesten Beispiele kann wohl jenes von Theodor Heuss, S. 50, gelten, der 1945 feststellte, dass die Deutschen ihre jüngste Niederlage in dem Bewusstsein registriert hätten, »dass er einer der furchtbarsten Tage der deutschen Geschichte sei, doch in einer völlig anderen seelischen Situation als jener, in der wir den politisch-militärischen Zusammenbruch des November 1918 erlebten«. 61 Vgl. Zierenberg, Trading City.
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Lokalen des sogen. besseren Westens (…) am Kurfürstendamm kann immer wieder beobachtet werden, dass sich deutsche Frauen derartig bewegen, dass dieses Gebaren schon mehr als anstößig ist. Anscheinend finden sie nichts dabei, sich von Ausländern freihalten zu lassen. (…) Außerordentlich bedauerlich ist, dass diese sogen. deutschen Frauen um Zigaretten sogar ihre Ehre verkaufen. (…) Die anwesenden deutschen Frauen und Mädchen kümmern sich um Deutsche überhaupt nicht, sondern sitzen ausschließlich mit den meist gut gekleideten Ausländern am Tisch und nehmen diese später auch mit nach Hause. Gleichzeitig findet hier auch ein starker Tauschhandel zwischen den Mädchen und den Ausländern statt, z.B. silberne Ringe gegen Fleischmarken«.62 Als Vorbote des Diskurses über »die schnelle Kapitulation der deutschen Frauen im Mai 1945« etablierte sich die Rede über »verräterische« deutsche Frauen, die der »Volksgemeinschaft« durch ihre Tauschgeschäfte mit Ausländern auf besonders schändliche Weise in den Rücken fielen. Die sexuelle Konnotation war unübersehbar. Wenn im Bezug auf diese Tauschhandlungen des öfteren vom »Aushalten« die Rede war, schwang der Prostitutionsvorwurf mit. Dazu gehörte die Beschreibung der Tauschgegenstände, bei denen regelmäßig Zigaretten und Schmuck erwähnt wurden. Das Bild »leichter« oder »gefallener« Mädchen, die sich – ausschweifenden Konsummustern frönend – für Luxuswaren den fremden Männern hin- und damit auch ergaben, bestimmte diese Wahrnehmungsmuster des Berliner Schwarzmarktdiskurses. Dabei blieben durchaus Anknüpfungspunkte an bekannte Schwarzmarktstereotype bestehen, etwa wenn in den Berichten von den Cafés des »besseren Westens« als bevorzugten Orten dieser Geschäfte die Rede war. Die bereits etablierte Personenund Stadtraumaufteilung konnte hier adaptiert und durch das neue Muster des fremden und potenten Mannes angereichert werden. Das vermeintlich Skandalöse an Tauschgeschäften deutscher Männer verorteten solche Wertungen vor allem im Versagen der männlichen Ordnungsmacht. Insbesondere die Teilnahme deutscher »Ordnungshüter«, also von Wehrmachtsangehörigen oder Polizisten, rief immer wieder entrüstete Kommentare hervor.63 Die Beteiligung uniformierter deutscher Teilnehmer illustrierte aus dieser Sicht am sinnfälligsten, dass Recht und Ordnung im Zusammenbruch begriffen waren und die Niederlage auf diese Weise nur befördert werden konnte. Die Polizei, hieß es in einem Bericht des SD aus dem November 1944, »sähe in dem meisten Fällen tatenlos zu oder beteilige sich sogar an den Ankäufen«.64 Damit bildete das diskursive Konstrukt einer versagenden männlichen Ordnungsmacht das passive Pendant zur männlichen Schieberfigur. Während dieser die Gunst der Stunde zu nutzen wusste und damit der Allgemeinheit schade62 Wette, S. 217f. 63 Ebd., S. 151 u. 156. 64 Ebd.
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te, »versagten« etwa Polizisten und Angehörige der Wehrmachtspolizei, indem sie dem illegalen Treiben keinen Einhalt geboten. Zugleich standen sich damit ein kollektives Versagen und individuelle Geschicklichkeit gegenüber. Oder, wenn von »Schieberbanden« die Rede war, eine Variante gemeinschaftlichen kriminellen Verhaltens, das gleichwohl eindeutig von den Interessen der Gemeinschaft unterschieden werden konnte. Das Verhältnis von Individuum und Allgemeinheit, von reinem Egoismus und einem Mindestmaß kollektiver Solidarität stand damit in Frage. Der Schwarzhandel wurde auf diese Weise zu einem Symbol der Niederlage und zu einem Medium von Schuldzuschreibungen, die bestimmte Teile der Bevölkerung belasteten und ihnen damit die Verantwortung für den »Untergang« und die erwarteten Konsequenzen zuschoben. Solche Konflikte bildeten stets auch unterschiedliche Vorstellungen über die moralisch richtige Nutzung von Stadträumen ab. Im gleichen Maße, wie neue Räume und Raumnutzungen den Alltag in der Stadt zu prägen begannen, mussten alte aufgegeben oder umfunktioniert werden. Insbesondere die Straße als wichtigster öffentlicher Stadtraum veränderte sich rapide. Im Jahr 1937 hatten Straßen und Plätze knapp 10% der bebauten Stadtfläche ausgemacht.65 Am Ende des Krieges waren rund 40% der Bausubstanz zerstört. Ein Großteil der immensen Schuttmengen blockierte die Straßen.66 Die wesentliche Funktion des Straßensystems als städtisches »Adernetz« wurde schon während des Krieges zunehmend erschwert. Immer häufiger waren Passanten gezwungen, über Schuttberge zu steigen, stellenweise wurde ein Durchkommen unmöglich. Doch die Berliner Straßen wurden darüber hinaus vor allem zur Szenerie der Zerstörungsbeschreibungen. Auf den Straßen nahmen Beobachter die Leichen wahr: »Um den Spittelmarkt herum und am Moritzplatz sind ganze Straßen mit den Menschen bis auf Häuserreste verschwunden. In der Neuenburgerstraße in der Nähe vom Halleschen Tor wurde die Berufsschule für Mädchen getroffen, wo in dem Keller Hunderte von Mädchen Schutz gesucht hatten. Später standen die Eltern vor den zerrissenen, vom Luftdruck zerstückelten und entkleideten Leichen und erkannten ihre Töchter nicht mehr«, schilderte Deutmann die Nachwirkungen eines Luftangriffs aus dem Februar 1945.67 65 Statistisches Landesamt der Stadt Berlin, S. 25. Die offiziellen Statistiken weisen für 1947 die gleichen Anteile aus, was angesichts der immensen Zerstörungen und unterschiedlich erfolgreichen Auf baumaßnahmen zu bezweifeln ist. Vgl. Zahlen zeigen Zeitgeschehen. Berlin 1945–1947. Berliner Statistik 3. Sonderheft/1 (1947), S. 5ff. Die entsprechenden Aufräumarbeiten nach Kriegsende gehörten zu den ersten Maßnahmen, denen sich die sowjetischen Besatzer zuwandten. Auf eigenen »Enttrümmerungskarten« wurden die Aufräumungsarbeiten systematisch geplant. (LAB, LAZ Nr. 5648.) Eindrücke von dem Ausmaß der durch Schutt verursachten Erschwernisse bieten die zahlreichen Bilddokumente. Vgl. etwa Reichardt; Trümmern, und Rürup, Berlin 1945; sowie ders. u. Korff S. 577 u. 595. 66 Large, S. 348. 67 DHM, Tagebuch Deutmann, Eintrag vom 3.2.1945 (Nr. 314).
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Und mit Blick auf Berliner Straßen nach einem anderen Angriff: »Alles, was man denken kann, was dieses Leben erfordert, lag auf den Straßen, von Brandbombenhülsen aller Kaliber übersäht. Bilder, Briefe, zerschlagene Flügel und Matratzen. Es war ein trauriges Bild an einem schönen Sommersonntag«.68 »Ihr werdet Berlin nicht wiedererkennen«, hatte Goebbels den Berlinerinnen und Berlinern versprochen und damit auf die großartigen Umbaupläne der Nationalsozialisten für die Reichshauptstadt angespielt. Doch die Bewohner sollten sich bald aus anderen Gründen kaum noch zurecht finden: Die Trümmerlandschaft stellte den Orientierungssinn auch erfahrener Stadtläufer vor Probleme. Häuserecken, Straßenschilder, Läden, U-Bahn-Eingänge – viele Orientierungsmarken alltäglicher Bewegung im Stadtraum waren schlicht nicht mehr da; oder nicht mehr erkennbar. »Dieses Berlin!«, klagte Ursula von Kardorff, »Die früher so sauberen Straßen verkommen«.69 Waren die Raumbezüge des städtischen Alltags buchstäblich aus den Fugen, war die zeitliche Organisation des Berliner Lebens aus dem Takt geraten. Tages- und Nachtperioden des Alltags in Friedenszeiten mit relativ festen Arbeits- und Freizeiten wurden durch die Kriegseinwirkungen erheblich durcheinander gebracht. Ursula von Kardorff hielt am 11. Februar 1944 fest: »Gestern Tagesalarm. Eine nervöse Ameisenmenge strebte eilig in fürchterliche Verlagskeller; zwischen Archivbänden und unter Wasserrohren harrte man der Dinge … Verhärmte Frauen und Mädchen, bucklige, hinkende Männer.«70 Bunkeraufenthalte und aus dem Rhythmus gebrachte Tagesabläufe bildeten eines der Hauptmotive zeitgenössischer Beschreibungen. »Heute früh eine gewaltige, dunkelgraue Rauchwolke« schilderte Deutmann eine solche Erfahrung, »dann verschwand die Sonne wie ein roter Ball in dem Dunkel, das bis zum Mittag undurchdringlich blieb. Es regnete bis zum Nachmittag verkohltes Papier und Asche. Nach einem harten Tag der Pflicht, der so viele müde und abgekämpfte Menschen sah, hetzen Männer, Frauen und Kinder in Scharen zur Stadt-, U-, und Straßenbahn, um in der Furcht vor einem Angriff die Nacht außerhalb zu verbringen«.71 Und einige Monate später: »Als wir den Bunker verließen, war die Sonne verschwunden, der Himmel bewölkt. Aus zahllosen, kleinen und großen Brandherden gespeist, hing über der gesamten Innenstadt ein gewaltiges Meer von Qualm (…) In den Straßen der Stadt war es an diesem Tage um die Mittagszeit Nacht«.72 Gerade diese zeitliche Unordnung aber machte sich im Alltag der Bewohner auf katastrophale Weise bemerkbar. Die unregelmäßigen Wach- und Schlafphasen und dazu die permanente Alarmbereitschaft, die 68 69 70 71 72
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Ebd., Eintrag vom 23.8.1943 (Nr. 118). Kardorff, S. 78. Ebd., S. 122. DHM, Tagebuch Deutmann, Eintrag vom 23.8.1943 (Nr. 118). Ebd., Eintrag vom 3.2.1945 (Nr. 314).
viele nur schwer einschlafen ließ, weil sie in steter Angst vor dem nächsten Angriff lebten, griffen die Gesundheit der Berlinerinnen und Berliner an, führten zu Erschöpfung und teils auch zum Zusammenbruch: »Nachts ist man aus dem Schlaf aufgefahren und hat fallende Bomben vermutet«.73 Sowohl die schrittweise Auflösung von Raum- und Zeitkonstanten als auch die Erosion von Verhaltensnormen bewirkten nicht nur, dass alternative Infrastrukturen wie der öffentlich Schwarzhandel mittelbar befördert wurden. Sie erfassten auch ganz unmittelbar die legalen Tauschräume des Berliner Konsumalltags, wie etwa die städtischen Markthallen. Bei dem schweren Luftangriff in der Nacht vom 22. zum 23. November 1943 verlor Martha Rebbien ihre Wohnung in der Swinemünder Straße.74 Nur einige hundert Meter Luftlinie entfernt hatte Reichsverteidigungskommissar Joseph Goebbels in seinem Befehlsstand den »Eindruck, dass das ganze Regierungsviertel brennt«. Der Wilhelmplatz sei beinahe »taghell erleuchtet«. Während Goebbels angesichts der Verwüstungen in seltsamer Distanznahme diesen »modernen Krieg« als »einziges großes Grauen« beschrieb, wurden – ebenfalls nicht weit entfernt – die Zentralmarkthallen I und Ia durch Brandbomben schwer getroffen.75 »Die Verkaufsstände in den Hallen brannten restlos aus«, vermerkte der Bericht der Stadtkämmerei, »insbesondere wurden die Hallendächer bis auf die Eisenkonstruktion zerstört. Die Galerien in beiden Markthallen wurden vernichtet; der Bodenbelag wurde schwer beschädigt und daher undicht«. Interessanterweise aber stellten sich die Akteure umgehend auf die veränderten Gegebenheiten ein: »Trotz dieser schweren Schäden wird unter den Galerien und in den Durchfahrten regelmäßig Markt abgehalten. Der tägliche Aufenthalt in den Verkaufsständen stellt an die Standinhaber besonders hohe Anforderungen, da sich der Marktplatz z.Zt. nur wenig vom Markt unter freiem Himmel unterscheidet«.76 Wegen der Erschwernisse erbaten die Standinhaber einen »Gebührennachlass«, der »längstens bis zur provisorischen Überdachung der Zentralmarkthallen« auch gewährt wurde. Die Standmieten sanken kurzfristig um ein Drittel. Doch die Lage des etablierten Konsumraums »Markthalle« blieb prekär. Noch ein gutes halbes Jahr nach Kriegsende war die Gebührenfrage weiterhin offen. »Für die städtischen Markthallen und Wochenmärkte«, vermerkte eine Aktennotiz der zuständigen Abteilung des Berliner Magistrats vom 23. Oktober 1945, sei eine endgültige »Abänderung der Gebührenordnung (…) noch nicht in Erwägung gezogen worden, weil die Entwicklung der 73 Ebd., Eintrag vom 3.3.1945 (o. Nr.). 74 Die Sachschäden der November-Angriffe waren erheblich. Das Erscheinungsbild der Stadt veränderte sich grundlegend. Sie »blieb im Winter 1943/44 Hauptziel«. Am Ende der »Battle of Berlin« waren über 812 000 Personen obdachlos, mehr als 9 000 tot oder vermisst. Vgl. Blank, S. 373f. 75 Goebbels, Bd. 10, S. 238. 76 LAB A Rep 005-03-01, Nr. 149, Bl. 55.
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Handelstätigkeit zunächst einmal abgewartet werden« sollte.77 Über Nacht war damit ein gewohnter Raum legalen Konsums teilweise außer Funktion gesetzt worden und hatte sich in seiner Äußeren Erscheinung dem Handel auf offener Straße angenähert. Zwar liegen für diesen Fall keine Unterlagen vor, aus denen hervorgeht, dass die teilzerstörten Markthallen zu Schwarzhandelsplätzen wurden. Doch belegen andere Beispiele, dass gerade solche beschädigten legalen Konsumräume schnell zu Treffpunkten des illegalen Handels mutieren konnten. Die Beschädigungen setzten Hemmschwellen herab und forcierten die Umwandlung der noch bestehenden ehemals legalen Infrastruktur in einen illegalen Tauschraum.78 Zu den Voraussetzungen, die dem Schwarzhandel den öffentlichen Raum der Stadt öffneten, gehörte damit die kriegsbedingte Krise zeitlicher und räumlicher Alltagsroutinen, von festen Rollenmustern und sozialen Beziehungen, gehörte der Übergang von gewohnten Abläufen zum »Improvisieren« – jener in den Quellen so oft als »Tugend« der Zeit beschriebenen Fähigkeit, sich neuen Umständen anzupassen und dafür vorher akzeptierte Handlungsgrenzen zu überschreiten.79 Daneben bewirkte aber auch die Verschlechterung der Versorgungssituation, dass immer mehr Teilnehmer in das Marktgeschehen eintraten und den Verlagerungsprozess auf die Straße forcierten. Damit änderten sich zugleich die Kostenstrukturen der individuellen Marktteilnahme. Denn der sich ausweitende Marktbetrieb erschwerte es den Verfolgungsbehörden in der Auflösungsphase zwischen dem sich abzeichnenden Kriegsende und dem Auf bau neuer Verwaltungsstrukturen unter der sowjetischen Besatzungsmacht, ihre Sanktionen durchzusetzen. In diesem Vakuum staatlicher Ordnung entstand der versammlungsöffentliche Berliner Schwarzmarkt. Der kritische Moment war irgendwann im letzten halben Jahr des Krieges erreicht. Vorläufig gab es kein Zurück mehr, zumal nach Kriegsende die erfolgreich etablierten Treffpunkte nicht nur wegen ihrer Größe Schutz vor Verfolgung boten, sondern die neuen Machthaber auch die Strafmaße reduziert hatten.80 Nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach gaben 1948 52% der befragten Personen in Westdeutschland an, vor der Währungsreform »schwarz gehandelt« zu haben.81 Wahrscheinlich waren es – stellt man die anrüchige Illegalität in Rechnung – noch einige mehr. Selbst wenn ein Gutteil nur als Gelegenheitsteilnehmer gehandelt hatte – eine effektive, ab77 Ebd., Blatt 59. 78 Dazu gehörten vor allem Bahnhöfe. Vgl. Kap. IV. 1. 79 »Flexibel sein, bedeutete alles!«, erinnerte sich etwa Hille Ruegenberg in ihren 1976 verfassten Erinnerungen. F Rep 240 Acc 2651 Nr. 2, S. 111/5. 80 Ein Problem, wie zeitgenössische Juristen meinten, da eine Verhältnismäßigkeit gerade im Vergleich mit den drakonischen Strafen der NS-Zeit für den einzelnen überhaupt nicht mehr zu erkennen gewesen sei. Vgl. Bader, S. 2f. 81 Noelle u. Neumann, S. 150.
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schreckende und den öffentlichen Raum zurück gewinnende Strafverfolgung war damit nicht mehr möglich. Ein System öffentlicher Handelsplätze war im Entstehen, das sich bald über das ganze Stadtgebiet ausbreiten sollte. Diese neue öffentliche Erscheinungsform des Berliner Schwarzhandels war damit zum Teil ein Produkt des Chaos, ein Produkt der Auflösung legaler Alltagsabläufe. Doch, ähnlich dem Netzwerkhandel der Kriegszeit (der auch weiterhin stattfinden sollte), folgte auch der versammlungsöffentliche Handel Regeln, die zum Teil bestehende Konventionen adaptierten, sich andererseits aber auch in der Handelspraxis erst ausbildeten. Der Übergang von zufälligen oder eigens individuell verabredeten Tauschbegegnungen hin zu Marktplätzen mit relativ festen Handelszeiten und einer alternativen Marktordnung begann mit den hier beschriebenen Übergangsphänomenen zwischen Zerstörung, Orientierungslosigkeit und neuen Ordnungsmustern. An seinem Ende standen ab dem Sommer 1945 die öffentlichen Märkte, die eigene Marktordnungen kannten und zum ständigen Erscheinungsbild der Stadt gehörten.
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Teil IV Schwarzhandel zwischen Kriegsende und Währungsreform
1 Neue Räume. Die öffentlichen Schwarzhandelsplätze Der Berliner Schwarzhandel änderte zum Ende des Krieges seine Erscheinungsform. In jenem Ordnungsvakuum, als die staatliche Kontrolle über den Stadtraum zu erodieren begann und eine neue noch nicht etabliert war, nahm der öffentliche Schwarzhandel sein Anfang. Zwar fanden illegale Tauschgeschäfte auch weiterhin in Wohnungen, Gaststätten und anderen begegnungsöffentlichen Räumen statt. Doch daneben entstanden jetzt versammlungsöffentliche Marktplätze, auf denen der Tausch nicht mehr verabredet werden musste. Wer tauschen wollte, konnte von nun an mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass er lediglich einen der bekannten Plätze aufsuchen musste, um andere Tauschinteressierte treffen zu können. Diese Ausweitung des Marktgeschehens erleichterte den Handel erheblich. Zugleich sanken die Teilnahmekosten. Die steigenden Teilnehmerzahlen verringerten das individuelle Risiko. Wer zuvor nicht gewagt hätte, auf offener Straße zu tauschen und damit gegen Verordnungen zu verstoßen, sah sich jetzt einer neuen Situation gegenüber. Je mehr Personen sich zum Tausch unter freiem Himmel trafen, desto niedriger wurde die Hemmschwelle für weitere Teilnehmer. Ein sich selbst verstärkender Prozess hatte eingesetzt, der auch durch die neuen Bekämpfungsversuche nicht mehr zu stoppen, geschweige denn umzukehren war.1
1.1 Zentrale Orte. Verteilungslogiken Was nach dem 10. April 1945 mit Martha Rebbien passierte, ist ungewiss. Vielleicht knüpfte sie an ihre alten Kontakte an, um weiterhin Waren tauschen zu können, wurde aber nicht mehr dabei erwischt. Vielleicht stellte sie ihre illegalen Geschäfte ein. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie zu einer Teilnehmerin auf einem der versammlungsöffentlichen Berliner Schwarzmarktplätze wurde. 1 Ein Phänomen, das für soziale und revolutionäre Bewegungen mit dem Rational-ChoiceAnsatz untersucht worden ist. Vgl. als Fallstudie Opp und die Problematisierung des von Mancur Olson geprägten Ansatzes in Joas u. Knöbl, S. 162ff.
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Karte 2: Verteilung der versammlungsöffentlichen Berliner Schwarzmarktplätze nach 1945 (Quellen: sämtl. archivalischen Quellen sowie Zeitungsberichte und Filme) (Karte: Schwarz Stadtplan von Berlin, 1947)
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Anonymität war – verglichen mit den Netzwerkstrukturen der Kriegszeit – eine der Haupteigenschaften der neuen Schwarzhandelsform. Das Verschwinden von Martha Rebbien würde damit jenen Verlagerungsprozess abbilden, den der Übergang zum relativ anonymen öffentlichen Handel bedeutete. Je sichtbarer die Marktplätze im Stadtbild wurden, umso leichter konnten einzelne Händler im Gewühl untertauchen. Statt detaillierter Einzelfalluntersuchungen standen nun Razzien auf dem Programm des Berliner Polizei-Alltags, bei denen leicht über tausend Personen auf einen Schlag festgenommen werden konnten. Und das nicht nur auf den wenigen Plätzen, die als Tauschorte Eingang in den Bilder-Haushalt der Zeitgeschichte gefunden haben. Ein Netz aus Schwarzmarktplätzen erstreckte sich ab dem Sommer 1945 über das ganze Berliner Stadtgebiet (vgl. oben Karte 2). Betrachtet man dieses Netz aus Tauschorten, fallen zwei Dinge ins Auge: Erstens die Anzahl der Plätze. Selbst wenn man die unklaren Fälle außer Acht lässt, die sich zum Beispiel aus der Nähe eines Marktplatzes zum nächsten ergeben, bleiben rund 60 Schwarzhandelsplätze übrig. Zählt man die von den Behörden offiziell eingerichteten Tauschmärkte hinzu, wofür spricht, dass dort regelmäßig illegale Tauschhandlungen vollzogen wurden, dann erhöht sich die Gesamtzahl der in den Polizeiberichten, Zeitungen und Ego-Dokumenten genannten Plätze auf 75. Diese Zahl ist auch deshalb erstaunlich, weil die Dunkelziffer erheblich höher sein dürfte. Zweitens lassen sich Regelmäßigkeiten erkennen. Das gilt zum einen für die in weiten Teilen als äußere Grenze sichtbare Verteilung entlang des S-Bahn-Rings und zum anderen für die ClusterBildungen in Charlottenburg, der westlichen und östlichen Stadtmitte, im Gebiet um den Tauschmarkt in der Brunnenstraße zwischen dem Wedding und Prenzlauer Berg sowie für die Märkte am Schlesischen Tor. Mit dieser Schwerpunktbildung knüpfte das System der öffentlichen Plätze an die Etablierungsphase der Kriegszeit an, als die meisten polizeilich erfassten Schwarzhändlerinnen und -händler in eben diesen Wohngebieten lebten. Die wichtigsten Schwerpunkte des versammlungsöffentlichen Berliner Schwarzhandels bildeten sich in der Stadtmitte und dem westlich davon gelegenen Stadtzentrum in Charlottenburg und Wilmersdorf. Der Tiergarten mit seinen ausgedehnten Anlagen, die eine effektive Verfolgung durch Razzien erschwerten, fungierte als Scharnier zwischen den beiden Kerngebieten.2 Auf diese Weise entstand ein in West-Ost-Richtung ausgedehntes Zentrum, das 2 Die zögerliche Haltung der britischen Stellen bei der Bekämpfung trug ihren Teil dazu bei, dass der Tiergarten ein beliebter Schwarzhandelsraum bleiben konnte. Die Bekämpfungsmaßnahmen blieben vor allem hier im Zentrum zwischen den Besatzungsmächten umstritten. Briten und Sowjets warfen sich gegenseitig vor, den Handel im jeweils anderen Sektor durch mangelhafte Kontrollen zu unterstützen. Vgl. PRO FO 1012/175 Blackmarkets, Bl. 66. Im Juli 1948 spitzte sich der Konflikt zu und wurde zum Gegenstand der Auseinandersetzung um die Polizeiherrschaft im Stadtgebiet. Vgl. Steinborn u. Krüger, S. 57ff.
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auch für die Bewohner anderer Stadtteile eine Vielzahl von Anlaufpunkten für Schwarzhandelgeschäfte bot. In nördlicher Richtung vom Zentrum aus schlossen sich die Schwarzmärkte des alten Scheunenviertels und der Spandauer Vorstadt an. Zu einer wichtigen Institution der Berliner Schwarzhandelslandschaft entwickelte sich ferner der weiter nördlich gelegene und als offizieller »Tauschmarkt« gegründete Platz in der Brunnenstraße, der schnell sowohl auf als auch neben dem eigentlichen Marktgelände zu einem Treffpunkt für Schwarzhändler avancierte. Das gleiche galt für die ebenfalls als »Tauschmärkte« ausgewiesenen Plätze in der Frankfurter Allee und am Bahnhof Lichtenberg im Ostteil der Stadt. Den Schwerpunkt des Kreuzberg-Friedrichshainer Schwarzhandels bildete – in Kontinuität zum bereits während des Krieges von der Polizei beobachteten Restaurant- und Kneipenhandel – die Gegend um das Schlesische Tor. Hier, in der Nähe zum Osthafen und der Oberbaumbrücke, ergab sich die Möglichkeit, auch größere Kontingente über den Schiffsverkehr umzuschlagen. Zwar wird auch dieses Bild der öffentlichen Plätze und ihrer Verteilung im Stadtbild von offiziellen Quellen gespeist. Dadurch kommt zum wiederholten Mal die verzerrende Perspektive der Verfolgungsbehörden zum Tragen. Doch bleibt die Frage, ob es sich bei dem gewonnenen Verteilungsbild um eine reine Nachbildung polizeilicher Aufmerksamkeitsmuster handelt, oder ob nicht auch andere Gründe für das Muster vorliegen. Die versammlungsöffentlichen Berliner Schwarzhandelsplätze entstanden spontan. Aber ihre Positionierung im Stadtgebiet war keineswegs rein zufällig. Sie folgte vielmehr einer Entstehungslogik, die mehrere Bedingungsfaktoren berücksichtigte. Fragt man nach Ursachen für die Entstehung städtischer Verteilungs-Cluster, kommt man an Walter Christallers einflussreicher Studie über »Die zentralen Orte in Süddeutschland« aus dem Jahr 1933 nicht vorbei. Während in Berlin die Nationalsozialisten an die Macht gelangten, formulierte der vielleicht bedeutendste deutsche Wirtschaftsgeograf das Konzept einer ökonomischen Theorie optimaler Standorte, das weltweit Beachtung fand und sich bis in die Gegenwart hinein als analytisch wirksam erweisen sollte.3 In seiner »ökonomisch-geographischen Untersuchung über die Gesetzmäßigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischen Funktionen« hatte Christaller eine Theorie »zentraler Orte« entwickelt. Diese untersucht Standortagglomerationen von Einrichtungen, die Güter für begrenzte Marktgebiete anbieten. Die von Christaller beobachteten Verteilungsgesetzmäßigkeiten können die Form des Berliner Schwarzhandelsnetzwerks der Nachkriegszeit allerdings nur zum Teil erklären, dann nämlich, wenn man einen Blick auf die Relation zwischen Platzgröße, Standort und Warenangebot wirft. 3 Vgl. zur Negativgeschichte des Konzepts und der Rolle Christallers im Kontext der »Ostforschung« die Arbeiten von Rössler.
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Denn die Theorie »zentraler Orte« untersucht im Kern das Verhältnis von Angebot, Siedlungsgröße und der Verteilung verschiedener Siedlungsgrößen im Raum. Unterschiedliche Güter, so Christallers Argumentation, haben unterschiedliche »Reichweiten«. Anders gesagt: Für Güter, die an einem gegebenen Ort A einen Preis P erzielen, müssen weiter entfernt lebende Abnehmer einen zusätzlichen Transportkostenpreis T bezahlen. Das funktioniert nur bei solchen Waren oder Dienstleistungen, die nicht zur Deckung des täglichen Bedarfs dienen. Eine Dezentralisierung des Angebots dieser Güter wäre für die Anbieter nicht rentabel. So entsteht ein System abgestufter Verteilungszentren, bei dem im Optimalfall die Anbieter nach dem Prinzip der größten Packungsdichte so zusammenrücken, dass hexagonale Marktgebiete entstehen. Das Segmentierungsprinzip, wonach »zentrale Orte« ein Warenangebot für sie umgebende Marktgebiete vorhalten, das es dort nicht gibt, ist nicht nur erfolgreich auf innerstädtische Verteilungsmuster angewandt worden – es lässt sich auch für das Berliner Schwarzhandelsplatzsystem nachweisen. Die großen Schwarzhandelszentren erfüllten genau die in der Theorie »zentraler Orte« beschriebene Funktion als Verteilerstellen für ein spezifisches Warensortiment. Auf diesen Plätzen konzentrierte sich ein Handelssegment, dessen Akteure und Sortimente Karl Deutmann so schilderte: »[Wir] besuchten die ›Schwarze Börse‹ am Brandenburger Tor. Hier wird von amerikanischen u. russischen Soldaten alles gekauft und verkauft, was es an Uhren, Kleidungsstücken, Ringen, Juwelen, Stiefeln, Ferngläsern, Photoapparaten, Rasiermessern, Pelzmänteln, Strümpfen und seidener Damenwäsche noch gibt. Viele Amerikaner u. Engländer kaufen nur Uhren und Schmuck. Die Russen kaufen aber Kleidung für ihre Frauen und geben außer dem Kaufpreis noch Lebensmittel wie Butter, Wurst, Speck, Zucker und Brot«.4 Deutmanns Einschätzung der Sortimentstrukturen und Akteure auf den zentralen Plätzen wird von anderen Quellen bestätigt. So schilderte eine Zeitgenossin den Gang zum Schwarzmarkt am Reichstag: »[Ich ging] an diesem Tage quer durch den Tiergarten und kam in die Nähe des Reichstags. Durch Tausende und Abertausende von Menschen musste ich durch, es blühte ein herrlicher Schwarzhandel. Viele russische Soldaten hatten Butter, Speck, Zucker und andere nahrhafte Sachen, die man kaum noch kannte. Ausgehungerte, abgehärmte Menschen brachten ihr letztes Schmuckstück und tauschten dafür Essbares ein«.5 Die Handelsplätze bildeten als »zentrale Orte« jetzt Allokationsschnittstellen einer neuen, alternativen Infrastruktur. Hier wurden Wertgegenstände gegen Waren des täglichen Bedarfs getauscht wurden. Sie waren »zentrale Orte«, an denen die zumeist deutschen Anbieter ihre Jahre zuvor aus umgekehrter Rich4 DHM, Tagebuch Deutmann, Eintrag vom 5.8.1945. 5 LAB F Rep. 240 2651 Nr. 4, Bl. 370/1.
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tung gekommenen Besitztümer an die vor Ort anzutreffenden alliierten Soldaten verkaufen konnten. Das Prinzip blieb das gleiche, nur die Verteilungsrichtung hatte sich für die deutschen Teilnehmer umgekehrt. Damit ist ein basales Verteilungskriterium benannt. Insbesondere die ökonomische Standortforschung, die Economic Geography und die Urban Studies haben allerdings differenziertere Modelle zur Beschreibung von Wirtschaftsagglomerationen entwickelt. So hat etwa Michael Porter Wettbewerbsvorteile von Standorten und Regionen untersucht und dafür den Begriff des evolutionären Prozesses verwendet.6 Das Ziel seiner Überlegungen bildet aber die Formulierung von Steuerungsmechanismen, mit denen zeitgenössische Standorte – neoklassischen Akteuren gleich – Wettbewerbsvorteile erreichen können sollen. Vertreter der Economic Geography haben hingegen auf die historisch gegebenen Unterschiede der Ausgangsbedingungen von ökonomischen Raumentwicklungen hingewiesen. Gerade Städte können als Beispiele für Räume mit historisch gewachsenen Charakteristika gelten, die sie als in nationale oder regionale Bezugssysteme »eingebettete« Einheiten ausweisen. Regelsysteme, Normen und Traditionen lassen sich bei der Untersuchung von Wirtschaftseinheiten wie Marktplätzen und ihrer Verteilung im Raum nicht einfach ausblenden.7 Ein gutes Beispiel für das Zusammenwirken unterschiedlicher Bedingungsfaktoren bei der Entstehung eines Berliner Schwarzhandelsplatzes bietet die Geschichte eines kleineren Tauschplatzes unweit des Schlesischen Tors in Kreuzberg. Die Anfänge dieses Schwarzmarktes schilderte der Erinnerungsbericht eines »Kreuzberger Bürgers«: »Der erste größere Bau meiner Firma, eines Mietshauses in der Schlesischen Straße Ecke Cuvrystraße, gehörte dem Gastronom F., ein großes Ecklokal, das sich früher ›Hackepeter‹ nannte. Er hatte die Zeit erkannt und einen riesigen Mittagstisch eingerichtet (…). Vor diesem Lokal entwickelte sich nun ein Schwarzhandel, hier wurden Lebensmittel, Karten gehandelt und getauscht, Zigaretten spielten dabei ebenfalls eine große Rolle. Rund um das Schlesische Tor, wie ähnlich in der Bernauer Straße, nahm der Schwarzmarkt immer größere Formen an. (…) Viele Geschäftsleute nutzten diese Gelegenheit aus und ließen sich in der Schlesischen Straße, so auch in der Bernauer Straße, massive Läden bauen. Der schwarze Markt hatte besonders großen Zuspruch durch die Bewohner aus Ostberlin, die über die Oberbaumbrücke [aus Friedrichshain, M.Z.] und aus Treptow über die Schlesische Brücke kamen und den Kundenkreis wesentlich vergrößerten«.8 Diese Beobachtungen verweisen auf das Zusammenspiel mehrerer Faktoren, die bei der Etablierung eines Tauschplatzes zusammenwirkten: Neben den 6 Vgl. etwa zur Anwendung des Ansatzes auf Teileinheiten wie Innenstadtbereiche Porter, Advantage. Sowie ders., Competitive Advantage. 7 Vgl. Sheppard, S. 169–186, hier: 178ff. 8 LAB F Rep 240 Acc. 2651, Nr. 6, S. 614/4.
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Makro-Bedingungen spielten infrastrukturelle Anknüpfungspunkte eine entscheidende Rolle; in diesem Fall die Einrichtung eines legalen Treffpunktes, wie es auch bei der Eröffnung der legalen Tauschmärkte beobachtet werden konnte. Häufig handelt es sich bei der Etablierung von öffentlichen Schwarzmärkten mithin um die Umwandlung etablierter Kontaktbereiche, die bereits als legale Konsumräume eingeführt waren. Nicht zufällig verteilten sich die illegalen Handelsplätze in ganz ähnlicher Weise über die Stadt, wie das die vorher und nachher vorhandenen legalen Konsumräume taten. Für das Kreuzberger Beispiel wurde der Umstand ausschlaggebend, dass die Gastwirtschaft mit ihrem Geschäftbetrieb einen so attraktiven Anlaufpunkt bildete, dass sich eine kritische Masse von Akteuren nicht nur innerhalb des Gebäudes, sondern auch davor zusammen finden konnte. Wäre es im anderen Fall höchstwahrscheinlich zu illegalen Ladengeschäften gekommen, bot das gesellige Treiben an der Straßenecke die Gelegenheit für die Entstehung eines versammlungsöffentlichen Handels unter freiem Himmel. Zudem lag das Lokal verkehrstechnisch günstig. Die Lage kam den Pendlern aus Friedrichshain und Treptow entgegen, zumal die Oberbaumbrücke lange Zeit ein Nadelöhr blieb, weil die meisten anderen Brücken in der Nähe entweder zerstört oder aber gesperrt waren.9 Ein weiterer Faktor war schließlich der Bekanntheitsgrad, den die Gegend bereits während des Krieges als Zentrum des illegalen Gaststättenhandels erreicht hatte. Tauschinteressierte kannten diesen Teil von »Kreuzberg 36« schon als Konsumraum und mussten deshalb ihre alltäglichen Routen durch die Stadt nicht ändern. Der bereits als Schwarzhandelsraum etablierte »Kiez« hatte lediglich seine äußere Gestalt um einen weiteren Tauschplatz erweitert. Neben Infrastrukturbedingungen spielten also lokale Konsum-Traditionen wie bereits während des Krieges entwickelte Schwarzhandelszentren eine entscheidende Rolle. Diese enge Verzahnung von legalen und illegalen Konsumräumen funktionierte – wie das Beispiel zeigt – auch in umgekehrter Richtung. Zwar werden die im Erinnerungsbericht genannten Geschäftsleute eine ganze Reihe von Gründen dafür gehabt haben, ihre Läden gerade in diesem Teil der Stadt einzurichten. Aber der schrittweise Ausbau provisorischer Stände zu »massiven Läden« konnte auch deshalb attraktiv erscheinen, weil die entsprechende Kundschaft durch das Schwarzhandels-Publikum gegeben war. Solche Faktoren, die in der (Konsum-) Geschichte eines Ortes gründeten, waren für die Zentren der Stadtmitte ebenfalls von Bedeutung. Zum Zentralitätseffekt kam hinzu, dass sich die Marktplätze am Reichstag, im Tiergarten, am Brandenburger Tor, am Alexander- oder Potsdamer Platz und auch der am Bahnhof Zoo von ihren Stadtteil-Pendants noch in anderer Hinsicht unterschieden, vor allem durch ihre »Berühmtheit«. Alle genannten Plätze 9 Vgl. LAB F Rep. 240 Acc. 2651 Nr. 4, Bl. 396/3.
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hatten eine Tradition, die man als touristisch bezeichnen kann. Besucher der Stadt hatten schon in den zwanziger und dreißiger Jahren bei Stadtrundfahrten gerade diese Plätze in Augenschein genommen oder waren, sofern es sich um Plätze mit Bahnhofsanschluss handelte, zwangsläufig mit ihnen in Berührung gekommen. Bereits um die Jahrhundertwende hatte jener Prozess einer typisierenden Stadtidentifizierung über markante Plätze und Gebäude eingesetzt, der fortan die Berlin-Bilder von Besuchern prägen sollte. Die Schwarzhandelsplätze der Stadtmitte knüpften an diese touristische Berühmtheit an und glichen die erwarteten Bilder mit den fremd anmutenden Abläufen des illegalen Marktes ab. So informierte etwa die »Times« aus London ihre Leser regelmäßig über Schwarzmarktaktivitäten auf dem Potsdamer Platz, dem Kurfürstendamm oder dem Bereich zwischen Brandenburger Tor, Reichstagsgebäude und dem Tiergarten.10 Amerikanische Zeitschriften druckten Aufnahmen vom anachronistisch anmutenden »Treiben« im Tiergarten, auf denen deutsche Händler und Besatzungssoldaten zu sehen waren, die zum Tausch zusammen kamen, sich per Zeichensprache verständigten und so ein Bild von den Zuständen im Nachkriegs-Berlin vermittelten, welches das Bild der einstigen Konsum-Metropole mit den anachronistischen Zuständen kontrastierte.11 Nicht nur diese berühmten Plätze lagen an Schnittstellen des Verkehrs oder sogar – wie das Gelände zwischen Reichstag und Brandenburger Tor – an Sektorengrenzen. Auch kleinere Treffpunkte des illegalen Handels nutzten vorhandene Verkehrsknoten als Ausgangspunkte – unabhängig davon, ob es sich dabei um die einsatzfähigen öffentlichen Verkehrsmittel oder Fußwege handelte. Bahnhöfe, S- und U-Bahnstationen entwickelten sich zu bedeutenden Schwarzhandelszentren der Nachkriegszeit.12 Das hatte mindestens zwei Gründe: Erstens bildete das Stationsnetz der Berliner Verkehrsbetriebe einen der wichtigsten Marker für die alltägliche Orientierung im Raum. Mit dem Ausbau des Schienenweges und der immens angestiegenen Beförderungszahlen waren die Bahnen und ihre Einrichtungen zu einer festen Bezugsgröße für die Bewohner Berlins geworden. Die »mental maps«, auf denen Berlinerinnen und Berliner ihre Stadt verzeichneten, hatten mit der neuen Infrastruktur ein brauchbares und wirkungsvolles Verweissystem erhalten.13 Wege in und durch die Stadt konnten entlang von »Strecken«, U-Bahnlinien und 10 Vgl. etwa »The Times«, Thu, Apr 18th, 1946, S. 5; Fri, Aug 20th, 1948, S. 4; Wed, Mar 26th, 1952, S. 5. 11 Vgl. den Beitrag »Black Marktes boom in Berlin«, in: »Life«, 10.9.1945, S. 51–54, der zahlreiche Fotos enthält. 12 Vgl. Roesler, Black Market, S. 92, sowie PRO FO 1012/176 Economics/Black Market, Bl. 114. 13 Zum Begriff der »mental map« vgl. das GG-Sonderheft 28 (2002). Hierin vor allem die »Vorbemerkung« von Conrad und den Beitrag von Schenk, der seinen Ausführungen zur »Kons-
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Umsteigemöglichkeiten memoriert und in repetetives Alltagshandeln integriert werden. Schematische Darstellungen und Karten reorganisierten und prägten das Bild, das sich Bewohner wie Besucher von Berlin machten. Da Schwarzmarktgeschäfte nicht selten »Handelsreisen« glichen, bildeten die Stationen des öffentlichen Nahverkehrs quasi natürliche Durchgangs- und Aufenthaltsräume, konnten aber zugleich auch als geschäftlich relevante Kontakträume dienen. Denn Stationen und Bahnhöfe fungierten, zweitens, als wichtige Begegnungsstätten. Hier konnte, wer wollte, kurz verweilen und mit anderen Personen ins Gespräch kommen. Zugleich waren diese Begegnungen von vorne herein auf ein zeitliches Dazwischen – von Ankunft und Abfahrt – angelegt. Der Übergangscharakter von Schwarzhandelsgeschäften, der durch die Spannung zwischen intendiertem Geschäftsabschluss und den Gefahren der Illegalität zustande kam, fand deshalb in den Zeithorizonten, die Bahnhöfen immer schon zuerkannt worden waren, eine Entsprechung. Hinzu kam, dass Bahnhöfe und Stationen auch vor der »Schwarzmarktzeit« bereits als Treffpunkte für Verabredungen gedient hatten. Sich »am Bahnhof« zu treffen, gehörte zur urbanen Lebensform dazu und war deshalb unverdächtig. Darüber hinaus boten einige Bahnstationen den Raum für eine in den Berliner Nachkriegswintern besonders wichtige und oft frequentierte Einrichtung: die so genannten Wärmehallen, in denen (vorübergehend) Obdachlose eine beheizte Zuflucht finden konnten. Wie beinahe alle von Menschengruppen genutzten Infrastruktureinrichtungen verwandelten sich auch diese Hallen in beliebte Tauschräume.14 Über ihre reine Verkehrsfunktion hinaus wiesen viele Stationen zudem auch kleine Läden als Konsumeinheiten auf. Zigaretten- oder Zeitungskioske und bei den Fernbahnhöfen sogar Einzelhandelsgeschäfte hatten schon während der zwanziger Jahre das Bild von der Verkehrseinrichtung »Bahnhof« zu prägen begonnen. Bahnhöfe und Stationen waren mithin auch Konsumräume. Selbst dort, wo solche Anknüpfungpunkte fehlten, blieb immer noch mindestens eine Einrichtung, welche die Alltagserfahrung »Verkauf« mit den Verkehrseinrichtungen in Verbindung brachte: der Schalter.
truktion von geographischen Räumen in Europa seit der Auf klärung« einige theoretische Überlegungen voranstellt (S. 493–495). Vgl. ferner Löw, S. 254–262. 14 Vgl. F Rep 240 Acc 2651 Nr. 5, Bl. 504/4; PRO FO 1012/174 Economics/Black Market, Bl. 105 u. 116. Wärmehallen waren schon in der Weimarer Zeit als »Wärmestellen für Hilfsbedürftige« eingerichtet worden. Im November 1927 waren im gesamten Stadtgebiet insgesamt 62 Unterkünfte vorhanden, die 4.627 Personen Platz boten. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, Jg. 5, 1929, S. 219.
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Abbildung 1: Schwarzer Markt an der Fahrkartenverkaufsstelle des Hochbahnhofes Schönhauser Allee (Prenzlauer Berg) (Quelle LAB, 1 NK, Nr. 373689, Aufnahmedatum: 12. Juli 1945)
Abbildung 1 zeigt einen kleinen Schwarzmarkt an der »Fahrkartenverkaufsstelle« des Hochbahnhofs Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg aus dem Jahr 1945. Als Orte, an denen die individuellen Bewegungsmuster der Stadt gebündelt wurden, brachten Einrichtungen wie die Stationen der Berliner Verkehrsbetriebe Personen in Gruppen zusammen. Am Ort bildete der Schalter innerhalb der größeren Raumeinheit einen Treffpunkt für »focused gatherings« des Alltagslebens. Deshalb dienten diese Infrastruktureinrichtungen als ideale Kontakträume, in denen die Zusammenkunft zum Tausch ihren Ausgangspunkt fand. Neben den Schwarzhandelszentren und alteingesessenen Wochenmarktplätzen waren es vor allem die – zum Teil deckungsgleichen – nach dem Ersten Weltkrieg etablierten Tausch-Orte, die für Händlerinnen und Händler Erfolg versprechende Anlaufpunkt bildeten. »Es blühte nach diesem Kriege der Schwarze Markt genau so, wie nach dem 1. Weltkrieg«, erinnerte sich der bei Kriegsende 35jährige Heinz Frank, »zu[m] Teil waren sie an derselben Stelle«.15 Frank machte sich im August 1946 zu Fuß auf den Weg, um für sich und seine Frau Tomaten zu besorgen. Einen Plan der Stadt im Kopf und mit dem Wis15 LAB F Rep 240 Acc. 2651, Nr. 5, S. 578/1. Name geändert.
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sen um die Lage der Schwarzmarktplätze nach 1918 folgte er zielgenau der für ihn kürzesten Route, an deren Verlauf alle großen Schwarzmarktplätze im Zentrum der Stadt lagen. Offenbar hatte die Interaktion zwischen »direkten Erfahrungen und praktischen(n) Notwendigkeiten« Frank eine »mental map« der illegalen Berliner Konsumlandschaft zu Krisenzeiten anfertigen lassen, die ihm die Orientierung in der »Schwarzmarktzeit« erheblich erleichterte. Seine »mentale Landkarte« funktionierte als »subjektives, inneres räumliches Bild eines Teils [seiner] räumlichen Umwelt«, mit dessen Hilfe er die illegalen Märkte als wichtige Marker festgehalten hatte, die er nun abrufen konnte.16
Karte 3: Ungefährer Verlauf der »Schwarzmarkttour« des Schwarzhändlers Heinz Frank durch das Zentrum Berlins (Quelle: LAB F Rep. 240 Acc. 2651 Nr. 5, S. 578/1)
»Ich wusste (…) nicht, welchen Schwarzen Markt ich beehren würde«, schilderte Frank seine »Tour« durch die Berliner Schwarzmarktszenerie. »Zum Teil«, erinnerte er sich, »fuhren Verkehrsmittel schon wieder, aber ich entschloss mich zu laufen«.17 Bereits kurz nachdem er seine Wohnung in Schöneberg verlassen und den Potsdamer Platz »besichtigt« hatte, entschloss er sich »zum Schwarzen Markt [in der] Münzstrasse zu gehen«.18 Er nutzte den Weg dorthin, um neben 16 Schenk, S. 494. Hiernach auch im Folgenden. 17 LAB F Rep 240 Acc. 2651 Nr. 5, S. 578/1. 18 Ebd.
