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German Pages 408 [416] Year 2002
Admoni · Sprachtheorie und deutsche Grammatik
Wladimir Admoni Sprachtheorie und deutsche Grammatik
Aufsätze aus den Jahren 1949-1975 Herausgegeben von Vladimir Pavlov und Oskar Reichmann Übersetzt aus dem Russischen von Margarete Arssenjeva und Anna Pavlova
Niemeyer
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort Die Übersetzung entstand unter Mitwirkung von Vladimir Pavlov
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Admoni, Vladimir G.: Sprachtheorie und deutsche Grammatik : Aufsätze aus den Jahren 1949 - 1975 / Wladimir Admoni. Hrsg. von Vladimir Pavlov und Oskar Reichmann. Übers, aus dem Russ. von Margarete Arssenjeva und Anna Pavlova. - Tübingen: Niemeyer, 2002 ISBN 3-484-73059-5 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Verlags- und Industriebuchbinderei Nädele, Nehren
Inhaltsverzeichnis Einleitung
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1949 Das Problem der „Einklammerung" in der deutschen Literatursprache
21
1953 Zu einigen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung des syntaktischen Baus der Sprache
35
1954 Die Struktur der Substantivgruppe im Deutschen (Zum Problem eigengesetzlicher Entwicklung des grammatischen Baus des Deutschen) . . . .
63
1955 Zur Zweigliedrigkeit des Satzes
105
1956 Zur Modalität des Satzes
127
1957 Zur Prädikativität
149
1958 Die Abgeschlossenheit der Satzgestalt als formal-syntaktisches Phänomen
175
1959 Die Entwicklung der Funktionen des Genitivs im Deutschen
187
1960 Die Entwicklung der Struktur des einfachen Satzes in den indoeuropäischen Sprachen
219
1961 Das Problem des „Gemeinschaftskasus" in der deutschen Gegenwartssprache
233
1961 Polydimensionalität und dimensionale Dominanz als Leitfaden der Grammatikforschung
249
1963 Zur „Portativität" grammatischer Strukturen
265
1963 Sprache als Einheit des Beziehungssystems und des Gestaltungssystems
271
1964 Die qualitative und die quantitative Analyse grammatischer Phänomene
287
1964 Die Methodik grammatischer Analyse in der „traditionellen Grammatik" 1968 Die „Feld"-Natur der Wortarten (am Beispiel der Numeralien)
301 311
1970 Noch einmal zur quantitativen Analyse grammatischer Phänomene . . .
319
1971 Der strukturell-semantische Kern des Satzes
337
1975 Die verblosen Sätze in der deutschen Gegenwartssprache
349
1975 Der Status der verallgemeinerten Sprachsystem
grammatischen
Bedeutung
im 355
Nachwort
377
Verzeichnis der Erstausgaben der Aufsätze von Admoni
399
Verzeichnis der zitierten Fachliteratur in russischer Sprache
401
Namenverzeichnis zu den Aufsätzen von Admoni
407
Einleitung Wladimir Admoni (1909-1993) hinterließ ein reiches, vielseitiges geistiges Erbe. Er betätigte sich als Literaturwissenschaftler und Kritiker, als Übersetzer, als Dichter und Prosaist, vor allem aber als Sprachforscher und Hochschullehrer. Im Mittelpunkt der sprachwissenschaftlichen Interessen von Admoni stand stets die Grammatik der deutschen Sprache. Sechzig Jahre lang konzentrierte Admoni seine Bemühungen auf die Erschließung der Eigenart des deutschen Sprachbaus als einer besonderen, individuellen Realisierung allgemeiner, universeller Anforderungen an Sprache als Denk- und Kommunikationsmedium. Daraus ergab sich eine enge Verzahnung der Erforschung konkreter Eigenschaften der Einzelsprache Deutsch und der Problematik der allgemeinen Sprachtheorie, in erster Linie der begrifflichen Ausrüstung der Untersuchung und Beschreibung des grammatischen Systems der Sprache. Es mußte sich daraus ebenfalls eine organische Synthese sprachtheoretischer Ansichten und methodischer Zugriffe auf das sprachliche Material ergeben. Die ersten zwei germanistischen Aufsätze von Admoni fehlen in dem vorliegenden Sammelband, weil sie - nahezu dreißig Jahre nach ihrem Erscheinen - in deutscher Sprache (gekürzt) veröffentlicht worden sind. 1 Die beiden Aufsätze sind von besonderem Interesse, da Admonis künftige ganzheitliche Auffassung der Grundzüge des deutschen Sprachbaus in diesen Aufsätzen gleichsam vorprogrammiert erscheint. Im Aufsatz „Über die Wortstellung im Deutschen" (1934) wendet sich Admoni dem augenfälligsten spezifischen Zug der deutschen Syntax zu, nämlich der Distanzstellung formal und semantisch zusammengehöriger Elemente des Prädikats und der daraus resultierenden Rahmenkonstruktion mit der normativ fixierten Position des finiten Verbs und der für den Satz typischen Endstellung der bedeutungsmäßig entscheidenden Teile des prädikativen Komplexes. Den Schwerpunkt der Betrachtung bildet die funktionale Charakteristik der linear-positionellen Eigenart des deutschen Satzes: Die Distanzstellung eignet sich nicht dazu, als Mittel der Kennzeichnung syntaktischer Beziehungen zwischen einzelnen Satzgliedern zu dienen, wie dies das polare Gegenstück der Distanzstellung, die Kontaktstellung (am Beispiel des Englischen erläutert), ermöglicht. Die Distanzstellung hat eine andere Funktion, sie trägt zur Markierung der Satzgrenzen und innerhalb des Satzes zur deutlichen Heraushebung einzelner Wortfügungen bei. Admoni charakterisiert diese Funktion der Distanzstellung als ihre „Strukturfunktion". Diese Funktion „ist ... oft sogar notwendig, um den in die Breite gehenden komplizierten deutschen Satz zu formen und zusammenzuhalten". 2 Man erkennt hier die theoretischen Vorboten sowohl des Begriffs des sprachlichen „Gestaltungssystems" (und im „Zusammenhalten" den Keim der künftigen „Portativität" sprachlicher Einheiten) als auch der These vom engen Zusammenhang zwischen den im ausgehenden Mittelalter und zu Be-
1
2
A d m o n i , W.: 1) Über die Wortstellung im Deutschen; 2) Die Struktur des Satzes. In: Das Ringen um eine neue deutsche Grammatik. Darmstadt 1962. Ibid. S. 378.
Einleitung
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ginn der Neuzeit in manchen Textsorten ins Übermäßige aufschwellenden Satzperioden und der immer konsequenter durchgeführten syntaktischen Rahmenbildung. Hingewiesen wird auch auf „eine gewisse Spannung" und gesteigerte „Aufmerksamkeit für die Aufnahme selbst der nebensächlicheren Satzteile", 3 hervorgerufen durch die Rahmenbildung, als eine besondere - offensichtlich psychologisch relevante - Eigenschaft des deutschen Satzes. Admoni hat sich von Anfang an dem linguistischen Funktionalismus verschrieben, und da die Hauptfunktionen der Sprache als Bewußtseins- bzw. Denkmedium und Kommunikationsmittel durch Sprache „in Aktion", durch Sprechvorgänge verwirklicht werden, machte er gerade die Syntax des Deutschen zum Hauptgegenstand seiner Forschungsarbeit. Doch muß man betonen, daß Admoni ebenfalls von Anfang an die Erschließung systemischer Zusammenhänge im Sprachbau anstrebte. Sein erster Versuch, die Eigenart des grammatischen Baus der deutschen Sprache zu beleuchten, enthält äußerst wichtige Behauptungen von bestimmten Wechselbeziehungen, nämlich von der gegenseitigen Abhängigkeit der Wortstellungstypen und der morphologischen Sprachtypologie. Während die Kontaktstellung - bei fixierten Positionen bestimmter Satzglieder - diese weithin der Notwendigkeit enthebt, durch eigene Wortformen die syntaktischen Beziehungen, die sie im Satz eingehen, anzuzeigen, erfordert die Distanzstellung bei relativer Stellungsfreiheit nichtprädikativer Bestandteile des Satzes, einschließlich des Satzsubjektes, die formale Kennzeichnung dieser satzinternen Beziehungen „am Wort", zu welchem Zweck sich - jedenfalls in den indoeuropäischen Sprachen - die Flexion anbietet. Beispielhaft für die systemische Wechselwirkung im Zeichen der Kontaktstellung ist die englische Sprache, „die ihr Flexionssystem im wesentlichen verloren hat". 4 Das Deutsche ist das direkte Gegenteil. Obwohl die Ausführungen zum Thema der Wortstellung im Deutschen, einschließlich des Sprachvergleichs „Deutsch - Englisch", synchronistischgegenwartssprachlich ausgerichtet sind, ist der historische Unterton bei der Behandlung des Problems unüberhörbar. Die objektive Logik des Gegenstandes der Betrachtung selbst läßt sich nicht anders als aus historischer Sicht erfassen. Wenn - im gegebenen Fall - in zwei Sprachen, die genetisch verwandt sind und beide ursprünglich ausgeprägt flexivischen Charakter hatten, später für gleiche Funktionen Ausdrucksformen unterschiedlicher Art verwendet werden und diese Sprachen ungleiche Koordinationen zwischen dem Wortstellungstyp und dem vorherrschenden Typ der Wortform bzw. der Wortabwandlung aufweisen, so kann man die entsprechenden Grundzüge des jeweiligen Sprachbaus nicht aus den betreffenden Funktionen an sich herleiten und somit erklären. Es sei dahingestellt, durch welche äußeren und/oder inneren Faktoren, es gilt ganz allgemein, daß das Besondere jeder Einzelsprache durch das Besondere ihrer historischen Entwicklung bedingt wird. Daß Admoni diese Überzeugung teilte, ist bereits anhand seiner ersten sprachwissenschaftlichen Publikation ersichtlich. Dem Prinzip systemischer Zusammenhänge nicht nur innerhalb synchroner Sprachzustände, sondern auch in 3 4
Ibid. Ibid. S. 377.
Einleitung
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der geschichtlichen Sprachentwicklung blieb Admoni in seinem linguistischen Schaffen immer treu. Die zweite der oben genannten frühen germanistischen Publikationen von Admoni, der Artikel „Die Struktur des Satzes" - im von V.Zirmunskij im Jahre 1935 herausgegebenen Sammelband „Bonpocw HeMerncoii rpaMMaTHKH β HCTopHHecKOM o c e e m e H H H " (= „Fragen der deutschen Grammatik in historischer Beleuchtung") - ist in einer anderen Hinsicht höchst bedeutsam. Admoni verallgemeinert und systematisiert hier die Wechselbeziehungen formaler und inhaltlicher Merkmale des Satzes als der wichtigsten kommunikativen Minimaleinheit der Sprache unter dem Blickwinkel von „Aspekten" der Satzstruktur. Die vollständige grammatische Charakteristik eines konkreten Satzes stellt einen Komplex von Merkmalen dar, die unterschiedlichen allgemeingültigen Dimensionen („Aspekten") der Beschaffenheit des Phänomens „Satz" angehören. Admoni stellt ein System von sieben solchen Aspekten auf. Auf den Aspekt der logisch-grammatischen Satztypen folgen die Aspekte der Modalität, des Erweiterungsgrades, der Rolle des Satzes im Redestrom (unabhängiger Satz vs. Teil eines zusammengesetzten Satzes), der psychologisch-kommunikativen Einstellung des Sprechenden, der kommunikativen Aufgabe, des emotionalen Gehaltes.5 Die gesamte Analyse basiert offenbar auf funktionaler Grundlage: Hinter den Aspekten stehen - in mehr oder weniger unmittelbarer Weise - bestimmte Bedürfnisse und die diesen Bedürfnissen entsprechenden Anforderungen des Menschen an sein sprachliches Kommunikationsmittel. Die Abhandlung über die Struktur des Satzes legt einen gewichtigen Grundstein zu Admonis logisch äußerst konsequenter allgemeiner Grammatiktheorie, deren Entfaltung von Problemen der deutschen Grammatik angeregt und die hauptsächlich an diesen Problemen erprobt und in ihrer Fruchtbarkeit bestätigt wurde. Von der Idee des „Aspektreichtums" der Einheit „Satz" führt ein direkter Weg zum allgemein-theoretischen und allgemein-methodologischen Prinzip der Polydimensionalität sprachlicher Phänomene aller Art überhaupt. Die Polydimensionalität ist ihrerseits nur mit einer solchen Struktur des Sprachbaus vereinbar, die die Relativierung der Identitäts- und der Unterscheidungskriterien (bzw. Oppositionskriterien) voraussetzt, denn wenn für die sprachlichen „Qualitäten" Komplexe von Merkmalen relevant sind, erweisen sich vielfache Überschneidungen dieser „Qualitäten" als organische Komponenten des Sprachsystems. Im Jahre 1964, in der Monographie „ O C H O B M TeopHH r p a M M a T H K H " , 6 formuliert Admoni erstmals das Prinzip der Feldstruktur des grammatischen Baus der Sprache und expliziert die diesbezüglichen ontologischen und logischen Zusammenhänge, ganz allgemein gesehen zwischen der Polydimensionalität sprachlicher Phänomene und der Notwendigkeit ihrer „Durchkreuzungen" - bis zu „gemeinsamen Segmenten" an den Grenzen irgendwie benachbarter Kategorien, mit der Unterscheidung zentraler und peripherer Elemente innerhalb gleichnamiger Bestandteile des gram-
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6
Ausfuhrlich in: A d m o n i , W.: Der deutsche Sprachbau. 4., Überarb. und erw., Aufl. M ü n c h e n 1982. S. 2 3 5 - 2 6 3 . Ins D e u t s c h e übersetzt und mit einem Vorwort v o n T h . L e w a n d o w s k i : A d m o n i , W.G.: Grundlagen der Grammatiktheorie. Heidelberg 1971.
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Einleitung
matischen Systems usw. Die Beobachtungen über „fließende Grenzen", „Übergangserscheinungen", über die Unmöglichkeit eindeutiger kategorieller Definition bestimmter grammatischer Phänomene, Beobachtungen, die die traditionelle Grammatik in großer Zahl angesammelt hat, bekommen im Begriff der Feldstruktur des Sprachbaus ihre theoretische Basis. 7 Eine solche Wende in der Entwicklung der allgemeinen Sprachtheorie, insbesondere im Erfassen der Verhältnisse im Bereich der Grammatik, war herangereift, sie „lag in der Luft". Den „Grundlagen der Grammatiktheorie" von Admoni folgte nach zwei Jahren der bekannte Prager Band zum Problem des Zentrums und der Peripherie, der „linguistischen Vagheiten" usw.; 8 später begann man breit genug mit dem in die gleiche Richtung weisenden Begriff des „Prototypischen" (versus „marginale" bzw. „Randerscheinungen" u. ä.) zu operieren. Natürlich bedeutet die sich aus dieser Entwicklung der Sprachtheorie ergebende Sicht nicht, daß die Monotonie des durchgängig oppositionellen Gesamtbildes der Sprachstruktur durch die Monotonie eines Bildes abgelöst wird, in dem überhaupt keine eindeutig bestimmbaren, qualitativ scharf und deutlich umrissenen Phänomene zu unterscheiden wären. Bezeichnenderweise bewahrt Admoni in seinen Arbeiten das Inventar der traditionellen grammatischen Terminologie, das er nur in wenigen Fällen durch von ihm selbst geprägte Termini (zum Beispiel „Monoflexion", „Fügungspotenz", „Elementarsatz") erweitert. In Admonis Auffassung werden dem Zerfließen grammatischer „Bestimmtheiten" in der Vagheit von Zwitterbildungen aller Art dadurch Grenzen gesetzt, daß in den Merkmalsbündeln, die jeweils die Spezifik der Elemente des Sprachbaus ausmachen (und die die Untersuchung bis ins einzelne zu erfassen hat) gewisse Dominanzverhältnisse bestehen, so daß sich eine zu der einen oder anderen Dimension gehörende Eigenschaft vielfach als auschlaggebend fur die Zuordnung des betreffenden Phänomens zu einer bestimmten begrifflich festgelegten Kategorie erweist. Dieser Gedankengang erlangt zu Beginn der 60er Jahre die notwendige theoretische Reife, die seine Veröffentlichung möglich macht (vgl. in diesem Band den Aufsatz „Polydimensionalität und dimensionale Dominanz als Leitfaden der Grammatikforschung"). Aber schon im Artikel „Die Struktur des Satzes" macht sich Admoni Gedanken über die Wechselbeziehungen zwischen den Satz-„Aspekten" und betrachtet den Aspekt der „logisch-grammatischen Satztypen" als den wichtigsten, denn die spezifischen Inhalte der morphologisch-syntaktischen Satzformen, deren Unterschiede unter dem „logisch-grammatischen" Aspekt analysiert und beschrieben werden, spiegeln nach Admoni jeweils die objektiven Beziehungen zwischen den Elementen des durch den Satz „abgebildeten" und mitgeteilten Sachverhalts wider. Admoni hat die Publikation des Artikels über die Struktur des Satzes im Band „Das Ringen um eine neue deutsche Grammatik" mit einem kurzen Nachwort begleitet. Dort lesen wir: „Von der aspektmäßigen Betrachtung des Satzes ausgehend, gelangte der Verfasser all-
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Eigentlich im „ontologischen Bild", in einer schematisch-anschaulichen Vorstellung des Sprachsystems, die der begrifflichen Erfassung des betreffenden „Sachverhalts" vorausgeht. Travaux linguistiques de Prague. Bd. 2. Prag 1966.
Einleitung
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mählich zu der Einsicht, daß alle grammatischen Erscheinungen ihrer vielseitigen Natur gemäß aspektmäßig behandelt werden müssen, wobei man aber die bedeutsamsten, grundlegenden Aspekte nachdrücklich hervorzuheben hat (das Prinzip der aspektmäßig-hierarchischen Betrachtung der grammatischen Erscheinungen)." Schon zu Beginn seiner sprachwissenschaftlichen Laufbahn zeigte sich Admoni als Maximalist - als Maximalist im positiven Sinne des Wortes. Er wurde von weittragendsten Problemen des deutschen Sprachbaus und von schwerwiegendsten Fragen der allgemeinen Sprachtheorie bzw. Forschungsmethodologie angezogen. Es ging ihm in erster Linie um die Erfassung der Kernspezifika des deutschen Sprachbaus in ihren systemischen Zusammenhängen sowie um das Durchleuchten des Sprachbaus von dessen höchster funktionaler Ebene, der Ebene der Syntax, her. An diesen Hauptrichtlinien orientierte sich Admonis gesamtes linguistisches Schaffen, um welche Sonderfragen es sich auch handeln mochte. Allein schon die Titel der weitaus meisten Bücher, die Admoni in russischer und in deutscher Sprache veröffentlicht hat, zeugen von der syntaktischen Ausrichtung seiner Interessen: „BeeΛβΗΗε β CHHT3KCHC c o B p e M e H H o r o H e M e u K o r o H3biKa" (1955 = „Einführung in die Syntax der deutschen Gegenwartssprache"), „ H c T o p n M e c K n i i c h h t 3 k c h c HeMeuKoro «biKa" (1963 = „Historische Syntax des Deutschen"), „Pa3BHTne CTpyKTypbi npe/uioweHHJi β n e p H o a (JiopMHpoBaHHH H e M e u K o r o HauH-
OHaribHoro H3biKa" (1966 = „Die Entwicklung der Satzstruktur in der Periode der Ausbildung der deutschen Nationalsprache"), „IlyTH pa3BHTHa rpaMMaranecKoro CTpoH β HeMeuKOM H3biKe" (1973; die im gleichen Jahr herausgegebene deutsche Variante dieses Buches hat den Titel „Die Entwicklungstendenzen des deutschen Satzbaus von heute"), „CnHTaKCHc coBpeMeHHoro HeMeuKoro ji3biKa" (1973 = „Syntax der deutschen Gegenwartssprache"), „Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache im Bereich des neuhochdeutschen Satzgefüges (1470-1730)" (1980), „Die Entwicklung des Satzbaus der deutschen Literatursprache im 19. und 20. Jahrhundert" (1987), „Historische Syntax des Deutschen" (1990; zu diesem Buch muß man bemerken, daß es das Buch in russischer Sprache, das 1963 unter dem gleichen Titel herauskam, nicht wiederholt, sondern von Admoni neu und nach einem anderen Plan geschrieben wurde). Mit der Überzeugung, daß die Gesamtheit grammatischer Phänomene von der syntaktischen Warte aus am klarsten einsichtig wird bzw. sich am umfassendsten und konsequentesten in ihren diachronen und synchronen Systemzusammenhängen erkennen läßt, setzt Admoni eine Tradition der russischen Sprachforschung fort, deren Gipfelpunkte die Werke von Potebnja, Sachmatov, Peäkovskij darstellen. 9
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Π ο τ ε δ Η « , A.A.: M3 3anncoic no pyccKoft rpaMMaTHKe. Bd. I—II, III, IV („Aus den Aufzeichnungen zur russischen Grammatik"); LLIaxMaTOB, A.A.: C h h t c i k c h c pyccKoro tnbiKa („Syntax der russischen Sprache"); n e u i K O B C K u f i , Α .Μ.: PycCKHö CHHTaKCMc β HayHHOM ocBemcHHM ( „ R u s s i s c h e S y n t a x , w i s s e n s c h a f t l i c h
beleuchtet"). Diese Werke liegen in mehreren Auflagen vor. Genaueres dazu in Fußnoten auf den Seiten dieses Bandes.
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Einleitung
Von den dreizehn linguistischen Monographien, die Admonis Autornamen tragen, sind oben neun Bücher genannt worden. Weitere zwei behandeln Fragen der allgemeinen Grammatiktheorie; das Buch „Ochobh τβορπΗ rpaMMathkh" (1964 = „Grundlagen der Grammatiktheorie") ist vorhin bereits erwähnt worden; in der Monographie „rpaMMaraHecKHH CTpoft KaK CHCTeiua nocrpoeHHÄ η oßmaa Teopmi rpaMMaTHKH" (1988 = „Der Sprachbau als Gestaltungssystem und die allgemeine Grammatiktheorie") faßt Admoni das Gesamtergebnis seiner mehr als fünfzigjährigen Arbeit im Bereich der Sprachtheorie und der Methodologie der Grammatikforschung zusammen. Admoni beschränkte den Gegenstand syntaktischer Untersuchung nicht auf den Satz, auch nicht auf den „Ganzsatz" beliebiger Komplexität und Ausdehnung, sondern er widmete seine Aufmerksamkeit auch der Gestaltung satzübergreifender sprechsprachlicher Phänomene, der Texte. „Grammatik und Text" ist das Thema eines der Kapitel des Buches „FpaMMaTHHecKHH cTpoii...",10 und das gleiche Thema wird in Admonis letzter, postum herausgegebener Monographie „CncTeMa φορΜ peneBoro BbicKa3biBaHHfl" (1994 = „Das System der Formen sprachlicher Äußerung") behandelt. Eine besondere Stellung unter Admonis Monographien" nimmt das Buch „Der deutsche Sprachbau" ein. Die Ausbildung der Germanisten (wie auch der Russisten und Spezialisten diverser anderer einzelsprachlicher Fachrichtungen) an den sowjetischen (nun den russischen) Universitäten und pädagogischen Hochschulen erfolgt seit eh und je nach Lehrplänen, in denen umfassende systematische Vorlesungsreihen (begleitet von Seminaren) zu den wichtigsten sprachlichen Teildisziplinen vorgesehen sind und die allen Studierenden ein obligatorisches Minimum an Grundkenntnissen im jeweiligen Fachbereich vermitteln. Admonis Buch „Der deutsche Sprachbau" hat (in den Leningrader und Moskauer Ausgaben) einen Untertitel, der besagt, daß das Buch eine „Theoretische Grammatik des Deutschen" darstellt. Gegen Ende der 50er Jahre wurde auf ministerialer Ebene der Beschluß gefaßt, die künftigen Lehrer in theoretischen sprachlichen Teildisziplinen in den entsprechenden Fremdsprachen zu unterrichten. Der Lehrbuch-Verlag „FIpocBemeHHe" („Aufklärung") forderte Admoni, der als Hochschulprofessor viele Jahre Vorlesungen über die theoretische Grammatik des Deutschen hielt, auf, fur diese Sparte des Lehrplans ein Lehrbuch bzw. Handbuch zu schreiben. So entstand 10
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In diesem Kapitel finden sich Hinweise auf zwei zum Problemkreis „Grammatik und Text" gehörende Arbeiten, die von Admoni in deutscher Sprache veröffentlicht wurden: A d m o n i , W.: 1) Die Struktur des Satzes und die Gestaltung des Wortkunstwerks. In: Linguistische Probleme der Textanalyse. Düsseldorf 1975; 2) Zu den Wechselbeziehungen zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft. In: Studia Neophilologica, 1981, Heft 1. Die Bücher, die nicht linguistischen Themen gewidmet sind, werden hier beiseite gelassen. Das sind eine Arbeit über Henrik Ibsen (in mehreren Auflagen, darunter in deutscher Sprache, herausgegeben), eine Monographie (in Zusammenarbeit mit T.Silman) über das literarische Schaffen von Thomas Mann, das Buch „nosTHKa η .neficTBHTejibHOCTb" (= „Dichtkunst und Wirklichkeit") und das Buch „Mbi ecnoMHHaeM" (= „Wir erinnern uns"), an dessen Niederschrift auch T.Silman, Admonis Frau, beteiligt war und das die Autoren einen „Roman" genannt haben.
Einleitung
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das Buch „Der deutsche Sprachbau", in dem einerseits alle wesentlichen Seiten und Bestandteile des grammatischen Systems des Deutschen - unabhängig vom Stellenwert im grammatischen Problemkreis, den ihnen der Verfasser beimessen mochte, - systematisch, planmäßig beleuchtet werden und das ihm andererseits die Möglichkeit eröffnete, zu allen diesen Problemkreis bildenden Fragen eigene Ansichten zu äußern. Der Verlag „TlpocBemeHHe" brachte von 1960 bis 1986 vier Auflagen des Buches „Der deutsche Sprachbau" heraus; zwei Auflagen, die letzte im Jahre 1982, wurden vom Münchner Verlag C.H.Beck besorgt. Jede Neuauflage wurde vom Verfasser überarbeitet, in der Regel um einiges gekürzt, um für Erweiterungen Platz zu gewinnen, die sowohl durch neue Erkenntnisse des Verfassers wie auch durch Neues und Aktuelles in der Fachliteratur angeregt wurden. Das Buch „Der deutsche Sprachbau" brachte Admoni als Germanisten eine hohe internationale Autorität. Man bedenke unter anderem, daß die Kenntnis des Russischen in sprachwissenschaftlichen Kreisen - mit Ausnahme der Slawisten - eine ziemliche Seltenheit war (und ist), und so übte zum Beispiel das Buch von Admoni „Bee^emie Β cnHTaiccnc coBpeivteHHoro HeMeuxoro S3biKa" (1955, s. oben) mit allen seinen originellen Fragestellungen praktisch keinen merklichen Einfluß auf die germanistische Forschung außerhalb der Sowjetunion aus. Einen ganz anderen Effekt hatte die Publikation der von Admoni erarbeiteten Auffassung der deutschen Grammatik in der Sprache, die sowohl den Untersuchungsgegenstand wie die Verkehrssprache der internationalen Germanistik darstellt. Man bedenke auch, daß bis 1960, als die erste Auflage des Buches von Admoni erschien, die „große" deutsche Grammatikschreibung theoretischer Ausrichtung nur wenige Werke aus der Nachkriegszeit aufzuweisen hatte: „Die innere Form des Deutschen" von Glinz (1952), einiges von Weisgerber (vor allem „Vom Weltbild der deutschen Sprache", 1953-1954 in der zweiten Auflage - mehr über das „Weltbild" des Deutschen als über die eigentliche Grammatik dieser Sprache), den „Abriß der deutschen Grammatik" von Erben (1958) und die (nur sehr mäßig explizit-theoretische) Duden-Grammatik unter der Leitung von Grebe (1959). Der „frische Wind aus Osten" bereicherte um höchst Wesentliches die Möglichkeiten des Vergleichs unterschiedlicher Vorgehensweisen und Problemlösungen in der Grammatikforschung. Bald nach dem Erscheinen wurde „Der deutsche Sprachbau" in Deutschland (bis 1990 in zwei deutschen Staaten) und in anderen Ländern eines der meistgenutzten Standardhandbücher an vielen Universitäten, an denen Germanisten ausgebildet werden. Nach 1960 publizierte Admoni in deutscher Sprache außer den Büchern, auf die wir oben hingewiesen haben, in Sammelbänden und Zeitschriften etwa dreißig Aufsätze zur germanistischen und allgemein-sprachtheoretischen Problematik (und 3 Rezensionen). Der vorliegende Band vergrößert die Liste von Admonis „kleinen Schriften" in deutscher Sprache, diesmal durch Übersetzung aus dem Russischen, um weitere zwanzig Aufsätze. Sie wurden in der Zeit zwischen 1949 und 1975 veröffentlicht. Die Beschränkung auf die Zeit bis 1975 ist allein durch Raumgründe bedingt. Hinzu kommt, daß unter Ad-
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Einleitung
monis 67 „kleinen Schriften" linguistischen Inhalts, 12 deren Publikation in diese Zeit fällt, gewählt werden mußte. Ob die Wahl glücklich getroffen ist, mag die Kritik beurteilen. Die Herausgeber ließen sich bei der Wahl vom Bestreben leiten, zum ersten wichtige Etappen der Entwicklung der grammatischen Gesamtkonzeption von Admoni vor Augen zu führen, denn ihre Entwicklung trägt wesentlich zum Verständnis ihrer inneren Logik bei. Zum zweiten spielten natürlich Erwägungen eine Rolle, bei denen die in den einzelnen Aufsätzen behandelten Fragen nach ihrer Tragweite fur das Gesamtbild des deutschen Sprachbaus, wie es Admoni in seinem sprachwissenschaftlichen Lebenswerk darstellt, gegeneinander abgewogen wurden. Zum dritten wurde bei diesem Abwägen einigen Aufsätzen der Vorzug gegeben, in denen bedeutsame Probleme der allgemeinen Sprachtheorie und Forschungmethodologie erörtert werden. Die Ideen, die Admoni in seinen Aufsätzen entwickelt, finden in ihrem wesentlichen, kernhaften Inhalt, sozusagen schwergewichtsmäßig, auch in seinen Büchern Ausdruck. Die „kleinen Schriften" des Forschers (die, am Maßstab des durchschnittlich fur diese „Textsorte" Üblichen gemessen, im Fall von Admoni oft gar nicht so „klein" sind) haben dennoch einen besonderen Wert. Sie gaben dem Verfasser die Möglichkeit, seine Ansichten zu Fragen, denen die Aufsätze gewidmet sind, viel ausführlicher darzulegen, als die einzelnen Probleme im Rahmen thematisch breit angelegter Bücher schon des Raums wegen behandelt werden konnten; die Problemlösungen werden hier unter kritischer - oft sehr scharf kritischer - Sichtung der Fachliteratur eingehender begründet; kurz: die Aufsätze gewähren vielfach eine tiefe Einsicht in die „Gedankenwerkstatt" des Autors. Der Ausschnitt aus Admonis wissenschaftlichem Nachlaß, den der vorliegende Band präsentiert, läßt trotz der bescheidenen Zahl der aufgenommenen Publikationen die Grundzüge seiner linguistischen Überzeugungen und schöpferischen Ansätze erkennen. Wohl die allgemeinste der Einstellungen, deren Verwirklichung Admoni in seiner Forschungsarbeit stets anstrebte, entsprang der unerschütterlichen Überzeugung, daß die Sprachwissenschaft ihre Untersuchungsobjekte zu e r k l ä r e n hat. Wenn es um das historisch veränderliche, wandelnde Objekt Sprache geht, das j e nach konkreter Einzelsprache und nach ihrem geschichtlichen Entwicklungsstand nicht anders als unterschiedlich gestaltete Form-Funktion-Beziehungen aufweist, wird die Synthese der Erklärung sprachlicher (einzelsprachlicher!) Phänomene aus ihren funktionalen Aufgaben mit der Erklärung aus ihrem historischen Werdegang idealiter zu absoluter Notwendigkeit. Dies bedeutet keineswegs die Abwertung rein synchronistischer Gedankengänge; es bedeutet nur, daß man sich darüber im klaren sein muß, daß die Existenzweise der Sprache im allgemeinen und konkreter Sprachen menschlicher Gemeinschaften im besonderen dem Erklärungswert ausschließlich und konsequent synchronisch ausgerichteter Untersuchungen bzw. Beschreibungen bestimmte, vielfach recht beengen12
Nach einer von I.Denissova zusammengestellten Liste von Admonis Publikationen, in: TeopMecKoe Hacjieane B;iaanMnpa rpmopbeBHMa Α λ μ ο η μ η coepeMeHHas φΗΠΟΛΟΓΗΗ („Der schöpferische Nachlaß von Wladimir Grigorjevitsch Admoni und die moderne Philologie"). C.-rieTep6ypr 1998. S. 116-127.
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de, Grenzen setzt. Der saussureschen und der nachfolgenden saussureanischstrukturalistischen Trennung der Synchronie von der Diachronie und der These, daß die systemischen Zusammenhänge nur in synchronischen Sprachzuständen feststellbar sind, setzt Admoni die Untersuchung eben systemischer Wechselwirkungen im Zuge der Sprachentwicklung entgegen. Dies läßt bereits sein erster germanistischer Artikel von 1934 erkennen, und eine Reihe von Aufsätzen, die in diesem Band gesammelt sind, demonstriert den historischen „Zugriff' auf die gegenwartsdeutsche grammatische Problematik mit besonderer Deutlichkeit, so die Aufsätze über die „Einklammerung" (1949), über die dominierenden Tendenzen der Entwicklung der Syntax des Deutschen (1953), über die Struktur der Substantivgruppe (1954), über den Wandel der Funktionen des Genitivs (1959), über die Entwicklung der Satzstruktur in den indoeuropäischen Sprachen (1960). In einigen Aufsätzen werden Fragen erörtert, die bestimmte „Einzelteile" des deutschen Sprachbaus betreffen, wobei von dem geschichtlichen Hintergrund der darin behandelten Erscheinungen abgesehen wird; hierher gehören die Aufsätze über den „Gemeinschaftskasus", über die verblosen Sätze im Deutschen, konkret-sprachlich ist auch bei all der sprachtheoretischen Tragweite seines Themas der Aufsatz über die Feldstruktur der Wortart Numerale im Deutschen orientiert. Schließlich läßt die Wahl eines beträchtlichen Teils der hier präsentierten Sammlung die Absicht der Herausgeber erkennen, die Bedeutung der eigentlich sprachtheoretischen bzw. methodologischen Erkenntnisse von Admoni in ihrer Allgemeinheit sowie in ihrer Ausrichtung auf die Grundzüge des deutschen Sprachbaus und in ihrem Wert in dieser Beziehung - hervorzuheben. Die Aufzählung der betreffenden Beiträge im vorliegenden Band erübrigt sich, die Titel der Aufsätze vordergründig theoretischen Charakters - siehe das „Inhaltsverzeichnis" - sprechen für sich. Admonis Name ist in der Germanistik allgemein bekannt, auf seine Äußerungen zu einem breiten Kreis grammatischer Fragen, vor allem im „Sprachbau", wird systematisch bei der Erörterung dieser Fragen - zustimmend oder ablehnend, aber immer sozusagen „ehrenvoll" ablehnend - verwiesen. Und dennoch kann man behaupten, daß gerade Admonis allgemein-sprachtheoretische und forschungsmethodologische Ideen, Ideen, die seiner mannigfaltige Wesenszüge des deutschen Sprachbaus in innerlich zutiefst einheitlicher Weise erfassenden Konzeption zugrunde liegen, bisher noch wenig Anklang gefunden haben. Dies hängt zusammen mit der heutzutage immer merklicher werdenden Verlagerung der Interessen auf die pragmatischen Aspekte der Sprache bzw. der Sprechtätigkeit, sowie auf die sozial-kulturellen Aspekte der Sprachgeschichte, deren Bedeutung an sich unbestreitbar ist, einer Verlagerung aber, die die eigentliche Problematik des Sprachsystems in den Schatten zu stellen und die die überaus erkenntnisreiche Tradition deutscher (historischer) Sprachsystemforschung der Vergessenheit preiszugeben droht. Für Admoni stand das grammatische System des Deutschen mit allen seinen Formen, mit Bedeutungen und Funktionen dieser Formen, in seiner eigentümlichen Gesamtprägung im Mittelpunkt, und um dieses Zentrum kreisten in unterschiedlichen Abständen vom Einzelsprachlichen seine „Höhenflüge" in abstrakte allgemeinsprachtheoretische Ideensphären, um zum Ausgangs- und
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Einleitung
ständigen Anziehungspunkt „Deutsch" zurückzukehren. Mangelnder Beachtung des engen inhärenten Zusammenhangs zwischen allgemeiner Sprachtheorie und deutscher Grammatik in Admonis wissenschaftlichem Nachlaß, mangelndem Verständnis der Tragweite dieses Zusammenhangs, seiner Bedeutung für eine konsequente Deutung des sprachlichen Ganzen im allgemeinen, nicht zuletzt den bedrohlich wahrzunehmenden Symptomen der Abkehr von der Sprachsystemforschung des Deutschen will dieser Sammelband nach Möglichkeit entgegenwirken. Die zwei ersten Aufsätze, die hier präsentiert werden, bedürfen eines besonderen Kommentars. Sie wurden 1949 und 1953 veröffentlicht, fielen also in die Jahre, als der ideologische Druck des Totalitarismus Stalinscher Prägung auf die Intellektuellen, von faktisch staatlichem Antisemitismus und von Repressalien aller Art, von „gerichtlich" sanktionierten Morden und nicht selten von tödlichen „Unfällen" begleitet, auf die Spitze getrieben wurde. Die Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Arbeit, in der der Verfasser keine Erklärungen seiner Bekenntnis zur marxistisch-leninistischen „Lehre", zum „historischen und dialektischen Materialismus" machte, auch nicht vor Stalin selbst oder vor „von höchster Stelle" anerkannten Leitern ganzer Wissenschaftszweige katzbuckelte, war in diesen Jahren einfach unmöglich. Keine Schrift konnte gedruckt werden, wenn der Verfasser darin nicht ausdrücklich seine Loyalität gegenüber dem herrschenden politischen und ideologischen Regime bekundete. Wie alle anderen Gelehrten, besonders diejenigen, die in geisteswissenschaftlichen Bereichen tätig waren, stand Admoni vor der Wahl: entweder nichts in Druck geben oder sich dem Zwang fügen. Daher die den heutigen Leser zumindest befremdende Tonalität der Bemerkungen über die „reaktionären bourgeoisen" Forscher und sogar über einige „im Dienst der imperialistischen Aggression stehende" Ansichten in der westlichen Fachliteratur. Daher auch das Zitieren von Aussagen Stalins in dessen „genialen Werken" zu Fragen der Sprachwissenschaft. 13 Die Herausgeber haben sich dazu entschlossen, Admonis Aufsätze aus den Jahren drückender ideologischer Unfreiheit als typische Zeitdokumente ohne kürzende Eingriffe zu veröffentlichen. In bezug auf den Aufsatz aus dem Jahr 1953 ist anzumerken, daß der von Admoni in diesem Aufsatz vielfach verwendete Begriff des „inneren Gesetzes" der Sprachentwicklung - in eben dieser terminologischen Form - von Stalin gebraucht und nachdrücklich betont wurde. Admoni konnte der Form nach „stalinistisch" vorgehen und dabei das Wesentliche seiner Auffassung klar hervortreten lassen, obwohl der überspitzt deterministische Begriff des „Gesetzes" in dessen Anwendung auf den historischen Sprachwandel ihm im 13
Stalin beschloß die von ihm selbst sanktionierte linguistische Diskussion in der Parteizeitung „Prawda" im Jahre 1950 mit einem Aufsatz, der in der Hinsicht positive Folgen hatte, daß damit der Herrschaft der vulgär-soziologischen sprachwissenschaftlichen „Lehre" von Marr und seinen Nachfolgern ein Ende gesetzt und die historische Komparativistik wieder legitimiert wurde. Freilich wurde dabei ein Dogmatismus durch einen anderen Dogmatismus von verblüffender Primitivität und Willkürlichkeit ersetzt. Stalins linguistische „Beiträge" wurden 1952 in einer Broschüre unter dem Titel „Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft" veröffentlicht.
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Grunde genommen fremd war, er sprach vorzugsweise von „Gesetzmäßigkeiten" und - mit Vorliebe - von „Tendenzen" (und untermischte reichlich diese Termini unter die Hinweise auf die „inneren Gesetze" im Aufsatz von 1953). In einem Fall wird hier eine Arbeit von Admoni mit beträchtlichen Kürzungen publiziert. Dies betrifft den im Originaltext sehr umfänglichen Aufsatz zum Thema der Zweigliedrigkeit des Satzes (1955). Weggelassen sind ganze Abschnitte dieses Aufsatzes, in denen Admoni seine Ansichten in ausschließlicher Verbindung mit dem russischen Sprachstoff darlegt. Der hier veröffentlichte Teil des Aufsatzes weist auch einige Kürzungen () auf, bei denen es sich um dasselbe handelt, worauf im Zusammenhang mit den ersten zwei Aufsätzen hingewiesen worden ist, nämlich um erzwungene Zugeständnisse an die - vielfach ebenfalls erzwungene - servile Zensur der Rezensenten und Redakteure (der Stalinismus endete nicht mit Stalins Tod im März 1953; eine Erleichterung des ideologischen Drucks trat erst nach der Verurteilung des „Kultus der Persönlichkeit Stalins" auf dem 20. Parteitag im Jahre 1956 ein; bezeichnenderweise ist Admonis Aufsatz von 1956 „Zur Modalität des Satzes" schon absolut „deideologisiert"). Admoni weist die von modernen strukturalistischen Schulen vielfach gegen die „traditionelle", d. h. die vorsaussuresche, Grammatik vorgebrachten Anschuldigungen, sie sei „unwissenschaftlich", entschieden zurück. Er bekennt sich zur Tradition, die grundsätzlich darin besteht, daß linguistische Erkenntnisse letzten Endes aus unmittelbarer Beobachtung des realen Sprachstoffs in all seiner kaum erschöpfbaren Mannigfaltigkeit gewonnen werden, daß für den Forscher die form-inhaltlichen Korrelationen unentwegt im Vordergrund stehen, daß verschiedene methodische Zugriffe auf sprechsprachliche Gegebenheiten, deren Analyse auf das Sprach in ventar in seiner paradigmatischen Organisation schließen läßt, angewendet und miteinander kombiniert werden, was dem polydimensionalen Charakter der Elemente des Sprachsystems entspricht. Vgl. zum Beispiel: „Die Pluralität der Kriterien wird in der neueren Linguistik bereits einige Jahrzehnte lang als unwissenschaftlich angeprangert, aber in Wirklichkeit stellt sie angesichts der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Sprachbaus ... keine Schwäche, sondern die Stärke der traditionellen Grammatik dar" (261). 14 Bei alledem steht Admoni dem von der „traditionellen" Grammatik Erbrachten keinesfalls unkritisch gegenüber. Beispielsweise betont er im Aufsatz von 1961 unmittelbar nach der oben zitierten Stelle die nach seiner Meinung schwerwiegendsten Mängel der bisherigen „traditionell" ausgerichteten Grammatikforschung hervor: das Sichverlieren in einer Menge von Einzelheiten, die Zerstückelung des Gesamtbildes als Folge mangelnder Beachtung der Dominanzverhältnisse innerhalb der Merkmalskomplexe einzelner grammatischer Phänomene und der Vernachlässigung wesentlicher Wechselbeziehungen zwischen ihnen, deren Beleuchtung eine notwendige Bedingung der ganzheitlichen Darstellung des Sprachsystems, des konkreten Systems einer Einzelsprache ist. Die Forschungsergebnisse der „traditionellen" Grammatik stel14
Hier und im weiteren wird in Klammern auf die Seiten des vorliegenden Bandes verwiesen.
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len keine deduktivistisch erarbeiteten und logisch geschlossenen theoretischen „Systeme" dar, die „traditionelle" Forschungsmethodik ist biegsam und anpassungsfähig; immerhin ist das Ganze des auf der Basis dieser Methodik gewonnenen Wissens für Weiterentwicklung, für Bereicherung unter Wahrung grundlegender Prinzipien aufgeschlossen, nicht zuletzt also auch für Kritik, liegt in diesem Sinne „offen" da. Dies bezieht sich natürlich ebenfalls auf Admonis eigene Ansichten. Bei aller hohen Wertschätzung seines Werkes findet man darin - auch im in diesem Band gebotenen Auszug aus der Gesamtheit seiner Schriften - Anlässe zu kritischen Erwägungen. Der eventuell umfassenden Kritik wird weiter unten nur in einigen wenigen Punkten vorgegriffen. Admoni teilt mit Brinkmann das Verdienst, die These aufgestellt zu haben, die historische Entwicklung des deutschen Sprachbaus stehe im Zeichen fortschreitender Divergenz der Ausgestaltung der Substantiv- und der Verbgruppe. 15 Die Substantivgruppe entwickelte sich zu fest zusammengeschlossener syntaktischer Einheit, und eine sehr wichtige Rolle spielte in diesem Prozeß nach Admoni die Tendenz dazu, daß die syntaktische Funktion der Gruppe im Satz (vor allem ihr Kasus) durch eine einzige Flexionsendung, die abwechselnd (je nach bestimmten formalen Umständen) eines der kongruierenden Glieder der Gruppe aufweist, angezeigt wird. Dieses Phänomen bezeichnet Admoni als „Monoflexion". Vgl.: „In der Substantivgruppe hat vielfach nur eine Komponente ein „sprechendes" Kennzeichen der zu bezeichnenden morphologischen Bedeutungen, das folglich zum grammatischen Kennzeichen der gesamten Wortgruppe wird" (52, vgl. auch 71: „ein einziges ... Formans ..."). Das Wort „vielfach" in dieser Aussage weist in Richtung auf andere, doch im Gegensatz zur „Monoflexion" nicht „profilierende", Fälle hin wie beispielsweise des Zimmers (53). Dies sind Fälle, in denen zwei Gruppenglieder mit invariabler Flexion zusammenkommen, welche - beide grammatisch „ausdrucksfähige" Endungen haben können. Die doppelte Setzung kasuell und gleichzeitig numeral hochgradig eindeutiger Flexionsendung wird von Admoni als ein absolut klares, unmißverständliches Beispiel von Einzelfällen verwendet, die der dominierenden Monoflexion gegenüberstehen. Admoni stellte sich aber nirgends die - in gewissem Sinne undankbare, weil äußerst zeit- und raumraubende - Aufgabe, alle möglichen Substantivgruppenformen nach ihrer einwandfreien oder möglicherweise in der einen oder anderen Hinsicht fraglichen Subsumierbarkeit unter dem Begriff der Monoflexion zu sichten. Wir beschränken uns hier auf ein paar von diesem Standpunkt aus zumindest zweifelhafte Formen der Substantivgruppe (einschließlich der Verbindungen von Artikel und Substantiv). Ist eine Verbindung von Pronomen und Substantiv wie seinen Lehrern als monoflexivisch oder als nicht monoflexivisch zu deuten? Einerseits sehen wir hier eine kasuell und numeral eindeutige (eindeutig „sprechende") Flexionsendung am Substantiv (Dat. PI.). Andererseits stellt sich die Frage, ob die Endung -en am 15
Vgl. B r i n k m a n n , H.: Die deutsche Sprache. Gestalt und Leistung. 2. Aufl. Düsseldorf 1971. S. 6 0 8 (Brinkmann weist hier u. a. darauf hin. daß er und Admoni unabhängig voneinander zu dieser Idee gekommen sind).
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Possessivpronomen als ein zweites Kennzeichen eben des Dat. PI. interpretiert werden kann, vielleicht unter Berücksichtigung der die paradigmatische Homonymie dieser pronominalen Endung behebenden konkreten Beziehung von seinen auf Lehrern, oder ob sich gerade aus dieser Homonymie (vgl. seinen Lehrer) ein genügender Grund ergibt, die Endung -en am Pronomen als grammatisch „nicht ausdrucksfähig", kasuell und numeral „neutral" abzustempeln. Hinzuzufügen ist nun auch folgendes: Admonis Ausführungen zur „schwachen" Deklination der Adjektive tendieren zur pauschalen Charakteristik dieses Subsystems der adjektivischen Wortveränderung als nicht ausdrucksfähig hinsichtlich der morphologischen Bedeutungen der Substantivgruppe (74fif.). Sind aber für die Unterscheidung der Formen wie der ehemalige Lehrer und der ehemaligen Lehrer als Nom. Sg. und als Gen. PI. nicht allein die „schwachen" adjektivischen Endungen -e und -en verantwortlich? Zugestandenermaßen ist dies ein Sonderfall, doch auch er engt offensichtlich den Dominanzbereich der einwandfreien Monoflexion ein. Und ganz bestimmt sind mit dem Begriff der Monoflexion Formen des Typs dieser Tische unvereinbar. Das Zusammenwirken der Flexion beider Glieder der Substantivgruppe bei der Kennzeichnung ihrer Kasus-und-Numerus-Bedeutung unterliegt hier keinem Zweifel. Admoni kann nicht umhin, neben der Monoflexion auch die „Kooperation aller ausdrucksfähigen Flexionsendungen miteinander kongruierender Gruppenglieder" (268) anzuerkennen, geht aber auf die „Kooperation" nicht weiter ein; die Form dieser Tische wird von ihm - wie eine Randerscheinung - nur beiläufig, in einer Fußnote behandelt (73, Fußn. 15). In Wirklichkeit sind Fälle, bei denen man von sozusagen reiner Monoflexion sprechen kann, bei näherem Hinsehen nicht sonderlich zahlreich. Echt monoflexivisch ausgeformt sind Substantivgruppen, in denen der Artikel bzw. das die erste Position einnehmende Pronomen die Endung -(e)m aufweist. Das pronominale -(e)s drückt allein, an sich den Gen. Sg. nur in Verbindung mit „schwachen" Maskulina aus wie in dieses Jungen (noch eindeutiger im Fall des unbestimmten Artikels: eines Jungen·, das Gleiche gilt für die Genitive keines, meines usw.). Dies grenzt aber schon an die „Kooperation". Dank der Bestimmtheit ihrer numeralen Bedeutung kennzeichnet die Artikelform einen an sich, unabhängig von der Formklasse des nachfolgenden Maskulinums, den Akkusativ. Es handelt sich aber in diesem Fall nicht um die kasuelle und numerale Eindeutigkeit der Endung -en, sondern um die entsprechende Eindeutigkeit des ganzen Artikelwortes in einer seiner Sonderformen, also nicht allein um die Flexionsendung, folglich auch nicht um die „Mono-Flexion". Vergleichbar damit ist die Artikelform des. Zu den monoflexivischen Fällen kann man zweifellos Formen des Typs reinen Herzens zählen. Jedoch in Fällen wie der Baum (Nom. Sg.) oder der Frau (Gen. oder Dat. Sg.16) liegt die
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Die Frage der morphologischen Eindeutigkeit vs. morphologische Homonymie der Substantivgruppenformen (in der Gegenwartssprache nur deren Doppeldeutigkeit) wird hier beiseite gelassen. Die Frage der „Ambivalenz" bestimmter deutscher Substantivgruppenformen in bezug auf die Kasusbedeutungen (homonyme Formen im Nom. und Akk. Sg. Neutr., Fem., PL, im Gen. und Dat. Sg. Fem.) berührt Admoni in einem Beitrag zur historisch-typologischen Charakteristik der germani-
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Zusammenwirkung der pronominalen Flexion mit bestimmten grammatischen Merkmalen der Substantive - mit der Numerusform und mit dem Genus vor. All dies bedeutet, daß dem Prinzip der „Kooperation" grammatischer Merkmale, dem Prinzip der Bündelung der auf die Substantivgruppenglieder verteilten grammatischen Merkmale zur Kasus-und-Numerus-Kennzeichnung der Gruppe, wenn man die gesamte Bandbreite unterschiedlicher Formen der Substantivgruppe in Betracht zieht, im Vergleich mit dem Prinzip der „Monoflexion" ein höherer Grad der Allgemeinheit zuzuerkennen ist. 17 Von großer methodologischer Bedeutung ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprachwissenschaft und Psychologie, die Admoni in vielen Schriften berührt. Wenn man seine Aussagen zu dieser Frage miteinander vergleicht, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß er grundsätzlich verschiedene sprachwissenschaftliche Vorgehensweisen meint, bei denen psychologische Begriffe zur Erklärung sprachlicher Sachverhalte herangezogen werden. Bald nimmt er in seinen Ausführungen zu syntaktischen Problemen ausgiebig Bezug auf psychische Fähigkeiten, Bedürfnisse, Vorgänge, Zustände, bald dagegen wird von ihm der sogenannte „Psychologismus" in der Sprachwissenschaft scharf kritisiert. Im weiteren wird versucht, diese als widersprüchlich erscheinenden Einstellungen in ihrem Zusammenhang zu interpretieren. Die Admonis ganze Sprachbetrachtung durchdringende, in seinen Schriften allgegenwärtige funktionale Herangehensweise fuhrt mit logischer Notwendigkeit von der Sprache zum Sprecher. Die kommunikative Funktion sowie die mit ihr unzertrennlich verbundene Funktion der Ausformung des Gedan-
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schen Sprachen: ΑΛΜΟΗ H, Β.Γ.: ΜοΗοφΛεκοΗ». In: McTopnKo-TnnojiornMecKas Μορφο,ποΓΗ» repMaHCKHX M3WKOB. MocKBa 1978. S. 52. Admoni weist in dieser Arbeit darauf hin, daß die Monoflexion nicht den ganzen Bereich der Substantivgruppenformen beherrscht, bezieht allerdings die „ambivalenten" Fälle in das monoflexivische System ein. Von diesem Standpunkt aus ist u. a. die Artikelform das zu monoflexivischen Ausdrucksmitteln zu rechnen. Die „Monoflexion" ist für Admoni (neben der Rahmenkonstruktion) eines der grammatischen Mittel der Konsolidierung der Substantivgruppe zu einer innerlich fest zusammengefügten, im Satz deutlich abgrenzbaren (und umstellbaren) syntaktischen Einheit. Unsere Kritik rüttelt keineswegs an dieser Vorstellung, sondern sie weist nur - von Admonis eigenem Ansatz ausgehend - auf eine andere Art morphologischer „Technologie" des Substantivgruppenbaus hin, die, obwohl sie nicht als „monoflexivisch" verstanden werden kann, den gleichen die Substantivgruppe konsolidierenden Effekt hervorbringt. Für die die Substantivgruppe im ganzen charakterisierenden morphologischen Merkmalsbündel scheint der Terminus „Gruppenflexion" („Substantivgruppenflexion") am geeignetsten zu sein. Admoni lehnt diesen Terminus - immerhin im Zusammenhang mit der idee der „Monoflexion" - ab, da es ihm „an Eindeutigkeit mangelt" (72). Die nötige Eindeutigkeit kann aber einem Terminus vom Forscher selbst verliehen werden (und nicht selten werden gleiche Termini von verschiedenen Forschern in unterschiedlicher Bedeutung gebraucht). Ausführlich wird der Fragenkreis um die als Merkmalsbündel verstandene substantivische „Gruppenflexion" behandelt in: P a v l o v , V.: Die Deklination der Substantive im Deutschen. Synchronic und Diachronie. Frankfurt am Main u. a. 1995.
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kens, vereinheitlichend als Sprech-Denk-Funktion erfaßt und als Hauptfunktion der Sprache verstanden, ist letztendlich eine Funktion des Menschen, die er vermittels der Sprache ausübt. Über den Spracherwerb bildet sich bei jedem Menschen das psychophysiologische Organ Sprache heran und heraus. Sprache ist ein multidisziplinärer Untersuchungsgegenstand, was übrigens die schon lange betriebene multidisziplinäre Beschäftigung mit Sprache beweist. Die psychische Basis der Sprech-Denk-Vorgänge ist dem Sprachforscher unabwendbar präsent, gleichgültig, ob er psychologische Begriffe in seine Überlegungen zu sprachlichen Problemen bewußt und explizite einbezieht oder eine „reine", autonome, ausschließlich auf sich selbst gestellte Linguistik eigentlich vortäuscht. Admoni läßt auf Schritt und Tritt die psychische Grundlage des Sprechens, mit dem er sich befaßt, um an das sprachliche Regelwerk heranzukommen, durchblicken. Man beachte zum Beispiel in der Abhandlung über die Zweigliedrigkeit des Satzes die Ausführungen zum Charakter des konkreten psychischen Vorgangs im Zuge des situativen Kommunikationsaktes (117-118) oder die Aussagen im Aufsatz über den Status der verallgemeinerten grammatischen Bedeutung (358-359): Zur „psychologischen Bewertung" des Satzes gehört seine Wahrnehmung als einer sinnvoll abgeschlossenen Mitteilung; die „Abstrichproben" fuhren zur Unterscheidung obligatorischer und nichtobligatorischer Fügungspotenzen ebenfalls auf der Grundlage der Einschätzung bestimmter Satzkomponenten in bezug auf ihre Notwendigkeit für die inhaltliche Vollständigkeit des Satzes; die Distanzstellung eng zusammengehöriger Elemente des Satzes verleiht dem Satz eine festere „Zementiertheit", eine Eigenschaft, zu deren Deutung man ebenfalls auf psychische Phänomene zurückzugreifen hat. Die Distanzstellung verstärkt nämlich die „Spannung", indem sie erhöhte Anforderungen an die kurzfristige Speicherung längerer Teile der Redekette im Gedächtnis stellt - bis zum Moment, wenn das lineare Nacheinander ihrer Elemente im Bewußtsein ins simultane Miteinander eines ganzen Redeabschnitts umschlägt. Psychische Vorgänge bilden die unmittelbare Grundlage einiger Aspekte der Satzgestalt bzw. der Satzanalyse, in erster Linie des Aspektes der Erkenntniseinstellung des Sprechenden (oder, wie Admoni ihn auch anders nennt, des Aspektes der „psychologisch-kommunikativen Einstellung") sowie des Aspektes des emotionalen Gehalts des Satzes. Besonders bemerkenswert ist die folgende Aussage im Aufsatz über den Status der verallgemeinerten grammatischen Bedeutung: „Der grammatische Sprachbau ist im Gedächtnis des Menschen als eine gleichzeitig bestehende Gesamtheit vielfältig miteinander verbundener und hierarchisch geordneter Modelltypen gespeichert" (357). Im Gedächtnis ist natürlich auch das ganze lexikalische Inventar der Sprache gespeichert. Dies ist die einzig mögliche Antwort auf die „ontologische" Frage, die Frage nach der Existenzweise der Sprache des Menschen. Doch ist dies zugleich keine erschöpfende Antwort auf diese Frage. Die Sprache, die reale Einzelsprache stellt eine Einheit des Individuellen und des Sozialen dar. Als vergemeinschaftetes Regelwerk von „Modelltypen" für den Ausdruck der mitzuteilenden Gedanken, Willensäußerungen, Gefühle ist sie für jeden ihrer „Träger" etwas Überindividuelles, somit gleichzeitig etwas Eigenes, Subjektives und ein Äußeres, und das heißt -
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in einem gewissen relativen Sinne - Objektives (133). Das Objektive und zugleich Allgemeinverbindliche an den sprachlichen Form-Funktion-Beziehungen, wie es sich in den von den Sprachträgern erzeugten Texten kundgibt, ist der eigentliche Gegenstand der Sprachwissenschaft (passim). Das Psychische mag bei der Sprech-Denk-Tätigkeit ständig „dabeisein", es kann und muß bei der Sprachanalyse nach Bedarf berücksichtigt und ausdrücklich betont werden, aber es gilt fiir Admoni - faktoriell aufgeschlüsselt - als etwas zu Berücksichtigendes nur eben in seiner überindividuellen gesetzmäßigen Allgemeinheit (und erst in dieser Eigenschaft als etwas für den Linguisten Objektives). Die oben dargelegte Darstellung von Admonis grundlegender sprachontologischer und der darauf basierenden allgemein-methodologischen Ansicht, die den psychischen Faktoren des sprechsprachlichen 18 „Mechanismus" breiten Spielraum gewährt, gründet sich zum Teil notwendigerweise auf der Interpretation der Zusammenhänge zwischen seinen zerstreuten und oft nur flüchtigen Äußerungen zum betreffenden Fragenkomplex. 19 Dabei wird man unter anderem vor die Frage gestellt, woher denn bei verschiedenen Anlässen die scharfe Kritik des dem Gegenstand der sprachwissenschaftlichen Forschung nicht angemessenen „Psychologismus" (68-69, 110 u. a.) kommt. Der Vorwurf, den man Admoni machen kann, besteht darin, daß er das „Einerseits - Andererseits" seiner Einstellung zur Einbeziehung psychischer Faktoren in die Erklärung sprachlicher Gegebenheiten nirgendwo ausführlich genug expliziert. Man kann aber zumindest zwei Gründe fiir die Ablehnung des „Psychologismus" erkennen (die übrigens in keinem Zusammenhang miteinander stehen). Zum einen wendet sich Admoni gegen das in der Fachliteratur anzutreffende Zuviel an Beschäftigung mit psychischen Faktoren bei den Versuchen, sprachliche Variationen unterschiedlicher Art zu erklären. Die übermäßige Gewichtung rein situativer, ausgesprochen individueller Motivationen von Erscheinungen sprachlicher Formgebung, „spontaner psychischer Einstellungen der Kommunikanten", „zufällig aufkommender Assoziationen" droht, „den grammatischen Standpunkt" zu verdrängen, für den es sich „nur um Bedeutungen, die unbedingt, als objektive Gegebenheit mit den formalen Elementen der Redekette verknüpft sind", handelt (250). Besonders nachdrücklich setzt Admoni die „objektiv"-grammatische der „psychologistischen" Vorgehensweise in den Artikeln „Zur Zweigliedrigkeit des Satzes" und „Zur Prädikativität" entgegen. Zum anderen protestiert Admoni ganz entschieden gegen die Überbewertung psychischer Faktoren bei Erklärungen sprachgeschichtlicher Vorgänge. Bezeichnenderweise prangert er diese Art psychologischer Motivation des
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Anzumerken ist Admonis Skepsis in bezug auf die von Saussure geforderte Scheidung von Sprache und Sprechen (284). Zusätzlich zum Ausgeführten: Was anderes als graduelle Belastung psychischer Fähigkeiten kann mit der Gliederung der Redekette oder ihrer Übersichtlichkeit gemeint sein, die „deutlich" und „klar" sein muß bzw. im Verlauf der Sprachgeschichte durch bestimmte Mittel der Satzgestaltung „erleichtert" werden mußte (32, 5 8 - 5 9 ) ?
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Sprachlichen als „ahistorisch" an, vgl. seine Bemerkung über Behaghels „ahistorischen Psychologismus", die er von einem Verweis auf den vierten Band der „Deutschen Syntax" begleitet (21). Die Logik dieser Position Admonis kommt ganz klar in seiner Auseinandersetzung mit Sachmatovs psychologischer Grundeinstellung zum Ausdruck: „Das Verhältnis zwischen dem Wesen der Kommunikation und historischer Sprachentwicklung bleibt bei Sachmatov unerläutert; offen bleibt die Frage, wie die Unterschiede der Satzstruktur, die wir beim Sprachvergleich und beim Vergleich verschiedener Entwicklungsstufen einer Sprache feststellen müssen, vor dem Hintergrund der als zeitlos universell verstandenen psychologisch interpretierten Kommunikation zu erklären sind" (110). Die Frage, ob und inwieweit die für die „Kommunikation" relevanten psychischen Faktoren wirklich als ausgesprochen „zeitlos" und „universell" anzusprechen sind, mag ihrerseits offen bleiben; fest steht nichtsdestoweniger, daß Admoni zu Recht die Eigengesetztlichkeit der Einzelsprachen sowohl in ihrem historischen Wandel wie auch in dessen synchronisch-systemischen Folgen betont, die „inneren Gesetze" der konkreten Sprache, die die Herausbildung unterschiedlicher formaler Mittel zur Realisierung psychisch begründbarer „universeller" Anforderungen an die „Kommunikation" bedingen. Beispielsweise ist das für das Verständnis des Satzganzen unentbehrliche Erfassen der mit den Einzelwörtern im Satz zusammenhängenden Inhalte, einschließlich ihrer funktionalen Beziehungen in Wortgruppe und Satz, eine universelle Bedingung normaler sprachlicher Kommunikation; diese Bedingung wird aber in verschiedenen Sprachen durch unterschiedliche Komplexe formaler Mittel verwirklicht. Die „zeitlosen" psychischen Faktoren der Sprech-Denk-Tätigkeit treten also hinsichtlich ihres Wertes für die Erklärung der Sprachgeschichte weit zurück gegenüber der Erschließung konkreter einzelsprachlicher Entwicklungstendenzen in ihren systemischen Wechselwirkungen. Dies ist offensichtlich der Leitfaden von Admonis Einstellung zum Verhältnis von Psychologie und wissenschaftlicher Erforschung des Sprachwandels. Bedauerlicherweise findet man in Admonis Schriften - nicht nur in den in diesem Band gesammelten - keine speziell auf den oben angeschnittenen Fragenkomplex konzentrierte zusammenhängende Darlegung seiner Ansichten, und man muß die logischen Fäden, die die diesbezüglichen vereinzelten Äußerungen des Forschers zu einem einheitlichen Ganzen verbinden, durch Schlußfolgerungen rekonstruieren, was immer ein etwas gewagtes Unternehmen ist. Nicht zu unterschätzen ist demgegenüber, daß Admoni, wenn auch in einem nicht vollständig ausgeführten Umriß, zum Teil nur andeutungsweise, die ontologischen Grundvoraussetzungen seiner Theorie des Sprachbaus wie er zu dem wird, was er ist und wie er ist - offenlegt und somit zum Diskussionsstoff macht. Leider ist es heutzutage ein seltener Fall, daß der Linguist Wert darauf legt, den Zusammenhängen zwischen seiner Methodik der grammatischen Analyse und der Frage nach der Existenzweise des Untersuchungsgegenstandes Sprache explizite - wenn überhaupt - nachzugehen. Die saussureanisch-strukturalistisch orientierte Linguistik der letzten Jahrzehnte überläßt diese Frage gemeinhin der sogenannten Psycholinguistik und den an
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Sprache interessierten Neurologen und kümmert sich selbst um sie recht wenig. 20 Dies ist aber eine für die Sprachwissenschaft wahrhaft schicksalsträchtige Frage. Man muß sie in ihrer allgemein-erkenntnistheoretischen Einbindung sehen. Die theoretischen Konstruktionen, die auf die Erklärung des Seienden abzielen, müssen von zunächst globalen, dem künftigen wissenschaftlichen Erfassen erstmals noch undifferenziert, unanalysiert vorschwebenden Vorstellungen von den Untersuchungsgegenständen ausgehen, wie diese unabhängig von der auf sie gerichteten Erkenntnistätigkeit als deren Bezugs-„Punkt" existieren und dem Forscher „gegeben" sind. Für viele Wissenschaften ergibt sich daraus - zumindest anfänglich - kein schwieriges Problem; die Objekte zum Beispiel der Geographie, der Zoologie, der Chemie und vieler anderer Wissenschaften sind in ihren Grundelementen - wenn man zunächst von deren tiefliegenden systemischen Vernetzungen absieht - der unmittelbaren bzw. instrumental vermittelten Anschauung zugänglich, sind sichtbar, betastbar, meßbar, umstellbar usf. Das Seins-Bild des Hauptobjektes linguistischer Studien, der Sprache, als - nach Admonis Ausdruck - in ihrer „außeroperationalen" Eigenschaft zu erfassender Gegebenheit ist dagegen viel problematischer, denn die Sprache bleibt bisher in der Konkretheit ihrer Gestaltung, um die es ihrem Erforscher und Beschreiber geht, der Beobachtung unerreichbar und muß aus der Beobachtung des Sprechens, der Texte erschlossen werden. Dies enthebt die Linguistik aber nicht der epistemologisch grundsätzlichen Notwendigkeit, ihre Theorien auf ein Korrelat in Form einer Seins-Vorstellung von der Sprache in deren „Körperlichkeit" zu beziehen, was bestimmte Antworten auf die Fragen nach dem Wo und Wie der Existenz der Sprache voraussetzt. Die Bestimmtheit eventueller Antworten auf diese Fragen hängt von bewußt-gezielten Bemühungen um ihre Beantwortung ab und nicht zuletzt vom Verständnis dessen, daß man sie nur auf dem Wege der Synthese der Erkenntnisse zumindest der Sprachwissenschaft, der Psychologie, der Physiologie und der Soziologie beantworten kann. Der Linguist allein, auf seine „professionellen" Erkenntnismittel angewiesen, kann sich eine irgendwie deutliche Daseins-Vorstellung von der Sprache in ihrer dialektisch widersprüchlichen individuell-sozialen Doppelnatur nicht erarbeiten. Wichtig ist, daß gerade diese multidisziplinäre Kooperation die Möglichkeit bietet, einerseits die Kompetenzbereiche der an der Kooperation beteiligten Wissenschaften gegeneinander, soweit es geht, abzugrenzen, und andererseits die Fragen der Zweck- und Rechtmäßigkeit der Synthese von Erkenntnissen, die diese Wissenschaften mit ihren eigenen Methoden gewinnen, zu klären. Es ist nicht zu bezweifeln, daß Admonis Aussagen zu den Beziehungen der Sprachwissenschaft (speziell der Grammatik) und der Psychologie - zusammen mit den physiologischen „Mechanismen" psychischer Vorgänge - in die Richtung der oben besprochenen, nach unserer Überzeugung äußerst aktuellen und schwerwiegenden Problematik weisen, und dies ist, obwohl Admoni 20
Im Gegensatz zum Begründer des modernen Strukturalismus, denn Saussure eröffnet seinen „Cours" gerade mit der Betrachtung der Verbindung der „Seiten" des Sprachzeichens, des „Signifiant" und des „Signifie", im menschlichen Gehirn.
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in expliziter Form nur einige - sehr wichtige - Schritte in diese Richtung macht, wie schon gesagt, dem Forscher fraglos als Verdienst anzurechnen. Es kommt nicht selten vor, daß man Admoni unter den Germanisten als einen der „Klassiker" bezeichnet. Dies mag ehrenvoll gemeint sein, birgt aber die Gefahr in sich, daß sein Schaffen nun so behandelt wird, als wäre es nur noch „von historischem Interesse". Dem entgegenzuwirken, das auf lange Sicht Aktuelle seines sprachwissenschaftlichen Werkes, insonderheit seiner allgemein-theoretischen und methodologischen Ansichten, konzentriert vorzuführen, ist das Hauptanliegen des Sammelbandes seiner Aufsätze aus den Jahren 1949-1975, den die Herausgeber und der Verlag zum Lesen und Nachdenken anbieten. Es gibt noch viele Arbeiten von Admoni, die nur in russischer Sprache vorliegen, was ihre „Internationalisierung" erschwert, und die der Übersetzung - am zweckmäßigsten - ins Deutsche harren. Zu erwägen wären unter diesem Gesichtspunkt nicht nur einige wichtige Aufsätze aus den Jahren zwischen 1975 und 1993, sondern auch - und vor allem - zwei Bücher von Admoni, eine umfassende „Syntax der deutschen Gegenwartssprache" und die Monographie „Der Sprachbau als Gestaltungssystem und die allgemeine Grammatiktheorie". 21 Admoni wendet sich in seinen Arbeiten vielfach dem russischen Sprachstoff zu. Beispiele in russischer Sprache werden in diesem Band systematisch kommentiert, was ihr Verständnis gewährleisten soll. Die betreffenden Anmerkungen sind, wenn ihnen mitten in Admonis Text die Form des beiläufigen Kommentars verliehen ist, in eckige Klammern eingeschlossen; sonst sind sie (in Fußnoten) mit „//gg." unterschrieben. In einer Reihe von Fällen handelt es sich bei den Erläuterungen von Fakten des Russischen nicht um die Übersetzung unter Wahrung der deutschen Sprachnorm, sondern um das Bewußtmachen der eigenartigen grammatischen form-inhaltlichen Beziehungen in der russischen Sprache; die Erklärung wird in solchen Fällen durch Bemerkungen „wortwörtlich" oder „deutungsweise" eingeleitet. V. Pavlov
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Α Λ Μ Ο Η Η , Β.Γ.: 1) CHHTSKCMC coepeMeHHoro HeiueuKoro « B I M JleHHHrpaa 1973; 2) TpaMMaTHHecKHii ςτροίί KaK CHCTeMa nocTpoeHH« H oömaa Teopn« rpaMMaTHKH. JleHHHrpaa 1988.
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Das Problem der „Einklammerung" in der deutschen Literatursprache Die Wortstellung hat eine sehr große Bedeutung für das System der deutschen Gegenwartssprache. Die Wortstellung erfüllt wichtige grammatische und semantisch-stilistische Aufgaben, und die Formen, die sie in der deutschen Schriftsprache annimmt, weisen vielfach scharfe Unterschiede im Vergleich mit dem auf, was in dieser Hinsicht andere indoeuropäische Sprachen charakterisiert. Einzelne Züge der deutschen Wortstellung bereiten große Schwierigkeiten für den Deutschunterricht in Mittelschule und Hochschule. Also gibt es sowohl theoretische wie auch praktische Gründe dafür, sich um tiefere Einsichten in die deutsche Wortstellung zu bemühen. In der sowjetischen Sprachwissenschaft wurde dem Problem der Wortstellung große Aufmerksamkeit geschenkt. In dem fundamentalen Werk von Meäcaninov „Satzglieder und Wortarten" 1 ist eines der Kapitel der „Einklammerung" gewidmet, und neben Ausführungen zu allgemeinen Aspekten dieses Problems nimmt in diesem Kapitel die Betrachtung u. a. der Wortstellung im Deutschen einen beträchtlichen Raum ein. Fragen der Wortstellung werden in einer Reihe von Arbeiten sowjetischer Germanisten erörtert, die den deutschen Sprachbau untersuchen. 2 Die Grundthesen, die in diesem Bereich der sowjetischen Sprachwissenschaft aufgestellt wurden, widersprechen ganz entschieden den Ansichten, die in der reaktionären, die Wortstellung im Deutschen aus idealistischer und ahistorischer Sicht behandelnden ausländischen Germanistik verbreitet sind. 3 Doch hat die sowjetische Sprachwissenschaft nur die ersten Schritte auf dem Weg zur Lösung der die Wortstellung in der deutschen Literatursprache betreffenden Fragen unternommen. Jede neue Arbeit, die diesem Untersuchungsbereich angehört, verdient deshalb eine erhöhte Aufmerksamkeit. Von gewissem Interesse ist daher der im vorigen Jahr in der Zeitschrift „Die Fremdsprachen in der Schule" veröffentlichte Artikel von Professor Elise
1
M e m a H H H O B , H.H.: MjieHbi npeAHOHceHHa η nacTH peHH. MocKBa - JleHHH-
rpaa 1945. 2
3
)KnpMyHCKHH, B.M.: Pa3BMTne CTpo« HeMeuKoro 03i>iKa. MocKBa - JleHHHrpaa 1936; 3 h H ^ e p , JI.P., C T p o e B a - C o K O J i b C K a s , T.B.: CoepeMeHHbiH HeMemcHH « ω χ . 2-oe H3AaHHe. MocKBa 1941; A d m ο η i , W.: Über die Wortstellung im Deutschen. In: Zwei Welten. 1934, .Nb 6 [gekürzter Nachdruck in: Das Ringen um eine neue deutsche Grammatik. Darmstadt 1962]. Beispielsweise ist fur die breitangelegte Arbeit von Behaghel über die deutsche Wortstellung eine Verbindung des ahistorischen Psychologismus und der formalistischen Beschreibung sprachlicher Fakte charakteristisch: Β e h a g h e I,: O. Deutsche Syntax. Bd. IV. Heidelberg 1932.
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Riesel „Neues in der Syntax der deutschen Literatursprache", in dessen Mittelpunkt Fragen der Wortstellung stehen. 4 In einer bestimmten Hinsicht kann der Artikel von Riesel dem Leser nützlich sein. Vor allem weil er darauf aufmerksam macht, daß die schulmeisterlichen Regeln der deutschen „Wortfolge" und die tatsächliche sprachliche Wirklichkeit in diesem Bereich auseinandergehen, und weil er Hinweise auf mannigfaltige Verwendungen der Formen der Wortstellung als stilistischen Ausdrucksmittels enthält. Riesel fuhrt zahlreiche Beispiele aus der modernen deutschen Kunstprosa an, die recht anschaulich die häufige Stellung einer Reihe von Satzkomponenten, insbesondere der „präpositionalen Wortfügungen" (in der Funktion indirekter Objekte bzw. adverbialer Bestimmungen), außerhalb des verbalen „Rahmens", auch die Verlegung trennbarer Vorsilben des Verbs von der Endstellung ins Satzinnere u. ä. demonstrieren. Hätte sich Riesel auf das Aufzeigen unzureichender Genauigkeit und Unvollständigkeit der „Regeln" der Schulgrammatik beschränkt, so hätte man ihren Artikel nur begrüßen können. Doch beansprucht der Artikel von Riesel den Rang einer Untersuchung allgemeiner Entwicklungstendenzen der Wortstellung in der deutschen Literatursprache, und in dieser Hinsicht enthält er nach unserer Meinung schwerwiegende Fehler. Der theoretische Teil ihres Artikels weicht in beträchtlichem Maße von grundlegenden Prinzipien der Betrachtung der Wortstellung in der sowjetischen Sprachwissenschaft ab und kann den Leser in den betreffenden Fragen nur desorientieren. Riesel ist bestrebt, ihren Standpunkt als einen gegenüber der bourgeoisen Sprachwissenschaft polemischen vorzustellen. Sie weist auf die steigende Häufigkeit von Fällen hin, in denen die strengen Regeln der „Rahmenbildung" nicht eingehalten werden, auf die „Auflockerung" der Satzstruktur u. dgl. und bemerkt dabei, daß „das, was man früher als affektiven Satzbau' bezeichnete", nun zu allgemeinen Regularitäten der Wortstellung geworden ist (S. 33). Riesel sucht hier den Eindruck zu erwecken, als bilde ihr Standpunkt, nach dem die wachsende Verletzung der „Rahmenkonstruktion" zur Gesetzmäßigkeit des Sprachsystems wird, einen Gegensatz zu Behaghels Standpunkt, nach dem die entsprechenden Verletzungen Auswirkungen von Affekten darstellen. Die grundlegende Idee von Riesel besteht darin, daß die Rahmenstruktur dem Deutschen überhaupt fremd, der Sprache „von außen" aufgezwungen worden ist. Obwohl sie erklärt, sie könne in ihrem Artikel „dem Ursprung der Rahmenkonstruktion, über den Meinungsverschiedenheiten sowohl unter sowjetischen wie auch unter westeuropäischen Gelehrten bestehen, nicht nachgehen" (S. 34), teilt Riesel offenkundig die Ansicht, daß die „traditionelle straffe Gebundenheit" der Satzstruktur in der deutschen Literatursprache (vor allem namentlich durch die Rahmenformen) eine Folge lateinischen Einflusses auf die deutsche Schriftsprache ist. Riesel formuliert ihre Vorstellung von der vornehmsten neuesten syntaktischen Tendenz im Deutschen folgen4
Ρ η 3 e ji b, 3.Γ.: Hoeoe β CHHTaiccHce HeMeuKoro j i H T e p a T y p H o r o CTpaHHbie « 3 μ κ η β uiKOJie. 1 9 4 8 , N s 1.
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In: Hho-
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dermaßen: „Die allgemeine Sprachstruktur ist aufgelockert. Ihre traditionelle straffe Gebundenheit ist überwunden. Die Fesseln, die lateinische Muster aufgezwungen haben, sind abgeworfen. Die deutsche Gegenwartssprache ist freier, elastischer, biegsamer geworden" (S. 33). Auf S. 34 wird die Rahmenbildung wieder mit „beschwerlichen Fesseln" verglichen. Die Idee, die Rahmenkonstruktion stelle für die deutsche Sprache „beschwerliche Fesseln" dar, die somit nicht auf dem Wege natürlicher Entwicklung des Deutschen an sich entstanden sein können, sondern ihre Quelle in einer äußeren Einwirkung, und zwar in der Einwirkung des Lateinischen, haben, durchzieht wie ein roter Faden den ganzen Artikel von Riesel. Indessen ist diese Idee - wie wir im weiteren zeigen werden - zum ersten zutiefst fehlerhaft, und zum zweiten stimmt sie vollkommen mit den in der ausländischen Fachliteratur vorherrschenden Ansichten überein. Wir wollen mit dem zweiten Punkt beginnen. Obwohl Riesel ihre Ausführungen der Ansicht von Behaghel entgegensetzen will, entspricht ihre Vorstellung von dem Entwicklungsgang der „Rahmenkonstruktion" im Deutschen genau dem Bild, das Behaghel im vierten Band seiner „Deutschen Syntax" umreißt. Behaghel meint, daß die Endstellung nominaler Verbformen im Hauptsatz und des finiten Verbs im Nebensatz unter lateinischem Einfluß verbindliche Norm geworden sei, er betont auch, daß die Verbindlichkeit der Endstellung dieser Elemente des Satzes in den neueren Etappen der Sprachgeschichte merklich nachläßt und daß dies nicht nur in „affektiven" Fällen geschieht, sondern eine allgemeingültige sprachliche Regularität wird. Behaghel schreibt: „Im altdeutschen Nebensatz können dem finiten Verbum wie den nominalen Verbalformen noch Ergänzungen der verschiedensten Art nachfolgen. Das gleiche gilt für die nominalen Verbalformen des Hauptsatzes. Zum Teil die gleiche Erscheinung zeigt sich in den heutigen Mundarten, überhaupt in der lebendigen Rede der neueren Zeit. Die nhd. Zwischenzeit in der Schriftsprache ohne die Möglichkeit solcher Nachstellung steht unter dem Einfluß des Lateinischen." 5 Behaghel spricht hier in erster Linie von der Unverbindlichkeit der Rahmenstruktur in den Mundarten und in der „lebendigen Rede" (unter der im gegebenen Kontext die mündliche Form der Literatursprache zu verstehen ist), aber an einigen anderen Stellen (und anhand von Belegen) drängt sich ihm offensichtlich die Frage nach der Abkehr der gegenwartsdeutschen schriftsprachlichen Wortstellung vom Status einer absolut streng zu befolgenden Norm auf. So lesen wir in Behaghels Buch: „Das Zusammenstimmen der heutigen Mundarten mit dem Altdeutschen und dem Beginn des Nhd. tut dar, daß die durchgeführte Endstellung, die das 17. und das 18. Jh. bis zu Sturm und Drang beherrscht, etwas Künstliches, nicht Naturgewachsenes ist, etwas, das lateinischem Einfluß sein Dasein verdankt." 6 Und er betont ferner, daß nicht nur die Dialekte, sondern auch die Schriftsprache sich vom „lateinischen Zwang" zu befreien suchen: „In Goethes und Schillers späterer Prosa ist die Nichtendstellung gemieden. Aber sie ist doch auch in der Schrifsprache nicht 5 6
B e h a g h e l , O.: Op. cit. S. 144. Ibid. S. 134.
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ausgestorben, wenn sie gleich mehrfach angefochten und sogar als Einwirkung des Französischen oder Jüdischen verdächtigt wurde." 7 Den Hauptunterschied zwischen dem alten und dem neuen Typ der Wortstellung sieht Behaghel nicht im streng verbindlichen Charakter bestimmter Wortstellungsregeln in der gegenwartsdeutschen Schriftsprache, sondern darin, daß im Gegenwartsdeutschen nicht beliebige Satzglieder außerhalb des „Rahmens" stehen können: „Aber es besteht zwischen der älteren Zeit und den Zuständen der Gegenwart ein tiefgreifender Unterschied, daß nämlich das Nhd. notwendige Ergänzungen des Verbums nicht mehr nachstellen kann, nur nichtnotwendige." 8 Behaghel meint hier in erster Linie das direkte Objekt. Wenn man bedenkt, daß Riesel den Beginn der Abkehr von der Rahmenkonstruktion ebenfalls mit der Sturm-und-Drang-Periode verbindet (S. 32) und ebenfalls die Seltenheit der Stellung des direkten Objekts außerhalb des „Rahmens" unterstreicht, so tritt die gegenseitige Nähe der beiden Konzeptionen, der von Behaghel und der von Riesel, klar zutage. Riesels Bewertung der „Rahmenstruktur" als „Fesseln" entspringt einer bestimmten Voraussetzung. Diese Voraussetzung ist semantischer Art. Riesel schreibt: „Die Rahmenkonstruktion trennt voneinander semantisch zusammengehörige Gruppen und erschwert somit das Erfassen des Gedankens, den der Satz ausdrückt" (S. 34). Die semantische Basis der Stellung, die die Wörter im Satz einnehmen, verdient wirklich große Aufmerksamkeit. Wörter bzw. Satzglieder, die in engem semantischem Zusammenhang miteinander stehen, tendieren zweifellos zur Nebeneinanderstellung. Daraus folgt aber noch nicht, daß damit die Ausdrucksfahigkeiten der Wortstellung erschöpfend charakterisiert sind. Riesels Fehler besteht darin, daß sie die vielfachen funktionalen Potenzen der Wortstellung nicht berücksichtigt, die sie in Abhängigkeit von der allgemeinen Beschaffenheit des jeweiligen Sprachbaus und vom besonderen Werdegang der jeweiligen Sprache realisieren kann. Sie zieht nicht in Betracht, daß die Wortstellung - wie alle sprachlichen Phänomene Uberhaupt - keine unabänderliche, sondern eine historische Kategorie darstellt, die Änderungen im Verlauf der Sprachentwicklung unterliegt. Der Ausdruck semantischer (und grammatischer) Beziehungen ist in der Tat eine wichtige Funktion der Wortstellung. Daneben erfüllt die Wortstellung zumindest noch zwei andere Funktionen. Zum ersten ist dies die „strukturelle" Funktion, die in der Verwendung bestimmter Formen der Wortstellung zur Organisation, zur formalen Ausgestaltung syntaktischer Wortgruppen und des ganzen Satzes besteht; zum zweiten muß man auf die „emotionale" Funktion der Wortstellung hinweisen, die sich im Ausdruck diverser emotionaler „Obertöne" des Satzinhalts bekundet. 9 Von diesen zwei Funktionen ist die strukturelle in vielen Fällen von besonders großer Bedeutung für das Sprachsystem, denn sie steht im Dienste des Ausdrucks syntaktischer Beziehungen. 7 8 9
Ibid. S. 134-135. Ibid. S. 144. A d m o n i , W.G.: Op. cit.
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Die beiden Hauptfunktionen der Wortstellung - zu ihrer Unterscheidung kann man sie als die grammatisch-semantische und die strukturelle bezeichnen - stehen einander in einer bestimmten Hinsicht recht nahe: In beiden Fällen dient die Wortstellung als Mittel der Zusammenfügung von Wörtern zu Wortgruppen und Sätzen. In beiden Fällen paßt auf die Wortstellung die Charakteristik, die Meäcaninov diesem syntaktischen Mittel gibt: „Diese Verfahren führen die Verbindung der Wörter zu syntaktischen Ganzheiten, nicht deren Auflösung in syntaktisch isolierte Einheiten herbei." 10 Während die Wortstellung durch ihre semantisch-grammatische Funktion, die Wörter zu Ganzheiten zusammenziehend, zur Kennzeichnung grammatischer und semantischer Beziehungen zwischen den Wörtern (zwischen dem Satzsubjekt und dem Prädikat, zwischen dem Attribut und dem Bezugssubstantiv usw.) beiträgt, beschränkt sich die strukturelle Funktion darauf, „die Verbindung der Wörter zu syntaktischen Ganzheiten" als solche zu verwirklichen, wobei die semantisch-grammatischen Zusammenhänge oft genug dadurch gestört werden, daß unmittelbar aufeinanderbezogene Elemente des Satzes voneinander getrennt werden (Distanzstellung dieser Elemente). Auf den ersten Blick wirkt die strukturelle Funktion der Wortstellung sogar der Aufgabe entgegen, semantische und grammatische Beziehungen zwischen den Wörtern im Satz leicht erkennen zu lassen, sie läuft der „natürlichen Wortfolge" zuwider, und dennoch erweist sie sich als außerordentlich wichtig für den Sprachbau im ganzen, letzten Endes hilft sie auch einer deutlichen Wahrnehmung der semantisch-grammatisehen Gliederung des Satzes. Die strukturelle Funktion der Wortstellung wird in direkter Weise durch die „Rahmenkonstruktion" realisiert; dieses Phänomen bezeichnet MeScaninov mit einem tiefer begründeten und dabei handlichen Terminus „ 3 a M b i K a HHe" ['Einschließung' bzw. 'Einklammerung' 11 ]. Unter der „Einklammerung" versteht Meäcaninov den Fall, daß „ein Satzglied ... in seine Teile aufgespalten wird, und Wörter, die zu diesem Satzglied gehören, zwischen seine Teile zu stehen kommen, wodurch eine syntaktische Gruppe entsteht. Am deutlichsten präsentieren dieses syntaktische Verfahren Beispiele mit Artikeln oder mit zusammengesetzten verbalen Formen als Prädikat." 12 Meäcaninov greift u. a. zum Material der deutschen Sprache und zeigt, daß der Artikel ein Begleiter des Substantivs ist, der sich mit dem Substantiv am engsten verbindet und dennoch dem Substantiv häufig nicht unmittelbar vorangeht, sondern durch einen Abstand vom Substantiv den Attributen den Platz direkt vor diesem einräumt (zum Beispiel der natürliche Kasus, zwei an Gestalt ähnliche Brüder u. dgl.13). „Hier", schreibt MeSöaninov, „umfassen das Substantiv und 10
"
M e m a H H H O B , M . H . : O p . c i t . S . 109. Meäcaninovs Terminus kann man wohl in der russischen Sprachwissenschaft als teminologische Neubildung betrachten, das deutsche Übersetzungsäquivalent „Einklammerung" ist dagegen längst bekannt; da aber der in der deutschen Fachliteratur übliche Terminus, was seinen Referenzbereich anbetrifft, dem russischen Ausdruck gut entspricht, wird im weiteren eben der Terminus „Einklammerung" gebraucht. - Hgg.
12
M e m a H H H O B , H . H . : O p . cit. S. 5 0 .
13
Ibid. S. 5 0 - 5 2 .
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sein Artikel die semantisch an sie gebundenen Wörter, und daraus ergibt sich ein ganzheitliches syntaktisches Gebilde. Offenbar wird ein derartiger Komplex eben als eine ganzheitliche Einheit aufgefaßt, was die Funktion dieser eigentümlichen Konstruktion erklärt und sie als begründet und gesetzmäßig erscheinen läßt."14 In analoger Weise trennen sich im Deutschen Teile zusammengesetzter verbaler Formen, um eine Reihe von Satzkomponenten einzufassen; dazu gehören sowohl adverbiale Bestimmungen wie auch Objekte, also nicht nur Satzglieder, die sich am engsten und unmittelbarsten an das Verb anschließen, sondern auch selbständigere Satzglieder. MeSCaninov weist auf „übermäßig ausgedehnte Einklammerungen" hin, der Akzent liegt aber darauf, daß „die Einklammerung in den angeführten Beispielen aus dem Deutschen die grammatische Gliederung erkennen läßt. Die Gliederung wird durch die Wahrnehmung wechselseitiger Bindungen der Wörter im Satz aneinander bedingt, und sie erhält ihren Ausdruck in dessen Ausgestaltung. Es ergibt sich eine komplizierte Kombination von Wörtern, die vermittels des in diesem Fall verwendeten syntaktischen Verfahrens eine besondere grammatische Form erhält. Die beiden Glieder der Kommunikation, das Subjekt und das Prädikat, werden durch Wortgruppen ausgedrückt, die unter Verwendung der Einklammerung aufgebaut sind."15 Für die deutsche Sprache ist typisch, daß neben der Anwendung der Einklammerung auf einzelne Wortgruppen, die die Hauptglieder des Satzes, das Satzsubjekt und das Prädikat, repräsentieren, die Einklammerung auf den ganzen Satz ausgedehnt werden kann. Das Prädikat ist im deutschen Satz massenhaft mehrteilig, und seine Komponenten umfassen, voneinander getrennt, den ganzen oder fast den ganzen Satz - mit Ausnahme nur irgendeines Satzgliedes (oft eines abhängigen), das im Satz die erste Stelle einnimmt. Der Hauptsatz hat meist eine Positionsform, bei der an der ersten Stelle eine Komponente des Satzes steht, die mit den vorausgegangenen Elementen des Redestroms am engsten verbunden ist (bzw. am direktesten auf die Redesituation hinweist); der gesamte übrige Bestand des Satzes, der oft genug auch das Satzsubjekt umfaßt, wird durch den verbal-prädikativen Rahmen umklammert, der auf diese Weise den Satz im ganzen ausgrenzt. Die Satzformen mit dem Subjekt (bzw. mit der Subjektgruppe) an der ersten Stelle laufen dieser allgemeinen Tendenz im Grunde genommen nicht zuwider, denn das Satzsubjekt tritt in solchen Fällen gemeinhin als Bindeglied zwischen dem gegebenen Satz und dem vorangehenden Kontext, als vermittelnde Instanz in der Entfaltung der Gedankenkette, während der nachfolgende Hauptgehalt des Satzes mit Hilfe der Einklammerung ausgeformt wird. Ein Satz wie Aber seitdem sind diese unfaßbaren Dinge eines nach dem andern durch den Riesenfortschritt der Wissenschaft gefaßt, analysiert und, was mehr ist, reproduziert worden16 oder wie Jetzt hat sie die ungelernten Arbeiter des Londoner Ost-
14 15 16
Ibid. S. 50. Ibid. S. 54. Ε η g e 1 s, F.: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. Moskau - Leningrad 1935. S. 17.
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endes aus ihrem Todesschlaf emporgerüttelt17 steht hinsichtlich des Charakters der Wortstellung Sätzen wie den folgenden nahe: Die gegenwärtige Auflage hat verschiedene kleine Abänderungen erfahren; wichtigere Zusätze sind nur an zwei Stellen gemacht.18 Die Einklammerung des ganzen Satzes ist durchaus nicht nur im Deutschen zu beobachten. Aber gewöhnlich erfolgt sie in anderen Sprachen nicht durch Aufspaltung des Prädikats, sondern dadurch, daß die zwei notwendigen Satzglieder, das Satzsubjekt und das Prädikat, voneinander getrennt, den Satz umfassen. Diese Wortstellung ist beispielsweise im Lateinischen üblich, wiewohl sie in dieser Sprache auch nicht als verbindliche Norm gilt. Im Deutschen ist diese Wortstellungsart in breitem Maße im Nebensatz vertreten. Für den Nebensatz ist typisch, daß das Satzsubjekt die Stellung möglichst nahe zum Satzanfang einnimmt, das prädikative finite Verb dagegen ans Ende des Satzes zu stehen kommt, vgl. Durch alles dies wurde die Macht der Arbeiterklasse ... so sehr vermehrt, daß sie jetzt in 150 bis 200 Wahlkreisen die Mehrzahl der Wähler stellt;'9 Ich habe hiermit nur zwei Punkte berührt, bei denen das emporstrebende Bürgertum mit der bestehenden Kirche in Kollision kommen mußte.20 Das Verfahren der Einklammerung ist in der gegenwartsdeutschen Schriftsprache zweifellos nicht absolut verbindlich. Wie schon die deutschen Linguisten (in erster Linie Behaghel) festgestellt haben und wie dies Riesel betont,21 kann eine ganze Reihe von Satzkomponenten außerhalb des verbal-prädikativen Rahmens stehen. Aber sowohl Behaghel als auch Riesel müssen zugeben, daß diese Möglichkeit nicht bei allen Satzkomponenten vorliegt und zum Beispiel das direkte Objekt die Grenze der Rahmenkonstruktion nicht durchbrechen kann, daß also die Einklammerung auch in der gegenwartsdeutschen Schriftsprache vorherrscht. Sogar in Sätzen, in denen die Einklammerung mit Hilfe des finiten Verbs und des von dem Verb abgetrennten Präfixes erfolgt und in denen Abweichungen von der vollständigen Rahmenkonstruktion am häufigsten vorkommen, behauptet die Rahmenkonstruktion, wie Riesel selbst schreibt, die dominierende Rolle. Am wichtigsten ist bei alledem, daß die Einklammerung, obwohl sie nicht absolute Norm ist, wesentliche strukturelle Funktionen im Satz erfüllt. Jedenfalls stellt sie keine „Fesseln" für den Satzbau dar. Gerade die Tatsache, daß Abweichungen von streng durchgeführter Einklammerung in der heutigen Schriftsprache möglich sind, die Rahmenkonstruktion aber in den meisten Fällen dennoch realisiert wird, zeugt davon, daß die Einklammerung kein lediglich „traditionelles", überlebtes Phänomen ist, sondern im aktuellen Sprachbau eine wichtige Rolle spielt. Man kann nicht sagen, daß Riesel das Wesen der Einklammerung im Deutschen überhaupt verkennt. In ihrem Artikel zitiert sie sogar Meäcaninovs Hin17 18 19 20 21
Ibid. S. 33. Ibid. S. 8. Ibid. S. 31. Ibid. S. 20. Es gibt auch frühere Hinweise darauf, s. 3iiH/iep, JI.P., C T p o e e a - C o KOJibCKas. T.B.: Op. cit.
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weise auf die Rolle der Einklammerung bei gegenseitiger Abhebung der zwei syntaktischen Hauptgruppen, der Gruppe des Satzsubjektes und der Gruppe des Prädikats, im deutschen Satz. Aber das wirkliche Wesen der Einklammerung interessiert Riesel eigentlich nicht. Es gelingt ihr, das Problem „aufzuheben", indem sie die Einklammerung für ein grammatisches Phänomen erklärt, dem sie eine stilistische Deutung gibt. Nach Riesels Meinung ist es möglich, daß ein Satz unter grammatischem Aspekt als „idealer Fall" „klar und handlich" erscheint, während sich der gleiche Satz vom stilistischen Standpunkt aus als „absolut unklar und schwerverständlich" erweisen kann. Eine solche Gegenüberstellung von Grammatik und Stilistik ist methodologisch prinzipiell falsch. Sie führt den Leser in die irre, denn diese Gegenüberstellung suggeriert, das grammatische System sei ein Sammelsurium von längst überholten, dem wirklichen Sprachleben entfremdeten formalen Normvorschriften. Unter „Grammatik" wird somit ausschließlich die Schulgrammatik verstanden, nicht das wirkliche konkrete Sprachsystem, dessen Regularitäten das Ergebnis historischer Entwicklung darstellen; diese vollzieht sich unter der Einwirkung der sich auf der Basis bestimmter gesellschaftlich-wirtschaftlicher Verhältnisse herausbildenden Formen sozialer Denkprozesse. Die Gegenüberstellung von Grammatik und Stilistik zeugt von mangelndem Verständnis der Einheit aller Seiten der Sprache in ihrer konkret-historischen Existenz und widerspricht den grundlegenden Lehrsätzen marxistisch-leninistischer Wissenschaft von der Sprache. Die richtige Deutung der Einklammerung in der deutschen Literatursprache wird erst möglich, wenn man die Einklammerung im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung des deutschen Sprachbaus in seiner Totalität und unter Berücksichtigung konkreter Bedingungen des Werdegangs der deutschen Schriftsprache betrachtet. Zu dieser Fragestellung gehen wir jetzt über; es sei allerdings betont, daß der Rahmen eines einzelnen Artikels uns nicht mehr gestattet, als nur einige Momente des komplizierten geschichtlichen Vorgangs zu beleuchten. Die Möglichkeit einer breiten Verwendung der Wortstellung für strukturelle Aufgaben, nämlich als Mittel der Einklammerung nicht nur im Rahmen der Substantiv- und der Verbgruppe an sich, sondern auch mit Ausdehnung auf den Satz im ganzen, ist damit verbunden, daß der Flexion ein bedeutendes Gewicht im deutschen Sprachsystem zukommt. Es gibt Sprachen, in denen die Wortform gemeinhin unfähig ist, grammatische Beziehungen anzuzeigen (amorphe Sprachen wie das Chinesische oder Annamitische, analytische Sprachen wie das Englische), und diese Sprachen benutzen die Wortstellung vorwiegend (mitunter sogar ausschließlich) zum Ausdruck semantisch-grammatischer Beziehungen zwischen den Wörtern sowohl in der Wortgruppe (zum Beispiel der Beziehung des Attributs zum „zu bestimmenden" Substantiv) wie auch im Satz (zum Beispiel der Subjekt-Objekt-Beziehung). Es gibt aber auch Sprachen („synthetische", agglutinierende, flektierende Sprachen), in denen die Wörter die Fähigkeit haben, ihre Funktionen, ihre Beziehungen zu anderen Elementen des Satzes, zum Satz selbst durch eigene Formen deutlich zu kennzeichnen. Diese Sprachen können zugleich die strukturelle Funktion der Wortstellung entfalten, indem in ihnen die Möglichkeit genutzt
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wird, die Wortstellung zur Einklammerung syntaktischer Wortgruppen und des Satzes als Ganzen zu verwenden. Die Distanzstellung semantisch-grammatisch eng zusammengehörender Satzkomponenten behindert in solchen Sprachen das Erkennen syntaktischer Merkmale der betreffenden Wörter nicht; übrigens schließt die Sprache dieser Art die Verwendung der Wortstellung zum Ausdruck semantisch-grammatischer Beziehungen natürlich keineswegs völlig aus. Jede Sprache weist in der Regel sich überschneidende Züge unterschiedlicher Sprachtypen auf; das Fehlen typologisch „reiner" Sprachstrukturen bedeutet sowohl eine große Mannigfaltigkeit wie auch den „gemischten" Charakter konkreter einzelsprachlicher Regularitäten im Bereich der Wortstellungsformen. Bemerkenswert ist, daß auch in Sprachen, in denen einige Wortklassen und Klassen von Wortformen über keine wortinternen Mittel zur Kennzeichnung ihrer grammatischen Bedeutungen bzw. Funktionen verfügen, dennoch beispielsweise die Distanzstellung des Satzsubjektes und des Prädikats möglich ist, bei der die Endstellung eines Wortes diesem Wort die kategoriale Eigenschaft der Prädikativität verleiht. Nach Meäcaninov ist eine solche „Lokalisation" des Prädikats, das vom Satzsubjekt durch Objekte verschiedener Art getrennt ist, für die abchasische Sprache typisch. 22 Allerdings erfolgt die „Lokalisation", d. h. die Kennzeichnung der grammatischen Bedeutung des Wortes durch dessen bestimmte Stellung im Satz (bzw. in der Wortgruppe), am häufigsten nicht auf dem Wege der Distanz-, sondern vermittels der Kontaktstellung von Wörtern, durch „Anschließung" im weitesten Sinne dieses Terminus. Mescaninov schreibt: „Besonders intensiv wird es [das syntaktische Verfahren der Lokalisation - W.A.] in amorphen Sprachen genutzt, in denen der syntaktische Wert des Wortes im Satz am Wort selbst durch kein spezielles morphologisches Kennzeichen angegeben wird. Der Wortstellung kommt hier eine außerordentliche Bedeutung für den Satzbau zu. Auf der Wortstellung beruht hauptsächlich die Bestimmung der Satzglieder und ihrer Bestandteile. Die Satzglieder besetzen genau die für sie vorgesehenen Stellungen, ebenso streng werden die abhängigen Elemente der Hauptglieder des Satzes im Satz verteilt. Was diese anbetrifft, so rückt dabei die oben erwähnte Anschließung in den Vordergrund." 2 3 Da in der deutschen Schriftsprache viele Wort- bzw. Wortformenklassen (finite Verbformen, Artikel, Demonstrativ- und Possessivpronomen, das starke Adjektiv, teilweise das Substantiv selbst usw.) imstande sind, ihre Funktionen im Satz durch „spezielle morphologische Kennzeichen" anzuzeigen, spielt hier die eventuelle Bestimmung der syntaktischen Bedeutung des Wortes aufgrund der Wortstellung nur eine nebensächliche Rolle, im Vordergrund steht dagegen, wie wir schon gesagt haben, die Einklammerung als wichtiges Moment struktureller Ausgestaltung des Satzes. Bestimmte Tendenzen zur Einklammerung lassen sich bereits in den ältesten uns bekannten Etappen der geschichtlichen Entwicklung des Deutschen erkennen; die Einklammerung ist aber nicht verbindlich. So ist beispielsweise 22 23
MemaHHHOB,M.M.:Op. cit. S. 92-93. Ibid. S. 92.
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für die Nebensätze in den ältesten Denkmälern der deutschen Dichtung, solchen wie dem „Hildebrandslied" oder „Muspilli", vielfach die Endstellung des finiten Verbs charakteristisch, wogegen die Endstellung des finiten Verbs im Hauptsatz (die nicht ausgeschlossen ist) viel seltener vorkommt. Später, in Notkers Prosa, kann man neben Einklammerungen gleicher Art auch Einklammerungen durch Distanzstellung von Teilen zusammengesetzter (analytischer) Verbformen beobachten. Notkers Schriften entstanden zum Teil als Übersetzungen und zum Teil als Paraphrasierungen lateinischer Originaltexte, und bezeichnenderweise begegnen bei Notker sowohl Einklammerungen, die der lateinischen Vorlage entsprechen, zum Teil aber auch solche, bei denen Notker von der Wortstellung im lateinischen Text abwich. In den Texten der mittelhochdeutschen Periode erreicht die Tendenz zur Einklammerung bereits einen hohen Grad an Wirksamkkeit. So stellen zum Beispiel Abweichungen von der Endstellung des finiten Verbs im Nebensatz in den Predigten Bertholds von Regensburg eher Ausnahme- als Regelfälle dar. Aber die maximale Entfaltung der Einklammerung fällt in die nachfolgende, in die frühneuhochdeutsche Epoche. Erst im Frühneuhochdeutschen wird die Einklammerung sowohl vermittels der Endstellung des finiten Verbs im Nebensatz als auch vermittels der Distanzstellung von Teilen des zusammengesetzten Prädikats zur verbindlichen schriftsprachlichen Norm, obwohl flexivische Mittel der Kennzeichnung syntaktischer Funktionen am Wort gerade in dieser Epoche Einbußen erlitten und eine gewisse Schwächung erfuhren. Immerhin war (und bleibt) das morphologische System des Deutschen, was das flexivische Inventar anbetrifft, reich genug, um die rein strukturelle Verwendung der Einklammerung zu ermöglichen; wir haben oben einige flexivische Wortklassen genannt; auch der breite Gebrauch gemeinsamer Endungen, die grammatische Bedeutungen ganzer Substantivgruppen anzeigen („Monoflexion"), fällt ins Gewicht. 24 Zu betonen ist jedenfalls, daß das Frühneuhochdeutsche keine morphologischen Entwicklungen aufweist, die den Aufschwung des Einklammerungsverfahrens und seine nachhaltige Grammatikalisierung in der Schriftsprache an sich erklären könnten. Zur Lösung des somit entstehenden Problems muß man sich der Geschichte der Herausbildung der deutschen Schriftsprache zuwenden. Die Frage nach der Ursache vorwiegender Verwendung der Wortstellung als Einklammerungsmittel in der deutschen Schriftsprache kann man nur dann beantworten, wenn die Besonderheiten des Werdegangs der deutschen Nationalsprache, die mit den spezifischen Zügen der spätmittelalterlichen sozial-politischen Entwicklung Deutschlands zusammenhängen, in Betracht gezogen werden.
24
Admoni verweist an dieser Stelle in einer Fußnote auf seinen Artikel unter dem Titel „Syntaktische Gruppen in der deutschen Sprache", der in einem Band der „Wissenschaftlichen Annalen" („YneHbic 3anncKn") des Ersten Leningrader pädagogischen Instituts für Fremdsprachen (in dem Admoni damals arbeitete) erscheinen sollte. Die Herausgabe dieses Bandes wurde aber aus „ideologischen" Gründen blockiert. Der Artikel wurde später umgearbeitet und 1954 in einer anderen Ausgabe unter dem Titel „Die Struktur der Substantivgruppe im Deutschen" veröffentlicht; s. im vorliegenden Band S. 63ff. - Hgg.
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In seiner Rezension über die Arbeit von Marx „Zur Kritik der politischen Ökonomie" schreibt Engels: „Die politische Ökonomie ist die theoretische Analyse der modernen bürgerlichen Gesellschaft und setzt daher entwickelte bürgerliche Zustände voraus, Zustände, die in Deutschland seit den Reformations- und Bauernkriegen und besonders seit dem Dreißigjährigen Krieg auf Jahrhunderte lang nicht aufkommen konnten. Die Lostrennung Hollands vom Reich drängte Deutschland vom Welthandel ab und reduzierte seine industrielle Entwicklung von vornherein auf die kleinlichsten Verhältnisse"; 25 vgl. auch: „Wir sahen schon gleich im Anfang unserer Darstellung, wie die mangelhafte industrielle, kommerzielle und agrikole Entwicklung Deutschlands alle Zentralisation der Deutschen zur Nation unmöglich machte, wie sie nur eine lokale und provinzielle Zentralisation zuließ ,.." 2 6 Die Zersplitterung Deutschlands, das Fehlen eines einzigen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zentrums, wie es zum Beispiel für Rußland Moskau war, dies waren die Faktoren, die sich auf die Entwicklung der deutschen Schriftsprache entscheidend auswirkten. Der komplizierte und widerspruchsvolle Werdegang des deutschen Nationalstaates spiegelt sich auf die unmittelbarste Weise im komplizierten und widerspruchsvollen Werdegang der deutschen Nationalsprache wider. Die Grundlage der deutschen Nationalsprache bildet nicht die lebendige Sprechsprache, nicht die in realer Kommunikation entstehende umgangssprachliche Norm einer bestimmten Stadt oder einer bestimmten Region Deutschlands. Das Fehlen eines gesamtdeutschen Zentrums, einer echten Hauptstadt des Landes machte einen solchen Werdegang der Nationalsprache, den man als normalen Werdegang bezeichnen kann, unmöglich. Der deutschen Einheits-, der Nationalsprache liegen die Normen zugrunde, die in der schriftlichen, der „papierenen" Kommunikation geprägt wurden, die in der Sprache der Reichskanzleien, der fürstlichen und der städtischen Kanzleien, in der Druckersprache, in den literarischen Schriften der Reformationszeit usw. ihren Niederschlag fanden. „Eine charakteristische Besonderheit der Sprachentwicklung Deutschlands in der Anfangsetappe der Herausbildung der deutschen Nationalsprache besteht darin, daß sich die gesamtdeutsche sprachliche Normenbildung auf schriftlichem Wege vollzog, wobei große Unterschiede der Sprechsprache aller sozialen Gruppen bestehen blieben. Die wirtschaftliche und politische Dezentralisation Deutschlands, mangelnde Intensität des innerterritorialen Verkehrs, das Fehlen eines Landeszentrums wie Paris in Frankreich oder London in England - all das mußte die Unifizierung der Umgangssprache im Zuge mündlicher Kommunikation und somit auch sprachlichen Austauschs verhindern. Die Herausbildung der deutschen Nationalsprache vollzog sich nicht auf
25
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Ε η g e 1 s , F.: Karl Marx, „Zur Kritik der M a r x , K , E n g e l s , F.: Werke. Bd. 13. vorliegenden Artikel die vor 1949 in Schriften von Engels]. E n g e l s , F.: Der deutsche Bauernkrieg. Bd. 7. Berlin 1960. S. 411.
politischen Ökonomie" [Rezension]. In: Berlin 1961. S. 468 [Admoni zitiert im russischer Sprache herausgegebenen In: M a r x , K., E n g e l s , F.: Werke.
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der Grundlage der - in ihrer schriftlichen Form normalisierten - Umgangssprache einer zentralen Großstadt, sondern auf der Grundlage der Sprache der städtischen und fürstlichen Kanzleien, der Druckersprache, der Sprache der Lutherbibel und der klerikalen Literatur der Reformationsepoche, der Sprache der die Normierung des Deutschen anstrebenden Grammatiker, schließlich auf der Grundlage der bürgerlichen Literatur des 18.-19. Jahrhunderts." 27 Einen spezifischen Charakter hatte - insbesondere in den anfänglichen Etappen, im 14. und 15. Jahrhundert - der semantische Gehalt der schriftlichen Texte, die den Boden für die künftige nationale Sprache vorbereiteten. Die Entwicklung der Literatursprache in der kanzleisprachlichen Form brachte es mit sich, daß die Schriftsprache von allem Anfang an in logischer Hinsicht sehr komplizierte Inhalte bewältigen mußte, nämlich diplomatische, juristische, privatrechtliche u. ä. In Urkunden aller Art, in Verträgen usw. handelte es sich in der Regel um komplizierte Verhältnisse und Sachverhalte, die in mannigfaltigen Beziehungen zu anderen Sachverhalten standen und deren Darlegung mit großer Umständlichkeit und unter Einfügung zahlreicher Klauseln erfolgte. Die Wiedergabe derartig komplizierter Inhalte erforderte die Heranziehung verschiedenster syntaktischer Mittel. Und gerade im Frühneuhochdeutschen kamen in verhältnismäßig kurzer Zeit viele neue Mittel zum Ausdruck syntaktischer Beziehungen auf, die zur klaren Kennzeichnung logisch-semantischer Zusammenhänge im ausführlich gestalteten Diskurs beitrugen. In diese Zeit fällt zum Beispiel ein weitreichender Ausbau des Systems der Präpositionen und Konjunktionen, sowohl der unterordnenden wie auch der beiordnenden, vielfach wird ihre Bedeutung präzisiert bzw. spezialisiert. Bei alledem wurden für die mit logisch sehr kompliziertem Inhalt überladenen Urkunden (mit der Zeit auch für Traktate u. ä.) äußerst umfangreiche und schwerfällig aufgebaute Satzperioden typisch, mit denen man versuchte, alles, was zum Thema des Schriftdenkmals gehörte, vollständig zu umfassen. Es entstanden gigantische Satzperioden, die oft ganze Dokumente ausmachten, sich auf Seiten erstreckten und absolut unübersichtlich waren. Und um diesem Übel abzuhelfen, die Redekette deutlicher zu gliedern und zu organisieren, wird die Wortstellung in immer größerem Maße in ihrer strukturellen Funktion, als Mittel der Einklammerung verwendet. Daß die Einklammerung gerade im Frühneuhochdeutschen schriftsprachliche Norm wurde, verdankte sie also der Fähigkeit, einen übermäßig verkomplizierten und nahezu formlosen Redestoff zu ordnen, was ihm die notwendige syntaktisch-semantische Übersichtlichkeit und Klarheit verlieh. Die fixierte Endstellung des finiten Verbs markierte eindeutig die untergeordneten Sätze, hob sie heraus, was für die Konkretisierung logisch-semantischer Beziehungen im Redestrom von großer Bedeutung war. Die streng normativ werdende Distanzstellung von Teilen zusammengesetzter Prädikatsausdrücke im Hauptsatz verhalf ihrerseits dazu, die Grenzen dieser Art Sätze im Redestrom zu verdeutlichen, was ebenfalls die Gliederung der Satzperioden erleichterte. 27
iHpMyHCKHÖ,
1948. S. 51.
B.M.: HcTopmi HeivieuKOro snbiica. 3-be n3AaHne. MocKea
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„Eirtklammerung"
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Aber der rein schriftliche Charakter der damaligen Literatursprache führte dazu, daß die Einklammerung im Sprachsystem zu absolut verbindlicher, durch keine Sonderbedingungen modifizierbarer Norm wurde. Die weitgehende Isolierung der Literatursprache von dem lebendigen sprachlichen Umgang hatte eine übersteigerte Verwendung von Einklammerungen oft übermäßiger Ausdehnung, die Erstarrung der betreffenden Norm zur Folge. Die Umgangssprache konnte keinen diese Starrheit mildernden Einfluß auf die schriftsprachliche Einklammerungsnorm ausüben, konnte nicht ihre Absolutheit überwinden, sie biegsamer und somit semantisch ausdrucksvoller machen. Eben darin liegt die Ursache extrem formalistischer, hypertropher Verwendung des Einklammerungsverfahrens in der deutschen Literatursprache, die fur sie - besonders im 17. und 18. Jahrhundert - typisch war. Allerdings muß man betonen, daß diese Entfaltung des Einklammerungsverfahrens in der Schriftsprache auf Voraussetzungen beruht, die im deutschen Sprachsystem zutiefst verwurzelt sind, und daß die Einklammerung trotz des mitunter ausgesprochen Übersteigerten an ihrer Verwendung - wichtige positive strukturelle Aufgaben erfüllt, was letzten Endes dem klaren Ausdruck des semantischen Gehalts des Satzes zugute kommt. Wie nicht anders zu erwarten, erfährt die Literatursprache in den neueren Etappen ihrer Entwicklung, da sich nach und nach auch die umgangssprachliche Form der Literatursprache herauskristallisiert und da im literarischen Leben des Landes fortschrittliche demokratische Schriftsteller immer mehr an Einfluß gewinnen, wesentliche Änderungen, die u. a. das Einklammerungssystem betreffen. Die Verwendung des Einklammerungsverfahrens erleidet bestimmte Beschränkungen, was aber nicht bedeutet, daß die eigentlichen Grundlagen der Einklammerung als eines wichtigen Mittels struktureller Organisation des Satzes dadurch irgendwie beeinträchtigt würden. In ihrem Artikel zitiert Riesel einige Äußerungen von Engels über die Wortstellung im Deutschen. Dies ist zweifellos an sich verdienstlich. Aber die Schlüsse, die Riesel aus den Aussagen von Engels zieht, sind nach unserer Meinung unhaltbar. Engels protestiert in der Tat gegen „die schleppende Schulmeistersatzfugung" 28 , die die unbedingte Endstellung des Verbs im Nebensatz fordert. Er schreibt: „Das Deutsch ..., das uns auf der Schule eingepaukt wurde, mit seinem scheußlichen Periodenbau und dem Verbum durch zehn Meilen Einschiebsel vom Subjekt getrennt, hinten am Schwanz, dies Deutsch habe ich dreißig Jahre nötig gehabt, um es wieder zu verlernen." 29 Wir sind überzeugt, daß es sich hier nur um diejenigen formalistischen Extreme handelt, die im Einklammerungssystem wirklich zu beobachten waren und von denen sich die Literatursprache im Zuge ihrer Entwicklung befreit. Bezeichnenderweise spricht Engels in der zitierten Stelle von solchen Fällen der Einklammerung durch Distanzstellung von Teilen des komplexen Prädi28
29
E n g e l s , F.: Brief an E.Bernstein vom 5. Februar 1884. In: M a r x , K.., E n g e l s , F.: Werke. Bd. 36. Berlin 1967. S. 97. Ε n g e 1 s , F.: Brief an F.A.Sorge vom 29. April 1886. In: M a r x , K.. E n g e l s , F.: Werke. Bd. 36. S. 477.
Das Problem der „ Einklammerung"
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kats, bei denen das Satzsubjekt und das Prädikat durch untergeordnete Sätze voneinander getrennt werden, d. h. von „Schachtelsätzen", die zweifelsohne eine der extrem hypertrophen Erscheinungsformen der Einklammerung darstellen. Wesentlich ist aber, daß Engels, indem er sich gegen die „schleppende Schulmeistersatzfiigung" ausspricht, keine etwaige Umgestaltung der deutschen Sprache meint, die in mehr oder weniger entfernter Zukunft zu erwarten wäre. Engels betont, daß eine freiere, „unbürokratische" deutsche Syntax nicht nur bereits existiert, sondern im realen, aktuellen Sprachgebrauch sogar dominiert - sowohl in mündlicher Sprachform (zum Beispiel in den Reden der Reichstagsabgeordneten und in ähnlichen Fällen) als auch in literarischen Schriften. Engels gibt zu verstehen, daß er die Anfange dieser freien Syntax schon bei Lessing findet: „Dies bürokratische Schulmeisterdeutsch, für das Lessing gar nicht existiert, ist sogar in Deutschland jetzt ganz am Verkommen. ... Der deutsche Satzbau mitsamt der Interpunktion, wie sie vor 40 bis 50 Jahren auf Schulen gelehrt wurden, sind nur wert, in die Ecke geworfen zu werden, und das passiert ihnen in Deutschland redlich." 30 Und Engels schreibt (wie oben bereits erwähnt wurde), daß es ihm am Ende gelungen sei, sich der „schulischen Syntax" zu entwöhnen. Also läßt die fortschrittliche Schriftsprache der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, unter anderem die Sprache von Engels selbst, erkennen, ob die Bekämpfung der bürokratischen Syntax auf völlige Abschaffung der Einklammerung abgezielt oder nur gegen deren „extreme" Formen gerichtet war. Die Analyse des betreffenden Sprachstoffs zeigt unmißverständlich, daß Engels in den eigenen Schriften die Einklammerung durchaus nicht in Bausch und Bogen verneint, sondern nur einschränkt, indem er eine Reihe von präpositionalen (indirekten) Objekten und adverbialen Bestimmungen in der Regel dem eingeklammerten Satzteil, also der Satzbasis, nachschickt. In diesem Zusammenhang mache ich den Leser erneut auf die Beispiele aufmerksam, die auf S. 2 6 - 2 7 zitiert wurden. Sie sind den Texten von Engels entlehnt, die in die 90er Jahre fallen, namentlich dem Vorwort zur 4. Auflage des Buches „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" (1891) und dem von Engels selbst aus dem Englischen ins Deutsche übersetzten Vorwort zur englischen Ausgabe dieses Buches (1892). Diese Texte bieten typische Beispiele von Einklammerungen im „normalen" deutschen Satzbau. Die Erforschung sich anbahnender, neuerer Wortstellungsformen in der deutschen Literatursprache, des Verhältnisses zwischen konsequenter Einklammerung und Abweichungen von dieser Gesetzmäßigkeit hat eine sehr große theoretische und praktische Bedeutung, und die sowjetischen Germanisten müssen sich um die Lösung entsprechender Fragen bemühen. Aber diese Forschung kann nur unter der Bedingung positive Ergebnisse bringen, daß die wirkliche, geschichtlich evolutionierende und in dieser Weise den heutigen Stand unterschiedlicher Formen und Funktionen der Wortstellung bestimmende Rolle dieses syntaktischen Verfahrens voll und ganz berücksichtigt wird.
30
Ibid.
1953
Zu einigen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung des syntaktischen Baus der Sprache I Die Sprache in ihrem gegenwärtigen Zustand bleibt mit den ältesten Perioden ihrer Entwicklung nicht nur darum als dieselbe Sprache identisch, weil ihr gegenwärtiger Bau viele wesentliche Züge bewahrt, die die Gesetzmäßigkeiten sehr alter Sprachzustände reproduzieren. Die Verbindung des sprachlich Gegenwärtigen mit dem Alten besteht auch darin, daß die Gesetzmäßigkeiten, die die gesamte Sprachentwicklung bestimmen, hauptsächlich in den frühesten Sprachzuständen verwurzelt oder zumindest als Potenzen enthalten waren. Gerade deswegen sind diese Richtlinien der Sprachentwicklung als „innere Gesetze" der Entwicklung des Baus einer konkreten Sprache zu bezeichnen. Aber die Sprachentwicklung verläuft nicht ausschließlich in eigengesetzlichen Bahnen, sie kann ohne Hinwendung zum realen Leben des betreffenden Volkes nicht verstanden werden. Die Verbindung der Sprache mit den Schicksalen der Gesellschaft ist eines der fuhrenden allgemeinen Prinzipien der Sprachentwicklung. Die Sprache spiegelt notwendigerweise gewisse Seiten der Volksgeschichte wider; die Aufgabe der Sprachwissenschaft besteht in der Klärung des Problems, auf welche Weise soziale Vorgänge bestimmte sprachliche Phänomene, bestimmte Entwicklungsgesetze der Sprache bedingen. Mehr noch, es entsteht die Frage, ob geschichtliche soziale Vorgänge bzw. Sachverhalte nicht als Ursache qualitativer Besonderheiten des Baus von Einzelsprachen zu betrachten sind. Auf den ersten Blick erscheint diese Frage als nicht besonders schwierig. Die Geschichte vieler Sprachen weist eine bedeutende Anzahl von Fällen auf, in denen man eine direkte ursächliche Beziehung zwischen Fakten sozialer Entwicklung und sprachlichen Vorgängen feststellen kann. So führen die Entwicklung der zentralisierten Staatsmacht und die Verwendung, die der Staat dabei von der Sprache des Volkes für seine Zwecke, in seinen Kanzleien, bei Gerichtsverhandlungen, in diplomatischen Dokumenten usw. macht, die Entwicklung des Handels, die Entwicklung der Wissenschaft und der Literatur nicht selten zum Aufkommen des Systems des mehrfach zusammengesetzten Satzes, vor allem des Satzgefiiges mit mehreren untergeordneten Sätzen, wie dies beispielsweise in Rußland und in Deutschland der Fall war. 1 Diese Frage hat aber auch eine andere Seite. Unter der Einwirkung einer Veränderung, die im Zuge der Sprachentwicklung stattfindet, kann sich eine 1
Vgl. B H H O r p a j j O B , B.B.: Οπβρκκ no hctophh pyccnoro jiHTeparypHoro H3biKa XVII-XIX bb. 2-oe n3ÄaHHe. MocKea 1938. S. 67; JKupMyHCKHfi, B.M.: McTopHH HeMeuKoro H3bi«a. 3-be n3jiaHHc. MocKea 1948. S. 295.
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Entwicklung des syntaktischen Baus der Sprache
breite E n t f a l t u n g der einen o d e r a n d e r e n g r a m m a t i s c h e n K a t e g o r i e ergeben. B e d i n g t a b e r ein solcher V o r g a n g an sich zugleich die spezifische sprachliche F o r m , in der die b e t r e f f e n d e n Kategorien in d e r k o n k r e t e n E i n z e l s p r a c h e auft r e t e n ? D a s S a t z g e f ü g e erlebt in einer b e s t i m m t e n P e r i o d e der S p r a c h e n t w i c k lung, z u m Beispiel im Russischen und im D e u t s c h e n , infolge bestimmter Bed ü r f n i s s e seine Blütezeit. D o c h unterscheiden sich in diesen Sprachen die F o r m e n , die d e m A u s d r u c k der U n t e r o r d n u n g s b e z i e h u n g im S a t z g e f ü g e dienen: D i e f ü r das D e u t s c h e charakteristischen Regeln d e r Wortstellung im N e b e n s a t z und g e w i s s e Besonderheiten d e s G e b r a u c h s verbaler M o d i in einigen T y p e n v o n N e b e n s ä t z e n sind d e m Russischen f r e m d . D e r Unterschied in diesem Einzelfall ist durch g r u n d l e g e n d e U n t e r s c h i e d e d e s allgemeinen B a u s der b e i d e n Sprachen, ihrer Entwicklungstendenzen zu erklären. W e n n die T e n d e n z zur R a h m e n k o n s t r u k t i o n als wesentliche syntaktische G e s e t z m ä ß i g k e i t nicht bereits in den frühesten E t a p p e n der deutschen S p r a c h e n t w i c k l u n g vorh a n d e n g e w e s e n wäre, hätte es nicht z u m bekannten A u f s c h w u n g der Rahm e n b i l d u n g im F r ü h n e u h o c h d e u t s c h e n k o m m e n k ö n n e n . Mit anderen W o r t e n , eine n o t w e n d i g e V o r a u s s e t z u n g d a f ü r , d a ß eine g r a m m a t i s c h e Kategorie in der g e g e b e n e n S p r a c h e die uns b e k a n n t e - nicht eine a n d e r e - Form annimmt, basiert a u f einer in den ältesten Sprachzuständen w u r z e l n d e n T e n d e n z der E n t w i c k l u n g dieser S p r a c h e . B e z e i c h n e n d e r w e i s e betont Stalin in seinen A u s f ü h r u n g e n z u m P r o b l e m d e s Z u s a m m e n h a n g s zwischen S p r a c h e und P r o d u k t i o n , d a ß die S p r a c h e f ü r die B e f r i e d i g u n g n e u e r Bedürfnisse, wie sie mit der E n t w i c k l u n g der P r o d u k tion entstehen, d u r c h neue W ö r t e r bereichert wird, e b e n f a l l s w e r d e n ihre g r a m m a t i s c h e n Ausdrucksmittel v e r v o l l k o m m n e t , der g r a m m a t i s c h e Bau als G a n z e r wird aber beibehalten. 2 A l s o wird j e d e konkrete V e r ä n d e r u n g im Z u g e der historischen Entwicklung d e s S p r a c h b a u s einerseits durch eine Ursache bedingt, die sich aus der G e s c h i c h t e der S p r a c h g e m e i n s c h a f t ergibt (es handelt sich dabei vor allem u m den W a n d e l der K o m m u n i k a t i o n s Vorgänge und ihrer F o r m e n ) s o w i e aus der E n t w i c k l u n g d e s D e n k e n s usw.; andererseits a b e r b e s t i m m e n die f ü r die g e g e b e n e S p r a c h e typischen inneren G e s e t z m ä ß i g k e i t e n die f o r m a l - g r a m m a t i sche A u s p r ä g u n g solcher V e r ä n d e r u n g e n . M e h r n o c h , f ü r einige V e r s c h i e b u n gen im k o n k r e t e n Sprachsystem sind als unmittelbare U r s a c h e nur die Gesetzm ä ß i g k e i t e n dieser zweiten Art a n z u n e h m e n ; d a v o n zeugen beispielsweise g e w i s s e p h o n e t i s c h - p h o n o l o g i s c h e V o r g ä n g e und damit z u s a m m e n h ä n g e n d e m o r p h o l o g i s c h e Entwicklungen. Den innersprachlichen G e s e t z m ä ß i g k e i t e n m u ß m a n , wie wir sehen, eine sehr w i c h t i g e Rolle in der S p r a c h e n t w i c k l u n g z u e r k e n n e n , und dies steht im engsten Z u s a m m e n h a n g damit, d a ß die Sprache keinen Ü b e r b a u darstellt, der in seinen E i g e n s c h a f t e n unmittelbar, m e c h a n i s c h soziale V o r g ä n g e und Verä n d e r u n g e n widerspiegelt. Die Sprache erleidet beim Ü b e r g a n g von einer gesellschaftlichen Basis zu einer a n d e r e n keine U m g e s t a l t u n g . Sie bleibt vielm e h r bestehen, weil sie als K o m m u n i k a t i o n s m i t t e l , von d e m das g e s a m t e
2
C T a JI Η Η , H . B . : MapKCH3M Η Bonpocbi a3biK03HaHH5i. M o c K e a 1952. S. 11.
Entwicklung des syntaktischen
Baus der Sprache
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Volk Gebrauch macht, ohne wesentliche Veränderungen unterschiedliche sozial-ökonomische Formationen des gleichen Volkes bedienen kann. Keine Ereignisse in der Geschichte eines Volkes können dazu führen, daß im Sprachbau etwas wirklich Neues, nie Dagewesenes entsteht, sie wirken sich auf die Sprachentwicklung nur in dem Sinne aus, daß bestimmte Phänomene bzw. Tendenzen - auf der Grundlage bestehender Voraussetzungen unter ihrem Einfluß Impulse zur Wende in einer bestimmten Richtung bzw. zu mehr oder weniger tiefgehender Umgestaltung bekommen. Allerdings können Veränderungen dieser Art, die durch soziale Phänomene hervorgerufen werden, durch Phänomene also, die außerhalb der Sprache angesiedelt sind (wir werden diese Phänomene dementsprechend als außersprachliche Faktoren bezeichnen), von enormer Tragweite sein. Alle Seiten des Sprachbaus sind in ihrer geschichtlichen Entwicklung aufs engste miteinander verbunden. Nicht nur einzelne Bereiche des syntaktischen Systems stehen in unmittelbarer Wechselwirkung, sondern das gesamte syntaktische System ist durch wechselseitige Abhängigkeiten vor allem mit den Eigenschaften der Morphologie verbunden, ferner auch mit dem Lexikon und dem phonetischen System der Sprache. All dies bezieht sich gleicherweise auf die Sprachentwicklung. Gerade diese Wechselwirkungen lassen vielfach die Ursachen erkennen, die bestimmten Tendenzen der Entwicklung solcher sprachlicher Phänomene zugrunde liegen, die an sich durch außersprachliche Faktoren in der Regel nicht „aktiviert" werden. Zum Beispiel bewirkten Verschiebungen im phonetischen System, die mitunter mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch außersprachliche Faktoren bedingt wurden, in einigen Fällen wesentliche Veränderungen im morphologischen Bereich, obwohl die Morphologie als das stabilste, das „undurchdringlichste" sprachliche Subsystem gilt. Man kann beispielsweise Verschiebungen im phonetischen System mit einem Treibriemen vergleichen, der die Einwirkungen von Ereignissen in der Geschichte des Volkes, die Einwirkungen außersprachlicher Faktoren also, auf das grammatische System überträgt. Man muß immerhin wieder betonen, daß hier keine absolut neuen Entwicklungstendenzen des Sprachbaus entstehen, die den bisher wirksamen Tendenzen zuwiderlaufen würden, sondern daß es sich um die Ausformung von Tendenzen handelt, die im Einklang mit der allgemeinen Richtung der Sprachentwicklung stehen. So betrachtet man die Akzentverschiebung, nämlich den Übergang vom freien musikalischen Akzent zum dynamischen und fixierten Akzent, der in der Regel auf der ersten Silbe, der Stammsilbe, liegt, als eine der wichtigsten Veränderungen, die die germanischen Sprachen in ihrer Geschichte betroffen haben. Diese Akzentverschiebung erfolgte in der Periode vor den ältesten germanischen Schriftdenkmälern; die uns zur Verfügung stehenden Denkmäler der altgermanischen Sprachen (Schriften in gotischer Sprache, runische Inschriften, Eigennamen, die antike Autoren anführen) zeugen vom bereits vorhandenen neuen Akzentsystem, mehr noch, sogar von einigen aufkeimenden Abweichungen von diesem System. Verursacht wurde die germanische Akzentverschiebung nach der Meinung vieler Forscher durch eine außersprachliche Einwirkung. Der Erklärung dient
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Baus der Sprache
die Substrattheorie (Meillet, Hirt, teilweise Karsten). Den Übergang zu dynamischer Betonung auf der ersten Silbe erklären die genannten Gelehrten damit, daß die indoeuropäischen Dialekte, die den germanischen Sprachen zugrunde liegen, von Stämmen übernommen wurden, deren Sprachen nichtindoeuropäischer Herkunft waren, wobei für diese Sprachen gerade der dynamische Akzent auf der ersten Silbe des Wortes typisch war. Es wird auch darauf hingewiesen, daß die Tendenz zur Hervorhebung des semantisch wichtigsten Wortteils (der Stammsilbe) ebenfalls - unabhängig vom Charakter des Akzentes in der „Substrat"-Sprache - eine gewisse Rolle als Stimulus der Akzentverschiebung gespielt haben kann. Also ergab sich die germanische Akzentverschiebung - nach der dargelegten Ansicht - nicht aus eigengesetzlichen sprachlichen Gründen und Tendenzen, sondern war das Resultat außersprachlicher historischer Umstände; die betreffende Gesetzmäßigkeit könnte man als eine „sekundäre" bzw. „abgeleitete" bezeichnen. Auf der Grundlage dieser „sekundären" phonetischen Gesetzmäßigkeit entfaltet sich in den germanischen Sprachen eine Reihe anderer Gesetzmäßigkeiten, die zweifellos abhängigen Charakter haben, denn sie verdanken ihr Aufkommen in beträchtlichem Maße der Umgestaltung der Akzentverhältnisse; sie stehen nicht in unmittelbarer Verbindung mit außersprachlichen Faktoren, sondern hängen mit anderen eigensprachlichen Entwicklungen zusammen. Zu solchen abhängigen, jedoch nicht „von außen" bedingten Gesetzmäßigkeiten germanischer Sprachentwicklung gehören Brechung und Umlaut, phonetische Schwächung und Reduktion unbetonter Silben im Wort, und zwar vor allem unbetonter Endsilben, sowie ein von allen diesen Vorgängen getragener Umbau der morphologischen Wortstruktur (Wandel in Richtung auf ein kompakteres, fester „zusammengeschweißtes" Wort, auf das Verwischen seiner Mehrteiligkeit hin, Schwächung der Flexion, Verfall des alten Systems nominaler Stämme usw.). Diese Vorgänge hatten bestimmte Folgen für das syntaktische System germanischer Sprachen (erhöhte Wichtigkeit der Präpositionen, des Artikels usw.). Die Akzentverschiebung erweist sich also als eine Art Transmission, die, selbst durch außersprachliche Faktoren ins Leben gerufen, ihrerseits viele andere Erscheinungen hervorbringt. Die phonetische Seite der Sprache, die sich gegenüber außersprachlichen Einwirkungen empfänglicher zeigt als rein grammatische Phänomene, hat hier die Rolle einer Instanz gespielt, die zwischen diesen außersprachlichen Faktoren und einer Reihe - freilich abhängiger - innersprachlicher Entwicklungstendenzen vermittelt. Es wäre aber kaum richtig, sich den gesamten oben umrissenen geschichtlichen Vorgang so vorzustellen, als wäre die Akzentverschiebung eine mechanische Folge von Einwirkungen außersprachlicher Faktoren auf die Sprache. Wahrscheinlicher ist, daß diese Veränderung nicht nur durch die unabwendbare Wirkung außersprachlicher Voraussetzungen verursacht wurde; sie muß auch durch innersprachliche Faktoren stimuliert (bzw. zumindest irgendwie vorbereitet) worden sein. In bezug auf das hier betrachtete phonetische Phänomen stellt sich uns die Rolle des innersprachlichen Entwicklungsgeschehens - freilich höchst hypothetisch - folgendermaßen dar. Wir haben oben darauf hingewiesen, daß die Akzentverschiebung eine Erhöhung des Grades
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Baus der
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der „Monolithheit" des Wortes zur Folge hatte. In der Tat ist für die ältesten Entwicklungsstufen germanischer Sprachen eine Wortstruktur charakteristisch, die eine Reihe deutlich voneinander abgrenzbarer morphologischer Elemente aufwies (Wurzel - Stammsuffix - ein weiteres grammatisches Zeichen oder sogar mehrere solche Zeichen). Diese Elemente bewahrten im Rahmen des Wortes eine gewisse Selbständigkeit, sie näherten sich in dieser Hinsicht Morphemen im Wort agglutinierender Sprachen. Bemerkenswert sind zum Beispiel einige Formen des Gotischen, vgl. die Form des Gen. PI. Mask. suniwe - mit der Wurzel sun-, dem Stammsuffix -iw- und -e als Flexionsendung, die den Kasus und die Zahl anzeigt.; vgl. auch die Form der 1. Person PI. des Präteritums des schwachen Verbs satidedum, wo sat- die Wurzel darstellt, die Morpheme -i- die Zugehörigkeit des Verbs zu einer bestimmten Klasse schwacher Verben, -ded- das Tempus und -um die Person und Zahl anzeigen. Es besteht kein Zweifel, daß eine lange Periode in der Entwicklung germanischer Sprachen von einer allmählichen Komplizierung der Wortstruktur durch Anfügung neuer morphologischer Elemente gekennzeichnet war, die im Wort ihre relative Autonomie bewahrten; analoge Tendenzen waren - soweit die manchmal sehr spärliche Überlieferung dies zu beurteilen erlaubt - in unterschiedlichem Maße auch anderen indoeuropäischen Sprachen eigen, besonders stark sind sie im Sanskrit vertreten. Der Vorgang der Anreihung vieler Elemente im Wort mußte eine Tendenz hervorrufen, die in entgegengesetzter Richtung wirkte, die Tendenz zu deutlicherer Ausformung des Wortes als einer besonderen sprachlichen Einheit, zu deutlicherer struktureller Ausgrenzung des Wortes im Redestrom. Damit das Wort bei all seiner Komplexität nicht „auseinanderfällt", damit es seine Ganzheitlichkeit aufrechterhält, werden verschiedene Mittel der Gestaltung des Wortes als semantisch-morphologischer und phonetischer Einheit genutzt. In einigen indoeuropäischen Sprachen, insbesondere im Sanskrit, finden sich phonetische Merkmale, die den Wortauslaut von Lautungen in anderen Positionen innerhalb des Wortes unterscheiden (Sonderbehandlung der Verschlußlaute am Wortende). 3 Es gibt indoeuropäische Sprachen (Latein, keltische, die meisten slawischen Sprachen), in denen der Übergang zur dynamischen Betonung stattfand, die im Wort eine dominierende Silbe hervorhebt, an die sich andere, untergeordnete Silben gleichsam anlehnen. Auf der frühesten Entwicklungsstufe des Lateinischen und in einigen keltischen Sprachen (im Irischen) ist sogar - wie im Germanischen - die Fixierung der Betonung auf der ersten Silbe des Wortes die Regel. 4 3
4
In seinem Buch „Introduction ä I'etude comparative des langues indo-europeennes" meint Meillet zusammenfassend in bezug auf alle indoeuropäischen Sprachen: „All dies läßt darauf schließen, daß das Wortende im Idg. durch charakteristische Besonderheiten der Aussprache gekennzeichnet war. Das Wort hatte im Satz auch in phonetischer Hinsicht seine Eigentümlichkeit" [zitiert nach der deutschen Ausgabe des Buches: Einführung in die vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen. Leipzig u. Berlin 1909. S. 78]. Die „organisierende", die strukturelle Funktion des dynamischen Wortakzentes ist auch in Sprachen anderer Sprachfamilien, besonders in agglutinierenden Sprachen, verbreitet. In den Turksprachen ist die dynamische Betonung auf der Endsilbe des
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Die Tendenz zur Umgestaltung der Wortstruktur, die auf stärker ausgeprägte „Monolithheit" des Wortes ausgerichtet war, hat einen gemeinindoeuropäischen Charakter; diese Tendenz wirkte sich wie ein inneres Gesetz der Sprachentwicklung aus, das durch bestimmte Eigenschaften des Sprachbaus in einer bestimmten Periode der Sprachgeschichte aktiviert wurde. Es ist höchst bemerkenswert, daß die Tendenz zum stärkeren Zusammenschluß der Wortteile im Germanischen auch andere Ausdrucksmittel findet, mit denen eine Art gegenseitigen „Durchdringens" der Silben im Wort, ihre phonetische Angleichung aneinander erreicht wird. Wir meinen hier die Brechung und den Umlaut, die phonetische Ursachen haben, zugleich aber mit allgemeinen Gesetzmäßigkeiten germanischer Sprachentwicklung verbunden sind. Die Umgestaltung der strukturellen Eigenschaften des germanischen Wortes lag also sozusagen in der Luft ohne unmittelbaren Zusammenhang mit der Akzentverschiebung; mehr noch, diese morphologische Umgestaltung kann sogar selbst die Akzentverschiebung angeregt haben. Die von vielen Forschern angenommene Einwirkung des Substrats kann jedenfalls nicht die einzige Ursache der Akzentverschiebung gewesen sein, denn wichtige Voraussetzungen dafür waren im Sprachbau selbst enthalten. Aus dem Ausgeführten folgt, daß auch die germanische Akzentverschiebung kein durch ausschließlich außersprachliche Faktoren verursachter phonetischer Vorgang gewesen ist, sondern daß diesem Vorgang allgemeine innere Gesetze der Sprachentwicklung zugrunde liegen. Allerdings muß man dem Substrat eine bestimmte Rolle zuerkennen, denn von ihm hing es mit hoher Wahrscheinlichkeit ab, daß die Konsolidierung der Wortstruktur im Germanischen eben die Formen annahm, die wir in den betreffenden Sprachen vorfinden. Die Forscher sprechen von einer besonderen Intensität der dynamischen (expiratorischen) Betonung in den germanischen Sprachen; eine weitere Besonderheit stellt ihre Übertragung auf die Stammsilbe (die erste Silbe des Wortes) dar, was im Kreis der indoeuropäischen Sprachen eher eine Ausnahme ist, und dies sind Phänomene, die durch den Umstand erklärt werden können, daß sich die Sprachentwicklung zu der Zeit, als sich der eigengesetzlich bedingte Drang nach interner struktureller Ganzheitlichkeit des Wortes intensivierte, unter besonderen Bedingungen vollzog, nämlich bei gleichzeitiger massenhafter Aneignung des Germanischen durch Stämme mit Sprachen, die nicht zum indoeuropäischen Sprachenkreis gehörten. Obwohl die hier dargelegten Erwägungen hypothetischen Charakter haben, scheinen sie zur Schlußfolgerung zu berechtigen, daß sogar für die Seiten des Sprachsystems, deren Eigenschaften sie gegenüber Einwirkungen außersprachlicher Faktoren besonders empfänglich machen, allgemeine Tendenzen
Wortes vorherrschend, in den mongolischen und den flnno-ugrischen Sprachen fällt die dynamische Betonung vorwiegend auf die erste Silbe, usw. Bemerkenswert ist u. a., daß zur strukturellen Einheit des Wortes auch andersgeartete Mittel beitragen können wie zum Beispiel die Angleichung der Laute in der Reihe im Wort aufeinanderfolgender Silben (Vokalharmonie in finno-ugrischen, altaischen und einigen anderen Sprachen); eine Analogie dazu stellen im Germanischen Brechung und Umlaut dar.
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der Sprachentwicklung als solcher eine sehr große, möglicherweise die ausschlaggebende Bedeutung behaupten. II Da sich die inneren Gesetze der Sprachentwicklung in beobachtbaren Vorgängen offenbaren, die sich im Sprachsystem vollziehen, widmete die Sprachwissenschaft diesen Gesetzen ständig große Aufmerksamkeit, ohne sie begrifflich bzw. terminologisch eben als eine besondere Kategorie der Sprachphänomene zu erfassen. Man muß betonen, daß die Sprachforscher, insbesondere die Junggrammatiker, viele konkrete Gesetzmäßigkeiten festgestellt haben, die die Entwicklung einer Reihe von Sprachen charakterisieren. Die Ausgangsposition bei der Erforschung der inneren Gesetze der Sprachentwicklung brauchen sich also die sowjetischen Sprachwissenschaftler nicht als Tabula rasa vorzustellen; die vorzunehmenden Untersuchungen können sich auf das bereits angehäufte recht umfängliche Sprachmaterial stützen. Dies bedeutet aber nicht, daß die Ergebnisse, zu denen die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft in diesem Bereich (selbst in bezug auf die am gründlichsten erforschten Sprachen) gekommen ist, von der sowjetischen Sprachwissenschaft vollständig und unmittelbar, kritiklos übernommen werden könnten, daß es sich dabei nur um eine terminologische Präzisierung handelt, nämlich um die Einfuhrung des Terminus „innere Gesetze der Sprachentwicklung". Im Gegenteil, vor der sowjetischen Sprachwissenschaft steht die dringende Aufgabe, die Auffassung sprachgeschichtlicher Vorgänge, die uns die bourgeoise Wissenschaft präsentiert, zu revidieren, denn sowohl die Komparativistik wie auch - und wohl in einem noch größeren Maße andere sprachwissenschaftliche Schulen und Richtungen weisen bei näherer Beleuchtung der historischen Sprachentwicklung zutiefst fehlerhafte Einstellungen auf. In erster Linie muß man darauf hinweisen, daß die westliche Sprachwissenschaft im Bereich gesetzmäßiger sprachgeschichtlicher Vorgänge ihre Aufmerksamkeit vor allem einer Seite des Sprachsystems widmete, nämlich dem Wandel des phonetischen Subsystems der Sprache, wobei die Erkenntnis der Entwicklungsgesetze des grammatischen Baus, insbesondere der Syntax, meist zu kurz kam. Ein weiterer gravierender Mangel der bourgeoisen Sprachwissenschaft besteht darin, daß in ihr die Fragen der Wechselwirkung zwischen den wichtigsten, den zentralen inneren Entwicklungsgesetzen und anderen Elementen des Sprachsystems vernachlässigt wurden. Die Junggrammatiker beschränkten sich in der Regel auf minuziöse Beschreibungen einzelner Sprachphänomene in ihrem geschichtlichen Wandel, und so neigten die Darstellungen der Sprachsysteme, die die Junggrammatiker lieferten, zur Zerstückelung des Sprachbaus in voneinander isolierte Elemente. Ein typisches Beispiel einer solchen Behandlung der Sprachentwicklung bietet die vierbändige „Deutsche Syntax" von Behaghel. Die Gelehrten, die die anfängliche (romantische) Periode historisch-vergleichender Sprachwissenschaft repräsentieren, entwarfen dagegen allumfas-
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sende theoretische Konzeptionen, sie fanden „universelle" sprachliche Entwicklungsgesetze, die in ihrer Vorstellung ganze Sprachgruppen oder gar Sprachfamilien beherrschten, und übersahen dabei spezifische Besonderheiten der Entwicklung konkreter Einzelsprachen. Nach einer von solchen Theorien gilt die „Verarmung" des grammatischen Baus, der seinen einstigen Reichtum an Formen einbüßt, als ein Entwicklungsgesetz der indoeuropäischen Sprachen im allgemeinen. Auf der anderen Seite verwarfen sie in Wirklichkeit die Idee der eigengesetzlichen Sprachentwicklung, denn sie führten die sprachlichen Gesetze auf außersprachliche - idealistisch und sogar mystisch gedeutete - Faktoren, vor allem auf die Evolution des „Volksgeistes", zurück. In einem noch höheren Maße charakterisiert der alles sprachlich Individuelle nivellierende Universalismus und Schematismus die Theorien einiger moderner reaktionärer bourgeoiser Sprachwissenschaftler (Jespersen, Guillome u. a.), die den Wandel „von der Flexion zur Analyse" in direkter oder indirekter Weise als ein grundlegendes Gesetz der Entwicklung aller indoeuropäischen Sprachen proklamieren. Indem die Vertreter dieser „Konzeption" den Grad des Analytismus einer Sprache zum Maßstab ihrer Vollkommenheit erklären, stellen sie die Sprachwissenschaft in den Dienst der imperialistischen Aggression. Ein Zerrbild sprachlicher Entwicklungsgesetze schafft auch eine andere Richtung reaktionärer bourgeoiser Ideologie im Bereich der Sprachwissenschaft, nämlich der Strukturalismus, der auf der Lehre von Saussure beruht. Saussure verneint überhaupt das Systemische in historischer Sprachentwicklung, die Entwicklung und der gegebene Zustand einer Sprache sind für ihn gänzlich voneinander isolierte Phänomene. Die gesamte Sprachgeschichte ist für Saussure nichts anderes als eine Sammlung einzelner zufälliger, miteinander nicht zusammenhängender Vorgänge, die wohl sogar als Ausdruck von Entwicklungsgesetzen verstanden werden können, aber mit wirklichen zentralen Entwicklungsgesetzen nichts zu tun haben. Der Kampf gegen alle diese ahistorischen und antihistorischen Theorien der bourgeoisen Sprachwissenschaft ist natürlich eine der dringendsten Aufgaben der sowjetischen Wissenschaft von der Sprache bei der Behandlung von Fragen, die sich auf die inneren Gesetze der Sprachentwicklung beziehen. Uns steht eine große Arbeit bevor, die wir dem kritischen Umdenken des die Gesetzmäßigkeiten der Sprachentwicklung betreffenden Materials widmen müssen, das uns die fortschrittlichsten Vertreter der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft hinterlassen haben. Dies betrifft auch die russische Sprachwissenschaft - bei allen Errungenschaften, die sie vorzuweisen hat. Eingehender Kritik müssen zum Beispiel die Ansichten von Potebnja unterzogen werden. Potebnja betrachtete die Gesetzmäßigkeiten der Sprachentwicklung unvergleichlich tiefer und inhaltsreicher als seine westeuropäischen junggrammatischen Zeitgenossen. Er begnügte sich nicht wie diese mit einzelnen, oft nebensächlichen Entwicklungsgesetzen, sondern bemühte sich um die wirklich grundlegenden Gesetze der Sprachentwicklung. Leider aber berücksichtigte Potebnja bei der Herausarbeitung dieser fuhrenden Gesetze in unzureichendem Maße die Eigengesetzlichkeit des Sprachbaus bestimmter Einzelsprachen, was seiner Lehre einen gewissen Schematismus verleiht; außerdem
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ordnete er die Entwicklung grammatischer Formen in einer zu geradlinigen Weise der Entwicklung der Denkkategorien unter (darüber ausführlicher weiter unten). Die Aufgaben, die die sowjetische Sprachwissenschaft bei der Erforschung der inneren Gesetze der Sprachentwicklung zu lösen hat, sind sehr kompliziert und schwierig, denn die Erkenntnis dieser Gesetze ist nur dann möglich, wenn alle Besonderheiten einer konkreten Einzelsprache in ihren Wechselwirkungen, alle wesentlichen Zusammenhänge zwischen der Geschichte des Volkes als des Schöpfers und Trägers dieser Sprache und der historischen Entwicklung des betreffenden Sprachbaus berücksichtigt werden. Die Erkenntnis der inneren Gesetze der Sprachentwicklung wird dadurch erschwert, daß diese Gesetze im Zuge des allmählichen Wandels der Sprachstruktur komplizierte wechelseitige Beziehungen eingehen, sich bald in ihrer Wirkung unterstützend, bald behindernd, und dabei werden sie durch außersprachliche Faktoren in einigen Fällen zusätzlich gefördert, in anderen dagegen gehemmt.
III Innere Entwicklungsgesetze sind in allen Bereichen des Sprachsystems wirksam. Dies gilt auch für den syntaktischen Bau der Sprache. Die inneren Gesetze seiner Entwicklung stehen in engster Wechselwirkung mit inneren Gesetzen anderer Sprachbereiche, vor allem der Morphologie. Allerdings kann man in einigen Sprachen auch bestimmte spezifische „syntaktische" Entwicklungsgesetze feststellen, die von den morphologischen Gesetzen natürlich nicht völlig losgelöst sind, denen man aber auch eine gewisse Selbständigkeit nicht absprechen kann und die ihrerseits auf die Entwicklung des morphologischen Systems zurückwirken. Die für die Syntax aktuellen inneren Entwicklungsgesetze teilen ihre Hauptcharakteristika mit den inneren Entwicklungsgesetzen anderer Sprachbereiche: Sie sind auf die Vervollkommnung der Sprache ausgerichtet, sie sind historischer Natur, ihnen liegen allgemeine Prinzipien jeder Sprachentwicklung zugrunde, aber ihren unmittelbaren Nährboden bilden besondere Faktoren und Tendenzen der Entwicklung des konkreten Baus einer bestimmten Einzelsprache; unter den inneren syntaktischen Entwicklungsgesetzen muß man ebenfalls fuhrende Gesetze bzw. Hauptgesetze und sekundäre bzw. abgeleitete Gesetze unterscheiden; jedes syntaktische innere Entwicklungsgesetz entsteht und bekommt seinen formalen Ausdruck unter komplizierter und meist widersprüchlicher Wechselwirkung mit anderen sprachlichen Entwicklungstendenzen. Bei alledem sind fur die syntaktischen inneren Entwicklungsgesetze einige Eigenheiten typisch. Die inneren Entwicklungsgesetze des syntaktischen Baus können verschiedene Vorgänge im syntaktischen Bereich der Sprache betreffen. Sie können Veränderungen der allgemeinen Beschaffenheit des Satzes bzw. einzelner Satztypen bewirken, sie können neue bzw. modifizierte Formen des einen oder anderen Satzgliedes hervorbringen, sie können Entwicklungen im B e -
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reich der Mittel und Formen des Ausdrucks syntaktischer Beziehungen bedingen. Aber eine besondere Bedeutung für die Entwicklung des syntaktischen Systems und somit des gesamten Sprachsystems kommt den inneren Gesetzen zu, deren Inhalt in Veränderungen des Charakters der Beziehungen zwischen den Wörtern im Satz, des Charakters ihrer Gruppierung und folglich des Verhältnisses zwischen Wort und Satz besteht. Gerade solche Vorgänge bezeugen mitunter am augenscheinlichsten die Auswirkungen der wichtigsten, und zwar derjenigen zentralen inneren Entwicklungsgesetze des syntaktischen Bereichs, die selbst führende Rollen in der Entwicklung des Sprachsystems als Ganzen spielen können oder zumindest mit den Grundgesetzen solcher Art eng verbunden sind. Stalin bestimmt Wort und Satz als die zwei sprachlichen Hauptkategorien. Die Hauptkategorie der Syntax ist der Satz, den man immerhin unter dem Gesichtspunkt seiner Beziehungen zum Wort betrachten muß. Demzufolge bilden die Regeln der Verbindung von Wörtern zu Sätzen den Inhalt der Syntax. Veränderungen, die den allgemeinen Charakter der Beziehungen von Wörtern im Satz betreffen, was Veränderungen im Verhältnis zwischen Wort und Satz gleichkommt, stellen im Grunde genommen das Wichtigste an der syntaktischen Entwicklung der Sprache dar. Wenn solche Veränderungen in einer Sprache über längere Perioden systematisch und konsequent erfolgen, können sie als Auswirkungen wichtiger innerer Entwicklungsgesetze dieser Sprache verstanden werden. Allerdings verdienen ähnliche Tendenzen auch in den Sprachen große Aufmerksamkeit, in denen sie sich nur abzeichnen bzw. anbahnen und (möglicherweise noch) nicht als innere Entwicklungsgesetze angesprochen werden können. An dieser Stelle muß man sich fragen, ob es überhaupt unterschiedliche Ausdrucksformen für die Beziehungen zwischen Wort und Satz geben kann, ob das Verhältnis zwischen diesen Kategorien nicht vielleicht universell und unabänderlich ist. Unserer Meinung nach sind derartige Unterschiede möglich; zu betonen ist allerdings, daß es sich dabei nicht um das Wesen der betreffenden Beziehungen handelt, sondern eben um die grammatischen Formen, die ihrer Kennzeichnung dienen. Hinzu kommt, daß diese Unterschiede der Sprachwissenschaft schon längst bekannt sind, nur daß sie gewöhnlich einseitig, ausschließlich unter morphologischem Aspekt, beleuchtet wurden. Für die Eingliederung des Wortes in den Satz sind unterschiedliche Grade der Unmittelbarkeit bzw. Mittelbarkeit relevant. Es gibt Sprachen, in denen das Wort - sowohl das Wort, das eines der notwendigen Satzglieder, vor allem der Hauptglieder des Satzes, repräsentiert, wie auch das Wort, das eines der abhängigen Satzglieder darstellt, - seine syntaktische Funktion in hohem Grade unmittelbar, d. h. mit Hilfe der eigenen morphologischen Form, zum Ausdruck bringt. Dies trifft zum Beispiel auf das („volle") Adjektiv im Russischen zu. Damit wird natürlich nicht behauptet, daß die Hinwendung zu anderen Wörtern im Satz für die Bestimmung der Rolle des russischen Adjektivs im Satz absolut überflüssig ist, doch ist der Grad der Selbständigkeit des Adjektivs, der Unmittelbarkeit seiner Beziehung zum Satz sehr hoch. Vgl. zum Beispiel die (pronominale) Adjektivform cmapuieMy ['dem älteren'], die an sich, autonom auf die syntaktische Rolle
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dieses Wortes im Satz schließen läßt: Das Adjektiv ist einem maskulinen Substantiv oder Pronomen im Dat. Sg. untergeordnet und ist somit Teil eines indirekten Objektes; unklar ist dabei, ob das Adjektiv als gewöhnliches oder als abgesondertes Attribut verwendet ist, es kann sich auch als substantiviert erweisen. Es gibt dagegen auch Sprachen, in denen nicht nur das Wort, das in abhängiger syntaktischer Stellung verwendet wird, sondern auch das Wort, das als eines der notwendigen Hauptglieder des Satzes auftritt, mit dem Satz gewissermaßen auf indirekte Weise, nicht unmittelbar verbunden ist. Die Rolle, die das Wort im Satz spielt, wird nicht durch die Wortform selbst, sondern erst durch Vermittlung einer Wortfügung, an deren Aufbau das betreffende Wort teilnimmt, kenntlich gemacht. Dieser Tatbestand ist beispielsweise in einer Reihe westeuropäischer Sprachen zu verzeichnen. Und es sei sofort ausdrücklich betont, daß der Unterschied zwischen den beiden Satztypen, um den es sich hier handelt, einer weitverbreiteten Ansicht zuwider nicht mit dem Unterschied zwischen flexivischen und analytischen Sprachen einhergeht. Eine unmittelbare Eingliederung des Wortes in den Satz kann nicht nur auf morphologischen Mitteln der Flexion (bzw. der Agglutination) basieren, sie ist auch bei hochentwickelter grammatischer Analyse, beispielsweise aufgrund präpositionaler Fügungen, möglich. Bemerkenswert in dieser Hinsicht ist der mehrmalige Gebrauch von Präpositionen im Russischen, bei dem j e d e s kongruierende Glied der Substantivgruppe durch die gleiche Präposition eingeführt und daneben - wie auch sonst - flektiert wird. 5 Auf der anderen Seite kann sich das Wort auch in flexivischen Sprachen durch Vermittlung der Wortgruppe als Satzglied ausweisen, dies ist für das Substantiv und die Glieder der Substantivgruppe im Deutschen charakteristisch.