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dem Potsdamer Platz und anderen »Sehenswürdigkeiten« auch den Schwarzmarktplätzen im Tiergarten, vor dem Reichstag, am Brandenburger Tor und am Alexanderplatz einen Besuch abzustatten. In der Münzstraße angekommen geriet er, nachdem er die gewünschten Tomaten für 70,– RM erstanden hatte, in eine Polizeirazzia. Ohne die Ware kam er nachts zu Hause an. »Doch gleich am nächsten Tag«, berichtete er, »machte ich mich auf die Socken und suchte den Schwarzen Markt am Bülowbogen auf«. Das Motiv war klar: Er »wollte nicht lange suchen«.19 Eine Odyssee quer durch die Berliner Stadtmitte, nur um dann nicht mit den gewünschten Waren zurückzukommen – das wollte er nicht noch einmal riskieren und entschied sich deshalb für die ebenfalls aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bekannte, nahe gelegene Alternative. Doch offenbar hatte Heinz Frank neben seinem Wissen um die Plätze und ihre Lage im Stadtgebiet auch eine klare Vorstellung von den Sortimentstrukturen des Berliner Schwarzhandels. Denn seine Route erlaubte ihm nicht nur, sämtlichen großen Plätzen der Stadtmitte einen Besuch abzustatten; er schien außerdem zu glauben, dass er das von ihm gesuchte Tauschobjekt – die Tomaten – gerade auf dem Markt in der Münzstraße finden könne. Damit bewies er seine Kenntnis um etablierte Berliner Warenverteilerstrukturen. Denn die Märkte des Scheunenviertels und der Spandauer Vorstadt hielten tatsächlich typische Produkte von Endverbrauchermärkten, vor allem Lebensmittel, vor.20 Damit waren sie ein Beispiel für Sortimentüberlappungen zwischen den bekannten legalen und den illegalen Verteilerorten. Denn so sehr der illegale Handel auch bestehende Strukturen außer Kraft gesetzt hatte – bestimmte Elemente wie die Funktion der »zentralen Orte« oder produkttypischer Räume blieben durchaus erhalten. Sie standen damit in einer unterschiedlich lang zurückreichenden Konsumtradition und erleichterten die Orientierung auf den nur scheinbar chaotischen öffentlichen Schwarzmarktplätzen, auf denen sich schon bald Ordnungsmuster herausbildeten.
1.2 Unsicherheit und neue Routinen. Praktiken auf den Schwarzmarktplätzen Konsumpraktiken waren Praktiken im Raum. Güter und Anbieter wurden gesucht, Waren wurden angeboten, geprüft und getauscht. Dabei entstanden komplexe räumliche Anordnungen, die den Markt als zwar fragiles, aber auch hochgradig organisiertes Gebilde erscheinen ließen. Das vermeintlich chaotische Treiben auf den öffentlichen Schwarzmärkten folgte in Wahrheit Re19 Ebd., 578/2. 20 Diese Sortimentstruktur hatte eine eigene Tradition, die sowohl an legale als auch an illegale Vorläufer anknüpfte. Vgl. für den illegalen Lebensmittelmarkt während des Krieges beispielsweise LAB A Rep 358–02 80407.
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geln, die unterschiedliche Rollen- und Interaktionsmuster, Körperpositionen und Praktiken so erfolgreich in Einklang brachten, dass der konfliktträchtige illegale Handel zu einer dauerhaft funktionierenden, sozialen wie räumlichen Institution des Berliner Alltags werden konnte. Mithin gilt es, die Marktplätze nicht bloß als aus der Not geborene amorphe Ansammlungen zu fassen. Eine solche Beschreibung würde jenen vereinfachenden »Trümmerzeiten«-Diskurs fortsetzen, der die »Schwarzmarktzeit« – einer zeitgenössischen Selbstbeschreibung folgend – in ein diffuses, zu überwindendes und weitgehend folgenloses »Dazwischen« abschiebt. Stattdessen sollte man danach fragen, wie die komplexe Schwarzmarkt-Ordnung entstehen konnte und welche Entlastung sie möglicherweise für die Teilnehmer brachte. Um das Besondere an der Organisation der Tauschplätze als »focused gatherings« deutlich machen zu können, ist ein Blick auf die Verfasstheit legaler Berliner Wochenmärkte, Markthallen und der offiziellen Tauschmärkte hilfreich. Die Bestimmungen des Berliner Magistrats und der Alliierten Kommandatur sind Teile eine Geschichte der Modernisierung des städtischen Marktes und seiner Regeln im Zeichen von Normierung, Hygienevorschriften und Vertragssicherheit. Aus den unzähligen Entwürfen, Varianten und gültigen Marktordnungen, die das Ergebnis von Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten Parteien darstellten schälte sich ein fester Kanon von Bestimmungen heraus. Idealerweise waren die Märkte demnach räumlich und zeitlich fixierte Einrichtungen. »Marktplätze und Marktzeiten« gehörten zu den wichtigsten Festlegungen, welche die einzelnen Marktordnungen trafen.21 Sie regelten für jeden Platz die genaue Lokalisierung und die Öffnungszeiten. Genauso klar bestimmt war auch das Kontingent der legal zu handelnden Waren. Ein »Marktverkehr mit (…) nicht zugelassenen Gegenständen« war ebenso verboten wie der »Gewerbebetrieb im Umhergehen«. Doch das war bei weitem noch nicht alles: Die Anfahrt zum Markt, Auf- und Abbau sowie das Standgeld wurden auf gleiche Weise einem festen Regelkanon unterworfen. Aufschlussreich für einen Abgleich mit den Schwarzmarktplätzen sind darüber hinaus die Beschränkungen des Marktverkehrs und der festgeschriebene Kodex für das Verhalten auf dem Markte. Erstere legten das Vergaberecht für Marktstände in die Hände des jeweiligen Verwaltungsbezirkes der Stadt Berlin. Dabei galt: »Niemand hat ein Anrecht auf Zuweisung eines bestimmten Standes. Kein Markthändler ist berechtigt, seine Marktstelle einem anderen zu überlassen«.22 Die Bestimmungen zum »Verhalten auf dem Markte« wiederum schrieben eine Kenntlichmachungspflicht der Händler (Schild mit Namenszug und Adresse) sowie Hygiene- und Beleuchtungsvorschriften fest, denen die Marktteilneh21 Vgl. zum Folgenden die Verordnungen des Bezirksamts Charlottenburg LAB A Rep 037–08 Nr. 515b, Bl. 279ff. 22 Ebd., S. 285.
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mer nachzukommen hatten, wenn sie nicht wollten – und das ist ein weiterer wichtiger Punkt –, dass die »Straf bestimmungen« der Marktordnungen gegen sie angewandt würden. Die Organisationsformen des illegalen Handels mochten spontan entstanden sein, implizit und deshalb zuweilen unklar bleiben. Dennoch schufen sie einen Raum relativer Übersichtlichkeit und Sicherheit für die Teilnehmer. Eine wichtige Konstante bildete erstens auch auf den öffentlichen Tauschplätzen des Berliner Schwarzhandels die zeitliche Fixierung. Die großen Plätze des Schwarzhandelszentrums waren täglich »geöffnet«. Unterbrochen lediglich durch die regelmäßigen Razzien der Polizei fand der illegale Handel am Brandenburger Tor, am Reichstag und den anderen großen Treffpunkten jeden Tag statt. Diese relativ festen Marktzeiten garantierten den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine stabile Infrastruktur und waren die Voraussetzung dafür, dass sich Erwartungssicherheit bilden konnte. Anders als beim Netzwerk-Tausch entfiel die aufwändige Verabredung. Tauschinteressierte mussten lediglich einen der bekannten Plätze aufsuchen, um andere Teilnehmer treffen und Informationen einholen zu können. Marktbeginn und -ende hingen in erster Linie von den äußeren Umständen wie Licht- und Witterungsverhältnissen ab. Bei Regen etwa verlagerte sich am Alexanderplatz ein Teil des Marktgeschehens in die UBahn-Schächte. Generell fand der Markt im Freien nur bei Tageslicht statt.23 Eine andere zeitliche Spezifizierung von Marktkonstanten bildete der Saisonhandel. Insbesondere vor Feiertagen partizipierten Marktteilnehmer am Schwarzhandel, die als Gelegenheitshändler sonst einen Bogen um die illegalen Tauschorte machten, und fragten etwa Weihnachtsschmuck oder Blumen nach. Der illegale Handel war zum Teil ein Saisongeschäft. So kam es beispielsweise regelmäßig zu Überschneidungen mit den Berliner Weihnachtsmärkten.24 Zugleich unterlag der illegale Handel wochentagsbedingten Schwankungen, wie ein Bericht der Polizei vermerkte: »Am Sonntag, dem 21.10.1945, wurden (…) auf dem Alexanderplatz 2 Razzien gegen den Schwarzhandel durchgeführt, weil sich dort – wie gewöhnlich an Sonntagen – besonders zahlreiche Schwarzhändler eingefunden hatten. Die erste Aktion setzte um 14.30 Uhr, die zweite um 16.00 Uhr ein. (…) Bei beiden Aktionen wirkte russische Militärpolizei tatkräftig mit«.25 So sicher sich ein potenzieller Marktteilnehmer sein konnte, an einem der großen Handelsplätze Tauschpartner finden zu können, so flexibel reagierte der Markt auf die Störungen durch die Polizeirazzien. Mit der Zeit spielten 23 Vgl. den Artikel »Razzia am Potsdamer Platz« im Telegraf vom 23.7.1948. 24 Berlin am Mittag, »Weihnachtsmarkt oder Schiebermarkt?«, 15.12.1947, S. 3. Vgl. zum Saisonhandel insgesamt LAB F Rep 240 Acc. 2651 Nr. 4, S. 402, 412/4, sowie PRO FO 1012/175, S. 53, 112, 110; FO 1012/176, S. 13, 119, 148, 178, 179, 187, 188. 25 LAB C Rep 303/9 81, S. 169/2, Bericht vom 22.10.1945.
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sich Verlagerungsbewegungen ein, die einen einmal aufgelösten Markt an anderer Stelle wieder zusammenfinden ließen, oder aber auf das Ende der Unterbrechung warteten, um den Handelsraum sofort nach dem Verschwinden der Polizei am selben Ort wieder entstehen zu lassen.26 Die zweite Entlastungsebene bildeten räumlich Konstanten des Marktgeschehens. Für die Mikroorganisation der einzelnen Plätze lässt sich ein räumliches Innen-Außen-Verhältnis beobachten, wie es auf legalen Märkten durch die Definition des Marktgebietes und einzelne Standzuweisungen erfolgte. Als Ansammlung von Tauschgruppen mit mindestens zwei Teilnehmern bildete der Markt eine bewegliche, nach außen schwer abzugrenzende Größe, die gleichwohl als Einheit identifizierbar war. Die Ränder, neben den Bewegungen in der Menge selber das wichtigste Indiz für den auch von den Zeitgenossen empfundenen amorphen Charakter des Marktes, fransten aus, blieben in Bewegung und verkörperten auf diese Weise das »Unfassbare«, »Ausufernde« und »Umsichgreifende« der illegalen Handelspraxis. Gleichzeitig wurden damit die Identifizierung der Teilnehmer und der Zeitpunkt des Markteintritts in einen Zwischenbereich geschoben, der genau jenen prekären Übertritt vom moralischen Beobachter zum unmoralischen Partizipienten abbildete. Im Gegensatz zu den offiziellen Tauschmärkten, die man nach dem Kauf einer Eintrittskarte durch einen festgelegten Eingang betrat, waren Schwarzmarktplätze prinzipiell nach allen Seiten offen. Die Außengrenzen des Marktes wurden dann eindeutig, wenn die Polizei sie durch den Razzia-Ring markierte. Für viele Berlinerinnen und Berliner war der illegale Markt der Ort, an dem sie zum ersten Mal in unmittelbaren Kontakt mit Polizisten kamen, von einer Polizeikette eingekreist, anschließend auf Lastwagen verladen und zur Kontrolle im Polizeipräsidium in der Dircksenstraße abtransportiert wurden. Zwar verliefen diese Aktionen schon sehr bald in einer von beiden Seiten eingeübten friedlichen Routine ab. Aber eine ganze Reihe von Erinnerungsberichten räumt der Razzia-Schilderungen einen breiten Raum ein. Die verstörende Erfahrung, zum Gegenstand polizeilicher Maßnahmen geworden zu sein, hatte sich tief eingeprägt. Die im Polizeieinsatz präsente Staatsmacht setzte damit ihre Definitionsmacht auch körperlich vor Ort als »Grenzzieher« um. Was sich innerhalb des Rings aus Polizisten befand, gehörte für den Moment zunächst dazu. Erst in einem zweiten Schritt der Überprüfung wurde zwischen solchen Anwesenden unterschieden, denen man eine strafbare Handlung nachweisen konnte, und solchen, denen nichts nachzuweisen war. An diesem Punkt setzte die Definition des Marktes durch den Polizeiring aus, und der Markt wurde als anonymes Massenphänomen in seine schuldfähigen individuellen Bestandteile, die einzelnen Händlerinnen und Händler, 26 Vgl. PRO FO 1012/175 Black Market, Bl. 114.
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zergliedert. Viele Zeitzeugen blendeten in ihren Berichten zunächst aus, ob sie an Tauschaktionen beteiligt gewesen waren, und konzentrierten sich auf die Razzia als Überwältigungserfahrung. Diese Wahrnehmung verweist auf den Schwarzhandel als Praxisfeld, das den Einzelnen in seinen Wirkungskreis ziehen konnte. Damit stehen jenen Schilderungen erfolgreicher aktiver Schwarzhandelsteilnahme Erfahrungsberichte gegenüber, die den illegalen Handel als unausweichliche Phänomen bewerten, ein Schicksal, das über einen kommen und dem man nicht entrinnen konnte.
Abbildung 2: Razzia auf dem Berliner Schwarzmarkt (Ort unbek., April 1946) (Quelle: LAB, 1NK, Versorgung/Schwarzer Markt, Nr. 89999)
Die Märkte waren jeden Tag aufs Neue das Ergebnis kommunikativer Handlungen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bildeten durch ihr körperliches Zusammentreffen, ihre gegenseitige Wahrnehmung, das Verhandeln, Sprechen, Zeigen und Tauschen die soziale Einheit Markt, die funktionierte, indem sie einerseits als erwartbares Phänomen antizipiert werden konnte und andererseits durch die Praktiken der Akteure immer wieder neu hergestellt, bestätigt oder modifiziert wurde. Die öffentlichen Handelsplätze der Berliner »Schwarzmarktzeit« waren damit zweierlei: Orte einer spezifischen materiellen Infrastruktur und Interaktionsereignisse. Der Platz als städtischer Raum aus Stein, umgeben von Gebäuden, Schuttbergen oder Ruinen, bot den Raum für 216
die Praktiken der Teilnehmer; beides zusammen brachte den Berliner Schwarzmarkt als öffentliches Phänomen und Institution der Übergangszeit hervor. Die Geschichte des Berliner Schwarzmarktes aus der Logik von Interaktionen auf der Mikroebene zu analysieren, setzt deshalb eine Kontextualisierung mit Blick auf die Physis der Stadtbewohner, ihrer körperlichen Verfassung und Erfahrungen voraus. Generell nahm das Alltagsleben zur Kriegs-, aber in der Folge auch zur Nachkriegszeit eine neue Qualität auf der Ebene von Körperlichkeit an. Die Nähe des Todes, von Verwundung, Versehrtheit und Hunger rückte den Körper als Medium historischer Erfahrung in den Mittelpunkt.27 Nachdem die Lebensbedrohung durch das Militär mit der allmählichen Befriedung des Berliner Alltags nach Kriegsende auf der Tagesordnung in den Hintergrund gerückt war (ohne wegen der unsicheren Lage ganz zu verschwinden), blieb die Frage der Lebenserhaltung bestimmend. Hinzu kamen die Witterungseinflüsse in einer Stadt, die unter akutem Wohnungs- und – im Winter – Brennstoffmangel litt.28 Schwarzhandelsgeschäfte aber bedeuteten, während sie zugleich den Ausweg aus einer prekären Versorgungslage und damit körperliches Wohlbefinden bieten konnten, für viele Marktteilnehmer auch schwere Arbeit und eine Zumutung, wenn es um das Erlernen ungewohnter Interaktionsregeln und die Bewältigung einer allgemeinen Situation der Unsicherheit ging. Über den Schwarzmarkt als Markt der Nähe zu sprechen meint jene körperlichen Erfahrungen ernst zu nehmen, die der illegale Handel unweigerlich mit sich brachte. Denn auf den Berliner Marktplätzen trafen die Tauschpartner in einer ungewohnten Art und Weise aufeinander. Ganz gleich ob eine Notsituation den einzelnen Teilnehmer zur Teilnahme bewog oder ob es sich um eine »freiwillige« Partizipation am Marktgeschehen handelte, bedeutete das Zusammentreffen mit einer größeren Zahl von fremden Personen schwierige Austarierungsvorgänge bei der Behauptung und Bewahrung von »Territorien des Selbst« (Goffmann).29 Der illegale Marktplatz war auch ein Raum für Verletzungen, für Gefühle der Unsicherheit, des Unbehagens, der Verlegenheit und der Inferiorität.30 Der prekäre Charakter des illegalen Berliner Konsumraums wird umso deutlicher, je näher man den Blick auf die unterschiedlichen Situationen richtet, welche zur Tauschhandlung in toto dazu gehörten. Dabei ging es, erstens, um die Annäherung an den Markt.
27 Vgl. einführend Lorenz. 28 Traurige Berühmtheit erlangte in diesem Zusammenhang der sogenannte »Hungerwinter« 1946/47. Für die Überlebensstrategien im Hinblick auf die Lebensmittelknappheit vgl. Robeck u. Wachter. 29 Goffmann, Individuum, S. 54ff. 30 Ders., Interaktionsrituale, S. 108ff.
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Abbildung 3: Schwarzer Markt im Bezirk Wedding (Müllerstraße) (Quelle: LAB, 1 NK, Schwarzer Markt, Nr. 7862)
Aus einer gewissen Entfernung näherten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dem Geschehen, warteten zunächst einmal eine gewisse Zeit, sondierten die Lage, überprüften, ob eine Gefahr – durch Besatzungssoldaten oder eventuelle auftauchende Polizisten – bestand und griffen erst nach diesem retardierenden Moment in das Marktgeschehen selber ein. »Überall standen kleine Trüppchen und verhandelten«, schilderte eine Teilnehmerin ihre erste Begegnung mit dem öffentlichen Handel, »ich schaute mich erst einmal um was so angeboten wurde und blieb dann bei einer Gruppe stehen, die Bekleidung an Russen verkaufte«.31 Abbildung 3 verdeutlicht allerdings, dass erfahrene Schwarzhändler, für die der Handel eine alltägliche Sache geworden war, oder solche, die sich sicher waren, dass im Moment keine Gefahr drohte, sich ohne zu zögern einfach auf die vorhandenen Gruppen zu bewegten. Bevor sich die Teilnehmer auf dem Markt orientierten, nach angebotenen Waren oder bekannten Gesichtern suchten, musste der Eintritt in den Marktraum erfolgen. Dieser Vorgang funktionierte in der Form eines »Eintrittszyklus« (Lynette Lofland), wie er das Verhalten von Individuen in »public settings« auszeichnet. Dabei konnten die Teilnehmer allerdings nicht auf die etwa in Restaurants üblichen Praktiken (wie das Auf hängen der Jacke oder den Kontakt zum Kellner) zurückgreifen, die jene Phase der Orientierung durch einen festgelegten, den Übergang in die Öffentlichkeit erleichternden Ablauf ermöglicht hätten.32 Wahrscheinlich spielte auch das Moment einer letzten körper31 LAB F Rep 240, Nr. 5, S. 503/1. 32 Ebd., S. 94.
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lichen Selbstkontrolle (etwa der Sitz der Frisur und der Kleidung) beim »Eintrittszyklus« eine Rolle. Denn nicht selten machten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer regelrecht »fein«, bevor sie sich auf den Weg zum Marktplatz machten, wie es einem Verhaltensmuster von Personen entsprach, die sich zur Erledigung von Einkäufen oder für einen Bummel »stadtfein« machten. Anna Fetting erinnerte sich daran, dass sie vor dem Gang zum Schwarzmarkt am Potsdamer Platz ihr »schönes weinrotes Komplet« anzog. »Mein vermisster Mann«, erklärte sie, »sah mich immer in diesem Kleid so gerne und darum hatte ich es auch beim Auf bruch zur Flucht zur Mitnahme ausgewählt«.33 Zeitgenössische Fotografien zeigen die meisten Teilnehmerinnen – soweit es sich um Aufnahmen aus den Sommermonaten handelt – in modischen Kleidern. Die männlichen Teilnehmer tragen zumeist Hemd und Sakko, zum Teil auch Schlips, in der Regel einen Hut und – auch im Sommer – einen Mantel. Auffällig ist das offene Tragen von Schmuck aller Art. Die zum Teil »überladen« wirkende Ausstaffierung mit Schmuck hing einerseits mit jenem »Herausputzen« für den Gang in die Öffentlichkeit zusammen. Andererseits war das demonstrative Herzeigen von Schmuckstücken zugleich eine Form der Warenpräsentation. Bereits während des Krieges hatte sich diese Form der Werbung am eigenen Körper durchgesetzt. Schwarzhändler gaben sich als potenzielle Tauschpartner zu erkennen, indem sie Ringe, Uhren und anderen Schmuck exponiert zur Schau stellten und ihren Körper somit als »Auslage« nutzten (vgl. Abb. 4).34 Der Eintritt in den Marktraum blieb trotz aller Vorkehrungen für viele Teilnehmer zwar problematisch, konnte aber wegen der unklaren Grenze zwischen dem Innen und dem Außen des ausfransenden Marktgeschehens durch die Grauzone einer unklaren Partizipationssituation erleichtert werden. Die vorhandene Binnendifferenzierung auf den Plätzen erleichterte Suchbewegungen, blieb aber häufig zu instabil, um umsichtige Bewegungen erübrigen zu können. Für die Bewegungsmuster eines Teilnehmers war entscheidend, ob er eine Angebots- oder eine Nachfrageabsicht oder beides hatten. Anbietende positionierten sich, suchten sich entweder ein bestimmtes Areal, das sie schlendernd abdeckten, oder nahmen einen festen Standpunkt ein. Das funktionierte wie auf den offiziell zugelassenen Tauschmärkten. Eine Teilnehmerin des Marktes in der Brunnenstraße schilderte ihre Tauschvorkehrungen: »Ich machte mich also auch eines morgens mit einem kleinen Koffer und meinen ›Waren‹ auf den Weg. Erwartungsvoll stellte ich (…) meinen geöffneten Koffer auf die Erde und es dauerte auch gar nicht lange, bis ich den ersten Verkauf tätigen konnte (…). Leider konnte ich die anderen noch mitgeführten Gegenstände erst nach einer unfreiwilligen Pause verkaufen, (…) weil ich in eine Razzia geriet. (…) Als ich mich von meinem ersten Schrecken erholt hat33 LAB F Rep 240, Nr. 5, S. 503/1. 34 Vgl. etwa LAB A Rep 358–02, 8443.
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Abbildung 4: Schmuckträgerinnen auf einem Schwarzmarkt im Bezirk Zehlendorf, 10. Juli 1948 (Quelle: LAB, 1NK, Schwarzer Markt, Nr. 998)
te, durch die Not aber gezwungen war, Geld zu beschaffen, bezog ich wieder Posten auf dem Markt.«35 Solche räumlichen Aufteilungen mit festen »Posten« funktionierten auch auf den illegalen Marktplätzen, wo über den eigenen Körper »persönliche Räume« und mittels Gegenständen »Besitzterritorien« »zentral markiert« wurden. So sprach etwa Magda Thieß, die sich trotz anfänglicher Bedenken auf dem 35 LAB F Rep 240, Nr. 4, S. 302/1.
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Schwarzmarkt auf hielt, von ihrem »›Kollegen‹ nebenan« und beschrieb damit eine temporäre, vorübergehend stabile Raumaufteilung auf dem Markt.36 Dabei handelte es sich um »situationelle Territorien« (Goffmann), die nach der Verhaltensregel »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst« besetzt werden konnten, deren Anspruch aber von der Anwesenheit der Person abhängig und zudem nicht unbestritten blieb. Als »persönlicher Raum« (Goffmann) um die Person des Anbieters situiert, konnte er Züge eines Benutzungsraumes annehmen, der einerseits eine beabsichtigte Fremdbenutzung durch Abnehmer vorsah, zugleich aber Anbieter (vor allem solche mit ähnlichen Sortimenten) als Verursacher »territorialer Übertretungen« verstehen musste. Die damit gegebene komplexe und hochgradig konfliktanfällige körperlich-soziale Organisation des Schwarzmarktes, die auf Regelungen wie das Standrecht verzichten musste, betraf immer auch den »kleinsten aller möglichen persönlichen Räume«, den Körper. Denn »Verletzungen« der etablierten und für das Selbstverständnis von Individuen wichtigen »Territorien des Selbst« erfolgten sowohl über eine zu große körperliche Nähe als auch über zu »aufdringliche« Bewegungen und Laute sowie zuletzt über Berührungen der »Hülle«, d.h. der Kleidung oder des Körpers. Die einzelnen Händlergruppen auf den Marktplätzen können interaktionstheoretisch als so genannte F-Formations-Systeme beschrieben werden.37 Solche Interaktions-Cluster entstehen, »whenever two or more people sustain a spatial and orientational relationship in which the space between them is one to which they have equal, direct, and exclusive access«.38 Ausgehend von der Beobachtung, dass jede Person über ein individuelles »transactional segment« verfügt, das dem Körper vorgelagert ist und das sie zu bewahren versucht, kann beim Zusammentreffen von zwei oder mehr Personen, die sich einander zuwenden, ein so genannter »o-space« beschrieben werden. Dabei handelt es sich um jenen Raum, in dem sich die individuellen Segmente überlagern und einen »joint transactional space« hervorbringen. In diesem Raum fand das Wichtigste statt, der Tausch. Von besonderem Interesse für die Untersuchung dieser Kleingruppenordnung oder F-Formations-Systeme ist die Beobachtung, das sie ihre Struktur beibehalten können, wenn ein einzelner Teilnehmer die Formation verlässt und durch einen neuen ersetzt wird, oder sich die Formation der verminderten Teilnehmerzahl anpasst und den »o-space« neu austariert. Für die Stabilisierung von Interaktionsräumen stand mithin ein ausdifferenziertes Verhaltensskript bereit, das den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine partielle Entlastung ermöglichte.39 36 Vgl. LAB F Rep 240, Nr. 5, S. 504/4. 37 Vgl. zum Folgenden die interaktionstheoretischen Arbeiten von Kendon, die in der Tradition von Erving Goffmanns Untersuchungen Interaktionsmuster in »focused encounters« untersuchen. Vgl. Kendon. 38 Kendon, Spatial Organization, S. 209. 39 Vgl. für den gegenläufigen Trend in der Moderne Föllmer.
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Da die Schwarzhändlergruppen ihr Zusammenfinden dem Tauschzweck verdankten, handelte es sich in der Regel um vis-a-vis oder L-förmig angeordnete Formationen. Das war zugleich ein Ausdruck dafür, dass es sich um »competing pairs« (im Unterschied zu »cooperating« oder »separately acting pairs«) handelte, für deren Aufeinandertreffen Geertz Begriff der »intimate antagonists« zutreffend ist. An Abbildung 5 lassen sich solche F-Formations-Systeme exemplifizieren. Grafik 6 gibt eine schematische Darstellung der Anordnung.
Abbildung 5: Händler-Gruppe auf Schwarzem Markt in Berlin (um 1946) (Quelle: LAB, 1NK, Notstände nach 1945, Nr. 252899)
Die Abbildungen der Tauschsituation zeigen, dass insbesondere die Warenprüfung die Partner zu einem engen körperlichen Ensemble zusammen brachte und den »o-space« verkleinerte.40 Dabei prüfte der Kunde die Ware, während der Anbieter sich an diesem Prozess zu beteiligen schien, indem er den Gegenstand ebenfalls einer (erneuten) Betrachtung unterzog. Diese Situation markierte den Zeitpunkt größter körperlicher Nähe zwischen den Schwarzhändlern. Man berührte die Waren, die der Anbieter dem Interessenten zur Prüfung aushändigte, drehte und wendete sie, roch eventuell an ihnen – und gab sie schließlich einstweilen dem Besitzer zurück, bevor die Preisverhandlungen begannen oder in ihre entscheidende Phase traten (vgl. unten Abb. 6). 40 F Rep 240 Acc. 2651, Nr. 4, S. 402/2.
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Grafik 6: Schematische Darstellung des F-Formations-Systems aus Abb. 5 (nach Kendon, F-Formation-System, S. 235)
Abbildung 6: Warenprüfung und Verhandlung auf dem Berliner Schwarzmarkt (um 1946) (Quelle: LAB, 1NK, Versorgung / Schwarzer Markt, Nr. 252901)
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Dabei blieb es nicht aus, dass die Partner sich berührten. Die körperliche Abschirmung des Vorgangs führte zur Ausbildung kleinerer Gruppen auf dem Marktplatz, häufig stießen andere Interessierte zu einer anfänglichen Zweiergruppe hinzu, schauten den Tauschpartnern über die Schulter, drängten von hinten leicht nach und forcierten so die Nähesituation zwischen den Tauschenden, was dazu führte, dass der eigentlich als »buffer zone« wichtige »r-space« »verletzt« werden konnte. Trugen Schwarzhändler ihre Waren am Körper – etwa in die Manteltasche eingehängt –, dann bedeutete die Begutachtung des Tauschgegenstandes nicht zuletzt auch eine relativ intime Annäherung an die Person des Anbieters.41 Sich durch »Tausende und Abertausende« von Menschen hindurchbewegen und die körperliche Auseinandersetzung einer Tauschsituation bestehen zu müssen, war für viele Teilnehmer eine problematische Angelegenheit. In einer ganzen Reihe von Schilderungen stellten sie ihre eigene Unsicherheit heraus und beschrieben ein Phänomen, das die verhaltenspsychologische Forschung als »crowding stress« bezeichnet.42 Das zeigte sich teilweise schon bei der Annäherung an eine auf dem Markt vorgefundene Kleingruppe. Nachfragende wanderten einzelne Posten ab, näherten sich einer Person, einer »Auslage« oder einem Pulk, der sich bereits um einen Anbieter gebildet hatte. Anna Fetting etwa, die »keine Erfahrung in solchen Sachen« hatte, war beim Erreichen des Marktes am Potsdamer Platz »doch etwas flau im Magen«. Schließlich überwand sie sich: »Ich steuerte auf einen jüngeren Russen so in meinem Alter zu und bot ihm den Mantel an. Den Mantel wollte er nicht haben, war aber ganz begeistert von meinem Jackenkleid und sagte immer wieder zu mir: ›Du ausziehen, ich kaufen, 1 000 Mark‹. (…) Mit Zeichensprache machte ich dem Russen klar, dass ich ihm das Kleid geben wolle, und er etwas warten solle. Ich eilte auf eine Ruine zu mich immer umsehend, ob der Russe mir nicht folgt. Nur mit dem Mantel bekleidet brachte ich ihm das Kleid und erhielt dafür 1 000 Mark.«43 Körperliche Nähe musste man aushalten können, wenn man Tauschgeschäfte auf dem Schwarzmarkt abwickeln wollte. Schamhaftigkeit konnte ein ernstes Hindernis sein. Wer sich zu großer körperlicher Nähe schämte oder sich von solchen Nähe-Situationen irritieren ließ, musste den Markt meiden, seine »Verlegenheit« (Goffman) überwinden oder jemanden finden, der sich in seinem Auftrag der Herausforderung stellte. So wie eine Bekannte von Irmgard Chambula, die sich glücklich schätzen konnte, dass der Schwarzmarkt für Chambula »ein großes Vergnügen« war: »Meine langjährige Kollegin Ille, zu brav, um sich auf den schwarzen Markt zu wagen, hatte noch aus ihrer Jugend41 Kendon, Spatial Organization, S. 233f. 42 Altman, Environment. 43 LAB F Rep 240, Nr. 5, S. 503/1.
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zeit Stoff hemden (…). Ich sagte ihr, bring‹ die Dinger doch mal mit, vielleicht werde ich sie los. (…) Kaum hatte ich die Hemden über meinen Arm gebreitet, waren sie auch schon weg. Grosse Freude bei Ille, als ich ihr (…) zuraunte, dass bereits alles verkauft sei«.44 Dabei verweist die »Bravheit« der Kollegin auf eine ganze Reihe von möglicherweise hemmenden Motiven, die einer Schwarzmarktteilnahme im Wege stehen konnten. Von den ungewohnten Praktiken, einer allgemeinen Schüchternheit bis hin zu der Furcht vor Zudringlichkeiten reichte die Skala. Zudringlichkeit konnte sowohl körperliche Nähe als auch sexuelle Belästigungen bedeuten, da die Grenze zwischen Waren-Tauschgeschäften und Formen der Gelegenheitsprostitution nicht immer klar gezogen waren und die Prostitutionsabsicht von den männlichen Teilnehmern – und einem großen Teil der beobachtenden Öffentlichkeit – einfach unterstellt wurde. »Ab und zu mal einen Kuss« für Lebensmittel zu geben, gehörte zu den gängigen Praktiken des Tauschhandels.45 Zwar bildeten sich auch für die Dienstleistung Prostitution bestimmte Schwerpunkträume heraus. Trotzdem mussten Frauen, die an anderen Tauschgeschäften interessiert waren, nicht mit entsprechenden Nachfragen oder Belästigungen rechnen. Erleichternd konnte es wirken, wenn man sich für eine nach außen demonstrierte gleichgültige Haltung entschied. Eine der am häufigsten gebrauchten Vokabeln für die Bewegungen auf den Marktplätzen bildete der Begriff »Schlendern«. Damit war einerseits eine positiv-normale Konnotation verbunden, die den Schwarzmarktbesuch von den Erfahrungen der »Bunkerzeit« weg- und in die Nähe des Einkaufsbummels rückte. Andererseits beschrieb der Begriff eine teils suchende, teils scheinbar teilnahmslose Gangart, die den Zweck erfüllte, sowohl das Geschäftliche erledigen zu können als auch ein zufälliges Vorbeikommen zu signalisieren, das im Falle einer Razzia wie eine vorweg genommene Entschuldigungsgeste interpretiert werden konnte. Zugleich erleichterte das »Schlendern« oder »Bummeln« über den Platz die Kontaktaufnahme, weil es beiden Seiten eine langsame Annäherung ermöglichte, die unter den Bedingungen unklarer Raumbezüge, wie sie im Einzelhandel etwa die Eingangstür oder eine Ladentheke schafften, notwendig geworden waren. Zudem war die Langsamkeit des »Schlenderns« dem Umstand geschuldet, dass es zumeist keine eindeutigen Waren-Raum-Zuteilungen gab, die eine zielgerichtete Suchbewegung ermöglicht hätten. Schließlich entsprach diese Bewegungsart auch einem etablierten Bewegungsmuster, wie es die »in die Stadt« fahrenden Konsumenten großstädtischer Einkaufsmeilen bereits vor dem Krieg an den Tag gelegt hatten. In dieser Hinsicht entsprach der Schwarzmarkt einem »Warenhaus auf der Straße« (Karl Deutmann).
44 Ebd., Nr. 6, S. 689/2. 45 Vgl. etwa ebd., Nr. 5, S. 581/2.
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Je nachdem, wie oft der oder die Einzelne die einzelnen Vorgänge schon praktiziert hatte, fiel es den Teilnehmern leichter oder schwerer Annäherungs- und Kontaktsituationen zu meistern. Neulinge, die zum ersten Mal den Schwarzmarkt betraten, waren häufig unbeholfen oder sogar ängstlich, wussten nicht genau, wie sie sich einem Tauschpartner nähern und mit ihm Kontakt aufnehmen sollten. Die Kontaktaufnahme folgte in der Regel bestimmten Mustern. Dazu konnte es gehören, dass der Anbieter seine Waren »ausrief«, indem er – je nach Vorsichtigkeitsgrad leise oder lauter – aufzählte, was in seinem Bestand vorhanden war. Eine andere Möglichkeit bot das stumme Präsentieren der angebotenen Waren, wobei dafür gesorgt wurde, dass kleinere Gegenstände schnell in Jackentaschen, Beuteln oder Koffern verschwinden konnten. Die Flüchtigkeit des illegalen Handels zeigte sich auch bei der Präsentation der gehandelten Waren, wie sie auf vielen Fotografien festgehalten wurde.46 Zweifellos war für eine ganze Reihe von Marktteilnehmern der Leidensdruck zu groß, als dass die sich den Luxus übertriebener Schamhaftigkeit leisten konnten und wollten. Aber das bedeutet nicht, dass es für sie keine große Herausforderung darstellte, sich den körperlichen Nahsituationen des Marktes zu stellen. Die Überprüfung des Tauschpartners orientierte sich – anderes als beim Netzwerkhandel der Kriegszeit – zunächst notgedrungen an Äußerlichkeiten. Dazu gehörten neben der Kleidung des Gegenüber, die etwas über die Wohlanständigkeit und die soziale Stellung aber auch über die Hygiene des potentiellen Tauschpartners wie seiner Waren sagen konnte, körperliche Merkmale. Alte, verletzte oder schwache Personen bedeuteten für den Konfliktfall eine kleinere Gefahr. Denn zuletzt hatten die Berliner Schwarzhändlerinnen und -händler im Fall einer Auseinandersetzung kein anderes Sanktionsmittel zur Verfügung als ihre eigene physische Stärke. Ein – auch körperlich – zur Schau getragenes Selbstbewusstsein konnte Vertrauen erwecken, aber auch auf mögliche Schwarzhandelserfahrungen hinweisen und den Träger zusammen mit anderen Attributen wie auffälligen Schmuck vielleicht sogar als »Schieber« und damit als gefährlichen oder zumindest »gewieften« Tauschpartner erscheinen lassen. Die Prüfung des äußeren Erscheinungsbildes war entscheidend für jeden Schwarzhändler. Die Taxierung erstreckte sich deshalb – anders als bei den meisten Ladengeschäften und vor allem dem Einkauf im Warenhaus – beim illegalen Handel zunächst auf den potenziellen Tauschpartner und erst danach auf die Ware. Soziologischen Analysen der Rolle von Vertrauen bei der »performativen Konstruktion von Märkten« ist in jüngster Zeit verstärkt Aufmerksamkeit zu Teil geworden.47 Für den illegalen Berliner Handel hatte »Vertrauen als Beru46 Vgl. etwa die Abbildung unter http://www.goethe.de/in/d/grafiken/bilder/swmarkt.jpg (letzter Zugriff am 20.7.2007). 47 Vgl. zum Folgenden grundlegend Beckert.
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higungsmittel in Tauschbeziehungen« eine geradezu konstitutive Bedeutung. Um die hohen »Barrieren für Tauschbeziehungen« auf den Märkten abbauen oder wenigstens minimieren zu können, mussten die Händlerinnen und Händler einander ein Mindestmaß an Vertrauen entgegenbringen können, dessen Grundlage interpersonale Kommunikationshandlungen bildeten.48 Dabei handelte es sich zu einem guten Teil um performativ-selbstdarstellerische Akte des Vertrauensnehmers, die einem potenziellen Tauschpartner Vertrauenswürdigkeit signalisieren und ihn zu einer einseitigen Vorleistung motivieren sollten.49 Weil der Schwarzmarkt ein zwar erstaunliches, aber doch vergleichsweise geringes institutionelles Absicherungsnetz ausbildete, kam es für den Erfolg der Märkte in besonderer Weise auf solche performativen Leistungen der Teilnehmer an. Anders als ökonomische Ansätze unterstellen, spielten damit »weichere« Faktoren eine Rolle, als es etwa der Begriff einer »rationalen« Kalkulation der Akteure nahe legt. Vielmehr stützten sich die ökonomischen Praktiken der Akteure auf spontane Einschätzungen, auf flüchtige Eindrücke und Indizien.50 Was die Forschung damit als besonderes Merkmal von »Marktbeziehungen in modernen Gesellschaften« auszumachen meint, galt in gleichem Maße für die anachronistischen anmutenden Bedingungen auf den Berliner Schwarzmärkten. Gerade hier mussten »riskante Vorleistungen auch ohne genaue Kenntnis des Tauschpartners, ohne langfristige Beziehungen und trotz der nur unvollständigen Beobachtung seines Handelns mit anderen sowie in nicht durch Macht oder Normen umfassend abgesicherten Situationen« erbracht werden.51 Durch dramaturgisches Handeln waren Anbieter somit in der Lage, Vertrauen und damit die Voraussetzung für einen erfolgreichen Tauschabschluss sozusagen hervor zu locken. Dabei handelte es sich um Vorleistungen, die ein erfolgreiches Vertrauensspiel gewissermaßen »fingierten«. Die Barriere für Tauschhandlungen wurde einseitig herabgesetzt, indem die Vorleistungen zur »Beruhigung des Vertrauensgebers« beitrugen, eine gemeinsame Situationsdefinition anboten und darüber hinaus den ersten »Zug« eines Spiels bedeuteten, »in das sich die Beteiligten Schritt für Schritt gegenseitig« hinein zogen.52 Mögliche Strategien der performativen Darstellung bildeten »Bindung«, »Erwartungskongruenz«, »Kompetenz« und »Integrität«. Bei der Bindungsstrategie bewirkten längere Verkaufsgespräche, dass der Austritt aus Verhandlungen für den Abnehmer 48 Dazu schon Luhmann, Vertrauen, S. 37ff. 49 Beckert, S. 27, kann überzeugend darlegen, dass die Pay-Off-Situation in Vertrauensspielen Vertrauensnehmer (Anbieter) zu Investitionen in die Darstellung eigener Vertrauenswürdigkeit motivieren kann, weil diese der Vorleistung des Vertrauensgeber »sequentiell vorgelagert« sind, während Vertrauensgeber (Abnehmer) vor der binären Entscheidung Angebot annehmen/ablehnen stehen, die wiederum entscheidend von der Selbstdarstellung des Gegenüber abhängt. 50 Vgl. zur Abgrenzung von ökonomischen Handlungstheorien ebd., S. 28. 51 Ebd., S. 34. 52 Ebd., S. 37f.
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erschwert wurde, weil das Prinzip der Reziprozität nach einer Gegenleistung für den vom Anbieter geleisteten Verhandlungsaufwand verlangte. Erwartungskongruenz konnte über eine dargestellte Ähnlichkeit mit dem potentiellen Abnehmer hergestellt werden. Der Abbruch von Verhandlungen mit Teilnehmern, die auf Grund ihrer ähnlichen Lebensstilsymbole eine situative Vertrautheit möglich machten, war ungleich schwieriger, als wenn es sich etwa um Angehörige einer anderen sozialen Schicht handelte. Auf den illegalen Berliner Märkten war die Investition in Kompetenz-Signale des Anbieters eine ambivalente Angelegenheit, weil eine zu stark signalisierte Vertrautheit mit den Gepflogenheiten des Schwarzmarkts als »Schieber«-Kompetenz verstanden und damit Täuschungsabsichten befürchtet werden konnten. Wichtiger waren deshalb Signale, die von der Integrität des Senders zeugen sollten. Dazu konnte es gerade auch gehören, eben nicht durch eine zu große Vertrautheit mit der Schwarzmarktetikette aufzufallen, sondern – im Gegenteil – eine gewisse Unwissenheit oder Unsicherheit als Strategie der Selbstoffenbarung zu verfolgen.53 Um solche Techniken anwenden zu können, musste man regelmäßig am Marktgeschehen teilnehmen. Erfahrenere Teilnehmer nutzten die geschilderten Ausgleichsstrategien, lernten aus Enttäuschungen und bildeten allmählich regelrechte Schwarzhandelsroutinen aus. Wiederholungen von Tauschgeschäften zwischen Tauschpartnern erfüllten damit einerseits – wenn es sich um die gleichen Partner handelte – einen ökonomischen Zweck: Partner, die mehrmals miteinander ins Geschäft kamen, eröffneten einander zugleich die Möglichkeit, Vorteilsnahmen der einen oder der anderen Seite beim nächsten Handel auszugleichen. Im Gegensatz zu einmaligen Geschäften bot sich in solchen Fällen die Chance, Täuschungsversuche zu sanktionieren. Anders herum bedeutete der Auf bau von längerfristigen Partnerschaften die Möglichkeit, Vertrauen als eine wichtige Grundlage der Geschäftsbeziehung aufzubauen und zu festigen. Zudem eröffneten sich alle Teilnehmer mit Wiederholungen – unabhängig davon, ob es sich um unterschiedliche Tauschpartner handelte – die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln und somit die eigene Position auf den unsicheren Märkten zu stärken. Denn Wiederholungen waren gleichbedeutend mit Lernprozessen – erst die Regelmäßigkeit der Geschäftspraxis eröffnete die Chance, einmal gemachte Fehler zu korrigieren und so Schritt für Schritt zu einem ernstzunehmenden Tauschpartner zu werden, der über die Gepflogenheiten und die Gefahren des illegalen Gewerbes bescheid wusste. Einmal »eingeführte« Teilnehmerinnen und Teilnehmer strukturierten ihre Handelstätigkeiten rasch. Schnell wurden die Basistechniken des illegalen Gewerbes (wie Informationsbeschaffung) zur alltäglichen Routine.54
53 Vgl. als Beispiel LAB F Rep 240, Nr. 5. 54 Vgl. LAB F Rep. 240 Acc. 2651 Nr. 2, Bl. 111/2.
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Doch diese Räume einer relativ stabilen und damit Sicherheit bietenden Handelsroutine blieben nicht ungestört. An erster Stelle waren es die immer neuen Versuche der Strafverfolgungsbehörden, dem illegalen treiben Einhalt zu gebieten, die den Händlern das Leben schwer machten.
2 Machtvakuum und neue Schwarzmarktpolitiken Der Schwarzhandel sollte die Justiz auch noch lange Zeit nach den Währungsreformen beschäftigen. Ein Beispiel mag das verdeutlichen. Sechzehneinhalb Jahre nachdem Leo Weissenberg im März 1943 vom Berliner Sondergericht als »Kriegswirtschaftsverbrecher« verurteilt worden war, lag der Fall dem 1. Strafsenat des Berliner Kammergerichts als Urteilsauf hebungssache wieder vor.55 Die Tochter des Verurteilten wollte Gerechtigkeit und reichte im Frühjahr 1959 einen Auf hebungsantrag beim Berliner Landgericht ein. Was war passiert? Weissenberg hatte während des Krieges an einen Mitangeklagten mehrere Damen- und Kindermäntel sowie etliche Meter Stoff verkauft, ohne sich in der dafür vorgesehenen Art bezahlen zu lassen. Statt den Gegenwert in Textilpunkten in Rechnung zu stellen, wie es die 1942 eingeführte »Punktpflicht« verlangte, hatte er die Ware gegen Geld abgegeben. Die Richter des Sondergerichts verurteilten ihn darauf hin zu zwei Jahren und drei Monaten Zuchthaus. Wie der Beschluss des Berliner Strafsenats lapidar festhielt, war er »nach teilweiser Verbüßung der Zuchthausstrafe (…) am 16. Juli 1943 der Gestapo überstellt« und danach »in ein Konzentrationslager verbracht« worden, wo er »ums Leben (kam)«. Die mittlerweile in London lebende Tochter berief sich in ihrem Antrag auf das Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts. Doch sie erreichte nur einen mageren Teilerfolg. Das Kammergericht stufte die Strafe nachträglich auf ein Jahr Gefängnis herab. In ihrer Begründung argumentierten die Richter, dass es sich bei der vom Sondergericht angewendeten KWVO keineswegs um eine nazistische Verordnung gehandelt habe. In ihren Worten diente die »Kriegswirtschaftsverordnung (…) weder der Festigung des Nationalsozialismus, noch bezweckte sie die Durchsetzung nationalsozialistischen Gedankenguts«. Sie sei vielmehr erlassen worden, »um die für den lebenswichtigen Bedarf der Bevölkerung notwendigen Güter zu schützen, die infolge des Krieges nicht mehr in ausreichender Menge vorhanden« gewesen seien, und habe »den Interessen der notleidenden 55 Das Folgende nach LAB A Rep 358–02 87905, Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht, Beschluss des 1. Strafsenats des Kammergerichts in Berlin vom 6.10.1959 (beglaubigte Abschrift) (unpaginiert).