5
Belege dieser Art finden sich häufig im altrussischen Heldenepos, in einigen regionalen Dialekten, in archaisierenden Redeformen, vgl. zum Beispiel folgende Stelle im Heldengedicht „Ilja von Murom und das Ungeheuer": ripuei.Man HdoAuute no-
zanoe β cmojibHO-Kuee-epad, / Co ερθ3θκ>, co cmpaxoM co eenuxuuM, / Ko moMy ko KHfLiK) ko BnaduMupy [annähernd wortwörtlich: 'Es kam das scheußliche Ungeheuer nach Kijew, der Hauptstadt, mit Donnerschlag, mit Schrecken mit großem, zu jenem zu Fürsten zu Vladimir']. Dieses Phänomen ist in einer Arbeit von Borkovskij reichlich belegt ( E o p k o b c k h h , B.M.: CuHTaKcnc üpeBHepyccKHx rpamot. JlbBOB 1949. S. 232ff.; daselbst auch weitere Literaturangaben). Analoge Formen trifft man auch bei einigen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, gewöhnlich dienen sie der Wiedergabe der mehr oder weniger saloppen Umgangssprache handelnder Personen. Potebnja befaßte sich mit dieser Frage (Π ο τ ε θ η Λ , A.A.: Μι 3anncoK no pyccKoH rpaMMaTHKe. IV. MocKBa - JleHHHrpaa 1941. S. 289 u.a). Nach seiner Meinung werden durch mehrmalige Setzung der Präpositionen bestimmte semantische „Schattierungen" zum Ausdruck gebracht, indem sie in Anpassung an die „Eigenschaften des Gedankens" „semantische Akzente" verteilt. Die wiederholte Setzung von Präpositionen steht auch unter dem Einfluß rhythmischer und stilistischer Faktoren. Und doch muß man, wie uns scheint, bei der Erklärung dieses Phänomens in erster Linie von allgemeinen Entwicklungstendenzen des russischen Sprachbaus ausgehen.
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Bei höheren Graden der Unmittelbarkeit der Eingliederung des Wortes in den Satz ist dem Wort - zumindest potentiell - eine größere positionelle „Beweglichkeit" eigen, die Satzstruktur erweist sich dabei als eine freiere, biegsamere. Dagegen ist die positionelle Gebundenheit des Wortes als Satzkomponente bei verstärkter vermittelnder Rolle von Wortfügungen für die Beziehungen zwischen Wort und Satz in weit größerem Maße typisch, und was die Positionsformen des ganzen Satzes anbetrifft, so wirkt er „verhärtet", weniger flexibel und biegsam; er wird unter Verwendung einer Reihe spezieller struktureller Mittel ganzheitlicher Formgebung und innerer Gliederung aufgebaut. In unserem Blickfeld befindet sich nun also ein anderes wichtiges Moment, das mit dem Satz als solchem zusammenhängt: Der Satz kann eine freiere, biegsamere Struktur haben, was man beispielsweise vom Satz im Russischen behaupten kann. Seine positionelle Flexibilität kann aber auch eingeschränkt sein, wobei seine strukturelle Ganzheitlichkeit stärker betont wird. Der Bau jeder Sprache weist mehr oder weniger ausgeprägte Eigenschaften der Satzstruktur auf, von denen oben die Rede war. Dies bedeutet aber nicht, daß solche Eigenschaften der gegebenen Einzelsprache ein für allemal angehören. Sie können sich ändern, und sie ändern sich tatsächlich, bald langsamer, bald schneller, in komplizierter Wechselwirkung mit anderen Seiten des Sprachsystems, und die Vervollkommnung des Sprachbaus vollzieht sich in allen Einzelsprachen in spezifischen Formen. Die Veränderungen, die - ganz generell - den Charakter der Beziehungen zwischen Wort und Satz betreffen, können in bestimmten Sprachen als „handgreifliche" Auswirkungen wichtiger innerer Entwicklungsgesetze im syntaktischen Sprachbereich und somit im gesamten Sprachsystem gelten. Eine der Möglichkeiten, mit denen man zu rechnen hat, besteht darin, daß sich in einer Sprache auf der Basis gewisser stark ausgeprägter Eigenschaften der Satzstruktur bestimmte Tendenzen, selbst innere Gesetze weiterer Entwicklung der Satzstruktur, abzeichnen, deren Erscheinungsformen aber zumeist weder in der Gemeinsprache noch in der Literatursprache allgemeine Verbreitung finden, da diese Tendenzen im Widerspruch mit anderen wesentlichen Entwicklungstendenzen (bzw. inneren Gesetzen) der betreffenden Sprache stehen. So ist es um die Entwicklung des syntaktischen Baus des Russischen bestellt. Einerseits ist in dieser Sprache die Tendenz zur Wahrung und zur Verstärkung der positioneilen Flexibilität der Satzstruktur beobachtbar. Diese Tendenz bekundet sich darin, daß der Satz in vielen Fällen ohne finites Verb aufgebaut werden kann, auch darin, daß die unterschiedlichsten Satztypen in topologischer Hinsicht immer biegsamer werden, usw. Andererseits aber sind einige auf der gleichen allgemeinen Grundlage entstehenden Sondertendenzen nur in einzelnen Dialekten bzw. in nachlässigen Formen der Umgangssprache zu verzeichnen; in diesem Zusammenhang weisen wir wieder auf die mehrmalige Setzung gleicher Präpositionen vor den kongruierenden Gliedern von Substantivgruppen hin; ein anderes Beispiel stellt der analoge mehrmalige Gebrauch der Partikel 6bi in irrealen konditional-optativen Sätzen dar, vgl. >7 öbi ece-maxu nojtcaiiyü nouien 6bi (die zweimalige Setzung der Partikel 6w in
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diesem Satz verstärkt seine semantisch-syntaktische Eindeutigkeit und trägt zur Unmittelbarkeit der Wort-Satz-Beziehung bei). 6 Daß solche Konstruktionsweisen außerhalb normativ festgelegter grammatischer Formen der Literatursprache geblieben sind, kann man nicht als eine Art „Inkonsequenz" in der Sprachentwicklung auslegen. Nach unserer Meinung findet dies seine Begründung darin, daß ihr Gebrauch, ohne zum semantischen Inhalt und zur grammatischen Deutlichkeit des Satzes etwas Wesentliches beizutragen, nur die Ganzheitlichkeit der Struktur der Substantivgruppe bzw. des Satzes im ganzen beeinträchtigen würde. Also wurden in der russischen Nationalsprache bestimmte „Extreme" gemieden, die in einem der inneren Gesetze der Entwicklung der Syntax ihren Grund hatten, weil diese Phänomene auf den Widerstand einer anderen wichtigen syntaktischen Entwicklungstendenz stießen, nämlich der Tendenz zur deutlichen Gliederung des Satzes, zum eindeutigen Ausdruck des Zusammenschlusses einzelner Satzkomponenten zu Wortfügungen und zum Vermeiden nicht notwendiger formaler Elemente. Die russische Nationalsprache traf eine glückliche Wahl unter grammatischen Mitteln, die der allgemeinen Entwicklungsrichtung dieser Sprache auf weitgehende Positionsfreiheit der Satzstruktur und auf die Unmittelbarkeit der Wort-Satz-Beziehungen hin entsprachen. Dies brachte der russischen Sprache den Vorteil der Einheit hoher Flexibilität der Satzstruktur auf der einen und deutlicher Ausprägung der Bauformen des Satzes auf der anderen Seite ein. Eine andere Richtung nahm die Entwicklung der Satzstruktur in der deutschen Sprache. Hier erlitt die Unmittelbarkeit der Wort-Satz-Beziehungen beträchtliche Einbußen. Starke Anstöße zu außerordentlich breiter Entfaltung erhielten strukturelle Mittel, die dem Satz einen straffen Zusammenschluß seiner Komponenten sicherten. Dabei erwies sich die deutsche Sprachnorm in einer bestimmten Periode der Sprachgeschichte sogar gegenüber einigen „Extremen" empfanglich, die dem genannten inneren Entwicklungsgesetz des Deutschen entsprangen. Auf diese Frage werden wir ausführlicher eingehen.
IV Die inneren Gesetze der Entwicklung des syntaktischen Baus der deutschen Sprache kann man nur unter der Bedingung erfassen, daß die Forschung alle Seiten des Sprachsystems in ihrem historischen Werdegang berücksichtigt.
6
Außer dem Umstand, daß die russische Partikel 6w, die ein analytisches Ausdrucksmittel des Konjunktivs ist, im Deutschen keine Entsprechung hat, besteht eine Besonderheit des Russischen darin, daß beim Verb im Konjunktiv die Zeitstufen formal nicht unterschieden werden; daher ist eine Deutung grammatischer Semantik des russischen Satzes mit Mitteln der deutschen Grammatik, ohne daß der Kontext - wie im vorliegenden Fall - herangezogen werden könnte, eigentlich unmöglich; wenn man die Bezogenheit des Satzes auf die Zukunft annimmt, würde er im Deutschen ungefähr wie „Ich würde doch wohl hingehen" lauten. - Hgg.
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Die ausländische Germanistik übersah in der Regel die grundlegenden, zentralen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung des deutschen Sprachbaus, sie beschränkte sich auf das Aufzeigen vereinzelter, oft nebensächlicher grammatischer Veränderungen. Im Bereich der deutschen Morphologie findet eines der allgemeinen Prinzipien der Sprachentwicklung, nämlich das Prinzip der ungleichmäßigen Entwicklung verschiedener sprachlicher Subsysteme, darin seinen Ausdruck, daß die Entwicklungsrichtungen der morphologischen Struktur solcher Wortklassen wie des Substantivs einerseits und des Verbs sowie des Pronomens andererseits - teilweise im Zusammenhang mit phonetischen Veränderungen - in ihrem geschichtlichen Wandel auseinandergehen; das Adjektiv schlägt dabei einen ganz besonderen Weg morphologischer Entwicklung ein. Bekanntlich büßt das Substantiv den Großteil seiner Flexionsendungen ein. Beim Verb gestalten sich die Verhältnisse anders: Obwohl einige Gegenüberstellungen im System finiter Formen des Indikativs wegfallen (vgl. die Übereinstimmung der 1. und 3. Person PI. wir nehmen - sie nehmen sowie die übereinstimmenden Formen der 3. Person Sg. und der 2. Person PI. er macht - ihr macht), bewahrt das Verb einen ausgesprochen flexivischen Charakter, eine Reihe paradigmatischer Positionen des finiten Verbs wird flexivisch relativ eindeutig gekennzeichnet. Morphologisch deutliche Flexion charakterisiert auch das Pronomen, insbesondere das Demonstrativpronomen. Die morphologische Ausformung des Adjektivs unterscheidet sich in Abhängigkeit von seiner syntaktischen Funktion. Das attributive Adjektiv wird flektiert; seine Flexionsendungen können dabei in bestimmten Fällen grammatisch „ausdrucksvoll" sein (vgl. zum Beispiel guter im Nom. Sg. Mask, oder gutem im Dat. Sg. Mask, bzw. Neutr.); in anderen Fällen sind sie in bezug auf die morphologischen Bedeutungen „neutral" (die schwache adjektivische Deklination, vgl. zum Beispiel guten in allen Kasus des Sg. und des PI. Mask, außer dem Nom. Sg.). In seinen sonstigen syntaktischen Funktionen, vor allem in der Funktion des Prädikativs, tritt das Adjektiv in der „Kurzform", d. h. in der Stammform, ohne Flexionsendung (gut) auf; das Adjektiv teilt in diesem Fall die morphologische Charakteristik des Adverbs, das im Zuge der Sprachentwicklung seine besonderen „adverbialen" morphologischen Kennzeichen verliert, vgl. -o im Althochdeutschen: starko u. dgl.). Die Ur-Ursachen gerade dieser Entwicklungsrichtung werden der Forschung wohl verschlossen bleiben; dessenungeachtet ist ihr Zusammenhang mit bestimmten Tendenzen der Entwicklung des Sprachbaus im allgemeinen sowie mit einigen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung altgermanischer Sprachen im besonderen unbestreitbar. Die Tendenz zur Schwächung der Flexion ist, wie wir wissen, eine Folge der gemeingermanischen Akzentverschiebung. Was aber den oben erörterten Unterschied in der Verwirklichung dieser Tendenz in verschiedenen morphologischen Bereichen des Deutschen anbetrifft, so findet er seine Erklärung nicht nur im generellen Prinzip der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung verschiedener Seiten des Sprachsystems, sondern auch in einigen spezifischen Tendenzen im Wandel des syntaktischen Baus des Deutschen, nämlich und vor allem in der Tendenz zur Entfaltung derjeni-
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gen Eigenschaften der Substantivgruppe und der Verbgruppe, die diese Arten von Wortgruppen einander gegenüberstellen. Die grammatischen Eigenschaften dieser Wortgruppen entwickeln sich in entgegengesetzten Richtungen. Das Substantiv ist von der Flexion weitgehend entblößt, dafür aber werden die untergeordneten (kongruierenden) Glieder der Substantivgruppe (Artikel, Pronomen, Adjektiv) flektiert, und gerade mit Hilfe ihrer Flexion werden die grammatischen Bedeutungen (bzw. die syntaktischen Beziehungen) des Substantivs ausgedrückt (vgl. Nom. Sg. der Bruder, alter Wein, Dat. Sg. dem Bruder, altem Wein, Akk. Sg. den Bruder, alten Wein). Das finite Verb bewahrt verhältnismäßig vollständig seinen flexivischen Charakter, dafür aber haben die untergeordneten Glieder der Verbgruppe (Adverb, Adjektiv) nicht nur keine Flexionsendungen, sondern auch keine suffixalen Elemente, die wesentliche funktionale Unterschiede in der Verwendung dieser Wortklassen im Satz (Prädikativ, prädikatives Attribut, adverbiale Bestimmung) anzeigen könnten, vgl. ihre gleiche „Nullform" in Fällen wie Er ist gesund (Prädikativ), Er kam gesund an (prädikatives Attribut), Er läuft schnell (adverbiale Bestimmung). Auf den älteren Entwicklungsstufen des Deutschen hat es solche Unterschiede zwischen den syntaktischen Gruppen noch nicht gegeben. In der Substantivgruppe konnte das attributive Adjektiv in der Kurzform auftreten, vgl. ahd. guot man. Die unterschiedlichen Arten von Wortgruppen werden formal-grammatisch immer weitgehender differenziert; dies geht einerseits mit verstärkter morphologischer Differenzierung bestimmter Wortklassen einher, außerdem trägt diese Entwicklung zu deutlicherer innerer Gliederung des Satzes bei. Allerdings ist die wachsende Differenzierung der Substantiv- und der Verbgruppe im Deutschen durchaus nicht lediglich auf morphologische Entwicklungen zurückzuführen, mehr noch, es sind auch Rückwirkungen feststellbar (sie betreffen zum Beispiel den Gebrauch des Adjektivs in Kurzform und des Adverbs). Die Tendenz zur Differenzierung der Substantiv- und der Verbgruppe kann nicht verstanden werden, wenn man sie von den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung des syntaktischen Baus der deutschen Sprache isoliert. Das Wesen dieser Differenzierung wird einsehbar, wenn man in ihr einige Züge erkennt, die dieses Entwicklungsgesetz des deutschen Sprachbaus mit wichtigen inneren Gesetzen der Entwicklung anderer indoeuropäischer Sprachen verbinden, in erster Linie mit dem, was Potebnja seinerzeit als wachsenden Gegensatz von Nomen und Verb bestimmt hat. Bekanntlich hat Potebnja in seinen Arbeiten zur russischen Grammatik die These aufgestellt, daß sich die Gegensätzlichkeit des Nomens und des Verbs infolge der Vervollkommnung des Denkvermögens des Menschen im Verlauf der Entwicklung der indoeuropäischen Sprachen allmählich verstärkte; Potebnja verband damit das Verschwinden „intermediärer" Kategorien wie des „urbildlichen" Partizips, das weder Nomen noch Verb, sondern in gewissem Sinne beides war, er ver-
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band damit auch die Übertragung der prädikativen Funktion auf das Verb und einiges andere. 7 Potebnjas Auffassung, wie sie von ihm als Ganzes ausgearbeitet wurde, mangelt es an Überzeugungskraft; mehr noch, sie widerspricht konkreten Gegebenheiten der Entwicklung einer Reihe von Sprachen, darunter der russischen. Allerdings enthält seine Auffassung eine äußerst wertvolle Idee. Potebnja behauptet, daß sich in den indoeuropäischen Sprachen (jedenfalls in einigen davon) der Gegensatz zwischen bestimmten grammatischen Kategorien verstärkt. Aber es verstärkt sich nicht so sehr der Gegensatz zwischen den morphologischen Kategorien, die Substantiv und Verb heißen, hinsichtlich ihrer syntaktischen Verwendung, sondern vielmehr der Gegensatz zwischen den syntaktischen Kategorien des Subjekts und des Prädikats, bzw. - und genauer - zwischen dem Prädikat auf der einen und allen nichtprädikativen Satzgliedern auf der anderen Seite; wir meinen hiermit die immer deutlicher werdende Abgrenzung und Hervorhebung des Prädikats bei gleichzeitig wachsender innerer Differenzierung dieses Satzgliedes. Der Prozeß gegenseitiger Absonderung des Nomens und des Verbs fällt in die ältesten Etappen der Entwicklung indoeuropäischer Sprachen, so daß auch in den frühesten indoeuropäischen Schriftdenkmälern gemeinhin nur noch die Ergebnisse dieses Vorgangs zu beobachten sind. In den verhältnismäßig neueren Etappen der Entwicklung indoeuropäischer Sprachen steht ein ganz anderer Vorgang im Vordergrund, nämlich die immer schärfere Absonderung prädikativer von nichtprädikativen Formen - unabhängig davon, ob das Prädikat durch eine verbale oder irgendeine andere Form ausgedrückt ist. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht die Entwicklung der russischen Sprache. Besondere prädikative Formen entstehen auf der Basis der Adjektive: Auf die prädikative Funktion werden nichtpronominale Formen bestimmter Adjektive spezialisiert, und so bildet sich die sogenannte „Kategorie des Zustands" heraus, deren Wörter ausschließlich prädikativ gebraucht werden, vgl. Mne jKcuib, MHe öojibHü [deutungsweise: 'mir leid', 'mir schmerzhaft' (im Präsens wird die Kopula weggelassen)]. Freilich erhält das nominale Prädikat im Russischen vielfach keine besondere morphologische Form (vgl. >7 - paöonuü ['Ich Arbeiter']), dafür aber fällt unter diesen Umständen die syntaktische Form entscheidend ins Gewicht, nämlich eine besonders deutlich ausgeprägte Zweigliedrigkeit, die durch die entsprechende Satzintonation akzentuiert wird. Manchmal wird auch eine kopulative Sonderform, und zwar ecmb, verwendet, die eigentlich keine verbale Form mehr darstellt; sie dient der prägnant betonten Behauptung der prädikativen Beziehung, vgl. flucuieKmunecKiiü Mamepuanu3M ecmb Mupoeo33penue MapKCUcmcKO-neHUHCKOÜ napmuu ['Der dialektische Materialismus i s t die Weltanschauung der marxistisch-leninistischen Partei']. Die Haupttendenz der Entwicklung der russischen Sprache im Bereich, der uns hier interessiert, besteht in formal-semantischer Differenzierung der Prädikate und im Markieren ihrer Sonderstellung im Satz; sie hat nichts zu tun 7
Π ο τ e 6 Η a , A.A.: H3 3anncoK no pyccKofi rpaMMaTHice. I—II. 2-oe rnaaHne. XapbKOB 1 8 8 8 . S. 5 3 4 .
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mit eventueller Verbalisierung nichtverbaler Wortklassen, die in prädikativer Funktion gebraucht werden; sie ist vor allem auf die Schaffung neuer speziell prädikativer Worttypen und auf die Herausbildung spezifisch prädikativer Typen von Wortverbindungen im Satz ausgerichtet. Bezeichnenderweise passen sich sogar die alten Partizipien auf -JI, die längst Teil des verbalen Systems geworden sind, den Eigenschaften dieses Systems nicht völlig an; sie weisen Lücken im für das Verb typischen System der Flexionsendungen auf und bewahren die dem Verb im allgemeinen fremden Endungen, die das Genus des Satzsubjektes anzeigen. 8 In einigen romanischen und germanischen Sprachen, in denen analytische Tendenzen im Sprachbau einen hohen Entwicklungsstand erreicht haben, erfolgt eine prägnante Kennzeichnung des Prädikats unter verbindlicher Teilnahme eines verbalen Elementes an seiner Gestaltung, das gleichsam die Rolle eines speziellen Indikators des Prädikats spielt; in vielen Fällen sind diese verbalen Elemente kopulative Verben oder Hilfsverben, bei denen als Hauptteil des Prädikats eine nominale Form (ein prädikatives Substantiv oder Adjektiv, eine nominale Verbform wie der Infinitiv bzw. das zweite oder auch das erste Partizip) auftritt. Die Kennzeichnung des Prädikats wird in solchen Sprachen (zum Beispiel im Englischen, im Französischen) vielfach auch durch eine fixierte Wortstellung unterstützt. Einerseits gehört die obligatorische Verwendung einer finiten Verbform als Prädikat bzw. im Prädikat (oft als kopulatives Verb oder als Hilfsverb) im Deutschen - wie in vielen anderen Sprachen - zu den differentiellen Merkmalen des Prädikats, andererseits aber entstanden im Deutschen - wie im Russischen - spezifische prädikative Wortformen, nicht verbale, sondern anderweitiger wortartlicher Provenienz; es handelt sich hier vor allem um die Kurzform des prädikativen Adjektivs, die mit dem entsprechenden (qualitativen) Adverb zusammenfallt. Allerdings nimmt ein finites Verb im Deutschen ständig am Ausdruck des Prädikats teil, und die Herausbildung spezifischer prädikativer Wortformen vollzieht sich als Teilvorgang im Rahmen des Wandels der Verbgruppe, der sie in formal-grammatischer Hinsicht der Substantivgruppe immer mehr gegenüberstellt. Die rein flexionslose Ausformung der untergeordneten Glieder der Gruppe des Verbs (des Prädikats) ist Folge und Ausdruck der Entwicklung dieser Gruppe in Richtung auf steigende Gegensätzlichkeit verbaler und substantivischer Wortfügungen hin. Die allgemeine Tendenz der indoeuropäischen Sprachen zu formal deutlicher Kennzeichnung des Prädikats nimmt also im Deutschen eine besondere, eigengesetzlich bedingte Form an. Bis zu einem gewissen Grade kann dies mit dem spezifischen flexivisch-analytischen Typ des deutschen Sprachbaus zusammenhängen, aber das Deutsche verdankt diese seine Eigenschaft in weit
8
Die altrussischen Partizipien auf -JI spielen im späteren Russisch die Rolle der allgemeinen (und - mit sehr wenigen Ausnahmen - einzigen) Vergangenheitsform des Verbs; wir illustrieren hier an einem Beispiel die von Admoni erwähnten Besonderheiten der Konjugation dieser Vergangenheitsform: Η npumen - Tu npuuieji - OH npuuien = 'Ich kam - Du kamst - Er kam'; OH npumen - Οπα npuuina - OHO npuuuio = 'Er kam - Sie kam - Es kam'. - Hgg.
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höherem Maße dem inneren Entwicklungsgesetz, das den syntaktischen Wandel in Richtung auf größere Mittelbarkeit der Wort-Satz-Beziehungen und auf straffer gestaltete Satzstrukturen hin bedingte. Bei all der kardinalen Differenz zwischen der Substantiv- und der Verbgruppe im Deutschen teilen sie eine wesentliche gemeinsame Eigenschaft. Im Zuge der Sprachgeschichte weisen die beiden Arten von Wortgruppen in struktureller Hinsicht einen immer engeren Zusammenschluß, einen immer festeren Zusammenhalt ihrer Komponenten auf. Die Rolle der Wortgruppen im Satz als vermittelnder Instanz zwischen Wort und Satz (insbesondere diese Rolle der Substantivgruppe) wird immer gewichtiger - im Gegensatz zum Russischen, wo das Einzelwort seine syntaktische Funktion vorwiegend selbst, durch die eigene Form erkennen läßt. In der Substantivgruppe hat vielfach nur eine Komponente ein „sprechendes" Kennzeichen der zu bezeichnenden morphologischen Bedeutungen, das folglich zum grammatischen Kennzeichen der gesamten Wortgruppe wird. Einzelne Komponenten der Gruppe, darunter das Substantiv selbst, können ihre Rolle im Satz in vielen Fällen nur durch Vermittlung dieses gemeinsamen grammatischen Kennzeichens (der Monoflexion) zum Ausdruck bringen. Als Träger der Monoflexion treten verschiedene Glieder der Substantivgruppe auf, nicht nur der Artikel oder diverse Pronomen, sondern auch das attributive Adjektiv (guter Wein, gutem Wein), selbst das Substantiv (zum Beispiel in der Gruppe des Eigennamens: Doktor Müllers). Bezeichnenderweise hat sich in der Substantivgruppe eine besondere Kategorie flexivisch variabler Wörter herausgebildet, die eine morphologisch ausdrucksvolle Flexionsendung entweder erhalten oder nicht erhalten - in direkter Abhängigkeit davon, ob es in der Gruppe eine andere Komponente gibt, die mit einer Flexionsendung dieser Art versehen ist. Eine solche flexivisch variable Komponente der Substantivgruppe stellt vor allem das attributive Adjektiv dar, das die beinahe „nichtssagenden" Endungen (-en oder -e) der schwachen Deklination bekommt, wenn eine andere Komponente der Gruppe ein grammatisch deutliches flexivisches Kennzeichen aufweist; als dessen Träger treten am häufigsten der Artikel oder ein attributives Pronomen, manchmal das Substantiv selbst auf (vgl. den Gen. Sg. Mask. bzw. Neutr. guten Weines, leichten Herzens)·, das Adjektiv kann eine schwache Flexionsendung erhalten, wenn ein anderes, parallel gebrauchtes Adjektiv die Endung der starken (pronominalen) Deklination hat, vgl. mit mildem falschen Schein (Goethe), mit langem dunklen Kopfhaar (Bredel). Aber flexivisch variabel erweisen sich auch einige Subklassen des Substantivs, nämlich die Eigennamen und die Bezeichnungen der Titel, der Ämter, die man bekleidet, der Berufe u. ä., vgl. Doktor Müllers - des Doktor Müller u. dgl. Im Russischen kann man auch das Wegfallen der Flexionsendung bei einem der Glieder der Gruppe des Eigennamens beobachten, vgl. KHX3b-rpueopuio ['(dem) Fürst-Gregor'] (Gribojedov), HeaH-MeaHoeuny u. dgl. 9 Diese
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Hean-MeaHoemy ist eine im Russischen übliche Verbindung eines Vornamens mit einem zweiten Vornamen, das auf den Vornamen des Vaters Bezug nimmt, hier in
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russische Form ergibt sich aus dem semantischen Zusammenschluß der Verbindung zweier Eigennamen (der gleichen Person) zu einer lexikalischen Einheit, und ein solcher Zusammenschluß erfolgt nur sporadisch, er entspricht keinesfalls einer Regel, die eine bestimmte Art syntaktischer Fügungen betrifft. Beim Sprachvergleich stellen wir also Auswirkungen durchaus unterschiedlicher innerer Entwicklungsgesetze fest. Monoflexivisch ausgeformt sind nicht alle Spielarten der Substantivgruppe im Deutschen. Artikel, Pronomen, der Großteil der Substantive stellen Wortklassen mit nichtvariabler Flexion dar, und dies hat zur Folge, daß in der Substantivgruppe häufig genug zwei grammatisch ausdrucksvolle Flexionsendungen zu verzeichnen sind, vgl. des Zimmers u. ä. 10 Dennoch hat die Monoflexion eine sehr große Bedeutung für die Struktur der Substantivgruppe, die sie zu einer deutlich abgrenzbaren ganzheitlichen grammatischen Einheit macht. In gleicher Hinsicht spielt außer der Monoflexion auch die sogenannte Rahmenkonstruktion eine sehr wichtige Rolle. Der Rahmen wird durch die Distanzstellung des Substantivs und der am engsten mit dem Substantiv verbundenen Dienstwörter (Artikel, Präpositionen) gebildet. Der Rahmen umfaßt in der Regel alle kongruierenden Glieder der Substantivgruppe. Anders sind die Verhältnisse in der Verbgruppe. Im Verlauf der historischen Entwicklung des Deutschen nimmt die vermittelnde Bedeutung dieser Art der Wortgruppe fur die Wort-Satz-Beziehungen ebenfalls beträchtlich zu. Aber ein besonderes Gewicht erlangt die Verbgruppe in der Satzstruktur dank dem Umstand, daß die auf die Verbgruppe angewandten Formen strukturellen Zusammenschlusses (der Rahmenkonstruktion) ihre Wirkung nicht auf die Verbgruppe an sich beschränken, sondern zugleich die Aufgabe struktureller Einigung des Satzes als Ganzen übernehmen. In der Tat kann die Rahmenkonstruktion der Verbgruppe nicht nur die abhängigen Komponenten dieser Gruppe umfassen, sondern auch das Satzsubjekt und solche vom Prädikat nicht abhängigen Elemente wie zum Beispiel parenthetisch eingeschobene Sätze, Satzteile, einzelne Wörter. Neben Sätzen des Typs Er ist heute in Moskau angekommen, in denen der verbal-prädikative Rahmen nur die abhängigen Glieder des (verbalen) Prädikats einschließt, sind Satzstrukturen wie Heute ist er in Moskau angekommen gang und gäbe, in denen das Satzsubjekt innerhalb des Rahmens steht, der im gegebenen Fall durch die Distanzstellung der Komponenten einer zusammengesetzten Verbform (ist ... angekommen) gebildet ist. Außerhalb des Rahmens steht hier gerade ein Glied der Verbgruppe, und zwar eine adverbiale Bestimmung, sie nimmt im Satz die erste Stelle ein, die einzige Position im einfachen selbständigen Aussagesatz bzw. im Hauptsatz, die im Deutschen überhaupt von der Rahmenkonstruktion nicht umfaßt und gewöhnlich von einem Satzglied besetzt wird, das den Satz semantisch mit dem vorangehenden Satz (bzw. mit dem breiteren vorangehenden Kontext) verbindet.
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zusammengesetzter Form mit Weglassung der dativischen Flexionsendung des ersten Gliedes -y (Meany). - Hgg. Doch trifft man mitunter die Monoflexion auch in solchen Wortgruppen an, vgl. von Wegen eines Gast (Fischart), eines Mädchen (Jean Paul).
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Sprache
Eine solche Ausdehnung des verbal-prädikativen Rahmens auf den Satz im ganzen ist eine der charakteristischen Besonderheiten des deutschen Sprachbaus. Die Satzgestalt ist nahe daran, mit der Struktur der verbal-prädikativen Wortgruppe zusammenzufallen. Die verbal-prädikative Wortgruppe läßt ihre besondere Bedeutung auch daran erkennen, daß das Satzglied mit doppelter syntaktischer Abhängigkeit, mit gleichzeitiger Abhängigkeit vom Prädikat und vom Satzsubjekt (oder einem Objekt), nämlich das prädikative Attribut, im Deutschen die typische Form einer Komponente der Verbgruppe hat, und diese Form zeigt die Verbindung mit dem Satzsubjekt nicht an: Er kam gesund an; vgl. russ. (gleichbedeutend) OH npuexcui 3dopoebiü oder OH npuexait 3dopoebiM.u Die Kurzform des adjektivischen prädikativen Attributs hat im Zuge der geschichtlichen Entwicklung des Deutschen einen langen Weg der Verfestigung durchlaufen; im Althochdeutschen konnte das prädikative Attribut noch in einer mit dem Satzsubjekt kongruierenden Flexionsform auftreten, obwohl in gleicher Funktion auch die Kurzform des Adjektivs gebraucht wurde. Das Hinüberwachsen des verbal-prädikativen Rahmens in eine Rahmenkonstruktion, die den ganzen Satz einschließt (wie auch die Zunahme des funktionalen Wertes syntaktischer Gruppen im Satz), wird auch durch eine andere Tendenz bezeugt, die die deutsche Sprache charakterisiert, nämlich durch die Tendenz zu klarer struktureller Ausgestaltung nicht nur der Wortgruppen, sondern auch des Satzes als Ganzen, die Tendenz zu deutlicher formal-grammatischer Gliederung des Redestroms. Im Zuge der übersehbaren Geschichte der deutschen Sprache gewannen die Mittel formaler Ausgrenzung des Satzes immer mehr an Gewicht. Die Anwendung des verbal-prädikativen Rahmens auf den ganzen Satz wird von der Herausbildung syntaktischer Formen begleitet, die der Unterscheidung des Hauptsatzes (bzw. des selbständigen einfachen Satzes) und des Nebensatzes dienen. Diese Unterscheidung wird durch gewisse Varianten der Wortstellung erreicht, und zwar dadurch, daß das finite Verb ans Ende des Nebensatzes gerückt wird, während es im Hauptsatz (und im selbständigen Aussagesatz) die zweite Stelle einnimmt. Dadurch werden im Satzgefüge der Hauptsatz und der Nebensatz deutlich voneinander unterschieden; der Nebensatz wird durch seine besondere Wortstellung sehr eindeutig eben als Nebensatz gekennzeichnet; die Endstellung des finiten Verbs im untergeordneten Satz (bei beliebiger Stellung des Satzsubjektes) erzeugt einen strukturellen Rahmen auch für diesen Satztyp (der Nebensatz kann nicht in seiner Ganzheit verstanden werden, solange das finite Verb nicht wahrgenommen ist, d. h. bis zum Abschluß des Satzes). Die strukturelle Tendenz findet im Deutschen ihren Ausdruck ebenfalls in den - oben bereits erwähnten - Mitteln der Organisation der Substantivgruppe, nämlich in der Monoflexion und in der Rahmenkonstruktion, die für die Substantivgruppe typisch ist. Diese Tendenz hat auch den Umbau des Sy11
Die russische Form 3dopoeuü kongruiert mit dem Satzsubjekt im Norn. Sg. Mask. (-biü)\ die Form 3dopoebiM hat die Endung (-MM) des Instrumentals, der ebenfalls als Prädikativ gebraucht wird. - Hgg.
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stems der Negation herbeigeführt. Der im Althochdeutschen und im Mittelhochdeutschen beobachtbare mehrmalige Gebrauch von Negationen, d. h. der Gebrauch einer Negation nicht nur vor dem eigentlich negierten Satzglied, sondern auch vor anderen Satzkomponenten, in erster Linie vor dem prädikativen Verb, wird durch strenge Durchführung des Prinzips einmaliger Setzung der Negation abgelöst. Während im Mittelhochdeutschen der Satztyp wie zum Beispiel ja enist ze der Werlte nicht bezzere fröide recht verbreitet war, ist heutzutage in der Literatursprache (die Umgangssprache kennt einige Abweichungen) nur der Satztyp wie Es gibt keine bessere Freude normativ zulässig. Vom Standpunkt des Satzbaus aus bedeutet der einmalige Gebrauch der Negation eine - gemessen am Maßstab potentieller Selbständigkeit - innigere gegenseitige Abhängigkeit der Satzkomponenten und somit eine stärker ausgeprägte strukturelle Ganzheitlichkeit des Satzes. Also vollzieht sich im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung des Deutschen die Herausbildung einer Reihe grammatischer Mittel, die einen wichtigen Beitrag zu einer deutlicheren Gliederung des Redestroms in Sätze und zu einer inneren Gliederung der Sätze leisten, die den engen Zusammenschluß und die Ganzheitlichkeit syntakischer Fügungen im allgemeinen, d. h. sowohl des Satzes wie auch der Wortgruppen im Satz, hervorheben. Die Herausbildung dieser strukturellen syntaktischen Mittel kann angesichts ihrer außerordentlichen Bedeutung für den deutschen Sprachbau im ganzen als eines der wichtigsten inneren Entwicklungsgesetze des Sprachbaus des Deutschen betrachtet werden. Dieses Gesetz und das Gesetz, das die Verstärkung der vermittelnden Rolle syntaktischer Wortgruppen für die Wort-Satz-Beziehungen bedingt, stehen in unmittelbarer Wechselwirkung. Und das Hauptgesetz der strukturellen Ausgestaltung des Satzes nimmt unter den inneren Entwicklungsgesetzen des deutschen Sprachbaus eine besondere Stellung ein: Nur wenige Erscheinungsformen dieses Gesetzes sind außer dem Deutschen auch anderen Sprachen eigen (die Rahmenform der Substantivgruppe, der Übergang vom polynegativen zum mononegativen Satz), während solche Phänomene, die mit dem genannten Gesetz zusammenhängen, wie der den Satz umfassende verbal-prädikative Rahmen, die strukturelle Differenzierung des Haupt- und des Nebensatzes mit Hilfe unterschiedlicher Wortstellung, die Monoflexion in der Substantivgruppe, die Eigenart der deutschen Sprache bestimmen.12 Das innere Entwicklungsgesetz, um das es sich hier handelt, ist prinzipiell ein s y n t a k t i s c h e s Gesetz. Bezeichnenderweise übt es Rückwirkungen auf das morphologische System aus, nämlich auf die Deklination der Eigennamen, die Form des Gen. Sg. Mask, und Neutr. des stark deklinierten Adjektivs und einiges andere.
12
In der ausländischen Germanistik weist Erdmann auf die strukturelle Tendenz im Deutschen (die Rahmenbildung) hin ( E r d m a n n , 0 . , Mensing, O.: Grundzüge der deutschen Syntax nach ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt. Abt. I. Stuttgart 1886. S. 191). V o m Verfasser dieser Zeilen ist das Problem struktureller Tendenzen im Deutschen im Bereich der Wortstellung im Artikel „Über die Wortstellung im Deutschen" (in: Zwei Welten. Moskau. 1934, Na 6) aufgeworfen worden.
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Man muß mit aller Entschiedenheit betonen, daß dieses innere Entwicklungsgesetz des grammatischen Baus des Deutschen keineswegs als eine Erscheinungsform des allgemeinen Wandels dieser Sprache „von der Flexion zur Analyse" gedeutet werden kann, wie dies eine Zeitlang in der sowjetischen Germanistik getan wurde, besonders in den Arbeiten von Zirmunskij, jedenfalls hinsichtlich der Phänomene, die hier zu den strukturellen Tendenzen gerechnet werden. 13 Das Hauptprinzip der Wortstellung im Deutschen, nämlich das Prinzip der Distanzstellung, das der Bildung aller Arten der Rahmenkonstruktion zugrunde liegt, ist dem Prinzip der Kontaktstellung, das Sprachen ausgeprägt analytischen Typs kennzeichnet, direkt entgegengesetzt. Das letztgenannte Prinzip gestattet es, mit den Mitteln der Wortstellung eine Reihe satzinterner syntaktischer Beziehungen auszudrücken, die in einer analytischen Sprache sonst keinen grammatischen Ausdruck erhalten könnten (vgl. beispielsweise den Ausdruck der Subjekt-Objekt-Beziehung oder der Verbindung eines präpositionslosen substantivischen Attributs mit dem Bezugssubstantiv im Englischen). Und besonders schwerwiegend ist der Umstand, daß die wichtigsten Vorgänge, die wir als Erscheinungsformen struktureller Tendenzen im Deutschen betrachten, ohne die dem Deutschen in beträchtlichem Maße verbleibende Flexion undenkbar wären. So beruht die Monoflexion restlos darauf, daß die Glieder der Substantivgruppe über Flexionsendungen verfugen, sowie auf der oben erörterten Ungleichmäßigkeit des Wandels morphologischer Charakteristika verschiedener grammatischer Wortklassen im Deutschen. Der verbal-prädikative Rahmen (der seine Wirkung auf den ganzen Satz ausbreitet) stützt sich seinerseits auf die verhältnismäßig eindeutige Flexion, die dem finiten Verb eigen ist, sowie auf die morphologische Kennzeichnung der nominalen Teile zusammengesetzter Verbformen. Das innere Gesetz der strukturellen Ausgestaltung des Satzes hat nichts zu tun mit der Entwicklung analytischer Tendenzen im Deutschen; ganz im Gegenteil, flexivische Elemente des Deutschen stellten absolut unabdingbare Voraussetzungen für dieses Gesetz dar, und die flexivischen Elemente sind im Deutschen keinesfalls als überholte Relikte einst funktionstüchtiger, jetzt aber funktional leerlaufender Kategorien zu bewerten. Der Entwicklung der deutschen Sprache - wie jeder anderen Sprache auch - kann man natürlich nicht lediglich das recht inhaltsarme, primitive Schema des Wandels in Richtung auf den analytischen Sprachbau hin unterstellen. Die Ursache spezifischer struktureller Tendenzen im Deutschen ist im Komplex mannigfaltiger genereller - oft einander durchkreuzender - Richtungen des Wandels des Sprachbaus auf seinen unterschiedlichen, vielfach sehr alten, Entwicklungsstufen zu suchen. Die Tatsache, daß diese strukturellen Tendenzen, wenn auch in bescheidenem Maße, in der deutschen Sprache seit der ältesten Zeit wirksam waren (was auch die Verhältnisse in anderen altgermanischen Sprachen bestätigen), berechtigt dazu, diese Tendenzen als Erscheinungsformen eines echten inne13
i H p M y H C K H H , B.M.: Pa3BHTHe CTpoH HeMeuKoro a:3biKa. MocKBa - JleHHHrpaji 1936.
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ren Entwicklungsgesetzes des deutschen Sprachbaus gelten zu lassen. Die Tendenz zur Rahmenbildung - mit dem Verb am Satzende und dem Satzsubjekt in der Spitzenstellung (oder jedenfalls nahe am Satzanfang) - kann man (in verschiedenen Satztypen) in einer Reihe altgermanischer Sprachen feststellen, vgl. die Runeninschrift ek hlewagastir holtingar horna tawido 'ich Hlewagastr von Hölting das Horn machte'. Bezeichnenderweise geht diese Art Satzstruktur mit ausgesprochen flexivischem Charakter des Wortes in den altgermanischen Sprachen einher, und Analogien zu dieser Tendenz in der Wortstellung finden sich auch in anderen Sprachen mit hochentwickelter Flexion bzw. in agglutinierenden Sprachen (Latein, Turksprachen). Wackernagel hat die Vermutung geäußert, daß die Tendenz zur Stellung des finiten Verbs am Satzende den alten indoeuropäischen Sprachen im allgemeinen eigen war. Zur Begründung verweist er auf rhythmische Faktoren, er nimmt nämlich an, daß die Endstellung des finiten Verbs im indoeuropäischen Satz mit verstärkter Betonung auf dieser Satzkomponente zusammenhing; eine solche Betontheit war nach Wackernagel für das finite Verb im untergeordneten Satz typisch. Er meint also, daß die im Deutschen bestehende Tendenz zur Endstellung des finiten Verbs im untergeordneten Satz auf eine uralte indoeuropäische Tradition zurückzufuhren ist, ebenso wie die Tendenz zum Gebrauch des schwach betonten finiten Verbs an zweiter Stelle im Satz. 14 Obwohl diese These strittig ist, läßt das Material von Wackernagel die Annahme zu, daß solche Regelmäßigkeiten im Bereich der gemeinindoeuropäischen Wortstellung zumindest eine der Möglichkeiten waren. Was die Distanzstellung von Teilen zusammengesetzter Verbformen anbetrifft, so zeichnet sie sich (für das Perfekt und das Plusquamperfekt) bereits zur Zeit, als diese Formen erst entstanden, nämlich im Althochdeutschen, ab. Diese positioneile Verteilung der Komponenten zusammengesetzter Verbformen geht auf den häufig postpositiven Gebrauch des zweiten Partizips als Attribut zum direkten Objekt zurück. Bei der Analyse beispielsweise des Satzes sela, habes managiu guot gisaztiu in managiu jär (Tatian) 'Seele, hast manches Gute gesammelt (hast manches Gute gesammeltes) in vielen Jahren' kann man das Partizip gisaztiu noch als Attribut zum direkten Objekt managiu guot bestimmen, wobei man auch feststellen muß, daß dieses Partizip in Verbindung mit dem Verb habes zugleich deutlich genug die temporal-aspektuale Seite seiner grammatischen (verbalen) Semantik (Ergebnis vorangegangener Handlung) hervorkehrt. Das Partizip ist auf dem Wege, zum nominalen Teil einer zusammengesetzten Verbform zu werden, obwohl es vom finiten Verb (dem Hilfsverb) getrennt ist (und somit im gegebenen Satz zusammen mit dem finiten Verb eine Rahmenkonstruktion - freilich eine unvollständige - herstellt). Anzumerken ist allerdings, daß die vorgeführte Art der Wortstellung im Satz beim aufkommenden Perfekt (bzw. Plusquamperfekt) nicht verbindlich (und nicht vorherrschend) war, aber eine gewisse Tendenz zu dieser Wortstellung ist schon im Althochdeutschen erkennbar.
14
W a c k e r n a g e l , J.: Über ein Gesetz der indogermanischen Wortstellung. In: Indogermanische Forschungen. Bd. I. 1892.
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Die Monoflexion in der Substantivgruppe keimt ebenfalls im Althochdeutschen, besonders in seiner späteren Phase, und im Mittelhochdeutschen. Die Monoflexion geht auf die in den germanischen Sprachen verbreitete Tendenz zum Gebrauch des Adjektivs in schwacher (nominaler) Flexionsform mit dem (bestimmten) Artikel zurück; dieser Tendenz liegt eine besondere Funktion des schwachen Adjektivs zugrunde, in der es auf den frühesten Entwicklungsstufen der germanischen Sprachen - eben in der genannten Form - verwendet wurde, nämlich als Apposition, was in der Regel mit der Substantivierung einherging. 15 Die Flexionsendungen der schwachen adjektivischen Deklination fallen schon im Althochdeutschen vielfach zusammen (vgl. zum Beispiel blintun im Gen., Dat., A k k . Sg. sowie im Nom. und A k k . PI. Fem.), und der Artikel erweist sich in solchen Fällen als Hauptträger der grammatischen Bedeutungen der Substantivgruppe. A u f diese Weise wurde schon im Althochdeutschen der W e g zur späteren Entfaltung der Monoflexion beschritten.
V Wir sehen, daß die strukturellen Entwicklungstendenzen des Deutschen ihre Wurzeln in den die frühesten Etappen der Geschichte dieser Sprache kennzeichnenden Eigenschaften haben. Wie ist aber die außerordentlich wichtige Rolle des strukturellen inneren Entwicklungsgesetzes im grammatischen Bau des Deutschen in neuerer Zeit zu erklären? Warum rücken gerade diese Tendenzen in der frühneuhochdeutschen Epoche in den Vordergrund? Wir nehmen an, daß diese Entwicklungsrichtung mit der herausragenden Bedeutung verbunden ist, die den schriftlichen Formen der sprachlichen Kommunikation, dem Schrifttum im allgemeinen, fur den Werdegang der deutschen Nationalsprache zukommt. Es handelt sich hier um ein ausgesprochen markantes Beispiel der „Stimulierung" innerer Gesetzmäßigkeiten der Sprachentwicklung durch außersprachliche Faktoren. Grammatische Mittel deutlicher Ausgrenzung und interner Gliederung syntaktischer Einheiten erlangten höchste Aktualität in einer Zeit, als die deutsche Sprache zu immer breiterem Gebrauch in Kanzleien und im Gericht, in diplomatischem Briefwechsel und im Traktat, in Handelsverträgen und in Streit- und Schmähschriften kam, als man also die deutsche Sprache zur Wiedergabe höchst komplizierter Inhalte im juristischen, im diplomatischen Bereich und in Bereichen ähnlicher Art zu verwenden begann. Dies erforderte den Ausdruck mannigfaltiger, oft verwickelter Beziehungen zwischen den Sätzen und innerhalb der Sätze. Bekanntlich fällt gerade in die frühneuhochdeutsche Zeit ein umfassender Ausbau des Systems von unterordnenden Konjunktionen und von Präpositionen, ergänzt wird auch das System der Ausdrucksmittel fur die Beiordnung. All dies dient deutlicherem Ausdruck semantisch-syntaktischer Beziehungen im Rahmen ausgedehnter Diskurse. Dem syntaktischen Bau des Deutschen erweist der immer systematischere und konsequentere Gebrauch strukturell-grammatischer Mittel der Gestaltung des Sat-
15
> K N P M Y H C K H H , B.M.: HCTOPHH HeMewcoro ittbixa. S. 192.
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zes den gleichen Dienst; ihr Gebrauch, vor allem der Gebrauch der Rahmenkonstruktion, wird gerade in jener Zeit allmählich zur verbindlichen sprachlichen Norm. Die strukturell-grammatischen Mittel, um die es hier geht, leisten keinen Beitrag zur Präzisierung der Semantik einzelner Satzkomponenten und ihrer gegenseitigen Beziehungen, sondern ihre Bedeutung besteht darin, daß sie dem Satz zu formal prägnanter Ausgestaltung und dem Redestrom zu klarer Gliederung verhelfen, indem sie die Trennungslinien zwischen Haupt- und Nebensätzen oder zwischen selbständigen Sätzen ziehen sowie einzelne Wortgruppen innerhalb der Sätze voneinander abgrenzen. Wie oben gesagt, wirken sich die sprachlichen Kommunikationsweisen, im Fall des Deutschen vor allem deren schriftliche Form, in sehr hohem Maße auf die konkreten Formen aus, in denen die inneren Entwicklungsgesetze des Sprachbaus in Erscheinung treten. Stalin nennt eine Reihe von außersprachlichen Faktoren, die die Sprachentwicklung beeinflussen; dies sind „... das Aufkommen der Schriftlichkeit, die Entstehung des Staates, zu dessen Verwaltung ein mehr oder weniger geordnetes Schrifttum notwendig wird, die Ausbreitung des Handelsverkehrs, die Einführung der Druckerpresse, die Entwicklung der Literatur .,.". 16 Was die Geschichte des Deutschen anbetrifft, so tritt der Großteil dieser Faktoren gerade in der frühneuhochdeutschen Periode, d. h. vom 14. Jahrhundert an, in Kraft. Im 14. Jahrhundert beginnen die Reichskanzlei, die städtischen und fürstlichen Kanzleien in ihrer Dokumentation endgültig zur deutschen Sprache überzugehen, der Handel erlebt einen Aufschwung, und die deutsche Sprache wird immer mehr in den Handelsbetrieb einbezogen, im 15. Jahrhundert wird die Druckerpresse erfunden; schließlich kennzeichnet diese Zeit auch eine gewisse Ausbreitung des literarischen Schaffens, obwohl dies in verschiedenen Teilen des deutschen Sprachraums auch mit ungleicher Intensität vor sich geht. Also verdankt die Schriftform des Deutschen ihre wesentliche Rolle im Prozeß der Sprachentwicklung keinem Zufall; im Gegenteil, sie muß gesetzmäßig bedingt, historisch notwendig geworden sein. Für das Deutsche hat die schriftliche Sprachform, die Literatursprache überhaupt, eine besondere Bedeutung. Eben die Literatursprache erfüllte in Deutschland die wichtige fortschrittliche Aufgabe, bei der Vielfalt regionaler und örtlicher Dialekte die sprachliche Einheit der Nation zu wahren. In althochdeutscher und mittelhochdeutscher Zeit bestanden natürlich beträchtliche dialektale Unterschiede, besonders im konsonantischen Bereich; sie betrafen aber den grammatischen Bau und den Grundwortschatz der Dialekte in nur bescheidenem Maße, und die inneren Entwicklungsgesetze der Dialekte wirkten sich zumeist in parallelen Richtungen aus. Dies führte bereits im Althochdeutschen dazu, daß sich in dieser Periode die Anfänge sprachlicher Einheitlichkeit im gesamtdeutschen Raum abzuzeichnen begannen. Die Entwicklung der Dialekte nahm aber vom 12.-13. Jahrhundert an die Richtung auf die Verschärfung der Unterschiede hin (vgl. zum Beispiel die Diphthongierung in den bairischen und die Monophthongierung in den mitteldeutschen Dialekten), so daß die Gemeinsamkeiten, die den Dialekten eigen waren, wesentlich 16
CTaji Η Η , H.B.: Op. cit. S. 26-27.
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gemindert wurden und somit keine unmittelbare Basis für die Entfaltung gesamtdeutscher sprachlicher Einheit mehr darstellten. Bekanntlich war für Deutschland seit spätmittelalterlicher Zeit bis ins 19. Jahrhundert hinein eine weitgehende ökonomische Zersplitterung charakteristisch, die von politischer Dezentralisation des Landes begleitet wurde, von seiner Auflösung in einzelne Regionen. Diese Verhältnisse schufen die Voraussetzungen für jenen Prozeß sprachlichen Zerfalls infolge gegenseitiger Absonderung der Dialekte, von dem Stalin schreibt: „Es gibt auch entgegengesetzte Entwicklungen, bei denen die sprachliche Einheit eines Volkes, das sich infolge des Fehlens notwendiger ökonomischer Bedingungen noch nicht zur Nation konsolidiert hat, gleichzeitig mit dem Zerfall der politischen, der staatlichen Einheit dieses Volkes einen Zusammenbruch erleidet, und auf der Basis einzelner Dialekte, die noch nicht zur Einheitssprache verarbeitet wurden, können selbständige Sprachen entstehen." 17 Daß es in Deutschland nicht zum „Zusammenbruch" der relativ einheitlichen Sprache gekommen ist, erklärt sich vor allem daraus, daß Deutschland politisch nie vollständig zerbröckelt war und daß die einzelnen Regionen des Landes immer Verbindungen untereinander unterhielten. Dies hängt aber gewissermaßen auch damit zusammen, daß die im 15.-16. Jahrhundert hauptsächlich auf der Grundlage ostmitteldeutscher Dialekte herausgebildete normativ geregelte Schriftsprache zu einer konkreten stabilen Verkörperung eben der gesamtdeutschen Sprache jener Zeit wurde. In Deutschland gab es damals infolge der oben umrissenen historisch bedingten sozialen Situation keine Stadt oder Region, deren Dialekt im Zuge lebendigen umgangssprachlichen Verkehrs einen entscheidenden Einfluß auf andere Dialekte ausgeübt und diese dazu veranlaßt hätte, in einer gesamtdeutschen Einheitssprache aufzugehen, und ein desto größeres Gewicht wurde der schriftlichen Existenzform der Einheitssprache zuteil, die in einer bestimmten Etappe der Sprachgeschichte einen Abstand von den Dialekten gewann und begann, den Tendenzen des sprachlichen „Separatismus" Widerstand zu leisten. Diese besondere Stellung der Literatursprache im Werdegang des Deutschen mußte unvermeidlich eine intensive Entfaltung strukturell-grammatischer Tendenzen im Sprachbau bewirken, denn die rhythmisch-intonatorischen Mittel der Satzgestaltung (Abgrenzung, Gliederung) können bei schriftsprachlicher Kommunikation nicht in vollem Maße aktualisiert werden. Im Verlauf der frühneuhochdeutschen Periode wurden die strukturell-grammatischen Mittel des Satzbaus immer regelmäßiger und konsequenter genutzt, bis ihre Entfaltung zum 18. Jahrhundert das maximale Maß erreichte und zum Teil sogar als übertrieben eingeschätzt werden muß; die weitere Entwicklung der deutschen Schriftsprache (von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an) führte zur Beseitigung extremer Erscheinungsformen der strukturellen Tendenzen im Satzbau (insbesondere mechanischer Anwendung der „absoluten" Rahmenkonstruktion). Die hochgradige Intensität der Wirkung des inneren Gesetzes der Entwicklung struktureller Tendenzen im deutschen Sprachbau in frühneuhochdeut17
Ibid. S. 4 4 .
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scher Zeit findet ihre Erklärung in der Spezifik der Entwicklung des Deutschen in dieser Zeit und in konkreten historischen Bedingungen, unter denen sich diese Entwicklung vollzog. Aber die strukturellen Tendenzen an sich waren im deutschen Sprachbau auf seinen weitaus älteren Entwicklungsstufen verwurzelt. Wir haben oben gezeigt, daß die Stimulierung von tief im Sprachbau verankerten Tendenzen durch konkret-historische Bedingungen der Sprachentwicklung einen sehr komplizierten Vorgang darstellt. Einzelne sprachliche Entwicklungstendenzen stehen dabei selbst in komplizierter Wechselwirkung miteinander. Und das Dargelegte ist ein charakteristisches Beispiel dessen, wie sich in der Sprache die inneren Entwicklungsgesetze, unter anderen die Gesetze der Entwicklung des syntaktischen Baus der Sprache, „nach außen hin" bekunden. Eine erfolgreiche Untersuchung dieser Gesetze ist nur auf der Basis einer tiefgreifenden Erfassung spezifischer Besonderheiten des Werdegangs der gegebenen Sprache in ständigem Zusammenhang mit der konkreten Eigenart der Geschichte des entsprechenden Volkes möglich.
1954
Die Struktur der Substantivgruppe im Deutschen (Zum Problem eigengesetzlicher Entwicklung des grammatischen Baus des Deutschen) I Das Problem der Substantivgruppe, d. h. der Wortgruppe, deren Zentrum das Substantiv ist, stellt einen Teil des Wortgruppenproblems dar, eines der wichtigsten in der Lehre von der Syntax. Dem Wortgruppenproblem wurde in der russischen Grammatik große Aufmerksamkeit gewidmet, besonders in den Arbeiten von Fortunatov, später in den Arbeiten Peäkovskijs und einiger anderer Forscher. Seit Ende des vorigen Jahrhunderts spielen Fragen, die das Phänomen der Wortgruppe betreffen, auch in der ausländischen Sprachwissenschaft, vor allem in der deutschen (Ries, Sütterlin), eine wesentliche Rolle. In den letzten Jahren werden die Fragen der Wortgruppenlehre in der sowjetischen Linguistik lebhaft diskutiert. Vieles bleibt in diesem Bereich der Syntaxtheorie noch unklar. Es besteht kein Zweifel, daß die Untersuchung der Wortgruppen von großer theoretischer und praktischer Bedeutung ist und daß man die Wortgruppenlehre als ein eigenständiges und wichtiges Kapitel der Syntax betrachten muß, aber selbst der „Wortgruppen"-Begriff und mit ihm die Beziehungen zwischen Wort und Wortgruppe, zwischen Wortgruppe und Satz bleiben noch ungeklärt und sind heftig umstritten. In einem - höchst empfehlenswerten - Beitrag beleuchtet Suchotin sehr einsichtig die Unterschiede der Meinungen einer Reihe von Sprachwissenschaftlern über das Wesen der Wortgruppe. 1 Der Verfasser legt in diesem Aufsatz seine eigene Konzeption der Wortgruppen lehre dar, die er mit mehreren konkreten Phänomenen des Russischen illustriert. Ich muß betonen, daß mich nicht alle Thesen, die Suchotin in seiner Arbeit formuliert, überzeugen. Für sehr anfechtbar halte ich die gegenseitige Annäherung von prädikativen und nichtprädikativen Fügungen, die an ihre Gleichsetzung grenzt (S. 162 u. a., besonders S. 153, wo Konstruktionen wie cmydenm Μβαποβ ['Student Ivanov'] und ΜβαΗΟβ - cmydeHm ['Ivanov (ist) Student'] 2 in gleicher Weise als nominale Wortgruppen bezeichnet werden). Die syntaktische Bedeutung der prädikativen Beziehung, und zwar ihre satzbildende Funktion, verleiht ihr einen besonderen Rang, die Satzsubjekt-Prädikat-Verbindung unterscheidet sich qualitativ von allen sonstigen Wortgruppenarten, und dies sollte mit voller Deutlichkeit auch terminologisch festgehalten werden. Gerade die Subsu1
2
C y x o T H H , Β.Π.: Προδ/ieMa cjioBocoHeraHH» β coepeiueHHOM pyccKOM sobixe. In: Bonpocbi cHHTaKcnca coepeMeHHoro pyccKoro snbixa. MocKea 1950. Die Kopula 6bimb 'sein' im Präsens fehlt im russischen Satz mit nominalem Prädikat. - Hgg.
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mierung des Satzbegriffs unter die Kategorie der „Wortfügung", die wir bei einigen Sprachwissenschaftlern finden,3 machte den Wortgruppenbegriff recht verschwommen und theoretisch unfruchtbar. Aber die Aufgabe, die ich mir hier stelle, besteht nicht in einer theoretischen Auseinandersetzung mit den Ansichten von Suchotin und nicht in der Behandlung des Problems der Wortgruppe im allgemeinen. Die Klärung dieses Problems kann mit Erfolg vorangetrieben werden, nur wenn man die historische Entwicklung des einen oder anderen Wortgruppentyps in einer bestimmten Sprache im Zusammenhang mit der eigengesetzlichen Evolution des gesamten grammatischen Baus dieser Sprache einer systematischen und gründlichen Untersuchung unterzieht. Eine solche Untersuchung wird in erster Linie einen Beitrag zum tieferen Verständnis des Baus der betreffenden Einzelsprache darstellen, zugleich aber eröffnet sie die Möglichkeit, Schlußfolgerungen in bezug auf einige allgemeine Fragen der Wortgruppentheorie zu ziehen - zumindest soll sie zu einer rationalen Fragestellung nach dem Verhältnis zwischen den Eigenschaften der Wortgruppe in einer bestimmten Sprache und den spezifischen Zügen des Baus dieser Sprache verhelfen. Mangelnde Beachtung konkreten Sprachstoffs, der Versuch, das Problem der Wortgruppe in das irrtümliche, antimarxistische Schema stadialer Sprachentwicklung einzuzwängen, machen die von Meäcaninov ausgearbeitete Konzeption der Wortgruppe abstrakt-unhistorisch und somit fehlerhaft. Meäcaninov betrachtet einzelne „Fälle" wenn auch nicht in voller Isolierung von allgemeinen Zügen des Baus der betreffenden Einzelsprache, so doch unter voller Nichtbeachtung ihrer historischen Entwicklung, oft allerdings auch unter Vernachlässigung gerade in höchstem Grade spezifischer Eigenschaften der Sprachen, denen die Belege entnommen sind. MeScaninov wendet sich u. a. den Wortgruppen im Deutschen, darunter mehrmals den Substantivgruppen, zu, 4 läßt aber die besonderen Merkmale der Substantivgruppen in dieser Sprache außer acht. Eine konkret-historische Untersuchung einer Art Wortgruppe in einer bestimmten Sprache auf der Grundlage profilierender Entwicklungstendenzen dieser Sprache kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Wortgruppen in ihrem vollen Bestand, unter Berücksichtigung aller ihrer Elemente analysiert 3
Vgl.: „Als Wortfügung bezeichnen wir eine Verbindung von Wörtern, die eine grammatische Einheit darstellt, was grammatische Abhängigkeiten innerhalb dieser Verbindung anzeigen. Der Satz, der aus zwei oder mehr als zwei Wörtern besteht, ist auch eine Wortfügung, die sich von anderen Wortfügungsarten durch ihre Abg e s c h l o s s e n h e i t unterscheidet" (Iii a x M a r o a , A.A.: CwHTaKCHC pyccKoro n3biKa. 2 - o e H j a a H H e . J l e H H H r p a a 1 9 4 1 . S. 2 7 4 ) .
4
MemaHHHOB.
H . H . : H.neHbi npejuiOHceHH« η n a c T H p e n n . M o c K B a -
JleHHH-
rpa« 1945. S. 50, 52, 128, 142. Ein weiteres Zeugnis unkorrekter Vorgehensweise MeScaninovs bei der Betrachtung des Phänomens der Wortgruppe besteht darin, daß er die Wortgruppen nach syntaktischen Funktionen klassifiziert, die sie erfüllen (können); so spricht er von der Gruppe des Satzsubjektes und des Prädikats, obwohl die Beziehung beispielsweise zwischen dem Substantiv und seinem Attribut in einer hohen Anzahl von Sprachen unabhängig von der syntaktischen Funktion der Substantivgruppe im Satz die gleiche bleibt.
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werden. Es scheint mir nicht zweckdienlich, wie Suchotin dies vorschlägt, umfängliche Wortgruppen in kleinere aufzuteilen, davon ausgehend, daß für das Russische vorwiegend aus zwei Gliedern bestehende subordinative Wortfügungen typisch sind (S. 176); verallgemeinernd schreibt er: „ . . . im Sprachtyp mit gegliedertem Satzbau, zu dem das Russische gehört, ist die Wortgruppe eine minimale inhaltlich und grammatisch ganzheitliche Verbindung von Wörtern im Rahmen des Satzes" (S. 151). Selbstverständlich ist die Heraussonderung „minimaler inhaltlich und grammatisch ganzheitlicher Verbindungen von Wörtern" methodisch hilfreich und sogar notwendig, um alle überhaupt möglichen syntaktischen Beziehungen im Satz feststellen zu können. Aber wie sind eben „minimal" ganzheitliche Einheiten dieser Art zu bestimmen? Betrachten wir beispielsweise den Satz ... u β my otce Muuymy ηροοκαKCUl MUMO OHem XOpOUieHbKUÜ U MOJIOdeHbKUÜ lOHOUta β 0(f)Ul{epCK0M ciopmyKe u ebicoKoü 6ejioü nanaxe [ ' . . . und in der gleichen Minute ritt vorbei ein sehr hübscher junger Mann in Offiziersjacke und mit hoher weißer Pelzmütze auf dem K o p f 5 ] (L.Tolstoi). Die Eigenschaft „minimaler ganzheitlicher" Wortverbindungen kann man hier sowohl der Wortgruppe ein sehr hübscher junger Mann wie auch der Wortgruppe ein ... Mann in Offiziersjacke und mit hoher weißer Pelzmütze auf dem Kopf sowie der von der letzten abgetrennten Wortgruppe in Offiziersjacke und mit hoher weißer Pelzmütze auf dem Kopf usw. zuerkennen. Nicht zu übersehen ist aber, daß die Gesamtheit der Wörter, die dem Wort vorbei folgen, nämlich die Wortkette ein sehr hübscher junger Mann in Offiziersjacke und mit hoher weißer Pelzmütze auf dem Kopf eine inhaltlich und grammatisch ganzheitliche Wortgruppe darstellt. Das Substantiv Mann ist hier das Hauptwort, die übrigen Wörter sind letzten Endes, direkt oder indirekt, diesem Substantiv untergeordnet, und sie bilden alle zusammen eine Substantivgruppe (der Terminus „nominale Wortfügung", den Suchotin gebraucht, scheint mir mißglückt sowohl wegen der Mehrdeutigkeit von „nominal" wie auch aus dem Grunde, daß Suchotin „nominale Wortfügungen" mit prädikativer und nichtprädikativer Bedeutung nicht auseinanderhält). Die historische Untersuchung substantivischer Wortgruppen einer konkreten Einzelsprache soll nicht „minimale" Wortgruppen im Sinne Suchotins, die aus einem Substantiv und einem diesem Substantiv untergeordneten Attribut bestehen, sondern die Struktur ganzer, gegebenenfalls kompliziert ausgebauter, Substantivgruppen zum Gegenstand haben. Wie wir im weiteren zeigen werden, können Formvarianten einzelner Wortgruppenglieder für die konkrete Ausformung der Gruppe im ganzen ausschlaggebend sein. Eben dies ist für das Deutsche charakteristisch. Und wenn man eine Untersuchung im Wortgruppenbereich unternimmt, muß man - wie auch sonst - ständig die Eigengesetzlichkeit des gesamten Baus der Einzelsprache im Auge behalten. Die geschichtliche Entwicklung subordinativer Wortgruppen im Deutschen vollzieht sich im Zeichen steigender Rolle dieser Wortgruppen, nicht zuetzt 5
Die Stellung von vorbei kopiert in der Übersetzung die Stellung von MUMO im russischen Satz; im weiteren wird bei der Analyse auf die Übersetzung verwiesen, weil sie mit dem russischen Satz genau übereinstimmt. - Η gg.
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der Substantivgruppe, im Satz. Im Althochdeutschen - wie in anderen altgermanischen Sprachen auch - existierte natürlich das syntaktische Gebilde, das wir Substantivgruppe nennen, und das System der Substantivgruppen hatte mannigfaltige Formen. Doch die Formen, die im Althochdeutschen dem Ausdruck der Beziehungen zwischen den Gliedern der Substantivgruppe dienen, weisen in mancher Hinsicht bedeutende Unterschiede von den entsprechenden Ausdrucksformen in der deutschen Gegenwartssprache auf. Das Wesen des Wandels besteht, wie wir schon gesagt haben, in der Verstärkung der Rolle subordinativer Wortgruppen im Satz, und dies bedeutet vor allem, daß die Wortgruppe zur vermittelnden Instanz zwischen dem Einzelwort - als Bestandteil der Wortgruppe - und dem Satz wird, was sich im Fall der Substantivgruppe in erster Linie auf das substantivische Hauptglied der Gruppe und die mit ihm kongruierenden Wortgruppenglieder bezieht. Diese Glieder der Substantivgruppe werden - mit der Zeit immer offensichtlicher — in den Satz sozusagen nicht „an sich" einbezogen, sondern durch Vermittlung der Wortgruppe als eines Ganzen, deren eben ganzheitliche Ausformung die Verteilung variabler morphologischer Merkmale einzelner Wortgruppenglieder bestimmt. Selbstverständlich werden abhängige Glieder einer Substantivgruppe in allen Sprachen nicht „an sich" in den Satz eingeführt, sondern vermittels des Substantivs, mit dem sie sich verbinden. In Sprachen mit reichhaltigem Flexionssystem bestimmen konkrete inhaltliche und rein grammatische Beziehungen zwischen den untergeordneten Elementen und den Hauptgliedern von Substantivgruppen die Formen der abhängigen Wortgruppenglieder; also spielt dabei der Bau der Wortgruppe als eines Ganzen allgemein eine bedeutende Rolle. Dennoch besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen einer morphologischen Prägung des abhängigen Wortgruppengliedes, durch die seine syntaktische Position bzw. Funktion mit voller Eindeutigkeit gekennzeichnet wird (vgl. beispielsweise ahd. des scones himiles), und einem anderen Typ morphologischer Ausgestaltung abhängiger Wortgruppenglieder, die - im Rahmen der betreffenden Wörter selbst - ihre syntaktischen Rollen entweder überhaupt nicht erkennen lassen oder nur unbestimmte Hinweise auf eventuelle Möglichkeiten ihrer syntaktischen Funktionen vermitteln (vgl. nhd. des schönen Himmels). Im letztgenannten Fall wird das abhängige Glied durch die ganze Wortgruppe abgestützt (selbst vom Standpunkt der Wortstellung aus), denn wollten wir es isoliert betrachten, könnten wir an seiner eigenen Form die Rolle, die es in der Wortgruppe, somit auch im Satz, spielt, nicht erkennen (vgl. schönen im oben angeführten Beispiel). Die konkrete Unterordnung dieser Satzkomponente, ihr „Aufgehen" in der Wortgruppe, ist im zweiten Fall im Vergleich mit dem ersten weitaus deutlicher gekennzeichnet. Die Substantivgruppe entwickelte sich in Richtung auf festere Zusammenfügung ihrer Bestandteile, auf ihren engeren Zusammensehluß, auf das, was man „Monolithheit" nennen kann, hin. Dies wurde durch die Verwendung einiger spezifischer struktureller Mittel ermöglicht. Wie wir oben bereits bemerkt haben, betraf dieser Vorgang unmittelbar die abhängigen kongruierenden Gruppenglieder in ihren Beziehungen zum substantivischen Gruppen-
Die Struktur der
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kern. Die nichtkongruierenden Attribute (das Genitivattribut, die präpositionalen Attribute, der Infinitiv als Attribut u. a.) haben hingegen, was ihre Beziehungen zum Gruppenkern angeht, keine wesentlichen Veränderungen erfahren. Von Bedeutung ist die nach und nach immer konsequenter erfolgende Differenzierung kongruierender und nichtkongruierender Attribute vom Standpunkt der Stellung aus gesehen, die sie gegenüber dem Wortgruppenkern einnehmen. In der Gegenwartssprache stehen die (nicht abgesonderten) kongruierenden Attribute vor dem Bezugswort und die nichtkongruierenden fast ausnahmslos nach diesem. Auf den früheren Entwicklungsstufen des Deutschen dagegen hat es eine solche Differenzierung der beiden Typen von Attributen hinsichtlich ihrer Position nicht gegeben, vgl. beispielsweise die vorwiegende Postposition der attributiv gebrauchten Possessivpronomen im Althochdeutschen: fateres mines (Hildebrandslied, 24); chuninch min (Notk. Psalmen V, 3) sowie die nahezu vorherrschende Stellung des Genitivattributs vor dem Bezugswort (in seinen Übersetzungen lateinischer Texte ersetzte Notker mehrmals den postpositiven Genitiv durch den präpositiven, vgl. de regno dei - fone Gotes riche (Notk. Psalmen LVII, 4). Diese Unterscheidung wird auch im Neuhochdeutschen nicht absolut streng durchgeführt. Variabel ist die Stellung des Genitivattributs, dessen Übergang zur Nachstellung mit der Umwandlung einiger Arten des präpositiven Genitivs in die erste Komponente des zusammengesetzten Substantivs einhergegangen ist. Eine gewisse Tendenz zur Voranstellung ist beim „Autoren-Genitiv zu beobachten (vgl. Goethes Werke, obwohl die Fügungsform die Werke Goethes ebenfalls möglich ist), das Gleiche geschieht, wenn das Bezugssubstantiv von zwei Genitivattributen begleitet wird, einem subjektiven und einem objektiven (vgl. Schillers Bearbeitung der „Turandot"). In Voranstellung steht oft das Genitivattribut, das den Besitzer des Gegenstandes bezeichnet, besonders wenn es sich dabei um einen Eigennamen (oder einen funktionsähnlichen Gattungsnamen) handelt, vgl. Annas Hut. Gelegentlich kommen Genitivattribute auch anderer Art in der Voranstellung vor, vgl. aus der Straßen quetschender Enge (Goethe). Die Tendenz zur Nachstellung des Genitivattributs erweist sich im Verlauf der Sprachentwicklung als die definitiv vorherrschende. In noch höherem Maße bezieht sich dies auf sonstige Arten nichtkongruierender Attribute; diese können nur in Ausnahmefällen vor das Bezugssubstantiv zu stehen kommen. Die Regel der Voranstellung kongruierender Attribute wird auf diese angewandt, wenn sie als in enger, innerlicher Beziehung zum Kemsubstantiv stehend dargestellt werden. Wenn Attribute eine größere Selbständigkeit erlangen, werden sie vom Bezugssubstantiv abgesondert, wobei auch die sonst vorangestellten kongruierenden Attribute ihre Position verändern und nachgestellt werden. Der formale Unterschied kongruierender und nichtkongruierender Attribute hängt mit inhaltlicher Divergenz dieser Arten von Attributen zusammen. Die kongruierenden Attribute gehen eine engere inhaltliche Verbindung mit dem Bezugswort ein als die nichtkongruierenden Attribute. Das kongruierende Attribut projiziert seine Bedeutung „ins Innere" der Bedeutung des Bezugssubstantivs. Die dominierende verallgemeinerte grammatische Bedeutung
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des attributiven Adjektivs ist qualitativer Art. Die dominierende verallgemeinerte grammatische Bedeutung des Substantivs, das mit einem Attribut in Kongruenzbeziehung steht, ist der Ausdruck eines allgemeinen Begriffs, der im gegebenen Fall durch eine der Unterarten, die dieser Begriff umfaßt, vertreten ist. So durchdringen einander die Bedeutung des kongruierenden Attributs (sowohl des adjektivischen wie auch des substantivischen) und die Bedeutung des Bezugssubstantivs; diese Bedeutungen stehen nicht einfach in „nachbarschaftlichem" Kontakt, sondern sind gleichsam miteinander bzw. ineinander integriert. Die inhaltliche Beziehung zwischen einem nichtkongruierenden Attribut und dem substantivischen Bezugswort trägt in der Regel mehr oder weniger anschaulich vorstellbare - äußerliche Züge. Vgl. beispielsw e i s e die Stadt Leningrad-
die Stadt am
Meer.
Wichtig für das Verständnis des Unterschieds zwischen den kongruierenden und nichtkongruierenden Attributen ist Potebnjas Ansicht über diese Differenz. Potebnja charakterisiert das dem Substantiv untergeordnete kongruierende Wort als „grammatisches Attribut", das „der Name eines Merkmals ist, welches als in der Substanz gegeben dargestellt wird, die ein anderes Wort bezeichnet." 6 Die nichtkongruierenden untergeordneten Begleiter des Substantivs, und zwar Substantive in obliquen Kasus, bezeichnen nach Potebnja „vom grammatischen Standpunkt aus Gegenstände, die nicht in einem anderen Gegenstand, sondern außerhalb desselben gedacht werden, obwohl diese Gegenstände, wenn man von der Form ihrer Bezeichnung absieht, sich nicht unbedingt als Substanzen, sondern auch als Attribute vorstellen lassen." 7 Somit unterscheidet Potebnja Attribute, die in den semantischen Inhalt des Bezugssubstantivs integrierte Merkmale wiedergeben, Merkmale, die sich in ihrem Verhältnis zur Bedeutung des Bezugssubstantivs als innere Merkmale darbieten, von Attributen (er nennt sie „grammatische Objekte"), die eigenständige, in ihrem Verhältnis zur Bedeutung des Bezugssubstantivs äußere Wesenheiten bezeichnen. Diese Unterscheidung „innerer" und „äußerer", „merkmalhafter" und „gegenständlicher" Attribute ist für eine rationale Einteilung attributiver Glieder der Substantivgruppe auch im Deutschen von großer Bedeutung. Im Grunde genommen bestimmt Potebnja die Trennungslinie zwischen den verallgemeinerten grammatischen Bedeutungen unterschiedlicher attributiver Formen. Man muß aber den relativen Charakter der von Potebnja als wesentlich erkannten Unterscheidung merkmalhafter und gegenständlicher Attribute betonen. Idealistische Tendenzen, die Potebnja nicht überwinden konnte, spielten in seine sprachtheoretische Auffassung hinein. Die typologische Zweiteilung der Attribute spiegelt bei ihm nicht in erster Linie reale Unterschiede zwischen bestimmten Arten von Beziehungen in der objektiven Wirklichkeit, sondern verschiedene durch individuelle psychische Einstellungen des Sprechers bedingte Darstellungs-Zugriffe wider. Potebnja kommentiert sein Beispiel ifeembi ... maKoü ifenu u xpacombi [wortwörtlich: 'Blumen ... solchen 6
7
Π O T e 6 Η a , A . A . : H 3 3anHCOK n o pyccKOH rpaMMaTHice. I—II. 2 - o e XapbKOB 1 8 8 8 . S. 9 4 . I b i d . S. 101.