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Bevölkerung« gedient. Auch habe die Tatsache, dass Weissenberg Jude war, keinen erkennbaren Einfluss auf die Urteilsfindung des Sondergerichts gehabt, was schon alleine deshalb als bewiesen gelten könne, weil ein Mitangeklagter nicht-jüdischen Glaubens, der überdies der NSDAP angehörte, ebenfalls hart bestraft worden sei. Zwar entspreche es der ständigen Rechtsprechung des Senats, dass eine Verurteilung auch dann aufzuheben sei, wenn der Verurteilte die Tat begangen habe, weil er die Folgen einer Verfolgung aus rassischen oder anderen Gründen von sich habe »abwenden« wollen. Aber auch das sei in dem vorliegenden Fall nicht gegeben. Zwar könne davon ausgegangen werden, dass Weissenberg »zur Tatzeit bereits in erheblicher Weise unter den bekannten Verfolgungsmaßnahmen zu leiden« gehabt habe. Den Nachweis einer Notlage konnten oder wollten die Richter allerdings nicht erkennen. Die Urteilsbegründung war jedoch durchaus widersprüchlich. Denn an anderer Stelle stellte das Gericht fest, dass »unsachliche Erwägungen« bei der Strafzumessung eine Rolle gespielt hätten, »indem das Sondergericht straferschwerend berücksichtigt« habe, »der Betroffene sei schon wegen seiner Rassezugehörigkeit zu besonderer Sorgfalt verpflichtet gewesen«. Es war vor allem ein Argument, welches die Behauptung untermauern sollte, dass es sich bei der KWVO nicht um eine nazistische Verordnung gehandelt habe: Die »Vorschriften, welche die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern in Notzeiten sicherstellen sollten«, seien auch nach der »Beseitigung des nationalsozialistischen Regimes (…) in voller Schärfe angewendet« und in Berlin erst durch das Wirtschaftsstrafgesetz vom 26. Juli 1949 aufgehoben worden. Ja, das Gesetz Nummer 50 des Alliierten Kontrollrats vom 20. März 1947 habe die Straf bestimmungen der KWVO sogar noch ergänzt und erweitert und auf Zuwiderhandlungen »lebenslanges Zuchthaus« angedroht. Blickt man nicht nur auf die Gesetzestexte, sondern auch auf den historischen Kontext und die jeweilige Rechtspraxis, war diese Begründung eine Farce. Vom juristischen Standpunkt aus gesehen war sie jedoch korrekt; die darin angesprochene Kontinuität des Strafrahmens illustrierte den systemübergreifenden Charakter der Probleme, die sich mit der Kontrolle des Schwarzmarktes ergaben. Die zeitgenössische »Einstellung der Rechtspflege« gegenüber dem illegalen Handel erläuterte kein Geringerer als Kammergerichtspräsident Strucksberg bei einem Vortrag, der unter dem Titel »Kampf gegen Schieber und Schwarzhändler« am 22. August 1946 vom Sender Berlin ausgestrahlt wurde.56 Dieser »Kampf«, meinte Strucksberg, stelle die Justiz vor eine »hohe Aufgabe«. Sie müsse »in der jetzigen, sehr ernsten und schwierigen Lage (…) unbarmherzig und rücksichtslos den Kampf gegen das Schiebertum aufnehmen und ihn solange fortsetzen, bis dieses mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden« sei. Es 56 DRA B 203-01-01/0263.
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dürfe »nicht mehr die Rede davon sein, dass die Großschieber und ihre Anhänger auf dem Schwarzen Markt die sie möglicherweise treffenden Strafen von vornherein als Sonderposten in ihre Preisberechnungen« einsetzten. Das habe schließlich auch die Alliierte Kommandantur in ihrem Befehl vom 21. Mai ausdrücklich verlangt. Die Freiheitsstrafe gegen die »Lebensmittelschieber und sonstigen Schwarzmarkthändler« müsse »so hoch bemessen werden, dass sie abschreckend« wirke. Den »Sühnezweck« erreiche man nur mit einer Geldstrafe in einer Höhe, »dass der Verbrecher nicht nur keinen Gewinn erzielt, er vielmehr im Gegenteil eine sehr empfindliche Geldeinbuße« erleide, »die unter Umständen (…) auch durch eine Vermögenskonfiskation vergrößert werden« müsse. Um die Allgemeinheit vor verbrecherischen »Schiebern« zu schützen, sollten »etwaige Milderungsgründe im Einzelfall vor dem Gesichtspunkt zurücktreten, dass unbedingt jeder Einwohner Groß-Berlins an Lebensmitteln und sonstigen lebenswichtigen Bedarfsartikeln das« erhalte, »worauf er gesetzlichen Anspruch« habe. Hier zeigte sich die nationalsozialistische Kategorie der Gemeinschaftsschädlichkeit auch unter anderen Systembedingungen. Kontinuität war auch das leitende Stichwort im Hinblick auf die Position der Judikative im Gesamtgefüge der Schwarzmarktbekämpfung, wie Strucksberg sie sah. Zwar betonte er die Unabhängigkeit der zuständigen Gerichte. Dem stehe jedoch nicht entgegen, dass er »im Rahmen [der] justizverwaltungsmäßigen Befugnisse die Richter auf ihre Pflicht hinweise, in dem so überaus schweren Kampf um die Ernährung und die Versorgung der Allgemeinheit (…) ihre Hilfe nicht zu versagen und sich stets vor Augen zu halten, dass in allen Strafsachen, die diese kostbaren Werte« beträfen, »äußerste Strenge und größtmöglichste Beschleunigung in der Durchführung der Strafverfahren geboten« sei. Da die Not der Berliner Bevölkerung zu »äußerster Härte« zwinge, habe er diese Grundsätze den Strafrichtern bei einer Zusammenkunft erläutert. Er habe außerdem im Einvernehmen mit den Besatzungsmächten alles Notwendige getan, um die Beschleunigung von Verfahren zu ermöglichen und »Urteile darauf hin zu prüfen, ob die erkannten Strafen etwa zu milde ausgefallen« seien. Eine »strenge Bestrafung«, so Strucksberg abschließend«, sollten in Zukunft »alle diejenigen gewissenlosen Elemente erfahren, die insbesondere durch Diebstahl, Unterschlagen oder Veruntreuung von bewirtschafteten Gütern (…) die unbedingt notwendige Ernährungs- und Bedarfsgrundlage der schwer um ihr Dasein ringenden Bevölkerung unrechtmäßig« entzögen. Nur auf diese Weise könne die Justiz »in fühlbarem Maße etwas Wesentliches zur alsbaldigen völligen Ausrottung des Schwarzhandels« beitragen. »Äußerste Härte« und »völlige Ausrottung« – das war semantisch eine eindeutige Fortführung der rigiden Ausgrenzungspolitik, die der Nationalsozialismus gegen das illegale Gewerbe nicht nur propagiert sondern auch umgesetzt hatte. Doch waren seit der Besetzung der Stadt andere Akteure am Zug: Die maßgeblichen Vorgaben und Initiativen im »Kampf gegen das Schieber231
tum« waren keine rein deutsche Angelegenheit mehr. Stattdessen lag die Federführung jetzt bei den Besatzungsmächten. Damit ergab sich die eigentümliche Situation, dass in Berlin die Vertreter von insgesamt fünf Nationen an der Formulierung einer Anti-Schwarzmarktpolitik beteiligt waren, die jeweils ganz eigene Erfahrungen mit illegalen Tauschgeschäften gemacht hatten. Die Prohibitionszeit in den USA, die Verwaltung des Mangels in der sowjetischen Planwirtschaft und die kriegsbedingten Rationierungserfahrungen in Frankreich und Großbritannien bildeten Referenzräume, die den beteiligten Akteuren das Phänomen als irgendwie bekannt erscheinen lassen mussten.57 In der Folge gab es wahrscheinlich auch wegen dieser Erfahrungen recht unterschiedliche Antworten auf die Frage, wie man dem Schwarzmarkt effektiv begegnen konnte und sollte. Ja, die Antischwarzmarktpolitik wurde schließlich zu einem Bestandteil jener alltäglich ausgehandelten und sich langsam immer deutlicher zeigenden Systemkonkurrenz, die eine bipolare Weltordnung auf den Straßen Berlins nicht nur abbildete, sondern die dort auch ausgefochten wurde.58 Das war zum einen das Ergebnis unterschiedlicher Politik- und Gesellschaftsverständnisse und divergierender Menschenbilder. Während die sowjetischen Besatzer kurz nach der Einnahme der Stadt damit anfingen, aufgegriffene Schwarzhändler kurzerhand zum Arbeitseinsatz zu schicken, setzten sich die westlichen Alliierten, nach einer kurzen Phase leicht ratlosen Zuschauens, für geregelte Verfahren durch die Strafverfolgungsbehörden ein.59 Das Ergebnis der Bemühungen, in diesen Fragen zu einer gemeinsamen Haltung zu kommen, war eher mager und fand Ausdruck im sogenannten Control Council Law No. 50. Die Beratungen hatten lange gedauert. Erst am 20. März konnte das Dokument unterzeichnet werden. Viel Neues enthielt es allerdings nicht. In gerade einmal drei Artikeln wurden Zuwiderhandlungen von Amtspersonen, die mit der Rationierungsverwaltung und -abwicklung beauftragt waren, mit Geld- und Haftstrafen bedroht.60 »The proof of the pie«, so sollte sich herausstellen, »is in the eating«. Das rigorose Vorgehen der sowjetischen Besatzer und in der Folge auch der von den Sowjets kontrollierten Berliner Polizei gegen »Schieber« und »Schwarzhändler« sollte sich im Ostteil der Stadt und in der SBZ bald verstetigen. Hier wurde in den Prozessen gegen Einzelpersonen zugleich immer auch eine »moralische Diskreditierung des Kapitalismus« formuliert. Das »rücksichtlose Ausnutzen« der Marktrealität, wie es auf dem Schwarzmarkt beobachtet
57 Vgl. für die Sowjetunion Hessler, für die USA Welskopp, für Großbritannien Zweiniger-Bargielowska und für Frankreich Sanders. 58 Vgl. hierzu Steege, S. 105–147. 59 Zur Politik der Sowjets, Arbeit bald als eine »Reparationsform« zu verstehen, vgl. Mironenko, S. 30–36. 60 http://www.loc.gov/rr/frd/Military_Law/Enactments/06LAW49.pdf.
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werden konnte, wurde von östlicher Seite systematisch zur Diskreditierung des westlichen Wirtschaftssystems funktionalisiert.61 Doch bis zur argumentativen Festigung dieses Schiebertopos im Zuge der beginnenden Ost-West-Konfrontation dauerte es eine Weile. Zunächst waren die Maßnahmen der Alliierten auch Reaktionen auf alltägliche Problemlagen. Das alliierte Vorgehen gegen den illegalen Handel knüpfte zunächst in weiten Teilen an die NS-Politik an. Das galt zumal für den Umstand, dass die Politik der Alliierten einigermaßen chaotisch war, sowohl im Hinblick auf die juristischen Grundlagen, die sich in Teilen änderten und gleichzeitig NS-Verordnungen übernahmen, als auch auf die polizeilichen Verfolgungsmaßnahmen.62 Das Machtvakuum, die rechtliche Unsicherheit und die Personalprobleme, die der Auf bau einer von Nationalsozialisten freien Polizei aufwarf, führten zu weitreichenden Handlungsunsicherheiten und machten besonders in der Anfangszeit die Tätigkeit der Berliner Polizeiabteilungen zu einem äußerst mühseligen Geschäft. Ein Vermerk vom 18. September 1945 ließ die polizeiliche Überwachung wie einen Kampf gegen Windmühlen erscheinen. Ein bereits als Polizeianwärter zum Leiter einer Preisüberwachungsstelle berufener Kollege hatte der Präsidialabteilung sein Leid geklagt: »Der Polizeianwärter (…) erklärte, dass unter den gegebenen Umständen, insbesondere bei den gegenwärtigen Personalverhältnissen in seiner Dienststelle ein ordnungsmäßiges polizeiliches Arbeiten unmöglich sei. Eines Teils mangele es an ausreichendem Personal bei der Preisüberwachungsstelle und beim Gewerbeaußendienst. Anderen Teils fehlen (…) jegliche Fachkenntnisse auf dem Gebiet des Preisrechts und des materiellen Polizeirechts. (…) Hinzu kommt, dass die Bevölkerungsschichten, die auf diesen Gebieten als Gegner des Rechts auftreten, meistens erstklassige Fachleute und ganz gerissene Charaktere sind. Es steht also eine mit fachlichem Wissen unbelastete, nicht zahlenmäßig ausreichende Polizei einem umfangreichen, fachlich speziell geschulten Kreis von Rechtsbrechern gegenüber, um auf einem gegenwärtig besonders wichtigen Gebiete, für die Allgemeinheit gezwungenermaßen Ordnung zu schaffen. Unter diesen Umständen erkennt der verantwortliche Leiter (…) keine Möglichkeit, eine auch nur einigermaßen erfolgreiche Tätigkeit auszuführen«. Entsprechend gut ausgebildete Fachkräfte habe das Polizeipräsidium vor dem 1. Mai 1945 »im ausreichenden Maße« besessen. Diese zu ersetzen werde eine schwere Aufgabe darstellen, zumal »aus Gründen der Personalpolitik von der Wiederbeschäftigung ehemaliger Pg.s abzusehen« sei. Der Vermerk enthielt darüber 61 Vgl. Weber, Justiz, S. 79–90. 62 Vgl. Roesler, Black Market. Das Control Council Law No. 50. schätzten britische Beobachter als ähnlich ineffizient ein wie die deutschen Gesetze. Über das Gesetz und seine Anwendungsprobleme hieß es in einem Bericht, es sei »primarily directed against major offences and, if literally interpreted, might well lead to injustices in the case of petty offenders«. PRO FO 1012/175, S. 6.
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hinaus Kommentare zu über 20 Einzelfallschilderungen, in denen die ganze Unzulänglichkeit der bisherigen Polizeipraxis drastisch zum Ausdruck kam. Abschließend bat der überforderte Leiter der Überwachungsstelle darum, »den vorstehenden Vermerk nicht der Abt. IV [Gewerbe, MZ] und dem Abteilungsleiter bekannt zu geben, »damit ihnen nicht der Mut zur weiteren Arbeit genommen« werde.63 In ihrer Hilflosigkeit versuchten die Behörden, dem Schwarzmarkt auch mit dem klassischen Mittel der Auf klärung beizukommen. Die Berlinerinnen und Berliner sollten sich nicht auf die offiziellen Strafverfolgungsmaßnahmen verlassen, sondern selber etwas im Kampf gegen den Schwarzhandel unternehmen und sich gegen illegale Geschäfte schützen. Dazu rief etwa der Leiter der Pressestelle des Berliner Polizeipräsidiums, Alfred Fritzsche, in einer Rundfunkansprache auf.64 Es sei »auffallend, wie leicht es manche Leute den Banditen« machten, meinte Fritzsche. Täglich berichteten »Tageszeitungen von falschen Kriminalbeamten«, die sich durch das Vorzeigen falscher Ausweise »Durchsuchungen« und »Beschlagnahmungen« erschlichen. Eindrücklich warnte er vor den Gefahren, die Schwarzhandelsgeschäfte mit sich brächten: »Dunkle Geschäfte mit Bekanntschaften vom Schwarzen Markt«, so Fritzsche, nähmen »nicht selten ein dunkles Ende«. Und er verwies auf einen Fall aus Neukölln, wo »erst vor kurzem zwei Männer ermordet und beraubt worden« waren, »die sich mit völlig unbekannten Personen in ihrer Wohnung in Tauschgeschäfte eingelassen« hätten. Ebenso solle man »Personen, die wiederholt in einem Hause« auftauchten, »ohne dass ein bestimmter Zweck ersichtlich« sei, »ruhig und höflich nach ihrem Ziel fragen«. Schließlich sei es »im Hinblick auf die kürzer werdenden Tage« an der Zeit, »dass überall dort Lampen angebracht werden, wo es gar nicht oder in ungenügendem Maße geschehen« sei. Denn, wie Fritzsche pathetisch formulierte: »Licht ist der Feind aller dunklen Existenzen!« Diese Warnung vor der Gefahr des illegalen Handels konnte allerdings getrost als ein Topos der Vergeblichkeit gelten. »Vigorous steps should be taken to rouse public opinion against the building black market both by propaganda in the press, in films and on the radio«, forderte ein Bericht der britischen Building Industries Branch im Sommer 1946, »Trade Union Organisations should be used to the full. The United States Authorities should be invited to take similar steps«.65 Die immer neuen Anläufe illustrierten letztlich doch nur das Versagen dieser Versuche, dem Handel wirkungsvoll zu begegnen. Weil Appelle in einer von öffentlichen Schwarzmarktplätzen übersäten Stadt voller Schieber offensichtlich nicht ausreichten, verfolgten die Behörden eine 63 LAB C Rep. 303-09 222, Bl. 270f., Der Polizeipräsident in Berlin, Vermerk vom 18.9. 1945. 64 DRA, B 203-01-01/0130. 65 PRO Fo 1012/175, S. 6.
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Doppelstrategie, die in ihren repressiven Teilen zum Teil Anknüpfungspunkte an die Praktiken der nationalsozialistischen Behörden während des Kriegs zeigte, wenn auch die Strafmaße hinter den von der NS-Justiz verhängten Strafen zurückblieben.66 In anderer Hinsicht aber brachen die Maßnahmen mit der Praxis von vor 1945 vollständig. Zum einen bestanden die zuständigen Stellen, ähnlich wie die Behörden vor 1945, auf einer unnachsichtigen Verfolgung von Schwarzmarktvergehen, die sich gegen existentielle Interessen der Gemeinschaft richteten und deshalb aus ihrer Sicht wenig mildernde Umstände zuließen. Eine Null-Toleranz-Politik mochte vielleicht nicht durchsetzbar erscheinen, wünschbar war sie den Behörden deshalb nicht weniger. Zum zweiten aber suchten sie – und das war neu –, das vorhandene Bedürfnis nach Tausch- und Handelsmöglichkeiten durch eine selektive Legalisierung zu steuern. Auf offiziell eingerichteten und überwachten Tauschmärkten konnten zwar keine Wertgegenstände und auch keine Lebensmittel, wohl aber Gebrauchsgegenstände getauscht werden. Daneben aber, und das sprach nicht unbedingt für das Vertrauen der Verantwortlichen in ihre Legalisierungsstrategie, wurden die Strafverfolgungsmaßnahmen neu ausgerichtet und ausgeweitet.
2.1 Strafverfolgung und Symbolpolitik Ab August 1945 sah sich die Berliner Polizei wieder imstande, den Schwarzhandel einigermaßen organisiert verfolgen zu können. Das hauptsächliche Mittel der Verfolgung waren Razzien auf den Schwarzmarktplätzen, die regelmäßig, bisweilen mehrmals täglich, stattfanden. Dabei wurden bis zu 1 500 Teilnehmer festgenommen. Sie wurden ins Polizeipräsidium in der Dircksenstraße gebracht, wo der Innenhof frei gebombt und genügend Platz für die Menge der Festgenommenen vorhanden war. Den Schwarzhändlern wurde die Ware abgenommen, sie wurden registriert und in schwereren Fällen vor ein Schnellgericht gebracht. Die meisten kamen mit einer Geldstrafe davon. In besonders schweren oder in Wiederholungsfällen wurden auch Gefängnisstrafen ausgesprochen.67 Das alltägliche Marktgeschehen wurde davon nur in geringem Maß beeinträchtigt. Die Razzien führten dazu, dass das Marktgeschehen sich kurzfristig verlagerte. Die Händler wichen aus, zum nächsten Marktort oder in Seitenstraßen; sobald die Polizei abgezogen war, kehrten sie wieder zurück. Ihnen gesellten sich auch alsbald diejenigen Marktteilnehmer wieder bei, die bei der 66 Vgl. unten Kap. IV. 3.2. 67 Vgl. oben Kap. IV. 3.2 sowie PRO FO 1012/175 Black Market, Bl. 114, und den Artikel »Razzia am Potsdamer Platz« im Telegraf vom 23.7.1948.
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Razzia verhaftet worden, aber nicht in Gewahrsam geblieben waren. Das Reden von einer konsequenten Strafverfolgung konnte sich deshalb nicht so sehr auf den Erfolg als vielmehr auf die Anstrengung der Polizei beziehen. Sowohl die Razzien als auch die öffentlichen Äußerungen zur Verfolgung waren deshalb letztlich vor allem als symbolische und verbale Appelle zu verstehen.68 Im Mai 1946 sollte der stellvertretende Polizeipräsident und Leiter der Gewerbeabteilung Noack öffentlich zum Thema des Schwarzhandels sprechen. Die Veranstaltung stand unter dem Motto »Herunter mit den Preisen – Kampf dem Preiswucher und dem Schiebertum«. Noack hatte sich von der Präsidialabteilung einige Stichworte notieren lassen, um seine Zuhörer vom Erfolg der Polizei im Kampf gegen die Schieber auf den Berliner Straßen überzeugen zu können. Gleich nach den ersten Anfängen ihres Wiederauf baus sei die »neue deutsche Volkspolizei (…) mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln in den Kampf gegen Preiswucher und Schiebertum eingetreten«, und sie werde »mit aller Entschiedenheit auch den Rest des Schiebertums (…) ausschalten«. Noack wollte Eindruck machen. Er verstieg sich zu der Behauptung, dass es »im Verlauf weniger Monate« gelungen sei, »bis zu 80%« des Schwarzhandels zu »vernichten«.69 Wie er auf diese Zahl gekommen war, erläuterte er nicht. Stattdessen lobte Noack die reibungslose Zusammenarbeit mit den Preisämtern, dem Gewerbeaußendienst und der Schutzpolizei. Der neu organisierte Preisüberwachungsdienst habe seine Tätigkeit »Anfang des Monats schlagartig begonnnen«, und innerhalb der letzten 14 Tage seien 1 322 Anzeigen eingegangen. Über die Hälfte davon entfielen auf den sowjetischen, die wenigsten, nämlich 112, auf den französischen Sektor. Preissünder wurden dem Preisamt oder den Bezirkspreisstellen überstellt. Ihnen drohten Geldstrafen und im äußersten Fall der Entzug der Gewerbeerlaubnis. Ein erheblicher Teil, meinte Noack, werde aber auch den zuständigen Gerichten zu Bestrafung zugeführt. Der leitende Polizeibeamte bezeichnete »Preisschiebertum, Preiswucher und Schwarze(n) Markt« als »schlimmste Übel an der wirtschaftlichen Gesundheit der Berliner Bevölkerung«. Abschließend appellierte er an seine Zuhörer: »Helft gegen Schiebertum und Preiswucher, unterstützt die Polizei und das Preisamt und sorgt dafür untereinander, dass jeder Berliner den Krebsschaden erkennt und mit der Polizei dagegen ankämpft«.70 Eine ähnliche Darstellung gab der Vize-Kommandeur der Schutzpolizei Wagner in einem Interview mit dem Sender Berlin am 6. August 1946; hier nahmen die Polizeimaßnahmen gegen den Schwarzmarkt besonders breiten Raum ein.71 Wagner betonte den Erfolg der Maßnahmen, welcher der konse68 69 70 71
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Vgl. zum Scheitern der Strafverfolgung auch Roesler, Black Market. LAB C Rep. 303-09 222, Bl. 294, Der Polizeipräsident in Berlin, Leitworte, 16.5 1946. Ebd., Bl. 295. Das Folgende nach DRA, B 203-01-01/0129.
quenten Verfolgung zuzuschreiben sei; fast schien er selber zu glauben, dass der Schwarzmarkt bald der Vergangenheit angehören werde. Der »Funkreporter« Peter-Sven Schlettow stellte seinem Gesprächspartner, nachdem sie bereits allgemeine organisatorische Probleme der Polizeiarbeit miteinander besprochen hatten, folgende Frage: »Doch noch eine anderer Punkt dürfte unsere Hörer interessieren. Denn jeder verfolgt mit großer Aufmerksamkeit die von Ihnen in letzter Zeit zahlreich durchgeführten Groß-Razzien. Da wäre ein kleiner Überblick über die Erfolge, die Sie bei solchen Razzien erzielten, von allgemeinem Interesse«. Schwarzhandel und »Schieberwesen«, stellte Wagner in seiner Antwort fest, seien »von der Strasse fast restlos verschwunden«, und der neue »Kampf« gelte »nunmehr der Beseitigung dieser Verbrechertätigkeit in den Lokalen und Schlupfwinkeln«. Weiter führte er aus: »Die bei erwiesenem Schwarzund Schleichhandel sichergestellten Waren aller Art werden den Bewirtschaftungsstellen zugeführt und auf diese Weise den Berlinern nutzbar gemacht. Im vergangenen Monat Juli wurden rund 1 600 Personen wegen nachgewiesener Beteiligung am Schwarzhandel einem Schnellgericht zur Aburteilung zugeführt. Diese Schnellgerichte werden auf unsere Veranlassung gebildet und treten jeweils, wenn wir eine größere Aktion durchführen, zusammen. Auch liegt uns die Überwachung der zugelassenen Tauschmärkte ganz besonders am Herzen. Des Öfteren machen wir Stichproben und untersuchen verdächtige Personen, ob sie Mangelware irgendwelcher Art bei sich führen. Dazu gehört auch, das möchte ich ausdrücklich betonen, Gold und Silber. Auch die hier gefassten, des Schleichhandels überführten Personen werden sofort einem Schnellgericht zugeführt, denn es dürfen auf solchen Märkten nur Gebrauchsgegenstände getauscht werden. In schwereren Fällen, wo es sich um größere Wertgegenstände handelt, werden Gefängnisstrafen mit sofortigem Strafantritt verhängt. In leichteren Fällen dagegen, wird das zum Tausch angebotene Tauschobjekt eingezogen und Geldstrafen in sehr empfindlicher Höhe verhängt«. Das insgesamt recht hoffnungsfrohe Bild, das Wagner hier zeichnete, entsprach freilich nicht der Realität. Der Schwarzhandel »blühte« weiter – auch auf den Straßen und Plätzen der Stadt. Zudem hatte die Polizei mit einem Glaubwürdigkeits- und Vertrauensproblem zu kämpfen, das in Teilen ein bekanntes Muster der Tauschsemantiken nach 1918 fortführte und die Legitimität ihres Handelns empfindlich in Zweifel zog. Denn Polizisten waren selber als Schwarzmarkthändler aktiv. Unter anderen Vorzeichen entwickelte eine ohnehin argwöhnische Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang bekannte Diskursmuster fort, die das Motiv eines allgemeinen Misstrauens in staatliche Stellen und ihre anrüchigen Tauschgeschäfte aktualisierten. Dieses Misstrauen galt jetzt vor allem der Polizei und – in einem diffusen Bild, in dem sich Abwehrhaltungen gegen »die da oben« und eine Demütigungserfahrung im Umgang mit den Siegern mischten – den Alliierten. Auch der Artikulations-Modus war ein vertrautes Phänomen. 237
Denn wenn »Machenschaften« offizieller Stellen bekannt wurden, war schnell von einem Skandal die Rede. Unter der Überschrift »Dunkle Geschäfte eines Polizeidezernenten. Auf dem Schwarzen Markt beschlagnahmt und – weitergegeben« berichtete »Der Morgen« im Januar 1946 über die Beteiligung von Polizisten an Schwarzmarktgeschäften. Zwei leitende Beamte seien dabei erwischt worden, wie sie auf dem Schwarzmarkt beschlagnahmte Teppiche und Radioapparate an Bekannte weitergegeben hätten.72 Von diesem Bericht aufgeschreckt, ließ das Präsidium in der im Artikel erwähnten Abteilung anfragen, wer diesen Beitrag »lanciert habe« und wer der darin genannte PolizeiDezernent sein könnte.73 Allerdings hatte der Bericht des Reporters zwar von einem »aufsehenerregenden Vorfall« gesprochen, zugleich aber hinzugefügt, dass man »bei der Energie, mit der unsere Gerichte gegen Korruptionserscheinungen vorgehen«, davon ausgehen könne, dass »derartige Fälle (…) restlos bereinigt und solche Fälle ein für alle mal ausgemerzt werden«. Insofern stieß das Selbstbild, das Polizei und Gerichte öffentlich von sich präsentierten, in den Medien durchaus auf Widerhall. Interessanterweise hatte der Journalist diesen Fall zum Ausgangspunkt genommen, um einige allgemeine Überlegungen zur Rolle der Polizei bei Schwarzmarktgeschäften anzustellen. Dabei übertrug er jene bekannte Interpretation, wonach zwischen den »Großen« und dem »kleinen Mann« zu unterscheiden sei, auf die Verhältnisse in den Reihen der Strafverfolger. Für Korruption unter leitenden Beamten hatte er kein Verständnis, nahm aber die »kleineren Beamten« in Schutz, die »in diesen Dingen vielleicht nicht ganz Bescheid« wüssten. Anhand der Geschichte eines Polizeianwärters illustrierte der Artikelschreiber diesen Unterschied: »Leider standen die Stiefel mit ihrer hohen Schuhnummer in keinem passenden Verhältnis zu dem Erben. Er beschloss daher einen Tausch und ging den für Polizeianwärter etwas ungewöhnlichen Weg: zum schwarzen Markt! Doch da geriet er in eine Razzia hinein«. So wie der Reporter den Fall schilderte, erinnerte das Ganze eher an einen liebenswerten Tölpel, denn an jemanden, der gegen geltendes Recht verstieß. Entsprechend lobte er das Schnellgericht, das den Angeklagten freigesprochen hatte.74 Doch war nicht diese populäre Differenzierung in die Gruppe der »kleinen Leute« und die der »großen Halunken« eine, die, indem sie sie dem Selbstbild der meisten Teilnehmer auf den Märkten entsprach, den Erfolg der Strafverfolgung schmälerte? Bot nicht ohnehin der Legalisierungsansatz die besseren Chancen, dem illegalen Handel den Nährboden zu entziehen? 72 »Der Morgen«, Ausgabe vom 9.1.1946, S. 6. Ähnliche Vorgänge waren keine Seltenheit. Vgl. als ein Beispiel LAB C Rep. 303-09 223, Der Polizeipräsident in Berlin, Bl. 113. 73 LAB C Rep. 303-09 223, Bl. 201, Der Polizeipräsident in Berlin, Internes Schreiben an die Abteilung K. vom 11.1.1946. 74 »Der Morgen«, Ausgabe vom 9.1.1946, S. 6.
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2.2 Legalisierung und erste Konfrontationen Das zweite Element der Doppelstrategie der Behörden im Kampf gegen »Schiebertum« und Schwarzmarkt neben den Strafverfolgungsmaßnahmen bildete der Versuch, den illegalen Handel durch Legalisierung einzudämmen. Die erste Maßnahme betraf die Einrichtung von Tauschmärkten, die der Kontrolle durch die Polizei unterlagen, feste Marktordnungen hatten und damit einen geregelten Tausch ermöglichen sollten. Die erste auf Befehl der Alliierten Kommandantur erlassene »Marktordnung für Tauschmärkte« trat bereits im Oktober 1945 in Kraft. Sie legte fest, dass »auf den Tauschmärkten (…) nur unmittelbare Tauschgeschäfte von Gebrauchtwaren (Altwaren) aus Privatbesitz, bei denen der Austausch eines Artikels gegen einen anderen erfolgt, getätigt werden« durften. Geldverkehr war lediglich »insoweit zulässig«, als es nötig war, »den Wertunterschied zwischen den getauschten Artikeln auszugleichen«. Der Wert der getauschten Artikel durfte »nur mit 75% des im Jahre 1939 (Stichtag 30.8.1939) bestehenden Kaufpreises für gleiche neue Artikel in Rechnung gestellt werden«. Zudem waren »Lebens- und Genussmittel aller Art sowie Edelmetalle (…) ausgeschlossen«. Der »gewerbsmäßige Tausch« und der »Tausch von Neuware« wurden strikt untersagt. Die übrigen Bestimmungen sollten einen geregelten Marktbetrieb ermöglichen, bezogen sich auf die bekannten Koordinaten eines Marktes mit staatlicher Aufsicht wie Marktzeiten und Verhaltensregeln. Schließlich sollte der Zugang zum Markt sogar über Eintrittskarten zum Preis von einer Reichsmark reguliert werden.75 Doch schon die ersten Erfahrungen mit diesem Legalisierungsinstrument sollten ernüchternd wirken. Bereits in einem der ersten Radiobeiträge des Senders Berlin vom 30. August 1945, in dem die »parasitären« Elemente des »Schiebertums« gebrandmarkt worden waren, verwies der Sprecher auf neue »wirksame Maßnahmen«, die der Magistrat »in Anerkennung des natürlichen Bedürfnisses nach einem Warenaustausch« ergriffen habe.76 Auf dem Gelände des »Privat-Wochenmarktes« in der Brunnenstraße 141 werde ab dem 4. September ein »öffentlicher Tauschmarkt abgehalten«. Jeden Dienstag und Freitag zwischen 9 und 17 Uhr könne dann jede »Zivilperson gebrauchte Waren entweder verkaufen oder vertauschen, mit Ausnahme von Lebens- und Genussmitteln, Gold- und Silberwaren und sonstigen Edelmetallen«. Diese Einrichtung solle verhindern, »dass Waren sich der Kontrolle der Öffentlichkeit entziehen«. Von der Unzulänglichkeit dieser Maßnahmen wussten viele Berliner ein Lied zu singen. In einem Beitrag des Berliner Senders, der sich ausführlich mit dem Tauschmarkt in der Brunnenstraße beschäftigte, wurden die Schwierig75 LAB C Rep. 303-09 223, Bl. 174. 76 DRA, B 202-00-07/0053.
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keiten des Legalisierungsansatzes deutlich. In »zahlreichen Schreiben«, so hieß es in dem Beitrag, hätten Hörer auf die »Zustände« auf dem Markt hingewiesen. Einer von ihnen war Ludwig Oberreuter aus Neukölln, der seine Klage in die Worte fasste: »So sehr ich mich über die Einrichtung eines Tauschmarktes gefreut habe, war ich doch sehr erstaunt, statt des erwarteten Tauschmarktes eine regelrechte schwarze Börse vorzufinden. Denn wenn man für getragene Schuhe 800 bis 1000 Mark oder getragene Anzüge 4000 Mark, Strümpfe 200 Mark, verlangt, so sind das keine gesunden Verhältnisse. Damit ist uns nicht geholfen.«77 Ein um »Ehrlichkeit« bemühter Einzelhändler zeigte sich enttäuscht: »Als kleiner Fahrradhändler versuche ich die mir in der jetzigen Zeit gestellten Aufgaben und auch die Bestimmungen nach besten Kräften zu erfüllen. Ich quäle mich, um die so nötig gebrauchten Fahrräder wieder instand zu setzen. Ich will auch die Ware, die ich noch habe, nicht zurückhalten. Leider musste ich aber feststellen, dass viele Kunden, denen ich etwas von den knappen Waren zu regulären Preisen verkaufte, nach dem Tauschhandel gingen, und dort die Sachen zu Phantasiepreisen verkauften.« Es sei »untragbar, wenn sich Leute auf diese Weise ein Vermögen« verschafften, »ohne einen Finger krumm zu machen«. Der Sender verteidigte die Einrichtung der Tauschmärkte. Der Tauschmarkt sei »schon eine gute Einrichtung, wenn es reell« zugehe. Vielen könne »durch einen Austausch von Gebrauchsgegenständen« geholfen werden. Aus diesem Grund – wurde die Redaktion nicht müde zu werben – seien zusätzlich sechs weitere Märkte eröffnet worden. Allerdings komme es darauf an, die zur »Normalisierung des Tausches« von den Alliierten herausgegebene neue »Marktordnung« zu befolgen, die vorsähe, dass keine Preise ausgehandelt werden dürften, die den »normalen Neuwert vom 1. April 1945« überschritten. Alle zum Verkauf vorgesehenen Waren seien mit einer »deutlich sichtbaren Preisauszeichnung zu versehen«. Wert werde außerdem darauf gelegt, dass »nur ein Tausch und Verkauf von Gebrauchtwaren aus Privatbesitz« vorgenommen werden dürfe. Wenn die »Interessenten sich an diese Richtlinien« hielten, dann werde der »Tauschmarkt die Bedeutung gewinnen, die ihm zugedacht sei, nämlich »sich gegenseitig zu helfen«.78 Doch alle Appelle halfen nichts. Der Ausschluss von Warengruppen und die Festlegung von Preisrahmen, die an das Vorkriegsniveau gekoppelt waren, entsprach nicht den auf den Schwarzmärkten sichtbar gewordenen AngebotsNachfrage-Realitäten. Dass die Tauschmärkte nicht das brachten, was sich die Alliierten Stellen und die Berliner Polizei von ihnen versprochen hatten, war eine Sache; eine andere war es, dass sie dem Schwarzhandel sogar Auftrieb geben sollten. Denn als wichtige Anlaufpunkte für Tauschwillige boten sie ideale 77 DRA, B 202-00-07/0063. 78 DRA, B 202-00-07/0063.
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Kontaktmöglichkeiten. Ob ein Tausch nach der ausgehängten Marktordnung abgewickelt wurde, war für die Marktaufsicht schlicht nicht umfassend zu kontrollieren. Aus dem Instrument zur Schwarzmarktbekämpfung war eine neue Infrastruktur des illegalen Marktes geworden. Obwohl die Alliierte Kommandantur Mitte 1947 sechs Tauschmärkte wegen der chaotischen Zustände schließen ließ, blieben die Plätze in Friedrichshain und Mitte Schwarzmarktzentren. Wie die Polizei-Inspektion Lichtenberg im Juni 1948 festhielt, stieß – wenn auch »in kleinem Umfange« – der Schwarzhandel gewissermaßen in die entstandenen Lücken. Das war nicht weiter verwunderlich, lagen die Plätze doch zumeist in der Nähe von Umsteigebahnhöfen oder zentral gelegene Straßenzügen. Der rege Publikumsverkehr, meinten die Polizisten, erleichterte den Schwarzhändlern das »schnelle Untertauchen in die breite Masse der Bevölkerung«.79 Den zweiten Legalisierungsversuch bildete, im Ostteil der Stadt, die Einrichtung von HO-Läden. Auch dieser Versuch, dem Schwarzmarkt das Wasser abzugraben, scheiterte letztlich. Die Läden galten bald als der »kleine Westen im Osten«. In ihnen wurden rationierte Waren frei verkauft. Diese blieben allerdings anfangs stark überteuert. Damit war neben der Rationierungswirtschaft ein zweites Verkaufssystem entstanden, auf dessen Basis Kauf kraft abgeschöpft und der illegale Handel mit teuren Produkten unterbunden werden sollte. Letztlich wurde mit den HO-Läden jene Kluft zwischen potenten Marktteilnehmern, die sich auch Waren zu Schwarzmarktpreisen leisten konnten, und allen anderen, die dafür keine Mittel hatten, staatlich organisiert und festgeschrieben. Das stand in eklatantem Widerspruch zum Gleichheits- und Gerechtigkeitsideal der SED. Langfristig sollte dieses Verteilungssystem zu Benachteiligungen führen, von denen besonders Niedrigverdiener betroffen waren. Diese konnten sich einerseits den Gang in den HO-Laden nicht leisten und hatten andererseits damit zu kämpfen, dass hochwertige Produkte aus dem »normalen« Verteilungsgang verschwanden. Das HO-System wurde damit insgesamt zum Symbol einer misslungenen Versorgungspolitik, die eine neue soziale Trennlinie markierte.80 Überhaupt traten mit der Zeit die unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Konzepte bei der Schwarzmarktbekämpfung in den Vordergrund, wichen einzelne Streitfälle wegen der unterschiedlichen Bekämpfungsintensität Grundsatzfragen.81 So einigten sich – angeblich um dem Schwarzhandel durch Gewerbetreibende entgegen treten zu können – die Abteilung Wirtschaft des Magistrats 79 LAB C Rep. 303-09 Der Polizeipräsident in Berlin, Nr. 223 Bl. 187. 80 Vgl. Schevardo, S. 110, und Kowalczuk, S. 6, sowie insbesondere Merkel, die von den HOLäden als Promotoren einer »Politik der zwei Warenklassen« spricht (S. 248). 81 Zu den Auseinandersetzungen um die Intensität der Bekämpfung vgl. PRO FO 1012/175 Blackmarkets, Bl. 66.
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und die sowjetisch dominierte zuständige Abteilung IV der Berliner Polizei auf eine Politik der kurzen Dienstwege. Eingerichtet wurde eine »Gewerbeuntersagungs-Kommission« unter Federführung des Abteilungsleiters, an der neben Beamten der Kriminalpolizei und des Gewerbeaußendienstes auch Gewerkschaftsvertreter beteiligt sein sollten. Aufgabe der Kommission sei es, »sämtliche Vorgänge des Gad und der Abt. K, die straf bare Handlungen Gewerbetreibender« beträfen, »dahingehend zu überprüfen, ob im Interesse der Durchführung des Zweijahresplanes eine sofortige Ausschaltung (sic!) des betreffenden Gewerbetreibenden als selbständiger Unternehmer erforderlich« sei. Den zuständigen Bezirksämtern sollte es obliegen, die erteilte Gewerbeerlaubnis zurückzunehmen. Die Antischwarzmarktpolitik passte sich an dieser Stelle in die SED-Kampagnen gegen die Privatwirtschaft ein. Die Schwarzhandelsbekämpfung wurde damit zum willkommenen Anlass und zum Ausgangspunkt einer ideologisch motivierten Drangsalierung privatwirtschaftlicher Unternehmer.82 Der Schwarzhandel und die Bekämpfungspolitik wandelten sich zu mehr als einer Frage, die bloß um die Etablierung einer Vertrauen stiftenden Ordnung für das alltägliche Wirtschaften in der Stadt kreiste. Vielmehr ging es spätestens seit dem Jahr 1946 um die Aushandlung gesellschaftspolitischer Konzepte und Stabilitätsräume im Zeichen des Kalten Krieges.83 Zu einem eigenen Politikum wurden in diesem Zusammenhang jene Fälle, in denen sich die Alliierten gegenseitig eine Beteiligung am und eine Beförderung des Schwarzmarkts vorwerfen konnten. Das betraf zum einen Einzelfälle, wenn Angehörige der alliierten Streitkräfte bei Schwarzmarktgeschäften erwischt wurden. Wesentlich brisanter aber war der Vorwurf einer systematischen, die Ordnungsversuche der Gegenseite attackierenden Marktintervention.
2.3 Konflikte Bereits auf der Ebene alltäglicher Begegnungen war der öffentliche Berliner Schwarzmarkt eine sehr konflikt- und zum Teil auch gewaltträchtige Angelegenheit. Um unmittelbare, handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen den Angehörigen der alliierten Streitkräfte und deutschen Marktteilnehmern zu vermeiden, war die Durchführung der Razzien in erster Linie eine Angelegenheit der Berliner Schutzpolizei. Die Militärpolizei und Soldaten der Alliierten blieben zumeist im Hintergrund, um ihren deutschen »Kollegen« gewissermaßen eine bewaffnete »Rückendeckung« zu geben.84 82 LAB C Rep. 303-09 Der Polizeipräsident in Berlin, Nr. 223 Bl. 199. Vgl. Großbölting und Weber, Justiz, S. 90–97. 83 Vgl. Steege, S. 1–17. 84 Vgl. oben Abbildung 2.
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Trotzdem kam es immer wieder auch zu Handgreiflichkeiten und Schlägereien. Das war besonders prekär, wenn es sich dabei um Konfrontationen zwischen deutschen Polizisten, die gegen illegale Geschäfte vorgehen sollten, und Soldaten der Besatzungstruppen handelte. So beschwerte sich der von den Sowjets installierte Berliner Polizeipräsident Markgraf im April 1946 in einem Schreiben an das Britische Hauptquartier in Charlottenburg über die »Misshandlung eines Polizeiangehörigen« durch »Angehörige der britischen Besatzungsarmee«. Diese hätten unter Alkoholeinfluss den Polizeiangestellten »durch Faustschläge zu Boden geworfen und mit Fußtritten weiter misshandelt«, weil dieser ihnen offensichtlich bei der Ausübung seiner Kontrollpflichten in die Quere gekommen war.85 Unbeschadet der Tatsache, dass solche Vorkommnisse ohnehin über den Dienstweg geregelt werden mussten, war eine Intervention des Polizeipräsidenten selbst wahrscheinlich auch ein Zeichen dafür, dass dem Ganzen eine politische Dimension anhaftete. Die Geschichte der Berliner Polizei und ihrer Rolle bei der Spaltung der Stadt lässt vermuten, dass Markgraf Konflikte wie diesen bereitwillig in seine gezielte Konfrontationsstrategie einbaute.86 Eine Reaktion der britischen Seite ist nicht überliefert. Überliefert ist hingegen eine Geschichte von größerer Tragweite, die sich gewissermaßen eine Ebene höher abspielte und die systematische Verstrickung sowjetischer Institutionen in die Berliner Schwarzhandelsgesellschaft beschreibt. Seit 1946 waren in der SBZ mehrere sowjetische Handelsgesellschaften – zum Teil Filialen Moskauer Unternehmen – in den Binnen- und Außenhandel eingeschaltet worden, die Waren vertrieben und den Export in Länder des Sowjetblocks und ins westliche Ausland verwalteten. Die bekannteste war »Rasno-Export«. Sie war bei der Berliner Bevölkerung bald berüchtigt. Von ihr hieß es, dass sie die Not ausnutze und Wertsachen gegen Zigaretten zum Schwarzhandelskurs auf kaufe. Britische Verwaltungsstellen beschrieben »Rasno« korrekt, wenn sie zusammenfassten: »The Rasno agency is directly responsible to the Ministry of Foreign Trade of the USSR in Moscow (…). Rasno maintains headquarters in Berlin [and] has the apparant purpose of earning dollars and other effective international means of payment. It is responsible for exports of German merchandise and valuables to foreign countries: and many of its transactions affect the German black market in a direct or indirect manner«.87 Im November 1947 stellte die britische »Economics Division« der »Trade and Commerce Branch« in Berlin die Ergebnisse einer umfangreichen Untersuchung zusammen, die das System der sowjetischen Handelsorganisation ins Auge gefasst hatte.88 Dabei waren die Ermittler auf ein Verteilungssystem auf85 86 87 88
LAB C Rep. 303/9 223, S. 209. Vgl. zur Spaltungsgeschichte Heimann. PRO FO 1012/175, S. 71. Ebd.
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merksam geworden, dass sie – der besseren Übersicht halber – für ihre übergeordneten Stellen grafisch auf bereiteten (Grafik 7).
Grafik 7: Verteilungssystem für Razno-Zigaretten (Quelle: PRO FO 1012/175, S. 71)
Der Bericht beschrieb ein komplexes Verteilungssystem, das aus unterschiedlichen Akteursgruppen bestand, die im Kern daran mitwirkten, Tabakwaren gegen Schwarzhandelpreise in den Berliner Markt einzuspeisen und im Gegenzug Werte in Form von Wertsachen und Valuta abzuschöpfen. Den Effekt dieser groß angelegten und von sowjetischer Seite überwachten Unternehmung stuften die britischen Stellen als einigermaßen brisant ein: »There can be no doubt, that Rasno has been channeling a sizeable volume of goods into the black market, although the agency does not seem to appear as a direct seller for Marks.« Was die »Trade and Commerce Branch« vor allem umtrieb war die Tatsache, dass »the size of the Rasno supplies of cigarettes and other goods and the official protection granted to their distribution have given the black market a status that 244
makes prosecution of black market trading difficult«. Die britischen Beobachter verwiesen auf den Fall eines Freispruchs für Schwarzhändler im sowjetischen Sektor der Stadt. Der Richter hatte in der Begründung ausgeführt: »In almost all public squares of the city (…) foodstuffs, stimulants and clothing are being sold openly at black market prices. This occurs with the knowledge and under the toleration of the competent German and Allied authorities. It would be a parody on the law if the market ordinance of the Berlin Magistrat were invoked to punish persons who are compelled by the conditions of the time to sell necessities of life, at a time when black market trading is flourishing in the city and tolerated by the authorities.«89 Das Beispiel der Rasno-Gesellschaft machte den britischen Stellen deutlich, dass die Dinge bei der Schwarzmarktbekämpfung nicht so einfach lagen. Der illegale Markt existierte keineswegs als abgeschlossene Einheit in einem klar zu beschreibenden Raum. Insofern konterkarierten die Untersuchungsergebnisse der britischen Ermittler, die sich vor allem auf die Aufdeckung von »large scale blackmarketeering« konzentriert hatten, in gewisser Weise ihre Vorstellung vom Schwarzmarkt als Phänomen der »organized crime«; oder sie bestätigten sie auch, je nachdem, ob man auch den sowjetischen Staat als Teil des organisierten Verbrechens zu sehen bereit war. Der Berliner Schwarzhandel war nicht nur längst in eine Geflecht internationaler Warenströme eingebunden. Er war auch zu einem Kampfinstrument auf dem Schlachtfeld jener im engeren Sinne politischen Konfrontation auf beiden Seiten des »Eisernen Vorhangs« geworden, die das Nachkriegsberlin ins Zentrum internationaler Aufmerksamkeit rücken sollte. Die Bekämpfungsversuche hatten deshalb nicht nur mit administrativen Mängeln und wirtschaftspolitischen Entscheidungen zu kämpfen, die unter den chaotischen Bedingungen nach Kriegsende, der Rationierungs- und Verwaltungswirtschaft das Vorrecht vor einer Liberalisierung der Märkte einräumten, sondern auch damit, dass sich der Schwarzmarkt für politische Agitation über die Sektorengrenzen hinweg eignete. Dabei bildete die selektive Legalisierung des Handels ein Unterscheidungsmerkmal zur Politik der Nationalsozialisten; ansonsten überwogen Elemente der Kontinuität, und das gilt nicht nur für die Maßnahmen, sondern auch letztlich für das Ergebnis. Von einer erfolgreichen Bekämpfung des Schwarzmarktes konnte, aufs Ganze gesehen, keine Rede sein. Die flexible Struktur des Schwarzhandels passte sich den gewandelten Bedingungen und dem wechselnden Verfolgungsdruck an; Teilnehmer gingen das Risiko von Verhaftung und Geldstrafen ein. Mochten auch diejenigen, die sich nur manchmal am Gesundbrunnen oder dem Alexanderplatz betätigten, darin ein Element der Abschreckung sehen, für die professionellen Händler war es Teil des Berufsrisikos, dem 89 Ebd.