H3^aHne.
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Wertes und (solcher) Schönheit'] folgendermaßen: „Für uns sind die Genitive in ifeembi maKoü ifenu usw. Namen der Gegenstände, denen die Blumen angehören; dies sind Substanzen, worauf unter anderem das Fehlen der Kongruenz mit dem Hauptwort, der oblique Kasus der abhängigen Wörter hinweist." 8 Potebnja macht zu Recht auf den substantiellen Charakter der Wörter ifeHa und Kpacoma aufmerksam, außerdem will er es zu keinen Absurditäten kommen lassen, die sich aus der Vermengung semantischer und grammatischer Kategorien ergeben könnten, 9 aber am Ende formuliert er selbst die absurde Behauptung, yena und Kpacoma seien Namen von Gegenständen, denen die Blumen angehören, - obwohl man in der Wortgruppe yeembi ... maKoü yeHbi u Kpacomu absolut keinen Anflug von Possessivität - im weitesten Sinne des Wortes - entdecken kann. Dieser Mißgriff ist nicht zufällig. Er entspringt dem psychologischen Relativismus, zu dem sich der Forscher bekennt, er entspringt der Verkennung der Komplexität verallgemeinerter grammatischer Bedeutungen, die Produkte langer historischer Entwicklung sind und in der Regel Sonderbedeutungen umfassen, die in dialektischem Verhältnis zueinander stehen und mitunter einander sogar widersprechen können (es sei auch an homonyme grammatische Formen erinnert). Wenn man also gegebenenfalls die Beobachtung macht, daß die verallgemeinerte grammatische Bedeutung einer Form und eine ihrer Sonderbedeutungen - zumal eine systematisch vorkommende - unvereinbar (geworden) sind, darf man den Sonderfall nicht unter Verweis auf eine diesem Sonderfall zukommende eigentümlich ausgefallene „gedankliche Verarbeitung" des Sachverhalts abtun, den die betreffende Form entsprechend ihrer verallgemeinerten Bedeutung normalerweise erfaßt. Ein solcher Sonderfall bedarf einer gründlichen speziellen Untersuchung. Was jedenfalls den Unterschied zwischen „inneren" und „äußeren" Attributen anbelangt, so beruht dieser Unterschied nicht auf divergierenden Wegen gedanklicher Verarbeitung objektiver Gegebenheiten, sondern auf realen Unterschieden objektiv bestehender Beziehungen. Die Herausbildung formaler Mittel der Differenzierung von Attributen mit der Bedeutung „innerer" und „äußerer" Merkmale in vielen Sprachen, darunter im Russischen und im Deutschen, ist letzten Endes eine gesetzmäßige Konsequenz der Wesentlichkeit des entsprechenden Unterschieds in der objektiven Wirklichkeit. Formaler Parallelismus, grammatische Angleichung, die wir „Kongruenz" nennen, entsprechen als grammatisches Ausdrucksmittel eben der realen Beziehung zwischen einem Gegenstand und einem unmittelbar in diesem Gegenstand enthaltenen Merkmal, also einer realen „inneren" Beziehung; die Ungleichheit grammatischer Formen des Be-
8 9
Ibid. S. 101-102. Er schreibt: „ ... wenn man in Rechnung stellen und davon ausgehen wollte, daß „Wert" und „Schönheit" keine Dinge sind, die selbständig existieren, daß dies Namen von Eigenschaften sind, die den Blumen innewohnen, so könnte man zu grammatischen Absurditäten kommen und beispielsweise behaupten, daß das Wort Kpacoma in Kpacoma tfeemoe eenma ['Die Schönheit der Blumen (ist) groß'] ein grammatisches Attribut sei" (ibid. S. 101).
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zugs- und des abhängigen Substantivs entspricht dagegen der Beziehung zwischen Gegenständen, die als autonome Wesenheiten existieren und miteinander nicht „in eins verschmelzen", sie entspricht also realen „äußeren" Beziehungen. Der semantische Gegensatz beider Typen von Attributen (der die Heterogenität objektiver Gegebenheiten reflektiert) ist nicht absolut und wirkt sich nicht automatisch aus. Die inhaltliche „Aufnahmefähigkeit" der einen oder anderen Form des Attributs kann variieren. Nicht selten sind semantisch-syntaktische Verschiebungen zu verzeichnen, die es gestatten, „innere" objektive Beziehungen (zum Beispiel die Beziehung der Qualität zu ihrem „Träger") in einer Form auszudrücken, die normalerweise der Wiedergabe „äußerer" Beziehungen dient (eine Qualität durch ein nichtkongruierendes Attribut bezeichnet - wie in dem oben erörterten Beispiel). Und umgekehrt. Im Extremfall ist grammatische Homonymie festzustellen - wenn eine Form Bedeutungen zum Ausdruck bringt, deren Zusammenfassung im Rahmen e i n e r verallgemeinerten grammatischen Bedeutung auf kaum überwindbare Schwierigkeiten stößt. Es gibt sowohl im Russischen als auch - in etwas geringerem Maße - im Deutschen beachtenswerte Tendenzen zur Ausdehnung des semantischen Umfangs attributiver Formen. Im Russischen wird beispielsweise die Beziehung des Besitzes, mehr noch, die breite Beziehung der Zugehörigkeit, die ihrem Wesen nach eine äußere Beziehung ist, in der Regel mit Hilfe nichtkongruierender Attribute, vornehmlich durch den Genitiv, ausgedrückt, aber die gleiche Beziehung kann auch durch das kongruierende attributive Adjektiv wiedergegeben werden, vgl. Kamuna KHUZÜ, dupexmopcKOH Mauiuna10 u. ä. Im Russischen hat sich sogar eine auf die possessive Beziehung spezialisierte Subklasse der Adjektive herausgebildet. Im Deutschen kann in einigen Fällen die Qualität, also ein inneres Merkmal, als Attribut in nichtkongruierender Form dem Bezugssubstantiv untergeordnet werden, verhältnismäßig selten als Genitivattribut, vgl. ein Stoff grüner Farbe, oft genug als präpositionales Attribut, vgl. ein Stoff von grüner Farbe. All das widerlegt aber keinesfalls das Vorhandensein divergierender verallgemeinerter grammatischer Bedeutungen unterschiedlicher Formen attributiv gebrauchter Wortklassen sowohl im Russischen wie auch im Deutschen. Die verallgemeinerte, die dominierende Bedeutung kongruierender Attribute repräsentiert der Ausdruck einer inneren logischen Beziehung des Merkmals zu dem durch dieses Merkmal charakterisierten Gegenstand (was der Bestimmung des Attributs und der Apposition in der russischen Grammatik entspricht), und im Bereich der nichtkongruierenden Attribute spielt der attributive Ausdruck äußerer Beziehungen zwischen Gegenständen die führende Rolle (nichtkongruierende abhängige Glieder der Substantivgruppe, die oft als „regiert" verstanden werden, bezeichnet man in der russischen Grammatik gemeinhin als „Objekte"). 10
Deutsche Übersetzungsäquivalente: Katjas Buch, das Auto des Direktors; eine Vorstellung von der grammatischen Form des Russischen könnten die gekünstelte Bildung Katjasches Buch und der ironisch aufzufassende Ausdruck das direktoriale Auto geben. - Hgg.
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Alle kongruierenden Attribute stehen im Gegenwartsdeutschen vor dem Kernglied der Substantivgruppe, und der Substantivgruppe sind zwei grammatische Regularitäten eigen, die zum festen strukturellen Zusammenschluß des betreffenden Teils der Substantivgruppe und zu seiner deutlichen Abgrenzung beitragen. Die erste von diesen Regularitäten ist in der sowjetischen Sprachwissenschaft mehrmals Gegenstand der Betrachtung gewesen, zumal sie eine Eigenschaft nicht nur des Deutschen ist. Das ist die Rahmenkonstruktion, die dadurch entsteht, daß das Substantiv und der mit ihm aufs engste verbundene Artikel (auch ein Demonstrativ- oder Possessivpronomen sowie eine Präposition) voneinander getrennt werden, so daß die sonstigen mit dem Substantiv kongruierenden attributiven Wörter zwischen diese Elemente der Wortgruppe zu stehen kommen. Auf die Frage der Rahmenkonstruktion in der Substantivgruppe werden wir nicht weiter eingehen, da sie in der Fachliteratur klar genug beleuchtet ist;11 allerdings betonen wir nochmals, daß ein solcher „Rahmen" eine deutliche strukturelle Abhebung des aus kongruierenden Wörtern bestehenden Teils der Substantivgruppe sichert. Das zweite Mittel, dem dieser Teil der Substantivgruppe seine formal betonte Ganzheitlichkeit verdankt, ist ebenfalls - sowohl in der sowjetischen wie auch in der ausländischen Fachliteratur - Gegenstand der Betrachtung gewesen, doch ist sein Wesen noch nicht ausgelotet. Dieses Mittel besteht darin, daß der mehrere miteinander kongruierende Wörter umfassende Teil der Substantivgruppe ein einziges, somit ein gemeinsames, Formans aufweist, das die der Gruppe zukommenden grammatischen Bedeutungen zum Ausdruck bringt. Die Frage nach dieser Gesetzmäßigkeit interessierte die Forscher bisher vor allem im Zusammenhang mit variabler Deklination der Adjektive im Deutschen, mit dem Vorhandensein zweier Flexionsparadigmen, nämlich der starken und der schwachen Adjektivdeklination. Bei der Analyse verschiedener Formen des nach einem Possessivpronomen stehenden attributiven Adjektivs macht Paul folgende Bemerkung: „Man hat offenbar dunkel das Bedürfnis gefühlt, entweder am Poss.-Pron. oder an dem folgenden Adj. den Kasus deutlich ausgeprägt zu haben, während es an beiden nicht erforderlich schien."12 Zirmunskij stellt den geschichtlichen Hergang folgendermaßen dar: „Die endgültige normativ-grammatische Festlegung der Adjektivdeklination führt dazu, daß die Wortgruppe (Pronomen oder Artikel + Adjektiv + Substantiv) durch ein einziges gemeinsames differentielles Kasusformans vereinigt wird. Nur die starke Deklination der Adjektive behielt ein differenzierendes System 11
12
S. Ä H p M y H C K H i i , B.M.: Pa3BHTHe crpos HeMeuKoro jnbiica. In: H3BecTH» AicaaeMHH Hayn CCCP. 1935, N« 4; Α λ μ ο η η , Β.Γ.: Κ npo6jieMe nopaaica cjiob (3aMbiKaHHe npeaJio»eHH5i β HeineuicoM snbiKe). In: H3BecTn« AicaaeMHH HayK CCCP. OraejieHHe jiHTepaTypw η smiKa. Bd. VIII, 1949, K« 4. P a u l , H.: Deutsche Grammatik. Bd. III: Teil IV, Syntax (Erste Hälfte). Halle (Saale) 1954 [unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1919], S. 1 0 0 - 1 0 1 . Schon Adelung erkannte die Bedeutung des Wechsels adjektivischer Deklinationen für den Ausdruck der syntaktischen Funktion der Wortgruppe als Ganzer, s. J e 11 i n e k , M.H.: Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik von den Anfängen bis auf Adelung. Bd. II. Heidelberg 1914. S. 256.
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von Kasusendungen (-e, -es, -er, -em, -en), während die schwache Deklination infolge der Nivellierung der Flexion gleiche Endungen (-e oder -en) für mehrere Kasus aufweist. Die differenzierte Endung tritt in der Wortgruppe nur einmal auf, entweder beim Adjektiv oder beim Pronomen." 13 Indessen beschränkt sich die Tendenz der attributiven Wortgruppe zum gemeinsamen differenziellen Formans nicht auf den Wechsel adjektivischer Endungen, sondern wirkt sich auch auf einige Subklassen des Substantivs aus. Wir glauben es hier mit einer weitgreifenden und äußerst wesentlichen Tendenz zu tun zu haben, die die Entwicklung der Substantivgruppe im allgemeinen stark beeinflußt hat und eine spezielle Betrachtung verdient, zumal die genetische Erklärung, die Zirmunskij diesem Phänomen gibt, nicht überzeugend ist. Wie wir später zeigen werden, besteht die Hauptursache des betreffenden Wandels nicht in der allgemeinen Entwicklung des Deutschen in Richtung auf den analytischen Sprachbau hin, sondern in ganz anderen eigengesetzlichen Triebkräften, und zwar in der Tendenz zur Herausbildung spezifischer struktureller Mittel der Organisation und Gliederung des Satzes. Der terminologischen Klarheit und Bestimmtheit halber schlagen wir für das uns interessierende Phänomen, nämlich für das Vorhandensein eines „sprechenden" grammatischen Formans nur bei einem der kongruierenden Substantivgruppenglieder, den Terminus „ M 0 H 0 < J ) j i e K C H 5 i " [„Monoflexion"] vor. Die Einführung eines speziellen Fachausdrucks für dieses Phänomen ist wohl durch die wichtige Rolle, die es im deutschen Sprachbau spielt, gerechtfertigt. Der Terminus „rpynnoeaa (jwieKciw" [„Gruppenflexion"], der manchmal in der Fachliteratur verwendet wird, scheint uns - abgesehen davon, daß es ihm an Eindeutigkeit mangelt, - schon darum weniger gelungen, weil keine adjektivische Ableitung von diesem Terminus möglich ist.14 Die Monoflexion ist nicht nur dem Deutschen eigen, sie kommt auch in einigen anderen germanischen Sprachen vor. Wir finden die Monoflexion im Englischen, vgl. Laurence Stern's life; my girl's letter, im Norwegischen, vgl. Henrik Ibsens verker 'Henrik Ibsens Werke' u. ä. Aber am breitesten und konsequentesten ist die Monoflexion in der deutschen Schriftsprache vertreten, was u. a. mit dem „Übergangscharakter" des Deutschen zusammenhängt, mit dem Charakter einer Sprache, die wesentliche Züge flexivischen Sprachbaus mit ausgeprägten analytischen Tendenzen vereinigt. Gerade die Monoflexion ist eine der bedeutsamsten Erscheinungsformen dieser widersprüchlichen Einheit. Eine wesentliche Besonderheit der Monoflexion im Deutschen besteht darin, daß die Substantivgruppenglieder, die keine kasusanzeigende Endung bekommen, dennoch auch nicht flexionslos auftreten, nur haben die betreffenden Flexionsendungen sozusagen „neutralen" Charakter, denn man kann sie 13
Ä H p M y H C K H H , B.M.: Op. cit. S. 401. Vgl. auch: COKOJIBCKA», T.B.: CHCTeMa C K J i o H e H H » . In: Bonpocw HeMeuKofi r p a M M a r a K H β MCTopunecKOM oceeme-
14
Diese Bemerkung Admonis bezieht sich auf den russischen Ausdruck „rpynnoeas < J > j i e K C n s " ; von der deutschen Form „Gruppenflexion" ist eine adjektivische Ableitung („gruppenflexivisch") zumindest denkbar. - Hgg.
HHH. J l e H H H r p a a 1 9 3 5 . S . 3 7 .
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jeweils mit unterschiedlichen grammatischen Funktionen verbinden. So weisen beispielsweise in der Wortgruppe dem großen Knaben sowohl das Adjektiv wie auch der Kern der Gruppe, das Substantiv, Flexionsendungen auf, aber diesen Endungen mangelt es infolge ihrer Mehrdeutigkeit an grammatischer Ausdrucksfähigkeit: Sowohl die Endung des Adjektivs -en als auch die Endung des Substantivs -en sind Endungen, die diesen Wörtern in den drei obliquen Kasus des Singulars und in allen Kasus des Plurals zukommen. Also obwohl die Wortgruppe unter rein morphologischem Aspekt polyflexivisch ist, weil jedes Element der Gruppe eine eigene Flexionsendung hat, ist sie dagegen unter morpho-syntaktischem Aspekt monoflexivisch, denn nur die Endung des Artikels drückt die Funktion der Gruppe aus, darauf hinweisend, daß die Gruppe im Dat. Sg. steht.15 Zweckdienlich ist daher die Einfuhrung des Begriffs der „grammatischen Ausdrucksfähigkeit" der Flexionsendung; diese Eigenschaft charakterisiert die Monoflexion, die sich im Rahmen der polyflexivischen - Substantivgruppe mit grammatisch nicht ausdrucksfähigen Flexionsendungen vereinigen kann. Die Entwicklung der Monoflexion in der deutschen Schriftsprache ist eine der Seiten des historischen Wandels der Substantivgruppe in Richtung auf festere innere Geschlossenheit dieser syntaktischen Struktur hin. Die Monoflexion ist eines der wichtigsten Organisationsprinzipien, auf denen der Bau der Substantivgruppe beruht. Der Umstand, daß nur ein einziges Element der Substantivgruppe die syntaktische Funktion der Gruppe zum Ausdruck bringt, macht alle Wortgruppenglieder von der Wortgruppe als ganzheitlicher Einheit abhängig. Einzelne Glieder der Substantivgruppe lassen ihre syntaktische Funktion in der Regel nur durch Vermittlung des Gliedes der Gruppe erkennen, das ein grammatisch ausdrucksfähiges Formans aufweist. Die Monoflexion ist nicht das einzige Mittel, das strafferer Organisation der Substantivgruppe dient. Die Rahmenkonstruktion haben wir schon erwähnt. In analoger Richtung wirkt steigender Gebrauch präpositionaler For15
Für die grammatische Gestaltung der Wortgruppe ist die Bezeichnung substantivischer Pluralformen von großer Bedeutung. Wenn die Pluralform des Substantivs eindeutig gekennzeichnet ist, wirkt sich dies nicht nur auf die Auffassung der numeralen Bedeutung der Wortgruppe aus, sondern hilft auch die Kasusbedeutung präziser auszudrücken, denn die Artikelformen und die entsprechenden Endungen der Pronomen können an sich in einer Reihe von Fällen bestimmte singularische und pluralische Kasus nicht auseinanderhalten. So ist die Kasusbedeutung der Gruppe dieser Tische nicht allein durch die Endung des Demonstrativpronomens dieser ausgedrückt (obwohl gerade das Wort dieser der unmittelbare Träger der kasusanzeigenden Endung ist), denn die Form dieser kann außer im Gen. PI. auch im Gen. und Dat. Sg. Fem. und im Nom. Sg. Mask, auftreten. Die grammatische Eindeutigkeit der Gruppe dieser Tische wird nur dank der Pluralform des Substantivs erreicht, die die Mehrdeutigkeit der Form dieser aufhebt. Also findet in Wortgruppen dieser Art eine Verteilung grammatisch relevanter Mittel statt, so daß ein gewisses Gruppenglied lediglich in bezug auf eine bestimmte Seite komplexer grammatischer Charakteristik der Wortgruppe als Träger der Monoflexion gilt, die komplexe Charakteristik aber nur durch Wechselwirkung, durch gegenseitige Bestimmung „teilweiser" monoflexivisch geprägter Wortformen erreicht wird.
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men der Substantivgruppe. Die Präposition, die vor den Wortgruppengliedern nicht wiederholt wird, bezieht sich auf die ganze Gruppe und stellt sich ihrerseits zwischen das einzelne Substantivgruppenglied und den Satz.16 Allerdings hat eben die Entwicklung zur Monoflexion eine besonders große Bedeutung für die innere Geschlossenheit der Substantivgruppenstruktur. Dies wird dadurch bestätigt, daß die Monoflexion nicht auf einem Wege in die Substantivgruppe eindrang, sondern sich auf der Grundlage verschiedener syntaktischer Formen und Beziehungen innerhalb der Substantivgruppe entfaltete. Die Monoflexion ordnet sich nicht nur die Verteilung adjektivischer Deklinationsformen unter, sondern ihre Wirkung breitet sich auch auf einige Subklassen des Substantivs aus. Wir werden diese Arten der Monoflexion jede fiir sich betrachten. II Die vornehmste Erscheinungsweise der Monoflexion in der deutschen Schriftsprache besteht im Wechsel starker und schwacher Formen des attributiv gebrauchten Adjektivs. Hier gilt die folgende Regel: Wenn vor dem attributiven Adjektiv ein Artikel oder ein anderes Wort mit einer Endung steht, die mit der Endung des Artikels übereinstimmt, so tritt das Adjektiv in schwacher Form auf, hat also die Endung -e im Nom. Sg. aller drei Genera und im Akk. Sg. Fem. und Neutr. bzw. die Endung -en in den übrigen Fällen, also in ihrer überwiegenden Mehrzahl. Das sind Endungen, die im Deutschen zu den mehrdeutigsten Flexionsendungen gehören und somit die Wortformen, in denen sie auftreten, an sich nur vage kennzeichnen können. Wenn dem attributiven Adjektiv kein Artikel (bzw. kein dem Artikel formal gleichwertiges Wort) vorangeht, steht das Adjektiv in starker Form, d. h. es verknüpft sich mit einer pronominalen Endung, und die pronominalen Endungen sind im allgemeinen grammatisch unvergleichlich ausdrucksfähiger als die Endungen der schwachen Adjektivdeklination. 17 Das stark flektierte Adjektiv vermag somit nicht nur seine eigene syntaktische Funktion, sondern die syntaktische Funktion der ganzen Substantivgruppe zum Ausdruck zu bringen, und das tut es auch allein, wenn das substantivische Kernglied der Wortgruppe kein eigenes diese Funktion anzeigendes Formans hat. Das Adjektiv wird zum Träger der Monoflexion. Der Wechsel starker und schwacher Formen des Adjektivs steht in keinem genetischen Zusammenhang mit der Monoflexion. Die Bindung des schwa16
17
Die organisierende Bedeutung der Präposition für die Wortgruppe wird von Ries betont: „Die nur einmalige Setzung einer Präposition vor mehreren Worten, fur die alle zusammen sie gelten soll, ist dem Zusammenschluß dieser Worte nicht nur nicht hinderlich, sondern sie fördert ihn" ( R i e s , J.: Zur Wortgruppen lehre. Prag 1928. S. 30). Ries sieht darin eine Parallele zur Kongruenz; das Problem der Monoflexion wird von ihm aber nicht angeschnitten. Indessen liegt gerade die Monoflexion auf gleicher funktionaler Ebene mit der präpositionalen Form der Substantivgruppe. Zu Abweichungen von dieser Regularität s. Ρ a u 1, H.: Op. cit. S. 99ff.
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chen Adjektivs an den Artikel beruht ursprünglich auf einer semantischen Besonderheit des Adjektivs in der Form der schwachen Deklination. Wir wagen hier keinen Versuch, die Semantik des altgermanischen schwachen Adjektivs zu deuten, und zitieren nur die Meinung von Meillet: „[Die schwache Deklination des Adjektivs] zeigt selbst die Bestimmtheit an, und gerade in schwacher Form steht das Adjektiv jedesmal, wenn es von einem Demonstrativpronomen begleitet wird." 18 Später aber schwindet diese semantische Differenzierung der schwachen und der starken adjektivischen Deklination. Die Bindung des schwachen Adjektivs an den Artikel hört auf, eine Erscheinungsform inhaltlicher und funktionaler Affinität beider Kategorien zu sein, wird aber damit nicht zu einem funktional leerlaufenden und nur mechanisch reproduzierten formalen Phänomen. Diese Bindung erhält einen neuen grammatischen Inhalt und Sinn. Sie wird in den Dienst der Monoflexion gestellt. Das auf das Althochdeutsche zurückgehende, aber erst im Neuhochdeutschen Norm werdende System „mechanischen" Wechsels schwacher und starker Flexionsformen des Adjektivs in Abhängigkeit vom Vorhandensein oder Fehlen des Artikels usw.19 ist in Wirklichkeit eine Auswirkung der Tendenz zur strafferen strukturellen Organisation der Substantivgruppe. Die Verteilung der starken und schwachen Formen des Adjektivs in Abhängigkeit vom Artikel war lange schwankend. Der Gebrauch der starken Form nach dem Artikel kommt im Althochdeutschen, im Mittelhochdeutschen und im Frühneuhochdeutschen vor, vgl. ahd. thie ungiloubige; themo unsubremo geiste', mhd. üz dem betouwetem grase; fhhd. (in Urkunden) dem edlem graven. Zu Beginn der mittelhochdeutschen Periode überwiegt die starke adjektivische Form nach dem Possessivpronomen, vgl. in siner küneclicher hant.20 Aber man kann im mittelalterlichen Deutsch auch schwache Formen des Adjektivs antreffen, dem kein Artikel bzw. Pronomen vorausgeht, vgl. ahd. (in Postposition) druchtin guatö; (in Voranstellung nach einer Präposition) mit mihilön riuuön. Doch zeigt die weitaus überwiegende Mehrzahl der Fälle die Verbindung schwacher Adjektivformen mit dem bestimmten Artikel bzw. dem Demonstrativpronomen. Das attributive Adjektiv hat im Deutschen variable Deklinationsformen. Bald zeigt seine Endung den Kasus an, bald ist sie kasusneutral. Im Gegen18
19
20
Μ e i 11 e t, Α.: Caracteres generaux des langues germaniques. 2 e m e ed. Paris 1922. S. 183. Vgl. die Bemerkung von Behaghel: „Im Laufe der Entwicklung verwischt sich der Unterschied der Bedeutungen zugunsten einer mechanischen Regelung, indem nach deutlichen Kasusendungen eines zugehörigen Pronomens die schwache Flexion, sonst die starke eintritt" ( B e h a g h e l , O.: Deutsche Syntax. Bd. I. Heidelberg 1923. S. 171-172). Allerdings birgt der Hinweis auf „deutliche Kasusendungen" den Ausgangspunkt fiir eine rationale Erklärung der „mechanischen Regelung" in sich. Vgl. auch Pauls Bemerkungen hinsichtlich des Gebrauchs schwacher Formen des Adjektivs nach einem anderen Adjektiv ( P a u l , H.: Op. cit. S. 1 0 1 102). Vgl. M a u s s e r , O.: Mittelhochdeutsche Grammatik auf vergleichender Grundlage. 3 Teile. München 1932-1933. S. 951.
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satz dazu weisen andere Wortklassen, die an der Bildung der Substantivgruppe beteiligt sind, nämlich der Artikel, das Pronomen, das Substantiv selbst (das letzte in den weitaus meisten Fällen) stabile Formen morphologischer Abwandlung auf. Es sei betont, daß die Variabilität adjektivischer Wortformen nur darin besteht, daß eine Flexionsart eine andere ablöst, nicht aber in der Ablösung flexivischer durch flexionslose Formen, was der Verdrängung des flexivischen durch den analytischen Typ des Ausdrucks syntaktischer Beziehungen in der Substantivgruppe gleichkäme. Der Unterschied zwischen stabil und variabel flektierten Substantivgruppengliedern ist u. a. in der Hinsicht wichtig, daß das stabile Vorkommen bestimmter Flexionsformen die zweimalige Wiederholung „differentieller" Endungen ermöglicht, vgl. des klugen Mannes. Der variable Typ adjektivischer Deklination schafft die Basis für die Monoflexion in der Substantivgruppe, aber die Monoflexion hat sich noch nicht zur völligen Herrschaft durchgerungen. In der schwachen Deklination des Adjektivs überwiegt an Zahl die Endung -en. Es wäre aber irrig, aus diesem Umstand darauf zu schließen, daß diese Endung auf dem Wege sei, Kennzeichen einer neuen, „vollen", aber unveränderlichen Form des Adjektivs zu werden, die in der Substantivgruppe gebraucht wird - in Analogie zum Gebrauch der ebenfalls unveränderlichen Kurzform des Adjektivs in der Verbgruppe. Im Gegenteil, das Vorhandensein schwacher adjektivischer Formen auf -e im Nom. und zum Teil im Akk. Sg. sowie mannigfaltige Korrelationen schwacher Formen mit starken Formen auf -en verleihen der schwachen Deklination der Adjektive zweifellos flexivischen Charakter, wobei im Singular der Nominativ und - freilich unvollständig - der Akkusativ auf der einen und der Genitiv und Dativ auf der anderen Seite einander gegenüberstehen. Die syntaktische Beziehung, die die Substantivgruppe zusammenhält, findet ihren Ausdruck in der Kongruenz. Das Kernglied der Gruppe, das Substantiv, hat meist keine Flexionsendung, die ihm untergeordneten und ihm vorangestellten Wortgruppenglieder kennzeichnen die Kongruenz mit dem Kernglied durch ihre Form, mit Hilfe ihrer Endungen. Aber während die starken Endungen mehr oder weniger eindeutig die Kasusbedeutung - ihre eigene und auf Grund der Kongruenz die der Gruppe im ganzen - anzeigen, hat die Flexionsendung des schwachen Adjektivs eine beschränktere Funktion, sie weist allein auf die Tatsache hin, daß das Adjektiv in Kongruenzbeziehung zum Substantiv steht, weil es in die Gruppe als Attribut eingegliedert ist. Die Funktion der schwachen adjektivischen Flexion besteht darin, die Kongruenz als solche anzuzeigen. Dank seiner Flektierbarkeit ordnet sich das schwache Adjektiv dem allgemeinen Charakter der Substantivgruppe unter, der durch Kongruenz und eben durch Flektierbarkeit abhängiger Glieder bestimmt wird, was die Substantivgruppe der Verbgruppe scharf gegenüberstellt. Die schwache adjektivische Deklination vereinigt trotz mangelnder grammatischer Ausdrucksfähigkeit ihrer Flexionsendungen dreigliedrige Substantivgruppen (Artikel + Adjektiv + Substantiv) und zweigliedrige Substantivgruppen (Adjektiv + Substantiv) zu einem homogenen System und räumt zugleich der Monofle-
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xion als für die Substantivgruppe äußerst wesentlichem Organisationsprinzip ein breites Wirkungsfeld ein. Die „neutralste", den niedrigsten Stand grammatischer Ausdrucksfähigkeit aufweisende Endung der Adjektive ist -en. Diese Endung ist auch die häufigste. Nach Stitterlins Zählung kommt die Endung -en im adjektivischen Gesamtparadigma, vgl. zum Beispiel blinden, 22mal vor. Nicht viel höher ist der Stand grammatischer Ausdrucksfähigkeit der adjektivischen Endung -e (sie kommt im gesamten Deklinationsparadigma des Adjektivs 12mal vor). 21 Eben deshalb konkurriert in einigen Fällen mit der schwachen Flexionsendung -en die Endung -e, wo es gilt, allein das Faktum der Kongruenz mit dem Bezugssubstantiv an sich, nicht den genauen kategorialen Inhalt der betreffenden Beziehung zum Ausdruck zu bringen. Besonders verbreitet war diese Konkurrenz im Plural (im Nominativ und Akkusativ) bis ins 18. Jahrhundert hinein, wobei in einigen Schriftdenkmälern des 16. und 17. Jahrhunderts die Endung -e sogar überwiegt. So herrscht beispielsweise im „Simplizissimus" von Grimmelshausen die Endung -e in Fällen wie die Orientalische Perlen vor. Die funktionale Nähe der beiden Endungen erklärt auch die Normschwankung zwischen -e und -en bei Adjektiven in der Anrede. Neben der ursprünglichen schwachen Form verbreitete sich seit dem Frühneuhochdeutschen der Gebrauch der starken Form, und das Ergebnis war eine lange bestehende Unsicherheit in bezug auf die Norm, vgl. noch bei Schiller zum Beispiel Lieben Freunde! Die Besonderheiten der Substantivgruppe, die darin bestehen, daß vor allem die abhängigen Gruppenglieder flektiert werden und daß als Träger der Monoflexion am häufigsten der Artikel bzw. die Pronomen auftreten, wurden von den Forschern nicht als Phänomene gewürdigt, die für die Struktur der Substantivgruppe und für den deutschen Sprachbau im allgemeinen eine prinzipielle, grundlegende Bedeutung haben. Auch die Versuche, das Prinzipielle an dieser Struktur aufzuzeigen, die von Blümel und von Ries unternommen wurden, können nicht befriedigen. Ausgehend von äußerlicher, formaler Deutung des Wortgruppenbegriffs, wie wir sie auch in der bekannten Arbeit von Ries vorfinden, erklärt Blümel den Artikel bzw. das Pronomen zum Wortgruppenkern, denn nach ihm ist der Kern der Wortgruppe das Wort, das imstande ist, die syntaktische Funktion der ganzen Wortgruppe anzuzeigen. Die historische Entwicklung der Monoflexion läßt Blümel völlig außer acht, dem allgemeinen Charakter des Wandels der Wortgruppenstrukturen im Deutschen widmet er keine Aufmerksamkeit und beschränkt das ganze Problem auf die formal-terminologische Frage danach, wie der Kern der Substantivgruppe zu bestimmen ist, wobei das allein gültige Kriterium dafür aus dem Vergleich flexivischer Formantien zu gewinnen ist. Blümeis Hauptthese lautet folgendermaßen: „Da aber in den Engen Gruppen nur der Kern zum Satz als Ganzem wie zu seinen einzelnen Teilen in unmittelbarer Beziehung steht, die Anglieder dagegen Uberhaupt keine Satzfunktion, sondern nur eine Funktion 21
S ü t t e r l i n , L . : Neuhochdeutsche Grammatik. Mit besonderer Berücksichtigung neuhochdeutscher Mundarten. Erste Hälfte. Einleitung. Lautverhältnisse. Wortbiegung. München 1924. S. 358.
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innerhalb ihrer Gruppe haben, kann auch in diesen Substantivgruppen nur das flektierte erste Glied der grammatische Kern sein, nicht das starre zweite."22 Bei konsequenter Befolgung dieser These muß man wirklich eben den Artikel für den Kern der Substantivgruppe halten, da er sich als Träger der Monoflexion erweist. Ries polemisiert gegen Blümel, aber in seinen Überlegungen geht er ausschließlich vom psychologischen Standpunkt aus; er weist - insbesondere in Verbindung mit appositiven Substantivgruppen - auf potentielle Diskrepanzen in den Korrelationen zwischen grammatischer Form und psychologischen Zusammenhängen der Wortgruppenglieder hin.23 Indessen ist die These von Blümel, nur der Kern der Gruppe stehe in unmittelbarer Beziehung zum Satz im ganzen bzw. zu einzelnen Satzteilen, prinzipiell anfechtbar. Im Grunde genommen beruht diese These auf der Auffassung der Wortgruppe als Produktes mechanischen Zusammenstellens von Einzelwörtern, nicht als enger, organischer, fest „zusammengeschweißter" Einheit. Wenn man dagegen die gegenwartsdeutsche Substantivgruppe aus historischer Sicht im Lichte der Tendenz zur Stärkung der vermittelnden Rolle der Wortgruppe hinsichtlich der Beziehungen zwischen Wort und Satz betrachtet, so rückt die Frage nach der Stellung der Substantivgruppe als syntaktischer Ganzheit im Satz bzw. in dem einen oder anderen Satzteil in den Vordergrund, nicht aber die Frage nach den Beziehungen zwischen Satz und Einzelwort. Der Ausdruck der Beziehung, in der die Wortgruppe zum Satz steht, ist überhaupt kein Prärogativ des Wortgruppenkems. Da mit der Bezeichnung dieser Beziehung das Anzeigen grammatischer Bedeutungen des Wortgruppenkerns einhergeht, ist es ganz natürlich, daß diese Aufgabe den Wortgruppengliedern zufällt, durch deren Formen die betreffenden Eigenschaften des Kerns der Gruppe gekennzeichnet werden, d. h. das Genus, die Bestimmtheit bzw. Unbestimmtheit usw. Für den Ausdruck grammatischer Merkmale des Substantivs sind hauptsächlich die abhängigen Substantivgruppenglieder verantwortlich, und dies hat zur Folge, daß die Bezeichnung der Kasusbedeutung, und das heißt der Beziehung der Substantivgruppe zum Satz (bzw. zu bestimmten Teilen des Satzes), ebenfalls zu den Aufgaben der Nebenglieder der Substantivgruppe gehört. Doch steht die grammatische Ausdrucksfähigkeit der Nebenglieder der Substantivgruppe in keinem Verhältnis zu einer eventuellen Verteilung des syntaktischen „Gewichtes" auf die einzelnen Wortgruppenglieder. Vom Standpunkt verallgemeinerter grammatischer Bedeutungen der Substantivgruppenglieder bzw. vom Standpunkt des Wesens der Beziehung zwischen Attribut und Bezugswort aus ist eine solche Verteilung ein sekundäres, nebensächliches Moment. Nach dem Artikel oder einem Pronomen unterliegt das Adjektiv in der gegenwartsdeutschen Schriftsprache der Wirkung der Monoflexion und steht unbedingt in schwacher Form. Kompliziertere Verhältnisse liegen in Fällen vor, in denen es sich um die Formen mehrerer attributiver Adjektive in Substantivgruppen ohne Artikel bzw. Pronomen handelt. Gewöhnlich erhalten al22
23
Nach R i e s , J.: Op. cit. S. 71 [Ries zitiert die These von Blümel nicht, sondern gibt sie mit eigenen Worten wieder]. Ibid. S. 71f.
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le Adjektive in einer solchen Reihe starke, grammatisch ausdrucksfähige Flexionsendungen. Diese Art Polyflexion ist eine Regel, die im Nominativ konsequent befolgt wird, ihre Wirkung meist aber auch auf die obliquen Kasus ausdehnt. Oft erklärt man die Verteilung unterschiedlicher Flexionsendungen auf die attributiven Adjektive, die nacheinander stehen, damit, daß die Adjektive nicht homogene Eigenschaften ausdrücken und folglich ungleichartige Beziehungen zum Substantiv eingehen. In der Grammatik des Deutschen von E. und Fr.Wetzel lesen wir, daß die beigeordneten Adjektive, die sich in gleicher Weise auf das Substantiv beziehen (und mit Hilfe von Ausdrücken und zwar, und zugleich miteinander verknüpft werden könnten), gleiche Flexionsendungen bekommen, wogegen die Formen der Adjektive bei deren hierarchischer Unterordnung (d. h. wenn eines von den Adjektiven in einer engeren Beziehung als das andere zum Substantiv steht) nicht zusammenfallen: Das weniger eng mit dem Substantiv verbundene Adjektiv geht voran und wird stark flektiert, während das andere Adjektiv eine Endung der schwachen Deklination erhält; nur im Nom. Sg. sowie im Nom. und Akk. PI. tritt das zweite Adjektiv auch in der starken Form auf; vgl. nach langem verderblichen Streit (Schiller).24 Diese Regel ist aber nicht verbindlich. Oft schwanken die adjektivischen Formen nach den quantitativen Adjektiven viele, manche u. dgl. Paul weist auf besonders häufiges Vorkommen schwacher adjektivischer Flexion nach Adjektiven hin, die den Pronomen nahe stehen. Und er fugt hinzu: „In neuerer Zeit ist der Gebrauch im Gen. und namentlich im Dat. Sg. ins Schwanken gekommen, wozu der Umstand beiträgt, daß mitunter über das Verhältnis der beiden Adjektiva zueinander eine verschiedene Auffassung möglich ist."25 Vgl. beispielsweise die schwankende Formgebung beim gleichen Autor an verschiedenen Stellen eines und desselben Textes: wegen einiger strafenden Worte - während einiger fürchterlicher Minuten (Gutzkow). Das monoflexivische Formensystem weist keine Schwankungen beim Gebrauch des Adjektivs nur nach Wortklassen auf, die sich vom Adjektiv morphologisch und funktional scharf unterscheiden, d. h. nach ein, kein, nach Demonstrativ- und Possessivpronomen. Bezeichnenderweise bekommt das Adjektiv die Endungen starker Deklination nach ein, kein, mein usw., wenn diese Wörter in flexionsloser Form auftreten {ein starker Mann), während in den Kasus, in denen die Wörter ein usw. eine Flexionsendung haben, das Adjektiv schwach flektiert wird (einem starken Mann). Das monoflexivische Formensystem kann man schon zu Beginn des Neuhochdeutschen als voll herausgebildet betrachten, obwohl Abweichungen von diesem System bis ins 19. Jahrhundert hinein vorkommen, vgl. zum Beispiel ihres reines Augs (Jean Paul). Dies bestätigen Paul, Behaghel, Sütterlin mit einer beträchtlichen Zahl von Belegen.26 Es ist aber bedeutsam, daß ein beachtlicher Teil dieser Belege parallelen Gebrauch der Endungen -e und -en demonstriert, die, wie wir schon bemerkt haben, unter dem Aspekt grammati24 25 26
W e t z e l , E. und Fr.: Die deutsche Sprache. 12. Aufl. Bielefeld u. Leipzig 1904. P a u l , H.: Op. cit. S. 102. Ibid. S. 100-102; B e h a g h e l , O.: Op. cit. S. 192-196; S Q t t e r 1 i η , L.: Op. cit. S. 363-364.
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scher Ausdrucksfähigkeit, deren Stand in den beiden Fällen im allgemeinen niedrig ist, einander nahe stehen. Es sei außerdem betont, daß die Häufigkeit der Substantivgruppen dieser Art mit der Zeit unablässig sinkt. Eher die umgekehrte Richtung nahm die Entwicklung im Bereich des parallelen Gebrauchs mehrerer attributiver Adjektive (ohne vorangehenden Artikel). Die Häufigkeit schwacher Formen des zweiten Adjektivs, die im Frühneuhochdeutschen anstieg, nimmt im Neuhochdeutschen merklich ab. Und es ist auch nicht leicht, die Regel aufzuspüren, die sich auf die Verhältnisse in diesem Bereich auswirkt, denn der Lehrsatz, nach dem durch den Gebrauch des zweiten Adjekivs mit schwacher Form eine Differenzierung lediglich kopulativer und hierarchisch angeordneter Attribute erreicht wird, findet vielfach keine Bestätigung. Dessenungeachtet kann man der Behauptung Sütterlins nicht zustimmen, daß die Erklärung älterer Grammatiker, das erste Adjektiv sei hier dem zweiten untergeordnet (gutem alten Wein = altem Wein, der gut ist), im Lichte geschichtlicher Entwicklung der Kritik nicht standhalte.27 Die Tendenz dazu, daß das zweite Adjektiv mit dem Bezugswort eine etwas engere Einheit bildet, dem durch das Substantiv bezeichneten Begriff eine neue Qualität verleiht, kann in den betreffenden Substantivgruppen gewissermaßen nachempfunden werden. Nicht zufällig werden solche Substantivgruppen recht häufig mit Adjektiven wie gedachter, gewisser, obiger, voriger u. ä. eröffnet, die nicht qualitativen, sondern hinweisenden Charakter haben. Doch hat Sütterlin zweifellos in der Hinsicht recht, daß die historische Entwicklung in der Tat nicht zur Verbindlichkeit der von ihm angezweifelten morphologischen Differenzierung im sprachlichen Regelwerk führte, so daß in diesem Bereich allerlei Schwankungen und Übergangserscheinungen eine Selbstverständlichkeit sind. In Substantivgruppen mit kongruierenden Attributen, die zu unterschiedlichen grammatischen Wortklassen gehören, gewinnt das Prinzip der Monoflexion im Zuge der Sprachentwicklung unentwegt an Gewicht; die Wirkung dieses Prinzips in Substantivgruppen mit Attributen gleicher grammatischer Art erweist sich dagegen als unbeständig und wird immer schwächer. Eine Reihe grammatisch homogener Attribute wird anders als eine Reihe grammatisch heterogener Attribute behandelt, jene sind selbständiger, sie tendieren weniger zu inniger struktureller Vereinigung mit dem Bezugssubstantiv, als dies für heterogene Attribute charakteristisch ist, obwohl die Monoflexion im Frühneuhochdeutschen auch auf Substantivgruppen mit homogenen Attributen einen gewissen Einfluß ausübte; es zeichnete sich also im Frühneuhochdeutschen der Wandel in Richtung auf festere strukturelle Einigung hin auch bei Substantivgruppen mit homogenen Attributen ab. In analoger Weise ließ mit der Zeit die Tendenz zum nur einmaligen Gebrauch einer Endung, eines Suffixes, selbst der zweiten Komponente des Kompositums in kopulativen Verbindungen nach. Bereits im Mittelhochdeutschen kommen sporadisch Formänderungen vor, bei denen nur ein Glied
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Ibid. S. 364.
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einer kopulativen Wortgruppe als Träger der Flexion auftritt, 28 vgl. man und wibes pflegn; richtuom und landes genuoc.29 Das Kasusmerkmal (Genitiv), das durch die Endung eines der zwei kopulativ miteinander verbundenen Wortgruppenglieder bezeichnet ist, gilt der Wortgruppe im ganzen. Derartige Wortgruppen kommen vereinzelt auch später vor, aber im 16.17. Jahrhundert evolutioniert die kopulative, aus syntaktisch parallelen Gliedern bestehende Substantivgruppe in Richtung auf das maximal mögliche Maß struktureller Einigung hin. Als gemeinsame Komponenten der Wortgruppe treten nun nicht nur Kasusendungen, sondern auch wortbildende Elemente, namentlich Suffixe und zweite Teile zusammengesetzter Wörter auf. Bis zum 19. Jahrhundert kann man in der Schriftsprache, in Dichtung und Prosa, auch in der Amtssprache Konstruktionen des Typs Ab- und Irrwege, Kreuz- und Querzüge antreffen, in denen gemeinsame zweite Wortteile wie -wege, -züge die Rolle monoflexivischer Elemente spielen. Die Monoflexion scheint hier den Höhepunkt ihrer Entfaltung erreicht zu haben; zugleich aber ergibt sich daraus eine morphologische Verzahnung paralleler Glieder kopulativer Substantivgruppen, die über die Grenzen des monoflexivischen Systems als solchen hinausgreift. Wortgruppen wie Kreuzund Querzüge; Blumen-, Frucht- und Dornenstücke wären eher als „monosuffixal" oder „monolexikalisch" anzusprechen, was auf die Nähe solcher Bildungen zum Status des Kompositums hinweisen würde. Mit derartigen Wortgruppen sind wir in der Tat zumindest halbwegs im Bereich der Wortzusammensetzung. Der Wortgruppentyp Ab- und Irrwege hat sich in der Sprache nicht durchgesetzt. Behaghel bemerkt, daß dieser Wortgruppentyp „der lebendigen Mundart ... kaum jemals angehört" hat.30 Für die Entwicklung des deutschen Sprachbaus sind im großen und ganzen nicht solche Zwitterbildungen charakteristisch, die an der Grenze zwischen monoflexivischer Wortgruppe und Kompositum stehen, sondern die entsprechenden Phänomene in ihren spezifischen Ausgestaltungen, in ihrer jeweils historisch bedingten Bestimmtheit. Mangelnde Beständigkeit der „Ersparung" zweiter Elemente von suffixalen Ableitungen und von Zusammensetzungen zeugt davon, daß die Tendenz zur Zusammenziehung gleichartiger Satzglieder keine wesentliche Bedeutung für das deutsche Sprachsystem hat; es überwiegt die Tendenz zur deutlichen Abhebung einzelner gleichartiger Satzglieder von ihrer syntaktischen Umgebung - im Gegensatz zur Behandlung von kopulativen Reihen ungleichartiger Satzglieder.
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Dies ist nicht nur bei Substantiven, sondern auch bei anderen Wortklassen, in erster Linie bei Adjektiven, zu beobachten; vgl. B e h a g h e l , O.: Deutsche Syntax. Bd. III. Heidelberg 1928. S. 356ff. B e h a g h e l , O.: Deutsche Syntax. Bd. I. S. 164; d e r s . : Deutsche Syntax. Bd. III. S. 364. Ibid. S. 365. Doch muß man daraufhinweisen, daß diese Konstruktionsart sowohl im 19. wie auch im 20. Jahrhundert nicht selten gebraucht wird, wobei es sich durchaus nicht nur um archaisierende Sprachstile handelt; vgl. des Manufaktur-,
Handwerks- oder Hausbetriebs (K.Marx).
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Wie bereits oben ausgeführt wurde, ist die Differenzierung starker und schwacher Adjektivdeklination auf dem Wege allmählicher Umdeutung der ursprünglichen Unterscheidungsgrundlage erfolgt, ohne daß dabei an der äußeren, „mechanischen" Regelung der betreffenden Korrelationen etwas geändert wurde. Die Monoflexion erwächst gleichsam unmerklich und in organischer Weise aus älteren Formen, die für sie die notwendigen Voraussetzungen bereitgestellt haben. Herangereift waren für die Monoflexion die Hauptregularitäten des Gebrauchs schwacher adjektivischer Formen schon im Althochdeutschen. Die Herausbildung der Monoflexion in der Substantivgruppe durch wechselnden Gebrauch adjektivischer Flexionsendungen in Abhängigkeit von der Form anderer abhängiger Wortgruppenglieder war der erste und der elementarste Schritt auf dem Weg zur Verfestigung der Monoflexion als wesentlichen Prinzips struktureller Organisation der Substantivgruppe. Es ist anzunehmen, daß eben die monoflexivischen Verhältnisse dieses Typs, die schon gewissermaßen ausgereift waren, die Basis für einige später entstehende kompliziertere Arten der Monoflexion abgegeben haben. Natürlich können in manchen Fällen auch ganz andere konkrete lexikalische oder grammatische Voraussetzungen die ausschlaggebende Rolle gespielt haben, aber die primären bereits mehr oder weniger „festgewordenen" elementaren Formen der Monoflexion müssen ihren Beitrag zum Aufkommen und Üblichwerden auch dieser späteren Erscheinungsformen der Monoflexion geleistet haben. Auf die Herausbildung der Monoflexion vermittels des Wechsels starker und schwacher Flexionsendungen des attributiven Adjektivs in Abhängigkeit von den Formen anderer dem Substantivgruppenkern untergeordneter kongruierender Wortgruppenglieder folgte unmittelbar die Veränderung der starken adjektivischen Flexionsendung im Gen. Sg. Mask, und Neutr. Die geschichtlich durch das System der starken Adjektivdeklination bedingte Endung hatte hier die Lautform -es, die mit der in diesem Fall auftretenden Endung der pronominalen Deklination (vgl. des, dieses) zusammenfällt. Im Althochdeutschen findet sich hier (bei den α-Stämmen) die Form blintes, im Mittelhochdeutschen respektive blindes. In der Gegenwartssprache tritt an die Stelle der Endung -es die Endung -en (blinden), die mit der entsprechenden Endung der schwachen Adjektivdeklination übereinstimmt. Gebräuchlich sind die Wortgruppenformen leichten Schrittes und nicht leichtes Schrittes, reinen Herzens und nicht reines Herzens, obwohl vereinzelt Schwankungen vorkommen und sich die alte Flexionsendung in einigen „festen" Ausdrücken zu erkennen gibt, vgl. zum Beispiel geradeswegs. Die Form auf -en beginnt gegen Ende der frühneuhochdeutschen Periode Norm zu werden; endgültig wird sie zur Norm in allen funktionalen Sprachstilen erst im 18. Jahrhundert, eigentlich in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts. Behaghel schreibt: „Im weitern Verlauf des 18. Jahrh. ist der Sieg der schwachen Form entschieden ,.." 31 Seltene Beispiele solcher Formen sind selbst im Althochdeutschen und im Mittelhochdeutschen zu finden; Behaghel führt drei Belege an: ahd. mit alten nides willen (Ο IV 23, 22); spätmhd. ein wenig schoenen brotes (Ein buch von guter speise, 17); grüenen speckes ge31
Β e h ag h e 1, O.: Deutsche Syntax. Bd. I. S. 183.
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nuc (ibid. 27).32 Aber auch im 15. und 16. Jahrhundert kommt die schwache Form nur äußerst sporadisch vor. Behaghel hat bei Luther nur zwei solche Fälle gefunden. Schottel spiegelt in seinem Werk die Übergangsphase wider. Er geht davon aus, daß bei fehlendem Artikel das Adjektiv die Endung des Artikels übernimmt, und dieser Satz gilt bei ihm auch für den Gen. Sg. Mask, und Neutr. Sein Beispiel gutes Mutes seyn (für „eines gutes Mutes seyn") kommentiert er folgendermaßen: „Hier wird das Geschlechtswort eines übergangen und letzter Buchstab hinten an das folgende Nennwort gutes gehenget."33 indessen liegt in Beispielen, die Schottel nicht im Zusammenhang mit dem Thema der adjektivischen Deklination anfuhrt, vielfach der Gebrauch schwacher Adjektivendungen vor. So findet man neben gräfliches Geschlechts auch obgehörten Falles, neben anerkanntes Rechtes auch eußersten Notfalls,34 Schottel zitiert an einer Stelle den Sinnspruch Es ist besser heßlicher Gestalt als heßlichen Gemüthes seyn, in dem die Form heßlichen Gemüthes mit der heutigen Norm völlig übereinstimmt. Die Grammatiken des Deutschen bestanden vielfach bis ins 19. Jahrhundert hinein darauf, daß man im vorhin erörterten Fall die starke Adjektivform gebrauchen muß. Heyse macht die Bemerkung, daß viele Schriftsteller im Fall des fehlenden Artikels das Adjektiv im Gen. Sg. Mask, und Neutr. mit der Endung -en versehen, wie dies auch in der Alltagssprache üblich geworden ist, und betont hingegen, daß die Endung -es dessenungeachtet die einzig richtige ist; richtig ist also gutes Weines, frohes Mutest Man hat versucht, das Vordringen der schwachen Endung mit der Annahme zu erklären, dafür sei die Tendenz zur phonetischen Dissimilation verantwortlich, die die gegen den Wohllaut verstoßende Wiederholung des Wortauslauts -s - beim Adjektiv und beim Substantiv - betraf.36 Behaghel schreibt: „Die Ursache des Wandels ist dunkel; man hat Dissimilation vermutet. Es könnte aber vielleicht Einfluß von Ausdrücken mit unbestimmtem Artikel vorliegen: Wyle 228, 13 belaib aines vesten vnzitternden gemütes,"37 Der gewöhnlich artikellosen Wortgruppe (des Typs fröhlichen gemütes) geht hier der unbestimmte Artikel voran. Behaghel fügt an dieser Stelle hinzu, daß derartige Beispiele eine Seltenheit sind. Paul betrachtet die schwache adjektivische Endung im Zusammenhang mit dem Ausdruck der Kasusbedeutung: „Vor einem Gen. Sg. M. oder Ntr. nach starker Flexion, wo das Gen.-Verhältnis am Subst. deutlich ausgeprägt ist, hat sich die schwache Form neben der starken eingedrängt und das Übergewicht
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36 37
Ibid. S. 182. S c h o t t e l i u s , J.G.: Ausfuhrliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache. Braunschweig 1663. S. 701. Vgl. J e 11 i η e k , M.H.: Op. cit. S. 385-386. S c h o t t e l i u s , J.G.: Op. cit. S. 716. H e y s e , J.Chr.A.: Theoretisch-praktische deutsche Grammatik. Bd. I. Hannover 1838. S. 597. W e t z e l , E. undF.:Op. cit. S. 117. B e h a g h e l , O.: Deutsche Syntax. Bd. l.S. 183.
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erhalten ,.." 3 8 Paul erkennt somit die entscheidende Rolle der Substantivgruppe im ganzen fur die Wahl der schwachen Adjektivform. In der sowjetischen Germanistik hat die schwache Adjektivform in den Wortgruppen des Typs frohen Mutes eine Erklärung gefunden, die aus der Entbehrlichkeit des genitivischen -s unter den umschriebenen Umständen ausgeht, da hier das Substantiv selbst gemeinhin Träger eines deutlichen kasusanzeigenden Formans ist, das die syntaktische Funktion der ganzen Substantivgruppe anzeigt. Aber die Hinweise darauf, die man in unserer Fachliteratur finden kann, haben einen ausgesprochen summarischen Charakter und beschränken sich auf Formulierungen ganz allgemeiner Art. 39 Einer Erklärung bedarf vor allem die Fähigkeit des maskulinen bzw. neutralen Substantivs, den Gen. Sg. durch eine eigene Form zu bezeichnen, da ja die Substantive schwacher Deklination kein deutliches Formans für diesen Kasus haben. Die schwachen Maskulina, die, wenn man zahlreiche schwach deklinierte Fremdwörter in Rechnung stellt, eine beträchtliche Subklasse bilden, haben im Gen. Sg. die Endung -(e)n, und die gleiche Endung haben alle obliquen Kasus im Singular und alle Kasus im Plural. Die Wortgruppe alten Genossen könnte den Gen. Sg. keinesfalls ausdrücken, man würde sie für kasuell neutral halten oder bestenfalls als Akk. Sg. bzw. als Dat. PI. auffassen, denn zu diesen Kasus paßt die Endung -en, die den gleichen Endungen des Artikels entspricht und den betreffenden Fällen starker Deklination der Adjektive rechtens zukommt. Der Widerspruch wird dank dem Umstand aufgehoben, daß die schwachen Maskulina nicht - oder nur äußerst selten - ohne Artikel (bzw. ohne ein den Artikel „ersetzendes" Wort) gebraucht werden. Den artikellosen Gebrauch verbietet ihre spezifische lexikalische Semantik, sie bezeichnen nämlich Lebewesen, Personen oder Tiere, und Substantive mit dieser Bedeutung treten regelmäßig mit einem Artikel oder Pronomen auf, die die konkrete Bedeutung des Substantivs im Satz im individualisierenden bzw. im generalisierenden Sinne vorstellen (ohne Artikel können diese Substantive unter bestimmten Bedingungen als Prädikativ verwendet werden, dieser Funktion entspricht allerdings der Nominativ, vgl. Er ist Student). Folglich handelt es sich im Gen. Sg. bei artikellosen Fügungen praktisch ausschließlich um starke Maskulina, so daß die monoflexivische Kasusbezeichnung am Substantiv auf keine Hindernisse stößt. Man kann in diesem Zusammenhang annehmen, daß der Übergang einiger Substantive, die keine Lebewesen bezeichnen, von der schwachen zur starken Deklination gewissermaßen dadurch stimuliert wurde, daß sie in bestimmten Fällen im Gen. Sg. ohne Artikel bzw. Pronomen gebraucht wurden und daß dabei das Bedürfnis entstand, das Substantiv mit einem eindeutigen Kasuszeichen zu versehen. Diese Annahme könnte meiner Meinung nach u. a. der Erklärung der morphologischen Entwicklung des Substantivs Herz dienlich sein, das ein schwaches Neutrum war, aber im Gen. Sg. im Auslaut der Flexions38 39
P a u l , H.: Op. cit. S. 102. 3nH,aep, Jl.P., C i p o e e a - C o i t o j i b C K a a , T.B.: CoBpeMeHHbifi HeiueuKHH H3biK. 2 - e n3ÄaHHe. M o c K B a 1 9 4 1 . S .
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endung ein zusätzliches -s erhielt: Herzens. Dieses Substantiv wird nämlich sehr oft in Begleitung eines Adjektivs und dabei ohne Artikel als adverbiale Bestimmung gebraucht, vgl. leichten Herzens, schweren Herzens u. ä. Vor dem Hintergrund der Tendenz, die Monoflexion in Wortgruppen dieser Art dem Substantiv vorzubehalten, mußte die schwache Form des Genitivs Herzen als Ausnahme empfunden werden, was zum Aufkommen der Form Herzens führte. Das verhältnismäßig frühe Aufkommen der Form Herzens kann nicht als Gegenargument gelten, denn die Tendenz zum Gebrauch der schwachen Form des Adjektivs in Substantivgruppen, um die es sich hier handelt, bekundet sich schon im 17. Jahrhundert deutlich genug, und Schwankungen zwischen den Formen Herzen und Herzens im Gen. Sg. sind im 16. und 17. Jahrhundert zu verzeichnen (sie kommen episodisch sogar im 19. Jahrhundert vor).40 Die Eigenart des vorhin erläuterten Falles besteht darin, daß hier der Wortgruppenkern, das Substantiv selbst, zum Träger der Monoflexion wurde, wogegen im allgemeinen diese Rolle die abhängigen Substantivgruppenglieder übernahmen - während die Fähigkeit des Substantivs, seine grammatischen Kategorien durch eigene Flexionsendungen, insbesondere durch grammatisch eindeutige Endungen, im Verlauf der Sprachgeschichte merklich abnahm. Der „neutrale" Charakter der adjektivischen Flexionsendung wird im besprochenen Fall durch das monoflexivische Formans des Substantivs aufgewogen. Diesem Sonderfall liegt also das Vorhandensein eines deutlichen Kasusformans zugrunde, das sich mit den starken Maskulina und Neutra im Gen. Sg. verknüpft. Beim Hinweis darauf handelt es sich aber nur um die Morphologie, und dies kann wohl noch nicht als eine erschöpfende Erklärung gelten. Es stellt sich ferner die Frage, warum die substantivische Endung -es der weitgreifenden allgemeinen Tendenz zur Abschaffung der Substantivflexion widerstanden hat. Freilich muß man berücksichtigen, daß durch die Wirkung phonetischer Gesetze der germanischen Sprachen das Flexions-s nicht getilgt zu werden brauchte. Aber bezeichnenderweise wurde der Genitiv in vielen deutschen Dialekten überhaupt völlig verdrängt. Es liegt die Annahme nahe, daß für die Bewahrung der substantivischen Genitivform in der deutschen Nationalsprache sowie dafür, daß diese Form bei monoflexivischer Gestaltung der Substantivgruppe eine so wichtige Rolle spielt, der Umstand verantwortlich ist, daß sich der Genitiv im Zuge der Sprachentwicklung immer mehr auf die syntaktische Funktion des Attributs spezialisierte, d. h. daß dieser Kasus am häufigsten der Kasus des Substantivs ist, das - unmittelbar, ohne Präposition - einem anderen Substantiv als dessen Attribut untergeordnet wird, um die grammatische Bedeutung der Zugehörigkeit (im weitesten Sinne des Terminus) auszudrücken. Die in einer solchen Fügung entstehende Notwendigkeit, das Hauptglied (den Kern der Gruppe) und das von diesem abhängige Glied (das Attribut) formal voneinander zu unterscheiden, erfordert am letzteren ein deutlich ausgeprägtes Formans syntaktischer Abhängigkeit, zumal in der attributiven Position dieser Art oft Substantive stehen, die in der Regel ohne Artikel gebraucht werden, vor allem Eigennamen („genitivus auctoris" 40
P a u l , H.: Deutsche Grammatik. Bd. II. Halle (Saale) 1954 [' 1917]. S. 40.
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u. dgl.). Bezeichnenderweise sind im Englischen trotz allgemeiner Abschaffung substantivischer Flexion Erscheinungsformen des „possessive case" erhalten geblieben, eines Kasus, der meist in Substantivgruppen gebraucht wird, in denen ein Eigenname als Attribut auftritt. Der Genitiv ist der einzige Kasus, den auch einige andere germanische Sprachen, nämlich Schwedisch, Norwegisch und Dänisch, bewahrt haben. Man kann also schlußfolgem, daß die syntaktische Hauptfunktion des Genitivs als abhängigen Substantivgruppengliedes, das die Beziehung der Zugehörigkeit ausdrückt, die Widerstandskraft der substantivischen Genitivform gegen die Reduktion der Flexion und die Dauerhaftigkeit dieser Kasusform bedingt, was u. a. zur Folge hat, daß auch der genitivische Substantivgruppenkern die Rolle des Trägers der Monoflexion in artikellosen Wortgruppen mit attributivem Adjektiv spielt.
III Die grammatische Monoflexion beschränkt sich nicht auf Substantivgruppen mit attributivem Adjektiv. Die Monoflexion ist auch in Substantivgruppen wirksam, die Eigennamen darstellen und nur aus Substantiven bestehen. Es handelt sich in diesem Fall um Eigennamen, zu denen Bestimmungen hinzutreten, die mit den Eigennamen kongruieren und entweder selbst Eigennamen (besonders häufig in Verbindungen eines Vornamens mit einem Nachnamen) oder Bezeichnungen eines Berufs, einer Amtswürde, eines Titels u. dgl. sind. In Substantivgruppen dieser Art ist eine Variabilität der Flexion beobachtbar, die in die Richtung der Monoflexion weist. Soweit wir urteilen können, gibt es in der Fachliteratur keine Hinweise auf die Affinität zwischen derartigen Phänomenen und der Monoflexion in ihren oben betrachteten Erscheinungsformen. Die Analyse dieser Wortgruppenstruktur wird dadurch erschwert, daß deren Glieder, der Gruppenkern und das den Kern bestimmende Wort, mitunter eine so enge gegenseitige Verbindung eingehen, daß die Gruppe wie ein zusammengesetztes Wort wirkt. Die Nähe solcher Substantivgruppen zum Kompositum ist nicht nur für die deutsche Sprache charakteristisch. Nach Peäkovskij sind russiche Fügungen des Typs KHH3b-rpueopuK>, KHX3b-fJempa (Gribojedov), y nemp-Memoema Komposita.41 Die Umwandlung der Wortgruppe in eine geschlossene Einheit, wodurch Veränderungen der Form ihrer Bestandteile bewirkt werden, hat gleichzeitig einen diffusen Charakter der Beziehung zwischen diesen Bestandteilen zur Folge: In vielen Fällen wird es un41
n e u i K O B C K H i i , A.M.: PyccKMö chht^kchc β HayiHOM ocBemeHHH. 6-oe mjx&HHe. MocKBa 1938. S. 3 0 6 - 3 0 7 . [Der erste der russischen Belege könnte annähernd durch die Form (dem) Fürst-Gregor wiedergegeben werden, der zweite durch die Form Fürst-Peters (Fürst beide Male in der Nennform; der Artikel deutet - im ersten Fall - die Kasusform des russischen Ausdrucks an); die dritte Fügung stellt eine Zusammenrückung zweier Eigennamen, eines Vornamens und eines „Vaternamens" (mit der Präposition y 'bei'), dar, bei der das erste Glied ebenfalls die mit dem Nominativ zusammenfallende Nennform aufweist.]
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klar, welches Glied der Fügung ihr Kern und welches das abhängige Nebenglied ist. Beispielsweise kann man bei der Analyse des Satzes Karl Müller kommt nicht ohne weiteres definitiv sagen, welches von den Gliedern der Wortgruppe Karl Müller das bestimmende und welches das „zu bestimmende" ist. Die Gruppe Karl Müller erweist sich als ganzheitliche Einheit, als morphologisch-syntaktischer Komplex, dessen Komponenten erst dann syntaktisch hierarchisiert werden können, wenn eine logische Betonung hinzukommt, die imstande ist, einen Hinweis auf die Unterordnung eines der Glieder unter das andere zu geben. So wird 'Karl Müller bedeuten, daß es sich um Karl im Gegensatz zu Hans oder Ernst Müller handelt, und Karl tritt dann als Attribut zu Müller auf, wogegen es im Fall Karl 'Müller daran liegt, daß man Karl Müller von anderen Personen unterscheiden muß, die alle Karl heißen, aber andere Nachnamen haben, und das Attribut ist dann Müller. Am häufigsten aber wird zwischen den Gliedern solcher Substantivgruppen in dieser Weise nicht differenziert, und die Gruppe erfüllt ihre Bezeichnungsfunktion in bezug auf eine Person als eine kaum auflösbare Ganzheit. Allerdings wäre es grundsätzlich irrig, zu behaupten, die Substantivgruppen oben charakterisierter Art seien im Deutschen zusammengesetzte Wörter geworden. Schon der Umstand, daß in diesen Wortgruppen die attributive Beziehung einer Komponente zur anderen im Bedarfsfall ohne weiteres zum Ausdruck gebracht werden kann, zeugt davon, daß wir es hier nicht mit Zusammensetzungen zu tun haben. Hinzu kommt als wesentliches Moment, daß zum ersten die Monoflexion in solchen Substantivgruppen, wie wir im weiteren sehen werden, nicht völlig durchgeführt ist und daß zum zweiten das monoflexivische Formans durchaus nicht immer mit dem letzten Glied der Wortgruppe verknüpft wird. Wenn sich die Substantivgruppe mit einem Eigennamen als ihrem Mittelpunkt im Deutschen auch irgendwie dem Bereich der Wortzusammensetzung nähert und dies zur grammatischen Konsolidierung der Substantivgruppe beiträgt, so mündet diese Entwicklung dennoch nicht im Kompositum, sondern - in vollem Einklang mit der allgemeinen Richtung der Entwicklung des deutschen Sprachbaus - in eine Sonderform des Wortgruppenbereichs, die sich auf monoflexivischer Basis den grundlegenden Eigenschaften der deutschen Satzstruktur anpaßt. Umfangreiches und mannigfaltiges sprachliches Material, das mit der Entwicklung der syntaktischen Gruppe des Eigennamens bzw. der Bildungen zusammenhängt, die solchen Wortgruppen analog sind (des Typs Herr Professor), bietet die Möglichkeit, die grundsätzlichen Momente dieser Entwicklung zu erörtern. Ursprünglich wiesen solche Wortgruppen keinerlei spezifische Besonderheiten auf; dies bedeutet, daß jedes Glied der Wortgruppe die Kasusform annahm, die der Kasusbedeutung der Gruppe im ganzen entsprach; vgl. got. Teibairiaus kaisaris. Erst im 12. Jahrhundert sind einzelne Wortgruppen zu beobachten, in denen der dem Eigennamen vorausgehende Titel - unabhängig vom Vorhandensein oder Fehlen des Artikels - endungslos ist, vgl. des kuninc Karies; kaiser Ludewigs.42 42
Β eh agh e 1, O.: Deutsche Syntax. Bd. I. S. 159.
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Im Anfang betrifft die monoflexivische Tendenz nur starke Substantive. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts finden sich die ersten Vorkommen der Monoflexion in der Wortgruppe des Typs Vorname - Nachname: Cunrad Smydes, Heinrich Melmingers.43 Etwas später greift die Monoflexion auf schwache Substantive, zuerst auf Titel, vom Ende des 15. Jahrhunderts an auch auf Personennamen, über. Allmählich kompliziert sich die Anwendung der Monoflexion auf diese Art Substantivgruppen. Steigende Bedeutung erlangt die ganzheitliche Wortgruppenstruktur, vor allem das Vorhandensein zusätzlicher Elemente, die Flexionsträger sind, nämlich des Artikels bzw. eines dem Artikel „äquivalenten" Wortes. Es entstehen verschiedene Strukturvarianten. Am seltensten fehlen bei der Verwendung des Artikels die Flexionsendungen beider substantivischen Wortgruppenglieder: des König Dagobert;44 Memorial des Philipp Neri (Goethe), des Kardinal Viskonti (Goethe). Üblicherweise wird das erste Glied (Titel, Berufs- bzw. Amtsbezeichnung) flektiert, das zweite ist dabei endungslos: Des Kardinals Granvella (Schiller). Aber die umgekehrte Flexionssetzung kommt manchmal auch vor: des Major Walters Onkel (Gutzkow). Wenn der Artikel fehlt, wird gewöhnlich das zweite Glied flektiert, d. h. der Name nach dem Titel usw., bzw. der auf den Vornamen folgende Nachname: Otto Ludwigs Werke; in den Romanen und Novellen Josef Ranks (Gutzkow). Allerdings tendiert das Substantiv Herr, das sehr oft in der Wortgruppe des Eigennamens gebraucht wird, dazu, daß es unabhängig vom Vorhandensein oder Fehlen des Artikels flektiert wird: des Herrn Mayer, Herrn Mayers usw. Noch im 18. Jahrhundert war auch hier die endungslose Form zu verzeichnen, vgl. beispielsweise bei Lessing: Herr Justen, Herr Wernern. Noch komplizierter wird die Sachlage, wenn die Wortgruppe mehr als zwei Glieder enthält, zum Beispiel infolge des Gebrauchs mehrerer Titel. Ein Teil davon bekommt die Kasusendungen, der andere bleibt endungslos. Auf diese Frage können wir hier nicht weiter eingehen, ebenso wenig wie auf die Frage nach dem Charakter der Flexion in der abgesonderten Gruppe des Eigennamens, in der ebenfalls bestimmte Entwicklungen in Richtung auf die Monoflexion hin zu beobachten sind. Die Verteilung der Flexionsendungen in der Wortgruppe des Eigennamens hängt nicht zuletzt von der Wortstellung ab. Wenn die Wortgruppe im Genitiv steht, wird diese Verteilung durch die unmittelbare Nachbarschaft des einen oder anderen Gliedes zum Substantiv, von dem die betreffende genitivische Wortgruppe abhängt, beeinflußt. So ist im bereits angeführten Beleg des Major Walters Onkel die von der Norm abweichende Setzung der Kasusendung mit hoher Wahrscheinlichkeit dadurch bedingt, daß sich der Eigenname unmittelbar an das Substantiv Onkel anschließt. Am offensichtlichsten tritt die Rolle der Wortstellung bei Wortgruppen des Eigennamens mit einem von davor in Erscheinung. Hier sind zwei Varianten der Flexion möglich. Einerseits kann der Vorname flektiert werden, wobei der Nachname ohne Endung auf43 44
Ibid. S. 161. Ibid. S. 160.
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tritt, dieser wird also wie eine echte präpositionale Fügung mit der Bedeutung des Ortes behandelt, vgl. Heinrichs von Veldeke. Andererseits kann gerade das zweite, das präpositional eingeführte Element die Endung bekommen, und dies bedeutet, daß dieses Element lediglich als Teil des Personennamens aufgefaßt wird, vgl. zum Beispiel Heinrich von Kleists. In Schulgrammatiken des Deutschen treffen wir auf die Behauptung, in der die Differenzierung der beiden Wortgruppenformen in Abhängigkeit von der Herkunft der bezeichneten Person gesehen wird, nämlich davon, ob es sich um einen Adligen oder um einen Bürger handelt, dem die Adelswürde verliehen worden ist. Behaghel stellt dagegen fest, daß der Gebrauch dieser Wortgruppentypen in erster Linie durch die Position der Gruppe geregelt wird: Als Flexionsträger erweist sich meist das Wortgruppenglied, das der „syntaktischen Fuge" am nächsten steht, nämlich dem Substantiv, dem die genitivische Wortgruppe des Eigennamens untergeordnet ist,45 vgl. die Werke Heinrichs von Kleist - Heinrich von Kleists Werke. Mitunter treten in Anwesenheit des Artikels beide Wortgruppenglieder ohne Endung auf. Die Spezifik der Monoflexion in der Wortgruppe des Eigennamens besteht darin, daß hier nicht das Adjektiv, sondern das Substantiv seine Flexion variiert. In den vorhin erörterten Fällen der Monoflexion hatten wir allen Grund, das Substantiv - wie auch den Artikel bzw. das Pronomen - als Wortgruppenglied mit beständiger, nicht variabler Flexion zu betrachten; in den zuletzt analysierten Wortgruppen hat diesen Charakter dagegen nur der Artikel, das Substantiv aber tritt bald mit, bald ohne Flexionsendung auf. Vgl. noch einmal: des Kardinal Viskonti und des Kardinals Granvella. In diesem Zusammenhang zeichnet sich ein bemerkenswerter Unterschied zwischen starken und schwachen Substantiven ab. Das starke Substantiv hat zwei Formen, die im Gegensatz zueinander stehen, namentlich die Form mit einer - im Gen. Sg. eindeutigen - Flexionsendung oder die endungslose Form. Die schwachen Substantive können im Gen. Sg. ebenfalls in zwei Formen auftreten; diese Formen verhalten sich aber zueinander ganz anders. Die schwachen Substantive haben im Gen. Sg. eine Flexionsendung, die die Kasusbedeutung nicht anzuzeigen vermag. Ganz im Gegenteil, diese Endung charakterisiert die schwache substantivische Deklination in ganz allgemeiner Weise, wogegen die Form des schwachen Substantivs ohne Endung stets (und eindeutig) den Nom. Sg. anzeigt. Wenn also der Gebrauch der endungslosen Form des starken Substantivs den Effekt kasueller „Neutralität" dieses Wortgruppengliedes zeitigt, so würde die endungslose Form des schwachen Substantivs in gleicher Stellung (zum Beispiel Mensch) gerade dieser „Neutralität" zuwiderlaufen. Im Gegensatz dazu sichert die flektierte Form des schwachen Substantivs, die vom Standpunkt der Kasusbezeichnung aus „nichtssagend" ist, die Wahrung des Prinzips der Kongruenz in der Substantivgruppe, den Ausdruck der syntaktischen Beziehung der Wortgruppenglieder ohne Wiederholung grammatisch ausdrucksfähiger Flexionsendung. In der Wortgruppe Herrn Mayers liegt ebenso wie in der Wortgruppe leichten Herzens grammatische Monoflexion bei lexikalischer Polyflexion vor. Syntaktisch gesehen stehen 45
Ibid. S. 163.
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hier die schwachen Substantive in genauer Parallele zu Adjektiven in schwacher Deklinationsform. Neben echter Monoflexion sind in der Wortgruppe des Eigennamens auch vielfach Übergangserscheinungen beobachtbar. Das insbesondere für das starke Substantiv charakteristische Fehlen spezifischer variabler Flexion, mit deren Hilfe die Kongruenz als solche - ganz allgemein, ohne jegliche Konkretisierung kasueller Bedeutungen - gekennzeichnet werden könnte, fuhrt dazu, daß in dreigliedrigen Wortgruppen recht häufig zwei Wörter mit Kasusformantien versehen sind, vgl. des Professors Schmidt. Ries nimmt als mögliche Ursache dieser Verteilung der Kasuszeichen (im Vergleich mit des Professor Schmidts) an, daß hier die gegenseitige Abgrenzung des Eigennamens und seines Attributs angestrebt und auf diese Weise erreicht wird, denn würde nur der Eigenname selbst die Flexionsendung erhalten, so würde die Wortgruppe als eine so enge Einheit empfanden, daß der Artikel als direkt mit dem zweiten Wortgruppenglied verbunden aufzufassen wäre, nämlich mit dem Eigennamen, für die Eigennamen aber ist eine solche Verbindung durchaus untypisch. Indessen scheint uns hier - neben dem bereits erwähnten Fehlen der spezifischen variablen Flexion starker Substantive - die Tendenz zum Ausdruck der Kongruenz, die dem Bau der Substantivgruppe zugrunde liegt, an abhängigen Gruppengliedern, die Tendenz zur Flektierbarkeit eben dieser Gruppenglieder im allgemeinen, die entscheidende Rolle zu spielen. Wenn aber in der zweigliedrigen Variante der Wortgruppe des Eigennamens - ohne Artikel - das erste Glied endungslos ist, so zeugt dies von einem besonders hohen Grad semantischer Ganzheitlichkeit der Wortgruppe (die meist aus zwei Eigennamen besteht), bei dem es sogar kaum möglich ist, den Wortgruppenkern vom Nebenglied zu unterscheiden. Falls aber in die letztgenannte Variante der Wortgruppenstruktur ein schwaches Substantiv als erstes Glied einbezogen wird, tritt dieses Substantiv in der Regel mit Flexionsendung auf. Der vom Artikel begleitete Eigenname (Personenname) wird im Genitiv ohne Kasusendung gebraucht: des Faust, des Goethe, des Karl.46 Hier ist die Bemerkung angebracht, daß trotz des Fehlens besonderer variabler substantivischer Flexion, die für die monoflexivische Ausgestaltung der Substantivgruppe verwertet werden könnte, gerade die Eigennamen einen sehr „aktiven" Formwechsel an den Tag legen, der dem Variieren der Flexionsendungen des Adjektivs ähnlich ist. Auf der einen Seite werfen die Eigennamen in den Substantivgruppen, die wir hier betrachten, ihre Endungen mit außerordentlicher Leichtigkeit ab; auf der anderen Seite aber stellen sie die einzige substantivische Subklasse dar, die im neueren Deutsch eine verstärkte Tendenz zu morphologischer Markierung des Genitivs aufweist. Unter anderem gehört hierher der Ersatz der Genitivendung der schwachen Eigennamen -en durch die Endung -ens. Einer noch größeren Beliebtheit erfreut sich - nach Sütterlin - der auf den Formen auf -nA1 basierende Genitiv auf -ns zuerst bei männlichen Namen, vgl. Fritzens, Goethens, später aber auch bei weiblichen Namen auf -e, 46
47
S ü t t e r l i n , L.: Die deutsche Sprache der Gegenwart. 3. Aufl. Leipzig 1910. S. 221. Wie die Dativ- oder Akkusativformen des Typs Fritzen, Goethen.