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sie sich aussetzten und das sich schließlich auch in den Preisen und den Handlungsbedingungen niederschlug. Dass sich die Alliierten schwer damit taten, eine kohärente und wirkungsvolle Anti-Schwarzmarktpolitik zu entwerfen, hatte daher einerseits schlicht mit strukturellen Problemen zu tun. Dazu gehörten an erster Stelle der Mangel und seiner Verwaltung – ein ererbtes Malheur. Daneben aber gab es weitere Gründe für das Fortbestehen der illegalen Marktplätze. Einer war, dass die Besatzungsmächte selbst in das Tauschgeschehen verstrickt waren. Der Ordnungshüter als Schwarzhändler – das untergrub die Glaubwürdigkeit derjenigen, die ihn eigentlich zu bekämpfen vorgaben, und beförderte zusammen mit dem massenhaften Charakter des Markttreibens eine gewisse Lässigkeit der Berliner im Umgang mit dem verbotenen Tausch. Diese Lässigkeit war allerdings stets gefährdet. Und das hing neben der Illegalität des Tauschs auch mit dem Auftauchen neuer Akteure zusammen, mit denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer jetzt unmittelbar zusammentreffen konnten.
3 Neue und alte Teilnehmer 3.1 Russische und amerikanische Besatzungssoldaten. Die Sieger als Tauschpartner Als der amerikanische Präsident John F. Kennedy am 26. Juni 1963 West-Berlin besuchte, kannte die Begeisterung der Bevölkerung kaum Grenzen. Von der Deutschlandreise als einem »viertägigen Massenrausch« sprach gar der Reporter der »Süddeutschen Zeitung«. In seiner Studie über den Kennedy-Besuch strich Andreas Daum heraus, dass die Reise als »populärkulturelle, interaktive und schwer kontrollierbare Performance« die richtige Balance zwischen Überschwang und Regelkonformität gefunden und damit den »Reifeprozess der bundesrepublikanischen Demokratie« und den »Grad politischer Verwestlichung der Westdeutschen« illustriert habe.90 Ein Ereignis, dass die Beziehungen der Berliner zur westlichen Supermacht besonders positiv beeinflusste, war Daum zufolge die im Sommer 1948 angelaufene Luftbrücke gewesen, die als »psychostrategische Wende« gewirkt und die »special relationship« zwischen Amerika und Berlin bestärkt hatte.91
90 Daum, S. 147 u. 149. 91 Ebd., S. 39. Vgl. zum »Alltag in der belagerten Festung« und Aktionen wie der FallschirmSchokolade für Blockadekinder Keiderling, S. 238–255.
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Nur wenige Jahre nach dem Kriegsende feierten die Berlinerinnen und Berliner im Westteil der Stadt mit dem jungen amerikanischen Präsidenten den höchsten Repräsentanten des ehemaligen Feindes. Zwei Tage nach Kennedys Aufenthalt, am 28. Juni, kam der sowjetische Staatschef Nikita Chruschtschow auf Besuch nach Ost-Berlin. Das war gewissermaßen eine Antwort auf die Reise des amerikanischen Staatsoberhaupts. Sie lag in der Logik jener Konkurrenz symbolischer Akte, die der geteilten ehemaligen Hauptstadt des Deutschen Reiches besondere Aufmerksamkeit schenkte und die gesamte Zeit des Kalten Kriegs hindurch die Stadt als Symbolraum nutzte. Chruschtschow wurde ebenfalls begeistert empfangen. Allerdings spielte dabei die politisch gesteuerten Massenmobilisierung eine große Rolle.92 Das Verhältnis der Bevölkerungen in beiden deutschen Staaten zur jeweiligen Bündnismacht war – obgleich auch im Westen keineswegs unproblematisch – vor allem im Osten nie spannungsfrei. Das hatte eine Vorgeschichte. Schließlich empfingen die Berlinerinnen und Berliner mit Chruschtschow den Repräsentanten nicht nur des ehemaligen Feindes, sondern auch jener vor noch gar nicht langer Zeit als »Untermenschen« verunglimpften »Rasse«. Bereits vorhandene Antipathien und Feindbilder waren von der nationalsozialistischen Propaganda während des Krieges geschürt und forciert worden. Die Sowjetunion und die heranrückende Rote Armee hatte die nationalsozialistische Gräuelpropaganda als barbarische Schlächter beschrieben.93 Die Stimmungsberichte der Wehrmachtpropaganda hielten regelmäßig Befürchtungen der Bevölkerung vor Racheaktionen fest und vermerkten den »Wunsch (…), dass die Anglo-Amerikaner noch vor den Sowjets nach Berlin kommen«.94 Die Besatzungssoldaten der westlichen Armeen registrierten einigermaßen erstaunt, dass sie von den Berlinern mit Jubel empfangen wurden. Die offizielle Linie, wonach den Soldaten der amerikanischen Armee das »Fraternisieren« mit dem ehemaligen Feind verboten war, ließ sich unter diesen Umständen im Alltag nicht durchhalten.95 Zugleich war der Jubel auch eine Folge jener Erfahrungen, die Berliner und Berlinerinnen mit den russischen Besatzern unmittelbar nach Kriegsende gemacht hatten. Insbesondere die Massenvergewaltigungen prägten sich tief in das kollektive Gedächtnis ein, ohne dass eine öffentliche, vielfach auch eine adäquate private Aufarbeitung möglich gewesen wäre.96
92 Daum, S. 162ff. 93 Zum Amerika- und Russlandbild im Nationasozialismus sowie zur Propaganda der Kriegszeit vgl. Gassert, Naimark, S. 9ff., und Volkmann, Russlandbild. 94 Vgl. z.B. Wette, S. 334. 95 Large, S. 359. 96 Bessel, Leben, S. 250, bemerkt zutreffend, dass die Massenvergewaltigungen ein »unentbehrlicher Ausgangspunkt für eine ernsthafte Diskussion und Analyse der Geschichte der DDR« sein müssten.
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Mit der Einnahme der Stadt durch die Rote Armee und der alliierten Besetzung hatte sich für die Verlierer die Situation ungekehrt. »Die einzigen Unbeschwerten«, notierte ein Reporter des Berliner »Telegraf« im März 1947, »sind die Soldaten der Besatzungsmächte«. Für sie sei »eine U-Bahnfahrt ein Stück Freizeitgestaltung«, während »die ehemaligen Landser (…) dabei wahrscheinlich an ihre eigene Besatzungszeit zurück« dächten. Denn »damals« seien »sie die Unbeschwerten und Lebenslustigen« gewesen.97 Damit verwies der Artikel auf die eigentümliche Situation, dass aus Besetzern Besetzte, aus den Eroberern von einst nach dem Kriegsende die Bewohner eines unterlegenen und okkupierten Landes geworden waren. Was genau sich der »Telegraf«-Reporter unter der »Unbeschwertheit« und »Lebenslustigkeit« des deutschen Besatzungsalltages in Europa während des Krieges vorstellte, blieb unklar. Auf jeden Fall schien das Leben als Besatzer in seinen Augen einigermaßen komfortabel auszusehen. Vielleicht hatte er sogar eine konkrete Vorstellung von den Annehmlichkeiten, die sich einem guten Teil des deutschen Besatzungsregimes eröffnet hatten – nicht zuletzt, weil die Machtposition der Wehrmacht für Soldaten und Bürokraten im Rücken der Front eine Vielzahl von ökonomischen Vorteilen eröffnet hatte.98 So war einer ganzen Schar von »Osthyänen«, wie Firmenangestellte und Angehörige der Zivilverwaltung genannt wurden, daran gelegen gewesen, sich auf Kosten der Bewohner der besetzten Gebiete zu bereichern. Ein geheimer Bericht aus dem Jahr 1943 vermerkte, dass »Tauschgeschäfte (…) das einzige« gewesen seien, »was einen hohen Prozentsatz der Schreiber an der Arbeit in der Ukraine überhaupt« interessiert habe.99 Einen anderen Beobachter erinnerten die um sich greifenden »Schleichhandelsgeschäfte« in der Ukraine »an den ›Handel‹ mit Negerstämmen und [den] ›Tausch‹ von Glasperlen gegen Elfenbein«.100 Sowohl die Angehörigen der Besatzungsverwaltung als auch Wehrmacht, Polizei und Privatfirmen waren intensiv am illegalen Handel in den vom Deutschen Reich besetzten Gebieten beteiligt.101 Das polykratische Nebeneinander unterschiedlicher Verwaltungsstellen, die Angebots-Nachfrage-Schere zwischen »Reich« und Besatzungsgebiet und die Machtstellung der deutschen Besatzer bildeten ideale Voraussetzungen für umfangreiche »Verschiebungen« von Lebensmittelkontingenten und einer Vielzahl von Luxusartikeln. Vielleicht projizierte der Schreiber des »Telegraf«-Artikels aber auch Beobachtungen aus der Zeit der alliierten Besatzung in die Kriegszeit zurück. Die meisten Berlinerinnen und Berliner erlebten die »neuen Herren« und die Besatzung in erster Linie als demütigende Erfahrung. »Da wurde mir zu meinem 97 98 99 100 101
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Telegraf, 8.3.1947, S. 4. Vgl. zur Ausplünderung als Merkmal der deutschen Kriegsgesellschaft Aly. Zit. nach Bajohr, Parvenüs, S. 86. Zit. nach ebd., S. 87. Ebd., S. 85.
Entsetzen deutlich«, schrieb eine Frau, »dass wir nicht mehr Deutsche waren und Deutschland nicht mehr existierte, dass wir Untergebene der jeweiligen Siegermächte geworden waren und jede deutsche Person eine Nichts war«.102 In den Rekrutierungsmaßnahmen der Alliierten, die Krankenschwestern zum Arbeitsdienst heranzogen, sah sie vor allem einen »Beweis« dafür, »dass wir keine selbständigen Menschen mehr waren«. Was war also passiert, dass ein nicht unerheblicher Teil der Berliner Bevölkerung 18 Jahre nach Kriegsende auf die Besuche des amerikanischen Präsidenten und des sowjetischen Staatschefs – auch wenn man die politisch gesteuerte Mobilisierung im Osten in Rechnung stellt – positiv reagierte? Die Luftbrücke war auf westlicher Seite das vielleicht wichtigste Symbol in einem Kontext von Hilfsleistungen, die es ermöglichten, das Misstrauen gegenüber dem ehemaligen Feind abzubauen. Die spektakuläre Aktion war aber lediglich ein symbolisch besonders aufgeladenes Ereignis in einem breiten zeitgenössischen Diskurs, der unterschiedliche Praktiken des Gebens und Nehmens verhandelte, die über den einzelnen Akt hinaus die Rollenverständnisse von Deutschen in Verhältnis zu den Besatzungsmächten reflektierten. Dieser Bedeutungskontext wurde zum wichtigsten Bezugsrahmen, wenn es um das Verhältnis zwischen Siegern und Verlierern ging. Nebeneinander standen seit der Besetzung der Stadt ganz verschiedene Handlungserfahrungen und -deutungen: Vergewaltigungen, Diebstähle, Plünderungen und andere Formen des Inbesitznehmens durch die siegreichen Armeen einerseits sowie Versorgungsleistungen, Geschenke, gemeinsame Feiern oder Liebesbeziehungen auf der anderen. Die Tauschhandlungen zwischen Angehörigen der alliierten Armeen und deutschen Teilnehmern auf den Berliner Schwarzmärkten lagen als Situationen, in denen eine Leistung für eine andere gegeben wurde, auf bemerkenswerte Weise in einem Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen. Deswegen kam ihnen sowohl in der alltäglichen Erfahrung als auch in den Erinnerungen der Zeitgenossen eine besondere Bedeutung zu. Wann immer deutsche Beobachter über Tauschgeschäfte mit den Besatzern sprachen, wurden zugleich Machtverhältnisse, wurden Macht- und Ohnmachterfahrungen thematisiert, schwankten die Urteile über die neuen Machthaber zwischen Dankbarkeit und Vorwurf, Erleichterung und Entsetzen. Die ökonomische Potenz der Sieger sollte für die Berliner sofort nach Kriegsende im Alltag spürbar werden. Zwar tauschten sie kein Elfenbein gegen Glasperlen, aber in vielen Beschreibungen von Schwarzmarktgeschäften spielte das Motiv des aus der Not getätigten unfairen Tausches eine große Rolle. Im Grunde genommen artikulierten die Berichte von deutschen Tauschpartnern, die Wertgegenstände gegen Lebensmittel eintauschen mussten, das Gefühl einer noch schlimmeren Übervorteilung: Im Gegensatz zu den »Primitiven«, 102 LAB F Rep 240 Acc 2651 Nr. 6, 748/5.
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denen die »Glasperlen« etwas bedeutet hatten, sahen sie in erster Linie die für sie ungünstigen Tauschkurse. Das Besondere des Tausches zwischen deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmern und »fremden« Soldaten wird deutlich, wenn man sich die Ausgangssituation vor Augen führt. Voraussetzung für Tauschbegegnungen war, dass »die Waffen schwiegen«. Unabhängig von den im weiteren Verlauf sich ergebenden Konflikten zwischen den Schwarzhändlern beider Seiten markierte die Tauschsituation deshalb in der Wahrnehmung der Zeitgenossen immer auch einen neuen Abschnitt: die Ruhe nach dem Kampf und den neu gewonnenen Frieden – gleich viel, wie unsicher er sein mochte.103 Hatten bis in die letzten Kriegstage hinein viele in der Stadt verbliebene Zivilisten gewissermaßen permanent »in Deckung« gelebt, stand danach ein ungleich größerer Stadtraum zu ungleich ungefährlicheren Bedingungen wieder zur Verfügung. Zwar blieben auch jetzt Beschränkungen bestehen. Und es bestanden weiterhin Gefahren: Ausgangssperren, Kontrollen und Übergriffe durch die »Sieger« führten dazu, dass im Vergleich zu Friedenszeiten an eine unbesorgte Stadtnutzung noch nicht immer und überall zu denken war. Der Krieg als Phase massiver Gewalteinwirkung auf die Stadt und ihre Bewohner klang nur langsam ab.104 Gleichwohl fielen keine Bomben mehr, und nur vereinzelt kam es noch zu Schusswechseln. Unter diesen Bedingungen ging man nicht nur auf die Straße, weil es unbedingt notwendig war, etwa um nach Wasser anzustehen, man konnte es auch ungefährdeter tun als zuvor. In vielerlei Hinsicht begann jetzt, was als eine allmähliche Wiederaneignung des Stadtraums durch die Bewohner beschrieben werden kann. In den Erinnerungen der Zeitgenossen spielen Szenen im öffentlichen Raum die wichtigste Rolle. Sie verweisen auf eine langsame Normalisierung des Alltags, die zunächst bedeutete, dass die »Unerbittlichkeit des Kriegstodes« als »die zentrale Primärerfahrung, die alle Überlebenden gemacht« hatten in den Hintergrund trat.105 Das Tagebuch von Gertrud Heidelberg schildert minutiös in beinahe täglichen Eintragungen die Veränderungen des alltäglichen Lebens vom 21. April bis zum 28. Juli 1945. Raumbeschreibungen, d.h. Veränderungen der Möglichkeit unterschiedliche Räume zu nutzen, tauchen in fast allen Eintragungen auf.106 Insbesondere der Keller war dabei ein Synonym für den von Heidelberg beschriebenen »Belagerungszustand«. Die Straße – immerhin der Ort von Schießereien und Übergriffen durch Soldaten – wird demgegenüber zu dem Raum, der die ersten Signale einer fragilen Normalisierung bereit stellt. Hielt Gertrud Heidelberg noch am 8. Mai fest: »Man mag nicht rausgehen, die Stra103 104 105 106
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Vgl. zur Erfahrungsgeschichte der Niederlage Carl. Vgl. Bessel, Leben. Koselleck, S. 275. Das Folgende zitiert nach LAB F Rep 240 Acc 2651 Nr. 6, S. 748xff.
ßen und Häuser sehen so schrecklich aus«, veränderte sich dieses Bild in der Folgezeit merklich. Die Aufräumarbeiten, Besorgungsgänge und Begegnungen mit Bekannten fanden hier statt. Auf den Rückzug folgten erste Schritte in den öffentlichen Raum, der schließlich sogar als – wenn auch groteske – Idylle wahrgenommen werden konnte: »Über all diesen hässlichen Trümmern und in dem Chaos singt die Amsel von den Ruinen ihr Abendlied«. Die Straße blieb auf diese Weise zwar ein Ort der »Hässlichkeit«, funktionierte aber auch als Raum für gängige, durch den Krieg unterbrochene Alltagsroutinen: »Das Leben fängt an, seinen Gang zu gehen. Morgens wird Wasser geholt, man versucht, sich etwas zum Essen zuzubereiten. Von 2–5 Uhr ist Straßenarbeit, von der man müde und schmutzig nach Hause kommt, sich wäscht und – vor allem ausruht«. Damit – das Motiv der Amsel, die ihr »Abendlied« singt, deutete diesen Vorgang bereits an – wird das Schema eines bekannten Zeitablaufs zwischen täglicher Arbeit und abendlicher Entspannung als beginnende Normalisierung entdeckt und erleichtert zur Kenntnis genommen. Doch dieser Vorgang fand nicht von heute auf morgen statt. Vergewaltigungen durch Angehörige der Roten Armee und andere Übergriffe führten dazu, dass eine Vielzahl von Frauen und Männern sich weiterhin lieber in Verstecken auf hielten oder nur zeitweise den Gang »nach draußen« wagten.107 Diese unmittelbarste Nachkriegszeit dauerte mindestens bis zum Herbst 1945. Erst nachdem die Übergriffe merklich nachgelassen hatten, konnte von einem einigermaßen friedlichen städtischen Alltag die Rede sein, der gleichwohl – Morde, Verschleppungen etc. blieben bis in die späten vierziger Jahre eine gängige Erscheinung – noch nicht die vorher bekannte und nachher wieder erlangte Normalität erreicht hatte.108 Der öffentliche Schwarzmarkt gehörte für viele Beobachter in diesem Zusammenhang zu den größten Erfolgen. Denn neben den Beschreibungen, die den illegalen Handel als unnormale, schädliche oder gar gefährliche Erscheinung beschrieben, standen in zunehmendem Maße solche, die den lebendigen Charakter des »Markttreibens« hervorhoben. Viele Stadtbewohner erlebten den öffentlichen Handel in erster Linie als geselliges Ereignis.109 Die Zeitzeugin Rosa Baer hielt in ihren Erinnerungen fest: »So war mal wieder ein herrlicher Sonnentag und ich machte mich auf den Weg nach ›Unter den Linden‹ (…). Man versuchte nach Möglichkeit die Wege abzukürzen, so ging ich auch 107 Zu den Vergewaltigungen Naimark, S. 86–168. 108 Zum Anstieg der Kriminalität als Kennzeichen der deutschen Nachkriegsgesellschaft Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 953. 109 Den Markt in erster Linie als geselliges und irgendwie unterhaltsames Phänomen zu beschreiben setzte jenen amüsanten Diskurs der Weimarer Jahre fort, der das illegale »Treiben« in die Nähe eines – bisweilen mit fatalistischer Heiterkeit geschilderten – Merkmals der Gegenwart rückte. Vgl. dazu auch den Gebrauch des Schwarzmarktmotivs im Kabarett. Etwa in Günter Neumanns »Revue der Stunde Null«, die unter dem Obertitel »Schwarzer Jahrmarkt« firmierte.
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an diesem Tage quer durch den Tiergarten und kam in die Nähe des Reichstags. Durch Tausende und Abertausende von Menschen musste ich durch, es blühte ein herrlicher Schwarzhandel. (…) Eine Razzia begann und ich war mittendrin. (…) Aber alles half nichts, ich wurde mit vielen anderen Menschen zusammen auf einen Wagen verladen, indem (sic) wir erst mal stundenlang warten mussten. Und nun kam das Lustigste für mich. Alle waren am Essen, ich selbst schaute zu. Darauf frugen mich viele: ›Ham’ se denn nischt einjehandelt?‹ Nee, meinte ich, ich [bin] per Zufall hier durchgekommen und muss noch weiter zu (sic) ›unter den Linden‹«.110 Sicher erinnerte sich Rosa Baer auch deshalb gerne an diesen Ausflug, weil sie von ihren »Mitfahrern« aufgefordert worden war, ihnen beim »Vernichten« der Beweismittel, also beim Aufessen von diversen Lebensmitteln, zu helfen. Doch ihre gesamte Darstellung schildert den illegalen Handel vor allem als geselliges Ereignis und weniger als wirklich beunruhigende Gefahrensituation. Damit stand sie nicht allein. Irmgard Chambalu, die 1945 34 Jahre als war, erinnerte sich an den Schwarzhandel sogar ausdrücklich als ein »großes Vergnügen«: »Es wurde so allmählich direkt eine Art Sport daraus«, den Polizei-Razzien zu entwischen, meinte sie. Doch das Vergnügen lag mindestens genauso darin, dass »man (…) immer (auch) irgendwelche Bekannte (traf )« und Erfolgserlebnisse machen konnte. Wahrscheinlich kam hinzu, dass die sie gerade keine Probleme damit hatte, fremden Personen gegenüber zu treten, sondern die Menschenmenge ihr eine befriedigende Erfahrung der eigenen Individualität ermöglichte.111 Den illegalen Handel nannte sie bald nur noch ihren »geliebten Schwarzmarkt«.112 Nicht überliefert ist, ob Chambula auch mit Besatzungssoldaten getauscht hat. Solche Tauschgeschäfte wurden zu einer besonderen Herausforderung. Hier trafen sich die Gewinner und Verlierer des »totalen Krieges« um ins Gespräch zu kommen, miteinander über Waren und Preise zu verhandeln und schließlich zu tauschen.113 Diese Begegnungen fanden im Kontext eines Systems von Zeichen statt, welche die Rollenunterscheidung zwischen Siegern und Verlierern in Berlin jeden Tag aufs Neue um- oder fortschrieben.114 Die sowjetische Fahne auf dem Reichstag war nur das bekannteste Beispiel einer neuen, das Verhältnis von Siegern und Verlierern symbolisierenden Ordnung, die bis weit in den Haushalt kleiner Zeichen und Gesten des Alltags hinab110 LAB F Rep 240 Acc 2651 Nr. 6, S. 370/1. 111 Vgl. Sennett, S. 341f. 112 LAB F Rep 240 Acc 2651 Nr. 6, S. 689/2. 113 Ein Kompromissfrieden war – wegen der imperialen Expansion und der praktizierten Vernichtungspolitik auf deutscher Seite – von vorne herein ausgeschlossen. Vgl. Dülffer, Frieden, S. 214. 114 Vgl. zur Bedeutung alltäglicher Interaktion für das Verhältnis der Deutschen zu den Besatzern die Skizze bei Hoffmann, Dilemma, sowie demnächst dessen Habilitationsschrift. Zur Besatzungspolitik der US-Amerikaner Gerhard.
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reichte. Schilder in russischer, englischer oder französischer Sprache, die Einführung der sowjetischen Zeitrechnung und des Jagdrechts für alliierte Soldaten waren einige weitere Beispiele für diese umfassenden Neuordnung von Herrschafts- und Zeichenhierarchien. Die neuen Zeichen waren dabei sowohl Ausdrücke der veränderten Machtverhältnisse als auch deren Movens. In der angespannten Ruhe nach der Schlacht kam Symbolveränderungen als Repräsentanten eines unklaren Status quo eine entscheidende Bedeutung zu. Die psychologische Situation der Niederlage und die Furcht vor der zukünftigen Behandlung durch die Sieger machte die Bewohner der Stadt besonders sensibel für die unterschiedlichen Zeichengebräuche der »neuen Herren«.115 Eine herausragende Rolle fiel dabei der physischen Präsenz der alliierten Soldaten und ihren Verhaltensweisen zu.116 Waren sie zunächst als feindliche Kämpfer, »Plünderer« und Vergewaltiger in Erscheinung getreten und wahrgenommen worden, ergaben sich im Laufe der Zeit neue Begegnungssituationen, etwa beim privaten Gespräch oder dem Zusammentreffen zwischen Bürger und alliierten Verwaltungsstellen. In allen diesen Situationen spielte das Sieger-Verlierer-Verhältnis eine Rolle. Je nachdem, welche Haltung beide Seiten einnahmen, welche Gesten und Zeichen benutzt wurden, entwickelten sich ganz unterschiedliche Begegnungen zwischen Deutschen und Angehörigen der alliierten Streitkräfte. Die Initiativmacht lag bei den Siegern. Das Schema, das Aktion und Reaktion zwischen den Parteien festlegte, war bereits mit dem Ende des Kampfes definiert und prägte die Beziehungen – auch auf staatlicher Ebene – weit über die unmittelbare Nachkriegszeit hinaus. Zu den wichtigsten Formen demonstrativer Herrschaftssymbolik gehörten die inszenierten militärischen Aufmärsche und Paraden. Der Einmarsch der siegreichen Feldherren in die niedergerungene Stadt, die pars pro toto für das ganze »Reich« stand, gehörte in eine lange Tradition etablierter symbolischer Herrschaftszeichen. Insbesondere Schukows Ritt durch die Ruinen adaptierte bekannte Muster einer Symbolik, die Siegesfeier sowie Herrschaftsanspruch, -demonstration und -festigung in einem war und von den Bewohnern der Stadt auch als solche verstanden wurde.117 Als wichtiges Indiz der unterschiedlichen Macht- und damit auch Verhandlungspositionen spielte darüber hinaus das Recht der Sieger, Waffen zu tragen, eine entscheidende Rolle. In der Situation, da die Kampf handlungen eingestellt waren und beide – Sieger wie Verlierer – ihre Hände buchstäblich »frei« hatten, um zu prüfen, zu zählen, Waren in die Hand zu nehmen, sich mit ih115 Large, S. 350. 116 Ein Thema, das sich als Beschreibung der russischen Soldaten, wie ein roter Faden etwa durch die Tagebucheintragungen der berühmten »Anonyma« zog. Vgl. Anonyma. 117 Eine Geste, die schließlich – in veränderter Form als Panzerzug – auch Einzug in die russische Propagandabildsprache fand. Vgl. http://www.dhm.de/ausstellungen/mythen-der-nationen/ popups/bilder/h_09.jpg (letzter Zugriff am 20.7.2007).
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nen verständlich zu machen und zu tauschen, markierten die Pistolen der alliierten Soldaten eine deutliche Trennlinie. Die neu rekrutierten deutschen (Hilfs-) Polizisten, die zur Schwarzmarktbekämpfung eingesetzt wurden, standen schnell vor dem Problem, dass ihre Autorität auf den Märkten nicht anerkannt wurde und sie hilflos daneben stehen mussten, wenn es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam.118 Deutsche Teilnehmer und Beobachter achteten genau auf die Zeichen und Gesten der Sieger beim Tauschen. Einerseits eröffnete die Situation auf den illegalen Märkten die Möglichkeit, den Siegern »auf Augenhöhe« zu begegnen. Anders als die Demonstrationen der Stärke, wie sie etwa Militärparaden darstellten, konnten sich Verlierer und Sieger auf den Märkten Auge in Auge gegenüberstehen, miteinander reden, verhandeln und tauschen. In einem Brief vom 21. August 1946 entwickelte die in Charlottenburg lebende Gerda Pfundt eine eigen Typologie der neuen Machthaber: »Ein weiteres Merkmal im Nachkriegs-Berlin sind die alliierten Soldaten. Mit einigen Ausnahmen stören sie uns gar nicht. Wir haben uns an sie gewöhnt und aus dem Straßenbild sind sie kaum mehr wegzudenken. Die Engländer sind – wie man das bei ihrer Art nicht anders erwartet – zurückhaltend, höflich, korrekt. Die ewig kaugummikauenden Amerikaner sind schon etwas geräuschvoller, aber harmlos dabei bis auf Ausnahmen, die man dann ›Russen mit Bügelfalten‹ nennt. Von den Franzosen weiß ich nichts, weil ich sie noch nicht erlebt, aber ja kaum gesehen habe. Man sagt aber, dass sie auch friedlich sind. Und die Russen? Ja – das sind eben die Russen. Die muss man erlebt haben. Ich habe jedenfalls immer weiche Knie und stecke meine Uhr und mein Armband in die Handtasche, wenn mir welche begegnen. Man kann nie wissen«.119 Tauschsituationen mit Angehörigen der Roten Armee galten als besonderes prekär. Das Zusammentreffen mit den russischen Siegern war eine emotional aufgeladene Situation, in der vor allem Angst die Gefühlslage der deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer prägte. Die damals 30jahrige Margot Raedisch erinnerte sich in ihrem 1977 zu Papier gebrachten Bericht an eine Situation im Herbst 1945, die sich auf dem Schwarzmarkt im Tiergarten ereignete. Gemeinsam mit ihrer vierjährigen Tochter, die sie, wie sie ausführte, nicht allein lassen konnte, und einer »Bekannten«, die sie als »berherzter« als sich selber einstufte, hatte sie sich auf den Weg zur beliebten »Schwarzen Börse« gemacht, um Lebensmittel zu bekommen: »Am Rande des Tiergartens standen russische Lastwagen; ihre Soldaten verfolgten die Scenerie auf dem Schwarzmarkt. Als wir an einem solchen Auto vorbei gingen, sah uns ein nicht mehr so ganz junger Soldat nach. Mit einem Mal rannte er hinter uns her und rief laut: ›Kleine 118 Vgl. für einen Überblick über die Probleme deutscher (Hilfs-) Polizisten bei der Schwarzmarktbekämpfung LAB C Rep. 303/9 222, Bl. 270. 119 LAB F Rep 240 Acc 2651 Nr. 5, 462/5f.
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Kalinka, kleine Kalinka, Du mir geben, ich dir geben Speck und Brot‹, dabei zeigte er aufgeregt auf die Puppe meiner Tochter. Er schrie es ein ums andere Mal denn er glaubte wohl, wir hätten ihn nicht verstanden. Das hatten wir wohl, aber wir wollten die Puppe ja gar nicht eintauschen. Nun hatte es aber auch das Kind begriffen, was er von uns wollte – entsetzt drückte es die Puppe an sich und erste Tränen kullerten.«120 Nachdem die Mutter dem Soldaten zu verstehen gegeben hatte, dass sie die Puppe nicht hergeben wollten, ließ er von ihnen ab: »Er konnte es nicht fassen, guckte traurig auf die Puppe und auf mein Kind. Dann aber streichelte er meine Tochter und sagte: ›niet, niet!‹. Wegnehmen wollte er sie nicht. Wir waren erleichtert; was hätten wir tun können, wenn er sie uns weggerissen hätte? Seine Augen sagten uns, dass er die Puppe gern gehabt hätte – sicher für sein Kind – aber er hatte ein gutes Herz. Und das zu erkennen in dieser Zeit war sehr tröstlich.«121 Solche Schilderungen verdeutlichen, welches Misstrauen gegenüber sowjetischen Soldaten auf den Schwarzmärkten herrschte. Was in diesem Beispiel eindeutig zum Ausdruck kam, wurde in anderen Berichten eher zwischen den Zeilen thematisiert. Karl Deutmann etwa beobachtete eine andere Tauschsituation und hielt hinterher in seinem Tagebuch fest: »Ein russischer Offizier saß in einem Auto, hielt ein Messer in der Hand und vor ihm stand ein Behälter mit Butter. Eine Dolmetscherin saß ihm gegenüber, reichte ihm die Uhren zur Prüfung zu und vermittelte den Deutschen die Kilo- oder Pfundzahl an Butter od. Speck od. Büchsenfleisch. Für Goldsachen gab es Fettigkeiten; Schuhe u.s.w. wurden in bar bezahlt. Es gab aber keinen Betrug. Was ausgemacht war, wurde eingehalten. Ein G.P.U Offizier, der plötzlich mit einem Auto erschein, machte der Sache ein Ende. Um die Deutschen untereinander kümmerte er sich aber nicht. Als er später abgefahren war, ging die Sache fröhlich weiter«.122 Dass Karl Deutmann die Geschäftsabläufe zwischen dem russischen Offizier und seinen deutschen Tauschpartnern mit den Sätzen beschließt: »Es gab aber keinen Betrug. Was ausgemacht war, wurde eingehalten«, könnte zunächst auf das Grundproblem der fehlenden Rechtssicherheit auf den illegalen Märkten hinweisen. Doch sein Bericht verweist darüber hinaus auf Praktiken, die das Machtgefälle zwischen den ungleichen Partnern vor Augen führten und damit fortschrieben. Insbesondere das Anreichen von Waren, die der sowjetische Marktteilnehmer dann einer Prüfung unterzog, verdeutlicht eindrücklich, wer in dieser Tauschsituation die größere Marktmacht hatte. Das Bild eines einzelnen alliierten Soldaten, umringt von einer Traube deutscher tauschwilliger Schwarzhändler illustrierte tagtäglich die ökonomische Potenz der »Fremden«, die über die knappen Waren des alltäglichen Bedarfs verfügten. Zwar gehörte die Trau120 LAB F Rep 240 Acc. 2651 Nr. 4, 420. 121 Ebd. 122 DHM, Tagebuch Deutmann, 24.6.1945.
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benbildung, das Scharen einer Gruppe von Tauschinteressierten um einen Anbieter zum alltäglichen Bild auf den öffentlichen Marktplätzen. Doch wurde diesem Phänomen eine besondere Aufmerksamkeit zuteil, wenn es sich um solche Menschentrauben handelte, wie Deutmann sie in seinem Beispiel schilderte. Deutschen Beobachtern fiel vor allem auf, wenn – wie in Deutmanns Beispiel – alliierte Soldaten beim Tausch im Auto vorfuhren und darin sitzen blieben. Autos als Symbole ungleicher Machtverteilung waren bereits mit der Motorisierung der Stadt zu einem gängigen Topos geworden. In den »Luxus«Debatten wie in den Kommentaren zur sozialen Ungleichheit in Berlin allgemein spielten sie seit den zwanziger Jahren eine prominente Rolle. Die »größten Klassengegensätze« hatte bereits 1933 ein Berliner Feuilletonist zwischen den unterschiedlichen Verkehrsteilnehmern gesehen: »Maßlos ist der Gegensatz in Deutschland zwischen den Menschen, die im Auto fahren und denen, die zu Fuß gehen«, notierte Heinrich Hauser in einem Beitrag für die Monatsschrift »Die Tat«.123 Dieses gängige, zur Charakterisierung sozialer Gegensätze in Berlin gebräuchliche Bild von der ökonomischen Macht der Autofahrer war – wie die Geschichte von Max Scheffler gezeigt hat – im moralischen Schieberdiskurs virulent geblieben. Sie wurde nach Kriegsende auf im Auto fahrende Besatzungssoldaten übertragen. Die Tauschgeschäfte aus dem Auto heraus gehören zu den immer wiederkehrenden Motiven in den Schilderungen deutscher Quellen.124 Hier traten zum einen die ungleichen Mobilitätserfahrungen zwischen den »neuen Herren« und den Einwohnern Berlins zu Tage. Die Wagen der alliierten Soldaten boten gerade für den illegalen Handel ganz praktische Vorteile: Mobilität, Transportmöglichkeiten und Schnelligkeit. Gerade der letzte Aspekt konnte entscheidend sein. Denn damit waren die Fahrer in der Lage, die neuesten Preisentwicklungen auf den einzelnen Märkten schnell zu überblicken und zu ihrem Vorteil auszunutzen.125 Zum anderen wurden die Wagen in den Augen deutscher Beobachter zu Symbolen der (Tausch-) Macht. Blieben die alliierten Tauschpartner beim Handel in ihren Wagen sitzen, symbolisierte dies eine Position physischer und ökonomischer Stärke, die in den Augen der Unterlegenen im Kleinen die Haltung des »hoch zu Ross« paradierenden Siegers wiederholte. Denn im Gegensatz zu den »neuen Herren« kamen die deutschen Marktteilnehmer in der Regel zu Fuß, wanderten die einzelnen Marktplätze der Reihe nach ab und mussten im Anschluss auch den oftmals beschwerlichen Heimweg mindestens in Teilen »auf Schusters Rappen« zurücklegen. Das Inferioritätsgefühl, dass sich bei deutschen Beobachtern angesichts der motorisierten Soldaten einstellte, fasste ein zeitgenössisches Gedicht zusammen: 123 Zit. nach Bienert, S. 187. 124 Vgl. die Abb. in dem Beitrag »Black Marktes boom in Berlin«, in: »Life«, 10.9.1945, S. 54. 125 Vgl. den Beitrag »Schwarze Börse entmotorisiert«, in: »Telegraf«, 23.10.1948, S. 6.
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»Auf der Straße flitzen Autos / Fette Russen räkeln sich / In den Polstern uns’rer Wagen / Mir scheint sie verhöhnen mich, / Der da vor mir geht ist trunken / Wodka! Brüllt er, lebe hoch / Ach wie tief sind wir gesunken / Armes Deutschland, lebst du noch? / (…) Wünscht es wären Spukgestalten / Die an mir vorüberziehn / Aber als ich kanns nicht leugnen / Das ist ›östliches Berlin‹«.126
Doch es waren nicht nur die Angehörigen der Roten Armee, die in den Fokus misstrauischer deutscher Beobachter gerieten. »Alle englische Korrektheit, amerikanische Frischfröhlichkeit und russische Rauhbeinigkeit«, erinnerte sich eine Zeitzeugin, »hindern nicht, dass die Berlinerinnen sich mit den Alliierten liieren. Mit einer Chesterfield oder einem aus dem Jeep gerufenen ›Hallo, girlie‹ fängt es an und hört bei grosser Liebe und manchmal Heiratsabsichten auf. Den ersten Berliner Mädchen wurde jetzt die Heiratserlaubnis mit Engländern erteilt. Sie waren sogar in der Zeitung abgebildet. Die Amis haben noch keine Erlaubnis dazu. Im allgemeinen ist gegen diese völkerverbindende Betätigung nichts zu sagen. Waren unsere Soldaten in Frankreich, Dänemark usw. immer allein? Wenig ergötzlich sind nur die Mädchenexemplare, die die Bekanntschaft mit einem Alliierten nicht dem Zufall überlassen, sondern sich an deren Unterkünften aufstellen und von sich aus die Initiative ergreifen. Leider, leider gibt es das.«127 Auch »unterhalb« offizieller Demonstrationen von Stärke durch die Sieger erlebten Deutsche die prekäre Trennlinie zwischen Kriegsgewinnern und -verlierern in alltäglichen Situationen. Aus der Menge der zeitgenössischen Beobachtungen deutscher Quellen, die eine fast seismografisch zu nennende Empfindlichkeit für solche Erfahrungen der Inferiorität an den Tag legten, ragen insbesondere jene hervor, die den Umgang zwischen Siegern und Verlierern in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse thematisierten. Unter der Überschrift »Gesellschaftspässe – doch gefragt. Berlinerinnen lassen sich unter die Lupe nehmen« informierte etwa der »Telegraf« seine Leserinnen und Leser über unterschiedliche deutsche Frauen-Typen, die – um mit ihren amerikanischen Partnern amerikanische Clubs besuchen zu können – um die Erteilung sogenannter »Gesellschaftspässe« nachsuchten.128 Herausgestellt wurde neben der Tatsache, dass die meisten »Mädchen« mit Amerikanern liiert waren, vor allem, ob die vorgestellten Frauen geschminkt waren, ob sie »deutsche Strümpfe, Kniestrümpfe« trugen und ob sie deutsch sprachen oder ob sich »ihr Deutsch [schon] mit einem so amerikanischen Akzent verfärbt« hatte, »dass es schwer war, sie zu verstehen«. Die Szenerie las sich für die Leser des Telegraf wie folgt: »Es waren acht Mädchen eingeladen worden. Drei von ihnen erschienen völlig amerikanisch eingekleidet (…). Bei den anderen beschränkten sich die Anzeichen amerikanischer Hilfsquellen auf Handtaschen, Halstücher 126 LAB F Rep 240 Acc 2651 Nr. 2, 119/2. 127 LAB F Rep 240 Acc 2651 Nr. 5, 462/5f. 128 Alle Zitate im Folgenden: Telegraf, 24.1.1947.
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und Camels, die sie rauchten. Das Warten machte doch ein bisschen nervös. Eine hatte sich ihren Freund, einen amerikanischen Zivilbeamten, gleich mitgebracht. Sie hatte ein üppiges, gut bemaltes Gesicht, ein pelzverbrämtes Kostüm und roten Lack aus dem ›Land der unbegrenzten Möglichkeiten‹ auf den gepflegten Fingern. Da die Warterei ihrem Freund zu lange dauerte, sprach er ein kurzes, aber sicher energisches Wort mit der Kommission, und das Fräulein Freundin kam auch gleich dran«. Dieser Beitrag variierte die in unzähligen Quellen kommentierte Dreieckskonstellation zwischen deutschen Mädchen oder Frauen, amerikanischen Besatzungssoldaten und einer deutschen Öffentlichkeit, in deren Meinungsbild gedemütigte Männer- und enttäuschte Frauenstimmen einen Negativkonsens formulierten. Ein Kernmotiv für diese Sicht bildete die Ohnmachterfahrung des Verlierers angesichts der potenten Kriegsgewinner, die sich die deutschen Frauen »nahmen«, und des unbedarft aber auf den eigenen Vorteil erpichten jugendlich-demonstrativen Konsums der beteiligten Frauen oder »Mädchen«. Kaum etwas bot sich offensichtlich als Empörungs- und Ableitungsobjekt so sehr an, wie die Figur des in der allgemeinen Niederlagen- und Notzeit als Gewinnerin erscheinenden »Fräuleins« an der Seite des Siegers. Das Bewusstsein zu den Verlierern zu gehören konnte durch solche alltäglichen kleinen Niederlagen, in denen der amerikanische »Freund« durch Druck zum Ziel kam und ein deutsches »Fräulein« die eigene Situation durch »amerikanische Hilfsquellen« zu verbessern wusste, immer wieder bestärkt aber auch zu einem Teil des deutschen Opfermythos formuliert und stilisiert werden.129 Die ökonomische Übervorteilung durch alliierte Soldaten war zugleich eine reale Erfahrung und ein Bestandteil des deutschen Opfermythos. Das Bild der amerikanischen Besatzungssoldaten blieb damit zwiespältig. Die Deutungen des illegalen Handels illustrierten das: Einerseits spielte der Aspekt einer (wieder-) gewonnenen Tauschsouveränität bei erfolgreich abgeschlossenen Geschäften eine Rolle. Andererseits wurde die Geschichte des Tausches zwischen Deutschen und Angehörigen der US-Armee auch als Opfergeschichte erzählt, wobei Beziehungen zu deutsche Frauen aus der Perspektive deutscher Beobachter als Bestandteile eines erniedrigenden Trophäen- oder Beutezuges der Sieger interpretiert wurden. Solche Opfernarrative thematisierten die Empfindungen einer gedemütigten deutschen Verlierergesellschaft im Verhältnis zu den Siegermächten allgemein. Einem bekannten Topos blieb es hingegen vorbehalten, den Schwarzmarkt als chaotischen Zustand und Sinnbild sozialer Verwerfungen zu beschreiben.
129 Vgl. zur Rolle von Frauen zwischen »Trümmerfrau« und »Amiliebchen« in Nachkriegsdeutschland Brauerhoch; Höhn; Heineman, Hour.
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3.2 Ein Markt der »kleinen Leute«. Der Schwarzmarkt und die soziale Frage Der Blick auf deutsche Großschieber und Besatzungssoldaten als Marktteilnehmer auf den zentralen Plätzen der Stadt spielte eine wichtige Rolle in der zeitgenössischen Wahrnehmung. Doch bedeutet das nicht, dass andere Teilnehmerkreise darüber vergessen wurden. Im Gegenteil: Die Fokussierung auf die potenteren Händlergruppen gewann einen Teil ihrer Bedeutung erst als Kontrastbeschreibung, die bessere von schlechteren Marktpositionen und damit Macht von Ohnmacht unterschied.130 Als Karl Deutmann am 5. August 1945 in die Stadt fuhr, besuchte er zusammen mit seiner Frau auch »die ›Schwarze Börse‹ am Brandenburger Tor. Die Typologie von Teilnehmergruppen und den von ihnen begehrten Waren, die Deutmann hier entdeckte, stellte auf die unterschiedlichen Machtpositionen der Teilnehmer ab. Zwar gab es offensichtlich auch deutsche Marktbesucher, die sich einmal »etwas gönnen« wollten und nach Waren des elastischen Bedarfs suchten. Das Gros der potenten Marktteilnehmer bildeten aber eindeutig die anwesenden Besatzungssoldaten. Deutmann wies darauf hin, dass die deutschen Schwarzhändlern vor allem aus Not handelten. Der »kleine Genuss« stellte keinesfalls die Regel dar. Zugleich beschwor er die Gefahr, die darin steckte, seine Wertsachen für solche »Luxuswaren« herzugeben: die Armut.131 Am anderen Ende der von den Zeitgenossen wahrgenommenen Skala, die auf der einen Seite die potenten deutschen Schieber und die Besatzungssoldaten verortete, stand das Elend verarmter deutscher Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Ins Blickfeld rückten neben dem Schicksal jeden einfachen »Normalverbrauchers« vor allem Mütter, (Kriegs-) Invalide und Alte. Die Sorgen von Frauen, die als »Ernährerinnen« für Familienmitglieder sorgen mussten, hielt Hille Ruegenberg in ihren Erinnerungen an die Berliner Nachkriegszeit fest: »Niemand kann lange ruhen, wenn Kinder, Blassgesichter, aus tiefen Augenhöhlen Angst einflößen, einer Mutter, die allein verantwortlich ist, den Hunger unschuldiger Mäuler zu stillen. (…) Erstaunlich, wie stark sich in Notzeiten Kräfte aktivieren, während oftmals Satte das Phlegma befällt. Ständig nach zusätzlichen Lebensmitteln Ausschau haltend, der Schwarzmarkt hatte begonnen, erst illegal, kam ich mir wie eine nervös-flatternde Vogelmutter vor, die instinktmäßig immerfort auf Futtersuche aus ist – erbärmlich! Gefühle, jeglicher Art, waren ausgeschaltet – nur kühler Verstand garantierte Überlebenschancen«.132 130 Das Thema von Macht und Ohnmacht spielte auf andere Weise ebenfalls eine Rolle, wenn die Teilnahme von prominenten Händlern öffentlich verhandelt wurde. So war es dem »Telegraf« einen eigenen Beitrag wert, dass der Neffe des ehemaligen Reichskanzlers von Papen beim Schwarzhandel erwischt worden war. Vgl. Ausgabe vom 10.7.1947, S. 5. 131 DHM Tagebuch Deutmann, Eintrag vom 5.8.1945. 132 LAB F Rep 240 Nr. 2, 111/1.
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Jene durch die Einteilung in einzelne Verbrauchergruppen seit Beginn des Krieges etablierte soziale Aufteilung war zwar oft kritisiert worden und der Katalysator einer »Vergleichsmentalität« (Rainer Gries) unter den Empfängern gewesen. Das sollte auch nach Kriegsende anhalten. Doch war damit zugleich immerhin ein gewisser Rahmen festgesteckt, der eine Zuordnung vornahm, die – wie ungerecht sie auch immer sein mochte – den sozialen Status nicht an einen als arbiträr empfundenen Marktmechanismus koppelte und jedem einzelnen eine horizontale Einordnung ermöglichte. Der Schwarzmarkt kannte solche politisch-sozialen Vorgaben nicht. Hier war die Allokation eine Frage des Preises, war die Entscheidung über Versorgungsniveaus und zum Teil auch das nackte Überleben ein Produkt der individuellen Marktmacht. Allenfalls durch individuelles Geschick konnten auch weniger potente Teilnehmer ihre Ausgangsbedingungen verbessern. Insgesamt aber bevorzugte das freie Spiel der Marktkräfte jene, die über Tauschäquivalente verfügten; sei es, dass sie wegen ihres Berufes Zugang zu Mangelwaren hatten, oder aber über Barvermögen und intakte Haushalte verfügten, aus denen einzelne Gegenstände auf dem Markt »versilbert« werden konnten.133 Der illegale Handel spielte eine wichtige Rolle für das Wirtschaftsleben insgesamt. Im Frühjahr 1948 schätzte die Abteilung Handel und Industrie des Berliner Magistrats, dass ein Drittel des gesamten Warenumschlags in der Stadt auf dem Schwarzmarkt stattfand.134 Neben speziellen Handelssegmenten, wie etwa dem blühenden Kunst- oder auch dem Drogenhandel, war es vor allem der Handel mit Lebensmitteln und dringend benötigten Gebrauchsgütern, der das Bild prägte. Die Versorgungslage hatte sich in den letzten Kriegsmonaten verschlechtert. Dafür waren zwei Gründe ausschlaggebend gewesen: zum einen der Wegfall von Importen aus den besetzten Gebieten und zum anderen die wegen der Kampf handlungen unterbrochenen Transportwege. Zwar setzten die russischen Besatzer sofort nach Kriegsende alles daran, die Versorgung der Berliner Bevölkerung sicher zu stellen. Die russischen Besatzer kümmerten sich um die Seuchenbekämpfung, sorgten für die Säuberung der Straßen und versorgten die notleidende Bevölkerung in der Anfangszeit aus ihren eigenen Armeebeständen. Nach der Einschätzung von Osmar White, einem amerikanischen Kriegsberichterstatter, profitierten sie dabei von den Erfahrungen, die sie mit ihren eigenen zerstörten Städten hatten machen müssen. White kam deshalb zu dem Schluss: »All in all, I believe that the Soviets in those early days did more to keep Berlin alive than the Anglo-Americans could possibly have done«.135 Doch wegen des Ernteeinbruchs im Sommer 1945 verschlechterte sich die Situation schon bald wieder. Vor allem der als »Hungerwinter« bekannt gewor133 Gries, Rationen-Gesellschaft. 134 Die Wirtschaft 3 (1948/4), S. 120. Vgl. Roesler, Black Market, S. 92. 135 White, Conquerors’ Road, S. 126.