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vgl. Gretens, Gertrudens.4* Bezeichnenderweise ist dies die einzige Subklasse der Feminina, die im Singular, insonderheit im Gen. Sg., flektierbar bleibt. Die Tendenz zur Monoflexion tritt im Frühneuhochdeutschen episodisch in Substantivgruppen in Erscheinung, die keine Eigennamen beinhalten. Das Genitiv-j fehlt ab und zu, wenn der Substantivstamm (bzw. die Nennform des Substantivs) auf den Laut -s bzw. auf -ts oder ähnlich endet und dem Substantiv ein Artikel, der den Kasus kennzeichnet, vorangeht, vgl. des obsz, des edlen Hürsch. In selteneren Fällen fehlt das Genitiv-s auch unabhängig vom Charakter des Auslauts des Substantivstamms, aber immer in Anwesenheit eines anderen Wortes mit genitivischer Flexionsendung, gemeinhin des Artikels, vgl. des alten Zwerg, eines Mädchen u. ä.49 Auf den früheren Entwicklungsstufen des Deutschen hat es diese Tendenz nicht gegeben. Ganz im Gegenteil, die substantivische Subklasse der r-Stämme, die ursprünglich überhaupt kaum flektiert wurde, erlangte mit der Zeit die Kasusflexion, die nach und nach ganz stabil wurde, vgl. mhd. des bruoder und nhd. des Bruders. Fest steht, daß das Vordringen der Monoflexion in das System des Substantivs auf dem Wege variabler morphologischer Formgebung im substantivischen Bereich - erst im Frühneuhochdeutschen begonnen hat. Dem Charakter monoflexivischer Entwicklung nähert sich der Wandel des alten partitiven Genitivs in der Substantivgruppe. Das 18. Jahrhundert ist die Zeit, als der Übergang von den älteren Wortgruppenformen wie ein Stück Brotes, ein Becher Weines, in denen die Maßbezeichnung die Rolle des Gruppenkerns spielt und der mit diesem Maß gemessene Stoff durch den Genitiv bezeichnet wird, zu den Wortgruppenformen des Typs ein Stück Brot, ein Becher Wein abgeschlossen wurde, in denen die Stoffbezeichnung eine unveränderliche Sonderform hat, die mit dem Nominativ zusammenfällt. So nimmt diese Wortgruppe die Form eines Stückes Brot, eines Bechers Wein an, wenn sie ganzheitlich im Genitiv steht, dabei hat das erste Glied die Flexionsendung, das zweite aber bekommt keine. Sütterlin stellt die Hypothese auf, im Deutschen habe sich - wie in einigen anderen Sprachen (dem Englischen, Französischen, Hebräischen) - ein besonderer Kasus entwickelt, der „Gemeinschaftskasus", der da aufkommt, wo die Kasusform verwischt wird und die Kasusbeziehungen selbst ins Wanken geraten. 50 Aber aus der Sicht der Haupttendenzen historischer Entwicklung der Substantivgruppe läßt sich die oben angesprochene Art der Substantivgruppen vollkommen in das monoflexivische System (mit der Flexionsendung am ersten Glied der Gruppe) einordnen. Die Entwicklung dieser Substantivgruppenart ist mit einer Umdeutung syntaktischer Beziehungen der Wortgruppenglieder zueinander verbunden: Zum Wortgruppenkern wird das zweite Glied, während früher das erste Glied, die Maßbezeichnung, der Kern der Wortgruppe war. Auf diese Weise reihen sich die Maß-Stoff-Gruppen in die monoflexivischen Strukturen ein, sie treten in Parallele vor allem zu adjektivischen Wortgruppen des dreigliedrigen Typs „Artikel - Adjektiv - Substantiv" (vgl. 48 49 50
S ü 11 e r I i η , L.: Die deutsche Sprache der Gegenwart. S. 220. Ibid. Ibid. S. 190.
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im Dativ einem alten Freund), in denen das Kernsubstantiv am sparsamsten flektiert wird. Die Umdeutung der Beziehung von Maß und Stoff, die eine der Varianten der Zugehörigkeitsbeziehung darstellt, und somit eine Annäherung der MaßStoff-Beziehung - ihrer Ausdrucksform nach - an die Grundbeziehung zwischen den Komponenten kongruierender Strukturen, nämlich an die Identitätsbeziehung, ist nicht der einzige Fall der Umdeutung von Substantivgruppenformen, die diese Formen in die Nähe monoflexivischer Strukturen bringt. Es kommen u. a. Formen des Typs Fall Harnack, Papyrus Ebers, Ministerium Bethmann-Hollweg u. ä. auf,51 in denen wiederum das erste Element flektiert wird und das zweite keine Kasuszeichen aufweist. Hier ist es unmöglich, die nicht an der Oberfläche liegende Vorgeschichte und die semantischsyntaktische Natur solcher Wortgruppen ausführlich zu erörtern, und ich beschränke mich auf den Hinweis, daß sie eine Neuerscheinung im Sprachsystem darstellen und daß es übrigens kaum zu erwarten ist, daß sie allein aus der Tendenz zur Monoflexion in der Substantivgruppe erklärt werden können.52
IV Die Verbreitung der mannigfaltigen Erscheinungsformen der Monoflexion in der Substantivgruppe steht unverkennbar in unmittelbarem Zusammenhang mit den Grundtendenzen eigengesetzlicher Entwicklung des deutschen Sprachbaus. Ein Versuch, dieses Phänomen auf breiter geschichtlicher Basis mit solchen Tendenzen zu verbinden, wurde von Zirmunskij unternommen. Er bringt nämlich das für die Substantivgruppe gemeinsame Kasusformans in Verbindung mit der „Rahmen"-Bildung, die die Wortstellung in der Substantivgruppe charakterisiert. Zirmunskij betrachtet die Rahmenkonstruktion als eine der Erscheinungsweisen der Tendenzen „zu syntaktischer Synthese, die autonom gewordene Elemente des auf analytischem Prinzip basierenden Satzbaus zusammenzieht", wobei „die Entwicklung der syntaktischen Struktur der deutschen Gegenwartssprache durch den Kampf zwischen Analyse und Synthese bestimmt wird." 53 Aber die grundlegende Besonderheit des Gebrauchs der Deklinationsformen in der Substantivgruppe besteht darin, daß hier nicht das analytische und das synthetische Prinzip einander unmittelbar gegenüberstehen, sondern es sich um syntaktisch nicht gleichwertige Flexionsendungen handelt. Fehlerhaft scheint im Grunde die direkte Gegenüberstellung neuer synthetischer Tendenzen (in der Wortstellung, in der Gestaltung syntaktischer Gruppen) und analytischer Tendenzen als eines Gegengewichtes zu synthetischen Tendenzen, als eines Faktors, der die durch Verdrängung der Flexion entstehenden Lücken im grammatischen Bau wettmacht. 51 52 53
Ibid. S. 319. Vgl. R i e s , J . : O p . cit. S. 70. iHpMyHCKHÜ, B.M.: Op. cit. S. 401.
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Vor allem ergibt sich eine solche Deutung synthetischer Tendenzen aus der extremen Überbewertung von Entwicklungen analytischer Art in der deutschen Literatursprache und überhaupt aus der absolut unhaltbaren „Konzeption" von den Vorzügen der Sprachen analytischer Bauart, aus einer Theorie also, die von den reaktionärsten Vertretern ausländischer Sprachwissenschaft aufgestellt wurde (und auch unter ausgesprochen unwissenschaftlichen theoretischen Konstruktionen von Marr auftaucht). Die Beleuchtung synthetischer Tendenzen im Deutschen als Gegengewichtes zur Entwicklung in Richtung auf den analytischen Sprachbau hin steht in krassem Widerspruch zu den Grundzügen sprachlicher Wirklichkeit. Die Flexion bleibt in der gegenwartsdeutschen Schriftsprache in hohem Maße aktuell (man ziehe die finiten Verbformen, die Deklination der Artikel, der Pronomen, des Adjektivs in Betracht). Die Ansicht, von der wir hier sprechen, ist auch insofern irreführend, als in ihr das Wesen und die Funktionen „synthetischer" grammatischer Phänomene verkannt werden. So wurden die Regeln der Wortstellung, die man von dem betreffenden Standpunkt aus als Ergebnis der Ausreifung des analytischen Sprachbaus ausgibt, im Deutschen nicht in der Weise festgelegt, wie sie der Wortstellung in einer Sprache mit wirklich weitgreifender Entfaltung analytischer Eigenschaften entsprechen sollten. Beispielsweise dient im Englischen die Wortstellung vor allem dem Ausdruck logisch-semantischer und grammatischer Beziehungen zwischen Wörtern, die sowohl in selbständigen wie auch in abhängigen Positionen im Satz auftreten. Die Wortstellungsregeln des Deutschen haben einen anderen funktionalen Charakter. Im Vordergrund steht bei der deutschen fixierten Wortstellung nicht die Kennzeichnung logisch-semantischer Beziehungen zwischen den Satzkomponenten, sondern sie wirkt in beträchtlichem Maße geradezu dieser logisch-semantischen Aufgabe entgegen, denn die deutsche Wortstellung erfordert systematisch die Distanzposition, die topologische Trennung semantisch und grammatisch eng zusammengehöriger Wörter. 54 Für die Positionsformen des Satzes im Englischen ist vor allem die Kontaktstellung bestimmter Satzkomponenten charakteristisch, für die Wortstellung im deutschen literatursprachlichen Satz dagegen die Rahmenkonstruktion, die in breitestem Gebrauch ist und sich nicht einmal auf die Wortgruppen beschränkt, sondern auch auf den ganzen Satz angewendet wird. Die Unmöglichkeit, „synthetische" Tendenzen im deutschen Sprachbau aus seinem angeblich konsequenten Wandel zum analytischen Typ herzuleiten, geht unter anderem auch daraus hervor, daß sich diese „synthetischen" Tendenzen in den Bauerndialekten, die die grammatische Analyse weitaus stärker als die Schriftsprache vorangetrieben haben und in denen die Flexion weitgehend abgeschafft ist, am wenigsten erkennen lassen. Natürlich kann man einen gewissen Zusammenhang zwischen dem Aufkommen „synthetischer" Tendenzen im Deutschen sowie grammatischer Formen, deren Erscheinungsweisen diesen Tendenzen angepaßt sind, und bestimmten Verschiebungen analytischer Ausrichtung nicht abstreiten. Dieser Zusammenhang ist aber so kompliziert, daß eine direkte ursächliche Bezie54
A Ä M OH Η , Β.Γ.:
Op. cit.
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hung zwischen dem einen und dem anderen, die sich auf die Eigenschaften der „synthetischen" Formen unmittelbar ausgewirkt hätte, ausgeschlossen ist. Dies muß besonders dann einleuchtend werden, wenn man bedenkt, daß die „synthetischen" Formen (mit diesem Ausdruck sind in erster Linie die Wortstellung und die syntaktischen Einheiten in Form von Wortgruppen gemeint) im Grunde genommen nicht die gleiche Funktion wie die flexivischen Wortformen erfüllen. Mit dem Mittel der Wortstellung werden gemeinhin nicht wie durch die Flexion syntaktische Funktionen der Wörter ausgedrückt (was nicht ausschließt, daß dies in Einzelfällen zutrifft; zum Beispiel trägt die Wortstellung mitunter - nicht als regelmäßig angewandte Norm - zum Ausdruck der Subjekt-Objekt-Beziehung bei). Die Hauptfunktion der Wortstellung in der deutschen Schriftsprache ist struktureller Natur; sie besteht darin, daß der Satz (wie auch die Wortgruppe) mit Hilfe der Wortstellung als innerlich fest zusammengefügte grammatische Einheit gestaltet und somit im Redestrom mit voller Deutlichkeit von anderen syntaktischen Einheiten abgegrenzt wird. Im Zuge der Entwicklung syntaktischer Gruppen, insbesondere der Substantivgruppe, übernimmt allerdings die Wortstellung gewissermaßen eine Hilfsrolle, beispielsweise in einigen Fällen der Kasusbezeichnung, doch gehört der Hauptinhalt dieses historischen Vorgangs einer ganz anderen Dimension an, nämlich der Dimension der strukturellen Organisation des Satzes und der Wortgruppen im Satz, er ist in einem wichtigen Sonderfall auf die Konsolidierung der Substantivgruppe ausgerichtet, wobei zu diesem Zweck mannigfaltige Elemente nominaler Flexion verwertet werden. Ich fasse hier das bereits Ausgeführte kurz zusammen. Was man in bezug auf das Deutsche „synthetische" Tendenzen zu nennen geneigt ist, hatte und hat nicht die Ausrichtung, flexivische Einbußen durch syntaktische Ausdrucksmittel auszugleichen, dies kann nur gelegentliches Nebenprodukt dieser Tendenzen sein. Ihre Leistung besteht darin, daß sie zu straffer Ausgestaltung, innerem Zusammenschluß, deutlicher Differenzierung und Ausgrenzung syntaktischer Hauptgebilde, der Sätze und Wortgruppen, beitragen. Da sie hauptsächlich auf internen Zusammenhalt und formale Gliederung, also auf die Organisation syntaktischer Einheiten ausgerichtet sind, müßte man diese Tendenzen eher als „strukturelle Tendenzen" bezeichnen. Die „strukturellen Tendenzen" sind als eigengesetzliche Phänomene deutscher Sprachentwicklung anzusprechen. Die Herausbildung der Monoflexion in der Substantivgruppe, die zunehmende Konsolidierung der Substantivgruppe überhaupt, stellt eine der wichtigsten Auswirkungen des eigengesetzlichen Wandels des deutschen Sprachbaus dar. Das innere Entwicklungsgesetz, um das es sich hier handelt, geht auf die entfernteste sprachliche Vergangenheit zurück, es wurzelt in gemeingermanischen Regularitäten, die die formale Gliederung der Satzstruktur bzw. der Redekette betrafen, vgl. die Setzung des finiten Verbs an das Satzende. Doch um die mächtige Stärkung des Einflusses der strukturellen Tendenzen auf die deutsche Schriftsprache im Zuge ihrer Herausbildung und normativen Festlegung verstehen zu können, muß man sich der konkreten Sprachgeschichte in ihren Zusammenhängen mit der Sozialgeschichte zuwenden.
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Bekanntlich zeichnet sich die Herausbildung der deutschen Nationalsprache durch bestimmte Besonderheiten aus. Infolge spezifischer Züge der wirtschaftlichen und politischen Geschichte Deutschlands entsteht die deutsche Nationalsprache auf der Basis ostmitteldeutscher Dialekte, wobei schriftlichen Redeformen eine wichtige Rolle in diesem Prozeß zukommt. Die künftige Norm der Nationalsprache findet ihren Niederschlag von Anfang an im Schriftlichen, in der Kanzleisprache, in der Druckersprache usw. Die Rückständigkeit Deutschlands hinsichtlich des allgemeinen Standes industrieller und landwirtschaftlicher Produktion sowie des Innen- und Außenhandels, nicht zuletzt die feudale Zersplitterung des Landes - all das machte die Rolle der schriftlichen Sprachform als des Mittels der Sprachpflege und weiterer Entwicklung des Deutschen als gemeinsamer Sprache der Nation besonders wichtig. Es sei betont, daß der semantische Gehalt der in frühneuhochdeutscher Zeit einen mächtigen Aufschwung erlebenden schriftlichen Sprachformen von Anfang an gemeinhin spezifischen Charakter hatte und recht kompliziert war. Einen besonders starken Einfluß auf die Gestaltung schriftlicher Sprachformen übten die Kanzleien aus, die in ihren Dokumenten umständlich und schwierig zu formulierende Beziehungen zwischen rechtlichen, politischen, diplomatischen u dgl. Begriffen auszudrücken hatten. In staatlichen Urkunden, im diplomatischen Briefwechsel, in Rechtsakten privater Art usw. mußten komplizierte logische Gedankengänge zum Ausdruck gebracht werden, wobei auf die genaue Formulierung ursächlicher Zusammenhänge, auf allerlei Klauseln, Vorbehalte u. dgl. zu achten war. Der schriftsprachliche Stil entfaltete sich unter diesen Umständen. Sein charakteristisches Gepräge bestand in schwer zu entwirrenden Verflechtungen syntaktischer Konstruktionen, üblicherweise auch in der Entfaltung höchst umfänglicher Ganzsatzperioden, die dazu tendierten, alle sich zu einem semantischen Knoten vereinigenden Bedeutungszusammenhänge zu umfassen. Die Urkunden des 14. und 15. Jahrhunderts sind voller solcher Perioden, wobei das ganze Dokument nicht selten einen derartigen Ganzsatz darstellt. Das Bedürfnis, Inhalte dieser Art in adäquater Weise auszudrücken, bedingte die Notwendigkeit, in äußerst schwerfällig aufgebaute, kaum übersichtliche Perioden syntaktische Ordnung zu bringen. Zu den grammatischen Mitteln, die diese Aufgabe zu erfüllen hatten, gehörten neben zahlreichen neu aufkommenden Präpositionen, beiordnenden und unterordnenden Konjunktionen auch strukturelle Mittel, die der Organisation des Satzes und der Wortgruppe als deutlich faßbarer syntaktischer Sprach- und Redeeinheiten dienen. Die Wortstellung gewinnt in dieser Hinsicht immer mehr an Bedeutung. Die Rahmenkonstruktion hilft die Grenzen von Sätzen und Wortgruppen zu markieren sowie die Hauptsätze von den Nebensätzen zu unterscheiden (gerade im Frühneuhochdeutschen verfestigt sich allmählich die besondere Positionsform des Nebensatzes mit dem finiten Verb an letzter Stelle). Hinzu kommt ein festerer innerer Zusammenschluß der Wortgruppen auf der Basis nicht nur des „Rahmens", sondern auch dank gemeinsamer Flexionszeichen. Selbstverständlich wäre es nie zu einer so starken Entwicklung der Satzgestaltungs- bzw. Satzgliederungsmittel gekommen, hätte es nicht sprachliche
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Phänomene gegeben, die als Ausgangsstoff für diese Mittel verwertet werden konnten. Umgearbeitet und auf strukturelle Funktionen umorientiert wurden manche in der Sprache bereits bestehende Verhältnisse und Formen, zum Beispiel die schon im Alt- und Mittelhochdeutschen praktizierte Distanzstellung eng zusammengehörender Satzelemente, stabile Artikelflexion bei voranschreitender Reduktion substantivischer Kasusflexion usw. Bezeichnenderweise war die beträchtliche Entfaltung der Flexion auf den älteren Entwicklungsstufen des Deutschen eine wichtige Voraussetzung für die Erstarkung struktureller Tendenzen im Sprachbau. Es waren gerade die flexivischen Charakteristika vieler grammatischer Wortklassen, u. a. des Verbs in seinen konjugierbaren Formen, des Partizips usw., die die Distanzstellung solcher Formen möglich, den unmittelbaren Kontakt des Satzsubjektes mit dem Prädikat des Satzes zum Ausdruck ihrer Verbindung entbehrlich machten. Aber daß günstige Ausgangsbedingungen für die Entstehung eines hochentwickelten Systems struktureller Mittel in der deutschen Schriftsprache auch verwertet wurden, ist direkt aus dem Vorhandensein dieser Ausgangsbedingungen an sich nicht zu erklären, erklärbar wird der entsprechende historische Vorgang erst dann, wenn man die Anforderungen in Betracht zieht, die konkrete historische Umstände an die Beschaffenheit der deutschen Schriftsprache stellten. Im Prozeß der Entfaltung neuer struktureller Mittel der Schriftsprache kann man zwei Etappen unterscheiden. In der ersten Etappe, die die Zeit vom 14. bis zum 16. Jahrhundert umfaßt, bildet sich die Differenzierung des selbständigen Satzes bzw. des Hauptsatzes auf der einen und des Nebensatzes auf der anderen Seite durch unterschiedliche Wortstellung heraus; in beiden Satztypen wird die Verwendung der Rahmenkonstruktionen üblich; bestimmte Veränderungen schaffen die Grundlage für einen engeren Zusammenschluß syntaktischer Gruppen und für eine deutlichere gegenseitige Unterscheidung der substantivischen und der verbalen Wortgruppe. In der zweiten Etappe, und zwar im 17.-18. Jahrhundert, behauptet die Schriftsprache immer noch die fuhrende Rolle im Prozeß der Herausbildung der deutschen Nationalsprache, aber innerhalb dieser Sprachform gewinnen Werke der schönen Literatur, wissenschaftliche Texte, die Tätigkeit der Grammatiker immer mehr an Einfluß. In dieser Zeit wird die Herausbildung einer straff konsolidierten Substantivgruppenstruktur, die einen hohen Grad semantischer Aufnahmefähigkeit erlangt, ihrem Abschluß zugeführt; es erfolgen weitere Schritte auf die endgültige Ausformung der verbalen Gruppe hin; die Verwendung der Rahmenkonstruktionen im Satz erreicht die Geltung eines „absoluten" Gesetzes. Beide Etappen trennt keine scharf eingezeichnete Grenze voneinander, doch liegt das Schwergewicht in der ersten Etappe auf der Gliederung langatmiger syntaktischer Perioden, auf der deutlichen Abgrenzung von Sätzen, in der zweiten Etappe hingegen verlagert sich das Schwergewicht auf die interne Satzgliederung. Der Wandel in diesem Bereich ist vor allem darauf ausgerichtet, die Aufnahmefähigkeit des einfachen erweiterten Satzes für den semantischen Inhalt nach Möglichkeit auszuweiten. Der Gebrauch neuer struktureller Mittel in der deutschen Literatursprache - und das heißt in jener Zeit in der Schriftsprache - bekam bei seiner ausgesprochen konsequenten Durchführung, die im 18. Jahrhundert ihren Gipfel er-
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reichte, einen etwas einseitigen und übersteigerten Charakter, tendierte dazu, eine mechanisch befolgte Normforderung zu werden, die das Erfassen des Satzes nicht erleichterte, sondern es eher erschwerte. Unter dem Einfluß der den literarischen Normen nachstrebenden - Umgangssprache wurde seit Ende des 18. Jahrhunderts die Verwendung dieser Strukturmittel gewissermaßen eingeschränkt, das Extreme an ihrer Verwendung wurde gemieden. Diese Tendenz, die sehr fortschrittlich ist, kann man in der Sprache von Marx, Engels, Heine beobachten. Sie bedeutete aber keinesfalls den Verzicht auf die Strukturmittel, von denen hier die Rede ist, in der Literatursprache überhaupt. Wenn beispielsweise einige Satzglieder im Hauptsatz (insbesondere präpositionale Objekte) außerhalb des verbal-prädikativen Rahmens zu stehen kommen, bleibt der übrige Bestand des Satzes (durch Adverbien ausgedrückte Bestimmungen des Prädikats, direktes Objekt, pronominale und präpositionslose indirekte Objekte), darunter nicht selten das Satzsubjekt, innerhalb dieses Rahmens. Die syntaktisch-strukturellen Mittel bleiben in der gegenwartsdeutschen Literatursprache voll in Kraft. Die Entwicklung dieser Mittel ist nicht Folge irgendeiner äußeren Einwirkung auf das Deutsche, sondern sie ist ein eigengesetzlicher Vorgang, der sich auf bestimmte bodenständige Voraussetzungen gründete und unter dem Einfluß konkreter historischer Bedingungen verlief, die die deutsche Sprache in neuhochdeutscher Zeit prägten. V Aus der Betrachtung der Monoflexion in der Substantivgruppe des Deutschen ergibt sich nach unserer Meinung der Grund zu einer allgemeineren Fragestellung. Wie Stalin schreibt, bietet die Syntax die Regeln „der Wortfügung im Satz".55 Die Beschaffenheit der Fügungen grammatisch unterschiedlicher Wörter und der Charakter ihrer Beziehungen zum Satz können natürlich nicht uniform sein. Die Untersuchung der betreffenden Unterschiede ist eine wichtige sprachwissenschaftliche Aufgabe. Vom Standpunkt dieser Aufgabe aus ist es nicht gleichgültig, inwieweit man aus dem abhängigen Wort an sich, aus den Elementen seiner Form und aus einem oder mehreren Dienstwörtern, wenn es in Begleitung solcher Wörter auftritt, darauf schließen kann, wie sich das abhängige Wort zum Satz als Ganzem verhält. Zum Beispiel fungiert jedes Adjektiv im Satz - mit Ausnahme des prädikativ gebrauchten, aber auch dies nur bis zu einem gewissen Grade - als (mehr oder weniger autonomes) Attribut eines Substantivs, und das Adjektiv wird zum Bestandteil des Satzes nur über dieses Substantiv, zu dem es in einer logisch-grammatischen Beziehung steht, nur durch dessen Vermittlung. Von großer Bedeutung ist aber, ob das Adjektiv seine morphologisch-syntaktischen „Koordinaten", vor allem seine Zugehörigkeit zur Wortart der Adjektive und den Kasus, ferner möglicherweise auch die Zahl und das Genus, selbst, durch eigene Form zum Ausdruck bringt. Wenn man der Form des Ad55
C τ a JI Μ Η , Η.Β.: MapKCH3M H Bonpocbi Α3Ι>ΙΚΟ3Η3ΗΜΗ. MocKea 1952. S. 23.
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jektivs solche Angaben entnehmen kann, wird dadurch eine unmittelbarere Beziehung des Adjektivs zum Satz hergestellt. Selbstverständlich dient die Adjektivflexion dazu, die Abhängigkeit des Adjektivs von einem bestimmten Substantiv zu kennzeichnen, doch können es die betreffenden Formantien dem Adjektiv auch ermöglichen, seine syntaktische Funktion im Satz selbständig anzuzeigen. Ein solches Adjektiv bleibt vom Substantiv abhängig und betont sogar seine Abhängigkeit vom Substantiv, zugleich aber gewinnt es insofern eine etwas größere Selbständigkeit, als es unabhängig vom Bezugswort seine syntaktische Funktion auszudrücken vermag. Dies bekundet sich in erster Linie darin, daß für das Adjektiv eine freiere Wahl der Stellungen im Satz möglich wird, es kann u. a. vom Bezugssubstantiv getrennt stehen. Welche Stelle im Satz das Adjektiv auch einnimmt, seine Form gestattet es (natürlich nur bis zu einem gewissen Grade) zu erkennen, welchem Satzglied dieses Adjektiv untergeordnet ist, und sie macht selbst die syntaktische Rolle der Wortgruppe erkennbar, zu der das Adjektiv gehört. Obwohl das Adjektiv in eine syntaktische Wortgruppe eingegliedert bleibt, erlangt es dennoch eine gewisse Autonomie im Satz gleichsam „über den K o p f des Substantivs hinweg. Was also die Beziehungen des als abhängige Satzkomponente verwendeten Wortes zum Satz anbetrifft, so liegen strukturelle Unterschiede vor, denn diese Beziehungen finden eventuell im abhängigen Wort selbst einen (nach Maß und Grad differenzierten) Ausdruck. Syntaktischen Strukturen mit einer durch die Wortgruppe vermittelten Beziehung des abhängigen Wortes zum Satz stehen syntaktische Strukturen zur Seite, in denen diese Beziehung mehr oder weniger unmittelbar zum Ausdruck kommt. Man könnte versuchen, den Unterschied terminologisch festzuhalten, und es bieten sich dazu Ausdrücke wie „stufenweise" vs. „direkte" („unmittelbare") bzw. „mediative" vs. „immediative" Struktur an. Zu betonen ist allerdings, daß auch in der direkten, immediativen Struktur die Rolle der Wortgruppe keineswegs nullwertig ist. Das syntaktisch abhängige Wort realisiert seine semantische Aufgabe stets nur als Bestandteil einer bestimmten Wortgruppe, doch kann die Zugehörigkeit des betreffenden Wortes zu „seiner" Wortgruppe anhand dieses Wortes selbst in Erscheinung treten, so daß es gewissermaßen zum Träger wesentlicher Merkmale der Wortgruppe, zum „Repräsentanten" der Wortgruppe im Satz wird und somit, auch isoliert betrachtet, in der Lage ist, seine „Sendung" im Satz erkennbar zu machen. Eine absolut immediative Struktur ist, wie wir sehen, unmöglich. Grundsätzlich fehlerhaft ist die Behauptung von Meillet, im indoeuropäischen Satz sei jedes Wort „durchaus unabhängig", es gebe „an sich seine Bedeutung und seine Rolle in der Rede an".56 Eine absolut immediative Struktur würde in krassem Widerspruch zu grundlegenden allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Sprache stehen, in der notwendigerweise ein syntaktisches System besteht, das die Bestimmung der Hauptglieder des Satzes durch abhängige Glieder vorsieht, und in der die morphologischen Merkmale des Wortes und seine 56
Μ e i 11 e t , Α.: Einführung in die vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen. Leipzig u. Berlin 1909. S. 218, 220 [s. Fußn. 3 auf S. 39].
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syntaktische Funktion keinesfalls in einem eineindeutigen Verhältnis zueinander stehen. Möglich ist aber eine bedeutende Annäherung an das Prinzip absoluter immediativer Struktur, bei der der Wortgruppe vornehmlich die Funktion zukommt, die logisch-semantische Seite der Beziehung ihrer Glieder erkennen zu lassen, während die strukturell-grammatische Seite dieser Beziehung mit ausreichender Deutlichkeit aus der Form des abhängigen Gliedes der Wortgruppe an sich einsichtig ist. Am zutreffendsten wäre wohl die Behauptung, es gebe vielfältige Grenzfälle, mannigfache Übergangsformen, die nie absolut immediativ sind noch sein können. Eine andere Bewandtnis hat es mit Wortklassen und Klassen von Wortformen, die als selbständige Satzglieder auftreten. Sie sind im Satz gleichsam eigenständig und neigen dazu, ihre semantischen Beziehungen zum Satz als Ganzem unmittelbar, „aus sich heraus", zu kennzeichnen. Für Wörter, die selbständige Stellungen im Satz behaupten, scheint die immediative Struktur nicht nur möglich, sondern direkt natürlich zu sein. Doch kann das Erfassen der syntaktischen Funktion des betreffenden Wortes je nach konkreten Eigenschaften des gegebenen Sprachsystems nur unter Beachtung bestimmter Beziehungen dieses Wortes zu anderen Satzkomponenten gelingen. Beispiele „unmittelbarer", immediativer Strukturen, die die Verhältnisse um abhängige Satzglieder bestimmen, kann man in vielen Sprachen finden. Ich beschränke mich auf das Russische. Das Adjektiv in der Wortgruppe nepyKomeopHbiü naMRmHUK ['nichthandgearbeitetes Denkmal'] weist sich eben als Adjektiv mit Hilfe eines speziellen Suffixes [-«-] aus, hat aber zugleich die gleichen morphologischen Bedeutungen wie das Bezugssubstantiv, nämlich dieselben konkreten Bedeutungen des Genus, Kasus und Numerus. So ist das Adjektiv in dieser Form in der Lage, im gleichen Maße wie das Substantiv die syntaktische Funktion der Wortgruppe zu kennzeichnen. Deshalb kann es, wenn die Aussage in besonderer Weise gefühlsbetont ist und sich dies auf ihre rhythmische Gestaltung auswirkt oder wenn die grammatisch-semantischen Beziehungen etwas abgeändert werden, in eine selbständigere, vom Substantiv getrennte Position versetzt werden, wie dies in der Puschkinschen Zeile Η naMfimnuK ceöe eo3deuz HepyKomeopHbiü57 auch der Fall ist.
Eine solche Position im Satz verleiht dem Adjektiv ein erhöhtes emotionales Gewicht, aber auch eine Sonderfärbung unter dem Aspekt seiner syntaktischen Beziehungen. Das Adjektiv erweist sich als nicht ausschließlich auf das Substantiv, sondern gewissermaßen auch auf das verbale Prädikat bezogen, wodurch, wie es scheint, auf das Adjektiv etwas vom Aktiven, Prozessualen der Handlung abfärbt (HepyKomeopno eo3deu2HymbSi). Das Adjektiv nähert sich hier dem Status des prädikativen Attributs. Das Vorhandensein bestimmter semantischer bzw. emotionaler Schattierungen, sowie bestimmter rhythmi57
58
Die nachfolgende deutsche Form will nicht als Übersetzung verstanden werden; sie stellt einen Versuch dar, neben der lexikalischen „Füllung" die grammatische Form des Satzes von Puschkin nach Möglichkeit plausibel wiederzugeben: 'Ich (ein) Denkmal mir errichtete nichthandgearbeitetes'. - Hgg. Hier muß man für die Deutung der russischen grammatischen Form zu der gekünstelten Bildung nicht-handarbeit-lich errichten greifen. - Hgg.
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scher Anforderungen hat in diesem Fall die Trennung des Adjektivs vom Substantiv herbeigeführt, aber die Möglichkeit einer solchen Trennung gewährt eine der für das Russische typischen immediativen Strukturen. Allerdings ist zu betonen, daß man das Ausgeführte nicht in dem Sinne auslegen darf, daß ein hochentwickeltes Flexionssystem eine allgemeine unabdingbare Voraussetzung für das Aufkommen von Strukturen darstellt, die hinsichtlich abhängiger Satzkomponenten immediativ sind. Die morphologisch ausdrucksfähige Wortform begünstigt zweifellos die Unmittelbarkeit der Eingliederung des Wortes in den Satz. Doch ist dieser Zusammenhang zwischen „synthetischer" morphologischer Ausgestaltung des Wortes und (mehr oder weniger) unmittelbarem Wort-Satz-Verhältnis durchaus nicht verbindlich. Für das Wesen des Phänomens, das wir erörtern, ist nicht die Wortform an sich von Belang, sondern die Fähigkeit des Wortes, seine Rolle im Satz unabhängig von einem anderen Wort zum Ausdruck zu bringen. Dies kann aber nicht nur mit synthetischen Sprachmitteln, sondern auch mit analytischen Mitteln erreicht werden, nämlich vermittels grammatischer Dienstwörter, die die Komponenten der Wortgruppe begleiten und ihre jeweiligen syntaktischen Funktionen anzeigen. Ein eigentümliches Beispiel derartiger analytischer immediativer Strukturen bietet die für altrussische Texte, insbesondere für Urkunden, charakteristische mehrfache Setzung von Präpositionen in der Substantivgruppe. 59 Diese Erscheinung ist auch heute in einigen Dialekten verbreitet, und in der Folklore, besonders in der epischen Dichtung, kommen solche Fälle mitunter sogar außerordentlich häufig vor. Zu Grinkovas Beobachtungen aus einem dialektalen Gebiet in der Nähe der Stadt Kirow gehören u. a. folgende Fälle mehrfachen Gebrauchs der Präposition mit allen kongruierenden Gliedern der Substantivgruppe: H 3Ü Katrycmoü xodwia κο 3ΗΟΚΟΜΗΜ ΚΟ ceoim; den atom U3 pozooKU
U3 cmapoü;
U3 cunezo
U3 xoncma
U3 κραιαβΗοεο;
ece κ
κακοϋ-mo
κο xpoMoü xodiui κο fpyue u. ä. 60 ['ich ging nach Kohl zu Bekannten zu meinen'; 'machen aus Bast, aus altem'; 'aus blauer aus Leinwand aus gefärbter'; 'ging immer zu einer zu lahmer zu Grunja']. Man kann solche Formen bei Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, zum Beispiel bei Nekrassow, bei Turgenew oder Pissemskij, in ziemlicher Anzahl, insbesondere bei der Wiedergabe der Sprache unterer Volksschichten, finden. Grinkova folgt Potebnja in der Meinung, dieses Phänomen habe semantische Ursachen: „... der Sprecher macht die Hauptlinie seiner Mitteilung deutlicher, ein wichtiges Moment dadurch heraushebend, daß er das Adjektiv (als Attribut) wie auch das Substantiv (als Apposition) mit dem vorangehenden Wort im Redestrom nicht verschmelzen läßt, sondern das nachfolgende Wort selbständiger macht, indem er es mit einer Präposition versieht, die ebenso wie die Präposition vor dem Bezugswort, mit der letzteren gleichberechtigt, die Art der Abhängigkeit der
59
60
Vgl. E o p K O B C K H t i , B.W.: CnHTaKCHC apeBHepyccKHx rpaMOT. JlbBOB 1949. S. 232ff. T p H H K O B a , Η.Π.: Ηεκοτορωε CJIYNAH noBTopeHH« npejworoB Β KHPOBCKHX ÄHaneicrax. In: ifobiK H MbiuiJieHne. Τ. XI. MocKBa 1948. S. 91 ff.
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Wortfügung von der Aussage im ganzen anzeigt." 6 1 Diese Meinung mag gewissermaßen zu Recht bestehen, vgl. Potebnjas Hinweis darauf, daß „der Grund dieses Phänomens nicht in Anforderungen des Metrums, nicht in dichterischer Freiheit im Umgang mit der Sprache (in willkürlicher Nonnverletzung, im Gebrauch von Archaismen) zu suchen ist, sondern in den Eigenschaften des Denkens." 6 2 Aber weder die Erklärung von Grinkova noch andere Erklärungen (zum Beispiel Hinweise auf rhythmische u. ä. Motive) geben eine Antwort auf die Frage, warum die betreffenden Aufgaben, semantische oder rhythmische oder solche irgendeiner anderen Art, in der bewußten spezifischen Form, durch mehrfache Setzung der Präpositionen, erfüllt werden. Die Argumentation von Grinkova - wenn man über sie nicht hinausgeht - legt die Schlußfolgerung nahe, der Zusammenhang zwischen den von ihr angenommenen Aufgaben und der bestimmten syntaktischen Form habe keinen tieferen Grund, sei also letzten Endes zufällig. Warum ist eine solche Form im Russischen überhaupt entstanden, während man in anderen Sprachen nicht die entfernteste Analogie zu dieser Form finden kann? Die Frage stellt Grinkova nicht. Indessen ist die von uns formulierte Fragestellung nicht nur nicht grundlos, sondern sie ergibt sich mit Notwendigkeit aus dem Sachverhalt, weil der semantische Inhalt sprachlicher Ausdrücke aller Art in der Luft schweben bleibt, sich nicht anders als abstrakt und unhistorisch darbietet, solange die konkreten Ursachen nicht geklärt sind, die es bedingt haben, daß sich der gegebene Inhalt mit der gegebenen Form verbunden hat, solange das untersuchte Phänomen seine Begründung nicht in der besonderen Eigengesetzlichkeit der betreffenden Einzelsprache findet. Man kann annehmen, daß die Möglichkeit mehrfacher Setzung der Präpositionen im Russischen zur „Hervorhebung" bestimmter Substantivgruppenglieder in der oben bereits erläuterten Tendenz zu immediativen Strukturen wurzelt, nämlich in der Tendenz dazu, daß syntaktisch unselbständige Wörter, unter anderem untergeordnete Glieder der Substantivgruppe, ihre Stellung im Satz unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zur Wortgruppe kennzeichnen. Die Beziehung des Wortes zum Satz wird in flexivischen Sprachen gemeinhin durch die Flexion bezeichnet, es können dazu aber auch Präpositionen, also analytische Mittel, verwendet werden. Die Wiederholung einer (und derselben) Präposition vor den kongruierenden Gliedern einer syntaktischen Gruppe ist eine Erscheinungsform, und zwar die krasseste Erscheinungsform, immediativer Einbeziehung des Wortes in den russischen Satz. Es ist bemerkenswert, daß Grinkova selbst meint, eine besondere semantische „Belastung" der mehrfachen Setzung von Präpositionen sei nicht immer feststellbar („in einigen Fällen ist ein solcher semantischer Nachdruck schwächer ausgeprägt, oder er wird überhapt nicht empfunden" 6 3 ). Grinkova gibt also zu, daß dieser Gebrauch der Präpositionen rein grammatisch (bzw. grammatisch-rhythmisch) orientiert sein kann. Allerdings ist diese Wortgruppenform bekanntlich 61 62
63
Ibid. S. 99. Π ο τ ε δ Η » , A.A.: H3 3anHC0K no pyccKoö rpaMMaraKe. IV. MocKBa rpaa 1941. S. 289. TpHHKOBa, Η.Π.: Op. cit. S. 99.
JICHHH-
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nicht - auch in der dialektalen Volkssprache nicht - grammatische Norm geworden, und sie kommt hauptsächlich dann vor, wenn ihr Gebrauch durch zusätzliche semantische bzw. rhythmische Motive stimuliert wird. Daß die oben erörterte Konstruktion (wie auch einige ihr ähnliche) im Russischen nicht „grammatisiert" wurde, hat wohl den Grund, daß ihr systematischer Gebrauch eine übermäßige Schwächung der Ganzheitlichkeit der Substantivgruppe zur Folge hätte, ohne daß diese Konstruktion vom Standpunkt grammatischer und inhaltlicher Beschaffenheit des Satzes bzw. seiner Bestandteile aus notwendig wäre. Die russische Sprache hat auf diese Weise Extreme gemieden, die eine wichtige, jedoch einseitig ausgerichtete Entwicklungstendenz dieser Sprache hätten bewirken können, und hat eine für den russischen Satz so typische glückliche Verbindung großer struktureller Biegsamkeit, deutlicher Gliederung und leichter Übersichtlichkeit gewonnen. Als eine Erscheinungsform der Tendenz zum immediativen Satzbau kann man die für das Russische charakteristische Fähigkeit der Partikeln (6U, JIU, mo u. a.) ansehen, in Abhängigkeit von der einen oder anderen grammatischsemantischen Nuance verschiedene Stellungen im Satz einzunehmen, vgl. Η 6bi nouien - fl nouieji 5b/64. Die „Bewegungsfreiheit" der Partikeln realisiert ebenfalls zwei funktionale Potenzen, die einerseits in der Möglichkeit, jedem Wort im Satz volle grammatische Bestimmtheit zu verleihen, andererseits in der Wahrung struktureller Ganzheitlichkeit syntaktischer Bildungen bestehen. Die nur einmalige Setzung des grammatischen Zeichens in einer syntaktischen Einheit, in diesem Fall einer Partikel, ist mit der Monoflexion in der Substantivgruppe vergleichbar, doch die Möglichkeit unmittelbarer Verknüpfung bestimmter Partikeln bald mit diesem, bald mit einem anderen Wort beruht auf der für das Russische charakteristischen Tendenz zu direkterer WortSatz-Beziehung. Im Deutschen verläuft die Entwicklung der Beziehungen von Wort und Satz, wie wir bereits gezeigt haben, anders, sie macht nämlich den Weg von größerer Unmittelbarkeit zu sozusagen „stufenweiser" Anordnung durch. Das Wort kennzeichnet seine Stellung im Satz mit der Zeit immer weniger deutlich und wird in dieser Hinsicht immer mehr auf die Wortgruppe, der es angehört, angewiesen. Dies ist eine der Folgen spezifischer eigengesetzlicher historischer Entwicklung des Deutschen, mehr noch, ist selbst eines der inneren Gesetze dieser Entwicklung. Zum Schluß will ich betonen, daß die Analyse des oben erörterten Gesetzes wie auch anderer mit diesem unmittelbar verbundener innerer Gesetze der deutschen Sprachentwicklung im Rahmen eines Artikels nur begonnen werden konnte. Erst ein allseitiges Studium des Baus einer Sprache, ein Studium,
64
Bei der Partikel 6u steht hypothetisch-konditionale bzw. hypothetisch-optative Bedeutung im Vordergrund. Die (analytische) Form des Konjunktivs im Russischen (nouien 6bi) gilt gleicherweise fur alle drei Zeitstufen ('würde gehen', 'wäre gegangen' usw.); in bezug auf semantische Schattierungen, die eventuell mit unterschiedlicher Stellung der Partikel einhergehen, sind die zwei angeführten Belege nicht mit voller Deutlichkeit auseinanderzuhalten; der erste Ausdruck scheint freilich mehr zu optativer, der zweite zu konditionaler Bedeutung zu tendieren. - Hgg.
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das die konkrete historische Entwicklung dieser Sprache in vollem Maße berücksichtigt, kann wirklich tiefe Einsichten in ihre allgemeine Beschaffenheit und in die inneren Gesetze ihrer Entwicklung zeitigen. Die Untersuchungen einzelner Fragen dieses Problemkreises stellen unserer Meinung nach notwendige Vorbereitungsschritte auf dem Weg zur Lösung einer der wichtigsten Aufgaben der sowjetischen Sprachwissenschaft dar, die in der Erkenntnis der inneren Gesetze der Sprachentwicklung besteht.
1955
Zur Zweigliedrigkeit des Satzes I Der Satz ist, wie allgemein bekannt, eine der wichtigsten sprachwissenschaftlichen Kategorien. Diese ist aber äußerst problematisch. Obwohl Hunderte verschiedener Bestimmungen des Satzes vorgeschlagen worden sind, bleiben die wesentlichen Merkmale dessen, was ein Satz ist, und somit die Grenzen dieses Phänomens unklar. Bemerkenswert in dieser Hinsicht ist die Liste der versuchten Definitionen des Satzes, die Ries in seinem Buch zum Problem des Satzes bringt. 1 Bezeichnenderweise finden wir indessen in den Arbeiten vieler Forscher bei allen Diskrepanzen in der Auffassung des Wesens des Satzes einige Aussagen, die, obwohl sie auf unterschiedliche Weise formuliert sind, im wesentlichen übereinstimmen. Es wird unter anderem häufig darauf hingewiesen, daß der Satz die Eigenschaft der Zweigliedrigkeit hat. Wie natürlich zu erwarten ist, teilen bei weitem nicht alle Forscher diese Meinung. Jedenfalls betrachten die meisten Gelehrten, die diese Ansicht teilen, die zweigliedrige als die „normale", die Hauptform des Satzes, von der allerdings vielfach - auf gesetzmäßiger Basis - abgewichen wird. Nicht selten wird die These von der Zweigliedrigkeit des Satzes durch logische bzw. psychologische Kategorien untermauert. Zum Beispiel weist Sachmatov, der die eingliedrigen Sätze des Russischen am eingehendsten untersucht und beschrieben hat, auf die allgemeine Zweigliedrigkeit des kommunikativen Aktes hin. Davon ausgehend, formuliert er die Bestimmung des Satzes folgendermaßen: „[Der Satz ist] die einfachste Einheit der menschlichen Rede, die hinsichtlich der Form grammatisch ganzheitlich ist und hinsichtlich der Bedeutung der Verbindung von zwei durch einen Willensakt miteinander zusammengefugten, einfachen oder komplexen, Vorstellungen entspricht." 2 Ähnliches findet sich in einem jüngst herausgegebenen Lehrbuch: „In jedem Gedanken (Urteil) sind zwei Teile enthalten, und zwar das, wovon wir denken, nämlich der Gegenstand des Gedankens, dessen Subjekt, und das, was wir davon denken, das gedankliche Prädikat. Respektive kann man im Satz in der Regel zwei Teile finden, von denen einer dem Subjekt und der andere dem Prädikat entspricht." 3 Als Grundlage der Zweigliedrigkeit betrachten die Verfasser der letztgenannten Grammatik allerdings nicht, wie Sachmatov dies tut, die psychische Natur der Äußerung in Satzform, sondern den logischen Inhalt des Satzes. 1 2
3
R i e s , J.: Was ist ein Satz? Prag 1931. LUaxMaTOB, A.A.: CHHTaiccMc pyccKoro »3biKa. 2-oe n3£aHne. JleHMHrpaji 1941. S. 29.
3 e μ c κ η η, A.M.,
ΚριοΗΚΟΒ, C.E., C β ετ ji aH ο β , Μ.Β.: PyccKHti ίπωκ.
Μ. 1. MocKBa 1951. S. 15.
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des Satzes
Die Vorstellung von der Zweigliedrigkeit des Satzes wird oft scharfer Kritik unterzogen. Ries schreibt: „Ich glaube, daß die mit großer Bestimmtheit aufgestellte und lebhaft verteidigte Behauptung, daß die Zweigliedrigkeit ein unerläßliches Erfordernis aller Sätze ist, einer unvoreingenommenen Prüfung nicht Stand hält. < . . . > Sie scheint mir jetzt auch mehr und mehr aufgegeben zu werden." 4 Indessen kann Ries nicht umhin, die außerordentlich wichtige Bedeutung der Zweigliedrigkeit fur den Satz anzuerkennen: „Andererseits sind aber die ungegliederten Sätze doch so sehr in der Minderheit, daß sie nur mehr als seltene Ausnahmen wirken. Dieser Umstand gewinnt für die Frage der grammatischen Satzform mittelbar die größte Bedeutung: an und für sich dem Satz nicht notwendig, wird doch die Zweigliedrigkeit als tatsächliche Eigenschaft fast aller Sätze allein durch die Wucht ihrer Überzahl zum auszeichnenden Formmerkmal des Satzes überhaupt, mußte es werden." 5 Diese Aussage von Ries kann aber durchaus nicht als eine erschöpfende Begründung der außerordentlich breit vertretenen Auffassung des Satzes als zweigliedriger Einheit gelten. In einer Reihe von Sprachen, die seit eh und j e im Mittelpunkt grammatischer Forschung standen, wie zum Beispiel im Lateinischen, sind Erscheinungsformen der Eingliedrigkeit keineswegs als Ausnahmefälle zu bewerten. Außerdem hätte wohl die Tatsache, daß Sätze, die sich schon der bloßen Anschauung als aus einem Glied (oft sogar aus einem Wort) bestehend präsentieren, bereits an und für sich die grundsätzliche Irrigkeit der These von der allgemeinen Zweigliedrigkeit des Satzes erweisen müssen, ganz gleich, ob die eingliedrigen Sätze oft oder selten vorkommen. Der Beharrlichkeit, mit der sich die Idee der allgemeinen Zweigliedrigkeit behauptet, muß also etwas Wesentliches, was dem Satz tatsächlich eigen ist, zugrunde liegen. Aber die Versuche, dieses Wesentliche herauszufinden, blieben zumeist widersprüchlich und wenig überzeugend. Der schwerwiegendste Einwand, den man gegen die Annahme der allgemeinen Zweigliedrigkeit des Satzes vorbringt, besteht darin, daß sich diese These nicht auf sprachliche, sondern auf außersprachliche, logische bzw. psychologische, Kategorien und Formen gründet. Bereits seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, schon in den Arbeiten von Potebnja, wird die Notwendigkeit betont, den Satz ausgehend von seinen konkret-sprachlichen Formen zu definieren. Potebnja verlangte sogar, den Satz nicht „im allgemeinen", sondern unter Berücksichtigung der Entwicklungsstufen bestimmter Sprachgruppen zu definieren, weil die Satzformen historischem Wandel unterliegen. 6 In seinem Hauptwerk, dem Buch über die Syntax des Russischen, bekennt sich PeSkovskij zur Absicht, „das grammatische Wesen der Rede und deren logisch-psychologischen Inhalt auseinanderzuhalten", und er ist praktisch zur (immerhin nicht immer konsequent befolgten) Anerkennung des Verbs als
4 5 6
R i e s , J . : O p . cit. S. 70. Ibid. S. 103. Π ο τ e 6 η a , A.A.: H3 3anncoK no pyccKofi rpaMMaTHKe. I-II. 2-oe tmaiiHe. XapbKOB 1888. S. 7 6 - 7 8 .
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notwendigen Bestandteils des Satzes gekommen. 7 Ahnliche Behauptungen von der Unabdingbarkeit des finiten Verbs fur die Satzbildung sind von vielen Sprachforschern auch im Ausland geäußert worden. Die Aufmerksamkeit, die man einer konkreten grammatischen Form schenkt, ist an sich zweifellos berechtigt. Sie hat ihren Grund in der Wesensart der Sprache als eines spezifischen sozialen Phänomens, das sich von anderen sozialen Phänomenen prinzipiell unterscheidet. Nicht zu vergessen ist dabei aber die Innigkeit der Beziehungen, die zwischen Sprache und Denken, zwischen Sprache und menschlicher Kommunikation bestehen. Bemerkenswert ist indessen, daß alle Sprachauffassungen, deren Vertreter bemüht waren, die Satzstruktur aufgrund ihrer formalen Eigenschaften zu deuten, sich zumindest als strittig erwiesen, vor allem deshalb, weil sie für die Mannigfaltigkeit der tatsächlichen Satzstrukturen und die Wechselbeziehungen zwischen ihnen keine befriedigende Erklärung bieten konnten. Die Theorie der Verbindlichkeit des finiten Verbs als einer Satzkomponente, die eine ganz bestimmte Form hat, zwang zum willkürlichen „Hinzudenken" von Verben (durch die Annahme eines weggelassenen kopulativen Verbs oder die Annahme anderer Erscheinungsformen der Ellipse) auch in solchen Sprachen bzw. in solchen Satztypen beispielsweise des Russischen, in denen die Kopula nicht lediglich systematisch fehlt, sondern - jedenfalls im Gegenwartsrussischen - im Präsens des Indikativs überhaupt absolut ausgeschlossen ist, vgl. Jlucmba depeea 3enenbi [wortwörtlich: 'Die Blätter des Baumes grün']. Auf der anderen Seite sind die Theorien, die dem Satz die allgemeine Zweigliedrigkeit absprechen, in der Hinsicht anfechtbar, daß sie Sätze unterschiedlicher Beschaffenheit, die im Sprachsystem ausgesprochen diverse Funktionen erfüllen, auf eine Linie stellen; für diese Theorien fallen zum Beispiel ein nominativischer Nennsatz und ein vollständig ausgeformter Aussagesatz bedenkenlos unter den gleichen Begriff „Satz". Verschiedene Satztypen, die auf spezifische kommunikative Sonderfalle spezialisiert sind, werden somit den wesentlichsten „normalen" Haupttypen des Satzes als gleichgewichtig an die Seite gestellt, den Haupttypen, die funktional-korrelativ oder sogar auch genetisch den entsprechenden nebensächlichen Satztypen eigentlich zugrunde liegen. Die richtige Forderung, nach der die Grammatik alle nebensächlichen bzw. sekundären Satztypen berücksichtigen muß, artet dabei in eine Gleichsetzung aus, bei der die qualitativen Unterschiede zwischen der Ausgangs- und der abgeleiteten Form, zwischen syntaktisch Grundlegendem und Untergeordnetem verwischt werden. 8 Natürlich bietet der Satz massenweise Anhaltspunkte für die Ansicht, nach der fur die Satzbildung morphologische Formen bestimmter Art ausschlagge7
8
r i e i u K O B C K H i i , A.M.: PyccKHH CHHTaKCHc Β HayHHOM ocBemeHHH. 6-oe HHe. MocKea 1938. S. 248ff. Vgl. die Kritik der Satztheorien, die u. a. auf der „grammatischen Form des Prädikats" aufbauen, in einem Aufsatz von Vinogradov: B H H o r p a j o e , Β.Β.: HueaJIHCTHMeCKHe OCHOBbI CHHTOKCHHeCKOH CHCTCMbI Πρθφ. Α.Μ.ΠείΙΙΚΟΒΟΚΟΓΟ, ee 3KjieKTH3M Η BHyrpeHHHe npoTHBopeHHH. In: B o n p o c u cHHTaiccHca coapeMCHHoro pyccKoro 5i3biKa. Mocnea 1950. S. 3 6 - 3 7 .
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bend sind, und so kann man die oben angedeutete fehlerhafte Einstellung mancher Sprachforscher nicht dem Zufall zuschreiben. Aber die Eigenständigkeit der Sprache, ihre Sonderstellung unter sozialen Phänomenen bedeutet keineswegs, daß die Sprache nicht gleichzeitig mit anderen wichtigen Seiten des sozialen Seins aufs engste verbunden ist. Eine Sprachtheorie, die Sprache und Kommunikationsvorgänge, mithin also Sprache und Denken voneinander trennt, ignoriert die unbestreitbare Tatsache, daß der Austausch von Gedanken den eigentlichen Zweck und Inhalt der Kommunikation darstellt, und sie ist deshalb unhaltbar. Daß es notwendig ist, den Satz als Mittel der Gestaltung des intersubjektiven Kommunikationsaktes zu betrachten, haben einige Sprachwissenschaftler bereits erkannt. Unter den Definitionen des Satzbegriffs, die Ries anführt, finden sich etwa zehn, in denen der Satz als eine Redeeinheit bestimmt wird, die eine Mitteilung ausdrückt. Besonders nachdrücklich betont diese Funktion des Satzes in seiner Satzdefinition Rodenbusch. Er bestimmt den Satz als J e des sprachliche Gebilde, das eine Mitteilung bezweckt". 9 Etwas grundsätzlich Ähnliches finden wir bei Kalepky: Der Satz ist nach ihm „das kleinste Mitteilungsganze". 10 Zur gleichen Ansicht ist in seiner Grammatiktheorie Svedelius gekommen." In die russische Grammatik hat Sachmatov den Terminus „Kommunikation" im Sinne psychologisch interpretierter Mitteilung in Satzform eingeführt. Gardiner, Bühler und einige andere Forscher haben Sprachtheorien ausgearbeitet, die sie auf der Grundlage der Erkenntnis aufbauten, Sprache sei ein Kommunikationsmittel, das dem Austausch von Mitteilungen zwischen dem Sprecher (dem Sender der Mitteilung) und dem Hörer (dem Empfänger der Mitteilung) dient. 12 Rodenbusch verbindet den zweigliedrigen Charakter des Satzes unmittelbar damit, daß die Hauptfunktion des Satzes das Mitteilen ist. Da jeder Satz eine Mitteilung enthält, ist er nach Rodenbusch in funktionaler Hinsicht stets zweiteilig, was aber die formale Einteiligkeit seines sprachlichen Ausdrucks nicht ausschließt. Rodenbusch fuhrt also die Unterscheidung der „funktionalen" und der „materiellen" Gliederung des Satzes ein. Diese Bemerkungen Rodenbuschs sind jedoch in höchst allgemeiner Weise formuliert, und die Idee wird kaum weiter fortgeführt. Es sei betont, daß die Hauptschulen der Sprachwissenschaft, die zu Beginn und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in allgemeinen Sprachtheorien und in Auslegungen des Satzbegriffs auf die sprachliche Kommunikation Bezug nahmen, meist an einem gemeinsamen Mangel litten. Sie litten nämlich an Psychologismus. Die oben erwähnten Sprachforscher (und andere, die sich
9
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11
12
R o d e n b u s c h , E.: Bemerkungen zur Satzlehre. In: Indogermanische Forschungen. Bd. XIX, 1906. S. 264. K a l e p k y , Th.: Neuaufbau der Grammatik als Grundlegung zu einem wissenschaftlichen System der Sprachbeschreibung. Leipzig 1928. S. 8. S v e d e l i u s , C.: L'analyse du langage applique ä la langue franijaise. Diss. Upsala 1897. S. 6, lOff. G a r d i n e r , A.H.: The theory of speech and language. Oxford 1932; B ü h l e r, K.: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena 1934.
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diesen anschlossen) betrachten den Akt der Kommunikation als individuelles psychisches Phänomen und verlegen den Schwerpunkt der Analyse auf formale Unterschiede der Satzgestaltung in Abhängigkeit von konkreten situativen Bedingungen des gegebenen Kommunikationsvorgangs und die unter dem Einfluß dieser Bedingungen stehenden psychischen Einstellungen des Sprechers. Man verstand die sprachliche Formgebung als etwas unmittelbar aus der Sprechsituation Herzuleitendes oder zumindest durch die Sprechsituation radikal Modifizierbares, jedenfalls als etwas, was die individuelle psychische Widerspiegelung der Sprechsituation repräsentiert. Besonders kraß tritt diese Tendenz in der Sprachauffassung von Th.Kalepky zutage. < . . . > Am gründlichsten behandelt Svedelius die für seine Deutung des Satzbegriffs entscheidende These über die Einheit von Satz und Mitteilung. Was allgemein „Satz" heißt, bezeichnet Svedelius mit dem Terminus „communication", und dies grenzt schon an die Gleichsetzung beider Begriffe. Die interne Analyse des „Communication"-Satzes basiert auf logischen Erwägungen: Als Haupttypen der Beziehungen zwischen den zwei grundlegenden Gliedern der Mitteilung werden die propositonale und die relationale Beziehung angenommen; der Forscher berücksichtigt u. a. die Fälle, in denen das eine oder das andere Glied (bzw. das sie miteinander verbindende Element) keinen formalen Ausdruck bekommt. Indem Svedelius die Struktur des „Communication"Satzes am Material der französischen Sprache analysiert (Beispiele aus anderen Sprachen, vornehmlich aus dem Lateinischen, werden nur episodisch herangezogen), übergeht er völlig die Frage nach dem historischen Charakter grammatischer Formen, die sich als festgelegte Ausdrucksformen für die Glieder der jeweiligen Mitteilung erweisen; keinerlei Aufmerksamkeit schenkt er auch dem Problem zwischensprachlicher Unterschiede hinsichtlich solcher Ausdrucksformen. Von wie großem Interesse die in der Arbeit von Svedelius enthaltenen Ansätze auch sind, sie ist dennoch vorwiegend abstrakt-logisch und psychologisch orientiert, ihr fehlen geschichtliche Perspektive und tiefe Einsichten in die sprachliche Form. Sehr ausführlich äußert sich Sachmatov zum Problem der Korrelationen von Satzbedeutung und Satzform. Er betont, daß die Satzform und der gedankliche Inhalt des kommunikativen Aktes nicht immer übereinstimmen und weist dabei - freilich sehr abstrakt und unbestimmt - auf die Bedeutung des sprachgeschichtlichen Wandels hin: „Der Satz entspricht der Kommunikation, ohne sie übrigens in allem genau wiederzugeben < . . . > . Die Herausbildung der Satzglieder beruht zweifellos auf psychologischen Kategorien, aber dahinter steht eine lange Evolution, die den heutigen Zustand so abgrundtief von dieser ursprünglichen Basis trennt, daß es höchst riskant wäre, die Analyse der Kommunikation auf die Grundlage sprachlicher Formen zu stellen." 13 Bei alledem ist für Sachmatov die „Kommunikation" doch ein rein psychologischer Begriff: „Die psychologische Basis jeweiligen Denkens bildet der Vorrat an Vorstellungen, den wir unserer vorangegangenen Erfahrung verdanken und der durch unsere Erlebnisse laufend bereichert wird; die psychologische Grundlage des Satzes stellt die Verbindung dieser Vorstellungen in j e n e m be13
l i l a x M a - r o B , A.A.: Op. cit. S. 28.
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sonderen Denkvorgang dar, der die Aufgabe hat, eine im Bewußtsein erfolgte Verbindung von Vorstellungen anderen Menschen mitzuteilen; einen solchen Akt nennen wir die Kommunikation." 1 4 Im weiteren spricht Sachmatov auch ständig vom psychologischen (bzw. psychischen) Kommunikationsakt, wobei er logische und psychologische Kategorien in enge wechselseitige Beziehung zueinander stellt; die Diskrepanzen zwischen Kommunikation und Satz, die er feststellen muß, fuhren ihn an den Rand wechselseitiger Gegenüberstellung der beiden Reihen von Phänomenen, und er drückt überdies sein Bedauern darüber aus, daß uns, um aus Zeichen auf Gedanken schließen zu können, außer dem sprachlichen kein anderes Zeichensystem zur Verfugung steht. 15 Das Verhältnis zwischen dem Wesen der Kommunikation und historischer Sprachentwicklung bleibt bei Sachmatov unerläutert; offen bleibt die Frage, wie die Unterschiede der Satzstruktur, die wir beim Sprachvergleich und beim Vergleich verschiedener Entwicklungsstufen einer Sprache feststellen müssen, vor dem Hintergrund der als zeitlos universell verstandenen psychologisch interpretierten Kommunikation zu erklären sind. Wortgruppen und Sätze, ihre Typologie untersucht Sachmatov praktisch unabhängig von seiner Kommunikations-Lehre, ausgehend letzten Endes von rein formalen Gegebenheiten. Und gerade dies muß man dem Werk von Sachmatov als großes Verdienst anrechnen, das dieses Werk zu seinem Vorteil von grammatischen Systemen wie zum Beispiel dem von Th.Kalepky unterscheidet, in dem der konkrete grammatische Bau einer Sprache restlos in „Anforderungen der Situation" und überhaupt in psychologischen Kategorien aufgeht. Aber zeugt das nicht zugleich von der Unfruchtbarkeit des „Kommunikations"-Begriffs, wie er von Sachmatov verstanden wird? Er ist unfruchtbar, weil Sachmatov den rein psychischen Vorgang des (im Bewußtsein des Sprechers erfolgenden) Aufeinanderbeziehens „zweier Vorstellungen, zwischen denen durch einen Willensakt eine prädikative Verbindung hergestellt wird", zum Schwerpunkt seiner Bestimmung der „Kommunikation" gemacht hat. 16
II Wir sehen also, daß die Bemühungen um die Bestimmung grammatischer Kategorien auf der Grundlage des Begriffs der sprachlichen Kommunikation bisher zumeist lediglich zum Aufkommen neuer Spielarten des Psychologismus führten. Es stellt sich natürlich die Frage, ob die psychologische Deutung der Sprechakte nicht grundsätzlich unumgänglich ist. Die sprachliche Kommunikation setzt ja Denkvorgänge in aller ihrer Konkretheit, also eine Reihe psychischer und psychophysiologischer Prozesse, voraus, die mit dem Funktionieren des zweiten Signalsystems des Menschen zusammenhängen. Die
14
Ibid. S . 19.
15
Ibid. S . 28.
16
Ibid. S. 19. Vgl. die vielseitige Kritik der Ansichten von Sachmatov in: B H H O r p a a o B , B.B.: «CHHTaKCHC pyccKoro snbiKa» aica^. A.A.LUaxMaTOBa. In: Bonpocbi CHHTancHca coepeMeHHoro pyccKoro snbixa.
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Betrachtung des Sprech Vorgangs unter dessen Loslösung von psychischen Prozessen ist in der Tat unzulässig. Dennoch kann man die Rede, die sprachliche Kommunikation nicht mit psychophysiologischen Vorgängen gleichsetzen. Sie ist eine Erscheinungsform des Sozialverhaltens, sie entsteht aus dem Bedürfiiis der Menschen, miteinander zu verkehren. Dies ist ein grundlegendes Moment. Das Sprechen ist ein psychophysiologischer Vorgang, dieser muß aber selbst aus dem genannten Bedürfnis, aus der sozialen Funktion der sprachlichen Kommunikation, erklärt werden. Die soziale Natur sprachlicher Kommunikation muß definitiv berücksichtigt werden, wenn wir die Redeeinheit, vermittels deren sie realisiert wird, nämlich den Satz, richtig begreifen wollen. < . . . > Aus der Erkenntnis, daß die sprachliche Kommunikation soziale Funktionen hat, folgt die Forderung, die Zusammenhänge zu klären, die zwischen dem Kommunikationsakt und dem Satz als Mittel seiner Verwirklichung und seinem Ausdruck bestehen. Man muß die Gesetzmäßigkeiten feststellen, die dem Kommunikationsakt als eben einem sozialen Phänomen eigen sind und eben durch den Satz in Erscheinung treten. Diese Aufgabe darf durch keine andere Aufgabe in den Hintergrund gedrängt werden, weder durch die Untersuchung der psychophysiologischen Seite des Sprechvorgangs noch durch die Analyse des logischen Inhalts von Satzaussagen noch selbst durch die Analyse der grammatischen Satzform an und für sich, auch durch die Analyse der Zusammenhänge aller dieser Aspekte nicht. Sie sind alle von großer Bedeutung für die Wissenschaft, aber trotz ihrer Wichtigkeit für das Verständnis der sprachlichen Kommunikation kann ihre Untersuchung die Analyse des Sozialen an der Sprache in seiner Bedeutung für die Ausgestaltung des gesamten Sprachsystems nicht ersetzen. Jeder Kommunikationsakt hat das Ziel, etwas mitzuteilen, einen Gedanken einem anderen Menschen bzw. anderen Menschen zu vermitteln. Dies macht das Wesen des Kommunikationsaktes aus und bestimmt seine allgemeine interne Struktur. Der Kommunikationsakt erfüllt die Aufgabe, einen Gedanken zu vermitteln, nur wenn der ihn verwirklichende Satz eine Verbindung von zwei (mindestens zwei) Komponenten beinhaltet. Etwas mitteilen bedeutet etwas über etwas mitteilen. Eine einfache Benennung eines Gegenstandes, einer Erscheinung usw. stellt an sich keine Mitteilung dar, weil sie funktional leerläuft, keine neue Erkenntnis von irgendetwas wiedergibt, für die gemeinsame Tätigkeit der Menschen belanglos ist usw. < . . . > Also kann der Kommunikationsakt aus seinem sozialen Wesen heraus nicht anders als inhaltlich stets zweigliedrig sein. Dies bedeutet gleichzeitig, daß die Spracheinheit, die den Kommunikationsakt „stofflich" ausformt, der Satz, grundsätzlich ebenfalls nicht anders als zweigliedrig sein kann, obwohl das nicht immer formal mit voller Deutlichkeit zum Ausdruck gelangt (beispielsweise konnte der Satz auf den frühesten Stufen der Sprachentwicklung kaum die zweigliedrige Gestalt haben). In der Zweigliedrigkeit als Eigenschaft des Kommunikationsaktes findet die Zweigliedrigkeit des Gedankens bzw. logischen Urteils ihren Ausdruck. Zum Inhalt des einzelnen Gedankens gehört die Verbindung eines Abbildes des Gegenstandes, der bei der Entfaltung des Gedankens eine Bestimmung er-
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hält, mit einem Prädikat, der Komponente des Gedankens, die dem Subjekt eine Bestimmung gibt, es „beurteilt". 17 Man hat allen Grund, anzunehmen, daß die Zweigliedrigkeit des Gedankens, die es gestattet, im Bewußtsein konkrete Beziehungen zwischen einzelnen Phänomenen der Wirklichkeit widerzuspiegeln, und somit eine wesentliche Voraussetzung abstrakten Denkens darstellt, mit dem zweigliedrigen Inhalt des Kommunikationsaktes genetisch zusammenhängt. Das logische Subjekt (das, was im Urteil eine Bestimmung bekommt) muß mit der ersten Komponente der mitteilenden Satzaussage (mit dem, worüber im Satz etwas mitgeteilt wird), das Prädikat respektive mit deren zweiter Komponente genetisch verbunden gewesen sein. Da Sprache, Denktätigkeit und Kommunikation genetisch und in ihrem ganzen Entwicklungsgang miteinander untrennbar verbunden waren und sind (wobei die Kommunikation in diesem Bündnis die Rolle der Haupttriebkraft spielte und spielt) und die Sprache immer als Kommunikationsmittel und mithin als Mittel zum Ausdruck der Gedanken dient, müssen die miteinander korrelierenden Basiseinheiten der Sprache bzw. der Rede, der Denk- und der Kommunikationsvorgänge bestimmte fundamentale strukturelle Gesetzmäßigkeiten teilen, seien diese auch ganz allgemeiner Natur, und eine solche Eigenschaft, die allen drei Phänomenen zukommt, ist eben die Zweigliedrigkeit. Das Problem der Zweigliedrigkeit des sprachlichen Phänomens Satz ist viel komplizierter als das Problem der Zweigliedrigkeit des Urteils, des Einzelgedankens und der Mitteilung an sich. Die eigentümliche Entwicklung des grammatischen Baus jeder Sprache bedingt das Aufkommen unterschiedlicher Mittel bzw. Typen formaler Repräsentation der Zweigliedrigkeit des Satzes. Sehr breit ist das grammatische Verfahren vertreten, bei dem jeder der Hauptbestandteile des Satzes eigens, unter anderem und wohl vornehmlich durch ein Wort, ausgedrückt wird, vgl. russ. Mbi - mpydnitfuecH. Mbi pa6omaeM.ls Indessen gibt es in einigen Sprachen mit deutlicher morphologischer Kennzeichnung bestimmter Wortformen auch ein Verfahren, bei dem die Zweigliedrigkeit des Satzes „stofflichen" Ausdruck in den Grenzen eines Einzelwortes vermittels seiner Flexionsendung bekommen kann, vgl. russ.
17
Aus der Sicht der logischen Analyse ist der Gedanke (das Urteil), da zu seinem Bestand die Kopula gehört, sogar dreigliedrig, was für uns irrelevant ist, denn die Funktion der Kopula besteht nur darin, daß sie die Verbindung zwischen Subjekt und Prädikat herstellt und folglich keine selbständige Bedeutung hat. Im Gegensatz zu gängigen Bestimmungen des Subjekts als des Gegenstandes, von dem das Urteil handelt (die Formulierung von P.S.Popov) bzw. über den etwas ausgesagt wird (die Formulierung von M.S.Strogovic), charakterisieren wir das Subjekt des logischen Urteils als den Gegenstand, der im Satz eine B e s t i m m u n g bekommt; wir bezwecken damit eine deutlichere gegenseitige Abgrenzung des Urteils als gedanklicher und des Satzes als sprachlicher Einheit.
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Im ersten Satz fehlt (im Präsens) die Kopula, die Bedeutung dieses russischen Satzes besteht in der Behauptung 'Wir sind Werktätige'; der zweite Satz lautet auf Deutsch wie 'Wir arbeiten'. - Hgg.
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Ceemaem. flpudy.19 In den beiden Fällen, die wir hier miteinander vergleichen, ist die Zweigliedrigkeit formal-grammatisch ausgedrückt, doch wenn sie in Fällen wie Mbi - mpydftufuecx oder Mbi paöomaeM durch die syntaktische Struktur des Satzes ausgedrückt ist, findet sie in den Sätzen des Typs Ceemaem, flpudy u. dgl. einen morphologischen, somit also einen eher indirekten, gewissermaßen verschleierten, Ausdruck, dem die Deutlichkeit einer durch separate Wörter erfolgenden Repräsentation beider Hauptbestandteile des Satzes fehlt. Wenn wir Fälle wie die letztgenannten meinen, kann man von „morphologischer Zweigliedrigkeit" sprechen. 20 Von großer Bedeutung für die Beleuchtung von Erscheinungsformen der Zweigliedrigkeit des Satzes und für das Verständnis eventueller Abweichungen von der Zweigliedrigkeit ist die dem Sprachbau inhärente Tendenz zur Festlegung bestimmter formal-funktionaler Korrelationen im Bereich der Satzstrukturen und zu außerordentlicher Stabilität solcher formal-funktionaler Korrelationen. So ist in einer großen Anzahl von Sprachen eine besondere Ausdrucksform für den zweiten notwendigen Bestandteil des Satzes, für das Prädikat, nämlich die Form des finiten Verbs, herausgebildet worden sowie eine besondere Form für das Satzsubjekt, dessen Bezeichnung ein bestimmter Kasus dient, und zwar der Nominativ. Die Herausbildung von Formen wie der genannten hat dazu geführt, daß die formal-grammatische Zweigliedrigkeit des Satzes in breitem Maße als eine mit dem Vorhandensein beider Wortformen einhergehende Eigenschaft empfunden wird, die Wahrnehmung des Satzes als eines eingliedrigen hängt dann konsequenterweise von dem Fehlen zumindest eines der zwei sonst satzbildenden Hauptbestandteile ab, wie kompliziert der Satz im übrigen auch aufgebaut sein mag. Auf der anderen Seite wirken sich konkrete Formen des sprachlichen Verkehrs, konkrete Bedingungen des Kontextes im weitesten Sinne des Wortes auf die Satzstruktur in der Hinsicht aus, daß die Möglichkeit entsteht, den 19
20
Den unpersönlichen Satz Ceemaem kopiert deutungsweise die Form ohne Satzsubjekt: 'Tagt' (gemeint ist die Morgendämmerung); dem zweiten Satz, flpudy, entspricht die Form 'Komme'. - Hgg. Bei der Hinwendung - vergleichshalber - zu in den indoeuropäischen Sprachen vorkommenden Sätzen, in denen das finite Verb als das einzige Hauptglied des Satzes auftritt, spricht Sachmatov in seinem oben mehrmals zitierten Buch (S. 6 4 86) von „gegliederten" und „nichtgegliederten'1 Formen (in erster Linie beim Verb in der 1. und 2. Person). Solche „nichtgegliederten" Formen des Verbs stellen gerade den wichtigsten Fall des morphologischen Ausdrucks der Zweigliedrigkeit des Satzes dar. Die morphologisch ausgedruckte Zweigliedrigkeit beschränkt sich aber nicht auf die Verwendung verbaler Formen ohne separat bezeichnetes Subjekt. Möglich sind auch nominale Wortformen, die als Prädikate von Sätzen ohne eigens ausgedrücktes Satzsubjekt auftreten; in solchen Sätzen kommt das Satzsubjekt gleichfalls indirekt, durch die Form des prädikativen Wortes, zum Ausdruck; vgl. beispielsweise den formal eingliedrigen russischen Satz Hennoxo! ['Nicht schlecht!']. Hier kann das Formans -o als Hinweis auf das Subjekt verstanden werden, das im Satz nicht durch ein eigenes Wort bezeichnet ist und das von der aktuellen Situation impliziert oder als etwas dermaßen Unbestimmt-Allgemeines gemeint ist, daß für seinen Ausdruck eines der extrem allgemeinen Wörter, das Wort 3mo ['das'], geeignet wäre.
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Satz vom „wörtlichen" Ausdruck bestimmter Komponenten zu entlasten. Die Sprechsituation bzw. der Kontext, in den der Satz eingebracht wird, übernehmen bekanntlich nicht nur die Aufgabe, den Satz mit nebensächlichen inhaltlichen Elementen anzureichern, sondern sie können sogar die sonst für den Aufbau des Satzes notwendigen Hauptglieder entbehrlich machen. Es kommt dabei vor, daß der Ausfall des einen oder anderen Hauptbestandteils des Satzes seine Struktur im Grunde genommen nicht verletzt, da die dem gegebenen Satz fehlende Satzkomponente mit voller Deutlichkeit dem unmittelbar benachbarten Satz „entnommen" werden kann (elliptische Sätze). In anderen Fällen entstehen aber spezifische stabil funktionierende syntaktisch nichtzweigliedrige Satzformen, die nicht in gleicher Weise, nicht direkt auf die üblichen zweigliedrigen Satzstrukturen zurückgeführt werden können. Solche syntaktisch nichtzweigliedrigen Sätze, deren Modelle zum festen Bestand stabiler Elemente des Sprachbaus gehören, kann man als typologisch eingliedrige Sätze bzw. als Sätze mit typologisch festgelegter syntaktischer Eingliedrigkeit bezeichnen (unter diesem Begriff somit Satzstrukturen mit morphologischer Zweigliedrigkeit subsumierend), um sie terminologisch von elliptischen Sätzen abzugrenzen, deren Formen im Zeichen variabler kontextualer Abhängigkeit stehen. Stabilen Charakter haben zum Beispiel die sogenannten Existenzialsätze des Typs Mope. TponuKu. AöcomomHbiü uimwib ['Meer. Tropen. Absolute Windstille']. PeSkovskij meint zu Recht, daß solche Sätze nicht durch Weglassung irgendeines Elementes ihre Form erhalten und daß ein beliebiger Zusatz (sei es auch das Verb 6bimb ['sein'] in irgendwelcher seiner Formen) den Charakter der Aussage verändern würde. Eine andere Art stabil typologisch eingliedriger Sätze stellen Benennungssätze dar, die zum Beispiel als Buchtitel oder als Schiffsnamen u. dgl. gebraucht werden, vgl. „Mepmebie dyuiu" [„Tote Seelen" (Titel eines Werkes von Gogol)]. Im realen Kommunikationsakt wird vorzugsweise dank der Sprechsituation mit dem Namen eines Gegenstandes auf diesen Gegenstand dermaßen klar Bezug genommen, daß es sich erübrigt, Sätze wie Dieses Buch ist (heißt) „Tote Seelen" zu bilden; solche zweigliedrig ausgebauten Sätze wirken unter konkreten Bedingungen der Sprechsituation recht gekünstelt. Bedeuten diese und ähnliche augenscheinliche Abweichungen von der Zweigliedrigkeit nicht, daß der Satz grundsätzlich nicht zweigliedrig zu sein braucht und daß wir das Prinzip der Zweigliedrigkeit - eben als Prinzip - aufgeben müssen? Diese Frage muß negativ beantwortet werden. Der Satz ist prinzipiell zweigliedrig. Doch muß man in Betracht ziehen, daß bestimmte spezifische Bedingungen der Kommunikation, deren Wesen im allgemeinen die Zweigliedrigkeit voraussetzt, im Sprachsystem vorgesehene und somit gesetzmäßige Abweichungen von der syntaktischen Zweigliedrigkeit des Satzes möglich machen. Eine analoge Bewandtnis hat es mit dem Verhältnis zwischen der Satzstruktur und dem Gedankengehalt der Aussage: Gerade infolge dessen, daß der Zweigliedrigkeit des Satzes im Prinzip die Zweigliedrigkeit des Gedankens zugrunde liegt, kann der Satz mitunter die Zweigliedrigkeit aufgeben, wenn dies etwaige konkrete Besonderheiten des gedanklichen Gehalts des Satzes möglich und zweckdienlich machen. Alle Kategorien, die un-
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ter dem Aspekt der Zwei- bzw. der Eingliedrigkeit des Satzes in Betracht kommen, stehen in fortwährender Wechselwirkung miteinander; äußerst wichtig ist unter diesem Aspekt auch die besondere qualitative Prägung, die die geschichtliche Entwicklung einer Sprache ihrem Bau verliehen hat.
V Die Zweigliedrigkeit ist das grundlegende, das „normale" Prinzip des Satzbaus. Dieses Prinzip ergibt sich aus dem Wesen der sprachlichen Kommunikation sowie aus dem Wesen des Gedankens. Es bedeutet aber nicht, daß der Kommunikationsakt, der Einzelgedanke und der Satz hinsichtlich der Zweigliedrigkeit in der konkreten Sprechpraxis unter allen Umständen unbedingt übereinstimmen müssen. Trotz außerordentlicher Vielfalt und Variabilität der jeweils eigenen Beschaffenheit der Hauptbestandteile von Mitteilungen und gegenseitiger Beziehungen dieser Hauptbestandteile bleiben die einmal entstandenen Satzformen höchst dauerhaft. Wie jede grammatische Kategorie bildet sich die grammatische Struktur des Satzes auf der Grundlage gedanklicher Verallgemeinerungen heraus, die die objektive Wirklichkeit widerspiegeln. In den grammatischen Formen der Hauptglieder des Satzes und in der besonderen Art ihrer Verbindung reflektieren sich die wesentlichsten Beziehungen der objektiven Welt, wie sie vom menschlichen Bewußtsein erfaßt und im Gedanken bewußt gemacht werden. In jedem Satz wird ein Fragment, ein „Stückchen" objektiver Wirklichkeit widergespiegelt (der Kürze wegen verzichten wir auf eine genauere Formulierung: ... wird etwas im Gedanken Widergespiegeltes ausgedrückt). Das mentale Abbild des einen oder anderen Fragmentes der Wirklichkeit kann mehr oder weniger umfassend bzw. vollkommen sein, verschiedene Grade sind möglich. Aber in jedem Satz spielt die führende, die entscheidende Rolle irgendein Zusammenhang, eine Beziehung, eine Relation im Wirklichkeitsfragment, dessen Abbild der gegebene Satz wiedergibt. Und auf eben diese Beziehung gründet sich vor allem der Satz, eben sie spielt im Satz die organisierende Rolle, sie stellt die Basis für die Verbindung von Satzsubjekt und Prädikat dar, denn sie ist die satzbildende prädikative Beziehung. Die übrigen Satzglieder verdeutlichen diese Beziehung, fügen verschiedene Erweiterungen hinzu, sind aber vom Standpunkt der Abgeschlossenheit des Satzes aus gemeinhin nicht notwendig. < . . . > Mannigfaltige Beziehungen, die den Phänomenen der objektiven Welt eigen sind, spezifische Besonderheiten dieser Beziehungen, die in Gedanken an sie widergespiegelt werden, erhalten ihren sprachlichen Ausdruck unter anderem in unterschiedlichen Satzstrukturen. Daher die Ungleichheit der sich teilweise widerstreitenden Tendenzen, die sich auf die Herausbildung der Satzstrukturen auswirken. Einerseits können Strukturen entstehen, in denen der prädikative Kern des Satzes Formen bekommt, die die generelle Fähigkeit grammatischer Phänomene zur Verallgemeinerung der ihnen zukommenden
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Inhalte am augenfälligsten erkennen lassen. Andererseits können Satzformen aufkommen, die der Wiedergabe von Beziehungen dienen, die vom Standpunkt der objektiven Wirklichkeit aus eigentümliche Sonderfälle darstellen. Mit anderen Worten: Die (logische) Verallgemeinerungsfunktion der Satzstruktur kann sich als in unterschiedlichem Grade ausgeprägt erweisen. Immerhin ist diese Funktion zumindest in einem gewissen Grade jeder Satzstruktur eigen. < . . . > In den indoeuropäischen Sprachen beobachten wir meist die Auswirkungen beider genannten Tendenzen. Einerseits ist dies die Tendenz zur Herausbildung einer gemeinsamen Form für alle Satzarten, und das Ergebnis ist die Festlegung des Nominativs als Form des Satzsubjektes und der Form des (finiten) Verbs zum Ausdruck des Prädikats; die Zusammenfügung beider drückt in maximal genereller Weise die Beziehung zwischen dem Agens (einer Wesenheit, von der eine Handlung bzw. ein Zustand „ausgeht") und einer Handlung bzw. einem Prozeß schlechthin (als dem vom Agens „Ausgehenden") aus. Andererseits ist eine mehr oder weniger weitreichende Differenzierung der Satztypen festzustellen, eine Differenzierung, die dem Bedürfnis nach Widerspiegelung typischer Unterschiede in der Welt objektiver Beziehungen entspricht und die je nach Einzelsprache in besonderer Weise ausgestaltet ist. Die Differenzierung betrifft vor allem die Formen des Prädikats, denen immerhin bei allen möglichen Unterschieden wesentliche gemeinsame Merkmale eigen bleiben. Im Verlauf neuerer Entwicklungsstufen solcher indoeuropäischen Sprachen wie der slawischen, der germanischen, der romanischen scheint sich die Differenzierung der Satztypen verstärkt zu haben. Dies hängt in erster Linie damit zusammen, daß die Möglichkeiten, die Stellung des Prädikats mit einem alleinstehenden finiten Verb zu besetzen, immer mehr eingeengt werden; immer häufiger dagegen kann das finite Verb (als Kopula bzw. als Hilfsverb) nur in Verbindung mit einer nominalen Verbform bzw. einem Nomen dem Ausdruck des Prädikats dienen (und manchmal wird das finite Verb durch nominale Wortformen aus der prädikativen Position verdrängt). Auf diesen Problemkomplex können wir hier allerdings nicht ausführlich eingehen. Diese Probleme erfordern eine eigene, tiefgehende Erörterung. Wir berühren sie nur nebenbei und mit dem einzigen Ziel, nämlich das Vorhandensein differenzierter Satztypen zu betonen, in denen - von Sprache zu Sprache in unterschiedlicher Weise - Mittel und Wege festgelegt sind, die es gestatten, verschiedene Arten von Beziehungen zwischen Gegebenheiten der objektiven Wirklichkeit entsprechend der Natur dieser Beziehungen vermittels bestimmter grammatischer Formen wiederzugeben. Es sei auch darauf hingewiesen, daß die für die gegebene Sprache typischen Formen des Satzsubjektes und des Prädikats sowie ihrer Verbindung zu notwendigen (und zugleich ausreichenden) Merkmalen des Satzes werden, die den Satz von allen Arten nichtprädikativer Fügungen unterscheiden. Unabhängig vom konkreten Inhalt des einen oder anderen Redeabschnitts macht ihn eine grammatische Form, die eine der im Sprachbau verankerten (zweigliedrigen oder sich unter bestimmten Umständen gesetzmäßig anbietenden eingliedrigen) Satzformen darstellt, zum Satz. Ohne „Verkörperung" in einer solcher Formen erlangt
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kein Redeabschnitt, ganz gleich, welchen semantischen Gehalt er wiedergibt, den Status des Satzes - es sei denn, daß sich der betreffende Redeabschnitt unter bestimmten Bedingungen des Kontextes bzw. der Sprechsituation als elliptisch erweist und sich somit gleichsam an einen anderen im Kontext vorhandenen Satz anlehnt bzw. semantisch anhand der Sprechsituation durch die in seinem Wortbestand fehlenden Elemente ergänzt wird. Das grammatische System verfügt im Endergebnis über spezielle satzbildende Mittel, diese können aber u. U., was ihr semantisches „Eigengewicht" anbetrifft, an den Rand des Bedeutungsgehaltes des Satzes rücken. Bei der Wahl einer Satzform aus den Satzformen, die sich im Sprachsystem niedergeschlagen haben, kann es geschehen, daß bei der Überfuhrung einer objektiven Beziehung in die prädikative Beziehung als die grammatische Basis des Satzes diese nicht das für den Sprecher Wesentlichste am Sachverhalt, nicht das momentan kontext- bzw. situationsbedingt Aktuellste trifft, sondern eine andere Beziehung, die - im Einklang mit ihrem Charakter - von der gewählten Satzgestalt am unmittelbarsten und leichtesten, gleichsam automatisch in den Stand prädikativer Beziehung erhoben wird. Infolgedessen kann es Sätze geben, in denen das Verhältnis zwischen den grammatischen Hauptbestandteilen und das Verhältnis zwischen den Hauptbestandteilen, die sich unter dem inhaltlichen Aspekt der Mitteilung abzeichnen, merklich divergieren. Zum Beispiel kann der Satz Ometf npuedem 3aempa ['Vater kommt morgen'] eine Mitteilung enthalten, in der sich Omeif npuedem als erster Teil des aktuell Mitzuteilenden (das, worüber etwas mitgeteilt wird) erweist und 3aempa als zweiter (als das darüber Ausgesagte bzw. Mitgeteilte). Dennoch sind in diesem zweigliedrigen Satz vom grammatischen Standpunkt aus das Satzsubjekt das Wort omey, das Wort npuedem das Prädikat und das Wort 3aempa ein Nebenglied des Satzes, und zwar eine adverbiale Bestimmung. Der Kommunikationsakt, die Mitteilung stimmt mit der grammatischen Satzstruktur nur im allgemeinen, in den Grundzügen überein, die konkreten Erscheinungsformen der Mitteilungen, die hic et nunc erfolgen und unter dem Einfluß mannigfaltiger von Fall zu Fall wirksam werdender Faktoren stehen können, weisen in ihrer aktuellen Struktur recht häufig wesentliche Unterschiede von dem grammatischen Bau der sie vermittelnden Sätze auf. Der situative Kommunikationsakt ist aufs unmittelbarste mit der Entfaltung des konkreten Denkvorgangs, mit dem psychischen Prozeß verbunden, der sich im Zuge gleichzeitiger Ausformung des Gedankens, der Mitteilung und des Satzes vollzieht. Der Übergang vom Gegebenen zum Neuen, der zur psychologischen Seite der Satzbildung gehört, stellt eines der wichtigsten Momente des Inhalts der Mitteilung dar, und er wird von der Mitteilung ständig mitgetragen. Der Kommunikationsakt vermittelt auch die emotionale Färbung des betreffenden psychischen Vorgangs. Selbstverständlich können wir diesen Fragenkomplex hier nur flüchtig streifen; es sei allerdings betont, daß die Analyse aller Seiten der Kommunikationsakte, inklusive der mit ihnen zusammenhängenden psychischen Vorgänge, eine Analyse, die der tatsächlichen Natur sprachlicher Kommunikation adäquat sein will, sehr wichtig, zugleich aber auch höchst kompliziert ist. Es ist unter anderem von großer Bedeutung, daß ungeachtet mitunter sogar beträchtlicher Diskrepanzen zwischen der
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grammatischen Form des Satzes und dem Bestand bzw. der Gliederung seiner kommunikativen „Füllung" konkrete Besonderheiten der gegebenen Mitteilung zusammen mit ihrem ganzen psychischen Unterbau in all seiner situativen Variabilität die Wahl bestimmter Satzformen beeinflussen. Insbesondere wirken sich die genannten Faktoren in Form intonatorischer Modifikationen des Satz-„Verlaufs" sowie im Bereich der Wortstellung aus (einigen Satzkomponenten können Stellungen außerhalb eigentlicher Satzgrenzen zugewiesen werden; es werden in den Satz spezielle Partikeln eingeführt, die man emphatisch, gefühlsbetont, logisch hervorzuhebenden Satzkomponenten anfügt, u. dgl.). Zu betonen ist übrigens auch, daß die entsprechenden Satzformen keine Zufallsbildungen darstellen, sondern bestimmte typische Züge des Einzelsatzbaus präsentieren und sich typologisch zusammenfassen und klassifizieren lassen. Das oben Ausgeführte bedeutet keinesfalls, daß die grammatische Zweigliedrigkeit des Satzes, das Vorhandensein sowohl des Satzsubjektes wie auch des Prädikats in seinem Bestand eine rein formale und mehr oder weniger belanglose Äußerlichkeit ist. Wie wir zu zeigen bestrebt waren, entspricht die grammatische Zweigliedrigkeit grundlegend dem Bedürfnis nach gedanklicher Erfassung und sprachlichem Ausdruck der wichtigsten, der wesentlichsten Beziehungen zwischen Phänomenen der objektiven Wirklichkeit. Das Satzsubjekt und das Prädikat des Satzes bilden in ihren eigenen sprachbaulich festgelegten Formen und in ihrer Bindung aneinander nicht nur das tragende grammatische Gerüst des Satzes, sondern sie vermitteln auch einen tiefgreifend verallgemeinernden semantischen Inhalt, der eben diesem stabilen Satzgerüst zukommt - dies ungeachtet dessen, daß im beliebigen Einzelfall der semantische Schwerpunkt der Aussage auf Satzkomponenten außerhalb dieses Satzgerüstes verlagert werden kann, die sich auf den grammatischen Satzkern lediglich in struktureller Hinsicht stützen.
VI In den ersten Abschnitten dieses Beitrags ist in allgemeiner Form die These formuliert worden, daß alle im Sprachsystem verankerten Satztypen, die von der syntaktischen Zweigliedrigkeit abweichen, auf besonderen Voraussetzungen beruhen, die mit gewissen Besonderheiten gedanklicher Inhalte bzw. mit spezifischen Merkmalen der Kommunikationsakte zusammenhängen. Nun ist es an der Zeit, die Geltung dieser These einzuschränken. Je nachdem, welchen Entwicklungsgang das grammatische System einer Sprache durchlaufen hat, kann die Zahl nichtzweigliedriger Satztypen in dieser Sprache größer oder geringer sein. Prinzipiell ist sogar der Übergang zu einem Satzbau denkbar, bei dem die nichtzweigliedrige Satzstruktur zur „normalen" oder zumindest zu einer mit der zweigliedrigen in allen Kommunikationsbereichen gleichberechtigten Satzform wird. Eine solche Tendenz ist in mehr oder weniger hohem Maße den inkorporierenden Sprachen eigen. Für eine hohe Anzahl von Sprachen bleibt unsere These der definitiv vorherrschenden Zweigliedrigkeit des Satzes unbestreitbar gültig; allerdings sind
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die Mengen und die konkreten Formen eingliedriger Satztypen in diesen Sprachen in Abhängigkeit vom allgemeinen Charakter des jeweiligen Sprachsystems unterschiedlich. So verhält es sich beispielsweise in den indoeuropäischen Sprachen, in denen einerseits die Satzstrukturen viele gemeinsame Züge haben, von denen andererseits j e d e über eine Anzahl verschiedenartig gestalteter nichtzweigliedriger Satztypen verfügt. Wir wenden uns im weiteren dem Beispiel der deutschen Sprache zu. Den uns interessierenden Sachverhalt werden wir anhand dieser Sprache in ganz allgemeiner Weise erläutern. Der Vergleich mit dem Russischen hinsichtlich profilierender einzelsprachlicher Gesetzmäßigkeiten, die die Abweichungen von der Zweigliedrigkeit des Satzes betreffen, 2 1 soll zur Klärung des Problems beitragen. Auf einige wichtige Besonderheiten der russischen Syntax haben wir oben bereits hingewiesen. Der Sprachvergleich eröffnet die Möglichkeit, den Zusammenhang zwischen dem Charakter der Gliederung des Satzes und den allgemeinen Zügen des Satzbaus aufzuzeigen. Der deutsche Sprachbau weist wesentliche Gemeinsamkeiten mit dem russischen Sprachbau auf. Beide Sprachen gehören zum flexivisch-analytischen Sprachtyp (immerhin ist das Deutsche in geringerem Maße flexivisch als das Russische). Im Gegensatz zum Russischen ist aber für das Deutsche eine stark ausgeprägte Tendenz zu formvollendeter struktureller Ausgestaltung sowie zu sehr deutlicher, transparenter interner Gliederung des Satzes charakteristisch. Das Russische zeichnet sich durch eine flexible, lockere, freie Art der Satzbildung aus; für den deutschen Satz ist dagegen im allgemeinen eine ausgesprochene Ganzheitlichkeit und innere Geschlossenheit seiner gesamten Struktur typisch. Eine außerordentlich große Rolle spielen strukturell fest zusammengefügte Wortgruppen sowie solche formalen Mittel der Organisation des Satzganzen wie die Rahmenkonstruktion (die „Einklammerung") in ihren verschiedenen Erscheinungsformen. Im Vergleich mit dem Russischen kennzeichnet den deutschen Satz in weit höherem Maße die Verwendung des finiten Verbs zum Ausdruck des Prädikats und des Nominativs als Form des Satzsubjektes. Die Teilnahme des finiten Verbs am Ausbau des Satzes ist nahezu stets verbindlich, die Tendenz zum Gebrauch des Nominativs als Satzsubjekt ist zumindest sehr stark ausgeprägt. 22 Diese Züge des grammatischen, vor allem des syntaktischen, Systems des Deutschen bedingen wesentliche Unterschiede zwischen dem Deutschen und dem Russischen hinsichtlich des Charakters der inneren Gliederung des Satzes in diesen Sprachen. Im großen und ganzen ist die Zweigliedrigkeit des Satzes im Deutschen viel breiter vertreten als im Russischen. Der vornehmliche Gebrauch des Nominativs als Satzsubjekt und der finiten Verbform in prädikativer Funktion ist gleichbedeutend mit der Tendenz zur Zweigliedrigkeit des Satzes. Wesentlich ist, daß morphologisch zweigliedrige Sätze dem
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22
Die eingliedrigen Satztypen des Deutschen hat Ries höchst systematisch betrachtet, s. R i e s , J.:Op. cit. S. 112ff.
AÄMOHH, Β.Γ.: Ο Ηβκοτορωχ 3aKOHOMepHOCTax pa3BHTHs CHHTaKCHHecKoro
CTpofl. In: /JoKJiaabi h coo6uieHna MHCTHTyra »3biK03HaHnn AH CCCP. V, 1953 [s. in diesem Band S. 35ff.].
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deutschen Sprachsystem beinahe völlig fremd sind. Dies erklärt sich offensichtlich daraus, daß die Flexionsendungen im Deutschen zumeist nicht eindeutig und somit grammatisch nicht ausdrucksfähig genug sind, sowie aus der allgemeinen Tendenz zu formal-grammatisch ausgesprochen deutlicher Ausgestaltung der Satzstruktur im ganzen. So kommt die auch im Russischen verhältnismäßig selten anzutreffende Satzform mit einem Prädikatsverb in der 1. oder 2. Person ohne (hauptsächlich pronominales) Subjekt im Deutschen noch seltener vor, wobei der Satz stets die Stilfärbung ungezwungenen mündlichen Alltagsverkehrs bzw. gefühlsbetonter Äußerung erhält, vgl. Wirst sie wohl reinlassen, Mutter (Seghers). In noch selteneren Fällen - unter günstigen Bedingungen des Kontextes, im Dialog - fehlt das Subjekt beim Verb in der 3. Person, vgl. Weil plötzlich alle ein wenig leiser sprachen, gab es ein sonderbares Gezisch: „ Holzklötzchen... Hat sich die Zunge verbrannt", sagte jemand zu Franz (Seghers). Der zufällige, situativ-elliptische Charakter eines solchen Gebrauchs des finiten Verbs ohne Satzsubjekt liegt in solchen Fällen auf der Hand. Der Gebrauch des finiten Verbs in Verbindung mit dem Satzsubjekt, einem substantivischen oder pronominalen, ist die Regel.23 In den unbestimmt-persönlichen Sätzen des Deutschen begegnen wir nicht der morpholgischen Zweigliedrigkeit wie im Russischen, sondern der syntaktischen Zweigliedrigkeit, vgl. Man sagt; Man arbeitet·, das Gleiche bezieht sich auf die unpersönlichen Sätze, vgl. Es regnet; Es tagt; Es ist hell; Es ist schwül u. dgl. Bezeichnenderweise hat sich im Deutschen gerade dieses rein formale Satzelement es entwickelt, das als Satzsubjekt auftritt, dem eigentlich jeglicher als Abbild einer auch nur halbwegs realen Gegebenheit aufzufassender Sinngehalt abgeht. Die angeführten Satztypen bezeugen augenfällig die Tendenz zum klaren grammatischen Ausdruck der Zweigliedrigkeit. Diese Tendenz hängt zweifellos damit zusammen, daß nicht alle verbalen Flexionsendungen eindeutig sind; so fällt unter anderem die Endung der 3. Person Sg. mit der Endung der 2. Person PI. zusammen: er macht - ihr macht. Doch ist dies wohl nicht der einzige Grund. Hier machen sich in erster Linie die allgemeinen Strukturtendenzen des deutschen Sprachbaus geltend, erweist sich doch bei einigen unpersönlichen - sonst zweigliedrig aufgebauten - Konstruktionen das formale Satzsubjekt es als entbehrlich (s. weiter unten). Es stellt sich also heraus, daß unter bestimmten syntaktischen Bedingungen selbst die morphologisch nicht eindeutige Form der 3. Person Sg. ohne Verbindung mit es, also allein, zum Kern eines abgeschlossenen unpersönlichen Satzes werden kann. Dennoch beherrscht zweifellos die Satzform mit dem formalen es-Subjekt den Bereich der Unpersönlichkeit als syntaktischer Kategorie. Also ist im Deutschen fiir Sätze, in denen ein Vorgang oder ein Zustand einem unbekannten bzw. einem extrem allgemein oder unbestimmt gefaßten Handlungs-, respektive Zustandsträger zugeschrieben wird, vornehmlich eine Satzstruktur mit syntaktischer Zweigliedrigkeit charakteristisch, und dieser 23
Vgl. Ρ a u 1, H.: S. 22ff.
Deutsche
Grammatik. Bd. 111.
Halle
(Saale)
1954
[Ί919],
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des Satzes
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Träger bekommt somit trotz seiner Allgemeinheit, seiner Unbestimmtheit oder gar völliger Unbekanntheit einen deutlichen Ausdruck in Form des Satzsubjektes, nämlich als es, man und einige andere Wörter, wie einer, jemand u. dgl., die in der Funktion des Satzsubjektes mit ähnlicher unbestimmter Bedeutung auftreten können, aber in dieser Hinsicht offenbar zweitrangig sind. 24 Im Russischen herrscht in analogen Fällen die morphologische Zweigliedrigkeit vor (an volle Eingliedrigkeit grenzen lediglich einige Subklassen von Sätzen mit der Bedeutung der „Kategorie des Zustandes", wie XonodHo ['Es ist kalt']). Man beobachtet ganz andere Verhältnisse, wenn man sich Sätzen zuwendet, in denen der Träger eines Zustandes mit voller Bestimmtheit angegeben, der Zustand dagegen nicht anders als in einer extrem allgemeinen Weise aufgefaßt wird, da er mit dem undifferenzierten Sein des Zustandsträgers zusammenfällt. Wir haben es in diesem Fall im Russischen mit Existenzialsätzen zu tun, die - bei gewisser Vielfalt in der einen oder anderen Hinsicht - stets die Form eingliedriger Sätze aufweisen. Die gleiche Form haben die Existenzialsätze im Deutschen, nämlich die Form des Nominativs. Vgl. zum Beispiel: Laue Wärme, kühle tiefschwarze Nacht und helles Licht. Stimmen vorbei, Gestalten (J.Schlaf). Eine ähnliche eingliedrige Form haben im Deutschen die „Benennungssätze", in denen der Nominativ seine besondere Funktion unter spezifischer Anlehnung an den Kontext bzw. an die Sprechsituation ausübt, die den „zu benennenden" Gegenstand irgendwie vorgeben („Faust", „Die Räuber" u. dgl.). Eingliedrig sind im Deutschen auch die kontextgebundenen, jedoch typologisch stabilen Bewertungssätze, die in der Regel ein Adjektiv in Kurzform oder ein Substantiv in Begleitung eines attributiven Adjektivs darstellen, vgl. - bei irgendeiner Wahrnehmung - Schön! oder Gut; Ein schönes Bild! Ausrufe wie Feuer!; Gefahr! stehen den Existenzialsätzen nahe. Echte eingliedrige Sätze sind im Deutschen nicht weniger breit vertreten als im Russischen, wobei in einem Fall die Eingliedrigkeit im Deutschen sogar der morphologischen Zweigliedrigkeit im Russischen entspricht, vgl. Schön! und Kpacueo! (die Endung -o des russischen Wortes kann als Formans des Neutrums aufgefaßt werden, das das extrem generalisierende Satzsubjekt 3/no ['das'] impliziert). Die deutsche Kurzform des Adjektivs ist auch vor allem mit prädikativer Funktion verbunden, so daß in Fällen wie Schön! sogar formal eine Projektion vom Adjektiv zum „unterdrückten" Satzsubjekt angenommen werden kann, diese ist aber unvergleichlich schwächer als die von der entsprechenden russischen Form ausgehende. Das Deutsche erweist sich im oben angesprochenen syntaktischen Bereich gegenüber formal eindeutig gekennzeichneter Eingliedrigkeit viel toleranter als das Russische mit seinen vorwiegend morphologisch zweigliedrigen Satzformen. 25 Wenn man rein elliptische morphologisch zweigliedrige Sätze sowie die Möglichkeit un24
25
Vgl. S ü t t e r l i n , L.: Die deutsche Sprache der Gegenwart. 3. Aufl. Leipzig 1910. S. 193. Verbreitet sind im Deutschen u. a. eingliedrige Aufforderungs- bzw. Befehlssätze mit einem Infinitiv oder zweiten Partizip als Kernglied, vgl. Aufstehen! oder Aufgestanden!
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Zur Zweigliedrigkeit
des Satzes
terschiedlicher Deutung der Formen wie Schön! beiseite läßt, ist im Deutschen nur ein einziger Fall deutlich markierter morphologischer Zweigliedrigkeit zu verzeichnen, nämlich der Aufforderungssatz, in dem die Gegenüberstellung der endungslosen Form des verbalen Prädikats bzw. der Form mit der Endung -e (gelegentlich vom Stammvokalwechsel begleitet) und der Form auf -(e)t den Unterschied zwischen der 2. Person Sg. und der 2. Person PI. eben morphologisch zum Ausdruck bringt. Die Formen des Typs Komm(e) Kommt bezeichnen nicht nur die Handlung, sondern - an sich in ganz allgemeiner und unbestimmter Weise - den bzw. die Handelnden. Bemerkenswert ist indessen, daß Aufforderungs- bzw. Befehlssätze mit anderen Imperativischen Verbformen, nämlich mit der Form der 1. Person PI. oder der Höflichkeitsform der 3. Person PI., syntaktisch zweigliedrig sind: Gehen wir!; Kommen Sie! Einerseits ist dies daraus zu erklären, daß - im Gegensatz zum Imperativ in der 2. Person Sg. und PI. - die Flexionsendungen der „höflichen" Verbform in der 3. Person PI. und die Form der Aufforderung in der 1. Person PI., und zwar in beiden Fällen die Flexionsendung -(e)n, homonym und somit von schwacher grammatischer Ausdrucksfähigkeit sind. Andererseits ist in Rechnung zu stellen, daß die morphologische Zweigliedrigkeit bei der 2. Person, die Tatsache, daß sich hier die für das Deutsche im allgemeinen so charakteristische syntaktische Zweigliedrigkeit nicht durchgesetzt hat, sich auch darauf gründet, daß die AufForderungssätze aufs engste mit spezifischen Redesituationen zusammenhängen, in denen die angeredete Person mit dem Handlungssubjekt zusammenfällt, so daß sich seine Benennung erübrigt. Interessant ist u. a. der Umstand, daß die Flexionsendung -t, die im Aufforderungssatz das Fehlen des Satzsubjektes kompensiert, einen ähnlichen Effekt im Aussagesatz nicht bewirkt; allerdings ist diese Flexionsendung im Subsystem der Konjugation im Imperativ absolut eindeutig. Jedenfalls nimmt der Aufforderungssatz mit seiner morphologischen Zweigliedrigkeit eine Sonderstellung im deutschen Sprachbau ein. Im Zuge seiner historischen Entwicklung wurde die morphologische Zweigliedrigkeit des Satzes weitgehend durch die syntaktische Zweigliedrigkeit verdrängt. Die Bildung von Sätzen ohne Personalpronomen als Satzsubjekt ist, nach dem Gotischen zu urteilen, in den altgermanischen Sprachen Norm gewesen, was als eine Nachfolgeerscheinung der Regularitäten gemeinindoeuropäischer Satzbildung anzusehen ist. Im Althochdeutschen wurde die Satzform ohne Personalpronomen als Satzsubjekt nicht mehr systematisch verwendet, doch fehlte dieses Satzsubjekt damals viel häufiger, als dies in der Gegenwartssprache möglich ist. Syntaktisch (teilweise auch morphologisch) eingliedrig konnten im Althochdeutschen unpersönliche Sätze sein, vgl. ... soso zam (Otfrid U 12, 71) 'wie es ziemte'; heiz wirt zi sumere (Notker. Boethius I, 24) 'im Sommer wird es heiß' (anzumerken ist, daß es zu Notkers Zeit bereits als unpersönliches Pronomen bzw. als „Scheinsubjekt" des unpersönlichen Satzes im Gebrauch war). Nicht nur eine syntaktisch, sondern auch eine morphologisch zweigliedrige Struktur konnten bis ins Mittelhochdeutsche hinein die Aufforderungssätze mit der Imperativform in der 1. Person PI. erhalten, vgl.farames (Otfrid I 18, 33) 'Machen wir uns auf den Weg' und nü riten fröuden äne
Zur Zweigliedrigkeit des Satzes
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heim in unser lantl (Nibelungen 1034) 'Reiten wir nun freudelos heim in unser Land'. 26 Mithin läßt sich für (zumindest syntaktisch) eingliedrige Sätze, die mit voll ausgebauten zweigliedrigen Satzstrukturen in unmittelbare Berührung kamen, die folgenreiche Tendenz nachweisen, auf die syntaktische Zweigliedrigkeit umzuschalten. Die Wiedergabe der Subjekt-Prädikat-Beziehung durch die Verbform allein wird nach und nach unmöglich (ausgenommen die Aufforderungssätze mit der Imperativform in der 2. Person Sg. und PI.); dieser Grenzfall zwischen Zweigliedrigkeit und Eingliedrigkeit wird weitestgehend beseitigt. Wo das finite Verb auftritt, muß auch das Satzsubjekt her. Daß das finite Verb die Fähigkeit einbüßt, allein die grammatische Basis des Satzes abzugeben, hängt u. E. auch damit zusammen, daß jeder Satz mit einem finiten Verb als Prädikat in engster Beziehung zu der allgemeinsten, zur Normalform des Satzes im Deutschen steht, deren grundlegende Kennzeichen sowohl das finite verbale Prädikat wie auch die syntaktische Zweigliedrigkeit darstellen, und gerät gleichsam in den Sog dieses zweigliedrigen Satztyps, ordnet sich der vorherrschenden strukturellen Regularität unter. Das Deutsche tendiert zur strukturellen Einheitlichkeit des syntaktischen Systems, und diese Tendenz bringt es mit sich, daß dort, wo Satzstrukturen aufgrund einer solchen Gemeinsamkeit wie des Vorhandenseins des prädikativen finiten Verbs als Satzkerns einander nahekommen, die zweigliedrige Struktur als dominierende Gesetzmäßigkeit immer größeren Raum gewinnt. Indessen bewahrt das Sprachsystem nach wie vor einige eingliedrige Satztypen, die zu der im Deutschen führenden syntaktischen Struktur keine wesentlichen Berührungspunkte aufweisen, solche Satztypen nämlich, die nicht auf dem finiten Verb basieren, das in seiner Grenzfall-Eigenschaft den Satz morphologisch zweigliedrig macht. Solche echt eingliedrigen Sätze haben keine Verluste erlitten. Ihre spezifische Struktur, die in vollem Einklang mit ihrem spezifischen Inhalt steht, gestattet es ihnen, dem generellen Trend zur Uniformierung der Satzstruktur im Deutschen im Sinne der Zweigliedrigkeit zu widerstehen. Bezeichnenderweise sind dies in erster Linie Sätze mit nominalem Kern, der die Form des Nominativs hat. So wichtig der Nominativ (als Kasus des Satzsubjektes!) für die Satzbildung im allgemeinen auch sein mag, er ist dennoch nicht ausschließlich mit dieser Funktion verbunden, sondern erfüllt auch andere Funktionen im Satz (die Nennfunktion, die Funktion des Prädikativs und einige andere). 27 Die finite Verbform ist dagegen nur auf eine einzige syntaktische Funktion spezialisiert, nämlich auf die des Prädikats. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß die Verdrängung morphologischer Zweigliedrigkeit im Deutschen mit der Reduktion verbaler Flexionsendungen, mit der Schwächung ihrer grammatischen Ausdrucksfahigkeit einhergeht. Wir glauben aber, daß dies nicht die einzige Ursache des Rückgangs morphologischer Zweigliedrigkeit war. Die oben dargelegten Faktoren allge26
Vgl. Ε r d m a η η ,0., Μ e η s i η g ,Ο.: Grundzüge der deutschen Syntax nach ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt. Abt.I-II. Stuttgart 1886-1898. S. 2-8.
27
Vgl. B u H o r p a a o B , B.B.: PyccKHH »3wk. MocKea - JleHMHrpaa 1947. S. 1 7 0 -
171.
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Zur Zweigliedrigkeit des Satzes
meiner Art, die Haupttendenzen, die sich in der Struktur des Satzes im Deutschen auswirkten, müssen gleichfalls den historischen Prozeß beeinflußt haben, der zum Verlust der Fähigkeit des Verbs gefuhrt hat, allein als struktureller Satzkern zu fungieren. Dies wird u. a. dadurch bestätigt, daß der Rückgang von Satzstrukturen mit morphologischer Zweigliedrigkeit in die frühesten Perioden der deutschen Sprachgeschichte fallt. Wir haben oben bereits erwähnt, daß es im Althochdeutschen morphologisch zweigliedrige Satzstrukturen gegeben hat, die mit der Zeit aus der Sprache schwanden. Bezeichnenderweise waren aber schon damals neben morphologisch zweigliedrigen Sätzen auch Parallelstrukturen mit syntaktischer Zweigliedrigkeit im Gebrauch, die im Sprachsystem die morphologisch zweigliedrigen merklich überwogen. So ist im Althochdeutschen beispielsweise die Struktur mit dem formalen Satzsubjekt iz für die unpersönlichen Sätze weit typischer als die Struktur ohne dieses Satzsubjekt, vgl. iz äbandet (Tatian, 228, 2) 'Es wird Abend'; want α iz filu kalt was (Otfrid IV, 18, 11) 'weil es sehr kalt war'. Dabei hat es zu jener Zeit noch relativ eindeutige, nicht (oder nur schwach) reduzierte verbale Flexionsendungen gegeben. Ein weiterer Beweis dafür, daß die Verdrängung morphologischer Zweigliedrigkeit aus dem deutschen Sprachsystem nicht nur durch phonetische Reduktion der Flexionsendungen bedingt wurde, liegt im fakultativen Charakter des formalen es-Satzsubjektes in manchen Typen unpersönlicher Sätze. Bekanntlich kann das es-Subjekt in einigen Fällen, nämlich dann, wenn die Spitzenstelle im Satz durch einen dem finiten Verb untergeordneten Akkusativ oder Dativ (vorwiegend eines Personalpronomens) bzw. durch eine adverbiale Bestimmung besetzt wird, fehlen (und muß unter bestimmten Umständen fehlen), vgl. Mich friert; Hier wird getanzt. Auf diese Weise ergeben sich eigenartige Satzstrukturen aus zwei Hauptkomponenten, die - bei den genannten Varianten der Wortstellung - für die Satzbildung vollkommen genügen, obwohl das Nominativsubjekt im Satz nicht vertreten ist. Aus strikt formal-grammatischer Sicht haben wir es hier mit eingliedrigen Sätzen zu tun, denn die Wörter mich bzw. hier haben in den betreffenden Sätzen den Status abhängiger Glieder der Verbgruppe. Jedoch die Tatsache, daß eben diese Wörter in diesen ihren Stellungen im Satz solchen Satztypen abgeschlossenen Charakter verleihen (Sätze wie Friert oder Wird getanzt bzw. Getanzt wird sind ungrammatisch), macht sie zu notwendigen Satzkomponenten, und dies gestattet die Schlußfolgerung, daß die Sätze wie Mich friert; Hier wird getanzt als artgleiche Parallelbildungen zu syntaktisch zweigliedrigen Satzstrukturen anzusehen sind. In diesen Sätzen liegen Verbindungen zweier für die Satzbildung notwendiger Glieder vor, obgleich die Form des Satzkerns als Ganzen mit dessen „klassischer" Form nicht übereinstimmt. Dies zeugt von einer stark ausgeprägten generellen Neigung des Deutschen zur Zweigliedrigkeit, die sich hier allerdings in besonderen Formen manifestiert. Das Vorhandensein zweier Komponenten erweist sich jedenfalls in solchen Sonderformen
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als dasjenige strukturelle Minimum, das für den Ausdruck des spezifischen Sinngehaltes des unpersönlichen Satzes unabdingbar ist. 28 Im Russischen sind Sätze, die aus einem finiten Verb und dem Akkusativ oder Dativ eines Personalpronomens bestehen, auch verbreitet, vgl. Mne xoJIOÖHO; MEHH 3Ho6um ['Mir ist kalt'; 'Mich fröstelt']. Aber im Russischen ist die Verbindung des Prädikats mit einem zweiten Glied im obliquen Kasus in einem solchen Satz nur fakultativ, im Deutschen dagegen obligatorisch. Man kann also als nachgewiesen ansehen, daß das finite Verb an sich zusammen mit seiner Flexionsendung für die Satzbildung keine entscheidende Rolle spielt. Immerhin genügt unter bestimmten Bedingungen auch die Verbform der 3. Person, um einen Satz ohne Beteiligung des Subjektsnominativs zustande zu bringen, jedoch nur in dem Fall, wenn der Satzkern aus zwei Komponenten besteht. Die Zweigliedrigkeit ist im Deutschen im großen und ganzen markanter ausgeprägt als im Russischen, was sich aus den profilierenden Eigenschaften sowohl des Flexionssystems wie auch der Syntax dieser Sprachen ergeben hat. Dies berechtigt zur Schlußfolgerung, daß der Charakter der „Gegliedertheit" des Satzes im Deutschen, im Russischen und wohl in jeder Sprache von konkreten Besonderheiten des jeweiligen gesamten Einzelsprachsystems abhängt. < . . . > Wie wir gesehen haben, liegen syntaktisch nichtzweigliedrigen Sätzen bestimmte Besonderheiten gedanklicher Inhalte, die sie zum Ausdruck bringen, zugrunde, sie entsprechen bei ihrem Gebrauch aber auch den Besonderheiten einiger spezifischer Kommunikationsaufgaben. Der Vergleich des Deutschen mit dem Russischen zeigt allerdings, daß die genannten Faktoren zwar notwendige Voraussetzungen für die Herausbildung eines Subsystems von Satzstrukturen darstellen, die von der syntaktischen Zweigliedrigkeit abweichen, jedoch nicht unbedingt zur Entfaltung eines Subsystems dieser Art fuhren. Je flexibler, j e weniger straff, an strenge Gestaltungsregeln gebunden der syntaktische Bau einer Sprache ist, j e freier in ihr die Beziehungen zwischen Wort und Satz sind, um so unmittelbarer tritt in dieser Sprache in mannigfaltig differenzierten Formen grammatischen Ausdrucks der die Einglied-
28
Um die Sonderstellung solcher Sätze im Sprachsystem terminologisch festzuhalten, könnte man sie im Unterschied zu „zweigliedrigen" als „zweiteilige" bezeichnen. Eine ähnliche terminologische Unterscheidung hat Sachmatov für das Russische vorgeschlagen; allerdings schrieb er eine Sonderstellung nur Sätzen zu, die die Kombination des finiten Verbs mit einem Substantiv im Genitiv darstellen, der - aus historischer Sicht - dem Verb nicht untergeordnet ist ( HI a χ μ a TOB, A.A.: Op. cit. S. 9 7 - 9 8 ) . Dieser Terminus würde einerseits darauf hinweisen, daß die betreffenden Sätze nicht die „klassischen" Formen des zweigliedrigen Satzkerns aufweisen, andererseits würde er immerhin die Notwendigkeit zweier Hauptkomponenten für ihre Bildung hervorheben, worin ihr Parallelismus mit den zweigliedrigen Satzstrukturen deutlichen Ausdruck findet. Indessen ist es bezeichnend, daß im Deutschen auch die Tendenz zu beobachten ist, selbst die „zweiteiligen" Satzformen durch gewöhnliche zweigliedrige zu ersetzen. So kommen heutzutage Formen mit partitivem Satzsubjekt im Genitiv außerordentlich selten vor (vgl. Ihrer waren viel), die ehedem, insbesondere im Frühneuhochdeutschen, sehr verbreitet waren.
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Zur Zweigliedrigkeit
des Satzes
rigkeit in spezifischer Weise fördernde Charakter besonderer Inhalte und besonderer kommunikativer Situationen in Erscheinung. Russisch, das eine in sehr hohem Maße biegsame syntaktische Struktur hat sowie über ein reichhaltiges System morphologisch zweigliedriger und schlechtweg eingliedriger Satztypen verfügt, ist eine solche Sprache.
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Zur Modalität des Satzes I Die Kategorie der Modalität wird unterschiedlich gedeutet, und sie gehört schon deshalb zu den grammatischen Kategorien, die am meisten einer Klärung bedürfen. Dies einzusehen ist nicht schwer, es genügt, sich den Gebrauch des Terminus „modal" in traditionellen Grammatiken des Deutschen, beispielsweise in der Schulgrammatik, zu vergegenwärtigen. Der Modalität begegnen wir in erster Linie im verbalen Bereich, in dem die „Modi" (verdeutscht: „Aussageweisen") bekanntlich eine Reihe von Funktionen erfüllen. Ferner findet sich im gleichen Bereich eine besondere Gruppe von Verben, die man „Modalverben" nennt. Auch diese erfüllen unterschiedliche Funktionen. Einerseits drücken sie das eine oder andere Verhalten des Satzsubjektes zur vom Prädikat bezeichneten Handlung aus (das kann auch ein Zustand sein), vgl. Ich will arbeiten; andererseits dienen sie der Einschätzung des Wirklichkeitsanspruchs der Aussage (vor allem der durch den Infinitiv ausgedrückten Handlung), vgl. Er soll gekommen sein. Schließlich wird das Attribut „modal" in der Syntaxlehre auf eine besondere Leistung adverbialer Bestimmungen und entsprechender Nebensätze bezogen, nämlich derjenigen, die die „Art und Weise" der Handlung charakterisieren („modale adverbiale Bestimmung", „Modalsatz"). Das Spektrum der Anwendungen des Terminus „modal" ist in theoretischen Arbeiten zu Fragen der Grammatik noch breiter. Die „Modalität" verbindet man unmittelbar mit dem Satz-Begriff. Man spricht von der Modalität des Prädikats bzw. der Kopula; eine Erscheinungsform der Modalität sieht man in dem Gegensatz von Behauptung und Verneinung; in der russischen Grammatik wurde die Kategorie der „Modalwörter" aufgestellt, die aufs engste mit der Wortklasse „Modalpartikeln" verbunden ist. „Modalität" wird bei der Beschreibung der Modalverben in Verbindung mit dem Infinitiv (und bedeutungsverwandter Konstruktionen) als Ausdruck des Verhaltens des Satzsubjektes zu einer Handlung bzw. einem Zustand verstanden; sie wird aber auch mit einem breiten Kreis anderer syntaktischer Bedeutungen assoziiert. Im Vordergrund steht dabei der Zusammenhang der Modalität mit der Unterscheidung der Sätze nach dem Zweck der Aussage. Dieser Zusammenhang ist insbesondere für den Aufforderungssatz, teilweise auch für den Fragesatz aktuell; was den Aufforderungssatz anbetrifft, so bekundet sich dies in der Verwendung des auf diese Satzart spezialisierten verbalen Modus, des Imperativs; man berücksichtigt im gleichen Zusammenhang auch den Gebrauch des Infinitivs sowie - in einigen Sprachen - der Partizipien. Fragen der Modalität werden mitunter auch in Verbindung mit der Kategorie des Tempus aufgeworfen; so wird das Futur oft unter modalem Aspekt be-
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Zur Modalität des Satzes
trachtet, denn das Futur bezeichnet etwas, was sich nur als eine Möglichkeit (mit unterschiedlichen Graden der Wahrscheinlichkeit) darstellt. In den letzten Jahrzehnten wird der Modalitätsbegriff immer breiter gefaßt; einige ausländische Forscher neigen dazu, jedes beliebige subjektive Moment, das als Ausdruck individueller Einstellung des Sprechers gedeutet werden kann, als „modal" zu bezeichnen. Unter dem Modalitätsbegriff subsumiert man alle grammatischen Kategorien, sowie alle Wörter und phraseologischen Wortverbindungen, in denen man das Moment subjektiver Bewertung des Inhalts der Aussage durch den Sprecher aufspüren kann. Auch in der sowjetischen Sprachwissenschaft wird der Kategorie der Modalität eine große Bedeutung beigemessen. Im Vordergrund steht hier ihre Rolle als einer satzbildenden Kategorie. Vor allem in den Arbeiten von Vinogradov bzw. in den Arbeiten, an denen er beteiligt ist, wird die Modalität als eine Kategorie betrachtet, die den Ausdruck der prädikativen Beziehung mitbestimmt, einer Kategorie also, die jedem Satz zugrunde liegt und den Satz im allgemeinen von allen anderen Arten syntaktischer Einheiten unterscheidet. So wird die Modalität in der akademischen „Grammatik der russischen Sprache" 1 in folgender Weise mit der Prädikativität in Verbindung gebracht: Die Bezugnahme auf die Wirklichkeit ist gerade „die Bedeutung und Funktion der Kategorie der Prädikativität im allgemeinen": Sie schafft den Satz. 2 Indessen ist „die Beziehung der Mitteilung, die der Satz beinhaltet, zur Wirklichkeit die eigentliche modale Beziehung". 3 So werden die Grundbedeutungen der Kategorie der Prädikativität und der Kategorie der Modalität fast völlig gleichgestellt. Außer der Modalität beteiligen sich am Ausdruck der Prädikativität auch die Kategorien der Zeit und der Person, die Hauptrolle spielt aber die Modalität. II Die Mannigfaltigkeit der Bedeutungen und Funktionen, die der „Modalität" zugeschrieben werden, sowie widersprüchliche Deutungen dieser Kategorie machen es verständlich, daß die Aufgabe, sich mit der Kategorie der Modalität zwecks ihrer Klärung auseinanderzusetzen, als aktuell empfunden wird. Eine solche Klärung ist natürlich mit der terminologischen Seite der Angelegenheit verbunden, aber nicht nur damit, denn es stellen sich bei der Behandlung der Modalität auch wesentliche allgemeintheoretische Fragen. In der sowjetischen Sprachwissenschaft hat man mit dieser Arbeit bereits begonnen. In dem Aufsatz von Vinogradov „Zu der Kategorie der Modalität und modalen Wörtern in der russischen Sprache", im Buch „Die russische
1
2 3
„Akademisch" in dem Sinne, daß das Werk von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR herausgegeben wurde, was einer Grammatik der Nationalsprache den Anspruch auf erhöhte Autorität gewährt. - Hgg. T p a M M a T H K a pyccKoro H3biKa. Bd. II, Τ. I. M o c K ß a 1954. S. 80. Ibid. S. 81.
Zur Modalität des Satzes
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Gegenwartssprache" und in einigen anderen Arbeiten wird das Problem der Modalität in mancher Hinsicht höchst differenziert behandelt, wobei man die Vielfalt der mit dem Begriff der Modalität gemeinhin verbundenen Phänomene einzuschränken sucht. Am bedeutendsten ist die Richtung, die auf eine Differenzierung der Modalität und der Subjektivität im weitesten Sinne des Wortes abzielt. Vinogradov betont in dem bereits erwähnten Aufsatz den Unterschied zwischen der Modalität und „diversen emotionsgeladenen Formen des Ausdrucks subjektiver Reaktionen auf die Phänomene der Wirklichkeit" wie Erwartung, Hoffnung, Unruhe, Angst, Verwunderung, Zustimmung u. dgl. 4 Die Verfasser des Buches „Die russische Gegenwartssprache" folgen Vinogradov und weisen darauf hin, daß man „Ausdrücke wie κ cojKcmeHuio, κ cnacmbio ['leider', 'glücklicherweise'] als eine besondere Gruppe von Wörtern herausheben muß, die das emotionale Verhalten des Menschen gegenüber Phänomenen (Umständen, Ereignissen usw.) der Wirklichkeit zum Ausdruck bringen." 5 Eine solche Unterscheidung scheint uns zutiefst im Wesen der Dinge begründet, sie betrifft keinesfalls nur die Terminologie. In der sowjetischen Sprachwissenschaft bahnt sich mit zunehmender Bestimmtheit die Tendenz an, in der Kategorie der Modalität vor allem „die subjektiv-objektiven Einstellungen des Menschen gegenüber den Phänomenen der Wirklichkeit und ihren Zusammenhängen" zu erfassen, Einstellungen, die darauf hinauslaufen, wie der Sprecher die Beziehungen zwischen dem Inhalt seiner Aussage (der Handlung usw.) und der Wirklichkeit als solcher einschätzt und darstellt. 6 Daraus folgt u. a., daß die grammatische Bedeutung der Behauptung zu der Modalität zu rechnen ist. Vinogradov unterzieht die subjektivistische Ansicht, nach der der Indikativ aus dem System modaler Formen ausgeschlossen wird, scharfer Kritik; er schreibt: „... einerseits korrelieren die Sätze mit dem verbalen Prädikat im Indikativ, die die Wirklichkeit widerspiegeln und die Einschätzung des Abbildes der Wirklichkeit als der Realität entsprechend bewerten, mit allen anderen Arten verbaler Sätze; andererseits können die indikativischen Sätze auch modale Ausdrücke beinhalten, in denen subjektive Einstellungen des Sprechers zum Ausdruck gebracht werden, außerdem bekommen sie nicht selten intonatorische Sonderformen." 7 Es ist übrigens anzumerken, daß die sowjetischen Forscher die Anwendung des Terminus „modal" auf die adverbialen Bestimmungen der Art und Weise (sowie auf die Nebensätze analogen Inhalts) immer gemieden haben. All dies macht die Auffassung der Modalität in der sowjetischen Sprachwissenschaft weniger verschwommen und unbestimmt. Doch mangelt es auch jetzt noch an der erforderlichen Klarheit bei der Beleuchtung einiger Fragen,
4
BHHorpaaoB, CKOM
B . B . : Ο KaTeropHH MoaajibHocTM Η McwajibHbix
»3biKe. In: Tpy/ibi rpaa 1950. S. 49.
5
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CoBpeMeHHbifi pyccKHH sntiK. Μ ο ρ φ ο ϋ Ο Γ Η » . eepcHTeTa. 1 9 5 2 . S . 4 0 9 .
6
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7
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Β
, B.B.: Op. cit. S. 44.
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M'J/IATEJIBCTBO MOCKOBCKOTO
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Zur Modalität des Satzes
die mit der Modalität zusammenhängen, besonders hinsichtlich der Beziehungen der Modalität zu verwandten grammatischen Phänomenen. Am wichtigsten sind unserer Meinung nach folgende drei Punkte: 1. Das Verhältnis zwischen der Modalität und der aktuellen Verfassung des vom Satzsubjekt bezeichneten Gegenstandes in bezug auf eine von diesem Gegenstand ausgehende Handlung (oder einen Zustand): die Modalverben. 2. Das Verhältnis zwischen der Modalität und dem Ausdruck der kommunikativen Aufgabe der Äußerung (Ausdruck unterschiedlicher Arten der Aufforderung, ferner Fragen). 3. Das Verhältnis zwischen der Modalität und der Prädikativität und die Rolle der Modalität in der Satzgestaltung im allgemeinen. Alle diese Fragen betreffen das Wesen der Modalität und verdienen somit große Aufmerksamkeit. Aber das übersteigt die Möglichkeiten eines einzelnen Artikels, und ich beschränke mich auf eine der oben formulierten Fragen, nämlich auf die dritte, denn eben diese scheint mir in theoretischer Hinsicht am wichtigsten zu sein, und fur die sowjetische Sprachwissenschaft ist sie besonders aktuell. Bevor wir aber die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Modalität und der Prädikativität aufgreifen, müssen wir - wenigstens in der Art eines provisorischen Umrisses - unser Verständnis von Modalität formulieren. Das wahre Verständnis dieser Kategorie wäre natürlich erst am Ende der Analyse, als Ergebnis der Untersuchung aller vorhin gestellten Fragen zu erwarten. Aber auch bereits am Anfang der Untersuchung bedarf man einer wenigstens vorläufig angenommenen Vorstellung von der Kategorie der Modalität, einer Vorstellung, deren Inhalt nur zweifelsfrei feststellbare Merkmale der Modalität bestimmen. Die gesamte von uns unternommene Untersuchung stellt dann unsere von vornherein formulierte Auffassung der Modalität auf die Probe. Was ist also Modalität? Oder, um die Frage genauer zu stellen, was bildet das Zentrum dieser Kategorie, was ist ihr Kern? Was gehört unstrittig zur Modalität und nicht zur Kompetenz anderer grammatischer Kategorien? Bei allen Dissonanzen in der Behandlung der Modalität in verschiedenen sprachwissenschaftlichen Schulen (und in verschiedenen Etappen ihrer Entwicklung) bewahrte das System der verbalen Modi immer und überall den Status des Zentrums der Modalität, bildete den Kern dieser Kategorie. Und das Wesentlichste an der Semantik der verbalen Modi, an ihrer verallgemeinerten grammatischen Bedeutung, ist - ungeachtet einiger Unterschiede selbst im Kreis der indoeuropäischen Sprachen - die Bewertung der Realität der vom Verb ausgedrückten Handlung. Freilich entstanden im Zuge der Entwicklung einiger indoeuropäischer Sprachen auch funktional andersgeartete verbale Modi, die zum Beispiel dem Ausdruck der Abhängigkeit eines Satzes von einem anderen dienen (vgl. die Entwicklungstendenz des „subjonctif im Französischen). Die Hauptbedeutung der verbalen Modi konzentriert sich dennoch in der Regel auf die Bewertung der Realität der Handlung; besonders offensichtlich tritt dies beim Vergleich des Indikativs und des Konjunktivs in Erscheinung, zum Teil zeugt davon selbst der Imperativ.
Zur Modalität des Satzes
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Wenn die Bewertung der Realität der Handlung die Grundlage der verallgemeinerten grammatischen Bedeutung der verbalen Modi darstellt und wenn die verbalen Modi ihrerseits die Basis des Begriffs der Modalität ausmachen, kann man schlußfolgern, daß gerade die Bewertung der Realität der Handlung den Hauptinhalt der Kategorie der Modalität bildet und daß der betreffende Terminus auf die grammatischen Formen anzuwenden ist, die eben diesen Inhalt ausdrücken. Dies bedeutet nicht, daß die morphologische Kategorie des Modus sich auf den Ausdruck nur der Bewertung der Realität der Handlung beschränkt. So zeugt der Imperativ unmißverständlich davon, daß auch ein anderer Inhalt zu den Ausdrucksmöglichkeiten des Systems verbaler Modi gehört, nämlich eine bestimmte kommunikative Aufgabe, die der Satz zu erfüllen hat. Bezeichnenderweise ist auch dieser semantische Inhalt aufs engste mit der Bewertung der Realität der Handlung verbunden, denn die Handlung, die durch den Imperativ zum Ausdruck gebracht wird, ist eine Handlung, die (noch) nicht der Realität angehört, deren Verwirklichung der Sprecher erst anstrebt. Wir haben also hinreichenden Grund, mit dem Terminus „Modalität" die Bewertung der Realität der Handlung als zentrales Moment seines Inhalts zu verbinden. Und gerade diese Auffassung der Modalität gestattet es, die korrelativen grammatischen Bedeutungen der Behauptung und der Verneinung bei der Modalität unterzubringen. Ich will hier einen Vorbehalt anbringen. Im Grunde genommen bestehe ich gar nicht darauf, daß der Terminus „Modalität" an ein und nur ein bestimmtes grammatisches Phänomen geknüpft wird. Nur eine klare gegenseitige Abgrenzung mannigfaltiger Kategorien und Formen, die oft unter diesem Terminus zusammengeführt werden, wird von mir angestrebt. Aber da man bei ihrer Analyse ein solches Phänomen wie die unterschiedliche Bewertung dessen, wie sich der Inhalt der Aussage zur realen Wirklichkeit verhält, heraussondert, erweist es sich, daß diese semantische Funktion eine Sonderstellung im grammatischen System einnimmt und daß man sie von allen traditionellen grammatischen Kategorien nur zur Modalität schlagen sowie in direkte Verbindung mit dem entsprechenden Terminus bringen kann. Darum ist es zweckmäßig, die Bezeichnung gerade dieses Phänomens mit dem Terminus „Modalität" beizubehalten, denn es scheint kaum sinnvoll, dafür einen neuen Terminus einzuführen. Freilich muß man zugeben, daß dank gewisser Gemeinsamkeiten zwischen der Bewertung der Realität der Handlung und einigen anderen grammatischen Erscheinungen, die auf unterschiedliche Weise die vom Sprecher ausgehenden Einschätzungen seiner Aussage wiedergeben, der Grund dafür vorliegt, neben dem eng gefaßten Begriff der Modalität (Bewertung der Realitätsbeziehung der Aussage durch den Sprecher) auch von einem umfassenderen Begriff der Modalität Gebrauch zu machen (jede beliebige vom Sprecher ausgehende Einschätzung der Aussage). In diesem Fall könnte man Wörter und Ausdrücke wie leider, zum Glück als modal-emotionale Wörter bezeichnen, diese somit von eigentlich modalen Wörtern wie gewiß, vielleicht unterscheidend. Allerdings tritt die Regelung des Gebrauchs der Termini weit zurück vor der Aufgabe, das Wesen der uns interessierenden Phänomene auszuloten.
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Zur Modalität
des Satzes
Da der Inhalt der Kategorie der Modalität die Bewertung der Realität der Handlung ist, gehört sie zu den kommunikativ-grammatischen Kategorien (zu den „subjektiv-objektiven" Kategorien in der Terminologie von Peskovskij). 8 Mit den grammatischen Mitteln der Kategorie der Modalität wird die eine oder andere Beziehung des Satzinhalts zum im gegebenen Satz abgebildeten Fragment der Wirklichkeit unter dem Aspekt der Entsprechung bzw. Nichtentsprechung des betreffenden Abbilds mit dem realen Sachverhalt ausgedrückt. Den verschiedenen Varianten dieser Beziehung sind j e nach Sprache bestimmte syntaktische, morphologische und lexikalisch-grammatische Ausdrucksmittel zugeordnet. 9 Es handelt sich in allen Fällen um die Bewertung der Realität der Handlung (und der Aussage im ganzen), die vom Sprecher selbst gegeben wird. Natürlich wird sie nicht immer dem tatsächlichen Sachverhalt entsprechen, aber das Prinzip und die Typologie solcher Bewertungen haben einen wesentlichen objektiven Wert und sind unabdingbare Elemente der Sprache im allgemeinen. Der Umstand, daß die Modalität (im engeren Sinne dieses Begriffs, aber auch in einer Reihe anderer Bedeutungen, die gewöhnlich zu den modalen gerechnet werden) zum System kommunikativ-grammatischer Kategorien gehört, gestattet es, das Problem der Modalität von einer neuen Seite anzugehen. Die kommunikativ-grammatischen Kategorien zerfallen in zwei Gruppen. Die Grenze zwischen diesen Gruppen ist freilich nicht leicht zu ziehen, und überdies durchkreuzen sie einander häufig, so daß es angesichts dieser Situation wohl sogar genauer wäre, lediglich von einer Tendenz zur gegenseitigen Absonderung zweier Gruppen kommunikativ-grammatischer Kategorien zu sprechen. Was den Hauptinhalt der ersten dieser zwei Gruppen anbetrifft, so spiegelt sie die Bedingungen, unter denen der Kommunikationsakt erfolgt, wider. Hier sind die Eigenschaften dieses Aktes an sich am wichtigsten. So verhält es sich zum Beispiel mit der Kategorie des Tempus. Ihre Bedeutungen orientieren sich bekanntlich an dem Moment des Kommunikationsaktes. Die Formenwahl im Rahmen dieser Kategorie hängt also nicht von subjektiven Einstellungen des Sprechers ab. Sie wird durch die objektiven Umstände des Kommunikationsaktes bedingt. Ähnliche Züge sind der grammatischen Kategorie der Person eigen. Hier werden die konkreten Formen bzw. Bedeutungen jeweils durch die Rollen der Kommunikationspartner bestimmt (ich = der Sprecher, du = der Hörer), bestimmt also durch die gegebene kommunikative Situation - in ihrer Fluktuation, denn die Kommunikationspartner treten im Verlauf des Dialogs abwechselnd als „Sprecher" und als „Hörer" auf. In die Wahl der Formen, die zur Kategorie der Person gehören, spielt natürlich auch das Verhältnis des Sprechers zum Inhalt des Gesprochenen hinein, denn er macht seine Äußerungen bewußt, und sie sind irgendwie emotional gefärbt. Diese sub8
r i e i i i K O B C K H H , A.M.: PyccKHH CHHTÜKCHC Β HAYHHOM oceemeHHH. 6-oe maaMocKBa 1938. S. 108; Α Λ Μ Ο Η Η , Β.Γ.: BEEFLEHHE Β C M H T a K C H C c o e p e M e H ΗΟΓΟ HEMEUKORO souxa. MocKBa 1955. S. 11-13.
HHe.
9
Α Λ Μ ο Η Η , Β.Γ.: Op. cit. S. 178-179.
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jektive Einstellung des Sprechers spielt aber dabei keine entscheidende Rolle, ausschlaggebend sind die realen Bedingungen, unter denen der Sprechakt vollzogen wird. Sie bilden die Grundlage der Kategorie der Person, und die konkrete Formenwahl j e nach der Sprechsituation wird dem Sprecher gleichsam „aufgedrängt". Es gibt aber auch kommunikativ-grammatische Kategorien, die darauf spezialisiert sind, variable subjektive Einschätzungen des Inhalts der Aussagen auszudrücken. So dient die syntaktische Kategorie der „gehobenen Emotionalität", die in einem eigenen Satztyp zum Ausdruck kommt, nämlich in den „Ausrufesätzen", nicht dazu, irgendwelche „äußeren" Bedingungen des Kommunikationsaktes widerzuspiegeln, sondern dazu, eine bestimmte Emotion des Sprechers anläßlich des - einen objektiven Sachverhalt abbildenden - Inhalts der eigenen Aussage auszudrücken. Diese Kategorien haben auch keinen rein subjektiven Charakter, ihre Subjektivität ist objektiv in dem Sinne, daß sie in allgemein verbindlichen grammatischen Formen und entsprechenden Bedeutungen verkörpert und festgelegt sind. Auf sie treffen vorbehaltlos die Aussagen von PeSkovskij zu, der auf die Objektivität der „subjektiv-objektiven" Kategorien im allgemeinen hinwies. Er betonte, daß das „Subjekt", auf das die betreffenden Kategorien bezogen sind, „überindividuell" ist, daß „dies das s p r a c h l i c h e Subjekt ist, also nicht der .Sprecher' schlechthin, sondern j e d e r beliebige Sprecher'". 1 0 Man kann sich leicht davon überzeugen, daß der Großteil der Kategorien, die man gewöhnlich zu den modalen Kategorien zählt, als kommunikativgrammatische Kategorien des zweiten Typs gelten müssen. Die Bewertung dessen, wie sich der Inhalt der Aussage zur Realität verhält, geht vom Sprecher aus. Dies fassen wir als Modalität im engeren Sinne des Terminus auf (natürlich ist das ganze Spektrum solcher Bewertungen grundsätzlich objektiv, und die im Satz ausgedrückte Bewertung ist meistens dem wirklichen Tatbestand angemessen, doch kann es vorkommen, daß der Sprecher den Sachverhalt - bewußt oder unbewußt - in einer dessen realer Beschaffenheit nicht entsprechenden Weise einschätzt). Vom Sprecher gehen u. a. Bewertungen in Form modaler Wörter und Ausdrücke aus, vgl. zum Glück, zu meinem Leidwesen u. dgl. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen kommunikativ-grammatischer Kategorien ist so tief, daß sie mit verschiedenen Termini bezeichnet werden müßten. Für die Kategorien des Typs, den wir am Beispiel der Kategorien des Tempus und der Person expliziert haben, der Kategorien also, die auf den realen Bedingungen des Sprechaktes basieren, könnte man den Terminus „kommunikativ-grammatische Kategorien" reservieren. Die Kategorien dagegen, die das subjektive Verhältnis des Sprechers zum Inhalt seiner Aussage widerspiegeln, wäre es angebracht, als „modal-kommunikative Kategorien" zu bezeichnen, wobei unter diesen Kategorien der Kategorie der Modalität im engeren Sinne dieses Terminus eine besondere Stellung zuzuweisen wäre. Die modal-kommunikativen Kategorien würden dann im Rahmen der
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n e i i i K O B C K H i i , A . M . : O p . cit. S.
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kommunikativ-grammatischen Kategorien als eine eigenständige Gruppe herausgehoben. Allerdings muß man darauf hinweisen, daß der Gegensatz zwischen den zwei Gruppen kommunikativ-grammatischer Kategorien durch einige Übergangserscheinungen überbrückt wird. So muß die Differenzierung der Sätze nach dem Ziel der Aussage, eine Unterscheidung also, die unmittelbar die objektiven Verhältnisse des Sprechaktes widerspiegelt und somit eine der kommunikativ-grammatischen Kategorien im direkten Sinne des Terminus darstellt, gleichzeitig als eine Erscheinungsform des Ausdrucks subjektiver Einstellungen des Sprechers gelten. Besonders einleuchtend ist dies, wenn man bedenkt, daß der Aufforderungssatz eine Willensäußerung des Sprechers ist. Eben daraus ergibt sich die gegenseitige Annäherung der Semantik der Aufforderung und der Modalität, die in der Zugehörigkeit beider zum morphologischen System verbaler Modi ihren Ausdruck findet. Daß die Formen modal-kommunikativer Kategorien ein subjektives Verhältnis des Sprechers zum Inhalt der Aussage ausdrücken, verbindet diese Kategorien in gewissem Maße mit einigen Formen, die an sich nicht im kommunikativ-grammatischen Bereich angesiedelt sind. Unter dem Aspekt subjektiver Einstellungen gegenüber dem Inhalt des Satzes zeichnet sich eine Annäherung der Modalverben an die kommunikativ-grammatischen Kategorien ab, weil diese auch eine Art inneren Verhältnisses wiedergeben. Zwar drücken die Modalverben nicht subjektive Einstellungen des Sprechers aus, sondern das eine oder andere Verhalten des Satzsubjektes einer Handlung bzw. einem Zustand gegenüber, die ein Verb in Infinitivform als Teil des Prädikats bezeichnet, doch sind die Modalverben mit den Ausdrucksmitteln der modalkommunikativen Kategorie - wenn auch entfernt - vergleichbar. Daraus erklärt sich vor allem die Möglichkeit, mit Hilfe von Modalverben unter bestimmten Umständen auch echt modale Bedeutungen auszudrücken (nicht zufällig werden diese Kategorien in den Grammatiken zueinander gestellt). Alle vorhin vorgebrachten Erwägungen beziehen sich immerhin, vom Standpunkt unseres Hauptthemas aus gesehen, auf Nebensächlichkeiten. Im weiteren gehen wir zu diesem Thema über, und dies ist das Problem der Beziehungen zwischen Modalität und Prädikativität.
III Wir haben oben erwähnt, daß bei einigen Grammatikern, insbesondere bei sowjetischen Grammatikern, die Tendenz zu beobachten ist, die Modalität nicht nur aufs engste mit der Prädikativität zu verbinden, sondern beide Phänomene sogar mehr oder weniger vollständig miteinander zu identifizieren. Gerade dieser Richtung folgt Vinogradov in seinem Bestreben, zum Wesen der Modalität vorzudringen. Über die Prädikativität schreibt er: „... die Bedeutung und funktionale Bestimmung der Kategorie der Prädikativität, auf der die Gestaltung des Satzes beruht, besteht darin, daß durch die Prädizierung
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der Satzinhalt auf die Wirklichkeit bezogen wird." 1 1 Des weiteren äußert sich Vinogradov über die Modalität als die wichtigste der Kategorien, durch deren Vermittlung die Prädikätivität in Erscheinung tritt und auf die sie sich stützt. Dies ergibt sich, so Vinogradov mehrmals, daraus, daß die Modalität in erster Linie dem Ausdruck der Bezogenheit der Mitteilung auf die Wirklichkeit dient: „Die Beziehungen der Mitteilung, die der Satz enthält, zur Wirklichkeit sind gerade das, was wir modale Beziehungen nennen". 1 2 In der ausländischen Spachwissenschaft zeichnete sich auch die gegenseitige Annäherung der Prädikätivität und der Modalität ab (gewöhnlich wurden dabei die Termini „Modalität", „modal" nicht verwendet, hervorgehoben wurde aber die Rolle, die der Ausdruck der subjektiven Einstellung des Sprechers hinsichtlich der Beziehung des Satzinhalts zur Wirklichkeit für den Satz spielt, die Rolle der „Stellungnahme" u. dgl.). In diesem Zusammenhang kann man solche Forschernamen wie Marti, C. und W. Stern, Bühler und einige andere nennen, vorwiegend Anhänger der psychologischen Richtung in der Sprachwissenschaft. 13 Am bestimmtesten läßt sich die Tendenz zur Deutung der Prädikätivität durch das Prisma der Modalität bei Ries nachweisen. Zunächst folgt Ries Herling und nimmt als Kriterium des Satzes, das ihn vor dem Hintergrund beliebiger anderer syntaktischer Bildungen heraushebt, die Unterscheidung der „werdenden" von der „gewordenen" „Vorstellungsverknüpfung" an. Dann aber, nachdem er die Existenz „ungegliederter", nicht zweigliedriger, Sätze zugelassen hat, sieht er sich vor die Notwendigkeit gestellt, das Kriterium der „werdenden Vorstellungsverknüpfung" aufzugeben, und er greift nun zum Kriterium der „Bezugnahme auf die Wirklichkeit". Im Gegensatz zum Wort und zur Wortgruppe, die nur „benennen", 1 4 enthält der Satz einen Hinweis auf die Beziehung des Ausgesagten zur Wirklichkeit, und dieser Hinweis „[ist] eben das, was aus toten Worten lebendige Rede macht". 1 5 Obwohl Ries den Terminus „Modalität" nicht gebraucht, fällt seine „Bezugnahme auf die Wirklichkeit" praktisch genau mit dem, was wir als Modalität verstehen, zusammen, nämlich mit der Bewertung der Realität der Handlung. Vgl.: „Worauf es für die Bildung von Aussagesätzen ankommt, ist allein, daß der Redende einen Sachverhalt als wirklich oder nichtwirklich s e t z t , ihn als tatsächlich h i n s t e l l t (oder leugnet)." 1 6 Daß eine solche gegenseitige Annäherung der Modalität und der Prädikätivität im Wesen des Satzes tief begründet ist und zum Komplex der wesentlichsten Merkmale des Satzes gehört, der ihn von anderen syntaktischen Phä11
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B H H o r p a a o B , B.B.: Ηβκοτορωε eonpocbi M3yhchhh cnHTa«cnca npocToro npejuroHceHHs (Ha MaTepnajie pyccKoro sntiKa). In: Bonpocw s3biK03HaHHH. 1954, K« I. S. 15. Ibid. S. 16. Vgl. beispielsweise: „Der Satz ... ist der Ausdruck für eine einheitliche (vollzogene oder zu vollziehende) Stellungnahme zu einem Bedeutungstatbestand" ( S t e r n , C. u. W.: Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung. 4. Aufl. Leipzig 1928. S. 179). R i e s , J.: Was ist ein Satz? Prag 1931. S. 72. Ibid. S. 74. Ibid. S. 75.
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nomenen unterscheidet, unterliegt keinem Zweifel. Doch sind wir der Meinung, daß die theoretische Situation bedeutend komplizierter ist und die Beziehung zwischen Modalität und Prädikativität einer weitergehenden Analyse bedarf. Der Ausdruck „Beziehung zur Wirklichkeit" ist offensichtlich nicht eindeutig definierbar, er läßt unterschiedliche Interpretationen zu. Das Problem besteht vor allem darin, daß die Bewertung der Realität, die, wie wir annehmen, den „Kern" der Kategorie der Modalität darstellt, nicht nur mit der Prädikativität, mit der Gestaltung des Satzes, verbunden ist. Die Bewertung der Realität erfolgt auch in der Wortfügung. Sie betrifft die Beziehung der Glieder der Wortfügung (der syntaktischen Gruppe) zueinander. Obwohl die Nennfunktion tatsächlich die Hauptfunktion sowohl der Wörter wie auch der Wortfügungen ist, unterscheiden sich die Wortfügungen - mit Ausnahme phraseologischer Einheiten - von den Wörtern vorwiegend durch ein mehr oder weniger deutlich wahrnehmbares Moment dynamischer Aufeinanderbeziehung ihrer Bestandteile. Bei aller „Vorgegebenheit" selbst solcher Wortfügungen wie ein schwarzer Tisch ist ihnen das Moment des Beziehens des Attributs auf das Substantiv, wenn auch in minimalem Maße, eigen. Schon die Möglichkeit, die Bindung des Attributs an das Bezugssubstantiv als eine unmittelbarere und engere oder als eine freiere und losere (vgl. das abgesonderte Attribut) darzustellen, zeugt von der - unterschiedlich graduierten - Dynamik der „Verknüpfung" des Attributs mit dem Substantiv. Gerade dies unterscheidet die Wortfügung vom zusammengesetzten Wort. Das Kompositum stellt eine „fertig" vorgegebene Einheit dar, auch wenn die semantische Beziehung seiner Komponenten zueinander vollkommen durchsichtig ist. Darauf beruht, nach Smimickij, die „morphologische Ganzheitlichkeit" des Kompositums.17 Der Sprecher setzt die Glieder der Wortfügung in eine Beziehung zueinander, und dieser Akt ist notwendigerweise damit verbunden, daß er diese Beziehung hinsichtlich ihrer Realität, ihrer Wirklichkeitsentsprechung irgendwie beurteilt. Jede Verbindung zum Beispiel eines Attributs mit dem betreffenden Merkmalsträger hängt mit der Bewertung dieser Verbindung als einer wirklichen, realen zusammen (der Regelfall, der keine spezielle Kennzeichnung erfordert), oder sie wird als eine nichtwirkliche, nichtzutreffende verstanden und so auch zum Ausdruck gebracht. Vgl. Ich habe den Schlüssel zum Schrank gefunden - Ich habe den Schlüssel nicht zum Schrank gefunden. Be17
C m h p h h u k h h , A.H.: Κ Bonpocy ο cjioee (FIpoöJieMa „OTÄejibHOCTH cnoea"). In: Bonpocw Teopnn η ncropnn snbika β ceeTe Tpyaoe H.B.CTajiHHa no «3mko3HaHHK). MocKea 1952. Allerdings hängt der Grad der Unauflösbarkeit der Struktur des Kompositums von den besonderen Eigenschaften des konkreten Sprachbaus ab, und das veranlaßt zu einer gewissen Revision der vorhin formulierten Behauptung. Beispielsweise im Deutschen ist die Struktur des Determinativkompositums im allgemeinen außerordentlich locker, und die Verbindung seiner Komponenten kann manchmal als eine dynamische verstanden werden, so daß hier eine Ähnlichkeit mit der betreffenden Eigenschaft der Wortfügungen feststellbar ist. Vgl Ρ e β 3 η η , H.H.: Πο noeoay peueH3HH Κ. AJIcbkobckoH Ha KHHry M.fl. CrenaHOBOii. In: Bonpocbi (i3biK03HaHns. 1955, Ns 5.