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dene Jahreswechsel 1946/47 markierte einen Tiefpunkt. Die ersten Vorboten der kommenden katastrophalen Situation nahm Gerda Pfundt bereits deutlich früher wahr. In einem Brief vom 21. August 1945 schilderte sie ihrem Adressaten die Lage in der Ruinenstadt Berlin: »Die Ernährung ist also zur Zeit das größte und meist besprochene Problem, hinter dem alles andere weit zurücksteht. Keine Zusammenkunft, kein Telefongespräch von Berlinern, in denen nicht vom Essen gesprochen wird«.136 Auf der Ministerpräsidentenkonferenz Anfang Juni 1947 in München hallten die katastrophalen Erfahrungen des Winters noch nach. Berlins Bürgermeisterin Louise Schroeder hielt ein Referat zum Thema Volksgesundheit. Darin forderte sie »eine ausreichende und richtige Ernährung für die Gesamtheit des deutschen Volkes«. Ausdrücklich bezog sie sich auf den »kommenden Winter«. Dabei sei nicht nur die Quantität der Lebensmittel von Bedeutung, sondern auch ihre Qualität. Insgesamt zeichnete Schroeder ein düsteres Bild. Vor allem verwies sie auf die hohe Säuglingssterblichkeit als Indikator der desolaten Lage.137 Die Erfahrung des Elends brannte sich tief in das kollektive Gedächtnis ein. In einem Gedicht erinnerte der 1946/47 42jährige Konrad Born an den »Hungerwinter«. Zugleich formulierte er darin eine typische Schwarzmarktbeschreibung unter den Vorzeichen einer »moral economy« der Tauschzeit: Winternacht schneidende Kälte. Zerbombtes Haus. Im Keller die Tanzbar der Schieber »Mensch, Maxe, jieb noch paar Doppelte aus und komm mit paar Chesterfield rieba!« In der Notwohnung Hochparterre haust eine Frau, krank, einsam, vom Kriegssturm vertrieben. »Wenn mein Werner noch wäre, ja dann wär’t jut; auch Heinz ist im Osten jeblieben!« »Och, Oba, zwölf Alkolat aba fix; det Jeschäft mit’n Sprit kenn wa machen!« Und Gläserklingen, Tellergeklirr Und blechernes Dirnenlachen. Die Wände zerklafft und die Fenster verpappt, keucht ein Mensch in den Klauen der Kälte. War das eben ein heiserer, hungriger Hund, der dort oben so schwindsüchtig bellte? Und als sie den letzten Todesschrei schrie aus den sinkenden, würgenden Schatten:
136 LAB F Rep. 240 Acc. 2651 Nr. 5, Bl. 462/4. 137 Vgl. den Bericht im Telegraf vom 7.6.1947, S. 3.
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»Bella-Bella-Bella-Marie!« grölten unten im Keller die Ratten.138
Die Dichotomie zwischen Elend und Luxus und – damit verbunden – zwischen Unschuld und Schuld war typisch für die problematische Aushandlung der »moral economy« der Berliner Tauschkultur. Sie hob vor allem auf die Unmoral der »Schieber«, ihre Praktiken und ihren Lebenswandel ab, der in starkem Kontrast zum Elend vor allem schwächerer Personen geschildert wurde. In Borns Gedicht verbindet sich zudem das Elend der alten Frau mit den Erfahrungen der Kriegszeit, mit dem Tod »ihrer« Männer, während das Leben der »Schieber« im Keller als gegenwartbezogene Party geschildert wird. Der Krieg und seine Folgen bieten ihnen die besten Voraussetzungen für ein Leben im Luxus. In einer »Morgenglosse« für den Berliner Rundfunk widmete sich der Redakteur Friedrich Flierl im Herbst 1945 einer »Zigarrenvilla des Herrn Direktors«.139 Flierl griff damit einen Prozess gegen Direktoren der größten Zigarettenfabrik der britischen Zone, die August-Blase AG in Lübbecke, auf, von denen einer rund 200 000 »Repräsentations-Zigarren« für seine privaten Zwecke in Anspruch genommen und sich damit den »Tauschstoff für den Baustoff« seiner Villa gesichert hatte. »Etwas von diesen Schieberpraktiken«, hieß es in der Sendung weiter, »haben wir, liebe Hörer, alle schon erfahren. Neben der Zigarrenvilla gibt es sicher so manche Kochtopf- und Käsevilla (…). Wer eben zu den tüchtigen, von Bedenken gegenüber der Allgemeinheit freien ›Persönlichkeiten‹ gehört, der hat auf diesen Gebieten Erfolg«. Wenn Firmeninhaber und Geschäftsführer Tauschhandel als Kompensation bezeichneten, sei das nichts weiter als eine Beschönigung. Denn Kompensation sei in Wahrheit nichts weiter als »Betrug, Schieberei, Wucher und Ausbeutung – und man« solle »sie unverblümt auch so nennen«. Das Resultat solcher Praktiken sei eine »Wirtschaftsanarchie«, die »alle Lasten auf die öffentliche Wirtschaft, das heißt auf die Werktätigen« ablade.140 Dichotomien wie diese wurden zu Kennzeichen der Debatten um eine Moral für den Alltag im Ausnahmezustand. Sie verwiesen auf die Unübersichtlichkeit in einer Gesellschaft, deren moralische Sicherheit ins Wanken geraten war. »Man kann fleißige, arbeitsame Menschen nicht mit notorischen Hamsterern und Schiebern über einen Kamm scheren«, empörte sich »Kleingärtner Seybold« in einer Radiokolumne über die Razzien, bei denen seinen »Kollegen« ihre Siedler-Ernten abgenommen wurden.141 In unzähligen Leserbriefen, Zeitungs- und Radiokolumnen wurden solche Probleme verhandelt. Der »Telegraf« stellte in einem Beitrag aus dem Januar 1947 die Frage »Schwarzhandel 138 139 140 141
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LAB F Rep. 240 Acc. 2651 Zeitgeschichtliche Sammlung Nr. 5, S. 489. DRA, B 204-02-01/0371. Alle Zitate ebd. DRA, B 204-03-02/0163.
aus der Not der Zeit – was ist erlaubt?« Dafür wurden vom Schreiber des Artikels einige Beispiele herangezogen: »Das Mütterchen, das in der Brunnenstraße den alten Zylinderhut des verstorbenen Mannes für 25 oder 30 RM an den Mann zu bringen sucht, um die Zimmermiete bezahlen zu können; der Diabetiker, der sich ein Päckchen Süßstoff für 25 RM kauft; der Transportarbeiter, der seine hungrige Kinderschar nicht satt bekommen kann und beim Bauern einen Rucksack Kartoffeln ›besorgt‹: haben sie sich straf bar gemacht? Viele werden sagen: nein. Und doch ist es so. Daraus zeigt sich, wie tief die Kluft geworden ist zwischen dem, was das Gesetz für straf bar erklärt, und dem, was im Bewusstsein des Volkes kein Unrecht mehr ist.«142 Schilderungen wie diese verdeutlichen, dass – im Gegensatz zur Situation in Borns Gedicht – auch »normale Leute« und die Berliner Unterschichten am Schwarzmarkt teilnahmen. Die Aufteilung in aktive und erfolgreiche Schieber auf der einen und zur Passivität verurteilte Arme und Benachteiligte auf der anderen Seite traf nicht zu. Vielmehr stellten sozial schlecht gestellte Personen einen wichtigen Teilnehmerkreis des illegalen Straßenhandels. Ihre Ausgangspositionen waren erheblich schlechter. Not oder ein etwas aufgebessertes Auskommen bildeten hier in der Regel die Motive für den illegalen Handel, nicht Gewinnaussichten an sich oder die Nachfrage nach Gütern des elastischen Bedarfs.143 Der »Telegraf« sprach in einem Artikel vom 3. September 1948 in diesem Zusammenhang von einem »Schwarzen Markt der Armen«. In einer »grauen Mietskasernenstraße« des Wedding, schilderte der Reporter, habe sich ein eigener kleiner Markt für Angehörige der Unterschicht entwickelt: »Hier, wo Not und Sorge zu Hause sind, ist raunend und wispernd im auf- und abwogenden Korso der Schwarze Markt der Armen entstanden. Unentwegt fluktuiert ein steter Strom von Menschen die Straße hinauf, die Straße herunter (…). Eine schwangere Frau, ein kleines, halbnacktes Kind auf dem Arm, zwei magere Geschöpfchen an den Rock gepresst, murmelt mit monotoner Inständigkeit ›Milchpulver, neun D-Mark!‹ Aber niemand kauft es. Sie haben hier alle Kinder und verkaufen selber Milchpulver. (…) Viele alte Leute gehen mit ihrem letzten Brot von der dritten Dekade: 6 D-Mark bringen bei Rubelmaxe am Lausepark 20 Ostmark – das ist die Miete für die kleine Stube. (…) Ein junger Mensch auf Krücken, ein Brot im Jacket humpelt auf und ab. ›Ich hab’ aber bloß n’ Koppkissen für‹, flüstert eine Frau. ›Bargeld lacht‹, sagt der Mann. Niemand will das Kopf kissen. Die Frau weint. Sie hat seit Tagen kein Brot«.144 Solche kleinen, häufig an Straßenecken, auf Plätzen und in der Nähe von Bahnhöfen jenseits der großen Handelszentren stattfindenden Stadtteilmärkte 142 Ausgabe vom 5.1.1947, S. 8. 143 Zu den katastrophalen Lebensumständen, vor allem was die Ernährung und die medizinische Versorgung betraf, vgl. Dinter. 144 Der Telegraf, Ausgabe vom 3.9.1948, Der Schwarze Markt der Armen, S. 4.
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blieben bis 1952 ein im Stadtbild sichtbares Phänomen. Bei Aktionen der Polizei, die diese Märkte eindämmen sollten, kam es immer wieder auch zu Gewalttätigkeiten. So berichtete der »Telegraf« im Mai 1947 von einem Vorfall am Rosenthaler Platz im Bezirk Mitte. Dabei habe ein Polizist seine Waffe gezogen, die Schwarzhändlermenge damit bedroht und einen jungen Mann »mit dem Pistolenknauf auf den Kopf geschlagen (…), so dass dieser blutüberströmt zusammengebrochen« sei. Die Pressestelle der Polizei teilte der Redaktion auf Anfrage mit, eine »zusammengerottete Menschenmenge« habe den Beamten mit Steinwürfen angegriffen. Erst darauf hin habe dieser die Pistole gezogen.145 Der Ort des Geschehens, die Gegend um den Rosenthaler Platz, gehörte zu den traditionellen Konflikträumen der Berliner Straßenpolitik. Diese Konflikträume deckten sich weitgehend mit der sozialräumlichen Verteilung im Stadtbild.146 Eine Annäherung an das Sozialprofil der Teilnehmer auf diesen Märkten ermöglichen die Akten der Abteilung 95 des Berliner Kammergerichts.147 Bei den hier im Schnellverfahren verhandelten Vergehen gegen die Verbrauchsregelungsstrafverordnung und die Berliner Marktordnung handelte es sich zum überwiegenden Teil um Fälle, in denen auf der Straße verhaftete Schwarzhändler ohne umfangreiche Ermittlungen zu geringeren Strafen verurteilt wurden. Eine räumliche Zuordnung ist nicht immer möglich. Den Großteil bildeten Verhaftungen, die auf kleineren Plätzen im Norden und Osten sowie in der Stadtmitte und dem Handelgebiet um das Schlesische Tor in Kreuzberg vorgenommen worden waren. In einigen Fällen tauchen auch am Alexanderplatz oder in westlichen Stadtteilen Verhaftete auf. Dass die einzelnen illegalen Marktgebiete langfristig etablierte soziale Unterschiede im Stadtraum abbildeten, fiel auch Beobachtern der Besatzungsmächte auf. In ihrem »Black Market & Price Control«-Bericht vom April 1949 hielten die britischen Mitarbeiter des »Enforcement Department« unter dem Punkt »Details of Black Market« fest: »In the richer districts the offer of all kinds of preserves has greatly increased, especially salmon in oil, sardines, etc.«148 Der Schwarzmarkt schrieb damit einerseits die Geschichte von Mustern sozialer Ungleichheit im Stadtbild fort. Doch wurde im Rückgriff auf den scheinbar regellosen und wilden Handel auch eine Verelendungsgeschichte erzählbar. Einen für jene weniger privilegierten Schwarzhandelskreise typischen Fall bildete die Verhaftung des 50jährigen Arbeitslosen Werner Grothge. Wie in solchen Fällen üblich, konnte der anzeigende Polizeibeamte in den Unterlagen vermerken, dass eine Spurensuche »nicht erforderlich« sei. Denn Grothge, 145 Ausgabe vom 1.5.1947, S. 6. Ein Zusammenhang mit Maifeierlichkeiten wurde hier nicht hergestellt. 146 Vgl. Lindenberger, Straßenpolitik, S. 114f. 147 Bei diesem Bestand des LAB handelt es sich um einige hundert noch nicht verzeichnete, unsortiert in Kartons aufgehobene Akten. 148 PRO FO 1012/177, Economics – Black Market, Bl. 36.
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der in Reinickendorf lebte, wurde, wie Polizeianwärter Wernicke zu Protokoll gab, »am 9.4.49 gegen 12 Uhr 30 in der Invalidenstr. (Schwarzhandelsgebiet) beim Anbieten von Schokolade, das Stk. zu 20 DM, von mir angetroffen«. Im Schlussbericht hieß es: »Der Grothge wurde im Bereich des Schwarzmarktgebietes (…) dabei betroffen, als er mit 2 Tafeln Schokolade in der Hand dastand«. Wie viele andere Teilnehmer, die zu dem Kreis von Händlern gehörten, die offensichtlich aus Not tauschten, war Grothge für das 17. Polizeirevier, in dessen Bezirk er verhaftet worden war, kein Unbekannter: »Grothge wurde auf Grund des Schwarzhandels dem 17.Pol.-Revier bereits 7 mal vorgeführt«, hielt Wernicke fest.149 Solche »kleinen« Wiederholungstäter wurden zunächst von der Polizei mündlich auf ihr Fehlverhalten hingewiesen: »Obgleich der G. (…) ernstlich verwarnt wurde, setzt derselbe den verbotenen Handel mit bezugsbeschränkten Waren auf dem schwarzen Markt fort, ohne die Verwarnungen der Polizei zu beachten. Aus diesem Grund ist es angebracht, dass der G. endlich einmal dem Schnellrichter vorgeführt wird«. Grothge wurde darauf hin der Kriminalinspektion 5 »zur weiteren Veranlassung überstellt« und schließlich am 11. April 1949 und damit ganze zwei Tage nach seiner Festnahme, vom Schnellgericht zu sechs Monaten Gefängnishaft verurteilt. Dass er zu seiner Verteidigung darauf hinwies, er sei arbeitslos und befinde sich daher in einer Notlage, machte auf den Vorsitzenden Richter keinen Eindruck. In der Urteilsbegründung verwies dieser auf Grothges einschlägige Vorstrafen, enthielt sich aber einer moralischen Bewertung, wie sie der abschließende Polizeibericht vornahm. Dieser schilderte den Beschuldigten als eine derjenigen Personen, »die nur vom Schwarzhandel leben«.150 Der Blick auf einen Einzelfall könnte das Bild verzerren. Ex post ist nicht zu rekonstruieren, ob Grothge tatsächlich aus Not handelte, oder ob er sich einfach auf leichte Art und Weise etwas dazu verdienen wollte. Schärfer wird das Bild, wenn man seinen Fall vor dem Hintergrund einer Sample-Analyse von Fällen vor dem Berliner Kammergericht sieht. Die Auswertung der Personenangaben von 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die vom Schnellgericht verurteilt wurden, belegt die soziale Schieflage auf den Märkten. Dieser Markt der Ärmeren hielt sich lange. Noch für die Jahre 1949 bis 1952 lassen sich entsprechende Zahlen festhalten (vgl. Diagramm 8). Vergleicht man diese Auswertung mit den Zahlen der Angeklagten vor dem Berliner Sondergericht während des Krieges (vgl. oben Kap. II.2.3) fallen gleich mehrere Unterschiede ins Auge. Da ist zunächst der verhältnismäßig geringe Anteil von Selbständigen. Das lag vor allem an der neuen Verfolgungspraxis, die dieser Aktenbestand abbildet. Bei den Razzien und Einzelkrontrollen in den bekannten »Schwarzhandelgebieten« stieß die Polizei naturgemäß 149 LAB [o. Rep.] 95 Ds 414/49, Bl. 1–3. 150 Ebd., Bl. 11.
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Diagramm 8: Sozialprofil männlicher Verurteilter / Kammergericht 1949–1952 (Quelle: eigene Auswertung)
auf eine andere Klientel als bei der Beobachtung des Lokalhandels. Schließlich waren hier – neben den Gästen – regelmäßig auch die Betreiber von Kneipen, Cafés und Restaurants verhaftet worden. Entsprechend verschoben sich die Gewichte, stieg der Anteil von unteren Angestellten und Arbeitern. Der Arbeiteranteil bildete mit 29% ziemlich genau jenen Anteil der beiden ersten Verbrauchergruppen (Schwerarbeiter und Arbeiter) ab, der 1947 den Berliner Durchschnitt bildete.151 Doch hatte die Verschiebung unabhängig davon, dass Arbeiter ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend repräsentativ vertreten waren, eindeutig eine soziale Ursache. Denn was aus der bloßen Nennung der Berufe beim Verhör nicht hervorging: etwas mehr als die Hälfte aller männlichen Verurteilten hatte zwar einen Beruf angegeben, war aber zum Zeitpunkt der Festnahme erwerbslos. Der Anteil der erwerbslosen Personen lag damit deutlich über dem Anteil an der Gesamtbevölkerung, der 1945 bei den Män151 Zahlen zeigen Zeitgeschehen, S. 29. Das widerspricht nicht Niethammers Beobachtung, dass die Industriearbeiter des Ruhrgebiets wegen ihrer Zulagen eine vergleichsweise gute Position auf dem Schwarzmarkt hatten. Vor allem lag hier der Anteil der Schwerarbeiter deutlich höher als in Berlin, wo er bei durchschnittlich 3% lag. Vgl. Niethammer, S. 94.
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nern 14,1% betragen hatte.152 Erwerbslosigkeit war damit jenseits der Berufszugehörigkeit das bestimmende Merkmal des Sozialprofils der Verurteilten im Straßenhandel. Erwerbslosigkeit bedeutete, dass man in die niedrigste Kartenkategorie V (»Sonstige«) eingestuft wurde. Für eine Höherstufung musste man einen Arbeitsnachweis vorlegen. Dass kein einziger Angehöriger der Oberschicht auf einem dieser öffentlichen Schwarzmarktplätze aufgegriffen wurde, dürfte sowohl mit einer – bei aller Egalisierung durch das allgemeine Chaos – besseren ökonomischen Ausgangslage zusammenhängen als auch mit jener sozialräumlichen Stadtaufteilung, die »bürgerliche« Stadtbewohner davon abhielt, die »Märkte der Armen« in den einschlägigen Bezirken aufzusuchen.
Diagramm 9: Sozialprofil weiblicher Verurteilter / Kammergericht 1949–1952 (Quelle: eigene Auswertung)
Erwerbslosigkeit als wichtiges Merkmal des Sozialprofils spielte auch bei den weiblichen Verurteilten eine Rolle. Dramatisch war die Verschiebung bei den unteren Angestellten. Hatten sie während des Krieges 43% aller Angeklagten vor dem Sondergericht gestellt, schrumpfte dieser Anteil auf den Armenmärkten auf gerade einmal 10%. Die Gruppe, die im Gegenzug den größten Zuwachs zu verzeichnen hatte, waren diejenigen Frauen, die nicht als erwerbslos, sondern als »ohne Arbeit« registriert wurden. Die mit Abstand größte weibliche Gruppe auf dem »Markt der Armen« bildeten damit Frauen, die entweder als Familienangehörige in Abhängigkeit vom Einkommen ihres Mannes oder als 152 Statistisches Landesamt der Stadt Berlin, S. 13.
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Witwen lebten. Auch sie fielen, da sie keinen Arbeitsnachweis vorlegen konnten, in die schlechteste Verbraucherkategorie. Zu dieser Gruppe dürfte eine ganze Reihe von Frauen gehört haben, die im Zuge der Wiedereingliederung der Männer in die zivile Arbeitswelt aus ihren im Krieg besetzten Stellen vertrieben worden waren.153 Auch dafür spricht der Rückgang der unteren Angestelltenverhältnisse, waren Frauen zuvor doch gerade in solche Beschäftigungsverhältnisse gerückt. Der Anteil derjenigen Frauen, die aus der Unterschicht stammten, lag noch einmal höher als bei den Männern, er betrug 67%.154 Dass es sich bei den vor dem Schnellgericht verhandelten Fällen vor allem um einen Unterschichten-Markt handelte, verdeutlicht auch ein Blick auf die hier gehandelten Waren. In 41% Prozent spielten Lebensmittel, in knapp 10% Bekleidung die wichtigste Rolle. 7,5% machte der Handel mit Sonstigem aus, worunter vor allem Brennstoffe fielen. Ein relativ großer Anteil entfiel zudem auf Tabakwaren (29%) und Devisen (10,5%). Während Tabak und Zigaretten vor allem als Währung zum Weitertauschen Verwendung fanden, spielte bei den Devisengeschäften die Situation einer doppelten Berliner Währung die Hauptrolle. Waren alle diese Warengruppen auch auf den anderen Märkten häufig anzutreffen, so fällt hier besonders das Fehlen eines breiteren Schmucksortiments ins Auge. Nur in 2,5% aller Fälle tauchten Schmuckwaren als Tauschgegenstände auf. Das ist ein weitere Beleg dafür, dass es sich um eine Unterschichten-Markt handelte, dessen Teilnehmerinnen und Teilnehmer kaum über die andernorts besonders begehrten Äquivalente verfügten.
4 Schwarzmarktwaren der Nachkriegszeit Eine quantitative Analyse der Warenströme auf dem Schwarzmarkt der Nachkriegszeit ist nicht möglich. Dafür fehlt eine verlässliche, alle Bereiche des illegalen Gewerbes abdeckende Quellengrundlage, die ein repräsentatives Bild liefern könnte. Zeitgenössische Schätzungen gingen davon aus, dass zeitweilig mindestens ein Drittel, bei einigen Warengruppen sogar 50% des gesamten Berliner Warenumschlags auf dem Schwarzmarkt abgewickelt wurde. Als Indikatoren nutzten diese Angaben Rückgänge bei der städtischen Einkommens- und der Körperschaftssteuer (–27%/–21%) bei einem gleichzeitigen Anstieg der Lohnund Umsatzsteuern (jeweils +18%) im ersten Steuerhalbjahr 1947/48. Damit waren aber lediglich Hinweise gegeben, die in Berlin produzierte Waren und bereit 153 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 756. 154 Vgl. zur »verordneten Unterordnung« westdeutscher Frauen in der Arbeitsgesellschaft Ruhl sowie Pfaff und für West-Berlin Hinze.
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gestellte Dienstleistungen in Rechnung stellten.155 Gleichwohl vermitteln diese Schätzungen einen Eindruck von der großen Bedeutung des illegalen Handels für die Berliner Nachkriegswirtschaft. Entsprechend diversifiziert war das auf den Märkten angebotene Sortiment. Zeittypische Mangelwaren wurden hier ebenso gehandelt wie traditionelle Halbweltutensilien. So tauchten neben Lebensmitteln auch Waffen oder Drogen regelmäßig auf den Märkten auf. Haushaltsgegenstände, Bücher oder Hitlerbilder konnten zusammen mit gefälschten Dokumenten auf dem gleichen Marktplatz angeboten werden.156 Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass sich im Laufe der Zeit eine räumliche Zuordnung mit festen Sortimentstrukturen herausbildete. Das lassen Schilderungen erahnen, die immer wieder bestimmte Warengruppen den gleichen Marktplätzen zuwiesen, etwa Uhren und Schmuck den zentralen Plätzen (mit den Besatzungssoldaten als Abnehmern) oder Lebensmittel dem Markt in der Brunnenstraße.157 Alles in allem aber blieb der illegale Handel verglichen mit legalen Konsumräumen eine relativ unübersichtliche Institution. Diese Unübersichtlichkeit wurde auch dadurch befördert, dass Berlin mit dem Kriegsende in ein erweitertes Netz internationaler inoffizieller Handelsbeziehungen eingebunden wurde. Denn neben den in Berlin erzeugten Produkten und Dienstleistungen lebte der Markt zu einem großen Teil von transregionalen und -nationalen Zulieferungen, die Berlin zu einem Drehkreuz des internationalen Handels nach 1945 werden ließen.
4.1 Internationale Warenströme Nach dem Ende des Krieges erlebte der Schwarzmarkt eine Ausweitung seines Warensortiments. Neben den Waren, die zur Kriegszeit den Hauptbestandteil ausgemacht hatten, wie Grundnahrungsmittel, Bekleidung oder Zigaretten, fanden die Beamten der Berliner Polizei und die Mitarbeiter der alliierten Stellen bei ihren Konfiszierungen immer häufiger neue, zum Teil recht exotisch anmutende Sortimente. Dazu konnten Baumaterialien, Drogen oder sowjetische Kraftfahrzeuge gehören.158 Das war, was die Bauwirtschaft betraf, nicht weiter verwunderlich. Der Chefredakteur der »Neuen Bauwelt«, Rudolf Weilbier, meinte, dass »das solide Fundament des Bauens (…) der Schwarze Markt« sei, ohne ihn würde bei den umfangreichen Wiederauf bauarbeiten »nichts gelingen«. »Gegenstand« dieses »schwarzen Bauens«, so erläuterte ein Artikel im 155 »Die Wirtschaft«, Jg. 1948/4, S. 53. 156 Vgl. LAB F Rep. 240 Acc 2651 Nr. 3, Bl. 237. 157 Scholze, Ernährungssituation, S. 522, hat darauf hingewiesen, dass »in einer Charlottenburger Straße (…) nur mit dem Eigelbpulver, das auf Kinderkarten bezogen werden konnte, gehandelt oder getauscht (wurde)«. 158 Vgl. PRO FO 1012/175 Economics/Black Market, Bl. 20 u. 67.
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»Telegraf«, seien allerdings »meist das sogenannte Einfamilienhaus, die Villa, das Antiquitätengeschäft, der Modesalon, das Restaurant, der Barbetrieb und die Schieberwohnung«.159 Bei einigen Spezialgeschäften ließen sich schon mit relativ geringen Warenmengen erhebliche Gewinne erzielen. So hätten die 10,8 kg Opium, die bei einer Frau in der Varnhagenstraße sichergestellt werden konnten, bei einer erfolgreichen Transaktion jedes weitere Engagement auf dem Schwarzmarkt erübrigen können.160 Der »Spiegel« berichtete im Januar 1947 von »phantastischen Gewinnmöglichkeiten« in einem anderen Marktsegment, dem »Brillantenhandel mit Berlin«: »Dort wurden Spitzenpreise von 50 000 Mark für ein Karat lupenrein gezahlt, fast der hundertfache Friedenswert. Zur selben Zeit war in Westdeutschland ein Karat für 15 000 zu haben und in Hamburg für 22 000. Die Berliner Auf käufer (…) sollen ihre Ware direkt ›nach Osten‹ geliefert haben. (›Hinter Warschau verliert sich jede Spur‹, schreibt New York Herald Tribune dazu)«.161 Diese Entwicklung war zu einem guten Teil das Ergebnis einer Internationalisierung des Handels, die durch Angehörige der Besatzungsarmeen und andere Teilnehmer mit Auslandskontakten vorangetrieben wurde, zu denen auch ehemalige Kriegsgefangene und »Fremd-« oder »Zwangsarbeiter« gehörten. Die bereits zuvor europaweit fließenden Warenströme erfuhren eine Ausweitung, wurden aber von neuen Akteuren kontrolliert und kehrten damit zu einem guten Teil ihre Richtung um. Der zum Standardrepertoire der britischen »Black Market & Price Control«-Berichte gehörende Abschnitt »Main Source of Black Market Traffic« listete im August 1948 diverse Quellen für Schwarzhandelsgüter auf: »Food from Russian and British zones. Food arriving by airlift at Gatow. Fruit, vegetables and potatoes from the Russian and Western zones. Gift parcels from Switzerland, Denmark, Sweden, Holland and America, containing also textiles and shoes. English, American and Russian cigarettes«.162 Auch Berliner nutzten Auslandskontakte, besorgten ausländische Ware und tauschten oder verkauften sie auf dem lokalen Markt. Der einfachste Weg, an Waren zu kommen, war der Postversand. Als besonders trickreich erwiesen sich dabei Teilnehmer, für die der illegale Handel nur eine Verlagerung ihres Geschäftes bedeutete, weil sie auch im normalen Beruf als Geschäftsleute tätig gewesen waren. So spürten britische Ermittler die Schwarzhändlerin Gertrud Gräber auf, die allerdings nicht auf eigene Faust in das illegale Geschäft eingestiegen war, sondern im Auftrag agierte. Regelmäßig erhielt Gräber Pakete von einem Absender aus der Pearl Street in New York. Dabei handelte es sich um einen Bekannten namens Münzer, der sie dazu anhielt, die Waren159 160 161 162
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Telegraf, 23.1.1948, S. 3. Die »schwarze« Bauwirtschaft. Vgl. den Bericht ebd., 25.2.1948, S. 6. Schwarzhandelsware Opium. Ausgabe vom 4.1.1947, S. 15. Ebd., Bl. 114.
sendungen auf dem Schwarzmarkt für 4 000 Mark pro Paket zu veräußern und die Einnahmen auf eines seiner Konten einzuzahlen. Der Mann hatte Pläne. Er hoffte, mit diesen Einnahmen die Wiedereröffnung seines Berliner Geschäfts finanzieren zu können. Daraus wurde nichts. Die Briten informierten sowohl das Public Safety Department der amerikanischen Militärverwaltung als auch das zuständige Postamt. Münzers ganz eigene Form der Wiederauf baufinanzierung war damit gestoppt.163 Dieses Beispiel für die Warenbeschaffung per Post war kein Einzelfall. Die der sowjetischen Militärregierung nahe stehende »Tribüne« schilderte den Fall eines Anwalts, der »als aktiver Nazi« seinen Beruf nicht ausüben konnte, dabei aber immer noch über Kontakte zu seinen zahlungsfähigen Klienten verfügte. Diese versorgte er per Post mit Schwarzmarktwaren. Dadurch, versicherte der juristisch vorgebildete Schwarzhändler, habe er mittlerweile weitaus mehr verdient, als in seiner ehedem gut laufenden Anwaltspraxis.164 Immer wieder entdeckten die mit der Schwarzmarktbekämpfung befassten Stellen transnationale Versorgungsströme, die auf ähnliche Weise von deutschen Teilnehmern organisiert wurden.165 Das Gros des internationalen Handels wurde aber nicht von deutschen Teilnehmern abgewickelt. Am illegalen Gewerbe wollten offensichtlich Angehörige aller in Berlin vertretenen Nationen verdienen, sehr zum Ärger der britischen Ermittler, die am 29. September 1948 festhielten: »The black market has shown an increase again in this month. It is flooded with Allied property which include cigarettes, tobacco, coffee and all classes of Allied foodstuffs. This is put down to the Airlift pilots who are bringing the goods into Berlin and selling them on the black market to obtain Marks to enable them to have a night out in Berlin«.166 Auch die Beschreibungen der Hauptumschlagplätze im britischen Sektor lesen sich wie Berichte von einer internationalen Börse: »The main three (black market centres) appear to be Bahnhof Charlottenburg, Bahnhof Zoo and Schlüterstraße. (…) At Schlüterstraße the crowd consists mostly of Polish, Allied and German nationals, while at Bahnhof Charlottenburg Polish, Yugoslav, Bulgarian and other foreigners predominate«.167 Der Berliner Schwarzmarkt war über die ausländischen Akteure und die von ihnen miteingeführten Währungen in ein internationales Handelgeschehen eingebunden. Insbesondere die als besonders umtriebig geschilderten Displaced Persons hatten die britischen Stellen im Verdacht, sich Verbindungen über die Landesgrenzen hinweg zu nutze zu machen. Im gleichen Bericht hieß es weiter: »The price reduction on the black market is partly due to the steady reduction of the exchange rate of the dollar which results from the fact that 163 164 165 166 167
Ebd., Bl. 15. Tribüne, 10.11.1947, S. 12. Schwarzhandel per Post. Vgl. z.B. ebd., 177, Bl. 21 das Beispiel für entsprechende Sendungen aus Schweden. Ebd., 175, Bl. 119. Ebd.
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larger amounts are brought to Berlin illegaly from the Western zones where foreign exchange is cheaper. After the removal of the DP’s, a profitable business has opened up for Displaces Persons travelling to and fro (sic). The margin of profit, however, has decreased since the exchange rates of the dollar in Berlin and in West-Germany are by and by assimilating. Accordingly also the price of gold dropped, which is dependent on the dollar exchange rate. At present it is 0.68 dollar for 1 gram of 5.85 carat gold. On Kurfürstendamm corner Schlüterstraße there is the new black stock exchange where hundreds of DP’s meet daily in order to inform themselves about the latest development«.168 Diese Beobachtungen passten ins Weltbild so manchen Beobachters. Die reaktionäre »National-Zeitung« machte in ihrer Ausgabe vom 26.August 1948 unter der Überschrift »Luftbrücke versorgt die Schwarzhändler. DP’s meinen: ›In Berlin ist immer am meisten zu verdienen‹« Stimmung gegen »westalliierte Hintermänner des Schwarzmarktes«. Hier erschienen einerseits französische und vor allem amerikanische Quellen, die den Markt förmlich »überschwemmten«, andererseits die laxen Bekämpfungsbemühungen der West-Berliner Polizei als Hauptursachen für das Auf blühen des Handels in der Stadt. Die Bekämpfung des zum Teil professionell organisierten Handels glich einer Sisyphusarbeit. Dem »Treiben« konnten auch die gut ausgestatteten britischen Stellen wegen der Ressourcen, die eine erfolgreiche Strafverfolgung gebunden hätte, nur einigermaßen hilflos zusehen. Die Kräfte wurden gebündelt und vor allem dann mobilisiert, wenn es sich um Fälle handelte, an denen ein besonderes Interesse bestand. Im November 1948 stießen Angehörige des CID und Beamte der Berliner Polizei bei einer routinemäßigen Razzia rund um den Kurfürstendamm auf mehrere Schwarzhändler, deren Sortiment vor allem aus Schokolade bestand.169 Das Augenmerk der britischen Ermittler richtete sich vor allem auf Tafeln der Marke »Cadbury«, lag es doch nahe, englische Quellen hinter diesem Warenangebot zu vermuten. Durch die ersten Festnahmen und Konfiszierungen auf die Spur gebracht, machten sich die Ermittler an die Arbeit, um detailliertere Informationen über die Beteiligten und die Herkunft der Ware in Erfahrung zu bringen. Dieses Mal ging der Razzia eine zweitägige Beobachtung der Szenerie auf dem Kurfürstendamm voraus. Am 11. Dezember schlugen die Beamten erneut zu. Sie konnten ihre Aktion als »very successful« verbuchen. Es erfolgten 16 Festnahmen, bei denen in 13 Fällen »Cadbury«Tafeln in kleiner Stückzahl sichergestellt werden konnten. Den eigentlichen Erfolg brachte aber die Festnahme von zwei »small distributers«, die dabei er168 Ebd. 169 Zum Folgenden PRO FO 1012/176, Bl. 162ff. Für das Auftauchen von (gefälschten) Markenwaren interessierten sich auch die Hersteller. In einem Schreiben vom 9. September 1949 wandte sich »Cadbury Brothers Ltd.« an die britische Militärverwaltung in Berlin. Darin brachte die Firma ihr Interesse an einer intensivierten Strafverfolgung zum Ausdruck: »We are most anxious that the sale of this chocolate shall be stopped«. PRO 1012/177 Bl. 82.
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wischt wurden, wie sie ihre Lieferungen an einzelne Straßenhändler verteilten. Der eine der beiden erledigte diese Aufgabe zwar per Fahrrad, konnte aber an der Flucht gehindert werden. Damit war nach dem ersten Schlag gegen die zufällig ins Netz der Ermittler gegangenen Straßenhändler ein zweites Glied in einer – wie sich herausstellen sollte – längeren Kette von Zwischenhändlern ausgemacht. Sie versuchten nicht nur, sich ihrer Festnahme zu entziehen, sondern bewarfen die Beamten auch mit Steinen. Die Gewalttätigkeit der Händler legte den Verdacht nahe, dass es sich bei den Festgenommenen nicht um kleine Makler des Berliner Schwarzhandels handelte. Was folgte war klassische kriminalpolizeiliche Ermittlungstätigkeit: »All the arrested persons were closely and continuously interrogated with a view to ascertaining the main sources of supply«. Die Ergebnisse dieser Befragungen bildeten 30 Hausdurchsuchungen bei verdächtigen Personen. Den größten und dabei immer noch bescheidenen Fund ergab eine Durchsuchung in Wilmersdorf, bei der 142 Schokoladentafeln der Marke »Cadbury« gefunden wurden. Insgesamt stellten die Ermittler 432 Tafeln unterschiedlicher Sorten und 8800 amerikanische Zigaretten sicher. Doch die Frage, woher die Waren eigentlich kamen, war damit noch nicht beantwortet. Im Laufe der Ermittlungen schälte sich allmählich ein klareres Bild sowohl der beteiligten Personen als auch der Warenströme heraus. Die britischen und tschechischen Schokoladenprodukte stammten sowohl aus der amerikanischen Besatzungszone als auch aus der Schweiz. Per LKW durch die sowjetische Besatzungszone nach Berlin-Pankow gebracht, wurden größere Kontingente hier zwischengelagert, ehe sie in kleineren Einheiten und zum Teil unter Mitwirkung von Angehörigen osteuropäischer Botschaften in die Westsektoren überführt werden konnten. Die einzelnen Straßenhändler auf den Kurfürstendamm in Charlottenburg bildeten damit nur die letzten Glieder in einer aus mindestens vier Zwischenhändlern bestehenden Kette. Der ganze Ablauf des Schokoladenhandels erinnerte die Mitarbeiter des CID und der Berliner Polizei an bekannte Phänomene der organisierten Kriminalität. Dazu gehörten das umfangreiche Verteilernetz, der transnationale Aufbau, die Gegenwehr, welche die Händler geleistet hatten, und die Tatsache, dass bei den einzelnen Umschlaggeschäften – bis auf den Straßenverkauf – die Provisionen in »cash« bezahlt wurden. Die auffälligsten Merkmale, die für eine Praxis organisierter Kriminalität sprachen, waren allerdings die Geheimhaltungstechniken. Die einzelnen kleineren Händler handelten unabhängig voneinander, wussten nichts über ihre »Kollegen« und kannten auch ihre Kontaktpersonen nur unter Decknamen: »Almost invariably the names and adresses of the blackmarketeers are not known to one another, and they carry out blackmarket business through pre-arranged meeting places or by nick-names«.170 170 Ebd., Bl. 161.
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Karte 4: Transnationale Warenströme und lokale Verteilung (Quelle: PRO FO 1012/176, Bl. 162ff.; Karten nach http://www.ieg-maps. uni-mainz.de/mapsp/mapp947Zonen.htm)
Diese professionellen Absicherungstechniken erleichterten hochgradig organisierten Teilnehmergruppen die erfolgreiche Marktteilnahme, indem sie Vertrauensleistungen und das Risiko auf ein notwendiges Minimum reduzierten. Solche Strukturen eröffneten Sanktionsmöglichkeiten, weil sie sich zum Beispiel auf eine große Zahl von Endverteilern stützen konnten. Verhielt sich einer der »small distributers« illoyal, konnte er leicht durch einen anderen ersetzt werden. Das Wissen darum sorgte bei den einzelnen Zwischenhändlern – genau wie die Einbindung in ein Netzwerk organisierter Kriminalität insgesamt – für Gefügigkeit. Der Organisationsgrad erlaubte zudem eine langfristige Handelspraxis mit festen (Groß-) Kundenbeziehungen. Das Sanktionsmittel des Geschäftsabbruchs konnte damit eingesetzt, angedroht oder als mögliche Drohkulisse in Rechnung gestellt werden. Geschäftspartner mussten diese Option einkalkulieren. Das war ein großer Vorteil. Denn dadurch wurde es zum Beispiel möglich, Ware minderer Qualität, Fälschungen oder Streckungen zu »reklamieren«. Gelegenheitshändlern, die nur hin und wieder und mit wechselnden Partnern tauschten, war dieser Weg verbaut. Schwarzmarktgeschäf274
te waren hier in ungleich höherem Maße eine heikle Vertrauensfrage, deren Beantwortung immer wieder auch darüber entschied, welche Einstellung die Akteure in Zukunft sowohl zu einzelnen Personen als auch zu den gehandelten Waren haben konnten.
Lager
Karte 5: Transnationale Warenströme und lokale Verteilung (Berlin) (Quelle: PRO FO 1012/176, Bl. 162ff.; Karten nach http://www.ieg-maps. uni-mainz.de/mapsp/mappBerlin945_1.9.htm)
4.2 Bedeutende Sachen: Schwarzmarktwaren als Vertrauensmedien Der Schwarzmarkt war das Ergebnis eines Umlenkungsvorgangs. Er entzog eine wachsende Menge von Gütern der regulären Verteilung. Wegen der unzureichenden Versorgung versuchten große Teile der Berliner Bevölkerung, lebensnotwendige Produkte im illegalen Handel zu erwerben. Schwarzmarktwaren aber waren in den Augen der meisten Zeitgenossen vor allem Waren am falschen Ort und zum falschen Preis. Ihnen haftet immer der zwiespältige Charakter des zugleich ersehnten wie anrüchigen Produkts an. Die Erfahrung des Mangels beförderte eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Waren eines neu definierten elastischen wie starren Bedarfs, die eine vorher weniger markante Grenzlinie zog. Auch Waren, die zuvor zwar zu den Dingen gehört hatten, die man sich nur gelegentlich »leistete«, die aber trotzdem Bestandteile des gängigen Einkaufssortiments gewesen waren, fielen nun unter die Kategorie »Luxus«. Einerseits bestand eine große Sehnsucht nach solchen Luxuswaren. Karl Deutmann bemerkte: »Es ist ein Rausch über die Menschen gekommen, zu tauschen, zu handeln, etwas lang entbehrtes Schönes wieder einmal zu genießen; es zu besitzen um jeden Preis. Man trennt sich von Kostbarkeiten, um 275
einmal wieder Speck zu essen, eine gute Zigarette zu rauchen, sich einmal wieder mit guter Seife zu waschen, ein Stückchen Schokolade zu essen«.171 Der Kontakt mit solchen Luxuswaren wurde regelmäßig als Überwältigungserfahrung geschildert. Eine Teilnehmerin erinnerte sich daran, wie sie an einem ihr zufällig begegnenden Passanten zuerst die von ihm in einem Rucksack mitgeführten Brote wahrnahm: »Ein merkwürdiger, nicht sofort analysierbarer Duft stieg mir plötzlich in die Nase. Ich schnupperte die ungewöhnlich würzige Luft dicht neben mir, sie war als Gegensatz zum muffigen Lumpendeckenmief der Kleidung, die die meisten damals trugen, angenehm – mh ! – einfach berauschend«.172 Solche Luxusbeschreibungen stellten häufig sowohl zwei Warengruppen als auch zwei Zeit- und Wertbezüge gegeneinander. Der Luxus lebte aus dieser Perspektive vom Bestand. Wer einen Schrank, seine Bibliothek oder ein Bild für Lebensmittel (und mochten sie noch so berauschend sein) hergab, der »verscherbelte« soliden Besitz für etwas Flüchtiges, tauschte ein Stück bekannter und vielleicht Sicherheit vermittelnder Vergangenheit gegen das »tägliche Brot« und damit einen sehr knappen Zukunftsraum von vielleicht 24 Stunden. Diese Ambivalenz von »rauschhaftem« Glück für den Moment und dem Wegtauschen von Sicherheiten war ein großes Problem. Wie problematisch diese Situation war, kann man daran ersehen, dass sich die ganze Enttäuschung und Verbitterung über den ungleichen Tausch Bahn brach, wenn der Handel sich offensichtlich als »faul« heraus stellte. Denn einerseits verknüpften sich zwar sehnsuchtsvolle und beglückende Erlebnisse mit den Tauschwaren. Andererseits aber wurden sie, selbst wenn man sie in Besitz nehmen konnte, immer wieder auch zu Gegenständen von Enttäuschungserfahrungen. Fälschungen und Streckungen waren an der Tagesordnung.173 Das Vertrauen in die Qualität von Produkten war schon im Krieg auf die Probe gestellt worden. Ersatzstoffe hatten gewohnte Qualitätsprodukte abgelöst. Damit wurde eine Erfolgsgeschichte unterbrochen. Denn in einem langfristigen Prozess war der modernen Produktvermarktung, war der professionellen Darstellung realer und zugeschriebener Produkteigenschaften seit dem 19. Jahrhundert eine immer wichtigere Rolle zugekommen. Als besonders wettbewerbsfähig erwiesen sich Marken, denen Konsumenten Vertrauen entgegen bringen konnten, weil sie für eine gleichbleibend hohe Qualität standen. Markenprodukte waren Sicherheitsprodukte, die eine unverwechselbare Produktphysiognomie mit immer und überall gleichbleibenden Eigenschaften verbanden. Preis, Aufmachung, Qualität und Mengeneinheiten bildeten kons171 DMH, Tagebuch Deutmann, Eintrag vom 5.8.1945. 172 LAB F Rep. 240 Acc. 2651 Nr. 2., S. 111/2. 173 Vgl. als Beispiel für professionelle Fälschungstechniken (mit Fotografien der Werkzeuge und der gefälschten Lebensmittelmarken) LAB A Rep. 358-02 89681.
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tante Größen. In den dreißiger Jahren hatte die erste Etappe in der Geschichte der Markenkommunikation ihren Abschluss gefunden. Einzelfalluntersuchungen weisen darauf hin, dass Markenvertrauen die Konsumpraktiken »breiter Schichten« bereits während der »produktkommunikativen Sattelzeit« der Zwischenkriegszeit prägte.174 Die Zuteilungswirtschaft des Zweiten Weltkriegs und erst recht der Schwarzmarkt, auf dem Waren ganz unterschiedlicher und häufig nur schwer nachprüf barer Qualität gehandelt wurden, bewirkten, dass an die Stelle eines vertrauten und vertrauenden Umgangs mit Waren eine permanente Unsicherheitserfahrung trat. Der illegale Handel stellte gewohnte Person-WareBeziehungen auf die Probe und verknüpfte dieses Problem überdies mit den prekären Beziehungen zwischen den Handelspartnern untereinander. Anders gesagt: Waren wurden im Schwarzhandel zum Testfall für Vertrauensleistungen sowohl den Produkteigenschaften selber wie auch dem jeweiligen Anbieter gegenüber. So erinnerte sich Karl Deutmann, dass er »infolge eines Gespräches beim Friseur (…) eine Flasche Schnaps (nicht ganz ein halber Liter) gegen 6 bis sieben Pfund Kartoffeln« eintauschte: »Der Mann brachte sie mir sogar in die Wohnung und schüttete sie meiner Frau in ein Körbchen. Später fanden wir 2 große Steine dabei. Der Deutsche ist und bleibt ein Lump«.175 Eine anderer Teilnehmerin schilderte einen noch drastischeren Fall: »An der Spree lag ein Lastkahn. Es hieß, dort könnte man Kleider prima gegen Öl tauschen. Na, da konnte ja nichts passieren und ganz schlau nahm ich ein Weckglas fürs Öl mit, um Farbe und Geruch prüfen zu können. Mein Kleid gefiel bei den russischen Frauen und ich hatte ein Glas voll Öl, das eine wunderbare helle Farbe hatte und herrlich roch. Schnell nach Hause und ausgehungert wie wir [waren] wurde Brot in Öl gestippt. Das war so gegen 18 Uhr. Um 21 Uhr wurde uns allen wahnsinnig übel. (…) Wir dachten, jetzt ist es das Ende! Viele Menschen starben daran, denn Laboruntersuchungen hatten ergeben, es war chinesisches Holzöl, vollkommen ungenießbar für die Menschheit! Mein Tauschdrang war restlos gedeckt!!«176 Die Tatsache, dass die Betrogene die Überprüfung der Warenqualität einkalkuliert hatte, belegt, wie schnell das Misstrauen gegenüber Waren und Personen in den alltäglichen Erfahrungshaushalt eingegangen war und das Handeln steuerte. Um so enttäuschender, wenn die Ausgleichsmaßnahmen vergeblich blieben. In ihrem Resümee kam die getäuschte Gelegenheitsteilnehmerin zu dem Urteil: »Für solche Dinge war ich wohl doch zu unbegabt«.177 Aber auch Teilnehmer, die selbstbewusster und im Umgang mit fremden Tauschpartnern 174 175 176 177
Vgl. Gries, Produkte, S. 135f. u. 570-574. DHM, Tagebuch Deutmann, Eintrag vom 6.8.1945. LAB F Rep. 240 Acc. 2651 Nr. 4, Bl. 402/2. Ebd.