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kanntlich kann sich die Negation auf den Inhalt des ganzen Satzes beziehen, sie kann aber auch nur einzelne Satzglieder betreffen. Bei der Bewertung der Realität der Verbindung eines Satzgliedes mit einem anderen kann die positive oder negative Beurteilung dieser Verbindung unterschiedlich modifiziert werden, und so begegnen wir dem Ausdruck stark betonter Behauptung bzw. des Zweifels, der Unsicherheit, der Vermutung u. dgl. In die Wortfügungen können Modalwörter eingefugt werden, deren Bedeutungen gleichsam die Hauptbewertung der Realität der Beziehung zwischen den Gliedern der Wortfugung überlagern. Innerhalb der Wortfügung spielen also die Modalwörter eine Rolle, die ihrer Rolle im Satz analog ist. So bezieht sich das Modalwort no-euduMOMy ['anscheinend'] im folgenden Satz auf eine adverbiale Bestimmung: KymuK, peutueiuuücH nocmynamb „6es coeecmu", mciKOtce edpye κακ 6bi pacifee/i, cmcui xymumb, pacnymcmeoeamb, daoice, no-euduMOMy, 6e3 ocoöeHHoit HadoÖHocmu (G.Uspenskij) ['Der Händler, der sich zum Leben „ohne Gewissen" entschlossen hatte, blühte gleichsam plötzlich auch auf, verfiel dem Zechen, der Buhlerei, anscheinend sogar ohne besondere Lust danach']. Der modale Ausdruck 6btmb Mootcem ['vielleicht'] bezieht sich auf das abgesonderte Attribut im Satz: Paccxa3bieaK> jmom eo3MymumeiibHbiü cjiyvau ... eduncmeeHHO moßbxo U3 yeepeHHoemu - öbirrtb μ οwem u oiuu60HH0Ü -, nmo φακηι jmom imeem 6ojibiuoe oöiyecmeeHHoe 3HaneHue (G.Uspenskij) ['Ich erzähle über diesen empörenden Vorfall einzig und allein aus der Überzeugung - vielleicht einer irrtümlichen daß die Tatsache eine große gesellschaftliche Bedeutung hat']. Auf diese Funktion der Modalwörter muß man ausführlicher eingehen. Die Fähigkeit der Modalwörter, nicht den Inhalt des Satzes im ganzen, also im verblosen Satz nicht dessen (prädikative) Bezugnahme auf die Wirklichkeit, im zweigliedrigen Satz nicht die Subjekt-Prädikat-Beziehung zu modifizieren, ist der Aufmerksamkeit der Grammatiker nicht entgangen. Auf dieses Phänomen in der russischen Sprache weist Vinogradov hin. Im Zusammenhang mit der Analyse von Einschubsyntagmen mit modaler Bedeutung schreibt er: „Manche Einschubsyntagmen genießen Stellungsfreiheit. Unterstützt durch die intonatorische Gliederung des Satzes, können sie sich nicht nur auf den Satz im ganzen bzw. auf sein Prädikat, sondern auch auf einzelne Satzglieder beziehen."' 8 Im Abschnitt „Einschubwörter und -wortgruppen" der akademischen „Grammatik" findet sich diese These ebenfalls: „Einschubwörter und -wortgruppen beziehen sich entweder auf den ganzen Satz oder auf einzelne Satzkomponenten bzw. Satzglieder." 1 9 Ähnliche Äußerungen betreffen die Modalwörter in anderen Sprachen. In bezug auf das Englische schreibt Rikman: „Die Modalwörter, die als Einschübe eingeführt werden, beziehen sich entweder auf den Satz im ganzen (was am häufigsten der Fall ist) oder auf einzelne Satzglieder"; die letzte Behauptung wird dahingehend präzisiert, daß sich das Modalwort auf eines der
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B H H o r p a ^ O B , B.B.: Ο KaTeropnn MCwaJibHocTH H MoaaJibHbix cjioeax Β pycsnbiKe. S. 55; d e r s . : PyccKHfi «bin. MocKea- JleHHHrpaa 1947. S. 725.
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TpaMMaTHica pyccKoro srcbiKa. Bd. II, Τ. II. S. 142.
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gleichartigen Satzglieder bezieht.20 Auch in deutschen Texten verschiedenen Alters sind analoge Phänomene belegt.21 Ich führe einige Belege für den Gebrauch von Modalwörtern in Wortfügungen im Deutschen an: 1. Denn sie sagte, daß noch mancher andre Reisende, vielleicht minder duldsam als er, über jene Burg ziehen würde (Kleist. Michael Kohlhaas). Das Modalwort vielleicht bezieht sich hier auf das vom abgesonderten Attribut abhängige Wort minder. 2. Zwischen dem vorletzten und letzten Glockenschlage schlug noch eine andere Uhr, sehr rasch, fast keifend gell, und vielleicht ärgerlich über die Langsamkeit ihrer Frau Gevatterin (Heine. Harzreise). Vielleicht bezieht sich auf das abgesonderte prädikative Attribut. 3. ... er trieb in bescheidenem Maßstab und mit bescheidenen Mitteln naturwissenschaftliche, biologische, auch wohl chemisch-physikalische Studien (Th.Mann. Faustus). Wohl bezieht sich auf ein nichtabgesondertes Attribut. 4. Herr Buck ist der älteste unter unseren verdienten Bürgern und übt daher einen zweifellos legitimen Einfluß aus (H.Mann. Der Untertan). Zweifellos bezieht sich auf ein nichtabgesondertes Attribut. 5. Dieses zweifellos starke zurücktreten des Instrumentals als eines festen casus ... erklärt das enorme überwuchern des von verben abhängigen genitiv (Winkler. Germanische Casussyntax). Zweifellos bezieht sich auf ein nichtabgesondertes Attribut. 6. Die Frau, die neben ihm stand, vielleicht seine eigene, obwohl sie dicker und größer war, sagte vernehmlich ... (Seghers. Die Toten bleiben jung). Vielleicht bezieht sich auf ein abgesondertes Attribut. 7. ... darum waren es im Grunde seine liebsten Geschäfte, wenn er, ganz gelegentlich, auf einem Familienspaziergange vielleicht, in eine Mühle eintrat, mit dem Besitzer ... plauderte und ... einen guten Kontrakt mit ihm abschloß (Th.Mann. Buddenbrooks). Vielleicht bezieht sich auf eine abgesonderte adverbiale Bestimmung. Die Belege zeigen, daß die Modalwörter mit verschiedenen Nebengliedern des Satzes verknüpft werden, die diverse Formen haben. Bemerkbar ist die Tendenz zu ihrem Gebrauch in abgesonderten Satzgliedern, aber man begegnet ihnen auch da, wo keine Absonderung vorliegt; oft treten sie bei einem Wort auf, das zu einer Reihe gleichartiger Satzglieder gehört, aber dies ist gar nicht verbindlich (vgl. die Belege 1, 4, 5, 6). Ein solches Einfügen von Modalwörtern in die Nebenglieder des Satzes ist in größerem Maße in den neueren Etappen der deutschen Sprachentwicklung zu beobachten, aber einzelne Fälle dieser Art kommen schon im Althochdeutschen vor. So finden sich in einem der ältesten originellen Sprachdenkmäler (das freilich unter lateinischem Einfluß stand), nämlich in Otfrids Evan20
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Ρ h κ μ a η , Η.Γ.: MojjanbHbie cjioea β coepeMeHHOM aHrjiHHCKOM s3biKe. AßTopeφερβτ KanzinaaTCKOH ÄHCcepTauHH. XapbKOB 1953. S. 13-14. Α λ μ ο η η , Β.Γ.: Op. cit. S. 177; r y j i b i r a , E.B.: Mo^ajibHbie cjioea β coßpeMeHHOM HeMeuKOM H3biKe. In: YneHbie 3ariHCKH I MocKoecKoro rocyaapcTBeHHOr o n e a a r o r H i e c K o r o HHCTMTyra HHOcrpaHHbix η 3 μ κ ο β . B d . V I I , 1 9 5 5 .
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gelienbuch, in dem modale Wörter und Wortfügungen überhaupt reichlich vertreten sind, einige Fälle des Gebrauchs modaler Ausdrücke in Verbindung mit Nebengliedern des Satzes, obwohl dies bei weniger gebundener Satzstruktur im Deutschen jener Zeit nicht immer eindeutig feststellbar ist. Jedenfalls kann angenommen werden, daß sich der modale Ausdruck in uuär im folgenden Satz am ehesten auf das abgesonderte prädikative Attribut, nicht also auf das Prädikat, bezieht: Fuarun sie thö bilde mit themo alten nide, falle balauues, in uuär, zi herizohen sär (Otfrid I 27, 33-34) 'Gingen sie dann, fröhlich, mit altem Haß, voller Bosheit, wahrhaftig, zum Heerführer sofort'. Auf eine adverbiale Bestimmung bezieht sich offenbar der modale Ausdruck in uuär min '(ich) bürge für Wahrheit' im Satz: Gregorius der guato er spünota gimuato joh filu scono, in uuär min, so ist giuuonaheit sin (Otfrid V 14, 25-26) 'Gregorius, der gute, erklärte das liebevoll und sehr gut, ich bürge dafür, so ist seine Gewohnheit'. Das in verschiedenen Sprachen und auf verschiedenen Entwicklungsstufen dieser Sprachen zu beobachtende Einfügen modaler Wörter und komplexer Ausdrücke in die Wortfügungen bestätigt in anschaulicher Weise das, was wir oben behauptet haben, nämlich daß die Modalität nicht nur den Satz im ganzen, nicht nur die prädikative Beziehung, sondern auch andere syntaktische Beziehungen charakterisiert. Wir sind den Modalwörtern in der Substantivgruppe als Modifikatoren der Beziehung zwischen dem Attribut, dem nichtabgesonderten und abgesonderten, und dem Bezugssubstantiv begegnet, auch in der Verbgruppe als Modifikatoren der Beziehung zwischen dem Prädikat und einer adverbialen Bestimmung, zwischen dem Prädikat und einem prädikativen Attribut. In der Regel betreffen die Modalwörter die Beziehung zwischen einem der Haupt- und einem der Nebenglieder des Satzes (zwischen dem Satzsubjekt und einem von ihm abhängigen Attribut, dem Prädikat und einem prädikativen Attribut usw.). Manchmal „knüpfen" sie sich an die interne Beziehung in einem komplexen Nebenglied des Satzes, beispielsweise innerhalb eines Objektes, vgl. und übt daher einen zweifellos legitimen Einfluß aus. Indessen greift das Modalwort häufig in ein kompliziertes Geflecht von Beziehungen zwischen den Satzgliedern ein. Es kann sich erweisen, daß das Modalwort nicht nur auf eine Beziehung zwischen einem der Hauptglieder und einem der Nebenglieder des Satzes ausgerichtet ist, sondern gleichzeitig auf die für den Satz grundlegende prädikative Beziehung, und in einem solchen Fall gilt die betreffende modale Bedeutung dem Satz als Ganzem. Es gibt aber auch nicht wenige Übergangsfälle, die nicht eindeutig zu interpretieren sind. Besonders häufig kommt dies vor, wenn das Modalwort unmittelbar mit einem Objekt verknüpft ist - angesichts der besonderen Bedeutung der Objekte für die Abgeschlossenheit der Satzstruktur. Nicht selten aber beobachten wir derartige komplizierte Beziehungen auch in anderen Fällen. Vgl. den Satz Sicherlich hatte Thomas mit reizbarerer Schmerzhaftigkeit den Tod seines Vaters erlebt (Th.Mann. Buddenbrooks); hier „knüpft sich" das Modalwort sicherlich nicht nur an die prädikative Beziehung, sondern auch an die Beziehung zwischen dem Prädikat und der adverbialen Bestimmung mit reizbarerer Schmerzhaftigkeit, denn gerade die Art, wie Thomas den Tod seines Vaters erlebte, ist das, was der Satz eigentlich mitteilt. Diese zweite Be-
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ziehung ist zumindest mitgemeint, obwohl das Wort sicherlich im Anfang des Satzes steht. Alle diese Tatsachen berechtigen zu der bedeutsamen Schlußfolgerung, daß die Modalität als Bewertung der Realität nicht als eine der Kernkomponenten der für die Satzgestaltung verantwortlichen Prädikativität betrachtet werden kann. Da die Modalität in den attributiven, adverbialen u. dgl. Verbindungen vertreten ist, kann sie nicht als Kriterium dienen, das die Prädikativität von der Nichtprädikativität, den Satz von syntaktischen Wortgruppen unterscheiden läßt.
IV Das oben Ausgeführte bedeutet aber nicht, daß wir die Richtung der Analyse, bei der die Modalität als zur Prädikativität gehörend beleuchtet wird, für absolut irreführend und fruchtlos halten. Die Modalität als Bewertung der Realität verbindet sich nicht nur stets mit der Prädikativität, überlagert die Prädikativität, sondern weist auch wesentliche gemeinsame Züge mit der Prädikativität auf. Freilich bedarf die Prädikativität einer eigenen speziellen Erörterung, aber schon jetzt bietet sich uns die Möglichkeit, einige Momente der Prädikativität aufzuzeigen, die mit der Modalität zusammenhängen. Nicht zufällig wird unserer Meinung nach bei der Bestimmung des Wesens der Prädikativität recht häufig behauptet, daß die Prädikativität die Verbindung zweier Komponenten - zweier Begriffe in logizistischen, zweier Vorstellungen oder „Bewußtseinsinhalte" in psychologischen Theorien - voraussetzt. Freilich stieß diese Behauptung oft auf Einwände, die hauptsächlich in Hinweisen darauf bestanden, daß die Sätze formal durchaus nicht unbedingt zweigliedrig sind. In der Tat neigen die konkreten logisch-grammatischen Satztypen, die sich im Verlauf der Geschichte verschiedener Sprachen herausgebildet haben, nicht selten zu vollständiger Eingliedrigkeit. Daraus folgt aber nicht, daß die formal-grammatisch eingliedrigen Sätze der Fähigkeit entbehren, eine Beziehung zweier Komponenten zueinander auszudrücken. Die prädikative syntaktische Beziehung liegt der Satzbildung zugrunde, und der Satz ist die Einheit, die eine abgeschlossene Mitteilung, einen „stattgefundenen" Gedanken, wiedergibt. Daher muß die Prädikativität die Forderungen erfüllen, die der Funktion des Satzes entsprechen, die die Kommunikation zusammen mit dem Denkvorgang an den Satz stellt. Die vornehmste von diesen Forderungen besteht darin, daß der Satz nicht lediglich einen Begriff, einen Gegenstand, eine Erscheinung u. dgl. nennt, sondern eine Beziehung zwischen einem Begriff usw. und etwas anderem zum Ausdruck bringt. Nur der Ausdruck einer solchen Beziehung verleiht dem Satz Sinn und sozialen Wert als Mitteilung und kann der gemeinsamen Tätigkeit der Menschen dienlich sein. Ein „Satz", der nur etwas nennt, wäre für die Kommunikation wegen seiner Sinnlosigkeit unbrauchbar, und da die Hauptaufgabe der Sprache darin besteht, die Kommunikation zu verwirklichen, ist die Existenz kom-
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munikativ wertloser sprachlicher Gebilde, die als Sätze gelten würden, ausgeschlossen. 22 Das Wesen der Prädizierung besteht also in der Herstellung einer Beziehung zwischen zwei Komponenten. Wesentlich ist aber für die prädikative Beziehung eben das Verbinden zweier Komponenten miteinander und nicht die eine oder andere Bewertung der Verbindung. Die Prädikativität besteht in der Herstellung, in einer dynamisch vollzogenen Behauptung der Beziehung zwischen zwei Komponenten - ganz unabhängig davon, ob diese Beziehung in positivem oder negativem Sinne behauptet, ob sie angezweifelt oder nur vermutet u. dgl. wird. Als wir oben darauf hinwiesen, daß das Aufeinanderbeziehen zweier Komponenten im Falle der Prädizierung besonders aktiv, dynamisch vollzogen wird, haben wir bestimmten Zügen der prädikativen Beziehung einige Bemerkungen gewidmet, nämlich den Zügen, die diese Beziehung von anderen Arten syntaktischer Beziehungen unterscheiden. Die betreffenden Eigenschaften sind aber kaum meßbar, und sie unterliegen daher recht subjektiver Beurteilung. Aus diesem Grunde ist es angezeigt, vor allem solche Merkmale der prädikativen Beziehung ins Blickfeld zu rücken, die natürlich mit dem aktiven, dynamischen Charakter der Prädizierung zusammenhängen, zugleich aber - als Funktion eben der prädikativen Beziehung - deutlicher in Erscheinung treten, indem sie einen eigenen formal-grammatischen Ausdruck erhalten. Erstens bildet die prädikative Beziehung mit dem Herstellen, dem Behaupten der Verbindung zweier Komponenten zwecks einer Mitteilung (im weiten Sinne des Wortes) die Grundlage für die kommunikative Funktion sprachlicher Äußerungen, ohne dabei die Mitwirkung anderer syntaktischer Beziehungen zu brauchen. Zweitens erhält die prädikative Beziehung in j e d e r Sprache ihre besondere Ausdrucksform, genauer: eine Reihe eigener Ausdrucksformen, die zur Basis außerordentlich stabiler logisch-grammatischer Satztypen werden, denen auch bestimmte intonatorische Konturen zukommen. Folgender Umstand macht eine präzisierende Bemerkung notwendig. Die prädikative Beziehung liegt nicht nur in einer syntaktischen Bildung vor, die die Mitteilung allein, ohne Unterstützung von seiten der Sprechsituation oder anderer Sätze verwirklichen und den abgeschlossenen Gedanken ausdrücken kann, nämlich im selbständigen Satz. Die prädikative Beziehung liegt auch solchen sprachlichen Formen wie dem Haupt- und dem Nebensatz zugrunde, die an sich formal nicht abgeschlossen sind, die keine unabhängigen syntaktischen Bildungen darstellen. Aber in allen Fällen, in denen die prädikative Be-
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Das Fehlen der Bezeichnung einer der Komponenten, die durch den Satz aufeinander bezogen werden, ist in vielen Sprachen beobachtbar, und dies gründet sich hauptsächlich auf die besondere Beschaffenheit des gedanklichen Inhalts der betreffenden Satztypen oder geschieht unter spezifischen Bedingungen des Kommunikationsaktes. Vgl. Α Λ Μ Ο Η Η , Β.Γ.: Ο AEYCOCTABHOC™ npe;NO>KEHN«. In: YHCHbie 3anncKM I JleiiHHrpajiCKoro rocynapcTBeHHoro neaarorHwecKoro HHCTHTyTa HHOCTpaHHbix H3biKOB. H o n a » cepHH, BbinycK 2. J l e H H H r p a a
Band S. 105ff.].
1 9 5 5 [s. in d i e s e m
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ziehung in nichtselbständigen, abhängigen syntaktischen Formen vorgefunden wird, korrelieren diese aufs engste mit selbständigen Sätzen, gründen sich gleichsam auf selbständige Satzformen (und repräsentieren bestimmte logisch-grammatische Satztypen). Das Wichtigste an der prädikativen Beziehung besteht darin, daß sie die entscheidende Rolle bei der Gestaltung funktional vollwertiger, unabhängiger Sätze spielt. Die Unabhängigkeit syntaktischer Strukturen mit prädikativer Beziehung als ihrer Basis liegt in der Natur dieser Beziehung, so daß grammatisch unselbständige Konstruktionen, an deren Ausformung sich die prädikative Beziehung beteiligt, derart unmittelbar mit selbständigen Konstruktionen korrelieren und diesen ähnlich sind, daß man sie keinesfalls mit irgendwelchen Wortgruppen über einen Kamm scheren kann. Gerade dieser Parallelismus der Strukturen selbständiger und unselbständiger Sätze erklärt, warum die letzten in der grammatischen Tradition so nachhaltig eben als Sätze bezeichnet werden. Die paradoxe Situation, bei der man den Terminus, der auf die sprachliche Einheit angewandt wird, die als Form abgeschlossener, unabhängiger Mitteilungen dient, ebenfalls als Bezeichnung nicht abgeschlossener, abhängiger Aussagen verwendet, erweist sich als eine in der Natur der Dinge begründete. Bemerkenswert ist auch der Widerspruch zwischen der häufig anzutreffenden Bestimmung der prädikativen Beziehung als einer syntaktischen Beziehung, die auf die Gestaltung unabhängiger Sätze spezialisiert ist, und der Tatsache, daß die prädikative Beziehung auch an der Ausformung abhängiger Konstruktionen teilhaben kann. Wir wollen noch einmal nachdrücklich betonen, daß der selbständige Satz die Hauptposition im Gesamtkomplex aller in der erörterten Hinsicht miteinander korrelierenden syntaktischen Strukturen einnimmt, daß der selbständige Satz die Basis darstellt, auf die sich die unselbständigen Satztypen stützen. Hier kann von keiner „Gleichsetzung" die Rede sein. Die besondere Beschaffenheit der prädikativen Beziehung tritt in so hohem Maße im selbständigen Satz in Erscheinung, daß sie vom selbständigen Satz auf die sonstigen Verwendungsfälle abfärbt und nicht umgekehrt. Die miteinander korrelierenden syntaktischen Strukturen mit prädikativer Beziehung zwischen ihren Komponenten bilden keinen Komplex gleichwertiger grammatischer Synonyme, diesen Komplex charakterisiert die unzweifelhaft fuhrende Rolle einer der bewußten Strukturen, und zwar der Struktur, in der die prädikative Beziehung „am reinsten" auftritt, ohne daß sie in ihrer satzbildenden Funktion in irgendeiner Weise von der Sprechsituation bzw. vom Kontext abhängig wäre. Eine solche Korrelation sprachlicher Formen, bei der eine der Formen im Rahmen des entsprechenden Komplexes über den anderen dominiert und sich auf ihre Eigenschaften auswirkt, hat überhaupt eine außerordentlich große Bedeutung für den gesamten Sprachbau. All dies erfordert natürlich eine spezielle ausfuhrliche Betrachtung, hier konnte auf die betreffenden Fragen nur in ganz allgemeiner Weise eingegangen werden. Wesentlich fur uns ist vor allem, daß der Inhalt der prädikativen Beziehung in der Behauptung, der Feststellung der Verbindung zweier Komponenten besteht, ohne daß die Feststellung dieser Verbindung von einer positiven oder negativen Einschätzung ihrer Realität begleitet wäre. Nur eine
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solche Deutung der prädikativen Beziehung ist auf die inhaltliche Struktur der Fragesätze anwendbar, in denen im Grunde genommen weder eine echt positive noch eine echt negative Beurteilung der Realität dieser Beziehung enthalten ist. Der Beispielsatz Bist du zu Hause? stellt weder eine positive noch eine negative Äußerung dar (eben deshalb scheiterten die Versuche, den Fragesatz als Ausdruck einer Art logischen Urteils zu interpretieren). Aber was man in einem solchen Satz tatsächlich vorfindet, ist die unmißverständlich dargestellte Aufeinanderbezogenheit zweier Komponenten, 'du' und 'zu Hause sein', die Behauptung der betreffenden Verbindung mit einem ganz bestimmten kommunikativen Ziel, nämlich zu erfahren, ob diese Verbindung real ist, um ihre Einschätzung unter dem Aspekt der Realität zu erhalten. Im Fragesatz ist eine Bewertung der Verbindung zweier Komponenten gleichsam vorausgesetzt, an der formalen Oberfläche ist sie sogar - sozusagen vermutungsweise - als eine positive impliziert, der Fragende läßt aber die Möglichkeit sowohl der positiven wie auch der negativen Bewertung zu. Dagegen liegt hier zweifelsohne das aktive, dynamische Zusammenfugen zweier Komponenten, ihr Aufeinanderbeziehen, vor. Was wir bei der Analyse des Fragesatzes feststellen, bestätigt zusätzlich, daß die Modalität und die Prädikativität nicht identisch sind. Natürlich kann man nicht bestreiten, daß die Ausdrucksformen der Prädikativität im Aussagesatz, vor allem das verbale Prädikat, in den verschiedensten Sprachen zusammen mit der prädikativen Beziehung in der Regel die positive Bewertung der Realität dieser Beziehung wiedergeben. Der Satz Du bist gekommen, ausgesprochen mit der gewöhnlichen Intonation einer schlichten Behauptung, weist nicht nur eine stattgefundene Prädizierung auf, sondern er behauptet etwas auch im positiven Sinne. Die Übereinstimmung der Ausdrucksform der Prädikativität mit der Ausdrucksform der primären positiven Bewertung der Realität der Handlung, sozusagen der Ausgangsform der Modalität, ist also vollauf gesetzmäßig - gerade kraft des „Null"-Charakters der positiven Bewertung, kraft des Umstandes, daß die prädikative Beziehung natürlicherweise in erster Linie im positiven Sinne gefaßt wird. Aber daher sind die zwei Kategorien bei weitem noch nicht ein und dasselbe. Allerdings ist der Parallelismus dieser Kategorien, ihre Nähe zueinander, wie wir schon gesagt haben, nicht zu übersehen. Die Behauptung der prädikativen Beziehung und die Bewertung des Charakters dieser Beziehung sind unlöslich miteinander verbunden. Die modale Einschätzung reproduziert gleichsam das prädikative Aufeinanderbeziehen zweier Komponenten in einer differenzierteren, konkretisierten Weise, und die Prädizierung birgt ihrerseits ein positives Moment in sich, das Moment der Behauptung der Verbindung der Komponenten, das die - primäre - positive Bewertung dieser Verbindung vorwegnimmt. Darum kann man gegen das Bestreben, die Prädikativität und die Modalität miteinander zu verbinden, nichts einwenden, es hat seinen Grund. Nur muß man ständig im Auge behalten, daß die Prädikativität und die Bewertung der Realität der Handlung nicht zusammenfallen und daß die Modalität nicht die Kategorie ist, durch die die Prädikativität in erster Linie und unmittelbar gedeutet werden kann.
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Die Gegenargumentation, die unseren Standpunkt zweifelhaft erscheinen lassen würde, kann den Umstand zu ihrem Ausgangspunkt machen, daß der hier dargelegten Auffassung eben unsere Bestimmung der Modalität als Bewertung der Realität der Mitteilung, der Handlung usw. von Seiten des Sprechers zugrunde gelegt wurde, während die übliche Bestimmung der Modalität, die sich in der sowjetischen Sprachwissenschaft eingebürgert hat, ganz anders lautet. Wie oben bereits angegeben, wird die Modalität in diesem Fall als vom Sprecher „gesetzte" Bezugnahme der Mitteilung (bzw. der Handlung u. dgl.) auf die Wirklichkeit verstanden. Und das gleiche wird als grundlegendes Moment der Prädikativität angenommen. Bezeichnenderweise sieht Vinogradov gerade in der Bezugnahme auf die Wirklichkeit das Kriterium, das den Unterschied zwischen einem Wort und einem aus einem Wort bestehenden Satz (dem sogenannten Existenzialsatz) erkennen läßt: „Die Bedeutung und die Bestimmung der allgemeinen Kategorie der Prädikativität, die den Satz gründet, besteht darin, daß auf ihrer Basis die Bezugnahme des Satzes auf die Wirklichkeit erfolgt. Gerade auf ihrer Basis beruht der Unterschied zwischen dem Wort iumü ['Winter'] mit einer diesem Wort eigenen lexikalischen Bedeutung und dem Satz 3umü in der Verszeile von Puschkin 3umo. Hmo denamb mhb β depeene? ['Winter. Was soll ich im Dorfe tun?']." 23 Es stellt sich die Frage, ob die Prädikativität nicht doch auf der Modalität basiert, wenn man die Modalität nicht als Bewertung der Realität, sondern anders, als Kategorie der Bezugnahme des Satzes (der Handlung usw.) auf die Wirklichkeit bestimmt? Wir glauben, daß auch diese Frage negativ beantwortet werden muß. Der Begriff der Beziehung zur (oder der Bezugnahme auf die) Wirklichkeit hat einen unbestimmt dehnbaren und verschwommenen Charakter. Dies ist schon daraus ersichtlich, daß das Wort „Wirklichkeit" in dem uns hier interessierenden Zusammenhang zwei Bedeutungen aufweist, es kann nämlich sowohl das Seiende an sich, d. h. die tatsächlich existierende Welt, bezeichnen wie auch den Gedanken auf das Wahre am Seienden, auf die Realität seiner Existenz lenken. Worin besteht aber der Inhalt dieses Begriffs, wenn man ihm auf den Grund geht? In diesem Begriff - in seinem weitesten Sinne - kann man nach unserer Meinung drei Momente erkennen, aber keines davon berechtigt zur Vorstellung, daß die Prädikativität auf der Modalität als syntaktischem Phänomen basiert. 1. Der Begriff der „Beziehung der Aussage (des Inhalts des Satzes, der Handlung) zur Wirklichkeit" enthält zweifellos das Moment der Widerspiegelung (genauer: der Wiedergabe der Widerspiegelung) des Wirklichen. Denn wenn wir - unter jedem beliebigen Aspekt - die Frage nach der Beziehung der Rede zur Wirklichkeit stellen, können wir die Widerspiegelung der Wirklichkeit durch sprachliche Bildungen aller Art nicht ignorieren, weil dieses Moment der Natur der Sprache, der unlöslichen Einheit der Sprache und des Denkens entspringt. Aber dieses Moment stellt kein differenzierendes Merkmal des Satzes dar, denn es ist auch dem Wort und der Wortgruppe eigen, so daß vollständig klar ist, daß auf Grund dieses Momentes keine besonders en23
In: fpaMMaTHKa pyccKoro sttbiica. Bd. II, Τ. I. S. 80.
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ge Verbindung der Prädikativität mit der Modalität angenommen werden kann. 2. Der Begriff der „Beziehung der Aussage zur Wirklichkeit" (genauer: der Begriff der „Beziehung des Inhalts des Satzes zur Wirklichkeit") enthält zweifellos auch das Moment des vom Sprecher ausgeführten Vergleichs, denn für ihn ist wesentlich, ob das im Satz Ausgedrückte mit dem real existierenden Sein, mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Dieses Moment stellt die Bewertung der Realität des Inhalts des Satzes, der Handlung usw. dar, also gerade das, was wir unter „Modalität" verstehen. Aber es ist, wie wir zu zeigen bestrebt waren, mit der Hauptbedeutung der Prädikativität nicht identisch. Wenn man also den Begriff der „Beziehung der Aussage zur Wirklichkeit" unter diesem zweiten Aspekt betrachtet, bleibt die Diskrepanz zwischen Modalität und Prädikativität bestehen. 3. Schließlich kann mit dem Begriff der „Beziehung der Aussage zur Wirklichkeit" die Bedeutung des unmittelbaren Kontaktes der Rede (ihres Inhalts und ihrer Form) mit der Wirklichkeit der konkreten Situation, die einen zu sprechen veranlaßt, assoziiert werden. In einem solchen Fall wäre es wohl genauer, von der Beziehung der Aussage zu dem unter bestimmten Umständen stattfindenden Kommunikationsvorgang im weiten Sinne des Wortes, zur „kommunikativen Situation" im ganzen, zu sprechen. Jedenfalls hat dieses Moment eine große Bedeutung für die Gestaltung der Rede, unter anderem für die grammatischen Kategorien, die nach Vinogradov die Kategorie der Prädikativität gleichsam umfaßt, nämlich für die Kategorien der Modalität, der Zeit und der Person, die in der Tat die wichtigsten kommunikativen Kategorien sind. Auf die innige Zusammengehörigkeit aller dieser Kategorien ist oben schon hingewiesen worden. Es unterliegt auch keinem Zweifel, daß die Kategorie der Prädikativität, ohne die die Mitteilung nicht zustande käme, mit einiger Bestimmtheit ebenfalls als eine der komunikativ-grammatischen Kategorien zu bezeichnen ist. Die gegenseitige Annäherung aller dieser Kategorien unter dem funktionalen Aspekt ist also vollauf gerechtfertigt und theoretisch fruchtbar. Sie bilden einen Kategorienkomplex, der den Satz, seinen Inhalt und seinen Bau, mit dem konkreten Kommunikationsvorgang und in erster Linie mit der kommunikativen Einstellung des zentralen Elementes in der Struktur des Kommunikationsaktes, mit dem Sprecher, verbindet. Trotz alledem besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der Kategorie der Prädikativität auf der einen und den Kategorien der Modalität, der Zeit und der Person auf der anderen Seite: Die Kategorien der Modalität, der Zeit und der Person verbinden den Satz mit der kommunikativen Situation. Sie stellen das für den Satz notwendige Koordinatensystem dar, das auf der objektiven Beschaffenheit der Sprechsituation basiert, wogegen die Prädizierung dem Kommunikationsakt als solchem die für sein Zustandekommen unentbehrliche Form verleiht. Selbst in dem Fall also, wenn die „Beziehung der Rede zur Wirklichkeit" als der Zusammenhang der Rede mit konkreten Bedingungen des Kommunikationsvorgangs betrachtet wird, erweist sich die Prädikativität nicht nur nicht auf die Kategorien der Modalität, der Zeit und der Person zurückführbar, son-
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dem sie findet auch in den Ausdrucksformen dieser Kategorien keinen vollständigen eigenen Ausdruck. Die Kategorie der Prädikativität wird nur unter Teilnahme, unter besonderer Verwendung und Kombinierung dieser anderen Kategorien ausgedrückt. Die Kategorie der Prädikativität, deren Funktion darin besteht, zwei Komponenten dynamisch, aktiv, mit dem Ziel, eine Mitteilung zu verwirklichen, aufeinander zu beziehen, findet im System logischgrammatischer Satztypen und in intonatorischen Satzschemen ihren Ausdruck, wobei nicht zu vergessen ist, daß diese beiden Reihen von Phänomenen, insbesondere die logisch-grammatischen Satztypen, j e nach Sprache unterschiedliche konkrete Systeme bilden. Die Kategorien der Modalität, der Zeit und der Person treten natürlich in diesen Satztypen auf, und sie treten in ihnen in verschiedener Weise auf, j e nach dem Satztyp mehr oder weniger deutlich wahrnehmbar den Hauptinhalt der prädikativen Beziehung überlagernd, deren Ausdruck je nach Satztypen besondere Formen erhält. Bezeichnenderweise betont Vinogradov einerseits die Bedeutung der Modalität als eines Mittels zum Ausdruck der Prädikativität und meint sogar, daß diese Kategorie zusammen mit den Kategorien der Zeit und der Person unter dem Begriff der Prädikativität zu subsumieren ist, wirft aber andererseits an einer Stelle die Frage nach dem Vorhandensein morphologischer, konstruktiv-syntaktischer und intonatorisch-syntaktischer Mittel auf, die mit den Kategorien der Modalität, der Zeit und der Person nur „in Verbindung stehen". 24 Eine solche Fragestellung scheint uns sehr aussichtsreich zu sein, aber sie bedeutet, daß die Kategorien der Modalität, der Zeit und der Person an sich die Prädizierung nicht zustande bringen, vom Begriff der Prädikativität nicht erfaßbar sind und nur unter bestimmten Bedingungen einiger - in jeder Sprache äuf eigene Art geprägter und geschichtlich wandelbarer - Satztypen mit der Prädikativität eine Einheit bilden. Wenden wir uns in diesem Zusammenhang dem oben angeführten Beispiel aus Puschkins Dichtung zu; gemeint ist der Satz 3UM Α im Anfang der Verszeile 3uMa. Wmo denamb Mne β depeeHe? [Winter. Was soll ich im Dorf tun?]. In der akademischen „Grammatik" wird behauptet, der Satz 3iwa unterscheide sich vom Wort 3ima dadurch, daß im Satz 3ima die Bezugnahme auf die Wirklichkeit vorliegt. Dies ist unzweifelhaft richtig. Allerdings bedarf diese „Bezugnahme auf die Wirklichkeit" einer gründlichen Analyse. Daß der Satzinhalt hier auf die Wirklichkeit bezogen wird, bedeutet nicht nur die positive Bewertung des betreffenden Phänomens als eines realen, sondern auch die Feststellung, die Behauptung momentaner tatsächlicher Existenz dieses Phänomens oder, mit anderen Worten, die Behauptung des aktuellen Zusammenhangs des Phänomens SUMÜ mit der abstrakten Idee der Existenz. Nicht zufällig bezeichnet man Sätze wie 3ima mit dem Terminus „Existenzialsätze". Durch den Nominativ vertreten, der in der Art der Aussagesätze (manchmal mit dem Beiklang des Ausrufs) intoniert wird, beinhaltet dieser Satztyp gerade die Behauptung der Existenz, des Vorhandenseins - in weitestem Sinne - eines Gegenstandes, einer Erscheinung; mit anderen Worten vermittelt auch dieser Satztyp die Verbindung zweier Komponenten, und eben dank die24
Ibid. S. 82.
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ser Eigenschaft hat er Erkenntniswert und kommunikativen Wert, teilt dem Hörer bzw. dem Leser etwas mit. Die extreme Allgemeinheit, Abstraktheit der Komponente, die hier als die zweite fungiert, gestattet es, ohne lexikalischen Hinweis auf sie auszukommen, und so entsteht ein besonderer eingliedriger Satztyp mit einer eigenen verallgemeinerten grammatischen Bedeutung, dem Ausdruck der Existenz eines Gegenstandes oder einer Erscheinung. Hier gibt es keine Ellipse, keine „Nullform" des Verbs. Ich erinnere an die bekannten Bemerkungen PeSkovskijs zu dieser Frage, die ich sehr überzeugend finde.25 Die Allgemeinheit des zweiten „Partners" an der prädikativen Beziehung, die seine separate lexikalische Bezeichnung erübrigt, trägt bei zu maximal inniger Verschmelzung dieser Beziehung mit positiver modaler Bewertung der Realität dessen, was die prädikative Beziehung vermittelt, nämlich der Existenz des im Satz genannten Gegenstandes. Die Behauptung der Existenz eines Gegenstandes gilt natürlich zu gleicher Zeit als positive Einschätzung der Realität seiner Existenz. Daß wir es aber auch hier bei aller Verschmelzung doch mit zwei unterschiedlichen Funktionen zu tun haben, ist daraus ersichtlich, daß die negative Form in den Existenzialsätzen nicht ausgeschlossen ist (dabei ändert sich im Russischen die Konstruktion etwas, denn an die Stelle des Nominativs tritt - in Begleitung der Negation - der Genitiv); vgl. einen Beleg aus dem Buch von PeSkovskij, den wir hier etwas modifizieren: Mope. TponuKu. Hu eemepica ['Meer. Tropen. Kein Wind']. Die als Bewertung der Realität verstandene Modalität überlagert lediglich auch in den Existenzialsätzen die Prädikativität, so daß auch in diesem Fall bei der Bezugnahme auf die Wirklichkeit zwischen den beiden Phänomenen zu unterscheiden ist. Die Schlußfolgerung, zu der wir in diesem Artikel kommen, lautet, zusammengefaßt, wie folgt: Die Modalität ist mit der Prädikativität verbunden, fällt aber mit ihr nicht zusammen und kann auch nicht als Mittel des Ausdrucks der Prädikativität betrachtet werden. Die Modalität stellt ein anderes, äußerst wichtiges Element des Sprachbaus dar, sie überlagert die prädikative Beziehung, kann aber auch an anderen syntaktischen Beziehungen teilhaben. Was die Frage nach den Zusammenhängen der als Bewertung der Realität betrachteten Modalität mit anderen für die Grammatik relevanten Phänomenen anbetrifft, die auch als modale angesprochen werden, so war es nicht möglich, diese Frage im Rahmen des vorliegenden Artikels zu erörtern.
25
neujKOBCKHfl, A.M.: Op. cit. S. 179-180.
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Zur Prädikativität I
Von den wiederholt unternommenen Versuchen, das Problem des Satzes zu lösen, waren viele mit der Fragestellung nach dem Wesen der Prädikativität verbunden. Die Prädikativität wurde dabei unter verschiedenen Aspekten, dem logischen, dem psychologischen, dem formal-grammatischen, angegangen. Zusammenfassend kann man wohl von den folgenden drei theoretischen Hauptpositionen sprechen. 1 Prädikativität wird häufig als eine Relation verstanden. 2 Diese Auffassung gründete sich zunächst vorwiegend auf die Logik (vgl. die Beziehung zwischen dem logischen Subjekt und dem logischen Prädikat), später orientierte sich die Vorstellung von der Prädikativität als einer Beziehung vielmehr an verschiedenen psychologischen Theorien (das Zusammenspiel des psychologischen Subjekts mit dem psychologischen Prädikat, die Verbindung des Bekannten mit dem Neuen, des Themas mit dem Rhema u. ä.). Diese Auffassung der Prädikativität hatte eine positive Bedeutung. Sie half die Struktur des Satzes im allgemeinen zu durchleuchten und ihre mannigfaltigen Modifikationen zu erkennen, sie ermöglichte auch die Feststellung eventueller Diskrepanzen zwischen der grammatischen Form und dem aktuellen Inhalt des Satzes. Doch gelang es bei der Bestimmung der Prädikativität als Beziehung nicht, diese Kategorie mit deutlich ausgeprägten grammatischen Formen zu verbinden und sie somit überhaupt widerspruchslos als eine grammatische Kategorie zu definieren. Immerhin wurden Theorien aufgestellt, mitunter sehr interessante und tiefgreifende Theorien, in denen die Feststellung spezifischer Eigenschaften der Prädikativität angestrebt wurde, also solcher, die die Prädikativität von anderen Arten syntaktischer Beziehungen unterscheiden. So findet man Hinweise darauf, daß die Prädizierung ein Aufeinanderbeziehen zweier Komponenten unmittelbar im Redemoment ist, wogegen andere Arten syntaktischer Bezie-
1
2
Es gibt keine spezielle Arbeit über die Geschichte des sprachwissenschaftlichen Problems der Prädikativität. Aber das Material zu dieser Frage kann man in großer Menge in einigen Arbeiten finden, die der Geschichte des Satzproblems gewidmet sind, vgl. beispielsweise: S e i d e l , E.: Geschichte und Kritik der wichtigsten Satzdefinitionen. Jena 1935. So faßt Sachmatov die Prädikativität als eine Beziehung auf, die durch eine „Willensregung" vollzogen wird und überhaupt „eine bestimmende, dabei je nach Umständen eine abhängige, kausale, genetische" ist (LLI a χ μ a τ ο β , A.A.: CHHTaKCMC pyccKoro »3UKa. 2-oe M3,gaHne. JlcHHHrpaa 1941. S. 19). Solche Beziehungen bestehen nach Sachmatovs Meinung „nur zwischen den zwei Hauptgliedern des Satzes, dem Satzsubjekt und dem Prädikat, dem Kern des Hauptbestandteils und dem Kern des abhängigen Teils des Satzes" (ibid. S. 38).
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Prädikativität
hungen bereits „fertige" Zusammenfugungen von Komponenten wiedergeben (der „zuschreibende" Charakter der prädikativen Beziehung). 3 Hingewiesen wurde auch darauf, daß zur Prädizierung der Ausdruck der Bezugnahme der Handlung bzw. eines anderen Inhalts auf die Wirklichkeit s o w i e die Bewertung der Realität dieses Inhalts gehört; anderen Arten syntaktischer Beziehungen liegen dagegen Fügungen zugrunde, die der Bezeichnung lediglich einzelner Vorstellungen und Begriffe dienen, ohne daß sie im Sprechakt auf die Wirklichkeit bezogen würden. 4 Aber viele Forscher betrachten die Prädikativität überhaupt nicht als eine Relation. Mehrmals äußerte man sich über die Prädikativität als eine „Kraft", als eine Eigenschaft, die bestimmten grammatischen Formen, vor allem dem Verb, zukommt, und das Wesen dieser Kraft wurde als die Fähigkeit solcher Formen verstanden, ganzheitliche, abgeschlossene Sätze zustande zu bringen. Dies ist ein formal-grammatischer Standpunkt. Er erwies sich als sehr fruchtbar. Man verdankt ihm die Feststellung einer beträchtlichen Anzahl spezifischer (und einzelsprachspezifischer) Formen bzw. Kombinationen von Formen, die imstande sind, unabhängig von den Bedingungen der Sprechsituation oder des Kontextes und ohne Unterstützung von deren Seite strukturell und funktional selbständige und abgeschlossene Satz-Aussagen zu erzeugen. 5 3
4
Sehr eingehend ist dieser Fragenkomplex von Ries behandelt worden ( R i e s , J.: Was ist ein Satz? Prag 1931. S. 64fF.; daselbst auch weitere Literatur); eine besondere Bedeutung mißt Ries der Auffassung von Herling bei ( H e r l i n g , S.H.A.: Die Syntax der deutschen Sprache. Bd. I: Syntax des einfachen Satzes. Frankfurt a. M. 1830). Vgl. R i e s , J.: Op. cit. S. 72f. Besonders nachdrücklich betont Ries die Bedeutung der subjektiven Einstellung des Sprechers, die in der „Bezugnahme auf die Wirklichkeit" zum Ausdruck kommt. Der sowjetische Sprachforscher Vinogradov bestimmt die Bedeutung und funktionale Bestimmung der Kategorie der Prädikativität als das Beziehen des Satzinhalts auf die Wirklichkeit (in: FpaMMaTwca pycCKoro H3biKa. B d . II, Τ . I.
5
M o o c e a 1 9 5 4 . S. 8 0 ) . D i e B e z i e h u n g a u f d i e W i r k l i c h -
keit wird nach Vinogradov durch die konkreten Formen „der Kategorien der Zeit und der Modalität, auch der Kategorie der Person (in ihrer breit gefaßten syntaktischen Bedeutung)" ausgedrückt (ibid. S. 79). Mit besonderer Bestimmtheit wird diese Auffassung der Prädikativität von PeSkovskij formuliert, vgl.: „Eben dieser inhaltliche Zusatz, der zeigt, daß das Wort nicht lediglich einer Vorstellung, sondern einem ganzen G e d a n k e n entspricht, nennt man in der Syntax die P r ä d i k a t i v i t ä t " ( F I c u i k o b c k h h , A.M.: PyccKHfl CHHTaKCHC β HayHHOM oceeiueHHH. 7 - o e M3,aaHne. M o c i c e a 1 9 5 6 . S . 1 6 5 ) . U n t e r
den Wortklassen und Klassen von Wortformen, die über prädikative „Kraft" verfugen, nimmt das Verb natürlich eine besondere Stellung ein. Peäkovskij neigt überhaupt dazu, die Prädikativität mit dem Gebrauch von Verben gleichzusetzen („... in der Kategorie der Prädikativität finden wir einen Zusammenhang mit der Kategorie des Verbs" - ibid. S. 166). Mehr oder weniger bestimmt vertraten zahlreiche Grammatiker, die das Verb als notwendige Komponente des Satzes betrachteten, die Ansicht, die Prädikativität sei eine spezifische verbale Eigenschaft. Hingewiesen wurde aber auch darauf, daß diese Ansicht durch sprachliche Fakten keinesfalls bestätigt wird. Wir bringen hier eine Aussage von Ries zu dieser Frage: „Die finiten Verbformen stellen nicht nur ein über weite Sprachkreise verbreitetes, sondern unter allen das umfassendste Formmerkmal des Satzes dar; wenn auch
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Prädikativität
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Dieser Standpunkt bringt es aber auch mit sich, daß der Begriff der Prädikativität aller Eigenständigkeit beraubt wird, denn sein Inhalt deckt sich mit dem Hinweis auf die Fähigkeit diverser Formen, in unterschiedlichen Sprachen kommunikative sprachliche Äußerungen zu organisieren. Das Wesen dieser Fähigkeit, die Ursache dessen, warum sie gerade bestimmte Sprachformen besitzen, blieb im Grunde genommen unerkannt. Für die prädikative „Kraft" fand sich keine Erklärung, sie machte den Eindruck einer nahezu metaphysischen Kategorie. Also führten bisher weder die Auffassung der Prädikativität als einer Relation noch ihre Auffassung als einer „Kraft" zu einer vollständig befriedigenden Erklärung dieser Kategorie. Daher ist es nicht verwunderlich, daß sich viele Grammatiker beiden Auffassungen zuwenden und sie auf die eine oder andere Weise miteinander zu verbinden suchen. Diese Richtung der Analyse scheint uns vollauf berechtigt zu sein, denn die beiden Auffassungen spiegeln zweifellos bestimmte Seiten der Prädikativität wider, nur daß diese Seiten jeweils verabsolutiert wurden. Eine besondere Bedeutung für die Behandlung des Problems der Prädikativität hat die Frage, was unter grammatischer und vor allem unter syntaktischer Form zu verstehen ist. Nur eine Vorstellung von der grammatischen Form, die umfassend genug ist, die Grenzen der Morphologie, der äußeren und inneren Flexion u. dgl., definitiv zu überschreiten, kann zu einem tieferen Verständnis der Prädikativität in all ihrer Kompliziertheit fuhren. Wir meinen hier in erster Linie die Art der syntaktischen Form, die in der Tendenz bestimmter Wortklassen und Klassen von Wortformen besteht (einer Tendenz, die Notwendigkeit werden kann), Verbindungen mit anderen - ebenfalls benicht unbedingt allen Sätzen, so ist es doch ihrer großen Mehrzahl, in manchen Sprachen fast sämtlichen Sätzen gemeinsam; den NichtSätzen aber fehlt es durchaus (mit der einzigen und leicht begreiflichen Ausnahme der Gliedsätze). Man wird aber im Verbum finitum, auch ohne in seinem Urteil durch die eigne Sprachgewohnheit zu sehr beeinflußt zu sein, zugleich auch die vollkommenste Ausdrucksform sehn dürfen, die das Inbeziehungsetzen des Satzinhalts zur Wirklichkeit gefunden hat. Seine Formen machen es dazu besonders geeignet, zumal die, welche zugleich der Bezeichnung der Aktionsart, des Tempus und vor allem des Modus dienen. Sicher ist, daß in den Sprachen, die überhaupt ein finites Verb besitzen, sein Vorhandensein in einem Sprachgebilde immer auch das Vorhandensein eines Satzes bedeutet (mit derselben Ausnahme). Aber auch in ihnen trifft die Umkehrung der Feststellung: Wo ein finites Verb, da ein Satz, nicht zu; auch hier gibt es zweifellose Sätze ohne finite Verbform. In diesen dienen, wie in den Sätzen der Sprachen, denen das Verbum finitum fehlt, zur Kennzeichnung der Prädizierung andre Bildungsmittel, und zwar solche mehrfacher Art: die Wortstellung, wie ζ. B. im Altirischen, Chinesischen und Samoanischen; besondre Wortform für das Prädikatsadjektiv im Unterschied zum Attribut, wie im Russischen; Setzung oder Nichtsetzung des determinierenden Artikels und (oder) Einschub eines Personalpronomens in der Art einer Kopula, wie im Semitischen, Altägyptischen, Baskischen, manchen Neger- und Indianersprachen; dazu und vermutlich überall musikalische Bildungsmittel aller Art. Und bald wird das eine oder das andre Mittel allein verwendet, bald werden mehrere miteinander verbunden" ( R i e s , J.: Op. cit. S. 95).
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stimmten - Wortklassen bzw. Klassen von Wortformen einzugehen. Diese syntaktische Ausrichtung der Wortklassen und Klassen von Wortformen, die Ausrichtung, die ihnen als Vertretern grammatischer Kategorien und nicht kraft ihrer lexikalischen Bedeutungen eigen ist, stellt eben das formal-grammatische Moment dar, das für das Verständnis des Wesens der Prädikativität ausschlaggebend ist. Wir glauben, daß die sachgerechte Analyse der Prädikativität bisher dadurch erschwert wurde, daß das genannte Moment der Aufmerksamkeit der Forscher entging. II Am deutlichsten tritt die besondere Rolle der Kategorie der Prädikativität in mehrgliedrigen Sätzen, d. h. in Sätzen mit einer größeren Anzahl von Wörtern, in Erscheinung. In solchen Sätzen ist eine Reihe von syntaktischen Beziehungen verschiedener Art zu verzeichnen. So entsteht die Notwendigkeit, unter diesen die Beziehungen herauszuheben, die die Wortfügung zum Satz machen, die also dem gegebenen Redeabschnitt die Eigenschaft struktureller Ganzheitlichkeit und inhaltlicher bzw. kommunikativer Abgeschlossenheit verleihen können. Eine solche Beziehung wird als prädikative Beziehung oder als Beziehung des Satzprädikats zum Satzsubjekt bezeichnet. Für den hier umrissenen Fall scheint uns die erste Bezeichnung zweckmäßig, denn die Beziehung des Satzprädikats zum Satzsubjekt ist zwar der häufigste Fall, der Hauptfall im betreffenden Bereich, aber nichtsdestoweniger nur ein Sonderfall der Prädikativität. Hinsichtlich der Sätze, die aus einem Wort oder aus Wörtern bestehen, die nicht prädikativ miteinander verbunden sind, d. h. hinsichtlich der eingliedrigen Sätze, stellt sich mit vollem Grund die Frage, worauf sich die Fähigkeit bestimmter Wortformen gründet, ganzheitliche Aussagen zu ergeben, die zu ihrer Abgeschlossenheit keiner Ergänzungen bedürfen. Und es stellt sich noch eine Frage: Wie kann man die Eigenschaften der eingliedrigen Sätze, die ihnen strukturelle und funktionale Selbständigkeit gewähren, und den prädikativen Charakter der zweigliedrigen Sätze aufeinander abstimmen? Stellen vielleicht die eingliedrigen und die zweigliedrigen Sätze zwei voneinander gänzlich getrennte, nichtkorrelative Arten syntaktischer Gebilde dar oder gibt es doch etwas, was sie von ihrer Art her verwandt macht? Die Beziehung des Satzprädikats zum Satzsubjekt unterscheidet sich von anderen syntaktischen Beziehungen nicht in semantischer, sondern in struktureller Hinsicht. Die Beziehung zwischen dem Satzsubjekt und dem Satzprädikat einerseits und die Beziehungen aller Arten von Attributen zu den substantivischen Merkmalsträgern andererseits gehen - in unterschiedlichen logischgrammatischen Satztypen - hinsichtlich ihres eigentlichen Inhalts nicht auseinander. Zum Beispiel stimmen die inhaltliche Beziehung zwischen dem Satzsubjekt und dem Satzprädikat im Satz JlucmbH 3ejieHbi ['Die Blätter (sind) grün'] und die Beziehung zwischen dem Attribut und dem Substantiv in der Wortgruppe 3ejienbie jiucmbH ['grüne Blätter'] überein.
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Die formale Kennzeichnung der Satzsubjekt-Satzprädikat-Beziehung beruht, wie mehrmals festgestellt wurde, auf zwei Arten von Ausdrucksmitteln. Zum ersten stehen gewöhnlich bestimmte Wortklassen und Klassen von Wortformen in fester Verbindung mit der betreffenden syntaktischen Funktion. Zum zweiten wird diese Beziehung vermittels intonatorischer Schemen, die für den Satz als abgeschlossene Einheit typisch sind, kenntlich gemacht. Außerdem ist die Wortstellung für die formale Kennzeichnung der durch die prädikative Beziehung miteinander verbundenen Hauptglieder des Satzes von großer Bedeutung. Aber nicht immer ermöglichen alle diese formalen Mittel automatisch das Erkennen der „Partner" an der prädikativen Beziehung, mitunter erfolgt dies auf einem sehr komplizierten Wege. Letztlich muß man sagen, daß sie überhaupt keinen Schlüssel zum Verständnis des Wesens der prädikativen Beziehung geben. Gewisse Wortklassen und Klassen von Wortformen sind nicht ausschließlich an die Satzsubjekt-Satzprädikat-Beziehung gebunden. So tritt der Nominativ in den indoeuropäischen Sprachen nicht nur als Satzsubjekt, sondern auch als Prädikatsnomen (Prädikativ) auf und hat noch einige andere syntaktische Funktionen. Darum kommt es nicht selten vor, daß für die formale Kennzeichnung der Hauptglieder des Satzes zusammen mit der sie verbindenden prädikativen Beziehung beim Fehlen eindeutiger prädikativer Formen außer der Intonation die Wortstellung herangezogen wird. So erfordern die Sätze mit einem Nominativ als Prädikatsnomen und (im Präsens) ohne Kopula, die für das Russische typisch sind, - bei „normaler" Intonation des Aussagesatzes - die Abfolge „Satzsubjekt - Prädikativ", vgl. Kanyza - zopod ['Kaluga ist eine Stadt']. Noch weniger eindeutig ist die Intonation in bezug auf die Unterscheidung der Hauptglieder des Satzes. Die Intonation drückt die Abgeschlossenheit jedes beliebigen Satzes unabhängig von seiner Struktur, sowohl eines zwei- wie auch eines eingliedrigen, sowohl eines vollständigen wie auch eines elliptischen Satzes, aus. So sind der Intonation keine Hinweise auf die Hauptglieder des Satzes, die „Partner" an der prädikativen Beziehung, als stabile Größen zu entnehmen. Die Intonation zeigt an sich nur die Grenzen des Satzes als abgeschlossener Einheit an, ohne darauf zu reagieren, inwiefern die gegebene Satzstruktur die Eigenschaft funktionaler Selbständigkeit unabhängig von wechselnden Bedingungen der Sprechsituation bzw. des Kontextes besitzt. Mehr noch, wenn die Intonation die Gliederung des Satzes in zwei Hauptteile erkennen läßt, wird diese Gliederung keineswegs immer der Gliederung des Satzes in Teile mit dem grammatischen Satzsubjekt und dem grammatischen Satzprädikat entsprechen, sondern weit eher der Gliederung, bei der das psychologische Subjekt und das psychologische Prädikat (das Thema und das Rhema u. dgl.) die Hauptrollen spielen. Was die eingliedrigen Sätze anbetrifft, so ist die Intonation allein nicht imstande, zur Klärung der Frage beizutragen, inwieweit die Verwendung bestimmter Wortformen in der Funktion des selbständigen Satzes „normal" ist oder ob diese Formen gleichsam „zufallig", nur dank konkreter Bedingungen der Sprechsituation als Sätze auftreten. Zu berücksichtigen ist auch, daß die typologisch stabilen Formen, denen der Status des eingliedrigen Satzes zuerkannt werden kann, nicht gleicher Art
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sind, obwohl hier verbale Formen und der substantivische Nominativ die Hauptrollen spielen. Aber auch die Erkenntnis, daß die Prädikativität auf die eine oder andere Weise mit bestimmten morphologischen Kategorien verbunden ist und daß die Satzsubjekt-Satzprädikat-Beziehung in diesen oder jenen morphologischen Strukturen ihren Ausdruck findet, hilft noch nicht die Frage zu beantworten, worin der Unterschied der Satzsubjekt-Satzprädikat-Beziehung von anderen Arten syntaktischer Beziehungen besteht. Weisen wir daraufhin, daß die prädikative Beziehung die Beziehung zwischen einem Nominativ und einem mit diesem kongruierenden finiten Verb ist, so zeichnen wir somit eine scharfe Grenze zwischen der prädikativen Beziehung der Hauptglieder des Satzes zueinander und beispielsweise der attributiven Verbindung eines Substantivs (im beliebigen Kasus) und eines mit diesem Substantiv kongruierenden Adjektivs ein. Aber diese Grenze wird weniger deutlich, wenn wir die prädikative Verbindung eines Nominativs und eines - mit dem Nominativ kongruierenden - Adjektivs (CHee - öejibiü ['Der Schnee (ist) weiß']) mit der attributiven Beziehung zwischen Vertretern gleicher Wortklassen ([öemiü cHee ['weißer Schnee']) zusammenstellen. Eine formale Differenz kann auch in solchen Fällen erkannt werden, sie basiert auf der Wortstellung (obwohl im emphatischen Satz die Abfolge der Satzglieder umgekehrt werden kann: Εέjibiü cHez ['Weiß ist der Schnee']), auf der Intonation (stets) sowie darauf, daß die attributive Wortgruppe (6ejibiü CHez) grundsätzlich in verschiedenen Kasus auftreten kann. Das Wesen des Gegensatzes zwischen dem Satz und der Wortfügung bleibt aber in Fällen wie dem zuletzt angegebenen unklar, jedenfalls ebenso unklar wie im Fall der Sätze mit einem verbalen Prädikat - trotz des Umstandes, daß das finite Verb an die Funktion des Satzprädikats gebunden ist. Das wahre Wesen der prädikativen Beziehung wartet immer noch auf die ihm adäquaten Einsichten. Naheliegend ist die Annahme, daß die bekannten Thesen von dem für die Prädikativität typischen aktiven, dynamischen Charakter des im Sprechakt erfolgenden Aufeinanderbeziehens zweier Komponenten und von dem Ausdruck der Stellungnahme des Sprechers hinsichtlich des Inhalts der eigenen Aussage (unterschiedliche Beziehungen des Satzinhalts zur Wirklichkeit) zur Lösung des oben umrissenen Problems beitragen können. 6 Freilich tragen diese Züge eher psychologischen Charakter, und außerdem erweisen sie sich bei näherer Betrachtung - wie wir oben schon erwähnt haben - als auch den Wortfügungen in größerem oder geringerem Maße eigen. Nichtsdestoweniger sind alle diese Momente für das Verständnis der Satzsubjekt-Satzprädikat-Beziehung sowie der Prädikativität im allgemeinen sehr wichtig. Nur muß man, wie wir glauben, konkrete grammatische Formen ausmachen, in denen die prädikativen Beziehungen in Erscheinung treten, und dies scheint uns möglich. Wenn man die gleichartigen Satzglieder beiseite läßt, kann man behaupten, daß alle syntaktischen Beziehungen im Satz außer der prädikativen Bezie6
Vgl. A Ä M O H H , Β.Γ.: BeeacHHe Β CMHTSKCHC coBpeivieHHoro HeMeiiKoro ssbixa. MocKea 1955. S. 57.
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hung in gewissem Sinne einseitig sind. Eines der Glieder sonstiger Wortfügungen bedarf einer anderen Satzkomponente, um in den Satz eingefügt zu werden; zum Beispiel hat es diese Bewandtnis mit dem Attribut in seiner Beziehung zum substantivischen Merkmalsträger, vgl. öejibiü im Rahmen der Wortgruppe 6ejibiü cnez. Indessen bedarf das Kernglied der Wortgruppe seines „Satelliten" nicht. Der Satz Ha ynuv^ax nejtcan cnez ['Auf den Straßen lag Schnee'] stellt eine strukturell und semantisch abgeschlossene Aussage dar, ohne daß seine Abgeschlossenheit von dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Attributs zum Substantiv cnez abhängig wäre. Der Satz Ha ynuι^αχπβοκαη öejibiü cnez ['Auf den Straßen lag weißer Schnee'] ist absolut normativ, aber daß das Substantiv cuez hier von einem Attribut begleitet wird, ist keine strukturelle, sondern eine rein semantische Angelegenheit. Das Gleiche müßte man in bezug auf das Genitivattribut wiederholen, vgl. >7 β3ίυι KHuzy fl β3ΗΆ KHuzy cecmpu ['Ich nahm das Buch' - 'Ich nahm das Buch der Schwester']. Das Wesen des Unterschieds zwischen den Kerngliedern und den von diesen abhängigen Gliedern der Wortgruppen besteht eben darin, daß die syntaktische Existenz der abhängigen Glieder ohne die hierarchisch über ihnen stehenden Glieder überhaupt unmöglich ist, diese sind aber jenen gegenüber gleichsam „gleichgültig", sind auf abhängige Komponenten, die sie eventuell erweitern können, nicht ausgerichtet. Es gibt Fälle, in denen die Beziehung zwischen dem dominierenden und dem abhängigen Glied einer Wortfügung nicht so einfach ist. Beispielsweise wird ein Satz wie OH n03HaK0Miuica c padoM ['Er lernte eine Reihe kennen'] kaum als sinnvoll wahrgenommen (mit Ausnahme vielleicht des Falls eines offenbar selten anzutreffenden besonderen Kontextes); damit dieser Satz ausreichend abgeschlossen wirkt, muß man etwas hinzufügen, zum Beispiel könnte man sagen: OH n03HaK0MwicH c padoM npue33tcux ['Er lernte eine Reihe Angereister kennen']. Als nicht abgeschlossen in einem bestimmten Sinne erweist sich das Substantiv pad ['Reihe'], und es bedarf eines Attributs. In diesem Fall geht es nicht nur um die Anlehnung eines abhängigen Wortes an das Kernglied der Wortgruppe, hier haben wir es mit gegenseitiger Anziehung beider Wortgruppenglieder zueinander zu tun. Wodurch wird diese bedingt? Sie ergibt sich nicht aus grammatischen Eigenschaften des Substantivs pad\ ein anderes Substantiv in gleicher Position könnte dem Satz eine einwandfreie Vollständigkeit verleihen, vgl. Oh n03HaK0Mwica c npue30KUMU ['Er lernte die Angereisten kennen']. Die Anziehungskraft, die beim Gebrauch des Wortes pad von diesem Wort als Kernglied der Wortgruppe auf ein Attribut gerichtet ist, geht auf die semantischen, die lexikalischen Eigenschaften des Substantivs pud zurück. Dieses Wort gehört zu einer Gruppe von Lexemen, die unbestimmte Quantitäten bezeichnen und darum der ungefähren Schätzung von Mengen irgendwelcher Dinge oder abstrakter Phänomene dienen. Das Wort pad ist ein Substantiv und als solches kann es als Hauptglied der substantivischen Wortgruppe auftreten, an das sich ein Genitivattribut anschließt, aber im Großteil aller Fälle ist der Gebrauch dieses Wortes ohne Genitivattribut überhaupt unmöglich, denn semantisch stellt es nur eine quantitative Charakteristik des Gegenstandes dar, der vom Attribut bezeichnet wird. Die Eigenart der Beziehungen von Komponenten einer solchen Wortfügung,
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nämlich die gleichzeitige Notwendigkeit eines dominierenden „Partners" für ihr abhängiges Glied und eines untergeordneten „Partners" fur ihr Kernglied, entspringt nicht grammatischen, sondern lexikalisch-semantischen Ursachen. Ganz anders als in gewöhnlichen subordinativen Wortgruppen ist es um die Beziehung zwischen dem Satzsubjekt und dem Satzprädikat, d. h. um die prädikative Beziehung im zweigliedrigen Satz, bestellt. Hier wird nicht nur das Prädikat, das mit dem Subjektsnominativ kongruiert und in dieser Hinsicht von ihm abhängt, dem Subjektsnominativ zugeordnet (das Prädikat „strebt" gleichsam dem Satzsubjekt „zu"), sondern das Satzsubjekt „strebt" seinerseits dem Prädikat „zu", ist auf das Prädikat ausgerichtet. Jedes Satzsubjekt - unabhängig von seiner lexikalischen Bedeutung - wird in den Satz eingeführt, um eine Verbindung mit dem Satzprädikat einzugehen. Man greift oft zu der Formel, daß das Prädikat dem Subjekt „zugeschrieben" wird, aber mit gleichem Recht könnte man sagen, daß das Subjekt seinerseits dem Prädikat „zugeschrieben" wird. Die dabei entstehende gegenseitige Abhängigkeit beider Hauptglieder des Satzes, ihre gegenseitige Zuordnung ist nicht das Ergebnis irgendwelcher lexikalischen „Unzulänglichkeit" der Wörter, die als Satzsubjekt auftreten, sondern eine grundlegende strukturelle Eigenschaft der prädikativen Beziehung im zweigliedrigen Satz. Eine solche gegenseitige Abhängigkeit ist im tiefsten Wesen des Satzes begründet, des Satzes als einer Struktur, die dem Denk- und Kommunikationsakt die Ausdrucksform verleiht und somit die Aufgabe erfüllt, nicht einfach etwas zu nennen, sondern etwas über etwas mitzuteilen. 7 Eben das Aufeinanderbeziehen zweier Komponenten, die Zweigliedrigkeit im tiefsten Sinne dieses Wortes, macht nicht nur das Satzsubjekt fur das Satzprädikat notwendig, sondern ebenfalls das Satzprädikat fur das Satzsubjekt. Im Satz indoeuropäischen Typs, der die nominativische Struktur hat, ist das Satzsubjekt ein unabhängiger Nominativ, der in den Satz mit der Aufgabe eingeführt wird, durch das Satzprädikat charakterisiert zu werden. Diese Aufgabe stellt eine ganz bestimmte syntaktische Eigenschaft einer bestimmten sprachlichen (morphologischen) Form in ihrer Verbindung mit anderen sprachlichen (morphologischen) Formen dar; darum gibt es allen Grund, in diesem Fall von einem echt grammatischen Phänomen, nicht von psychischen Vorgängen zu sprechen. 8 Es sei noch einmal betont, daß die „Ausrichtung" des Satzsubjektes auf das Satzprädikat nicht von der lexikalisch-semantischen Bedeutung des Wortes 7
8
V g l . Α Λ Μ Ο Η Η , Β.Γ.: Ο .NEYCOCTABHOCTH npe,WI05KEHNA. In: YNEHBIE 3armcKn
I J l e H H H r p a a c K o r o rocyaapcTBeHHoro ne.aarornHecKoro HHCTHTyra H H O C T p a H H b i x sttbiKOB. Hoea» cepH», BbinycK II. JleHHHrpaa 1955 [s. in diesem Band S. 105ff]. Der Zielgerichtetheit der satzbildenden Beziehung wurde von einer Reihe Gelehrter eine besondere Bedeutung beigemessen; diese Forscher betrachteten den Satz als Realisierung der Struktur eines sich zielstrebig entfaltenden Gedankens. Der Begriff der „Intention" und analoge Begriffe, die von einigen Sprachforschern und Psychologen (Stenzel, Ammann, Regula, Ipsen) ausgearbeitet wurden (s. S e i d e l , E.: Op. cit. S. 63ff.) beziehen sich im Grunde genommen auf die Linie der Satzgliederabfolge von ihrem „Ausgangspunkt" zu weiteren Satzkomponenten. Soweit wir beurteilen können, bekommen diese Begriffe bei den genannten Forschern keine ausreichend deutlichen formal-grammatischen Charakteristiken.
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herrührt, das als Satzsubjekt auftritt, sondern sie gehört zum Wesen der grammatischen (syntaktischen) Kategorie des Satzsubjektes. Im Satz Ha yßuifax jieoKum
öejibiu
CHez ist d i e K o n k r e t i s i e r u n g d e s S u b s t a n t i v s cnee
durch das
attributive Adjektiv 6enuü durchaus nicht notwendig, der Satz könnte auch die Form Ha yjiutfax jieoKum cnez haben. Aber im Satz CMZ - öe.nbiü erfordert das gleiche Substantiv CHee das Adjektiv öenbiü, weil dieses hier das Prädikat ist. Man meint genau dieses Phänomen, wenn man behauptet, daß das Satzprädikat ein nicht weniger notwendiges Satzglied als das Satzsubjekt ist, daß die beiden Kategorien einander voraussetzen, aber es scheint uns wichtig, diesen Umstand ausdrücklich zu betonen und inbesondere die wechselseitige Abhängigkeit beider Hauptglieder des Satzes, ihre gegenseitige Zuordnung, hervorzuheben. Die gleichzeitige Abhängigkeit der Hauptglieder des Satzes voneinander unterscheidet die prädikative Beziehung im zweigliedrigen Satz von allen anderen satzinternen syntaktischen Beziehungen. Diese Charakteristik gilt der prädikativen Beziehung unabhängig davon, ob das Satzprädikat ein verbales oder ein nominales ist, zwischen dem Satzprädikat und dem Satzsubjekt besteht in beiden Fällen die gleiche spezifische wechselseitige Abhängigkeit, sie sind sozusagen immer aufeinander angewiesen. Beim zusammengesetzten Prädikat, an dessen Gestaltung kopulative Verben beteiligt sind, erfaßt die prädikative Beziehung nicht nur die Kopula, sondern auch die nominale Komponente des Prädikats. Vom Satzsubjekt ist die prädikative Beziehung in diesem Fall unmittelbar zur Kopula gerichtet, diese bedarf aber kraft ihrer lexikalisch-grammatischen Natur notwendigerweise einer Ergänzung. Darum wird hier das die Kopula ergänzende Nomen von der prädikativen Beziehung, die die Kopula „durchzieht", in die prädikative Fügung einbezogen. Die Kopula könnte man mit einem Leiter fur die gerichtete Energie der prädikativen Beziehung vergleichen. 9 Was wir vorhin ausgeführt haben, bezieht sich mehr oder weniger auf alle Sätze, an deren Bildung Verb e n d e r u n v o l l s t ä n d i g e n P r ä d i k a t i o n ( w i e aussehen,
nehmen,
gleichen
u. ä . )
teilnehmen. Die so verstandene prädikative Beziehung kann man mit keiner anderen Art syntaktischer Beziehungen verwechseln, beispielsweise mit der Beziehung zwischen einem abgesonderten Attribut und dem Substantiv, zu dem dieses gehört, denn unabhängig davon, welches Gewicht dem Attribut beigemessen wird und wie stark es durch die Stimmführung hervorgehoben wird, besteht in diesem Fall keine gegenseitige Gerichtetheit der „Partner" an der Fügung zueinander. Hier gibt es also keinen Grund, eine solche Beziehung auch nur als „halbprädikativ" (u. ä.) zu charakterisieren. Zur Frage der „Halbprädikativität", wie sie in grammatischen Arbeiten der letzten Jahrzehnte diskutiert wurde, werden wir im weiteren zurückkehren.
9
Am Wesen der prädikativen Beziehung ändert sich nichts bei einigen Varianten der Form des Satzsubjektes. In den indoeuropäischen Sprachen kommen Abweichungen von der Nominativform selten vor, vgl. aber zum Beispiel das partitive Satzsubjekt im Genitiv beim Prädikat mit quantitativer Bedeutung.
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Allerdings haben wir es mit der prädikativen Beziehung auch in einigen syntaktischen Strukturen zu tun, die keine Sätze darstellen. Die Hauptaufgabe der prädikativen Beziehung besteht in der Erzeugung grammatischer Formen, die als selbständige Aussagen auftreten, als kommunikative Einheiten, die keiner Unterstützung von seiten der Sprechsituation bzw. des Kontextes bedürfen. Mit anderen Worten: Die prädikative Beziehung liegt dem unabhängigen und abgeschlossenen Satz zugrunde. In einigen Fällen aber liegt die prädikative Beziehung in syntaktischen Konstruktionen vor, denen die Eigenschaften der Unabhängigkeit und der Abgeschlossenheit fehlen. In dieser Hinsicht kommen in erster Linie zwei Hauptfälle in Betracht, nämlich Teile des Satzgefüges und Konstruktionen mit nominalen Verbformen. Die Sprachforscher haben schon längst dem Umstand Rechnung getragen, daß die Teile des zusammengesetzten Satzes, vor allem des Satzgefüges, einerseits die Struktur des unabhängigen, selbständigen Satzes vollständig reproduzieren, andererseits aber keine tatsächlich selbständigen Sätze darstellen - sowohl der Nebensatz wie auch (vielfach) der Hauptsatz würden ihre Existenzgrundlage verlieren, wenn sie nicht miteinander verbunden wären und zusammen auftreten würden, beide würden an sich unabgeschlossen bleiben. Indessen schließen sie sich an bestimmte logisch-grammatische Satztypen an, und zusammen mit anderen Merkmalen eines selbständigen Satzes ist ihnen die prädikative Beziehung eigen. Die typologischen Gemeinsamkeiten, die die Hauptkomponenten des Satzgefüges mit dem selbständigen Satz teilen, sind dafür verantwortlich, daß sich die Auffassung dieser Komponenten als Sätze in der Sprachbeschreibung festgesetzt hat, obwohl einige Forscher, insbesondere seit Ende des 19. Jahrhunderts, ihnen die Berechtigung zur Bezeichnung als „Sätze" absprachen, da ihnen die nahezu wichtigste Eigenschaft des Satzes, die funktionale Unabhängigkeit, fehlt. 10 Wenn wir terminologische Diskrepanzen beiseite lassen, bleibt die Tatsache, daß in den Teilen des Satzgefüges, die nach dem Muster zweigliedriger Sätze aufgebaut sind (dies trifft in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle zu) eine echte prädikative Beziehung vorliegt. Also muß man folgern, daß die prädikative Beziehung nicht unbedingt nur funktional unabhängigen Satz-Aussagen zugrunde liegt. Auf der Basis der prädikativen Beziehung können auch abhängige Teile umfänglicher Aussagen aufgebaut werden, Teile, denen im Rahmen der Aussage ein beträchtliches Gewicht zukommt, Teile, die selbst einen komplizierten, differenzierungsbedürftigen Inhalt haben.
III Daß die prädikative Beziehung auch abhängigen Komponenten der Aussage zugrunde liegen kann, wird noch augenfälliger, wenn man sich den Wortgruppen mit nominalen Verbformen, den sogenannten „absoluten" Konstruktionen zuwendet, die gewöhnlich eine beträchtliche inhaltliche Sättigung aufweisen. 10
Vgl. P a u l , H.: Prinzipien der Sprachgeschichte. 5. Aufl. Halle (Saale) 1937. S. 123.
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Die partizipialen Wortgruppen sowie oft genug auch die Infinitivgruppen, die in Sprachen unterschiedlicher Typen breit vertreten sind, gründen sich oft auf die prädikative Beziehung. In der Regel fehlt diesen Wortgruppen die Eigenschaft der Selbständigkeit, sie können nur als Erweiterungen echter Sätze auftreten. In den genannten (und ähnlichen) Wortgruppen bekommt die prädikative Beziehung besondere Ausdrucksformen, die sich von der Ausformung der satzbildenden prädikativen Beziehung wesentlich unterscheiden. Während die klassische Form der satzbildenden prädikativen Beziehung in den indoeuropäischen, den Turksprachen und vielen anderen Sprachen die Verbindung des Nominativs mit dem finiten Verb darstellt, haben die Wortgruppen, von denen hier die Rede ist, ganz anders geartete Formen. Möglich ist der Gebrauch beider Glieder, die die prädikative Beziehung eingehen, in den gleichen obliquen Kasus, wie dies der „absolute Genitiv" im Altgriechischen, der „absolute Ablativ" im Lateinischen, der „absolute Dativ" in altslawischen und altgermanischen Sprachen zeigen. Die prädikative Beziehung verbindet in diesen Fällen ein Substantiv bzw. (häufig) ein Pronomen in einem der obliquen Kasus und ein Partizip, da das Substantiv oder das Pronomen nicht aufgrund von einem anderen Satzglied ausgehender „Rektion" in den Satz eingeführt werden, sondern - nach dem Vorbild der Verwendung obliquer Kasus in der Funktion adverbialer Bestimmungen - als „freie" Satzglieder auftreten. Dabei aber ist ein solches Satzglied nicht „selbstgenügend", es ist kein Selbstzweck, es wird mit dem Ziel in den Satz eingefugt, eine Charakteristik, eine Bestimmung zu bekommen, die ihm das mit ihm kongruierende Partizip gibt. So entsteht hier eine gegenseitig ausgerichtete Beziehung, eine Beziehung, bei der nicht nur das Partizip dem Nomen, mit dem es kongruiert, sondern auch das Nomen seinerseits dem Partizip „zustrebt". Und dies ist genau das, was wir als die grundlegende Eigenschaft der prädikativen Beziehung bestimmen." In den modernen indoeuropäischen Sprachen ist eine andere Art „absoluter" Konstruktionen mit nominalen Verbformen verbreitet, die die prädikative Beziehung aufweisen. Die nominale Komponente solcher Konstruktionen steht gewöhnlich im Nominativ (oder im „Gemeinschaftskasus" in Sprachen mit einem reduzierten Kasussystem). Vgl. engl. The rain having ruined my hat, I had to buy a new one. Analoge Wortgruppen sind im Englischen auch ohne nominale Verbform möglich: The lecture over, we left the hall. Wortgruppen dieser Art haben oft einen beträchtlichen Umfang und geben einen komplizierten Inhalt wieder; sie reproduzieren im Grunde die Struktur des verbalen Satzes - mit dem Unterschied aber, daß ihnen die Eigenschaft der abgeschlossenen Mitteilung, der funktionalen Selbständigkeit abgeht. Die prädikative Beziehung, die in einer solchen Form zum Ausdruck kommt, erweist sich als abhängig. Man muß betonen, daß hier die Abhängigkeit eben 1
Die prädikative Beziehung liegt in Wortfiigungen dieser Art nur dann vor, wenn das Partizip darin nicht die Rolle eines einfachen Attributs zum Nomen spielt, das seinerseits als ein gewöhnliches präpositionsloses Objekt oder eine adverbiale Bestimnmung auftritt; vgl. got. andanahtja than waurthanamma (Marc. 1, 32) 'Abende dann gewordenem' ('als der Abend kam').