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geübter waren, konnten sich ihrer Sache nie sicher sein. Ursula von Hanffstengel, die in ihren Erinnerungen an die Nachkriegszeit eindrücklich schildert, wie sie sich unter anderem aufdringlichen Besatzungssoldaten widersetzt hatte und auch sonst ihren Alltag zu »meistern« verstand, wurde ebenfalls zum Opfer von Warenfälschern. Für einige Uhren erstand sie zwei Pfund Butter. Doch »das Fett war weder Butter noch Schmalz, Rentiertran oder Wagenschmiere. Trotzdem haben die Menschen es verbraucht und sonderbarerweise hat keiner an dieser ›Danaergabe‹ Schaden gelitten«.178 Waren wurden auf dem Schwarzmarkt zu einem Überprüfungsmedium für das Vertrauen in Personen. So wie in Deutmanns Beispiel verbanden viele Teilnehmer Enttäuschungserfahrungen allerdings nicht bloß mit dem jeweiligen Einzelfall, sondern betrachteten den Missbrauch ihres Vertrauens als symptomatische Zeiterscheinung. Der Schwarzmarkt mit seinen unsicheren Handelsbedingungen wurde auf diese Weis zum Synonym für eine Kultur des Misstrauens, die ihren Ausgangspunkt in der Auflösung stabiler Praxisräume und -regeln hatte. In fast allen Erinnerungsberichten kommen Enttäuschungserfahrungen wie die oben geschilderten vor; sei es, dass sie selber erlebt wurden oder nur vom Hörensagen bekannt waren.179 Zu den Kristallisationsobjekten der Vertrauen unterminierenden Erfahrungen gehörten vor allem die – genau erinnerten – Schwarzhandelswaren. Diese waren damit mehr als bloße Gebrauchsgüter. Sie waren zugleich Kontaktmedien und Gegenstände, mit denen unterschiedliche Erfahrungskontexte verbunden waren. Dazu gehörte neben der Vertrauensfrage auch die Frage nach der Machtverteilung zwischen den Tauschpartnern. Der Tauschgegenstand, an dem sich das vor allem zeigen lässt, ist die Zigarette. Im Umgang mit Zigaretten und im Reden über sie spiegelten sich Vorstellungen von der Fragilität der Zeitläufte, aber auch Rollenmuster, die vor allem unterschiedliche Souveränitätsgrade thematisierten.
178 Ebd. Nr. 6, Bl. 698/2. 179 Vgl. den gesamten Bestand LAB F Rep. 240 Acc. 2651.
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4.3 Die Zigarette als Kollektivsymbol der Schwarzmarktzeit Eine Quelle des Trostes, ein Mittel gegen die Angst, eine Droge, die Entspannung verschafft, den Hunger und die Langeweile vergessen macht, ein Mittel, Höflichkeit zu bezeigen, eine Entscheidungshilfe, ein Wachmacher, der Pfeil Cupidos und eine Waffe gegen die Vorgesetzten – die Zigarette, die ein Soldat raucht, gibt ihm alles, was er braucht. Was wäre der Soldat ohne Tabak! (Richard Klein, Schöner blauer Dunst. Ein Lob der Zigarette) Die Gelbfärbung an den Spitzen seiner blutleeren Finger verriet, dass er sich nicht so viel Mühe machte, Zigaretten zu verkaufen wie zu rauchen. (Philip Kerr, Alte Freunde – neue Feinde)
Es gehört zu den Topoi der Geschichte der »Zusammenbruchgesellschaft«, dass Zigaretten auf den Schwarzmärkten der Nachkriegszeit über ihren Warencharakter hinaus die Funktion einer Währung zukam. Das hatte zum Teil praktische Gründe. Denn »die Zigarette ist eine international gültige Werteinheit; sie ist handlich, leicht zu transportieren, praktisch verpackt, ziemlich haltbar und zufälligerweise nach Größe und Gewicht international ›genormt‹«.180 In einer Hinsicht allerdings trat die Zigarette nicht nur als tauschbare Währung an die Stelle des Geldes. In ihrer flüchtigen, sich bald in Rauch auflösenden Materialität glich sie zugleich jener fragilen Werthaftigkeit, die das Geld in der Inflation ausgezeichnet hatte; Allerdings nicht, weil sich ihr Wert durch eine scheinbar unauf haltsame Vermehrung minderte, sondern weil sie – Stück für Stück – letztlich dem Konsum anheimfallen und sich ihr Wert jederzeit buchstäblich in Luft auflösen konnte. Sie war von vorneherein eine Ware und eine Währung des Übergangs, der Zwischenzeit, und deshalb das passende Äquivalent für den Schwarzmarkt, von dem die meisten Beobachter annahmen, dass er nur vorübergehend Bestand haben würde. Die Flüchtigkeit, das Provisorische der Zeit fand damit seinen Ausdruck sowohl in den illegalen Märkten als auch in der Tabak-Währung. Von offizieller Seite wurde dem Tabak mehr als nur eine (flüchtige) Genussfunktion zugeschrieben. Tabak sei, stellte der Länderrat der amerikanischen Zone in einem Schreiben an die Militärregierung fest, »heute (…) nicht nur ein Genussmittel, sondern weitgehend ein Mittel der Beruhigung und Ablenkung bei Hunger und Sorge«.181 Entsprechend bemüht war man deshalb, die Versorgung mit Tabak zu sichern und die Anbauflächen in Deutschland auszuweiten. Besondere Erfolge erzielte die sowjetische Seite mit einem Prämiensystem für Tabakablieferungen. In der SBZ stieg die Anbaufläche innerhalb eines Jahres 180 Schmölders, S. 166. Vgl. ferner Merki, Meyer sowie Stoltmann. 181 Zitiert nach Merki, S. 57.
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zwischen 1945 und 1946 um das 60fache. Das war eine Verdreifachung des bisherigen Höchststands. Dadurch stand hier Rohtabak im Gesamtwert von 7.6 Mio. Reichsmark zur Verfügung. Das entsprach 27% der gesamten deutschen Ernte. Hinzu kamen auf allen Seiten die Erträge der Tabak anbauenden Siedler, Kleingärtner und Kleinbauern, deren Wert auf mehrere Millionen Mark geschätzt wurde.182 Dennoch blieben Zigaretten Mangelwaren, zumal, wenn es sich um nichtdeutsche Produkte handelte, die besonders begehrt waren und in der Hierarchie der Zahlungsmittel ganz oben standen – allen voran die amerikanischen Marken. Die Funktion dieser Schwarzmarktwährung erläuterte im Juni 1946 ein Beitrag im »Telegraf«: »Da [die Amerikaner] in Deutschland nicht mit Dollars zahlen dürfen, haben sie sich die Zigarette als Austauschwährung geschaffen (…) Für eine Packung ›Ami‹, die drüben 8 bis 10 Cent kostet, werden zur Zeit 130 Mark gezahlt, d.h. ein Dollar entspricht 1 200 bis 1 500 Mark. (…) Dies dürfte wahrscheinlich mit die Ursache sein, die General Clay zum Erlass der Einfuhrverbots veranlasst haben. Es ist ja gerade kein erhebendes Schauspiel, dass Mitglieder eines so reichen Landes, welches Überfluss an allem hat, die Notlage eines ausgebluteten und verelendeten Volkes ausnutzen, um sich fast ohne Gegenleistung in den Besitz seiner letzten fungiblen Werte zu setzen«.183 Damit wurde klar ausgesprochen, wofür die Zigarette als das vielleicht wichtigste Kollektivsymbol der Schwarzmarktzeit vor allem stand: für die unterschiedlichen durch sie artikulierbaren Machtverhältnisse.184 Unter der Überschrift »Camel zieht nicht mehr« stellte ein Redakteur der »Wirtschaftszeitung« kurz nach der Währungsreform befriedigt fest, dass die Zigaretten ihre marktbeherrschende Stellung eingebüßt hätten: »Unter den entthronten Rivalen des alten Geldes steht die Zigarette obenan, vor allem die Zigarette amerikanischer Provenienz. Die ›Chesterfield‹, die ›Lucky Strike‹, die ›Camel‹ und die ›Morris‹ (…) waren hierzulande seit Jahr und Tag nicht nur das augenfälligste Handelsobjekt des Schwarzen Marktes, sie hatten sich auch zu einem Nebengeld, zu einer modernen Form von ›Kauri Muschel‹ entwickelt. Die amerikanische Zigarette lockte wie eine Wünschelrute (…) Waren, Dienste und ›Gefälligkeiten‹ hervor. Die Zigarette war ein Vehikel der sozialen Umschichtung geworden, das die einen nach oben trug und andere den umgekehrten Weg gehen ließ. Überdies hatte sie sich für einen Teil des Warenumschlags als Wertmaßstab eingebürgert. (…) Die Deutsche Mark hat diese Zigaretten-Währung außer Kurs gesetzt. (…) Die Zigarette, auch die amerikanische, ›zieht nicht mehr‹. (…) Die Zigarette ist wieder eine Zigarette, ein
182 Vgl. Telegraf, Ausgabe vom 28.1.1947, S. 4. Das Tabakjahr 1946. 183 Telegraf, Ausgabe vom 10.6.1947, S. 2. Umstrittenen »Tabakregie«. 184 Vgl. zur Definition des Begriffs »Kollektivsymbol« Jürgen Link, Literaturanalyse.
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Genussmittel, ein mehr oder minder begehrtes, aber nicht mehr ein Zahlungsmittel, für das man jedes und alles haben kann«.185 In einem anderen Beitrag des »Telegraf« wurde das über den unterschiedlichen Umgang mit der Zigarette symbolisierte Machtgefälle zwischen Deutschen und Amerikanern in Form eines modernen Märchens geschildert. Unter der Überschrift »Das Mädchen mit den ›Ami-Kippen‹« erzählt der Journalist darin die Geschichte eines 4jährigen Mädchens, das beim Kippenaufsammeln von »ein(em) große(n), breitschultrige(n), weißhaarige(n) Mann mit gutmütigem Gesicht« beobachtet wird. Dieser »bückte sich zu der Kleinen und stellte nach langen Schwierigkeiten – er sprach nicht deutsch, das kleine Mädchen verstand natürlich nicht englisch – fest, dass die zwölf von dem kleinen Mädchen gesammelten Zigarettenreste gegen Lebensmittel eingetauscht werden sollten«. Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem Mann um Mr. Warbington, einen amerikanischen Farmer, der hart arbeitet, selber eine Enkeltochter hat und von dem Schicksal des Mädchens so berührt ist, dass er auf eigene Faust Hilfssendungen aus den USA nach Deutschland organisieren will. Dabei geht er – wie der Beitrag nicht müde wird zu betonen – äußerst geschickt vor, schlägt die besten Konditionen bei amerikanischen Produzenten heraus und achtet darauf, dass er zu möglichst billigen Preisen so viele Waren wie nur möglich nach Berlin schicken kann. Wenn er von seiner Aktion erzählt und berichtet, wie geschickt er bei seinen Verhandlungen in den USA vorgeht, dann »lacht Mr. Warbington dröhnend«.186 Hier wird das Machtgefälle zwischen amerikanischer und deutscher Seite in der positiven Umkehrung nur umso deutlicher. Die Hilfeleistung des selbstbewusst auftretenden amerikanischen Farmers wird nur im Rückgriff auf das Thema Familie erträglich. Seine Geschicklichkeit im Umgang mit Geschäftspartnern in den USA bildet das ins Gute gewendete Gegenstück zu den rücksichtslosen und »gerissenen« Schiebern in Berlin. Marktmechanismen – so die Botschaft – können auch für die gute Sache ausgenutzt werden. Gleichwohl behält der Gönner mit seinem »dröhnenden Lachen« etwas verstörendes, das an die Machtverteilung im amerikanisch-deutschen Verhältnis erinnert und nur über die Familienmetapher des »guten Onkels« eingefangen werden kann. Die Schilderung solcher Positivbeispiele führte die Problematik ebenso vor Augen wie Elendsbeschreibungen. Das Kippenaufsammeln blieb eine als demütigend empfundene Realität. Es gehörte zu jenem Kanon unterschiedlicher Praktiken im Umgang mit der Zigarette. Zu den gängigen Rauchergesten zählten neben dem Anbieten (oder eben auch Nichtanbieten) und dem Anzünden das Inhalieren und das Ausdrücken oder -treten. Wie man inhalierte, vor allem aber wie man eine Zigarette ausmachte, dafür gab es eine ganze 185 Ausgabe vom 2.7.1948, S. 5. 186 Ausgabe vom 31.8.1948, S. 4.
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Bandbreite an Handlungsvariationen, die ebenfalls Souveränitätsansprüche artikulierten. Eine Zigarette konnte weggeschnipst, ausgedrückt, zu Boden geworfen und ausgetreten werden. In jedem Fall drückten diese Praktiken in den Augen vieler Beobachter eine – allerdings kaum zu umgehende – Leichtfertigkeit oder Überheblichkeit aus. In Zeiten, da Stadtbewohner sich um einzelne Trottoir-Reviere stritten, in denen ihnen das Aufsammeln weggeworfener Zigarettenreste zustehen sollte, bildete jede öffentliche Geste dieser Art eine Machtdemonstration. Eine Berlinerin erinnerte sich daran, dass »rauchende Amis« regelrecht »beschattet« wurden, »um sich blitzschnell nach der weggeworfenen Kippe zu bücken«. Außerdem habe sie »in manchen Etablissements (…) bestückte Aschenbecher« als einen »Rohstoff« wahrgenommen, »der zerpflückt und zu neuen Zigaretten verarbeitet wurde«.187 An erster Stelle einer symbolisierten Hierarchie, die den Ohnmächtigen vom Machthaber unterscheiden konnte, stand die Möglichkeit, zwischen der Zigarette als Ware und Währung überhaupt zu unterscheiden. Wer Zigaretten rauchte, hatte es nicht nötig, Tabakwaren nur als Tauschgegenstand zu betrachten. Zigaretten tatsächlich zu rauchen war ein Zeichen dafür, dass man es sich erlauben konnte, die Währung der anderen in Rauch aufgehen zu lassen, wie es in Philip Kerrs Schilderung eines russischen KGB-Offiziers zum Ausdruck kam. Nicht von ungefähr gehörte und gehört es zu den sinnfälligsten Bildern prassender Verschwendung, Rauchwaren mit einem Geldschein in Brand zu stecken. Während der Schwarzmarktzeit war diese Differenz in Teilen hinfällig geworden. Eine Zigarette tatsächlich zu rauchen, war etwa für diejenigen, die sich nach weggeworfenen Stummeln bückte, gleichbedeutend mit dem Verbrennen von Geld. Zugleich war der Wert der Zigaretten-Währung aber auch davon abhängig, dass ihre Umlaufmenge durch den Konsum verknappt wurde. Damit sorgte das vermeintliche »Verprassen« auch dafür, dass die Währungsfunktion aufrecht erhalten wurde und Kippensammler ihre Abfälle als Tauschmittel einsetzen konnten. Die Zigarette wurde nicht zuletzt deshalb zum Kollektivsymbol, weil auch der Vorgang des Rauchens eine Vielzahl von Konnotationen auszudrücken vermochte, in denen einige entscheidende Konflikte der Schwarzmarktzeit thematisiert und auf den Punkt gebracht werden konnten. Das Rauchen (und erst recht seine Darstellung in zeitgenössischen Reportagen, Filmen und Erzählungen) war nie nur »ein physischer, sondern auch ein diskursiver Akt«, war »eine stumme, aber beredte Art, sich auszudrücken«. Rauchen fungierte als »kodierter, rhetorisch komplexer, erzählerisch artikulierter Diskurs«, in dem weitaus mehr mitgeteilt werden konnte, als die bloße Tatsache, dass jemand rauchte.
187 LAB F Rep. 240 Acc. 2651 Nr. 4, Bl. 396/2f.
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Zugleich stellten Zigaretten damit »ein subtiles, aber effizientes Instrument dar, um (…) soziale Interaktion zu regulieren«.188
Abbildung 7: Dresscode und Körperposen auf Berliner Schwarzmarkt 1948 (Quelle: LAB, 1NK, Versorgung/Schwarzer Markt, Nr. 160976)
Diese Möglichkeiten nutzten einige Akteure, um ihr Rollenverständnis zum Ausdruck zu bringen, an erster Stelle die »Schieber«. So wurde die Zigarette zu einem Attribut, das jenes typische Ensemble männlicher Gelassenheit und Souveränität komplettierte, das zuvor bereits Gangster oder Detektive vorgelebt hatten. Ein Schieber ohne Zigaretten war kein Schieber. Zu seinem Auftritt gehörten Zigaretten ebenso dazu wie lässige Kleidung, lässige Gesten und das damit nach außen zur Schau gestellte Bewusstsein einer überlegenen Haltung den Problemen der Zeit gegenüber. Insbesondere Lässigkeit und Coolness wurden zu Haltungen, die in ihrer ostentativen Gleichgültigkeit dem Chaos gegenüber auch Eingang in den zeitgenössischen Jugenddiskurs fanden.189 188 Klein, S. 283 u. 285. 189 Vgl. Maase.
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Abbildung 8: Kinder verkaufen Zigaretten auf dem Schwarzmarkt in Schöneberg (1948) (Quelle: LAB 1NK, Kinder, Nr. 1099)
Das Vorbild, der Schieber, hatte entweder alles unter Kontrolle, oder er konnte es jedenfalls unter Kontrolle bringen. Das demonstrative, auch in scheinbar brenzligen Lagen mit Lässigkeit vorgeführte Rauchen symbolisierte diese unbeeindruckte Haltung des souveränen Mannes. Hier gab es Überschneidungen zu fiktionalen Soldatenfiguren, die als Typen dargestellt wurden, die noch in der gefährlichsten Situation die Nerven behielten. Dieses Nervenbehalten konnte kaum besser illustriert werden als durch das offensichtliche, seelenruhige Anzünden einer Zigarette. Wenn für »normale« Raucher das Entzünden einer Zigarette die Pause, eine Phase der Erschlaffung und des Zurücklehnens 284
bedeutete, konnte die gleiche Geste im Angesicht größter Gefahr nur als Zeichen größtmöglicher Coolness verstanden werden. Noch in den lange Zeit nach dem Ende des Krieges produzierten (Anti-) Kriegsfilmen gehörte der Typus des scheinbar durch nichts zu erschütternden – und jeder ideologischen Indoktrination unverdächtigen – Rauchers zur Stammbesetzung; auf die Spitze getrieben in John Guillermins »The Bridge at Remagen«, in dem ein Sergeant selbst im Feuergefecht mit einer Zigarre im Mund zu Werke ging. Die Beschreibung des coolen Rauchers, der mindestens in der geschilderten Situation die Dinge unter Kontrolle hatte, war eine Beschreibung der Macht, das routinierte, am besten mit einem metallischen Feuerzeug vollführte Anzünden der Zigarette, mehr als eine Geste bloßer Gelassenheit. Sie bedeutete in der Regel auch eine Gesprächspause, war ein retardierendes Moment in der Kommunikation und setzte deshalb den Anzünder in die Position desjenigen, der dann das Gespräch fort führte, wenn es ihm behagte. Wer rauchte, musste nicht sprechen und hatte damit eine Hierarchie entweder hergestellt oder durch die Geste an die bestehende Hierarchie erinnert. Noch bevor Zigaretten auf diese Weise ein Mittel der Interaktion werden konnten, hatten sie häufig schon als ein Mittel der Kontaktherstellung gedient. Diese Funktion gewann während der Schwarzmarktzeit an Bedeutung. Jemandem eine Zigarette anzubieten oder nach einer zu fragen, stellte eine unkomplizierte, beinahe jederzeit und gegenüber jedermann mögliche Form dar, miteinander ins Gespräch zu kommen, einander bekannt zu machen oder auch einen Tausch anzubahnen. »Zigaretten werden häufig demokratische, internationale und kosmopolitische Züge verliehen. Sie überwinden die Barrieren, die der Krieg errichtet hat«, stellte Richard Klein in seiner Studie über das Rauchen fest. Jenes Prinzip, »dass die Bitte um Feuer nicht abgeschlagen werden kann«, eröffnete (und eröffnet) Rauchern einen leichten Zugang auch zu Zufallsbekanntschaften: »Der Fremde wird zu einem Bekannten oder vertrauten, indem er in den magischen Kreis des Rauchens eintritt«.190 Andersherum konnte man sich eigentlich auch nicht weigern eine anzunehmen, sogar, wenn es die letzte war. Denn »die letzte Zigarette eines Mannes entgegenzunehmen, der sich in einer erbärmlichen Verfassung befindet und nichts anderes herzugeben hat, bedeutet, diesem die Gabe des Gebens wiederzugeben«, andernfalls würde man ihm »die Freiheit absprechen, sich großmütig zu verhalten, würde seine Geschenke abqualifizieren und ihn beleidigen«.191 Die Konvention, die darin bestand, dass die Gegenleistung gerade im Annehmen der scheinbar einseitigen Gabe stattfinden konnte, wurde auf dem Schwarzmarkt allerdings in Frage gestellt und zum Teil entwertet. Denn hier galten Gegenleistungen in Sachwerten, konnte das einst »harmlose« Anbieten 190 Klein, S. 234. 191 Ebd., S. 237f.
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schon eine Tauschofferte bedeuten. Als Kontaktmittel blieben sie manchmal gleichwohl wirksam. Flüchtigkeit war auch hier entscheidend. Zunächst konnte in solchen Fällen ein Kontaktversuch auf diese Weise genauso unverbindlich unternommen wie zurückgewiesen werden. Und selbst wenn sich aus der Frage nach einer Zigarette ein Gespräch oder sogar eine (Tausch-) Beziehung ergab, hatten solche Bekanntschaften einen anderen, unverbindlicheren Wert als über längere Zeit gewachsene Relationen. Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit, die Zeitgenossen an den mitmenschlichen Begegnungen kritisierten, fanden in der Zigarette als Kontaktmedium eine Entsprechung. Als Teil des erotischen Partnerspiels waren Zigaretten ohnehin bekannte Kontaktanbahnungsutensilien. Hinter der Empörung über die »Neue Frau«, die – mit einer Zigarette ausstaffiert – ihr Selbstbewusstsein zur Schau stellte, stand zu einem guten Teil die Unsicherheit darüber, wie männliche Personen ihr begegnen sollten. Wer die neuen Regeln des Spiels beherrschte, konnte ihr Feuer geben. Aber ließ man sich damit nicht auf einen Handel ein, der aus dem Unverbindlichen in eine (gefährliche) sexuelle Situation umschlagen konnte? Mit der Zigarette in der Hand hatten Frauen nicht nur angefangen, wie Männer zu rauchen. Sie hatten sich zugleich dem öffentlichen Raum zugewandt und waren damit in eine andere Kommunikationssituation eingetreten, ohne dass für männliche Beobachter immer klar war, wie man damit umzugehen hatte.192 In der Nachkriegszeit wurden Zigaretten vor allem als Kontakt- und Tauschmittel bei Begegnungen zwischen deutschen Frauen und Besatzungssoldaten wahrgenommen. Auch das thematisierte eine Machtkonstellation. In den Subtexten dieses Zigarettendiskurses ergaben sich die deutschen Frauen dem Feind – und das Tauschmittel waren die Zigaretten des Gegners. Die Tatsache, dass das Institut für Demoskopie in Allensbach 1949 eine Umfrage zum weiblichen Zigarettenkonsum durchführte, mochte einerseits ganz praktische Gründe haben. Doch zugleich war diese Befragung Teil jener Fixierung auf die möglichen Bedeutungen, die dahinter steckten, wenn 49% der befragten Frauen angaben erst während des Krieges oder in der Nachkriegszeit überhaupt mit dem Rauchen angefangen zu haben. Die Zigarette stand als Symbol damit an einer diskursiven Schnittstelle, an der mehrere Deutungslinien zusammentrafen. Letztlich ging es darum, verstörende Erfahrungen der Nachkriegszeit in beschreibbare und damit irgendwie fass- und erklärbare Zusammenhänge zu bringen. Dieses Ringen um Ordnung kennzeichnete das Reden über alles, was mit dem Schwarzmarkt zusammenhing. Es kennzeichnete allerdings auch die Praktiken von Teilnehmern auf beiden Seiten. War die Bekämpfungspolitik der alliierten und deutschen Sicherheitsorgane noch als eine Mischung aus unsicherem Vorwärtstasten, ideologischer Rhetorik und pragmatischer Gelassenheit zu bezeichnen, waren die 192 Vgl. Kupschinsky, S. 167f.
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illegalen Marktplätze für die Berliner zwar zum Teil gesellig-abenteuerlich erscheinende, aber auch unsichere Orte, in denen das Chaos der Zeit deutlich zutage trat. Sie standen für Zumutungen ganz unterschiedlicher Art: für ungewohnte Praktiken und neue Akteure, für Willkür und den Verlust von Waren als Vertrauensmedien und nicht zuletzt auch für die sozialen Verwerfungen, für Elend, Hunger und die Ungerechtigkeiten eines Marktes, auf dem der Mensch dem Menschen anscheinend wieder ein Wolf geworden war. Eine Sehnsucht nach Ordnung, nach Regeln, die Vertrauen wieder möglich machten, war überall spürbar. Diese misstrauische, dabei aber nur auf Vertrauen stiftende Zeichen wartende Haltung war das Ergebnis von Verlusterfahrungen. Im Chaos der Zeit war vielen das alltägliche Sekuritätsgefühl verloren gegangen. Der Schwarzmarkt stand genau in der Mitte. Er war Sinnbild und Erfahrungsraum einer schwer erträglichen Regellosigkeit und geselliges Ereignis. Er war der ungerechte Umverteiler, der die Gerissenen belohnte und die Schwachen bestrafte, und der Ort kreativer Entfaltung nach den Monaten des »Endkampfs«. Doch wie sehr auch einzelne Erfolgsgeschichten den Markt in diesem letztgenannten Sinn schilderten. Über allem stand doch zunächst die Sehnsucht nach einem Neuanfang.
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Teil V Geschichten vom Neuanfang. Die Straßenökonomie zwischen Währungsreformen und »Wirtschaftswunder« Entgegen einer weit verbreiteten Annahme verschwanden die Schwarzmärkte im Sommer 1948 nicht einfach plötzlich von der Bildfläche. Regelmäßig kam es bis in die frühen fünfziger Jahre hinein zu Verfahren vor dem Berliner Kammergericht, in denen illegale Tauschhandlungen auf den Straßen der Stadt zur Anklage gebracht wurden.1 Gleichwohl bedeuteten die Währungsreformen in Ost und West die deutlichste Zäsur der Berliner Tauschkulturgeschichte seit dem Beginn des Krieges. Hier wurden erstmals währungs- und wirtschaftspolitische Weichenstellungen vorgenommen, die – wenigstens auf westlicher Seite – auf eine grundsätzliche Abkehr von Rationierungs- und Verwaltungswirtschaft abzielten und mit der langsamen Auf hebung der Bewirtschaftung die illegalen Märkte ins Abseits drängten. Dieser Zäsur und ihrer Bedeutung für die Berliner Tauschkultur geht der erste Abschnitt dieses Kapitels nach, bevor die darauf folgenden Teile danach fragen, wie die Berlinerinnen und Berliner die Begleiterscheinungen des Schwarzhandels beurteilten und welche Rolle die Erfahrungen der Tauschkultur im Zusammenhang mit der Formulierung neuer Wirtschaftsordnungen zu spielen in der Lage waren.
1 »Große Politik«, alltägliches Zeitmanagement und neue Währungspraktiken. Der Berliner Schwarzhandel unter dem Einfluss der Währungsreformen Die Berliner Schwarzhändler waren daran gewöhnt, ihre Handelspraxis an unterschiedliche Zeitkontexte anzupassen. Die Beobachtung der politischen »Großwetterlage« hatte bereits während des Krieges das Handeln von Schwarzmarktteilnehmern beeinflusst. Dazu gehörten Planungen für ein etwaiges Kriegsende, Hortungsverhalten und die Ausrichtung der eigenen Praxis an den 1 [o. Rep.] 95 Ds Akten der Abteilung 95 des Berliner Kammergerichts.
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zum Schluss immer wieder neu definierten Perioden des Versorgungssystems. So beobachtete die Berliner Polizei ein intensiviertes Handelsgeschehen, wenn wieder einmal Sonderzuteilungen nach Bombenangriffen ausgegeben worden waren.2 Insbesondere mit der (militärischen) Wende des Jahres 1943 setzten erste Marktteilnehmer darauf, Waren im illegalen Handel zu erwerben, um sie zu horten. Ein Schwarzhändler gab in seiner Vernehmung zu Protokoll, er habe sich einen Vorrat für die Nachkriegszeit anlegen wollen, ein anderer, er habe damit gerechnet, das »der Gaskrieg« bald kommen würde.3 Immer wieder wurde bei den Aussagen der verhafteten Schwarzhändler überdies deutlich, dass ihre Sorgen um die Zukunft den Erfahrungsraum der Inflation in Rechnung stellten. Er habe sich »einen Notgroschen« zurücklegen wollen, meinte einer der Vernommenen, schließlich habe er seinerzeit in der Inflation »alles verloren«.4 Waren das alles Praktiken, die in erster Linie darauf abzielten, das eigene Auskommen in Notzeiten zu sichern, gingen die Makler des illegalen Marktes gezielter vor. In einem Brief erläuterte ein Einzelhändler seinem Adressaten, dass er vor allem auf der Suche nach Seifen und Toilettenartikeln sei, weil er davon ausgehe, dass nach dem Kriegsende mit große Knappheit und eine entsprechende Nachfrage in diesem Handelssektor herrschen werde.5 Das Zeitmanagement des illegalen Handels war damit – unabhängig vom Professionalisierungsgrad – immer schon das Produkt individueller Anpassungsprozesse, bildete eine Mischung aus Reaktionen auf Makroentwicklungen und die Mikroorganisation von Schwarzhandelspraktiken. Bereits zur Kriegszeit hatte sich mit der drohenden Niederlage eine unsichere Zukunftsperspektive als bestimmender Zeithorizont in den Vordergrund geschoben. Das vorherrschende Gefühl war eines der Sorge um das eigene Schicksal in der nahen Zukunft. Wie würden sich die Sieger verhalten? Welche Repressionen hatte man zu erwarten? Zwar schlugen sich auch einzelne saisonale Versorgungsengpässe sofort auf den Märkten nieder, die den einzelnen Marktteilnehmer dazu zwangen, nach »Gelegenheiten« und gerade verfügbaren Angeboten Ausschau zu halten.6 Doch daneben rückten vor allem die internationale Politik und das Verhalten der Siegermächte auf die Tagesordnung. Das betraf zunächst die Erwartung der Niederlage und die Besetzung der Stadt, dann den alltäglichen Umgang mit den neuen Machthabern, im Laufe der Zeit aber immer mehr die Sorge um langfristig wirksame politische Entscheidungen. Gerade Berlin wurde zum Zentrum der allmählich sichtbaren Ost-West-Konfrontation, und das auch in den Augen des »einfa2 3 4 5 6
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LAB A Rep. 358-02 80196, Bl. 3. Ebd. 89781, Bl. 20, sowie 80384, Bl. 8. Ebd. 79809, Bl. 85 u. 93. LAB A Rep. 341-02 9792, Brief vom 10.3.1943 (unpaginiert). Ebd., S. 17.
chen Mannes auf der Straße«. Das war nur natürlich, hingen von dem Ausgang der internationalen Auseinandersetzungen doch ganz handfeste, im Alltag direkt spürbare Konsequenzen ab. Die Einnahme der Stadt durch die Rote Armee, erste politische und verwaltungstechnische Maßnahmen der sowjetischen Machthaber, das Einrücken der westlichen Alliierten und die Aufteilung des Stadtgebiets in vier Sektoren, die Abstimmung der Politik in der Alliierten Kommandantur, die Arbeit der neu gebildeten Selbstverwaltungseinrichtungen, die beginnenden Spannungen zwischen den Siegermächten, die Blockade – alles das verfolgten die meisten Bewohner der Stadt mit gespannter Aufmerksamkeit, weil es ihre Zukunft unmittelbar betraf. In diesem Sinne war der Alltag in Berlin außergewöhnlich stark politisiert. Politische Entwicklungen und Tauschalltag verschränkten sich nachhaltig und machten eine permanente Aktualisierung und Bewertung des Informationsstands notwendig. Das war – wie gesagt – keine neues Phänomen. Doch mit der Ost-West-Konfrontation wuchs die Unsicherheit, stieg das Bedürfnis nach verlässlichen Informationen und Anleitungen, wie auf die Lage zu reagieren sei. Die Berliner Zeitungen waren voll von Beiträgen, in denen das Für und Wider einerseits, relevante Informationen etwa über den Dollar-Kurs oder die neuesten Preisentwicklungen auf dem Schwarzmarkt andererseits thematisiert wurden.7 Diese Situation war für viele eine schwere Belastung. Die Reaktionen schwankten zwischen hochprofessioneller Anpassung an die neuen Umstände und einer resignierenden Passivität. Doch selbst bei denjenigen, die den Druck der unsicheren Verhältnisse als unerträglich empfanden, gab es Anpassungsleistungen. Das prominenteste Ereignis, in dem sich die Mikro- und Makroelemente dieser Entwicklung bündelten, waren die Währungsreformen im Juli 1948. Die Lösung der Währungsfrage in Berlin gestaltete sich als ein Wettlauf. Auch hier spielte der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle.8 Am 22. Juli wurde die amtierende Oberbürgermeisterin Louise Schröder vom Stabschef der sowjetischen Militärregierung dazu aufgefordert, dem Befehl 111 über die Durchführung einer Währungsreform Folge zu leisten. Bereits am nächsten Tag sollten die darin formulierten Vorschriften in Kraft gesetzt werden. Damit gerieten die westlichen Alliierten unter Zugzwang. Das Festhalten an einer eigenen Währung für den Westteil der Stadt schien politisch geboten, um den Souveränitätsanspruch für die drei Sektoren aufrecht zu erhalten, bedeutete aber zugleich, dass man sich darauf einstellen musste, die damit anfallenden Kosten aufzubringen. Wie sollte das währungspolitisch separierte Westberlin versorgt, wie die Beschaffungs- und Absatzmärkte organisiert und abgesichert werden? Letztlich ging es damit um Fragen, die weit über den Berliner Raum 7 Vgl. als Beispiel Der Tag, Ausgabe vom 20.3.1949. Dollar und Schwarzmarkt, mit Grafiken. 8 Vgl. zum Folgenden Zschaler, Währungsfrage, S. 47–58, sowie ders., Finanzen S. 15–24. Für die Entwicklung in Westberlin Wolff.
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hinaus das Verhältnis zum westdeutschen Teilstaat und die politische Ordnung in Europa betrafen. Die westlichen Stadtkommandanten entschieden sich gegen die Übernahme der Reform für die ihnen unterstehenden Sektoren und kündigten zugleich an, dass sie stattdessen die westdeutschen Währungsgesetze für Westberlin zu übernehmen gedachten. Die rechtlichen Voraussetzungen dafür wurden bereits einen Tag später, am 24. Juni, mit der »Verordnung zur Neuordnung des Geldwesens« geschaffen. Künftig sollte die Deutsche Mark der Bank Deutscher Länder als offizielle Währung Geltung für den Westteil der Stadt erlangen. Am Tag darauf war die neue Währung bereits als gesetzliches Zahlungsmittel im Umlauf. Damit hatten die Verantwortlichen auf beiden Seiten »währungspolitische Grundsatzentscheidungen« getroffen. Ein »eigendynamischer Prozess« setzte ein, der dazu führte, dass die beiden Stadthälften in das jeweilige Ordnungsund Wirtschaftssystem integriert wurden.9 Diese Entwicklung war Mitte der 50er Jahre abgeschlossen. Die Währungsreformen waren damit zugleich Transformationsreformen auf dem Weg zur sozialen Markt- bzw. Planwirtschaft. In den Tagen unmittelbar vor den Reformen hatte der erwartete Währungsschnitt allerdings ganz andere Auswirkungen. Er führte zu Hortungen und einem Auf blühen des Schwarzmarkts. Die Existenz von zwei parallelen Währungen bei einer gleichzeitig räumlich noch integrierten Stadt und relativ freien Austauschbeziehungen zog Vermischungen der Währungsverhältnisse nach sich und führte zu Formen des Tauschens, die das Wertgefälle als Extraprofit nutzen wollten. Dabei waren es in den Wochen und Monaten vor der Währungsreform keineswegs nur die Versorgungsfragen, die das Interesse der Berliner beanspruchten; viel größere Aufmerksamkeit konnte unter Umständen das Verhalten der Weltmächte gegenüber Berlin und die Rolle der Stadt im Kalten Krieg erregen. »Currency reform continues to occupy people’s attention«, vermerkte der »Report on Berlin Morale No. 13« des Public Opinion Research Office bereits am 26. Januar 1948.10 Das allgemeine Interesse, hieß es gleich zu Beginn, galt jedoch ausnahmsweise nicht in erster Linie Versorgungsfragen, sondern betraf die weltpolitische Lage und ihre Auswirkungen auf die Situation in Berlin: »Not fuel, not food, not clothing nor currency reform but the pros and cons of the evacuation of the Western Allies from Berlin is the main consideration at the moment«.11 Ein großer Teil der Berliner Bevölkerung in allen vier Sektoren befürchtete, dass Amerikaner, Briten und Franzosen entgegen den u.a. von General Clay gemachten Zusicherungen aus Berlin abziehen könnten. Insbesondere die gescheiterte Londoner Konferenz und das militante Auftreten der Komin9 Zschaler, Währungsfrage, S. 53. 10 PRO FO 1005/862, S. 2. 11 Ebd.
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form hätten »conspired to give Berliners a bad attack of nerves«. Eher lakonisch nahmen sich demgegenüber die festgehaltenen Einstellungen zum Problem des Schwarzmarkts aus: »Wer gut schmiert, der gut fährt«, hielt der Bericht eine zeitgenössische Redensart fest – nicht, ohne zugleich eine englische Übersetzung zu den Akten zu geben (»who bribes well fares well«). In kurzen Worten gab der Bericht anschließend Auskunft darüber, dass einer Umfrage zufolge die meisten Berliner die Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung für korrupt hielten.12 Insgesamt nahmen der Schwarzmarkt und seine Begleiterscheinungen gerade mal sieben Zeilen des insgesamt vierseitigen Berichts ein. Die Erwartungen einer wirtschaftspolitischen Entscheidung hatten allerdings massiven Einfluss auf die Entwicklungen des Schwarzhandels. Es ist ein starker Hinweis auf die Unsicherheit der Akteure über die Folgen der erwarteten Umstellung, dass sie in als sicher angesehene Fremdwährungen und in Sachwerte flüchteten. Der 14. »Report on Berlin Morale« nahm darauf Bezug: »Fears of Currency Reform have led to increased trading. A veritable flight from the Mark took place at the beginning of the month when fears of Corrency Reform were at their highest, with dealers trying to buy stable currency – chiefly British Pounds and US Dollars. Dollars were selling at RM 300–350, even rising in a few cases RM 500. A gold 20 dollar piece is reported worth RM 20,000. Gold and silver and valuables generally have also risen in value. The Black Market in petrol is now deep rooted (…). American filling stations are reported to be sources of Black Market petrol.«13 Die Erwartung eines Währungsschnitts führte einerseits zu einer »Flucht in die Sachwerte«. Da diese aber zu einem großen Teil nur im Schwarzhandel umzuschlagen waren, »blühte« der illegale Handel noch einmal auf, sobald sich die Nachrichten über eine bevorstehende Währungsumstellung verbreitet hatten. So musste ein Bericht des britischen »Enforcement Departments«, das unter anderem über die Durchsetzung der alliierten Preispolitik zu wachen hatte, bereits im April 1948 feststellen: »The confidence in the currency has gone to a large extent. The workman wants, if possible, to get a ›payment in kind‹ besides his low actual salary, enabling him to get by barter the necessary goods for daily life. As to the entrepreneurs, the distrust in the currency is inducing them either to hold back their goods or to deliver them only against raw material. A large stock is considered to be the best guarantee for overcoming the currency reform.«14 In dieser Hinsicht zeigten sich Begleiterscheinungen, die auch vor der Einführung der D-Mark in der Westzone zu beobachten waren.15
12 13 14 15
Ebd., S. 4. Ebd., S. 9. PRO FO 1012/175, S. 138 (4). Vgl. Benz, S. 190–194.
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Und wie in der Westzone war der erste Effekt der Währungsreform, dass die Preise rapide stiegen, teilweise über 300 Prozent.16 Für die weitere Entwicklung wurde jedoch entscheidend, dass die westlichen Alliierten Zahlungen in DM-Ost zuließen. Damit folgten die Stadtkommandanten einer Empfehlung des Magistrats. Im Westteil der Stadt sollten Güter des täglichen Bedarfs sowie Mieten im Kurs 1 : 1 berechnet und bezahlt werden.17 Das Nebeneinander zweier Währungen bedeutete einerseits eine große Verunsicherung. So hielt eine Berlinerin fest: »Die neue Währung erschwert das Leben sehr, da wir sie uns aus dem Ostsektor holen müssen. Ich habe keine Kraft dazu. Dort stehen Tausende von Menschen an den Banken an. Es gibt Unglücksfälle und sogar Tote. Mit Ostgeld kann man Lebensmittel bezahlen. Für Textilien, Garn, Seife, Schuhe oder auch Obst wird Westgeld verlangt. Mieten und Renten werden in Ostmark ausbezahlt. Ein wüster Handel wird getrieben. Wo früher ›Gold, Silber, Schokolade, Zigaretten‹ geflüstert wurde, wird jetzt nach Westgeld gefragt. Diese doppelte Währung bringt uns um.«18 Diese düstere Aussage traf aber nur ein Teil der Wahrheit. Denn andererseits erlaubte der Umlauf von zwei Währungen auch eine ganze Reihe von Tauschformen, die das eigene Auskommen verbessern konnten. Eine war dem Umstand geschuldet, dass die Kontrolle über den Währungsumtausch in Ost und West nach unterschiedlichem Muster erfolgte, was es möglich machte, das alte Geld doppelt umzutauschen. Ein Berliner schilderte die Technik wie folgt: »Seit den ersten Tagen der Währungsreform steht die Berliner Bevölkerung unter ständiger Hochspannung (…). Aus den anfänglichen Schlangen, zunächst vor den Lebensmittelläden, um noch die alten Reichsmarkbeträge unterzubringen, wurden sodann die Schlangen auf den Geldumtauschstellen und schließlich die tollsten Schwarzmarktbörsen, wie sie in dieser Zusammenballung bisher in Berlin noch nicht in Erscheinung getreten waren (…) Findige Berliner der Westsektoren benutzten nun [nach den Währungsreformen, M.Z.], anfänglich zögernd, die Gelegenheit, um zunächst im Ostsektor die RM 70,– Quote einzutauschen, da sie ja hier nur den Lebensmittelkartenabschnitt als Ausweis vorzulegen hatten, und holten sich sodann gegen Personalsausweis die westliche Kopfquote von DM 60,–. Als sich diese Möglichkeit herumgesprochen hatte, setzte ein wahrer Sturm aller West-Berliner auf die östlichen Umtauschstellen ein, umso mehr, als nun sogar auch noch die Zeitungen auf diese Möglichkeit hinwiesen und die Berliner aufforderten, diese Chance für sich auszunutzen. Was sich hier vor den Umtauschstellen abgespielt 16 Übersicht über die Preise beim Preisamt der Stadt Berlin, Abt. Ernährung, Aufstellung über die Wirkung der Einführung der Westmark auf die Preise. FO 1012/326, Allied Commandantura, Trade and Industry Committee, Economics – Currency and Prices, unpag. 17 Vgl. Zschaler, Währungsfrage, S. 49ff. 18 LAB F Rep 240, Nr. 6, S. 748x4.
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hat, ist kaum zu beschreiben und sicherlich wird es auch im Westen bekannt geworden sein, dass es hier nicht ohne ernstliche Zwischenfälle abging und selbst bedauerliche Todesfälle zu verzeichnen waren.«19 Sehr schnell entwickelte sich ein Wertgefälle zwischen den beiden Währungen. In Windeseile zeigten die realen Tauschbeziehungen den unterschiedlichen Grad des Vertrauens, der den beiden neuen Währungen entgegengebracht wurde. Man konnte auch hieraus Profit ziehen. Wie das Public Research Office in seinen regelmäßigen »Notes on currency reform« festhielt, nutzten viele Berliner das Wertgefälle zu ihrem eigenen Vorteil: »The Eastmark is considered valueless in the three Western Sectors except for the buying of rationed foods, coupon articles (…) etc. If using the Eastmark in this connection the rate of the exchange is 1 Westmark to 1 Eastmark. This order allowing Berliners to spend Eastmarks in the Western Sectors was given by the Military Government. It is favoured by all Berliners as they can exchange on the Black Market 1 Westmark for 10 Eastmarks, thus by their rations, pay their bills and rents etc. in Eastmarkt for 1/10th of the original cost«.20 Offensichtlich vermuteten die britischen Berichterstatter, dass nicht nur die mit der doppelten Währung unmittelbar konfrontierten Berliner, sondern auch ihre eigenen Vorgesetzten Schwierigkeiten haben mochten, das ganze Ausmaß der unübersichtlichen Situation zu überschauen. Deshalb illustrierten sie die Lage anhand von zwei Beispielen, die verdeutlichten, dass wenigstens einige Berliner bestens mit der neuen Situation zurecht kamen. Unterschiedliche Regelungen für den Gebrauch der Währungen in Ost und West eröffneten Nischen, die vor allem die Ostberliner gewinnbringend ausnutzen konnten. Das erste Beispiel betraf die (politisch motivierte) Erlaubnis für Bewohner des Ostsektors, Karten für Kino- und Theatervorstellungen in den Westsektoren in Ostmark bezahlen zu können. Die Folge war, dass regelmäßig Karten gegen Ostmark gekauft, dann aber gegen Westgeld auf dem neuen Schwarzmarkt für Kinokarten weiterverkauft wurden. Das eingenommene Geld konnten die Händler auf dem Schwarzmarkt dann im Kurs 1 : 10 wieder in Ostmark umtauschen. Kinokarten mutierten so schnell zu einem Äquivalent, das, wenn auch in bescheidenem Umfang, den geringeren Wert der Ostmark gegenüber der Westmark ausgleichen konnte. Das zweite Beispiel zeigte einen ähnlichen Mechanismus, in noch geringerem Umfang; aber das erwerbbare Äquivalent verwies auf die alltägliche Wertigkeit auch dieser minimalen Tauschvorteile. Es ging um kleines Hartgeld. Dieses war in den Westsektoren im Kurs 1 : 10 abgewertet worden. Das eröffnet eine neue Möglichkeit, die beiden Währungssysteme im Alltag gegeneinan19 LAB F Rep 240, Nr. 6, S. 753x1ff. Hervorhebungen im Original. 20 PRO FO 1056/565 Public Opinion Research Office, Notes on Curreny Reform No. 1, 30 June 48 (unpag.).
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der auszuspielen: Kaufte jemand im Westen für zwei alte Mark, die jetzt den Wert von 20 Pfennigen hatten, eine Zeitung, die 15 Pfennige kostete, konnte er den Wert von fünf Pfennigen in Form von fünf alten 10-Pfennig-Münzen zurückbekommen. Jetzt war er nicht nur in der Lage, im Ostsektor zum alten Kurs von 50 Pfennig zu kaufen, sondern konnte zum Beispiel, weil die S-Bahn unter östlicher Verwaltung stand, auch in den Westsektoren zwei Tickets zu 20 Pfennigen lösen: »So that one gets for 2 old Marks (20 Pfennige in Western money) a newspaper which is worth 15 Pfennige and furthermore 2 S-Bahn rides gratis«.21 Das waren offensichtlich gängige Anpassungsleistungen, die gerade wegen ihrer Geringfügigkeit darauf verweisen, dass es keiner professionellen Schwarzmarkterfahrung bedurfte, um sie zu erbringen; die doppelte Währung erzwang geradezu einen schwarzmarktähnlichen Umgang auch der ganz normalen Bürger mit dem Tausch. Dass professionelle Schwarzhändler auf die neue Situation mit Lernstrategien antworteten, sprach ein ins Englische übersetzter Bericht der Berliner Gewerbepolizei offen an: »During the first days after the currency conversion professional Black Marketeers met in the well known Black Market centres to discuss, first of all, the new conditions, created by the currency reform and to exchange experience. They refrain from offering Black Market goods until matters will have somewhat cleared up. In some cases small quantities of cigarettes were black-marketed.«22 Diesem Informationsaustausch unter Maklern des illegalen Gewerbes entsprachen solche kleinen alltäglichen Ausgleichstechniken wie die geschilderten Schwarzhandelsgeschäfte mit Kinokarten, welche die Situation der doppelten Währung in der Stadt ausnutzten. Damit waren keine großen Gewinne zu erzielen. Sie belegen aber, dass auch Gelegenheitsteilnehmer ihre Mittel und Wege fanden, die neue Unübersichtlichkeit für sich zu nutzen. Im Bereich des schwarzen Tauschs stellten sich die Warenäquivalente für die neuen Währungen unter Umständen viel klarer dar als im offiziellen Marktgeschehen. Dafür bedurfte es aber häufig des schnellen Handelns. Denn erstens pendelten sich die Wertungleichgewichte, die sich in solchen Austauschbeziehungen spiegelten, nach einiger Zeit ein, so dass man nicht nur wissen musste, wo man welche Ware noch zu einem vergleichsweise günstigen Preis bekam, sondern man musste auch schnell reagieren können. Zum zweiten sahen die Behörden diesem Treiben nicht untätig zu, sondern versuchten, diese Praktiken einzudämmen, die vor allem die Ostwährung schnell zu einer reinen Ersatzwährung herabstuften. Wenn Schwarzhändler motorisiert und damit in der Lage waren, schnell sowohl den Handelsort zu wechseln als auch Vergleichspreise einzuho-
21 Ebd. 22 PRO FO 1012/176, S. 67.
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len, unternahm die Polizei alle Anstrengungen diesen Geschwindigkeitsvorteil zu unterbinden, etwa indem sie die Fahrzeuge beschlagnahmte.23 Die Wochen und Monate vor und nach den Währungsreformen waren somit eine Phase komprimierter Zeitwahrnehmung und -verarbeitung, die sich mit der Erwartung und Beurteilung des Währungsschnitts verband. Die Akteure »rechneten« mit diesem Ereignis und versuchten, seine Auswirkungen zu antizipieren. Beinahe alle Teilnehmer übten sich darin, Informationen über die »politische Großwetterlage« so zu lesen, dass sich daraus sinnvolle Handlungsoptionen für ihre Tausch- und Währungspraktiken ableiten ließen, die ihrerseits wiederum oft nur in einem schmalen Zeitkanal durchführbar waren. Dazu kamen die erschwerten Kommunikations- und Verkehrsbedingungen, welche die temporalen Reibungsverluste erheblich erhöhten. Zeit erwies sich nicht nur im Alltag als bestimmender Faktor, sondern prägte auch die politischen Prozesse. Von Bedingungen des Wettlaufs war eben nicht nur die Einführung der neuen Währungen geprägt, sondern auch die innere Ordnung und Versorgung der Stadt und die Setzung der weltpolitischen Rahmenbedingungen. Alltägliche und »politische« Zeithorizonte unterlagen einer sich wechselseitig beeinflussenden Knappheitsvorstellung. Auf der Straße fand unter diesen Bedingungen ein kollektiver Lernprozess statt, der in einer ganzen Reihe von Anpassungstechniken mündete, die typisch für die Berliner Entwicklung waren und vor allem das Nebeneinander zweier Währungen auszunutzen suchten. Daneben blieb diese sozusagen praktische Ebene permanent mit dem Versuch verbunden, eine als kontingent erfahrene Wirklichkeit über moralische Zuschreibungen zu ordnen. Das Reden über die Marktlage war immer auch Ausdruck eines in Umbruchzeiten gesteigerten Bedürfnisses nach Selbstvergewisserung. Es fügte sich damit in jenen moralischen Diskurs ein, der die krisenhaften wirtschaftlichen Verhältnisse seit den Inflationsjahren zum Ausgangspunkt erhitzter Debatten um richtiges ökonomisches Verhalten hatte werden lassen. Eine weit verbreitete zeitgenössische Einstellung reagierte mit Genugtuung auf die drohenden Veränderungen, die der Währungsschnitt für die auf dem Schwarzmarkt reich gewordenen Schieber bedeuten würde. Dass auch der kleine Mann von den Währungsschnitten mit Praktiken profitieren konnte, die nicht weit von Schieberei entfernt waren, wurde dabei geflissentlich übersehen. Als die Währungen eingeführt waren, sah sich die Hoffnung auf eine »Bestrafung« der Schieber durch den Markt selber gerechtfertigt – allerdings erst nach einer Übergangszeit, während der man die Schieber nun erst recht ihr Geschäft machen sah. Die Imagination der Wiederherstellung »redlicher« Aus-
23 Vgl. den Artikel »Schwarze Börse entmotorisiert« im Telegraf vom 23.10.1948, S. 4.
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tauschbeziehungen durch neues, »ehrliches« Geld trug nicht unwesentlich zur moralischen Legitimierung der Reformen bei.
2 Der Schwarzmarkt als Politikum. Die Debatten um eine neue Wirtschaftsordnung Seit seinem ersten massiven Auftreten während des Ersten Weltkrieges war der Schwarzmarkt ein Politikum gewesen. Die »Schieber«-Debatten der zwanziger Jahre, die Veränderungen der Tauschsemantiken in der Zwischenkriegszeit und die nationalsozialistischen Bekämpfungsmaßnahmen ab 1939 hatten das wiederholt deutlich gemacht. Jenseits der technischen Dimension, d.h. jenseits der Fehlfunktion des Wirtschaftssystems, verband sich seine Existenz von vornherein mit eminent politischen Fragen nach einer wirtschaftlichen Ordnung und ihrer Aufrechterhaltung sowie nach dem moralisch richtigen Verhalten unterschiedlicher Akteursgruppen in den Kriegs- und Nachkriegszeiten des Ersten und des Zweiten Weltkriegs. Insbesondere vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit den Schwarzmärkten des Ersten Weltkriegs und der frühen zwanziger Jahre gewann der illegale Handel eine Bedeutung, die über rein administrative Probleme hinaus reichte und den Markt, seine Protagonisten und deren Verhalten auch zu einem prominenten Debattenstoff der Zeit nach 1945 werden ließ. Der illegale Handel wurde zu einer polyvalenten Chiffre für einen Teilstrang jener »moral economy«, die zwischen dem Ersten und der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs soziale Gerechtigkeit und anständiges Verhalten verhandelte. In dieser Funktion wurden die Erfahrungen und diskursiven Prägungen der Schwarzmarktzeit auch prägend für die moralischen Aufladungen der Sozialen Marktwirtschaft. Dabei war aber eine ambivalente Diskursformation zu beobachten: Einerseits diente der Diskurs der Sozialen Marktwirtschaft mit seiner Betonung der kaufmännischen Redlichkeit einer Absetzung von der Schwarzmarktmoralität; andererseits bewirkte die in der deutschen Geschichte bisher eher unbekannte Positivzeichnung des Homo oeconomicus und seiner Rationalität auch eine nüchternere Beurteilung der Rationalität des Schwarzen Marktes. Damit aber setzten sich die Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft von der moralischen Negativaufladung des Schieberdiskurses ab, der so breite Unterstützung genoss. Die Frage nach der ökonomischen Rationalität des Schwarzmarktes war unter Umständen geeignet, auch die Soziale Marktwirtschaft in den Geruch des Schieberdiskurses zu bringen. Nach dem Ende des Krieges setzte sich der moralisch aufgeladene Schwarzmarktdiskurs fort, nahm aber vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz 298
zwischen Ost und West eine neue Bedeutung an. Ausgehend von der Annahme, dass der Handel eines Tages überwunden werden könnte, setzte bereits während der »Schwarzmarktzeit« eine erste Phase der Historisierung ein, die auf tagespolitische Kontroversen Rücksicht nahm. Politische Eliten wie »einfache Bürger« in Ost und West bewerteten den Schwarzhandel, seine zeitgenössische Form und seine Entstehungsbedingungen in Bezug auf aktuelle Kontroversen über den richtigen wirtschaftlichen und politischen Weg in die Zukunft. Diese Diskursrichtungswechsel bedeuteten jedoch keinen eindeutigen Bruch mit nationalsozialistischen Deutungsmustern. Vielmehr handelte es sich in weiten Teilen um Diskursverschiebungen, die bereits bestehende Teilstränge im Sinne der eigenen Meinungsmachtstrategie besonders betonten und vor dem Ost-West-Gegensatz ihre spezifische Gestalt an nahmen.
2.1 Drängende Probleme. Von Preisen und Gerechtigkeit Der zu Empörung Anlass gebende Schwarzhandel sollte zu einem Thema und zu einem Argument in der Debatte um eine Neuordnung der Wirtschaft werden. Beide Seiten – Marktwirtschaftler wie Anhänger einer regulierten Wirtschaft – konnten den illegalen Handel relativ leicht in ihre Deutung integrieren und als Argument für die eigene Sache ins Spiel bringen. Die eine wie die andere Partei versuchte, im Rekurs auf den Schwarzmarkt, die Vor- und Nachteile des jeweiligen Konzeptes zu illustrieren. Dabei konnten die Befürworter einer staatlich gelenkten Wirtschaft auf jene weit verbreiteten Abwehrhaltungen setzen, die das »Skandalöse« des illegalen Handels in der Vordergrund stellten; und das waren zuallererst die ungleichen Zugangsvoraussetzungen zum Markt, die einigen unerhörte Gewinne bescherten, während andere ihr letztes Hab und Gut für überlebensnotwendige Sachen hergeben mussten. Das »Prassen« der durch unehrliche Geschäfte zu Reichtum gelangten »Schieber« stand für sie genauso für die Auswüchse eines »ungezügelten« Marktradikalismus wie andererseits das Elend unverschuldet in Not geratener Leute. Dichotomien wie diese waren Bestandteile einer Zuspitzungsrhetorik apodiktisch geführter Debatten um eine Moral für den fortgesetzten »Alltag im Ausnahmezustand« und verwiesen damit umso deutlicher auf die Unübersichtlichkeit in einer Gesellschaft, deren moralische Sicherheiten ins Wanken geraten waren. In unzähligen Leserbriefen, Zeitungs- und Radiokolumnen sowie Ratgebern aller Art wurden solche Probleme verhandelt. Bereits am 19. August 1945 nahm sich ein Beitrag des von den Sowjets installierten Senders Berlin dem Thema »unzeitgemäße Preisgestaltung« an.24 Auf 24 Zur Geschichte des Rundfunks und seiner politischen Rolle in SBZ und DDR vgl. Arnold u. Classen sowie Classen.
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Grund »eingehender Erhebungen«, führte der Redakteur aus, stehe zweifellos fest, dass »die jetzige unhaltbare Preispolitik im Handel und Gewerbe bedenkenlos aus der Nazi-Zeit übernommen« worden sei. Seine Empörung richtete sich aber weniger gegen die offiziell festgesetzten Preise als vielmehr gegen jene »Phantasie-Preise (…), die früher (…) Kriegsgewinnler und Nazi-Bonzen anstandslos« an Geschäftsleute gezahlt haben sollten. Diese Kunden seien »hierzu ohne weiteres in der Lage« gewesen, »da man ihnen das Geld aus unseren Steuern und so genannten freiwilligen Abgaben sowie Spenden förmlich nachgeworfen« habe. »Selbstverständlich«, so der Kommentator weiter, hätten sich die entsprechenden »Damen zur Teilnahme an rauschenden Privat-Festen und Sekt-Gelagen, die ungeachtet der täglichen Sorgen der Bevölkerung« statt gefunden hätten, »jederzeit Modellkleider für mehrere Hundertmark anfertigen lassen und anderen Luxus treiben« lassen können. »Wir aber«, stellte er weiter fest, »haben jetzt keine Zeit und vor allen Dingen auch keine Veranlassung, rauschende Feste zu begehen, sondern sind darauf bedacht, die (…) stark beschränkte und reparaturbedürftige Bekleidung ergänzen oder erneuern zu lassen«; und das einzig und allein zu dem »sachlichen Zweck, trotz aller Umstände möglichst ordentlich und sauber gekleidet (…) ernste(r) Arbeit nachzugehen«. Letztlich seien allerdings beide Seiten, Kunden wie Anbieter, schuld an diesen unhaltbaren Zuständen: »Jeder, der solche (…) Preise zahlt bzw. fordert, vergeht sich am Volksganzen, da er Urheber der endlosen Preisschraube ist.« Zum Schluss seines Beitrage appellierte der Kommentator eindringlich an seine Hörer: »Machen Sie sich selbst frei von allen früheren nazistischen Gepflogenheiten, warten Sie nicht erst behördliche Anordnungen oder Zwangsmaßnahmen ab. Warten Sie nicht, bis die Gewerkschaften eingreifen, die sich sicher eines Tages dieses lebenswichtigen Problems annehmen werden, weil die werktätige Bevölkerung mit vollem Recht gegen die Konjunkturritter und Schieber Stellung nimmt.« Wer in »beispielhafter Selbstdisziplin« eine »zeitgemäße Preispolitik« unterstütze, der beweise »Verständnis für die Erfordernisse zum Aufbau einen friedlichen, demokratischen Deutschland« und leiste zugleich einen »Beitrag zur Vernichtung eines üblen nazistischen Überbleibsels«.25 Ganz im Sinne dieser Form von Vergangenheitsbewältigung argumentierte auch ein Beitrag aus dem Februar 1946. Darin hieß es, dass es einmal eine Zeit gegeben habe, »da konnte man alles kaufen, was man sich wünschte«. »Und wann ist das gewesen«, fragte der Beitrag seine Zuhörer, um gleich darauf die Antwort zu geben: »Es war vor 1933 und in den ersten Jahren danach«. Als klar geworden sei, dass die Parole »Kanonen statt Butter« galt, fing die Knappheit an. »Und dann«, so hieß es weiter, »kam der Krieg mit seinen Marken und Bezugsscheinen. [Und] das kennen wir ja alle.« Es sei jedoch wichtig, an diese Ursachen zu erinnern, »weil wir zeigen müssen, wer daran Schuld war, dass 25 Alle Zitate: DRA, B 202-00-01/0015.
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alles knapp wurde, dass Höchstpreise kamen und Bezugsscheine eingeführt wurden. Es ist das Erbe der Nazi-Kriegführung«. Ein Erbe sei damit auch der schwarze Markt, nach dessen Betreibern der Beitrag fragte. Einerseits wisse die Polizei »ein Lied davon zu singen«, wie viele vorbestrafte Verbrecher und wohlbekannte Betrüger« unter den Schwarzhändlern seien. Andererseits spiele sich der Schwarzhandel aber »nicht nur auf den bewussten Straßen und Plätzen ab, sondern leider auch in manchem Ladengeschäft«. Durch ihre »alten Beziehungen« kämen manche Geschäftleute immer wieder an Ware und fänden »auch Leute, die sie ihnen abnehmen«.26 Die Unsicherheit darüber, was als moralisch verwerflich zu gelten hatte und was nicht, und – für die Praxis viel wichtiger – was davon in Verordnungen Eingang gefunden haben mochte, beschäftigte potenzielle wie tatsächliche Teilnehmer des Schwarzmarkts. Sie waren sich dabei durchaus bewusst, dass es so etwas wie eine ökonomische Handlungsrationalität geben mochte, fragten sich aber, in welches Verhältnis diese individuelle Orientierung zu einem ›richtigen‹, also kollektivmoralischen Verhalten zu bringen sei. Zu einer wichtigen Adresse für verunsicherte Bürgerinnen und Bürger entwickelten sich Ratgebersendungen wie die Sendereihe »Sie fragen – wir antworten« des Senders Berlin. In einer Ausgabe dieses Formates wandte sich eine Hörerin an die Redaktion, um Genaueres über das »Problem des Tauschhandels« zu erfahren.27 »Seit einiger Zeit«, so schrieb sie, »beschäftigt nicht nur mich, sondern auch viele andere Volksgenossen (sic!) das Problem des Tauschhandels, welches beängstigende Formen angenommen hat. Tausch ist gewiss eine gute Lösung, solange es sich um einen reellen Tausch handelt. Mancher Ausgebombte konnte sich durch den Austausch eines Gebrauchsgegenstandes gegen einen anderen helfen. Wogegen ich mich wende, ist der Tausch – um ein Beispiel zu nennen – eines wertvollen Wirtschaftsgegenstandes gegen Lebensmittel, bei dem ein Tauschpartner immer der Betrogene sein wird«. Als Gegenmeinung präsentierte die Redaktion den Brief einer anderen Hörerin, die meinte: »Da wenden sich so viele gegen die Tauschgeschäfte. Das geht doch niemanden etwas an. Die Hauptsache, die Tauschpartner sind untereinander zufrieden.« »Wer hat nun recht«, stellte der zuständige Redakteur die entscheidende Frage, und fuhr fort: »Kann es uns wirklich gleichgültig sein, was getauscht wird?« Die Antwort entsprach den typischen Propaganda-Argumenten offizieller Ostberliner Stellen. Man müsse sich überlegen, meinte der Mitarbeiter, wo die beim Tausch angebotenen Lebensmittel wohl herkommen würden. Und apodiktisch fügte er die Antwort gleich hinzu: »Diese Lebensmittel stammen vom schwarzen Markt und können nur durch Schieber, Diebe, unredliche Beamte und betrügerische Kaufleute in den Handel gebracht wer26 Alle Zitate: DRA, B 203-01-01/0261. 27 Alle Zitate: DRA, B 202-00-07/0053.
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den. Parasiten an unserem schwer leidenden Volkskörper (sic!), die gewissenlos Waren unterschlagen, um sich in eigennütziger Weise zu bereichern.« Wer auf diese Art von Tausch eingehe, schade in jedem Fall nicht nur sich selbst, sondern der Allgemeinheit. Deshalb appelliere er an alle: »Helft, diese Übelstände zu beseitigen, legt diesen Volksschädlingen (sic!) das Handwerk«. Zum zentralen Thema wurde die Frage nach gerechten Preisen. Die Beschwerden über zu hohe Preise begleiteten wie ein nie verstummender Klagegesang die Berliner »Schwarzmarktzeit«. Adressaten dieses Unmuts waren vor allem die Leserbriefseiten der Berliner Tageszeitungen und Rundfunksendungen, bei deren Redaktionen Schreiben wie die von Hans Feit eingingen. Er beklagte sich darüber, »dass in allen Lokalen in der Motzstraße unheimliche Preise gefordert« würden. Besonders erregten ihn offensichtlich die 24 Mark, die »2 Stück Kartoffelpuffer« in der dort angesiedelten »Marietta-Bar« kosten sollten. Die Redaktionen hatten alle Mühe, solchen Beschwerden nachzugehen und die aufgebrachten Hörer zu beruhigen. Herrn Feit versicherten die Redakteure, dass sie »dieser Sache« auf den Grund gegangen seien und herausgefunden hätten, dass Anfang August »wirklich untragbare Preise gefordert« wurden, sie ihm jetzt jedoch mitteilen könnten, dass die von ihm »erwähnten Lokale Speisen zu normalen Preisen verabreichen« würden.28 Umstritten war daneben die Frage einer gerechten Bestrafung für Schwarzhändler, und hier zeigten sich auch widerspruchsvolle Überschneidungen mit der Strafverfolgungspolitik der Besatzungsbehörden. In einem »Kommentar vom Tage« aus dem Sommer 1946 hieß es im Sender Berlin, dass »die arbeitende Bevölkerung die schärfsten Maßnahmen gegen die Wuchergeschäfte, Schieber und andere Schmarotzer« fordere, »die zu einer wahren Volksplage geworden« seien.29 Auch sollten erste Erfolge durch die Polizei nicht unerwähnt bleiben, doch sei es andererseits auch »für niemanden ein Geheimnis, dass sich der Schwarzhandel von den Straßen und Plätzen in die Nepplokale und andere Orte verlegt« habe, »wo sich die Unterwelt ein Stelldichein« gebe. Wenn allerdings die Polizei durchgreife, dann seien es im Nachklang die Urteile der Gerichte, welche die Bürger verzweifeln ließen. »Wir sind weit davon entfernt, von den Richtern zu fordern, ihr Urteil müsse von dem so genannten ›Volksempfinden‹ diktiert werden«, hieß es. Diese Phrase habe schließlich den Nazis zur Rechtfertigung ihrer Rechtsbrüche gedient. Das bedeute andererseits aber nicht, dass sich die »neue demokratische Justiz über die Forderung breitester Kreise des unermüdlich und schwer arbeitenden Volkes nach strengster Bestrafung der Schieber und Schwarzhändler hinwegsetzen« dürfe. Die Frage der Preisüberwachung, stellte ein Beitrag des gleichen Senders im Februar 1946 unter der Überschrift »Schwarzer Markt und produktive Ar28 Alle Zitate: DRA, B 202-00-07/0051. 29 Alle Zitate: DRA, B 203-01-01/0025.
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beit« fest, werde auch von den Gewerkschaften diskutiert. Demnach waren die Arbeiter zufrieden mit einem Lohnstopp, um eine Inflation zu verhindern, forderten im Gegenzug aber auch die »die rücksichtslose Unterbindung jeder Preisspekulation«. Darauf hin wurde für den Bezirk Neukölln ein System der Preiskontrolle beschlossen. Der abschließende Appell des Rundfunkbeitrags wiederholte das Muster, wonach die Überwindung des Schwarzmarktes in einer unmittelbaren Verbindung mit der Überwindung des Nationalsozialismus stand: »Je mehr Waren erzeugt werden, umso schneller wird der Mangel beseitigt werden, unter dem ja heute alle Völker Europas als Folge des Nazikrieges zu leiden haben. Umso schneller werden wir jenen Zeitpunkt erreicht haben, wo jeder wieder kaufen kann, was er will, und wo uns der Schwarze Markt nur noch als dunkler Ausklang des Naziregimes in Erinnerung sein wird«.
2.2 Alte Probleme in neuem Gewand. Die Planwirtschaft Dieser Konnex wurde auf Ost-Berliner Seite stark in den Vordergrund gerückt. Hier kaprizierten sich Kommentatoren auf den illegalen Handel als Auswuchs von Krieg und Faschismus, der eine Erscheinung des kapitalistischen Imperialismus gewesen sei. Der Schwarzhandel war in dieser Lesart ein Produkt der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft, die der arbeitenden Bevölkerung ihre Existenzgrundlage entzog. Der ungeregelte Markt, der den Prototyp einer »kapitalistischen«, auf jegliche Absicherungsmaßnahmen verzichtenden Wirtschaftsform darstellte, »strangulierte« den »einfachen Arbeiter« und privilegierte nicht arbeitende »Schieber«, die ihre ganze Zeit und Kraft darauf verwenden konnten, sich auf Kosten des »kleinen Mannes« zu bereichern. Sowohl in der Stoßrichtung als auch in der Begriffswahl bildete diese Sicht der Dinge eine Variation nationalsozialistischer Schwarzhandelsbewertungen. Ja, der Gegensatz zwischen »Arbeit« und »Tauschen« setzte sogar ein Kerninterpretament alter NS-Wirtschaftideologie erneut ins Recht, wonach zwischen »schaffendem und raffendem Kapital« zu unterscheiden sei. Die gegensätzlichen Pole »Arbeit« und »Schieberei« – auch sie eine Variation der Antinomie von »Schaffen« und »Raffen« – deckten sich dabei mit den bereits kurz nach der Eroberung der Stadt durch die sowjetische Militärführung begonnenen Politik, aufgegriffenen Schwarzhändlern keinen langwierigen Prozess zu machen. Stattdessen wurden sie sofort für Aufräumarbeiten in den Straßen Berlins eingesetzt.30 Dieses Vorgehen entsprach zunächst pragmatischen Überlegungen, wie man die Stadt von den Trümmern befreien und wieder herstellen sollte, und war keineswegs nur gegen Schwarzhändler gerichtet. Solche Maßnahmen fügten sich nachträglich jedoch umso leichter in jene An30 Vgl. oben Kap. IV.2.1.
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ti-Schwarzmarkt-Kampagne, die den Wert reeller Auf bauarbeit für das neue sozialistische Deutschland in scharfen Kontrast zum Schwarzhandel setzte. Am 4. September 1945 lief über den Sender Berlin ein tendenziöser Beitrag, der unter dem Titel »Wir sehen schwarz…« eine etwas elegische Deutung der unmittelbaren Nachkriegssituation gab, indem er den unterschiedlichen Wortbedeutungen von »schwarz« in verschiedenen zeitgenössischen Kontexten nachspürte.31 Die an dieser Stelle vorgetragene Sicht der Dinge, hieß es in dem Beitrag, sei keineswegs »notorisch pessimistisch«. Aber wo angesichts der überall sichtbaren erfolgreichen Anstrengungen beim Auf bau eines neuen demokratischen Staates das »Licht einer bereinigten Situation« leuchte, da müssten die Zuhörer »als verantwortliche Teile einer Volksgemeinschaft [auch] die Schatten sehen, die sich als ständige Begleiter des Lichts nicht vermeiden« ließen. »Wir sehen schwarz, sogar sehr viel schwarz …«, hieß es dann weiter; und das sei deshalb so, »weil wir uns nicht länger den Problemen verschließen können, die sich als Tageserscheinungen mit der Farbenbezeichnung ›schwarz‹ als ›schwarzer Markt‹ oder ›schwarzer Handel‹ immer mehr in den Vordergrund geschoben« hätten. Die »heutige Lage« sei »das Erbe einer einseitigen Kriegswirtschaft und eines verbrecherisch-imperialistischen Krieges«, die beide als Resultat nur ein Charakteristikum der Zeit hervor gebracht hätten: die Knappheit. In die »Klauen [der] Zange aus Knappheit und Bedürfnissen« hätten die zuständigen Stellen allerdings ein »kompliziertes und daher sehr empfindliches Rationierungssystem als regulierendes Mittel eingeschaltet«, das sich für alle sichtbar im Kartensystem »manifestier(e)«. Dieses System regle »den immer noch schwachen Warenstrom zwischen Erzeuger und Verteiler« und schütze das »gesamte Wert- und Preisniveau«. Damit leiste es eine Hauptaufgabe bei der Bewahrung »vor jenem Element der Preiszerrüttung und somit der Geldentwertung, das (…) allen als ›Inflation‹ kalte Schauer der Erinnerung über den Rücken laufen«. Der Beitrag betonte die kollektivmoralische Seite und forderte von allen Bürgern die Absetzung von schwarzhändlerischen Aktivitäten, seien sie auch noch so unbedeutend. Jedes »eigensüchtige Verhalten«, das sich etwa auch in kleinen Gefälligkeiten an Handwerker zur Erhaltung von »Vitamin-B« zeige, müsse mit »unveränderter Intensität gemaßregelt werden«. Der Schwarzhandel vertrage sich nicht mit »unser aller größtem Interesse, den Frieden der neu zu schaffenden deutschen Wirklichkeit zu garantieren«. In den Antischwarzmarktdiskurs Ost-Berliner Prägung mischten sich deutlich fremdenfeindliche Töne. Zur Zielscheibe dieser Angriffe wurden immer wieder Displaced Persons, die der Vorwurf traf, im Verbund mit Angehörigen der amerikanischen Armee die schlimmsten Schwarzhandelsgeschäfte zu betreiben. Im Zusammenhang mit der bevorstehenden Räumung eines DP31 Alle Zitate: DRA, B 202-00-06/0347.
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Lagers in Mariendorf berichtete das »Neue Deutschland« im Juli 1948 von Lagerinsassen, die in offener Zusammenarbeit mit amerikanischen Armeeangehörigen die Bestände des Lagers verkauften.32 Alles, was das Herz begehre, sei dort für D-Mark zu haben, von Zigaretten aller Sorten bis zum eleganten Luxuswagen. Der Zweck dieser Aktion war dem »Neuen Deutschland« klar: Den West-Berlinern solle »auf diese Weise die letzte D-Mark ihrer Kopfquote aus den Taschen gezogen werden«. Der Schwarzhandel wurde so in einen unmittelbaren Zusammenhang mit einer als ausbeuterisch gedeuteten Anwesenheit der amerikanischen Truppen gerückt. Auch die Mitarbeiter der »Westpolizei« traf der Vorwurf einer Zusammenarbeit mit Schwarzhändlern.33 Die Währungsreform stand in östlichen Augen in einem engen Zusammenhang mit dem Schwarzmarkt. Die neue Währung wurde als zu Spekulationszwecken aufgezwungene Schwarzmarktwährung interpretiert. Mit einiger Genugtuung stellte ein Rundfunkkommentar am 7. Juli 1948 fest, dass der Magistrat »kapituliert« habe. Den Beschluss, »die gesamte öffentliche Wirtschaft nur nach der in der Ostzone geltenden Reichsmark mit aufgeklebtem Kupon zu führen«, könne getrost als »offizielle Zurückziehung der Spaltungsmark für Berlin und ihr Ausscheiden aus dem Berliner Wirtschaftsleben« angesehen werden. Mit »Riesenschritten« sei der Rückzug vonstatten gegangen: »Zuerst waren es 40%, dann 25, dann 10 und heute Abend bereits 0%«. »Diese Zahlenreihe« illustrierte bereits, »dass die Westmark aus dem Berliner Zahlungsverkehr völlig verschwinden« werde. Genüsslich malte sich der Redakteur aus, dass nach dem Beschluss des Magistrates (…) in den Redaktionsstuben des ›Tagesspiegel‹ und des ›Telegraf‹ in dieser Nacht das ausbrechen« würde, »was ein Hamburger Blatt für die gesamte Ostzone meldete: Die Tollwut«. Dafür spreche »der Katzenjammer, der bereits vor diesem Beschluss im Lager der Westmarkanhänger« geherrscht habe. Der Kommentar fuhr fort: »Der Tagesspiegel schrieb heute, in einem verzweifelten Artikel, dass diese Neuregelung die DMark zu einem ausschließlichen ›Spekulationsobjekt‹ machen würde. ›Soll sie‹, so fragte der Tagesspiegel verzweifelt, ›weiterhin‹ – dieses Wort ist zu beachten, verehrte Hörerinnen und Hörer, ›den schwarzen Markt unterstützen?‹« Damit, meinte der Kommentator, habe »das reaktionäre Blatt (…) die Rolle der Westmark als Schwarzmarktwährung« zutreffend beschrieben.34 Bedenkt man die Mangelsituation und die Reaktionen vieler Berlinerinnen und Berliner auf das wirtschaftliche Chaos der Zeit, dann verwundert es nicht, dass die SED mit ihrer Einschätzung, dass »unter den heutigen Bedingungen des Mangels an Rohstoffen, Transportmitteln, Brennstoffen und vielem anderen (…) das volkswirtschaftliche Vorwärtskommen nur (…) durch Wirt32 Neues Deutschland, 23.7.1948: Das UNRRA-Lager wird geräumt. 33 Tägliche Rundschau, 15.8.1945: Westpolizei schützt Schieber. 34 Alle Zitate: DRA, B 204-02-01/321.
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schaftsplanung gesichert« werden könne, keineswegs alleine dastand, sondern eine Position vertrat, die auch andere politische Parteien und Gruppierungen vertraten.35 Es waren keineswegs nur Kommunisten, die staatliche Eingriffe und planwirtschaftliche Maßnahmen befürworteten. SPD und große Teile der CDU waren ebenfalls gewillt, Ordnung durch eine mehr oder weniger umfassende Kontrolle und Planung der Wirtschaft herzustellen.36 Der Ausgangslage für die Entwicklung einer umfassenden Planwirtschaft war also eigentlich günstig. Das Ordnungsbedürfnis einer misstrauischen, durch die Krise der ökonomischen Verhältnisse verunsicherten Gesellschaft bot eine ideale Ausgangslage. »Planung« konnte als Sicherheitsversprechen in jene Lücke stoßen, welche die chaotische Schwarzmarktzeit mit ihren alltagspraktischen Verschiebungen, belastenden Herausforderungen und sozialen Verwerfungen bei allen Positivbeispielen im Einzelnen zu einer prägenden Negativerfahrung gemacht hatte. Walter Ulbrichts oft zitierte, im Rundfunk Anfang der fünfziger Jahre verbreitete Schwärmerei vom Plan als einem »Freund«, der überall in den Straßen »etwas neues Schönes« gezeitigt habe, war allerdings zweierlei: ein berechtigter Verweis auf erste, wenn auch bescheidene Erfolge und das sprichwörtliche Pfeifen im Walde.37 Denn so sehr die Rückkehr zu geordneten Verhältnissen, in denen man den Hauptbestandteil seiner Besorgungen wieder als Einkäufe und nicht als Tauschgeschäfte erledigen konnte, eine Beruhigung war – der Mangel und das »Organisieren« blieben den Ostberlinern in einer Gesellschaft, die »von Plan zu Plan« lebte, bis 1989 vertraute Praktiken. Allerdings verschoben sich die Gewichte, haftete dem zum Alltag gehörenden Tausch von Mangelwaren bald eine gewisse Selbstverständlichkeit an, die auch deswegen möglich wurde, weil das Überleben nicht mehr vom Schwarzhandel abhing und der Übergang von der »Lebenserhaltung zur Lebensgestaltung« neue Chancen eröffnet hatte, die gleichwohl an enge Grenzen stießen.38 Der Anspruch der ostdeutschen Staats- und Parteiführung »zu wissen, was die Bevölkerung zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse« vermeintlich brauchte, ging an der Realität vorbei, in der die Bürger der DDR zwar eine wieder gewonnene alltagpraktische Sicherheit zu schätzen wussten, ihren Anspruch auf souveränen Konsum aber nie aufgaben.39
35 Zitiert nach Roesler, Wirtschaft, S. 7. 36 Vgl. Steiner, Plan, S. 41. 37 Zu den mageren Erfolgen ebd., S. 56–92. 38 Merkel, S. 329. Eine Möglichkeit, den »normalen« Einkauf wieder zu erleben brachte auch die nach 1953 wieder auf blühenden Läden des Kommissions-Einzelhandels. Vgl. Hoffmann, Kommissionshandel. Zu den Verschiebungen, die das Jahr 1989 für das Einkaufen durch Privathaushalte brachte vgl. Schultz. 39 Merkel, S. 88. Vgl. auch Heldmann sowie Steiner, Plan, S. 7–17.
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2.3 Ein erfolgreicher Ordnungsvorschlag. Die Soziale Marktwirtschaft Vierzig Jahre nach Kriegsende, im Juni 1985, tauchten die »Schieber« – wenn auch eher am Rande – als Thema wieder im westdeutschen Wissenschaftsdiskurs auf. Das setting für diesen »Auftritt« verwies auf nahezu klassisch zu nennende Inbegriffe der westdeutschen Nachkriegsgeschichte: In den Bürotürmen der Deutschen Bank in Frankfurt blickte der Tübinger Ökonom Joachim Starbatty bei einer Veranstaltung der »Gesellschaft für Unternehmensgeschichte« auf die »Soziale Marktwirtschaft« aus »historisch-theoretischer Sicht« zurück.40 Starbatty, letzter Assistent Alfred Müller-Armacks, der den Begriff der sozialen Marktwirtschaft geprägt und theoretisch mit begründet hatte, ging in seinen Ausführungen auf das so genannte »Arbitragephänomen« ein. Menschliches Verhalten sei häufig nichts weiter als das »Suchen von Zeit- oder Nutzendifferentialen«. Damit ähnele es jenen Börsenbewegungen, die sich Kurs- und Zinsdifferenzen zunutze machten und sie dadurch zugleich einebneten. Bei der Abwägung der Vor- und Nachteile dieses Ansatzes im Vergleich mit dem »Eigennutzenaxiom« kam Starbatty zu dem Schluss, dass zur Beschreibung ökonomischen Verhaltens vor allem der deskriptive Charakter ertragreich sei, weil er moralische Konnotationen vermeide. Gleichwohl ließ es sich der Referent nicht nehmen, auch den »gesamtwirtschaftlich« vorteilhaften Aspekt solchen Verhaltens zu betonen: Akteure, die auf diese Weise kollektiv Ausgleichsbewegungen hervor brächten, könnten Fehlallokationen vermeiden und Kostenauftriebe bremsen. Erst dysfunktionale Institutionen, so Starbatty, trübten das Bild. Denn »wenn das Aufsuchen von Nutzendifferentialen zu gesamtwirtschaftlich unerwünschten Ergebnissen« führe, dann solle »man nicht am einzelwirtschaftlichen Verhalten, sondern am institutionellen Arrangement ansetzen«. Als Beispiele für solche »unerwünschten Ergebnisse« nannte er »schwarze Märkte, Preistreiberei« und »Schiebertum«. »Schwarze Märkte«, so Starbatty zusammenfassend, seien »ein typisches Produkt von schlecht geordneten oder geregelten Produktions- und Tauschbeziehungen«.41 Begriffe wie »Schwarzmarkt«, »Preistreiberei« und »Schiebertum« mochten auf die versammelten Zuhörer etwas antiquiert gewirkt haben, zumal in einem Vortrag, der ansonsten das zeitgenössische ökonomische Vokabular verwendete und aktuelle Probleme wie »den Beitrag von Individuen zur Produktion von Kollektivgütern« erörterte. Naheliegender musste da Mitte der 1980er Jahre schon eine andere Folge institutioneller Fehlentwicklungen erscheinen, die Starbatty nannte, nämlich die »Schwarzarbeit«. Doch der Hinweis auf den »Schwarzmarkt« und seine Teilnehmer lenkte den Blick auf die »Vorgeschichte« des ökonomischen Neuanfangs. Er war neben der fachlich begründeten 40 Starbatty, S. 7–26. 41 Alle Zitate ebd., S. 20ff.
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Erwähnung eine Remineszenz an die Etablierungsphase der sozialen Marktwirtschaft, an die Zeit der Währungsreform und die Durchsetzung des »rheinischen« Kapitalismus. Starbatty streifte damit en passant zwei Themenfelder, deren Zusammenhang in der Regel recht eindimensional geschildert wird, weil er in den Kontext Sinn stiftender Gründungserzählungen der Bundesrepublik gehört. Die Soziale Marktwirtschaft erlebte ihre Geburtsstunde demnach mit der Währungsreform im Sommer 1948. Sie bedeutete das Ende der chaotischen »Schwarzmarktzeit« und der mangelhaften Rationierungswirtschaft und legte den Grundstein für das westdeutsche »Wirtschaftswunder«. Die Debatten um Wirtschaftsformen, um Märkte und ihre Verfasstheit bildeten einen Kernbestand der politischen Diskussionen in West-Berlin, den West-Zonen und der jungen Bundesrepublik. Der später zur Erfolgsgeschichte des westdeutschen Staates unumstößlich dazugehörende Beitrag der Sozialen Marktwirtschaft folgte keinem Naturgesetz, sondern setzte sich nach und nach gegen konkurrierende, zum Teil diametral entgegen gesetzte Vorschläge durch. Die nachträglich formulierte Teleologie, die den Bestand der Bundesrepublik von ihren ersten Anfängen an mit diesem Konzept verband, verschleierte die historische Offenheit der Situation in der unmittelbaren Nachkriegszeit und gehörte zu jener, den Glaubensbestand des neuen Staates wesentlich prägenden »invention of tradition«.42 Die große Bedeutung, die der Frage nach der richtigen »moralischen Ökonomie« auch in den westlichen Debattenbeiträgen zukam, wurde durch die empörten Reaktionen illustriert, die eine Äußerung des Justizministers Dehler von der FDP hervorrief. Dehler hatte gemeint, dass »diejenigen, die vor der Währungsreform gegen die Wirtschaftsbestimmungen verstießen (…) wirtschaftlich vernünftig« gehandelt hätten. Anfang Dezember 1949 bestimmte der Justizminister mit seinem Plädoyer für eine Amnestie in Fällen von Wirtschaftsvergehen die Schlagzeilen: »›Schwarzmarkt war vernünftig‹. Dr. Dehler: Großzügige Amnestie für Wirtschaftsvergehen«, titelte »Die Welt«, während der »Sozialdemokrat« indigniert vermerkte: »Dr. Dehler lobt den Schwarzmarkt«.43 Für »erhebliches Aufsehen«, berichtete das Blatt, hätten einige Äußerungen des Ministers in Bonn gesorgt, insbesondere, weil er »den Schwarzmarkt als den ›Markt der wirtschaftlichen Vernunft‹« bezeichnet habe. »Vor allem in Kreisen der Arbeiter und Angestellten, die damals Disziplin gewahrt« hätten, fuhr der Bericht fort, würde es »nicht überraschen, wenn die Bundesregierung die Errichtung eines Denkmals für den unbekannten Schwarzhändler« fordern würde. Aus einer kleinen Debatte wurde schnell eine richtiggehende Kontroverse. In unzähligen Leserbriefen und Kommentaren machten Bürgerinnen und Bürger, Journalisten und Fachleute ihrer Empörung Luft. Das nüchterne, das 42 Vgl. Hobsbawm. 43 Alle Ausgaben vom 1.12.1949.
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Modell des Homo oeconomicus rechtfertigende Plädoyer des Justizministers erklärte immerhin alle Schwarzhändler zu »vernünftigen«, dem Gesetz der Marktliberalität zum Durchbruch verhelfenden Personen: ein Affront für die Zeitgenossen, die einer moralischen Ökonomie anhingen, die Kategorien von Gemeinschaftsschädlingen und Volkswohl kannte. Dehlers Deutung widersprach nicht nur NS-Deutungen, sondern auch einer weit verbreiteten, durch die NS-Ideologie unterstützten öffentlichen Meinung, die den Schwarzhandel als ein »Übel« ansah, als eine Praxis nämlich, bei der sich einige wenige auf Kosten der breiten Masse der Bevölkerung bereichern konnten, weil sie über die entsprechenden Mittel und eine gehörige Portion Egoismus verfügten. Der bei Kriegsende 43jährige Rudolf Groß formulierte seine Abscheu gegenüber dem unmoralischen Schwarzmarkttreiben in Berlin (an dem er gleichwohl teilnahm) in einem christlich geprägten Vokabular: »Jetzt kam auch der schwarze Markt mit seinen Scharlatanen in Schwung und wurde da (!) gefeilscht und betrogen, schlimmer glaub ich als die Pharisäer im Tempel zu Christis (!) Zeiten«.44 Solche Urteile, welche die »Tricksereien«, Fälschungen und Vorteilnahmen kritisierten, drückten eine in Berlin weit verbreitete Stimmung aus. Doch nicht nur Privatpersonen oder persönlich geschädigte Marktteilnehmer meldeten sich – und sei es im kleinen Kreis – zu Wort. Der moralische Schwarzmarktdiskurs hatte eine entscheidende publizistische Basis in den Berliner Tageszeitungen. Insbesondere auf den Berlin- und den Wirtschaftsseiten des »Tagesspiegel« meldeten sich Kommentatoren zu Wort, die eine klare, auf den Währungsschnitt und eine weitgehende Auf hebung der Bewirtschaftung zielende Position vertraten. Zwar redeten diese Zeilen durchaus einer Abschaffung der Zwangswirtschaft und einer möglichst weitgehenden Freizügigkeit der Wirtschaft das Wort, aber ohne Moral funktionierte eine liberale Wirtschaftsordnung auch für den »Tagesspiegel« nicht: »Ein Erfolg hängt allerdings immer von der Wirtschaftsmoral und einer entschlossenen Verwaltung ab, die besonders nach der Währungsreform den Mut haben sollte, auf den notwendigen Restgebieten der Lenkung durchzugreifen.«45 Der Schwarzmarkt stieß in diesen öffentlichen Debatten auf Abscheu, weil er eine Sozialmoral beförderte – und widerspiegelte –, die allein auf den Gewinn sah, die sich nicht scheute zu betrügen und die existentiellen Nöte anderer ausnutzte. Gleichzeitig lieferte diese Haltung aber auch Indikatoren für eine vorsichtige Bewertung der Chancen einer wirtschaftlichen Liberalisierung. Allein mit einer unsichtbaren Hand, die Nachfrage und Angebot regelte, war für den deutschen Diskurs eine liberale Wirtschaftsordnung nicht zu haben. Ohne eine – auch mit staatlicher Macht durchgesetzte – Wirtschafts44 LAB F Rep 240, Nr. 3, S. 237/2. 45 Ausgabe vom 14.8.1948, »Bewirtschaftung«, S. 5.
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moral, ohne einen kollektiven Wertbezug auch des individuellen wirtschaftlichen Handelns vermochten selbst marktwirtschaftlich orientierte Kommentatoren sich eine zukunftsweisende Wirtschaftsordnung nicht vorzustellen. Die kollektive Verarbeitung der Schwarzmarkterfahrung mündete keineswegs umstandslos in eine Bejahung der sozialen Marktwirtschaft. Vielmehr rief gerade die Liberalisierung des Marktes, wie sie Ludwig Erhard anstrebte, Assoziationen mit dem Schieberdiskurs hervor. Der Diskussionsprozess um die neu zu errichtende Wirtschaftsordnung verlief äußerst kontrovers, spaltete zum Teil die Anhänger einer Partei – wie die der CDU – in unterschiedliche Lager und rief Gewerkschafter und Kirchenvertreter auf den Plan.46 Dabei handelte es sich von Anfang an keineswegs um einen reinen Expertendiskurs. Vielmehr fanden diese Auseinandersetzungen auch »auf der Straße« statt. Nichts, notierte Ludwig Aderbauer in seiner Dissertation aus dem Jahr 1948, »nichts beschäftigt nach der bangen Frage: Krieg oder nicht? zur Zeit die breite Öffentlichkeit so sehr wie die beiden Komplexe: Währungsreform und Schwarzer Markt. Auf der Straße, in der Eisenbahn, in Gaststätten (…) ist man immer wieder unfreiwillig Zeuge solcher Gespräche. Der Austausch persönlicher, ganz privater Sorgen mündet stets in eine Erörterung dieser Probleme«.47 Die Auseinandersetzungen über eine Währungsreform und den Schwarzhandel aber kreisten stets um die selben zwei Fragestellungen. Erstens: Wie konnten die wirtschaftlichen Schwierigkeiten überwunden werden? Und zweitens: Welche Wirtschaftsordnung war dafür am besten geeignet? Gleichgültig, von welchem Ansatzpunkt aus die Teilnehmer in die Debatte eingriffen, ob vom makroökonomisch-theoretisch fundierten Blickwinkel des Experten oder getrieben von der Sorge um die eigenen Rationen und mit der Perspektive eines Laien – sie alle nahmen an jenem breiten, die öffentliche Meinung prägenden Diskurs über die Alternativen einer zukünftigen Wirtschaftsordnung teil. »Markt-« oder »Planwirtschaft«, Fortsetzung der »Bewirtschaftungsmaßnahmen« und des »Preisstops« und damit Fortführung der nationalsozialistischen »Befehlswirtschaft« oder »Entfesselung der Marktkräfte« und »Währungsschnitt« – das waren, grob gesagt, die Alternativen in einer Debatte, die doch eigentlich von einer Mehrheit dominiert wurde, die beides wollte.
46 »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden«, hieß es im Ahlener Programm der CDU, »Inhalt und Ziel (einer) sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Auf bau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert« (Konrad-Adenauer-Stiftung). 47 Aderbauer, S. 1.
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In der Historiografie sind die Schwerpunkte eindeutig verteilt. Die Zeit nach der Währungsreform wird überwiegend als Beginn einer neuen, dem Wettbewerbsgedanken und freier Preisbildung verpflichtete Phase der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik beschrieben. Die Auf hebung der Preisbestimmungen unter Wirtschaftsminister Erhard nimmt in den einschlägigen Darstellungen einen prominenten Platz ein, obgleich »politische Preise« in der Wohnungs-, Verkehrs- und Ernährungswirtschaft bis weit in die fünfziger Jahre hinein eine wichtige Rolle spielten und rund 30% aller Güter des privaten Verbrauchs einer administrierten Preispolitik unterlagen48. Sowohl seitens der Bevölkerung als auch von Interessenvertretern und Teilen der westdeutschen Regierung wurden »immer wieder staatliche Eingriffe in die Preisbildung gefordert« und in der Folge auch vollzogen. Als »erstaunlich« hat die Forschung jüngst beschrieben, dass der Ruf nach regulierenden Eingriffen noch »in der Aufschwungphase ab 1952 trotz steigender Realeinkommen (…) immer wieder laut wurde«. Die »Preispolitik in der Sozialen Marktwirtschaft« hatte im Leitsätzegesetz von 1948 mit einer »Grundsatzentscheidung zugunsten der Sicherung des Lebensstandards der Bevölkerung begonnen«, weil die Planer um Ludwig Erhard davon ausgehen konnten, dass »der Marktmechanismus kurzfristig kein ausreichendes Angebot schaffen und zugleich die Preise dratsisch in die Höhe treiben würde«. Die »Grundsatzentscheidung« zielte damit auf den »Schutz breiter Schichten und war am Einkommen der arbeitenden Bevölkerung orientiert«.49 Der Erfolg dieser Politik fiel geringer aus als erwartet. Denn »trotz des hohen Anteils administrierter Preise, die zunächst relativ stabil gehalten« werden konnten, »war die Entwicklung des Preisniveaus« noch »bis 1952 durch starke Schwankungen gekennzeichnet«. Der subjektive Eindruck in der Bevölkerung fiel entsprechend negativ aus und schlug sich in Gewerkschaftsprotesten und schlechten Werten in Meinungsumfragen nieder. Wirtschaftsminister Erhard setzte, weil er die Akzeptanz der neuen Wirtschaftsordnung gefährdet sah, auf Symbolpolitik. Sein Ministerium »initiierte (…) preispolitische Maßnahmen wie das Jedermann-Programm, den Preisspiegel, das Gesetz gegen Preistreiberei, die Bildung eines Preisrates und schließlich das Konsumbrot, deren symbolische Bedeutung weit größer war als ihre realwirtschaftliche Reichweite«. Diese preispolitische Strategie ging auf und »durchzog im Prinzip die gesamten 50er Jahre«. In der Regierung Adenauer war es vor allem der Kanzler selber, der – auf Wahlerfolge erpicht – immer wieder den grundsätzlich liberalen Kurs seines Wirtschaftsministers kritisierte und auf »auf preispolitischem Feld die Handlungsfähigkeit der Regierung zu demonstrieren« suchte. Diese Aus-
48 Zündorf, S. 9. 49 Ebd., S. 305.
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einandersetzungen trugen »zum andauernden Dissens« zwischen den beiden prominentesten CDU-Politikern bei.50 Dabei blieb die Lagerbildung eigentlich für außen Stehende relativ undurchsichtig, verschwammen die Positionen eines flexiblen Konzepts, dass jeder für sich je nach Bedarf eher in die eine oder die andere Richtung betonen konnte. Die »Soziale Marktwirtschaft« war ein »ideologisch schmiegsames« Konstrukt: »Die einen betonen dass Adjektiv, die anderen das Substantiv, und alle meinen, es gehe in erster Linie um ihre Interessen«.51 Kein Wunder, dass auch prominente Vertreter des Konzepts ihr Image wandeln konnten. Ein Beispiel für die selbst beförderte Harmonisierung des Bildes von den Begründern des westdeutschen Erfolges als gemäßigten Marktliberalen findet sich in den von der Ludwig Erhard-Stiftung herausgegebenen Schriften des ersten deutschen Wirtschaftsministers. In einer Rundfunkansprache vom 8. Dezember 1945 hatte der damalige Bayerische Staatsminister für Wirtschaft ausgeführt, dass es ihm zwar widerstrebe, »die wirtschaftliche Ordnung durch Polizeigewalt herbeiführen zu wollen«, die Regierung aber »doch nicht länger tatenlos zusehen« könne, »wie öffentliches Gut in Ausnutzung ungeklärter Rechtsverhältnisse und Kompetenzen von gewissenlosen Spekulanten verschoben und somit vergeudet« werde. Auch stehe er nicht an, sich »zu einer liberalen Wirtschaftsauffassung zu bekennen, aber die persönliche Freizügigkeit« sei »in einer grundsätzlich freien Marktwirtschaft (…) an Voraussetzungen geknüpft, die angesichts [der] Mangellage auf allen Gebieten« derzeit nicht vorlägen.52 Die »erstrebenswerte Auflockerung« der wirtschaftlichen Verhältnisse sei »nicht über das Chaos der Willkür, der Zuchtlosigkeit und der brutalen Selbstsucht« zu erreichen, sondern rechtfertige, dass mit aller Härte gegen »übelstes Geschmeiß, Parasiten und Leichenfledderer« vorgegangen werde.53 Interessant erscheint vor allem, dass der Titel der Ansprache einen anderen, nämlich tendenziell liberaleren Text vermuten ließ: »Wirtschaftliche Ordnung nicht durch Polizeigewalt«, hieß es dort.54 Lässt sich die Entstehungs- und Etablierungsgeschichte der sozialen Marktwirtschaft also allein mit dem Verweis auf ihre Erfolge hinreichend erklären? Der prominenteste Hinweis auf eine Kontextualisierung der beginnenden Erfolgsgeschichte der sozialen Marktwirtschaft mit Blick auf die Erfahrungen der Schwarzmarktzeit findet sich bei Müller-Armack selber. In einem viel zitierten Handbuch-Beitrag verwies er ausdrücklich auf die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der von ihm propagierten Wirtschaftsordnung: »Wenn es 50 51 52 53 54
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Ebd., S. 306. Zinn, S. 44. Erhard, S. 57. Ebd., S. 58. Ebd., S. 55.
nach Jahren einer strengen Wirtschaftslenkung gelang, den Begriff der sozialen Marktwirtschaft in kurzer Zeit in der deutschen Öffentlichkeit durchzusetzen«, schrieb er, »so war dies den negativen Erfahrungen in einer Zeit mehr und mehr versagender Wirtschaftslenkung und der Währungs-Unordnung zuzuschreiben«. Erst die »kritische Auseinandersetzung mit den Funktionsmängeln der Wirtschaftslenkung« habe seinerzeit dazu geführt, »dass ein freiheitliches System nicht nur erfolgreich den Anspruch, die sozialen Probleme lösen zu können, zu erheben vermochte, sondern auch in breitesten Schichten Zustimmung fand«.55 Damit verwies einer der Begründer der Sozialen Marktwirtschaft auf die historischen Voraussetzungen, die den Erfolg des Konzeptes erst möglich gemacht hatten, und historisierte zugleich seinen eigenen Beitrag zur Gründungsgeschichte der westdeutschen Wirtschaftsordnung. Bereits in diesem Artikel aus dem Jahr 1956 ist damit der Hinweis auf die »Schwarzmarktzeit« als Vorgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft, auf die »illegale« als Erfahrungsraum der »sozialen Marktwirtschaft« gegeben. Die Erfahrungen der vierziger Jahre waren zunächst für die zeitgenössischen Ökonomen von Bedeutung, die schon geraume Zeit über Mischformen von Wirtschaftsordnungen nachgedacht hatten und die Rolle des Staates und seiner sozialpolitischen lenkenden Aufgaben neu auszuloten suchten. Doch für die Durchsetzung eines ökonomischen Programms bedurfte es darüber hinaus auch politischer Unterstützung, bedurfte es überzeugter und überzeugender politischer Entscheidungsträger sowie eines ausreichenden Rückhaltes in der Bevölkerung. Ein entscheidender Vorteil bei der Formulierung des ökonomischen Programms der Sozialen Marktwirtschaft lag darin, dass sich das Konzept von vorne herein zwischen den beiden die Diskussion beherrschenden Polen »Marktwirtschaft« und »Plan-«, »Kommando-« oder »gelenkter Wirtschaft« einordnete. »Freie Wirtschaft und Planwirtschaft« war ein Artikel von Erhard in der »Neuen Zeitung« vom 14. Oktober 1946 überschrieben. Dem 1988 wieder abgedruckten Text stellte der Herausgeber eine kurze Einleitung voran, in der ein zeitgenössischer Hintergrund geschildert wurde, vor dem Erhard versucht habe, »die polaren ordnungspolitischen Alternativen sichtbar zu machen«: »Die Menschen arbeiteten verbissen, von Hunger, Zonengrenzen, Korruption und Schwarzhandel gequält«, erläuterte – mit reichlich Pathos – der Herausgeber.56 Wie sehr die einerseits von Erhard betriebene, andererseits nachträglich geleistete Glorifizierung am Erhardschen Programm selber vorbei lief, zeigen die Ausführungen des Artikels. Denn – ohne einen einfachen Gegensatz aufzumachen – stellte Erhard fest, es sei charakteristisch, »dass die abweichenden Auffassungen immer in der Zuspitzung auf scheinbar unversöhnliche Extreme 55 Müller-Armack, S. 390. 56 Erhard, S. 69
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– hier freie Wirtschaft, dort Planwirtschaft, hie Sozialismus, dort Kapitalismus – Ausdruck« fänden, »während die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung« dazu anhalte zu fragen, »ob nicht von beiden Fronten her Einflüsse wirksam« seien, »die auf eine Annäherung der Standpunkte schließen« ließen.57 Machte Erhard damit darauf aufmerksam, dass eine Diskussion mit Schlagworten kaum lösungsorientiert sein könne, boten seine Anmerkungen doch andererseits eine Grundlage für eine mit großem Erfolg medial inszenierte Polarisierungsthese, die vor allem im Bundestagswahlkampf 1949 auf die Gegenüberstellung von Markt- und Planwirtschaft, von CDU und SPD und – mindestens im Hintergrund präsent, zuweilen auch ostentativ hervor gekehrt – zwischen West und Ost hinaus lief.58 Damit war ein Interpretationsrahmen abgesteckt, der es in der Folge den Verfechtern ermöglichte, ihr Konzept einerseits als überzeugenden Kompromiss zu propagieren und andererseits nach Bedarf unterschiedlichen Ängsten und Hoffnungen mit Akzentverschiebungen in die eine oder andere Richtung entgegen zu kommen. Das, was Müller-Armack als »vage Verwendung« gekennzeichnet hatte, die »in der Öffentlichkeit gelegentlich den geistigen Anspruch« verdeckt habe, sollte sich – im Gegenteil – als eine Stärke erweisen. Die als vermeintlich »widerspruchsvoll empfunden(e)« Wortverbindung »soziale Marktwirtschaft« bildete eine durchaus attraktive Chiffre für den Neuanfang, die als »Etikett« auch von den Erfolgen der Wirtschaftspolitik profitierte. Doch sollte man nicht allein auf Kennziffern der (Konsumgüter-) Produktion sehen, um den Erfolg zu erklären, sondern auch den »weicheren« Faktor eines durchsetzungsfähigen Diskurselements berücksichtigen, zumal das »Wunder« im Alltag der meisten Zeitgenossen nur sehr langsam Gestalt annahm und deshalb seinen mythischen Charakter wenigstens in Teilen Ex-Post-Schilderungen verdankte. Am »Beginn der Konsumgesellschaft« stand keineswegs eine so eindeutige materielle Erfolgsgeschichte wie sie die Begriffe »Wirtschaftswunder« oder »Konsumgesellschaft« suggerieren. Michael Wildt hat das »erste Jahrzehnt nach der Währungsreform als »ungleich genügsamer, eingeschränkter und grauer« beschrieben, als es der Mythos vom raschen ökonomischen Aufstieg wahrhaben will.59 Das bekannte Motiv von den wieder gefüllten Schaufenstern verdeckte, dass viele keineswegs sofort in den Genuss des »lange Entbehrten« kommen konnten. 57 Ebd. 58 Vgl. Niemann. 59 Wildt, Beginn, S. 256. Damit wird eine Deutung relativiert, die andernorts nach wie vor in den Vordergrund rückt und scheinbar – je nach Bedarf – für den eigenen Argumentationszusammenhang funktionalisiert wird. Vgl. etwa Gusy, S. 16f., der die »junge Bonner Republik« zwar als »Ort des Aufschwungs und der Stabilität« darstellt und damit eine Erweiterung des Aufstiegsparadigmas andeutet, zugleich aber nach wie vor den Schwerpunkt auf die materielle Entwicklung legt, von der »breite Bevölkerungskreise fühlbar profitiert« hätten.
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Damit wird die Erfolgsgeschichte des ökonomischen Neuanfangs nicht negiert, wohl aber relativiert. Ein Blick auf den Gesamtkontext der Durchsetzungs- und Etablierungsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft muss diese Relativierung ernst nehmen. Die Verfechter der neuen Wirtschaftsordnung konnten mit dem biegsamen Konzept der Sozialen Marktwirtschaft erfolgreich auf die Probleme der zurückliegenden Chaoszeit antworten. Das Konzept ging auf eine ganze Reihe zeitgenössischer, für jeden einzelnen täglich erfahrbarer Problemlagen ein. Die Kernelemente der neuen Wirtschaftsordnung reagierten auf die gegebenen »Missstände« oder schienen zumindest als Lösungsversprechen attraktiv zu sein. Deshalb konnte Müller-Armack 1956 feststellen: Die »Grundannahme der sozialen Marktwirtschaft, dass es möglich sein müsse, bei breitesten Schichten Zutrauen zu den sozialen Leistungen der Marktwirtschaft zu gewinnen, (ist) inzwischen bestätigt« worden.60 Vertrauen konnte die Bevölkerung der neuen Wirtschaftsordnung deshalb, weil sie neben den materiellen Erfolgen Stabilität und »sozialen Fortschritt« versprach. Im Fokus der öffentlichen Darstellung des Konzeptes standen die »Freiheit des Konsumenten« und ein Wohlfahrtsversprechen, dass alle Bürgerinnen und Bürger einschloss. Marktwirtschaft umfasste demnach ein »System sozialen Schutzes« das schon alleine deshalb gewährleistet war, weil in ihm die »Konsumenten die Wirtschaft nach ihren Bedürfnissen (…) lenken« und den »Preisapparat« als »ein(en) unentbehrliche(n) Koordinierungs- und Einpendelungsapparat«, der die »Einzelpläne der Konsumenten abstimmt(e)«, für ihre eigene Wohlfahrt nutzbar machen konnten. »Alle zentrale Lenkung«, so Müller-Armack abgrenzend, suche »demgegenüber die Güterströme anders fließen zu lassen, als es dem Wunsch des Konsumenten« entspräche. Diese »Orientierung am Verbrauch« sei bereits selber »eine soziale Leistung der Marktwirtschaft«. Einen ähnlichen Effekt habe »die durch das Wettbewerbssystem gesicherte und laufend erzwungene Produktivitätserhöhung«, die als eine »soziale Verbesserung« wirke, »die um so größer und allgemeiner ist, je mehr durch den Wettbewerb einseitige Einkommensbildungen, die aus wirtschaftlicher Sonderstellung herrühren, eingedämmt« würden.61 »Einseitige Einkommensbildung« und »wirtschaftliche Sonderstellung« – das waren die in die Sprache eines Lexikon-Artikels übersetzten Erfahrungen der Zeitgenossen mit »Prasserei« und »Luxus«, mit »Goldfasanen« und »Kriegsgewinnlern«, wie sie in den an privilegierter Stelle sitzenden Parteifunktionären und dem System eines tauschenden Beziehungsnetzwerkes der Kriegszeit zum Ausdruck gekommen waren. Das System einer zentralen Lenkung, die sich im Zweiten Weltkrieg mit marktwirtschaftlichen Elementen mischte, hatte Müller-Armacks Darstellung zufolge vor allem Blockaden, Hemmnisse und 60 Müller-Armack, S. 392. 61 Ebd., S. 390.
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eine Verminderung der wirtschaftlichen Leistung der deutschen Volkswirtschaft bewirkt. Die Soziale Marktwirtschaft setze deshalb auf den Wettbewerb als »Koordinierungsprinzip«, ohne in ein radikales »laissez faire« des Wirtschaftens zurückzufallen. Vielmehr gehe es um eine »neuartige Synthese«: »Der Begriff der sozialen Marktwirtschaft kann so als eine ordnungspolitische Idee definiert werden, deren Ziel es ist, auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden«.62 Dass eine staatliche Sozialpolitik mit ihren Umverteilungsleistungen und Sicherheitsversprechen neben diese neuartige Emphase eines selbständigen Konsumenten treten sollte, mochte die Freiheit, die nicht nur ein Versprechen darstellen musste, sondern auch eine Gefahr signalisieren konnte, umso wählbarer machen.
62 Ebd.
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Schluss: Schwarzhandel als radikale Markterfahrung Die »deutsche Geschichte ist seit 1945 vor allem Wirtschaftsgeschichte«, hat Werner Abelshauser behauptet. Nichts hat demnach »den westdeutschen Staat stärker geprägt als seine wirtschaftliche Entwicklung«. Auch der »zweite deutsche Staat« verknüpfte »sein Schicksal von Anfang an eng mit der Verheißung wirtschaftlichen Erfolgs«. Wohlstand war »zum entscheidenden Kriterium des Wettbewerbs im Ost-West-Vergleich« geworden. Wirtschaftliche Prosperität als »Vehikel« der nationalen Identifikation und des staatlichen Selbstverständnisses, »der wirtschaftliche Erfolg der frühen Jahre« als »materielle Basis für jenen satten Grundkonsens, der den Interessenausgleich der sozialen Gruppen erleichterte« – so lassen sich grundlegende Ausgangsbedingungen der beiden deutschen Zeitgeschichten beschreiben.1 Diese große Bedeutung konnte den beiden Aufstiegserzählungen allerdings auch zukommen, weil sich selbst die im Vergleich bescheideneren Erfolge der DDR-Wirtschaft immer noch mehr als deutlich von ihrer chaotischen Vorgeschichte abhoben. Die Erfahrungen der »Schwarzmarktzeit« waren dabei einschneidend. In gleichem Maße, wie sie die Zeit der relativen Stabilisierung während der 30er Jahre hinter sich ließen, gewannen sie eine nicht zu unterschätzende Prägekraft für die beiden deutschen Gesellschaften in Ost und West. Diese Entwicklung lässt sich zum Teil an quantifizierbaren Größen ablesen. Sie ist aber sehr wahrscheinlich auch das Ergebnis eines Wandels in den Erfahrungshaushalten der Zeitgenossen, der sich als Abkehr von den Praktiken, den Risiken und allgemein dem Misstrauen der Schwarzmarktzeit beschreiben lässt. Was hat es in diesem Zusammenhang zu bedeuten, dass die Bundesrepublik das einzige Land bleiben sollte, in dem jene (1964) zum Zwecke des Verbraucherschutzes gegründete »Stiftung Warentest« eine quasi staatliche Einrichtung wurde? Womit lässt sich erklären, dass sowohl die DDR als auch die Bundesrepublik ein Ausmaß an »Verrechtlichung (ihrer) Wirtschaftsordnungen« kannten, das als »Spezifikum der Rechts- und Wirtschaftsgeschichte« gelten kann?2 Liegt eine der Ursachen hierfür in der radikalen Markterfahrung der vierziger Jahre? Das ließe sich kaum quantifizieren noch eindeutig belegen – wohl aber plausibel machen.
1 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 11f. 2 Ambrosius, S. 26.
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Der Schwarzmarkt war für die meisten – ungeachtet aller abenteuerlichen Erfolgsgeschichten – vor allem eine Zumutung. Ja, gerade das Erzählen von Schwarzmarkterlebnissen als Abenteuer verweist die exzeptionelle Situation, in der man sich als Schwarzhändler befand und die man in der Regel nur als glücklich überstandenes Abenteuer beschreiben konnte. Aber warum war der Markt eine Zumutung? Lediglich weil er illegal war und anständige Bürger, die an ihm teilnahmen, zu Kriminellen machte? Ausblickend lassen sich die hier gemachten Beobachtungen aus dem Berliner Tauschalltag auch auf längerfristige soziale und kulturelle Verschiebungen beziehen, die durch den Blick auf den Schwarzmarkt als wirkmächtigen alltäglichen Konsumerfahrungsraum der 1940er Jahre an Schärfe gewinnen. Dieses lange Jahrzehnt erscheint dann als eine Phase der Auflösung und Reformulierung gesellschaftlicher Regeln. Es geht mithin um einen wichtigen Referenzraum der »Wirtschaftsgeschichten als Kulturgeschichten« von Bundesrepublik und Deutscher Demokratischer Republik. Unsicherheit und Misstrauen in Konzepte alltäglichen Verhaltens machten sich als Grunderfahrungen bei den Bewertungen von Rollenmustern und einzelnen Berufsgruppen fest. Das galt für die DDR mit ihren gegen den Privatunternehmer gerichteten Kampagnen, die an solche Misstrauenshaltungen anknüpfen und ganze Berufsstände als Schieber-Gesindel diskreditieren konnten, aber auch für die Bundesrepublik. Ludwig Erhard hatte in einer Rundfunkansprache vom Mai 1948 vor allem Einzelhändler kritisiert, die seiner Meinung nach zu den Profiteuren der Bewirtschaftung zählten. Das war nicht vollkommen falsch, aber auch kein Beitrag, der geeignet gewesen wäre, die vergiftete Atmosphäre zu entspannen.3 Erhard konnte sich einer breiten Zustimmung gewiss sein. Das war das Ergebnis jener ungleichen Machtverteilung auf dem Schwarzmarkt als Verkäufermarkt. Diese Ungleichverteilung fiel nach dem Ende der Schwarzmarktzeit auf ehemals potenten Marktteilnehmer zurück. Neben den ohnehin verurteilten »Goldfasanen« traf ganze Berufsgruppen der Vorwurf, sich auf Kosten der Mehrheit bereichert zu haben. Dazu zählten neben Einzelhändlern Gastwirte, Kellner, Bauern und städtische Angestellte. Die limitierten Zugangsmöglichkeiten zu den knappen Waren der Kriegs- und Nachkriegszeit privilegierten solche Berufsgruppen, die überhaupt in Kontakt mit ihnen traten, und eröffneten ihnen in der Folge die Vorteile eines Angebotsoligopols. Wer nicht zufrieden war hatte kaum Sanktionsmöglichkeiten. Zu den unmittelbar spürbaren Verschiebungen des Sozialen unter den Bedingungen der Tauschkultur gehörte der Wandel sozialer Beziehungen im Arbeits- und Privatleben der Marktteilnehmer. Davon betroffen waren etwa solche zu Bekannten, Nachbarn oder Kollegen. Sie wurden dem Imperativ des 3 Mierzejewski, S. 70
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Tausches unterworfen und wurden so selber Bestandteil von monetarisierten oder in Warenäquivalenten ausgedrückten Beziehungen. Liebe oder familiale Beziehungen nicht in Warenkategorien zu denken wurden denen schwer, die sahen, wie auf dem Schwarzmarkt buchstäblich alles feilgeboten werden konnte. Umgekehrt aber unterminierte der Schwarzhandel auch das gewohnte Verhältnis zu Waren und Tausch- oder Verkaufsbeziehungen als Vertrauensgaranten des Alltags; er beförderte so eine Kultur des Misstrauens wie eine Sehnsucht nach normalen Interaktions- und Praxisfeldern. Fälschungen oder auch das Strecken von Waren mussten durch die Kunden sofort erkannt und gegebenenfalls als preismindernder Faktor in die Verhandlungen eingebracht werden, wollten sie sich nicht betrügen lassen. Das Risiko der Qualitätsprüfung und die Kontrollkosten der Schwarzhandelsgeschäfte lagen ganz bei ihnen. Einklagbare Rechte, wie sie der Staat auf den legalen Märkten garantierte, hatten die Kunden der illegalen Berliner Märkte nicht. Insofern waren sowohl personale als auch Warenbeziehungen einer grundlegenden Kultur des Mißtrauens ausgesetzt. Auf diese Verunsicherungen und Benachteiligungen reagierten empörte Beobachter, indem sie mit der Schieberfigur den Idealtypus eines Krisengewinnlers entwarfen. Sie gewann Profil vor dem Hintergrund einer langen, erfahrungsgesättigten Tradition, die aus dem Umfeld des Ersten Weltkriegs und seiner Nachgeschichte stammte. Vor dem Hintergrund gewandelter historischer Bedingungen wie auch der Pluralität der Handlungsformen stellte dieser Diskurs eine Komplexitätsreduktion dar. Das Schieberbild, das hier gezeichnet wurde, konnte einerseits an tatsächlich zu beobachtende Ereignisse anknüpfen, reduzierte andererseits aber jene Vielfalt unterschiedlicher Praktiken und Teilnehmergruppen, die vom bloßen Gelegenheitsteilnehmer bis zum großen Makler des illegalen Gewerbes reichte. Schieber waren die Protagonisten einer moralischen Ökonomie der Schwarzmarktzeit, die eine als kontingent und benachteiligend erfahrene Wirklichkeit durch einfache moralische Muster zu ordnen und Sicherheit wiederherzustellen suchte. Der Schiebervorwurf konnte prinzipiell alle treffen – vom Nachbarn bis zu vollkommen unbekannten, als dunkle Mächte im Hintergrund vermuteten Personen. Tatsächlich traf er vor allem Randgruppen und fügte sich damit in jenen breiteren Diskurs ein, der die inklusiven Beschwörungen der »Volksgemeinschaft« über diffamierende Zuschreibungen unterstützte. Damit war zugleich das für die moralische Ökonomie zentrale Problem von Macht- und Ohnmachterfahrungen thematisiert. Dieses Motiv vermischte sich nach Kriegsende mit der Wahrnehmung des prekären Verhältnisses zwischen den Siegern und Verlierern des Krieges. In die Beschreibungen des Tauschgeschehens auf den Berliner Schwarzmärkten flossen unterschiedliche Deutungen von Zeichenhierarchien ein, die (Markt-) Macht wie Demütigungsgefühle ausdrückten und sowohl Enttäuschung als auch Verunsicherung in einem Op319
ferdiskurs artikulierten. Dieser konnte zum Teil durch neue Erklärungsmuster aufgefangen werden, die etwa Hilfsleistungen als Ausweis von Freund- oder Partnerschaft begriffen und zum Gegenstand der Parteinahme für die eine oder die andere Besatzungsmacht wurden. Der Begegnungsraum, in dem die neuen und alten Teilnehmer des illegalen Handels aufeinander trafen, waren die öffentlichen Schwarzmarktplätze, die sich ab dem Winter 1944/45 auszubreiten begannen und seit dem Sommer 1945 im gesamten Stadtgebiet zur festen Einrichtung des Berliner Konsumalltags wurden. Die öffentlichen Plätze erregten, obgleich sie auch als Räume einer neuen und friedlichen Geselligkeit nach Kriegsende wahrgenommen wurden, doch den Anstoß vieler Beobachter. Denn hier wurden auch soziale Beziehungen gepflegt, die ihnen amoralisch erschienen, weil sie aus ihrer Sicht die Gemeinschaft schädigten. Es ist charakteristisch, dass diese Beziehungen in Marktbegriffen ausgedrückt wurden. Denn für den Schwarzmarkt etablierte sich – sobald er als öffentliches Phänomen sichtbar wurde – bald der Begriff der (schwarzen) Börse. Das auf den Plätzen beobachtbare Spiel der Preisaushandlung wurde irritiert zur Kenntnis genommen. Gerade vor dem Erfahrungshintergrund fester Zuteilungen und »eingefrorener« Preise reagierten viele Berlinerinnen und Berliner mit skeptischem Staunen auf die sichtbaren Praktiken des Handelns, zumal diese wegen der Knappheit mit Preisnominalen operierten, die als »Fantasiepreise« erscheinen mussten, dabei jedoch jeden Tag eine beobachtbare Realität darstellten und somit einen merkwürdigen Eindruck des Fantastischen erzeugten. Börsen sind Institutionen, in denen der Prozess der Preisbildung als beobachtete Preisbildung abläuft. Die Rede von den Schwarzmarktplätzen als schwarzen Börsen verwies damit auf eine als bedrohlich wahrgenommene Verschiebung ökonomischer Kontexte, die das »freie Spiel« der Marktkräfte ins Bewusstsein der Zeitgenossen rückte. Die auf den öffentlichen Plätzen der Stadt provozierend sichtbar gewordene Tatsache, dass Preise als Ergebnis von Angebot und Nachfrage einerseits und als beobachtete Preise andererseits fluide Phänomene waren, die mit den bekannten Preisschemata als Ergebnissen unsichtbarer Preisbildungsprozesse nichts mehr zu tun hatten, war eine verunsichernde Erfahrung. An diesen Börsen konnte beobachtet werden, »wie jenes rätselhafteste Produkt der Wirtschaft, der Preis, zustande kommt«.4 Die Verwendung des Börsenbegriff verwies auf zweierlei: einerseits die Irritation über das Neue, andererseits aber auch schon eine wenigstens in Teilen verstehende Zuordnung dieses Neuen, die das Phänomen in seiner Komplexität reduzierte und benennbar machte. Die Krux bei der Börsenanalogie lag allerdings darin, dass sie zwar eine Zuordnung erlaubte, das komplexe Börsengeschehen aber nicht vollständig erklären konnte und damit eher zum Ausdruck 4 Baecker, S. 287.
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von Hilflosigkeit werden musste. Was an einer Börse passierte, war für die meisten Akteure undurchschaubar. Der Begriff war damit in erster Linie Ausdruck der eigenen Ohnmacht, des Gefühls zum Spielball von anonymen Kräften geworden zu sein; oder von Kräften die man, um zum Teil beobachtbare Vorgänge, ein Sicherheitsbedürfnis und ein Bedürfnis nach Sündenböcken zusammen bringen zu können, auf klar abgrenzbare Akteursgruppen zu reduzieren versuchte: deutsche Schieber, Displaced Persons und alliierte Soldaten. Das Obszöne wurde aus dieser Sicht in der Gegenüberstellung des Schiebers als gambler auf dem Markt der Hazard-Ökonomie und den machtlosen Marktsubjekten deutlich, die überhaupt nicht dazu in der Lage waren, aktiv in das Geschehen einzugreifen. Vor diesem Hintergrund konnten die Erfahrungen der »Schwarzmarktzeit« in doppelter Hinsicht prägen. Sie gewannen einerseits Einfluss auf der Ebene einer Erfahrungsgeschichte der Marktwirtschaft. Die Entwicklungen der beiden Volkswirtschaften und ihrer Marktformen (auch im Vergleich untereinander), Konsummöglichkeiten und -grenzen, aber auch Fragen nach »sozialer Absicherung« bildeten einen der wichtigsten Diskursstränge in den Verhandlungen über die Selbstbilder auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze. Ökonomische (also: Tausch-) Potenz und Sicherheit für Verbraucher wurden zu Kernelementen kollektiver Sehnsüchte wie Selbstverständnisse. Während in der DDR der Übergang »von Plan zu Plan« (André Steiner) eine alltägliche Konfrontation mit verstörenden Marktmechanismen von vornherein begrenzte, wurde für die Bundesrepublik die Einhegung der Marktwirtschaft zu einem wichtigen Ziel. Der »rheinische Kapitalismus« unterschied sich damit erheblich von seinen anglo-amerikanischen Pendants. Diese Entwicklung hatte eine längere Vorläufergeschichte, konnte aber durch die Erfahrungen der Schwarzmarktzeit nachhaltig bestärkt werden. Insbesondere die freie Preisbildung stieß auf ein Misstrauen, das sich am Schieberdiskurs orientierte, und nach einer Marktmoral ebenso wie nach staatlicher Ordnung rief. Bezeichnend für den Umgang mit den Erfahrungen von Unsicherheit, Chaos, sozialer Unordnung, vermeintlicher permanenter Übervorteilung, kurz: für alles das, was die überwiegend misstrauische Atmosphäre der »Schwarzmarktzeit« ausmachte, wurde eine Lesart des »chaotischen Neubeginns in den Trümmern«, die den Schwarzmarkt und alles, was mit ihm zusammenhing, als Phänomen einer Übergangsphase einem Geist gleich plötzlich erscheinen und genauso plötzlich wieder verschwinden ließ. Auf Plakaten erschien der Schwarzhandel als Gespenst abgebildet; ein Spuk der Zeit, den es zu vertreiben galt, und der – so die weit verbreitete Meinung – mit den Währungsreformen auch erfolgreich gebannt worden sei. Diese Sicht auf den Schwarzmarkt war zum Teil das Ergebnis von weithin geteilten Erfahrungen. Zugleich reihte sie die Teilnehmer und ihre illegalen Praktiken aber auch in eine Reihe von Beschreibungen ein, die das gro321
ße Chaos der Zeit zu einer kurzen, lediglich über individuelle Perspektiven historisierbaren Episode erklärten und ein diskursives Eigenleben gewannen. Darin spiegelte sich zum einen die zeitgenössische Perspektive eines bloß auf die nächsten 24 Stunden verkürzten alltäglichen Erwartungshorizontes wider. Zum anderen allerdings schrumpften damit auch »unfassbare« Ereignisse auf einen vermeintlich handhabbaren Zwischenraum, der schließlich überwunden werden konnte. Diese Interpretation wirkte in zweifacher Hinsicht entlastend. Zum einen erlaubte sie den ehemals aktiven kleinen und großen Schwarzhändlerinnen und -händlern, ihre illegale Vergangenheit hinter der diskursiv erzeugten Zäsur zwischen dem Davor und dem Danach der Währungsreformen zurückzulassen. Ähnlich dem Mythos der »Stunde Null« im Jahr 1945 formulierte diese Sicht eine zweite, eine ökonomische »Stunde Null«, die vor allem zwei alltägliche Praxisräume voneinander unterschied. Damit ist die zweite Entlastungsebene berührt. Denn für die Akzeptanz der neuen politischen und ökonomischen Systeme war entscheidend, dass in der Zwischenzeit »eingerissene« illegale Praktiken als überwunden bezeichnet werden konnten. Die konsumgeschichtliche Forschung bedarf in diesem Zusammenhang einer Präzisierung. Denn »am Beginn der Konsumgesellschaft« stand keine so glatte Erfolgsgeschichte, wie sie die Begriffe »Wirtschaftswunder« oder »Konsumgesellschaft« suggerieren. Das erste Jahrzehnt nach der Währungsreform war grauer als es der Mythos vom raschen ökonomischen Aufstieg wahrhaben will. Das bekannte Motiv von den wieder gefüllten Schaufenstern bedeutete nicht, dass jeder und jede sofort in den Genuss des »lange Entbehrten« kommen konnte. Wichtig an dem Motiv scheint eine andere Bedeutungsebene zu sein, die sich nicht über Haushaltanalysen erschließen lässt. Denn was damit auch zum Ausdruck kommt, ist die Erleichterung darüber, dass die Dinge wieder an ihrem Platz sind. »Normalisierung« findet hier über die Reetablierung stabiler alltäglicher Praxisräume statt, in denen Waren im Schaufenster liegen und die Rollenverteilungen erkennbar, die Interaktionsschemata eindeutig zuzuordnen und die etablierten sozialen Beziehungen nicht durch Tauschhandlungen gefährdet sind. Statt tauschen zu müssen, kann man jetzt wieder einkaufen. Auf der Makroebene funktionierten die vorherrschenden, quasi offiziösen Deutungen der Wirtschaftsgeschichten in beiden deutschen Staaten andererseits als integrierende Erzählungen, die in ihrer Eigenschaft als Erfolgsgeschichten immer auch eine nationale (Ersatz-) Legitimation bereitstellen konnten. Einem Gutteil dieser spezifischen »rethorics of economics« lagen die Erfahrungen mit der chaotischen Tauschzeit und ihrer irritierenden Institution, dem Schwarzmarkt, als Negativfolien zugrunde. Das Ziel wirtschaftlicher »Normalisierung« im Sinne eines Abschieds von der Mangelgesellschaft und der Vermeidung sozialer Verwerfungen ließ sich in beiden deutschen Staaten beschreiben, indem auf den Schwarzmarkt als Symbol einer Elendsperiode und den »Schieber« als 322
Nutznießer des allgemeinen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Chaos der Unsicherheits- oder Misstrauensgesellschaft rekurriert wurde. Norbert Frei hat darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung bei der Vorlage des »Straffreiheitsgesetzes« von 1949 mit dem Hinweis auf die vorangegangenen »Jahre der Not, der sittlichen Verwilderung und der Rechtsverirrung« auf den Schwarzhandel Bezug genommen habe, um den politischen Aspekt des Gesetzes als Amnestie für NS-Täter zu verschleiern. Gleichwohl zeigt dieser Vorgang, dass die Notwendigkeit einer Abwendung von den chaotischen »wirtschaftlichen Verhältnissen« als konsensfähig vorausgesetzt wurde. Die »Schwarzmarktzeit« bildete somit einen konsensstiftenden Bezugspunkt der öffentlichen Interpretationen des ökonomischen Neuanfangs, der als Subtext viele Diskursfelder der Nachkriegszeit – auch in der gegenseitigen Wahrnehmung – bis in die jüngste Vergangenheit mit formte. So thematisierte der bundesrepublikanische DDR-Diskurs das »Rückständige« des ostdeutschen Staatssozialismus und seiner Konsumkultur mit dem Verweis auf die Tauschpraktiken und das »Organisieren«, das vielen DDR-Bürgern bis 1989 eine geläufige Praxis geblieben war. Der »Schwarze Kanal« des DDR-Fernsehens wiederum schilderte das Leben in »kapitalistischen Metropolen« als Nebeneinander von Elend und Luxus, von Bettelei, Spekulantentum und Wirtschaftskriminalität und bezog sich damit auf ein Deutungsmuster, das auch mit Bezug auf die Erfahrungen der »Schwarzmarktzeit« den Grundkonsens des Staates ex negativo mit formuliert hatte. Die Phase des Schwarzhandels der zwanziger Jahre war eine kurze, aber intensive Epoche der deutschen Geschichte, in der die Bürger einer radikalen Markterfahrung ausgesetzt waren. Diese koinzidierte mit eigenen Erfahrungen von rapider sozialer Mobilität, unter den gegebenen Bedingungen für die meisten: radikalem sozialem Abstieg. Einiges spricht dafür, die spezifische Distanz der Deutschen gegenüber dem liberalen, staatsfernen Markt auch auf diese Erfahrung zurückzuführen.
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Orts-, Sach- und Personenregister
Adalbertstraße (Kreuzberg) 191 Ahlener Programm 310 Alexanderplatz 17, 29, 66, 95, 125, 136, 146, 166, 191, 212, 214, 245, 264 Alexanderstraße 7, 115, 146, 148, 150 Andreasplatz (Friedrichshain) 65 Antikapitalismus 42 Antikommunismus 39, 41 Antisemitismus, antisemitisch 32, 39, 45, 49, 52, 69, 75, 141, 143, 165–170 Armut (auch: Verarmung, Verelendung) 15, 67f., 163, 205, 259, 263–268
Christlich-Demokratische Union Deutschlands (CDU) 306, 310, 312, 314 Chrustschow, Nikita 247 Cuvrystraße (Kreuzberg) 206
Babelsberger Straße (Schöneberg) 171 Badstraße (Wedding) 95 Bayerischer Platz (Schöneberg) 143 Bayerisches Viertel (Schöneberg) 171 Bekämpfung, Gegenmaßnahmen – bis Kriegsende 15, 29–31, 37–40, 62–77, 81–88, 103, 131, 134, 139, 142, 163–166, 185, 201 – nach Kriegsende 187, 201, 203, 229, 230f., 233, 235–238, 241f., 245, 254, 264, 271 Bellermannstraße (Wedding) 126 Bernauer Straße (Mitte) 126, 206 Besatzungssoldaten – amerikanische 25, 190, 205, 246– 258, 280f., 304f. – britische 243, 205, 254, 257 – französische 190, 254 – russische 25, 191f., 195, 205, 214, 246–258, 260 Böß, Gustav 44, 139 Brandenburger Tor (Mitte) 12, 29, 205, 207f., 212, 214, 259 Brunnenstraße (Mitte) 126, 191, 203f., 219, 239, 263, 269
Fasanenstraße (Charlottenburg) 143 Frankfurter Allee (Friedrichshain / Lichtenberg) 204 »Fraternisieren« 25, 113, 246–258, 281 Freisler, Roland 57, 83 Friedrichstraße 66f., 71, 76, 136, 139f., 167 Friedrichstraße (Bhf.) 167
»Chaos«, »chaotische Zustände«, s. »Normalität«, »Normalisierung« Charlottenburg (Bhf.) 271
Danziger Straße (Prenzlauer Berg) Dehler, Thomas 33, 308f. Dircksenstraße (Mitte) 215, 235
92, 95
Erhard, Ludwig 310–14, 318 Erster Weltkrieg 13, 18, 21, 37–42, 53, 59, 63, 76, 81, 298, 319
Geschlechterrollen 24f., 50f., 107, 112– 119, 151, 170–174, 193f., 225, 251, 257– 259, 267f., 279–287 Gesundbrunnen (Bhf.) 85, 89, 92, 125, 128 Goebbels, Josef 49, 58f., 74, 181f., 196f. Grenadierstraße (Mitte) 64, 69 Gürtner, Franz 83 Hackescher Markt 67 Hallesches Tor (Kreuzberg) 195 »Hamstern« 28, 82, 122, 175, 262 Hasenheide (Neukölln/Kreuzberg) 67 Hermannplatz (Neukölln) 67, 101, 146 Hirtenstraße (Mitte) 64 Hitler, Adolf 39, 41, 55f., 58, 60f., 74, 76, 82, 166 Hohenstaufenplatz (Schöneberg) 123 Interaktion, Interaktionsskripte 19, 34, 61f., 73, 109–111, 115, 120, 212–229
347
Juden, s. Antisemitismus, antisemitisch Kennedy, John F. 246f. Kleine Rosentaler Straße 123 Körper, Körperlichkeit (auch: Nähe) 107, 114f., 131, 217–229 Kommunismus, Kommunisten 42, 74, 111, 306 Korruption (auch: als Argument) 40–46, 52, 54, 85, 238, 293, 313 Kottbusser Tor (Kreuzberg) 136 Küstriner Platz (Friedrichshain) 65 Kurfürstendamm (Charlottenburg) 51, 64, 71, 136, 142f., 182, 190f., 194, 208, 272f. Leipziger Platz (Mitte) 64 Leipziger Straße (Mitte) 138f. Ley, Robert 58, 129 Lichtenberg (Bhf.) 204 Linienstraße (Mitte) 123 Ludendorffstraße (Tiergarten) 167 Magazinstraße (Mitte) 159 Markthallen 65–67, 71f., 76, 191, 197f., 213 Marktwirtschaft (auch Soziale M.) 33, 298f., 307–316, 321 Marx, Karl 151f. marxistisch/anti-m. 45f., 49 Mauss, Marcel 19 »Moral Economy« 33, 261f., 298 Moritzplatz (Kreuzberg) 195 Motzstraße (Schöneberg) 302 Müller-Armack, Alfred 307, 312, 314f. Müllerstraße (Wedding) 218 Münzstraße (Mitte) 136, 212 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) 39, 42, 46, 49, 53, 60f., 74, 131, 184, 230 Neuenburger Straße (Kreuzberg) 195 Nietzsche, Friedrich 49f. »Normalität«, »Normalisierung« (vs. »Chaos«, »chaotische Zustände«) 28f., 32, 152, 177–200, 240, 250f., 267, 283, 287, 305, 312, 321–323 Öffentlichkeit 12, 16f., 25, 28–30, 32, 34f., 37, 39, 42f., 45f., 49, 54, 56f., 65–67, 71, 74f., 80, 83, 85, 94, 105, 109, 112,
348
117, 123–125, 129, 131–135, 151, 177, 179, 187, 192–199, 201–229, 234–242, 250f., 256–259, 267, 282, 286, 309, 320, 323 Oranienburger Straße (Mitte) 136, 141 Organisierte Kriminalität 23, 273 Planwirtschaft 33, 232, 292, 303–306, 310, 313f. Polizei, Polizeipraxis 35, 65–67, 74, 86–90, 97–99, 102, 106f., 118, 124, 132–136, 139–143, 158–161, 172, 185, 192, 194f., 203f., 214f., 233–243, 252, 264f., 272, 297, 305, 312 Potsdamer Platz 64, 67, 71, 139, 207f., 211f., 214, 219, 224 Potsdamer Platz (Bhf.) 139 Prinzenallee (Wedding) 126 Pynchon, Thomas 11 Reichstag (Gebäude) 12, 205, 207f., 212, 214, 252 »roaring twenties« 37, 173 Rosenthaler Platz (Mitte) 123, 264 »Scheunenviertel« (Mitte) 45, 64, 140– 142, 151, 204, 212 Schieber-Stereotype 29, 43, 45, 120, 142f., 163–176, 194 Schlesische Straße (Kreuzberg) 206 Schlesisches Tor (Kreuzberg) 151, 203f., 206, 264 Schlüterstraße (Charlottenburg) 271f. Schönhauser Allee (Bhf.) 210 Schroeder, Louise 261 Schukow, Georgi 253 Simmel, Georg 18f., 26, 151–54 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 44–46, 67–69, 306, 308, 314 Spandauer Vorstadt (Mitte) 67, 123, 136, 142f., 204, 212 Speer, Albert 74, 189 Spittelmarkt (Mitte) 195 Stettiner Bahnhof (Mitte) 128 Strafmaße, s. »Bekämpfung« Swinemünder Straße (Wedding) 89, 126, 197 Tiergarten 130, 137, 143, 179, 203f., 205, 207f., 212, 252, 254
Uhlandstraße (Charlottenburg) 169f. Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) 67 Unter den Linden (Mitte) 63, 71, 139, 251f. Urbanstraße (Kreuzberg) 67 Varnhagenstraße (Prenzlauer Berg) 270 Vertrauen (persönl. u. system.) 20–34, 54–56, 79f., 87, 89, 90–96, 108, 122, 132, 147f., 151, 155, 181, 226–228, 237, 242, 274–278, 287, 295, 315, 319 Währung, Umgang mit 16, 22f., 44, 79, 85, 151–162, 268f., 279–282, 289–297 Währungsreform 13, 18, 23, 34, 198, 280, 289–311
Weber, Adolf 47 Weber, Max 19, 21, 119, 121 Weimarer Republik (auch: als Chiffre) 39–56, 61, 67, 140f., 163, 166, 193, 251 Weinmeisterstraße (Mitte) 66f. Wilhelmplatz (Mitte) 197 Wilhelmstraße (Mitte) 139, 190 Winsstraße (Prenzlauer Berg) 123 Wittenbergplatz (Charlottenburg) 123, 141 Zigaretten (als Tauschgegenstand) 23, 68, 112, 121, 123, 128, 134f., 152, 167, 171, 194, 206, 243f., 268f., 273, 279–287, 305 Zoologischer Garten (Bhf.) 141, 207, 271
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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 180: Kathrin Kollmeier Ordnung und Ausgrenzung
174: Regula Argast Staatsbürgerschaft und Nation
Die Disziplinarpolitik der Hitler-Jugend 2007. 368 Seiten mit 1 Abb. und 20 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-35158-1
Ausschließung und Integration in der Schweiz 1848–1933 2007. 379 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35155-0
178: Christine Schreiber Natürlich künstliche Befruchtung?
173: Thomas Kühne Kameradschaft
Eine Geschichte der In-vitro-Fertilisation von 1878 bis 1950 2007. 288 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35159-8
Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert 2006. 327 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35154-3
177: Susanne Michl Im Dienste des »Volkskörpers«
172: Ulrike von Hirschhausen Die Grenzen der Gemeinsamkeit
Deutsche und französische Ärzte im Ersten Weltkrieg 2007. 307 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-37000-1
Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860–1914 2006. 430 Seiten mit 12 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-35153-6
176: Peter Walkenhorst Nation – Volk – Rasse
171: Christopher Dowe Auch Bildungsbürger
Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914 2007. 400 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35157-4
Katholische Studierende und Akademiker im Kaiserreich 2006. 384 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35152-9
175: Benjamin Ziemann Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945–1975
170: Sonja Levsen Elite, Männlichkeit und Krieg
2007. 396 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35156-7
Tübinger und Cambridger Studenten 1900–1929 2006. 411 Seiten mit 10 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-35151-2
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 169: Wolfgang Hardtwig Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters
164: Florian Cebulla Rundfunk und ländliche Gesellschaft 1924–1945
2005. 387 Seiten mit 23 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-35146-8
2004. 358 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35145-1
168: Cornelius Torp Die Herausforderung der Globalisierung
163: Philipp Heldmann Herrschaft, Wirtschaft, Anoraks
Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860–1914 2005. 430 Seiten mit 11 Grafiken und 21 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-35150-5
167: Uffa Jensen Gebildete Doppelgänger Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert 2005. 383 Seiten mit 3 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-35148-2
166: Alexander Nützenadel Stunde der Ökonomen Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974 2005. 427 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35149-9
Konsumpolitik in der DDR der Sechzigerjahre 2004. 336 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35144-4
162: Gunilla-Friederike Budde Frauen der Intelligenz Akademikerinnen in der DDR 1945 bis 1975 2003. 446 Seiten mit 17 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-35143-7
161: Nikolaus Buschmann Einkreisung und Waffenbruderschaft Die öffentliche Deutung von Krieg und Nation in Deutschland 1850–1871 2003. 378 Seiten mit 11 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-35142-0
165: Jürgen Schmidt Begrenzte Spielräume
160: Christian Müller Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat
Eine Beziehungsgeschichte von Arbeiterschaft und Bürgertum am Beispiel Erfurts 1870–1914 2005. 432 Seiten mit 23 Tab. und 1 Karte, kartoniert. ISBN 978-3-525-35147-5
Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsform in Deutschland 2004. 337 Seiten mit 2 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-35141-3