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der prädikativen Beziehung vorliegt, nicht die Abhängigkeit der ersten Komponente der prädikativ aufeinander bezogenen Elemente, des Nomens, denn gerade dieses ist syntaktisch unabhängig. In einigen Sprachen wird der abhängige Charakter der prädikativen Beziehung dadurch angezeigt, daß das Substantiv (oder Pronomen), das die erste Komponente der Fügung darstellt, die Form eines obliquen Kasus bekommt. In solchen Sprachen grenzt nicht nur die Form der zweiten Komponente, sondern auch die Form der ersten Komponente die betreffende Wortgruppe vom Satz ab, und sie läßt somit die syntakische Abhängigkeit der Wortgruppe deutlich erkennen. Diese Variante ist im Deutschen verbreitet; die erste Komponente der Wortgruppe nimmt gewöhnlich die Form des Akkusativs an, vgl. Den Brief geschrieben, ging der Knabe in die Schule.12 Obwohl die erste Komponente hier in einem obliquen Kasus steht, wird sie nichtsdestoweniger von keinem Glied des Satzes (bzw. Satzteils), an den sich die „absolute" Wortfügung knüpft, „regiert". „Regiert" wird der Akkusativ formal von dem Partizip, mit dem er verbunden ist. Der Akkusativ kann also unter rein formalem Aspekt als vom transitiven Verb schreiben abhängig verstanden werden. Aber in Wirklichkeit ist hier die Beziehung der Komponenten zueinander viel komplizierter: Einerseits tritt das Substantiv im Akkusativ als Objekt zum Verb in partizipialer Form auf, andererseits aber kann das Partizip als Ausdruck einer attributiven Charakteristik des durch den Akkusativ bezeichneten Gegenstandes gelten; der Vergleich mit der Wortfügung der geschriebene Brief läßt dies klar erkennen. In der Struktur, die wir betrachten, erweist sich die fur das Partizip typische Bedeutung des Merkmals als das Wesentlichste. Der Akkusativ wird in die Konstruktion eingeführt, um vom Partizip, mit dem er sich verknüpft, bestimmt, charakterisiert zu werden. Nicht zufällig herrscht in den Wortgruppen dieser Art die Gliederabfolge „Akkusativ - Partizip"; sie entspricht der Richtung, in der sich der Gedanke entfaltet, nämlich der Richtung vom Gegenstand zum Merkmal. Das Partizip an sich vermittelt nicht die Verbindung der „absoluten" Wortfügung mit dem Hauptteil des Satzes. Bezeichnenderweise könnte dieses Partizip durchaus nicht als Attribut zum Substantiv verstanden werden, dessen Handlung es - unter resultativem Aspekt - zum Ausdruck bringt. Das Partizip geschrieben drückt das Ergebnis der Handlung schreiben aus, die die Person Knabe an dem Gegenstand Brief vollzogen hat. Somit bezeichnet das Partizip unmittelbar nicht ein Merkmal dieser Person, sondern ein Merkmal des Gegenstandes, den die Handlung der Person „erfaßt" hat {der geschriebene Knabe wäre ein Nonsens). Dies bedeutet aber, daß das Partizip geschrieben in der „absoluten" partizipialen Wortfügung auch nicht als abgesondertes Attribut zum Satzsubjekt, das den Erzeuger der Handlung schreiben bezeichnet, betrachtet werden könnte. Folglich schafft nicht das Partizip die Möglichkeit, die „absolute" Wortfügung in die komplizierte Satzstruktur einzubeziehen. An den Hauptteil des Satzes knüpft sich die untergeordnete Wortfügung als eine Ganzheit, nicht durch Vermittlung der einen oder anderen ihrer Komponenten. Den Ausgangspunkt für die Gestal12
Vgl. Pau 1, H.: Deutsche Grammatik. Bd. III. Halle (Saale) 1954. S. 278-280.
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tung der „absoluten" Partizipialgruppe stellt nicht das Partizip dar, sondern das Nomen, das eingeführt wird, um im Partizip eine Charakteristik zu erhalten, als Komponente der Fügung also, die aus der syntaktisch dominierenden Position dem Partizip „zustrebt". Folglich haben wir es hier ebenfalls mit der prädikativen Beziehung zu tun. Ein großer Unterschied besteht im Deutschen zwischen den Wortgruppen mit dem ersten und den Wortgruppen mit dem zweiten Partizip. Alles vorhin Ausgeführte bezieht sich auf die Wortgruppen mit dem zweiten Partizip (transitiver Verben). Indessen knüpfen sich die Wortgruppen mit dem ersten (aktiven) Partizip an den Hauptteil des Satzes durch unmittelbare Vermittlung des Partizips, das unbehindert auch als Attribut zum bewußten Substantiv im Hauptteil des Satzes auftreten könnte. Am Satz den Brief schreibend, war der Knabe sehr lustig hätte sich wenig geändert, wäre das Partizip als Attribut zum substantivischen Satzsubjekt verwendet worden (der schreibende Knabe)·, das Partizip I kann abgesondert werden, auch wenn es von keinem Objekt begleitet ist {Schreibend, war der Knabe sehr lustig). Nicht zufällig ist die Wortstellung in Wortgruppen mit dem ersten Partizip viel freier als in Wortgruppen mit dem zweiten Partizip. Die Form des Akkusativs, in der die erste Komponente der (abhängigen) prädikativen Beziehung in Wortgruppen mit dem zweiten Partizip auftritt, führt, wir wir schon gesehen haben, zu einer beträchtlichen Komplizierung der Struktur der Wortgruppe und sogar zu einer gewissen Widersprüchlichkeit dieser Struktur. Wenn sich der Akkusativ dennoch als sehr stabil erweist (obwohl er nur im Sg. Mask, deutlich gekennzeichnet wird), so steht wohl die Tendenz dahinter, den abhängigen Charakter der hier vorliegenden prädikativen Beziehung hevorzuheben und die Wortgruppe von dem elliptischen Satz zu unterscheiden. Unsere Behauptung, daß sich die Wortgruppen mit dem zweiten Partizip ungeachtet der Akkusativform der ersten Komponente auf die prädikative Beziehung gründen, wird dadurch bekräftigt, daß es im Deutschen ähnliche Konstruktionen gibt, deren Struktur überhaupt keine Partizipien vorsieht. Wir meinen den sogenannten „absoluten Akkusativ". In der Konstruktion des „absoluten Akkusativs" wie zum Beispiel im Satz Er stand, den Stock in der Hand gibt es in der Tat kein Partizip oder irgendein anderes Wort, von dem der Akkusativ hätte abhängen können. Und der Akkusativ hängt auch von keinem Glied des Hauptteils des Satzes ab. Eben darin besteht seine „Absolutheit". Aber der Akkusativ kann unter solchen Bedingungen, sozusagen als absolut „absoluter Akkusativ", im Satz nicht allein gebraucht werden. Eine Konstruktion wie Er stand, den Stock ist nicht möglich. Außerdem kann Stock nicht als Ausdruck eines im Verhältnis zu er allgemeineren Begriffs und somit als Apposition zu er aufgefaßt werden. Der Akkusativ kann nur im Rahmen eines zweigliedrigen Schemas syntaktisch „absolut" werden, in dem er die Position der ersten Komponente einnimmt. In der Rolle der zweiten Komponente treten verschiedene grammatische Formen auf; es können eine präpositionale Fügung, ein Adjektiv, ein Adverb sein, und sie bezeichnen irgendein Merkmal des durch den Akkusativ ausgedrückten Begriffs. Der Akkusativ wird speziell in den Satz eingeführt, um durch die
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zweite Komponente eine attributive oder im Sinne einer adverbialen Bestimmung gefaßte bzw. eine die Bedingungen seines Vorhandenseins in der gegebenen Situation konkretisierende Charakteristik zu erhalten. Obwohl die Konstruktion des „absoluten Akkusativs" einen Widerspruch in sich birgt, der darin besteht, daß der Akkusativ als Ausgangsgröße bei der Herstellung der prädikativen Beziehung verwendet wird, ist dem Akkusativ die charakteristische „Gerichtetheit" eigen, die vom Vorhandensein einer Art prädikativer Beziehung Zeugnis ablegt. Die Konstruktionen, die wir betrachten, sind typischerweise zweigliedrig. In dieser Hinsicht sind sie den zweigliedrigen Sätzen mit einem nominalen bzw. einem „erweiterten" Prädikat analog. Doch unterscheiden sie sich von wirklichen Sätzen formal-grammatisch definitiv durch ihre Verblosigkeit und dadurch, daß der Akkusativ als erster „Partner" an der prädikativen Beziehung verwendet wird. Die genannten Eigenschaften machen den selbständigen Gebrauch dieser Konstruktionen unmöglich, lassen ihre syntaktische Abhängigkeit erkennen, verleihen ihnen den Charakter bloßer Satzerweiterungen, die im Inventar der logisch-grammatischen Satztypen nicht eigens vertreten sind. Der Gebrauch des Nominativs in Konstruktionen dieser Art - das kommt vor - nähert sie gewissermaßen an die Satzstruktur an, allerdings zeugt die Verblosigkeit deutlich genug auch in solchen Fällen von ihrer syntaktischen Abhängigkeit. Daß die Verblosigkeit in ausreichendem Maße die „absoluten" Konstruktionen als abhängige Bildungen charakterisieren kann, zeigt das Beispiel des Englischen und des Französischen, denn in diesen Sprachen gibt es keinen substantivischen Akkusativ und die nominale Komponente der „absoluten" Wortgruppe hat eine Form, die mit der Form des Satzsubjektes zusammenfallt. Die syntaktische Abhängigkeit „absoluter" Konstruktionen ist von besonderer Art. Erstens hängt die erste Komponente überhaupt von keinem anderen Wort im Satz ab. Zweitens wird die ganze Wortfügung intonatorisch stark hervorgehoben. Die relative Selbständigkeit der „absoluten" Wortfügung im Rahmen des Satzes basiert auf ihrer inneren „Kraft", auf der Spannung, die von der gegenseitigen Gerichtetheit ihrer Glieder herrührt, das heißt von der ihr innewohnenden prädikativen Beziehung. Die prädikative Beziehung ist also nicht nur im echten Satz vorhanden, der als selbständige, abgeschlossene kommunikative Einheit auftritt. Folglich kann sie nicht als eindeutiges Kriterium des Satzes, das ihn von anderen syntaktischen Bildungen unterscheidet, betrachtet werden. Sie bekommt die kriteriale Bedeutung nur in Verbindung mit einer Reihe anderer grammatischer Faktoren, vor allem zusammen mit der Intonation und mit bestimmten stabilen morphologischen Formen, die einerseits der Gestaltung des Satzes (verschiedener logisch-grammatischer Satztypen), andererseits der Gestaltung der Wortgruppen dienen. Der Satz, eine der kompliziertesten sprachlichen Einheiten, kann nur unter Berücksichtigung einer Vielzahl der dieser Einheit zukommenden Merkmale in ihrer Verzahnung und ihrer wechselseitigen AbStützung verstanden und charakterisiert werden. Die Hauptfunktion der prädikativen Beziehung besteht bei alledem dennoch im Erzeugen, in der Grundlegung echter Sätze. Aus dieser Funktion er-
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gibt sich eigentlich die prädikative Beziehung, und diese ihre Bedeutung ist die wesentlichste im Sprachsystem. Im Komplex von Strukturen mit prädikativer Beziehung nimmt die Satzstruktur die dominierende Stellung ein. Hier ist kein Platz für irgendwelche „Gleichsetzung" und ein monotones Nebeneinander, die hierarchische Zu- und Übereinanderordnung ist augenscheinlich, und an der Spitze der gesamten Hierarchie steht unzweifelhaft der echte selbständige Satz als unabhängige kommunikative Einheit. Deshalb muß als qualitatives Hauptmerkmal der prädikativen Beziehung ihre Fähigkeit anerkannt werden, die Bildung des Satzes als solchen in die Wege zu leiten. Teile des Satzgefüges, den Hauptsatz und den Nebensatz, ferner die abhängigen Wortfügungen, die auf der prädikativen Beziehung aufbauen, können wir nur ausgehend von der Struktur des selbständigen Satzes sinnvoll analysieren, nicht aber umgekehrt; die unselbständigen Sätze sind den „absoluten" Wortfügungen, diese sind ihrerseits jenen analog. Darum ist die Aufgabe, das Wesen der prädikativen Beziehung aufzudecken, mit der Aufgabe, das Wesentlichste an der spezifischen Beschaffenheit des Satzes zu begreifen, identisch.13
IV Die Beziehung zwischen dem Satzsubjekt und dem Satzprädikat im zweigliedrigen Satz galt uns als ein Sonderfall der prädikativen Beziehung im allgemeinen. Nun müssen wir uns den Formen zuwenden, in denen die prädikative Beziehung im Rahmen der eingliedrigen Sätze in Erscheinung tritt. Dabei stellt sich als erste die Frage, ob die prädikative Beziehung in solchen Sätzen überhaupt vorliegt. In diesen Sätzen sind ja nicht die beiden Hauptglieder vorhanden, die aufeinander bezogen sein könnten. Aber auch in diesem Fall darf man die wechselseitigen Korrelationen und die hierarchischen Zusammenhänge der dem gemeinsamen Grundtyp angehörenden Phänomene nicht vergessen. Bekanntlich werden die eingliedrigen Sätze nach dem Vorbild und auf der Grundlage der zweigliedrigen Sätze gebildet. Der Systemcharakter der Sprache wirkt sich unter anderem in der Weise aus, daß die verschiedenen logisch-grammatischen Satztypen in der konkreten Einzelsprache nicht voneinander isoliert dastehen. Am häufigsten sind die Formen, die in den zweigliedrigen Satztypen die Rollen der Hauptglieder spielen, auch in den eingliedrigen vertreten. In erster Linie trifft dies (zum Beispiel im Russischen und im Lateinischen) auf das Verb zu. Die aus dem 13
Eine mechanische Trennung unterschiedlicher struktureller Satztypen erlaubte es Steblin-Kamenskij, die Prädikativität als eine „Eigenschaft des Satzprädikats" zu bestimmen und zu behaupten, wo es kein formal-grammatisches Satzprädikat gebe, gebe es auch kene prädikative Beziehung (C T e 6 j i H H - K a M e H C K H i i , M.M.: Ο npeAHKaTHBHOCTH. In: BCCTHMK JleHHHrpaacKoro ymieepcHTeTa. Cepw« ncropnn, ü3biKa Η jiHTepaTypbi. BbinycK 20, 1956, Λ® 4). In seinem Artikel wird kein Versuch gemacht, dieser „Eigenschaft des Satzprädikats" auf den Grund zu gehen. Bezeichnenderweise wird die Prädikativität am Ende des Artikels (S. 135f.) schon als Beziehung behandelt, daraus werden aber keine Rückschlüsse auf den Inhalt der Prädikativität als einer Eigenschaft gezogen.
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zweigliedrigen in den eingliedrigen Satz übernommene Komponente behält im letzteren ihre „angeborenen" syntaktischen Eigenschaften - wenigstens potentiell. So wird die für das finite Verb typische Tendenz, sich an das Satzsubjekt zu knüpfen, sich auf das Satzsubjekt als seinen strukturellen Ausgangspunkt zu beziehen, die der eigentlichen Natur des finiten Verbs zugrunde liegt, auch durch die Verwendung des Verbs als des Kerngliedes des eingliedrigen Satzes nicht völlig aufgehoben. Das Verb reicht für die Abgeschlossenheit der Struktur des eingliedrigen Satzes aus, das schließt aber bei ihm den Nachklang jener syntaktischen Beziehungen nicht aus, die für das Verb im allgemeinen typisch sind. In einigen eingliedrigen verbalen Sätzen, zum Beispiel im Russischen, ist die semantische Beziehung des Verbs auf ein Subjekt als Erzeuger einer Handlung oder Träger eines Zustands deutlich erkennbar. So erfaßt diese semantische Beziehung in verbalen Aufforderungssätzen die Personen, denen die Aufforderungen gelten, sie sind in der Sprechsituation gegeben: Hdu! Mdume! ['Geh!', 'Geht!']. Schon die Form des finiten Verbs mit seinen Personalendungen suggeriert hier die Vorstellung eines Subjekts, einer Person, die die Handlung vollzieht (im Fall des Aufforderungssatzes zu vollziehen hat). Die verbale Form impliziert eine Projektion, die vom Begriff der Handlung als solcher zu irgendeinem Subjekt als Erzeuger der Handlung gerichtet ist. Dies bedeutet eine semantische Perspektive, die grammatisch nur angedeutet wird und die keinen lexikalischen Ausdruck findet, weil auch kein Bedürfnis danach besteht. Diese Projektion, die im eingliedrigen verbalen Satz vom Verb ausgeht und auf das Subjekt der Handlung gerichtet ist, stellt eine besondere Art Beziehung dar, die der prädikativen Beziehung im zweigliedrigen Satz analog ist. Diese Beziehung hat hier gleichsam „aufgehobenen" Charakter, sie ist eben als Projektion gegeben, aber sie läßt sich dennoch erkennen. Mehr noch, gerade in den verbalen eingliedrigen Sätzen bekommt diese Projektion eine Art formalen Ausdrucks, er beruht nämlich auf dem, was man die morphologische Zweigliedrigkeit solcher Sätze nennen kann, und zwar auf dem Vorhandensein verbaler Personalendungen. 14 Die syntaktische Beziehung wird in diesem Fall durch morphologische Mittel angezeigt, die auf etwas außerhalb des Satzes hinweisen, in die Sprechsituation bzw. in den Kontext hinübergreifen; diese bergen in sich das von der Verbform notwendigerweise implizierte Subjekt. Während die vom Verb in Aufforderungssätzen angezeigte Projektion zum Subjekt durch die Sprechsituation inhaltlich konkretisiert wird, erübrigt sich
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Die verbalen Personalendungen dienen der Kennzeichnung der Bindung des Verbs an das Satzsubjekt. Dies wurzelt im Wesen des Verbs als einer eigenen Wortart. Das Verb - so Potebnja - stellt „das Merkmal im Zuge seiner Entfaltung vom Satzsubjekt her" dar, und „zum Begriff des Verbs gehört unabdingbar die grammatische Beziehung zur Person, wie diese Person auch sei, eine bekannte oder unbekannte, eine wirkliche oder fiktive" ( Π ο τ ε δ Η Η , A.A.: M3 3anncoK no pyccKofl rpaMMaTHKe. I-II. 2-oe H3,aaHne. XapbKOB 1888. S. 84).
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die Situation für die Interpretation der unpersönlichen Sätze. Für die vollkommene Realisierung des Inhalts der Sätze wie Ceemaem ['Es tagt'] bedarf es keines Wissens der Sprechsituation bzw. des Kontextes. Aber auch hier ist eine inhaltliche Projektion, die über den im Satz ausgedrückten Vorgang hinausgreift, vorhanden. Allerdings ist diese Projektion im Fall des unpersönlichen Satzes des Typs, den unser Beispiel demonstriert, zum Subjekt einer außerordentlich allgemeinen Art gerichtet, zu einem höchst unbestimmten und kaum bestimmbaren Träger eines Zustandes oder Erzeuger eines Vorgangs, gleichsam zu einem ganzen Komplex von Naturerscheinungen und Bedingungen, die sich im betreffenden Zustand offenbaren. Die verbale Endung der dritten Person Sg. erfüllt die Funktion eines eigenartigen morphologischen Substituts des Subjekts-Begriffs, genauer: die Endung weist sogar formalgrammatisch auf das unausbleibliche Vorhandensein der Projektion zu einem Subjekt hin. 15 Dabei beteiligen sich die Sprechsituation bzw. der Kontext nicht an der inhaltlichen Identifizierung des Subjekts, und dies eben aus dem Grunde, daß dieses Subjekt ein „Gegenstand" von extrem generellem und unbestimmtem Charakter ist (eine irgendwie geartete Gesamtheit von Naturphänomenen, alles, was einen umgibt u. ä.). Wir haben vorhin die im eingliedrigen verbalen Satz vorliegende Projektion als eine Erscheinung semantischer, inhaltlicher Ordnung charakterisiert. Aber dieses semantische Moment ist hier unmittelbar mit einem formal-grammatischen Moment verbunden. Die inhaltliche Projektion wird im gegebenen Fall dadurch hergestellt, daß die Verbform an sich, vom Standpunkt ihrer gesetzmäßigen, sich mit Notwendigkeit einstellenden Beziehungen aus auf das Satzsubjekt ausgerichtet ist - ebenso wie das Satzsubjekt auf das (verbale oder nominale) Prädikat. Unterstützt auch in eingliedrigen Sätzen durch die Personalendung, bekundet sich die gesetzmäßige Orientiertheit des finiten Verbs auf das Satzsubjekt eben in einer semantischen Projektion, deren „Zielgegenstand" entweder anhand der Sprechsituation bzw. des Kontextes als eine konkrete Größe bestimmt oder infolge des extrem allgemeinen Charakters des im Satz ausgedrückten Gedankens überhaupt nicht konkret bestimmt werden kann. Die Projektion, von der hier die Rede ist, hängt ungeachtet ihres - vordergründig - semantischen Charakters aufs engste mit der grammatischen Beschaffenheit eingliedriger verbaler Sätze zusammen, sie hat darin ihren Grund, nicht in zufälligen hinsichtlich des grammatischen Merkmalskomplexes äußeren inhaltlichen Ursachen. Wie jede Projektion fuhrt diese Projektion von einem Etwas zu einem anderen Etwas, stellt also eine Beziehung dar, und wir haben schon erwähnt, daß diese Beziehung der klassischen Beziehung des Satzsubjektes zum Satzprädikat und somit der ganz allgemein gefaßten prädikativen Beziehung analog ist. Wie aus den Schriften von Potebnja hervorgeht, ist man schon längst darauf aufmerksam geworden, daß das Verb notwendigerweise eine Beziehung zur handelnden Person - und das heißt die prädikative Beziehung - impli15
Admoni bezieht diese Bemerkungen auf die russischen Sätze des Typs Ceemaem; im deutschen unpersönlichen Satz stellt in erster Linie das Element es den Bezug auf die „äußere Erscheinungswelt" in ihrer Allgemeinheit her. - Hgg.
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ziert. Aber diese formal-syntaktische Gesetzmäßigkeit wurde leider in nur ausgesprochen unzureichendem Maße zur Erklärung syntaktischer Sachverhalte herangezogen. Für die Projektion der prädikativen Beziehung in eingliedrigen verbalen Sätzen sind also die syntaktischen Eigenschaften des Verbs verantwortlich. Die Prädikativität als Beziehung gründet sich auf die Potenzen, die in einer bestimmten morphologischen Form beschlossen sind, auf die spezifische „Kraft", die der Wortklasse Verb eigen ist. Diese „Kraft" tritt im eingliedrigen verbalen Satz dardurch in Erscheinung, daß sie eine besondere Art prädikativer Beziehung herstellt. Zurückzufuhren ist sie auf die Hauptfunktion des finiten Verbs als einer der Komponenten der Satzsubjekt-Satzprädikat-Relation im zweigliedrigen Satz. Gerade weil diese Beziehung so fest mit der morphologischen Kategorie „Verb" verbunden ist, überträgt das Verb die Prädikativität auch in eine Konstruktionsart, in der die andere Komponente der Satzsubjekt-Satzprädikat-Relation fehlt. Natürlich reichen die potentielle Prädikativität des Verbs und die auf dieser Basis entstehende Projektion der prädikativen Beziehung nur unter bestimmten Bedingungen formaler und semantischer Ordnung zur Bildung eines abgeschlossenen und funktional selbständigen Satzes aus, aber bei den entsprechenden Voraussetzungen verfugt das Verb über diese Fähigkeit. Die Prädikativität als Beziehung und die Prädikativität als „Kraft" stehen in Wechselwirkung miteinander, bedingen sich gegenseitig. In diesem Sinne muß man sowohl die Auffassung, nach der die Prädikativität die Eigenschaft einer morphologischen Kategorie darstellt, wie auch die Auffassung der Prädikativität als Beziehung zwischen bestimmten Komponenten gelten lassen. Die Zusammengehörigkeit dieser Momente kann man wiederum am Beispiel des Russischen demonstrieren, und zwar am Beispiel verbloser eingliedriger Sätze. In einigen Typen eingliedriger Sätze mit der Bedeutung des Zustandes wird eine besondere Form der Wörter verwendet, die die Kategorie des Zustandes bilden. Die Wortformen der Kategorie des Zustandes besitzen die prädikative „Kraft". Diese „Kraft" wirkt sich darin aus, daß auch die Wörter, die zur Kategorie des Zustandes gehören, die Projektion der prädikativen Beziehung herstellen, die sich einerseits auf die morphologische Form dieser Wörter (sie fallt hauptsächlich mit der nominalen Adjektivform des Nom. Sg. Neutr. auf -o zusammen), andererseits auf die Semantik der betreffenden Wörter gründet. Sie bezeichnen gemeinhin Merkmale, die ein überaus umfassendes und unbestimmtes Subjekt charakterisieren, vgl. Ceenuio. Teruio. Mop03H0.16 Als Träger des Zustandes kann auch ein konkretes Subjekt, nämlich eine Person, auftreten, und dann wird das Subjekt durch einen obliquen Kasus
16
Den angeführten Sätzen entsprechen im Deutschen die - formal zweigliedrigen unpersönlichen Sätze Es ist hell; Es ist warm; Es ist frostig. Die Besonderheit des Russischen besteht nicht nur darin, daß die meisten Wörter der Kategorie des Zustandes eine eigene Form, die Form auf -o, haben, sondern auch im Fehlen des Satzsubjektes und darin, daß die verbale Komponente des Prädikats - das Verb öbirrib ['sein'] - im Präsens nicht gebraucht wird (vgl. zum Beispiel die Vergangenheitsform Bbijio ceenuio ['Es war hell']). - Hgg.
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bezeichnet. Dieser geht eine besondere Beziehung zur Kategorie des Zustandes ein, denn die beiden „streben" gegenseitig aufeinander „zu". Vgl. Mne memo ['Mir ist warm']. Die Projektion der prädikativen Beziehung, die im unpersönlichen Satz von der Kategorie des Zustandes (und vom unpersönlichen Verb) ausgeht, wird hier zu einer lexikalisch explizite ausgedrückten Beziehung, die der Satzsubjekt-Satzprädikat-Beziehung analog ist. Die in solchen Konstruktionen entstehende lexikalisch bezeichnete prädikative Beziehung unterscheidet sich natürlich ihrem Inhalt und ihrer Ausrichtung nach von der prädikativen Beziehung, die in echten unpersönlichen Sätzen zum Ausdruck kommt. In Sätzen des Typs Ceemaem. Tewio ['Es tagt', 'Es ist warm'] wird die prädikative Beziehung vom Vorgang oder Zustand in Richtung auf den Träger des Merkmals projiziert, der die keiner weiteren Bestimmung unterliegende Quelle, den „Initiator", gewissermaßen den Erzeuger dieses Merkmals darstellt. Der Form nach reproduziert die prädikative Beziehung in den unpersönlichen Sätzen dieser Art die Beziehung des Satzprädikats zum Subjektsnominativ, und die verallgemeinerte grammatische Bedeutung des Satzsubjektes besteht gerade darin, daß von ihm der durch das Satzprädikat ausgedrückte Vorgang ausgeht. Indessen bezeichnet der oblique Kasus in den unpersönlichen Sätzen einen sozusagen nur „teilweisen" Träger des Zustandes, ein Subjekt, das als eine passive Größe dargestellt wird: Dieses Subjekt „erzeugt" nicht seinen Zustand, vielmehr der Zustand „bemächtigt sich" seiner. Die Bedeutung eben des Objektes, die den obliquen Kasus im allgemeinen eigen ist, bleibt auch hier aktuell. Die Widersprüchlichkeit, die der Struktur der vorhin analysierten unpersönlichen Sätze mit dem obliquen Kasus eigen ist, besteht vor allem darin, daß das Objekt hier als Ausgangspunkt der Aussage auftritt und im nachfolgenden Glied der Aussage, im Verb bzw. der Kategorie des Zustandes, seine Bestimmung findet, dabei aber als Objekt ein vom Verb oder vom Wort der Kategorie des Zustandes abhängiges Nebenglied des Satzes bleibt. Daher die komplizierte Verflechtung zweier in solchen Sätzen vorliegender Erscheinungsweisen der prädikativen Beziehung, der Projektion der prädikativen Beziehung, die dem unpersönlichen Satz im allgemeinen eigen ist und der Beziehung des Satzprädikats zum Subjektsnominativ gleicht, und der Beziehung, die vom obliquen Kasus zum Verb (bzw. zum Wort der Kategorie des Zustandes) fuhrt. Diese weist nicht die Aktivität der ersten Komponente auf, die für Sätze mit dem Subjektsnominativ typisch ist, bekommt aber den gleichen zweiteiligen lexikalischen Ausdruck, wie es in den Sätzen der Fall ist, denen eine vollkommen ausgeprägte prädikative Beziehung zugrunde liegt. Die erste der zwei Hauptarten der Prädikativität, nämlich die reine Projektion der prädikativen Beziehung, spielt im Russischen bei der Gestaltung unterschiedlicher Typen des unpersönlichen Satzes die fuhrende Rolle. Dies bezeugen der Umstand, daß der Gebrauch eines „subjektiven" obliquen Kasus in einigen Typen unpersönlicher Sätze völlig ausgeschlossen ist (CMepmemCH ['Es dämmert']) sowie der häufig nur fakultative Charakter eines solchen Kasus bzw. seine offensichtliche Abhängigkeit, seine lediglich „erläuternde" Funktion, vgl. Tenno - Tenno MHe - Mne memo
['Es ist warm' - ' W a r m ist
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mir' - 'Mir ist warm' 1 7 ]. In anderen Typen unpersönlicher Sätze ist der oblique Kasus allerdings verbindlich. So ist er verbindlich in unpersönlichen Sätzen mit der Bedeutung des Mangels oder des Vorhandenseins in genügender Menge (Paöomu xeamum ['Der Arbeit ist genug']), auch in Sätzen, die den psychischen oder physischen Zustand eines Lebewesens wiedergeben; freilich gestattet es mitunter der Kontext, ohne obliquen Kasus auszukommen (vgl. Mue öojibHO - EojibHO [ ' M i r t u t e s w e h ' - ' E s t u t w e h ' ] ) . 1 8
Im Fall der Verbindlichkeit des obliquen Kasus rückt die Beziehung zwischen ihm und dem Verb (bzw. dem Wort der Kategorie des Zustandes) in den Vordergrund, wodurch die Projektion der prädikativen Beziehung in hohem Maße desaktualisiert wird. Dies wird dadurch bestätigt, daß Sätze mit partitiver Bedeutung auf analoge Weise konstruiert werden können, Sätze, in denen die zweite Komponente traditionell festgelegte Formen aufweist, die an sich für die Funktion des Prädikats ungeeignet sind und somit keine prädikative Projektion zum (Quasi-)Satzsubjekt herstellen können. Vgl. Mx deoe. Hac ΜΗοεο ['Ihrer sind zwei'. 'Unserer sind viele']. Der Genitiv, der ursprünglich vom quantitativen Wort abhing, steht in den Konstruktionen dieser Art in der Ausgangsposition, und das quantitative Wort erfüllt die Aufgabe seiner Bestimmung. Die gegenseitige Gerichtetheit der hier entstehenden Beziehung, die die strukturelle Basis des Satzes darstellt, ist deutlich gekennzeichnet, und diese bringt die betreffende Verbindung in auffälliger Weise in die Nähe der echten prädikativen Beziehung. Dies kann im Hinblick auf die Terminologie Grund dazu geben, die Verbindung des Genitivs mit dem quantitativen Wort entweder als einen Sonderfall der Satzsubjekt-Satzprädikat-Beziehung zu bezeichnen, da die beiden Komponenten der Beziehung lexikalischen Ausdruck bekommen, oder als einen eigentümlichen Sonderfall der allgemeinen prädikativen Beziehung, da die Satzsubjekt-Satzprädikat-Beziehung doch an spezifische Formen gebunden ist, jedenfalls das Vorhandensein eines Subjektsnominativs voraussetzt. Einen eigenen Platz nehmen unter den eingliedrigen Sätzen die Nominativsätze, darunter die Existenzialsätze, ein. Auch dieser Satztyp beinhaltet die prädikative Beziehung. Indem der Nominativ als Existenzialsatz (bzw. das einzige Kernglied des Existenzialsatzes) einen Gegenstand nennt, behauptet er seine Existenz, genauer gesagt, der Nominativ bezeichnet diesen Gegenstand als etwas dem Sprecher unter bestimmten Umständen und in bestimmten Zusammenhängen Gegenwärtiges, und gerade der Begriff der Existenz bzw. des Vorhandenseins bildet den Inhalt der prädikativen Beziehung, die 17
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Die vorangehende Fußnote enthält Hinweise auf den grammatischen Unterschied zwischen dem Russischen und dem Deutschen hinsichtlich der unpersönlichen Sätze des hier belegten Typs. Die Diskrepanz zwischen der russischen und der deutschen Form des zweiten der angeführten Sätze wird dadurch verschärft, daß der Dativ im deutschen Satz bei emphatischem Hervorheben des „Zustandswortes" warm durch seine Spitzenstellung obligatorisch ist, wogegen das russische MM freilich zusammen mit der Emphase - entfallen kann (vgl. den ersten Satz). - Hgg. Reiches Material zur Frage nach dem obligatorischen Charakter des obliquen Kasus in unpersönlichen Sätzen enthält das Werk: TpaMMaTHKa pyccKoro »3biKa. Bd. II, Τ. II. MocKBa 1954. S. 12.
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vom Nominativ ausgeht. Und die Möglichkeit, es bei der Projektion als solcher bewenden zu lassen, ohne sie lexikalisch-grammatisch vollständig zu realisieren, rührt daher, daß der Begriff des Seins, auf den die prädikative Beziehung ausgerichtet ist, einen extrem, maximal allgemeinen Sinn hat. Die wichtigste syntaktische Funktion des Nominativs ist die Funktion des Satzsubjektes, und dieser Umstand erklärt, warum sich eben der Nominativ als die typologisch stabile morphologische Form erweist, von der unabhängig von der Sprechsituation bzw. vom Kontext die prädikative Projektion ausgeht. Während die Projektion der prädikativen Beziehung in unpersönlichen Sätzen mit dem Verb oder der Kategorie des Zustandes als Kernglied nach Analogie mit der Struktur der Satzsubjekt-Satzprädikat-Beziehung von der zweiten Komponente gleichsam rückwärts gerichtet ist, verläuft die Richtung der Projektion der prädikativen Beziehung in den Nominativsätzen von der ersten Komponente zur zweiten. Aber das Prinzip der Projektion der prädikativen Beziehung selbst, die auf einer bestimmten morphologisehen Klasse von Wortformen basiert, mit denen die Zugehörigkeit zur Satzsubjekt-Satzprädikat-Verbindung (und somit zur prädikativen Beziehung im allgemeinen) fest assoziiert ist, bleibt in beiden Fällen in Kraft. Die Existenzialsätze stellen nicht vereinzelt vorkommende, isolierte Aussagen dar. Sie werden immer in eine Reihe von Sätzen, in einen monologartigen Redestrom einbezogen. Dies ergibt sich aber nicht aus irgendwelchen besonderen strukturellen oder funktionalen Eigenschaften der Existenzialsätze. Bezeichnenderweise sind sogar vollkommen ausgeformte Redeabschnitte möglich, die nur aus solchen Sätzen bestehen; das zeigt zum Beispiel das berühmte Gedicht von Fet: Illenom. PoÖKoe dbixanbe. ... (usw.) ['Flüstern. Zaghafter Atem. ...']. Für die notwendige Eingliederung der Existenzialsätze in einen breit entfalteten Redestrom sind lediglich semantische Gründe verantwortlich, die freilich mit der verallgemeinerten grammatischen Bedeutung dieses Satztyps verbunden sind. Der Ausdruck nur der vom Sprecher unmittelbar wahrgenommenen Existenz des einen oder anderen Phänomens ist für den Hörer an sich noch wenig informativ, bleibt sozusagen in der Luft hängen. Der Sinngehalt einer solchen Aussage kann erst dann klar werden, wenn zusätzliche Mitteilungen hinzukommen. Das macht die Kommunikation wirklich gehaltvoll und für den Hörer eventuell von Bedeutung. Die Projektion der prädikativen Beziehung ist auch in den Nennsätzen enthalten, deren Abgeschlossenheit aufs engste mit der Sprechsituation zusamm e n h ä n g t . Sätze d e s T y p s Κακαπ HOHb! flpexpacHOM
napmunal
3aMevamejib-
HOI ['Welche Nacht!' 'Ein schönes Bild!' 'Wunderbar!'] geben mannigfaltige Beziehungen zwischen dem Inhalt lexikalisch bezeichneter Komponenten der Aussage und Elementen der Sprechsituation wieder. Auf die Frage nach den Korrelationen zwischen den Formen lexikalisch im Nennsatz vertretener Glieder und den Bestandteilen zweigliedriger Sätze werden wir hier nicht eingehen. Bezeichnenderweise sind jedenfalls alle Klassen von Wortformen, die in den Nennsätzen verwendet werden (außer einigen Formen, die in Buchtiteln, Namen von Bildern u. ä. anzutreffen sind, wenn man diese zu den Nennsätzen rechnet) in den Funktionen der Hauptglieder zweigliedriger Sätze gebräuchlich (der Nominativ sogar in zwei verschiedenen Funktionen, näm-
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lieh als Satzsubjekt und als Prädikatsnomen). Somit verfügen sie über die prädikative „Kraft", d. h. sie sind potentielle Träger der prädikativen Beziehung. Unter den Bedingungen der Sprechsituation - und mit Unterstützung von Seiten der Intonation - wird diese potentielle Prädikativität zur prädikativen Beziehung, die auf die kommunikative Situation ausgerichtet ist. In vielen Nennsätzen, besonders in emotiven Bewertungssätzen, läßt sich außerdem eine gewisse Art Zweigliedrigkeit des lexikalischen Ausdrucks erkennen. Der Nominativ wird häufig von einem Adjektiv (oder einem Pronomen) begleitet, das eine Charakteristik und eine Bewertung des durch den Nominativ ausgedrückten Begriffs enthält, vgl. 3aMeuamejibHaH καρηηιπα! KaκαΆ HOHbl ['Ein wunderbares Gemälde!' 'Welche Nacht!']. Aber es wäre kaum richtig, in solchen Fällen von der prädikativen Beziehung zwischen den Gliedern des Nennsatzes, d. h. zwischen dem Attribut und dem Substantiv im Nominativ, zu sprechen. Unserer Meinung nach bilden diese Komponenten des Satzes eine Einheit, die nur als Ganzes auf einen in der Situation vorhandenen Gegenstand bezogen wird. Den zweigliedrigen Satztyp, auf dem diese Art der Nennsätze basiert, stellen am ehesten die Sätze dar, die die Beziehung des Einzelnen zum Allgemeinen ausdrücken und zu deren Struktur das Prädikativ in Form eines Substantivs im Nominativ gehört, das immerhin von einem Attribut ständig begleitet wird, welches im Hinblick auf den semantischen Gehalt des Nennsatzes die Hauptrolle spielt. Dies hängt damit zusammen, daß das Kernglied des nominativischen Bewertungssatzes das Substantiv in direkter oder indirekter Weise wiederaufnimmt, das im „parallelen" zweigliedrigen Satz als Satzsubjekt auftreten würde (3ma Kapmuna - 3aMeHamejibHax καρηηιπα; 3mo - jawenameßbHM KapmuHa ['Dieses Gemälde ist ein wunderbares Gemälde'; 'Das ist ein wunderbares Gemälde']; als Kernglied des nominativischen Bewertungssatzes kann auch ein Substantiv mit ausgesprochen allgemeiner Bedeutung auftreten, v g l . ß o ö p b i ü ΠΒ.ηοββκ! und OH - doöpbiü πβηοβεκ ['Ein gutherziger Mensch!' - 'Er ist ein gutherziger Mensch']. Auch im hier betrachteten Nennsatztyp liegt - unter dem inhaltlichen Aspekt - eine solche Wiederaufnahme vor, denn der Gegenstand, um den es im nominativischen Bewertungssatz geht, ist im faktischen Inhalt dieses Satzes zweimal vertreten, einmal als wirklicher Gegenstand in der Sprechsituation und ein zweites Mal im sprachlichen Ausdruck. Und die Projektion der prädikativen Beziehung verbindet in diesem Fall die genannten zwei Größen, eine außer- und eine innersprachliche. Also besteht hier eine Verbindung zwischen sprachlicher Form und außersprachlichen Gegebenheiten. Übrigens ist ein solches Hinausgreifen ins Außersprachliche für den Großteil der eingliedrigen Sätze typisch, daraus ergibt sich im Grunde genommen die Umwandlung der prädikativen Beziehung in deren Projektion. All dies bedeutet aber nicht, daß wir die Sprache, insbesondere den grammatischen Bereich, überhaupt verlassen haben und zu rein semantischen und logischen Überlegungen übergegangen sind. Wenn wir von der Projektion der prädikativen Beziehung sprechen, die von dem Satz in die außersprachliche Situation gerichtet ist, kehren wir nicht zur alten Theorie der Ellipse, des „Hinzudenkens" u. ä. zurück. In den eingliedrigen Sätzen erfolgt kein lediglich „psychisches" oder „logisches" Hinausgreifen über die Grenzen
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der Sprachform, sondern ein grammatisch begründetes, mehr noch, ein grammatisch prädestiniertes, notwendiges Hinausgreifen über diese Grenzen, denn es wird durch wesentliche grammatische Eigenschaften lexikalisch vertretener Komponenten der betreffenden Konstruktionen bedingt. Die potentielle syntaktische Gerichtetheit der im Satz vorhandenen Formen, die durch äußere Bedingungen des Kommunikationsaktes aktiviert wird, gilt uns als ein formales, sprachliches Moment, das die gedankliche Einbeziehung zusätzlicher Elemente in den Inhalt, der durch die gegebene Konstruktion zum Ausdruck gebracht wird, erfordert, eben g r a m m a t i s c h erfordert. Das, worauf die Projektion der prädikativen Beziehung in den eingliedrigen Sätzen gerichtet ist, wird durch diese Sätze gleichsam mit ausgedrückt, weil die betreffende Perspektive, die von der grammatischen Ausformung des Satzes bedingt wird, unausbleiblich ist. Die Projektion der prädikativen Beziehung stellt sich auf den ersten Blick nur als ein rein inhaltliches, semantisches Phänomen dar, hat aber in Wirklichkeit einen grammatisch begründeten und durchaus notwendigen Charakter. Nun können wir aus dem Dargelegten Schlußfolgerungen ziehen, die vor allem die modernen indoeuropäischen Sprachen betreffen. Die Prädikativität ist ein grammatisches Phänomen, das der Satzbildung zugrunde liegt. Am offensichtlichsten und eindeutigsten wird die Prädikativität in Form der prädikativen Beziehung zwischen zwei lexikalisch separat vertretenen Satzkomponenten realisiert, die in vielen Sprachen auf den Ausdruck eben dieser Beziehung spezialisierte morphologische Formen aufweisen, diese aber in anderen Sprachen nicht besitzen - ein Umstand, der die Wortstellung und die Intonation als Ausdrucksmittel für die Abgeschlossenheit der auf der prädikativen Beziehung beruhenden Satz-Aussage in den Vordergrund rückt. Wenn besondere Formen der Komponenten der prädikativen Beziehung vorliegen, sind die Wortstellung und die Intonation auch von gewisser Bedeutung, spielen aber dann nur eine untergeordnete Rolle. Die prädikative Beziehung, die einen solchen Ausdruck bekommt, bezeichnen wir als Satzsubjekt-Satzprädikat-Beziehung. Dies ist eine besondere Beziehung, deren Spezifik im Gegensatz zu anderen syntaktischen Beziehungen im „Zueinanderstreben" beider „Partner" dieser Beziehung besteht, nicht nur des Satzprädikats zum Satzsubjekt, sondern auch des Satzsubjektes zum Satzprädikat. Die Prädikativität als Beziehung wird mit den auf diese Beziehung spezialisierten Wortformen assoziiert und wird zu einer besonderen Eigenschaft der betreffenden Formen, zu einer ihnen eigenen „prädikativen Kraft", die sich darin auswirkt, daß durch diese Formen - aus ihrer grammatischen Beschaffenheit heraus - jeweils die Perspektive der Bindung an eine andere, die zweite Komponente der prädikativen Beziehung hergestellt wird, an etwas, was in der entsprechenden Form an sich nicht ausgedrückt ist, wovon aber die Realisierung der prädikativen Beziehung abhängt. Unter günstigen situativen Bedingungen, unterstützt durch die Intonation und den spezifischen Inhalt der Mitteilung, verwandelt sich diese grammatisch an den besonderen Wortformen verankerte Perspektive der SatzsubjektSatzprädikat-Beziehung in eine prädikative Projektion, die typologisch ein-
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deutig einen lexikalisch bezeichneten mit einem lexikalisch nicht ausgedrückten Begriff verbindet; dieser stellt dabei kein konturloses Phantom dar, sondern er ist durch die formal angezeigte syntaktische Gerichtetheit der in der Konstruktion enthaltenen Form vorgezeichnet. Auf diese Weise sind die eingliedrigen Sätze organisiert. Die prädikative Beziehung verfügt in eingliedrigen Sätzen nur Uber eine Stütze, wogegen der zweigliedrige Satz zwei solche Stützen aufweist. Aber auch diese einzige Stütze, die im eingliedrigen Satz vorhanden ist, genügt, um das Schema der einen oder anderen Art prädikativer Beziehung zu reproduzieren, um eine Projektion der prädikativen Beziehung herzustellen, die Uber die Grenzen des Satzes hinausfuhrt und doch dem eingliedrigen Satz angehört. Die eingliedrigen Sätze, die auf morphologisch zweigliedrigen Wortformen (finite Verben, Wörter der Kategorie des Zustandes auf -o im Russischen) basieren, weisen eine eigenartige Projektion der prädikativen Beziehung auf. Das morphologische Formans, das einen grammatisch abgesicherten Hinweis auf ein Subjekt liefert, stützt die prädikative Beziehung ab, macht sie deutlicher wahrnehmbar und präzisiert „nach außen" ihre Ausrichtung. Selbstverständlich unterscheiden sich die Ausdrucksformen der prädikativen Beziehung in Sprachen verschiedenen grammatischen Baus wesentlich voneinander. Dies trifft sowohl für zweigliedrige als auch für eingliedrige Sätze zu. So besteht in den germanischen Sprachen die Tendenz dazu, es in den unpersönlichen Sätzen nicht bei der reinen Projektion der prädikativen Beziehung bewenden zu lassen, sondern für diese Sätze eine zweigliedrige Struktur mit formal ausgedrückter prädikativer Beziehung herzustellen. Dies stellt aber den funktionalen Wert der Projektion der prädikativen Beziehung nicht in Frage, sondern bestätigt vielmehr die wichtige Bedeutung dieses sprachlichen, grammatischen Phänomens, das allerdings für seine Realisierung unter anderen günstigen Bedingungen, die wir erörtert haben, auch einer gewissen Prädisposition des Gesamtbaus konkreter Sprachen bedarf. In Sprachen, in denen die unpersönlichen Sätze nicht eingliedrig sind, sind übrigens andere Arten eingliedriger Sätze, vor allem die Existenzialsätze, vorhanden.
V In der Grammatik macht sich - besonders in den letzten Jahrzehnten - die Tendenz bemerkbar, mit den Begriffen der Satzglieder verschiedene Grade der Prädikativität zu verbinden. So spricht man von stärker oder schwächer ausgeprägter Prädikativität des attributiven Partizips oder Adjektivs, von der Halbprädikativität u. ä. Terminologisch sind Hinweise auf das zweite Prädikat (bzw. das Prädikat zweiten Grades) damit vergleichbar. 19 Mit anderen Worten hat sich in der Grammatik die Vorstellung von der Prädikativität als einer besonderen syntaktischen „Kraft" eingebürgert.
19
Vgl. zum Beispiel den Abschnitt über die „Sätze mit zwei Prädikaten" in: III a x M 3 T 0 B , A.A.:Op. cit. S. 22Iff.
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Diese Einschätzung der betreffenden Satzglieder ist in hohem Maße berechtigt. Sie spiegelt die potentielle Fähigkeit bestimmter morphologischer Formen, als „Partner" an der Satzsubjekt-Satzprädikat-Beziehung aufzutreten. Doch scheint es uns angemessen, einer solchen „prädikativen" Charakteristik verschiedener morphologischer und syntaktischer Kategorien mit großer Vorsicht zu begegnen. Oben wurde gezeigt, daß die Prädikativität als eine komplizierte Synthese einer besonderen Art syntaktischer Beziehungen und einer eigentümlichen syntaktischen „Kraft" zu verstehen ist, die aber ihrerseits letztendlich auf der Prädikativität als Beziehung beruht. Die fuhrende Rolle in diesem synthetischen Phänomen spielt also unter allen Umständen das Moment des Beziehens. Darum ist die Prädikativität vom Standpunkt des konkreten Satzbaus aus nur da vorhanden, wo eine spezifische syntaktische Beziehung gegeben ist, die entweder die Form der Satzsubjekt-Satzprädikat-Fügung annimmmt oder als die entsprechende Projektion auftritt. Die Prädikativität liegt nur unter der Bedingung vor, wenn zwei Komponenten aufeinander bezogen sind, wobei diese einander „zustreben" bzw. gegenseitig „zugeschrieben" werden. Diese Auffassung verbietet es, die Prädikativität mit der Hervorhebung bzw. der (relativen) Selbständigkeit bzw. dem besonders großen semantischen Gewicht des einen oder anderen Satzgliedes zu identifizieren. Das Moment der Absonderung bringt man u. a. häufig in unmittelbare Nähe des Begriffs der Prädikativität, die Absonderung und die Prädikativität gehen aber in Wirklichkeit weit auseinander. Das abgesonderte Attribut hat vielfach (übrigens durchaus nicht immer) ein erhöhtes semantisches Gewicht und ist im Satz gewissermaßen selbständig, steht aber abseits von der dem Satz zugrunde liegenden prädikativen Beziehung. Obwohl das abgesonderte Attribut zum Beispiel im Satz y eopom ezo cmoxjia KuöumKa, 3αηρΗ3κβΗΗαΗ mpoitKOÜ mamapcKux nouiadeü ['An seinem Tor stand ein überdachter Wagen, vorgespannt mit einer Troika tatarischer Pferde'] das Satzsubjekt bestimmt und sogar als eine „zusätzliche Mitteilung" 20 verstanden werden kann, ist es von der prädikativen Beziehung in diesem Satz isoliert, und seine Bindung an das Satzsubjekt hat einseitigen Charakter, denn das Attribut ist auf das Bezugssubstantiv ausgerichtet, dieses aber bedarf des Attributs in grammatischer Hinsicht nicht, „strebt" dem Attribut nicht „zu". Das Gleiche gilt von der Beziehung zwischen dem Satzsubjekt und dem prädikativen Attribut - mit Ausnahme der Fälle, in denen das Prädikat des Satzes durch ein Verb mit unvollwertigem Prädikationsvermögen ausgedrückt ist (in den Konstruktionen der letztgenannten Art wird das prädikative Attribut teilweise in den Bestand des Satzprädikats einbezogen und ist also an der satzbildenden prädikativen Beziehung beteiligt). Der vorhin angeführte Beleg zeigt auch, daß innerhalb solcher abgesonderten Attribute selbst im Fall ihrer Mehrgliedrigkeit das Moment der prädikativen Beziehung fehlt und die Wortfügung interne Beziehungen syntaktischer Abhängigkeit aufweist, wie sie für Partizipial- bzw. für Verbgruppen im allgemeinen typisch sind (in anderen Fällen können es für die Adjektiv- oder die 20
Vgl. TpaMMaTHKa pyccKoro H3biKa. Bd. II, Τ. I. MocKea 1954. S. 644.
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Substantivgruppe typische interne Beziehungen sein). Dadurch unterscheiden sich die abgesonderten attributiven Gruppen von den „absoluten" Konstruktionen, die einerseits abgesondert werden, andererseits aber solche Komponenten enthalten, die durch eine prädikative Beziehung miteinander verbunden sind. Einen komplizierteren Fall stellen einige Infinitivkonstruktionen dar. In Sätzen des Typs fl eenen eMy npuümu ['Ich ließ ihn kommen' 2 1 ] bekommt das Dativobjekt seine inhaltliche Bestimmtheit durch den Infinitiv, hat ohne den Infinitiv grammatisch und inhaltlich keine Daseinsberechtigung, und dies bedeutet, daß das Objekt dem Infinitiv „zustrebt". Aber ungefähr das Gleiche kann man vom Infinitiv behaupten. All das bringt die Verbindung des Dativobjektes mit dem Infinitiv der prädikativen Beziehung nahe. Man darf aber nicht vergessen, daß die beiden Elemente, die hier für die Beteiligung an der prädikativen Beziehung in Frage kommen, untergeordnete Satzglieder darstellen, die unmittelbar - bzw. parallel - vom Prädikatsverb abhängen. Auch die Bindung dieser Elemente aneinander verleiht ihnen nicht die geringste strukturelle und funktionale Unabhängigkeit. Dies alles veranlaßt dazu, solche Verbindungen nur als entfernte Analogien des Ausdrucks der prädikativen Beziehung zu betrachten, wogegen man die „absoluten" Partizipialkonstruktionen, in denen die erste Komponente trotz ihrer obliquen Kasusform vom Hauptteil des Satzes unabhängig ist (und die immer abgesondert sind), mit weitaus größerem Recht als einen zwar eigentümlichen, aber echten Ausdruck der prädikativen Beziehung ansehen kann.
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Im Russischen Satz steht die Ergänzung eMy (entsprechend der Rektion des Verbs eejiemb) im Dativ. - Hgg.
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Die Abgeschlossenheit der Satzgestalt als formalsyntaktisches Phänomen Zu den wesentlichen Eigenschaften syntaktischer Konstruktionen gehört ihre Abgeschlossenheit bzw. Nichtabgeschlossenheit. Die Abgeschlossenheit syntaktischer Konstruktionen steht in enger Beziehung zu grammatischen Fügungspotenzen von Wortklassen und Wortformen. In ganz allgemeinem Sinne ist unter grammatischer Fügungspotenz die Fähigkeit bestimmter Wortklassen bzw. Klassen von Wortformen zu syntaktischer Verbindung mit anderen Wortklassen bzw. Klassen von Wortformen zu verstehen. 1 Die Fügungspotenzen unterschiedlicher Formen sind keineswegs homogen. Sogar eine und dieselbe Form kann einerseits rein fakultative, andererseits aber auch strikt obligatorische Fügungspotenzen aufweisen. Dieser Unterschied ist für die Grammatik von höchster Bedeutung. Zum Beispiel demonstriert der Satz OKHCI ÖOMÜ ftpκΟ 6necmem ΠΑ cojiHife ['Die Fenster des Hauses glänzten grell in der Sonne'] die fakultative Verknüpfung des Substantivs OKHÜ ['Fenster'] mit dem Genitivattribut ÖOMÜ ['des Hauses'], wogegen die zum substantivischen Kernglied der Wortgruppe gerichtete Fügungspotenz des attributiven Genitivs obligatorischen Charakter hat. Der Satz Οκπα ηρκο öjiecmenu HÜ cojimje ist möglich und durchaus korrekt, nur ist er im Vergleich mit dem Ausgangssatz um ein Element des Inhalts ärmer. Die Fügungspotenz kann also f a k u l t a t i v oder o b l i g a t o r i s c h sein, wobei eine und dieselbe Form meist mehr als eine Fügungspotenz besitzt. Übrigens muß unter den Fügungspotenzen jeder Wortform mindestens eine obligatorisch sein (bzw. unter bestimmten Bedingungen obligatorisch werden), sonst könnte man sie nicht in Beziehung zu anderen Wörtern setzen und somit in den Satz einfügen. Beispielsweise kann der Genitiv des Substantivs im Russischen in verschiedenen Wortgruppen gebraucht werden, er kann im Satz als Bestandteil einer Verb- oder einer Substantivgruppe auftreten, er kann mit Adjektiven und mit Numeralien verknüpft werden, aber eine dieser Verbindungen muß der Genitiv unbedingt eingehen, wenn er in den Redevorgang einbezogen wird. Sonderfalle stellen einige Formen dar, wenn sie selbständige eingliedrige Säze bilden. Doch auch in diesen Fällen lassen sich nicht selten Spuren obligatorischer Fügungspotenzen erkennen (s. weiter unten). Hinweise auf obligatorische Fügungspotenzen finden sich in der Fachliteratur seit langem. 2 Eine besonders wichtige Bedeutung kommt Beobachtun-
1
Im weiteren wird der Einfachheit halber anstelle des Ausdrucks „Wortklassen und/oder Klassen von Wortformen" nach Möglichkeit der Terminus „Form(en)" verwendet.
2
V g l . ζ. B. n e u i K O B C K H i i ,
A . M . : P y c c K H H CHHTaKCHC β H a y H H O M
ocBemeHHH.
7-oe H3ßaHHe. M o o c e a 1956. S. 396; B H H o r p a a o B , B.B.: Bonpocbi H3yMeHH»
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der
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gen über die Verben zu, die sich beim prädikativen Gebrauch als semantisch „unzulänglich" erweisen (die kopulativen Verben, Verben der „unvollständigen Prädikation"). Dem Begriff des transitiven Verbs lag ebenfalls von Anfang an die Vorstellung zugrunde, daß dies eine Klasse von Verben ist, die sich unbedingt mit einer Ergänzung in einer bestimmten Form verbinden müssen. Im Grunde genommen basiert auf der obligatorischen Fügungspotenz der Begriff der „starken Rektion". Der verbindliche Gebrauch eines obliquen Kasus bei einem Wort wird somit von den Fällen abgegrenzt, wo der oblique Kasus bloß möglich ist. Man muß die obligatorische Fügungspotenz als grammatische Gesetzmäßigkeit von zahlreichen Fällen lexikalisch bedingter obligatorischer Fügungspotenz unterscheiden. So muß sich zum Beispiel das russische Substantiv pud ['Reihe'] in seiner unbestimmt-quantitativen Bedeutung auf ein anderes, „dinglicheres" Wort stützen, damit der Satz sinnvoll wird. Man kann nicht sagen OH noecmpencmcH c pndoM ['Er traf eine Reihe']; man muß sagen OH noecmpenancH c pndoM npue3oicux ['Er traf eine Reihe von Angereisten (Angereister)']. Und dies nicht aus dem Grunde, daß das Wort pud ein Substantiv ist oder daß es im Satz in einem obliquen Kasus steht u. ä., sondern lediglich weil dieses Wort eine spezifische lexikalische Bedeutung hat. Wenn wir in unserem Beispielsatz das Wort pad durch ein Substantiv mit konkret-gegenständlicher Bedeutung ersetzen, bekommen wir einen inhaltlich vollwertigen Satz, vgl. OH noecmpeuancH c npue3otcuMU ['Er traf die Angereisten']. 3 Als grammatisches Phänomen gilt die obligatorische Fügungspotenz hingegen nur dann, wenn die Notwendigkeit, ein Wort durch ein anderes zu ergänzen, durch die grammatischen Eigenschaften des gegebenen Wortes, durch seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Wortklasse bzw. durch seinen Gebrauch in einer bestimmten Form bedingt ist. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß sich von den unterschiedlichen Fügungsmöglichkeiten des gleichen Wortes ein Teil als obligatorisch, ein anderer aber als nicht obligatorisch erweisen kann. So verlangen beispielsweise die „echt transitiven" Verben nach der Verbindung mit dem Satzsubjekt einerseits und dem drekten Objekt andererseits; der Verbindung dieser Verben mit adverbialen Bestimmungen, mit indirekten Objekten, mit prädikativen Attributen liegen dagegen fakultative Fügungspotenzen zugrunde. Die Hauptund die Nebenglieder des Satzes verhalten sich zueinander, was ihre Fügungspotenzen anbetrifft, überhaupt nicht als gleichberechtigte Partner. Alle Nebenglieder des Satzes haben zumindest eine obligatorische - sie jeweils in eine übergeordnete Wortgruppe eingliedernde - Fügungspotenz (die sie bald an verschiedene, bald an ein einzig mögliches anderes Satzglied anknüpft),
cjiOBOcoHeTaHHa (Ha MaTepHane pyccKoro «3biKa). In: Bonpocu s3biK03naHH5i. 3
1954, Ν« 3. Die grammatischen und die lexikalischen Fügungspotenzen sind natürlich durch Übergänge miteinander verbunden. Vgl. die Bemerkungen PeSkowskijs über die allgemeineren und konkreteren Wortgruppenformen ( r i e u i K O B C K H f i , A.M.: Op. cit. S. 78).
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wogegen die Formen, die als Hauptglieder des Satzes auftreten, nur potentiell Verbindungen mit Nebengliedern eingehen. Es gibt indessen eine Art gegenseitig obligatorischer Fügungspotenz. In der Satzsubjekt-Prädikat-Beziehung wird nicht nur das Prädikat (das beispielsweise durch ein semantisch vollwertiges Verb ausgedrückt ist) zum Satzsubjekt hingezogen, sondern gleichfalls das Satzsubjekt zum Prädikat. Die Hauptglieder des Satzes verknüpfen sich miteinander auf der Grundlage gegenseitiger obligatorischer Fügungspotenzen, und gerade darin besteht wohl der entscheidende Unterschied zwischen der prädikativen und allen anderen Arten syntaktischer Beziehungen. Auf der Basis einseitiger Fügungspotenzen verbinden sich in der Regel als morphosyntaktisch abhängig gekennzeichnete Formen mit Formen, die ihnen übergeordnet sind. Die betreffenden Abhängigkeitsbeziehungen werden durch formale Mittel der Kongruenz, der Rektion, der bloßen Anfügung zum Ausdruck gebracht. Ganz anders gestalten sich die grammatischen Beziehungen zwischen dem Satzsubjekt und dem Prädikat. Der Subjektsnominativ ist grammatisch von keiner anderen Form abhängig, auch nicht vom Prädikat, mit dem es sich verbindet. Rein formal ist das Prädikat vom Subjektsnominativ abhängig, denn es kongruiert mit ihm. Und trotzdem ist dem Nominativ als Satzsubjekt eine ihn mit dem Prädikat verbindende obligatorische Fügungspotenz eigen, wird er doch in den Satz eigens dazu eingeführt, durch das Prädikat charakterisiert zu werden, also strebt das Satzsubjekt seinerseits auf das Prädikat zu. Aus dem oben Ausgeführten folgt, daß die obligatorischen Fügungspotenzen teilweise mit dem morphologischen Charakter der Formen, die sie aufweisen, mit deren Eigenschaft als untergeordneter, abhängiger Formen zusammenhängen, in anderen Fällen dagegen gehört die obligatorische Fügungspotenz zu den Eigenschaften bestimmter syntaktischer Konstruktionen. Aber auch in einem solchen Fall geht die obligatorische Fügungspotenz mit einer bestimmten Form einher. Obwohl sich in diesen Fällen die eine oder andere obligatorische Fügungspotenz nicht aus den morphologischen Besonderheiten der sie „tragenden" Formen ergibt, kommt sie auf der syntaktischen Grundlage den betreffenden Formen zu. Bei der Ausformung syntaktischer Konstruktionen im Sprechvorgang wirken sich die obligatorischen und die fakultativen Fügungspotenzen durchaus nicht in gleicher Weise aus. Wenn eine Form nicht von Satzgliedern begleitet wird, die mit dieser Form aufgrund ihrer fakultativen Fügungspotenzen verknüpft werden könnten, büßt der Satz an grammatischer und inhaltlicher Korrektheit gemeinhin nichts ein. So können zum Besipiel alle möglichen adverbialen Bestimmungen als potentielle Erweiterungen des verbalen Prädikats im Satz fehlen, und der Satz bleibt dabei als solcher bestehen. Im Gegensatz dazu bewirkt die obligatorische Fügungspotenz einen krassen Unterschied zwischen abgeschlossenen und nicht abgeschlossenen syntaktischen Konstruktionen. Enthält eine syntaktische Struktur eine Form, der in Abhängigkeit von ihrer morphologischen Beschaffenheit bzw. von ihrer funktionalen Verwendung im Satz eine obligatorische Fügungspotenz zukommt, so entsteht die zwingende Notwendigkeit, diese Struktur durch eine der be-
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treffenden Fügungspotenz entsprechende Komponente zu ergänzen, was den Bestand und das grammatische Gesamtschema der Konstruktion bestimmt. Allerdings kann die obligatorische Fügungspotenz der Form, deren Eigenschaft sie darstellt, auch Züge verleihen, die formale Folgen anderer Art bedingen. Eine präzise ausgerichtete Fügungspotenz einer Form, die am Aufbau einer Konstruktion beteiligt ist, nimmt gleichsam das Element vorweg, mit dem die Konstruktion ergänzt werden soll. Indessen kann eine solche Vorwegnahme, was den Grad ihrer Korrektheit anbetrifft, unterschiedlich ausfallen. So nimmt zum Beispiel die Kopula 6bimb ['sein'] ganz bestimmt ein Prädikativ vorweg, ihr ist aber - jedenfalls wenn man vom Sinngehalt des Satzsubjektes und vom allgemeinen Textzusammenhang absieht - kein Hinweis auf den konkreten Charakter des Prädikativs, seine Form und Semantik, zu entnehmen. Die Kopula ist nimmt in einem Satzfragment wie Die Rose ist ... ein Prädikativ vorweg, als Prädikativ kann aber mit gleicher Wahrscheinlichkeit der Nominativ eines Substantivs (Die Rose ist eine Blume), ein Adjektiv (Die Rose ist schön), mitunter auch - als Element des „erweiterten Prädikats" - ein Adverb bzw. eine präpositionale Fügung (Die Rose ist da, in einer Vase u. dgl.)4 auftreten. Die Verwendung zum Beispiel des Verbs nehmen bedingt dagegen den Gebrauch nur einer möglichen ergänzenden Wortform, nämlich des Akkusativs. Gerade dank dieser Eigenschaft der Formen, die morphologisch präzise charakterisierte obligatorische Fügungspotenzen haben, kann man den Ausdruck einer Komponente der Aussage in Form eines Wortes oder einer Wortgruppe weglassen, wenn diese Komponente aus dem Kontext bzw. der Sprechsituation leicht herzuleiten ist, vgl. „Bbi öepeme 3my KHUzy?" - „Bepy" ["Nehmen Sie dieses Buch?" - „Nehme"]. Auf den ersten Blick macht dies den Eindruck, als wäre hier die obligatorische Fügungspotenz fakultativ geworden. Da sich der Akkusativ beim Verb als fakultativ erweist, d. h. sowohl sich einstellen wie auch fehlen kann, so erinnert dies tatsächlich an die NichtVerbindlichkeit beispielsweise einer adverbialen Bestimmung bei einem vollwertigen verbalen Prädikat. Es besteht aber ein höchst wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Fällen. Die im gegebenen Satz fehlenden Glieder, die in ihm aufgrund fakultativer Fügungspotenzen vertreten sein könnten, würden sich höchstwahrscheinlich als für den Inhalt der Aussage mehr oder weniger belanglos herausstellen. Die in den Satz „nicht aufgenommenen" Glieder dagegen, die sonst aufgrund obligatorischer Fügungspotenzen in die syntaktische Konstruktion eingeführt werden müssen, sind vom Standpunkt des Inhalts der Äußerung, vom Standpunkt der auf die entsprechenden Dinge, Merkmale usw. gerichteten Aufmerksamkeit der Kommunikanten aus stets aktuell. Zu Beginn des vorliegenden Beitrags haben wir in den Ausführungen über die obligatorische Fügungspotenz vor allem das Moment betont, daß diese Art Fügungspotenz die Notwendigkeit einer direkten, unmittelbaren Anknüpfung einer Form an eine andere bedingt. Im Zuge unserer Analyse hat sich 4
, Β.Γ.: BeeaeHHe Kea 1955. S. 55-56.
Α Λ Μ Ο Η Η
Β CHHTAKCHC
coepeMeHHoro HevieuKoro JBBIKA. Moc-
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aber herausgestellt, daß dies nicht immer der Fall ist, daß die Form mit obligatorischer Fügungspotenz auch ohne die dieser Fügungspotenz entsprechende andere Form auftreten kann. Sogar Teile analytischer grammatischer Formen können allein, autonom gebraucht werden, vgl. „ 7 w öydeuib nucamb?" - „Bydy" ["Wirst du schreiben?" - „Werde"]. Dennoch vertreten im Sprechakt die Formen, von denen eine obligatorische Fügungspotenz ausgeht, nicht allein sich selbst. Hier wirkt sich die Analogie mit der Form aus, die in Begleitung der aufgrund ihrer obligatorischen Fügungspotenz eingeführten, diese Form ergänzenden Satz- bzw. Wortgruppenkomponente auftritt. Die vollständigen Wortverbindungen liegen den unvollständigen zugrunde, nicht aber die unvollständigen den vollständigen, die zweiten ergeben sich aus den ersten und können aus diesen erklärt werden, nicht umgekehrt. Wäre die real bestehende obligatorische Fügungspotenz nicht im betreffenden Element des Sprachbaus unlöslich und unabänderlich verankert, würde sie nicht zum Wesentlichsten am inhaltlichen Merkmalskomplex der diese Fügungspotenz projizierenden Form gehören, so wäre deren „absoluter" Gebrauch überhaupt unmöglich, denn die Bedeutung der notwendigen Ergänzung würde nicht zwangsläufig mitgemeint werden, bliebe bloß fakultatives Element des eventuell zu äußernden Gedankengehalts, wie dies bei nur potentiellen Fügungspotenzen im allgemeinen der Fall ist. Bestimmte Fügungspotenzen sind als besondere Eigenschaften allen grammatischen Formen eigen. Liegt eine obligatorische Fügungspotenz vor, so strahlt die entsprechende Form eine derart scharf und deutlich ausgeprägte Projektion einer syntaktischen Beziehung aus, daß diese Projektion im Fall des „absoluten" Gebrauchs der Form gleichsam die Grenzen des Satzes durchbricht und den Gedanken zwingt, etwas in seinen Bestand aufzunehmen, was im Satz keinen direkten Ausdruck gefunden hat. Und gerade die rein grammatische Bedingtheit dieser Projektion, die eine unabdingbare Eigenschaft eben der gegebenen grammatischen Form darstellt, ist das, was uns veranlaßt, diese Eigenschaft als eine nicht ausschließlich semantische, aus der Sicht der Theorie der Ellipsen, der gedanklichen Expansion u. dgl. zu betrachten, sondern sie zu konkret-grammatischen, formal-sprachlichen Phänomenen zu rechnen. Dies wird unter anderem dadurch bestätigt, daß der „absolute" Gebrauch der Formen mit obligatorischer Fügungspotenz nicht von den bloß kontextualen bzw. sprechsituativen Bedingungen abhängt und in dieser Hinsicht ganz der Willkür des Sprechenden anheimgestellt ist, sondern eine der Regularitäten des Baus der jeweiligen Einzelsprache darstellt. Die Forderung nach vollständiger Abgeschlossenheit der Satzgestalt, die Forderung also nach der Realisierung des vollen Satzschemas inklusive aller zum Bestand des Satzes gehörenden Sonderkonstruktionen, erreicht in verschiedenen Sprachen ungleiche Grade von Bestimmtheit und Intensität. In einigen Sprachen wird diese Forderung höchst konsequent befolgt, in anderen Sprachen wird sie - vergleichsweise - in weit geringerem bis schlechtweg geringem Maße wahrgenommen. Im Russischen mit seinem lockeren syntaktischen Bau, mit der für diese Sprache so typischen unmittelbaren Eingliederung des Wortes in den Satz ohne Vermittlung durch die Wortgruppe ist die Wahrung des vollen Satzschemas in der Regel durchaus nicht verbindlich.
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Gerade deshalb behandeln die Forscher, die sich mit unvollständigen Sätzen im Russischen befassen (die vor allem für Satzformen im Dialog charakteristisch sind), das Problem des unvollständigen Satzes so, als wären der „Zerbröckelung" syntaktischer Konstruktionen überhaupt keine Grenzen gesetzt, wenn dies bestimmte Bedingungen des Kontextes bzw. der Sprechsituation begünstigen. Um dem Problem der Abgeschlossenheit der Satzgestalt auf den Grund gehen zu können, muß man das Material anderer Sprachen heranziehen. Eine bemerkenswerte Erscheinung läßt sich in der Struktur der englischen Sätze beobachten, zu deren Bestand ein kopulatives Verb bzw. ein Hilfsverb gehört. Beim Beantworten von Fragen, bei Wiederholungen und überhaupt in allen Fällen, in denen die Bedeutung des Prädikativs bzw. des nominalen Teils einer analytischen Verbform mit voller Klarheit aus dem Textzusammenhang hervorgeht, reicht das Vorhandensein der Kopula oder des Hilfsverbs für die Abgeschlossenheit der Satzstruktur aus. Vgl. zum Beispiel: „Hadyou anywhere to hang it?" — „/ should think we had" (Galsworthy. The White Monkey). Der Satz, der die Form enthält, die im nachfolgenden Satz weggelassen wird, und dieser letztere können sogar durch einen beträchtlichen Abstand voneinander getrennt sein, vgl. „Does he ever ask you now whether you see me?" - „Never. " - „ Why?" - „I don't know. " - „ What would you answer if he did?" (Galsworthy. The White Monkey). 5 Das oben betrachtete Phänomen stellt im englischen Sprachsystem keinen isolierten Sonderfall dar. Es gibt eine Reihe grammatischer Fakten, die sich mit ihm mehr oder weniger eng berühren. Vgl. den Gebrauch des formalen Satzsubjektes it oder there, die Verwendung von it und so anstelle eines Objekts oder des Wörtchens to, das auf einen fehlenden Infinitiv hinweist, den Gebrauch von one als Substantiversatz in attributiven Wortgruppen u. dgl.6 Jarceva postuliert eine besondere Klasse bzw. Kategorie der „Ersatzwörter", die dazu dienen, die vollständige Ausformung syntaktischer Konstruktionen zu gewährleisten, und sieht die Hauptursache für den Gebrauch dieser Dienstwörter in der Entwicklung analytischer Formen im englischen Sprachbau.7 Dieser Standpunkt mag gewissermaßen begründet sein, der Hinweis auf den Zusammenhang mit analytischen Tendenzen genügt jedoch bei weitem nicht, um das Problem sowohl hinsichtlich des eigentlich Wesentlichen an den sprachlichen Tatsachen als solchen wie auch hinsichtlich ihrer Stellung im Sprachsystem ausloten zu können. 5
6
7
Will man das Prädikativ oder eine andere Ergänzung (im weiten Sinne des Wortes) unterstreichen, so wird die Satzkonstruktion natürlich bis zu ihrer vollen Form ausgebaut. A p u e e a , B.H.: O C H O B H O H xapaicrep CJIOBOCONEIAHH« Β AHNIHHCKOM SNBIKE. In: ktoBecTHH AxaiieMHH HayK CCCP. OraejieHHe jiHTepaTypbi η »3biKa. Bd. VI, 1947, Λ»6; d i e s . : CnoBa-3aMecTHTe.nH Β coBpeweHHOM aHrjiHHCKOM »3biKe. In: YneHbie 3anncicn JleHHHrpa^CKoro rocyaapcTBeHHoro yHMBepcuTCTa. Ccpua Φ Μ Λ Ο Ι Ι Ο Γ Μ necKHx HayK. Bbinycic 14, 1949. Vgl. auch: J e s p e r s e n , Ο.: Α modern English grammar on historical principles. Part II: Syntax. First volume. Heidelberg 1914. S . 246. Ή ρ u e Β a , B . H . : C ; i O B a - 3 a M e c T H T e j i n Β coepeMeHHOM aurjiHMCKOM s n w K e . S . 2 0 5 .
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Zunächst muß man darauf aufmerksam machen, daß nicht alle Fälle, die Jarceva unter dem Begriff der „Ersatzwörter" zusammenfaßt, gleichartig sind. Beispielsweise substituiert das aufgrund seiner obligatorischen Fügungspotenz im Satz I am (als Antwort auf die Frage Are you ill?) alleinstehende Wort am nicht ein Wort, sondern es vertritt die Wortgruppe am ill, und diese seine Verwendung fuhrt keineswegs dazu, daß das betreffende Wortgruppenschema gewahrt wird. Anstelle des Satzschemas mit dem Bestand „Satzsubjekt + Kopula + Prädikativ" liegt hier lediglich das Schema „Satzsubjekt + Kopula" vor. Und die Form am bekommt dabei eine eigene Bedeutung, drückt sozusagen „sich selbst" aus, wird funktional relativ autonom. Solche Abweichungen von voll ausgebauten strukturellen Modellen verdankt das Englische nicht nur dem Gebrauch bestimmter Verben. In ähnlicher Weise werden als Äquivalente ganzer Wortgruppen, die eigene Identität wahrend, sowohl der Genitiv in seinem selbständigen Status (vgl. Of the three autos William's is the best9) als auch die Sonderformen der Possessivpronomen wie mine, hers u. a. (vgl. He knew that the house was hers) gebraucht.9 Im Zusammenhang mit unserem Problem ist es äußerst wichtig, daß gerade im Deutschen, dessen historische Entwicklung, wenn man sie mit der Entwicklung anderer germanischer Sprachen vergleicht, in nur beschränkter Weise im Zeichen des Wandels „von der Flexion zur Analyse" stand, die Verwendung der „Ersatzwörter" zur Abgeschlossenheit, zur Ganzheitlichkeit der Satzkonstruktionen weit breiter und konsequenter als im Englischen erfolgt. So genügen im Deutschen die kopulativen Verben und die Hilfsverben nicht zum Ausdruck des Prädikats und dazu, daß der Satz eine abgeschlossene Gestalt erhält. Breiteste Verwendung genießt das Wörtchen es, das in der Enklise sehr häufig die reduzierte Form 's bekommt. Man kann zum Beispiel auf die Frage Hast du das Buch? nicht mit Ich habe antworten, sondern die verbindliche Form der positiven Antwort auf diese Frage ist Ich habe es (hab's)\ die Antwort auf die Frage Wer ist da? nimmt die Form Ich bin es (bin's) an, usw.10 8
9
10
Das Beispiel ist einer Arbeit von Curme entlehnt, s . C u r r a e , G.O.: A grammar of the English language. Vol. Ill: Syntax. New York 1931. S. 18. Vgl. )K Η r a i l JI ο , B.H., Η Β a Η Ο Β a , Η.Π., Η ο φ Η κ, JI.J1.: CoepeMeHHbiH aHr;iniicKnii H3biK. MocKßa 1956. S. 56-57. Dies gilt in der Regel für die kopulativen Verben und die Hilfsverben (sowie für transitive Verben mit der Semantik des bloßen Handlungsschemas vom Typ nehmen, geben u.ä.). Sie werden nur ausnahmsweise „absolut" gebraucht - in idiomatischen Redewendungen wie Das wäre! oder bei stark betonter Behauptung, vgl. „Hat Borhardt geschickt?" - Versteht sich, hat er... " (Fontane. Stina). Übrigens sind hier die Auslassungspunkte nach hat er aufschlußreich. Das vollständige Κ,οηstruktionsschema stellt den Normalfall selbst für Sätze im Dialog dar. In diesem Sinne, wie paradoxal das auch sein mag, steht das Englische dem Russischen näher als dem Deutschen, vgl. die Formen des Futurs bei der Beantwortung von Fragen im Dialog: russ. ,, Bbi öydeme numamb?" - „Bydy" [„Werden Sie lesen?" - „Werde"]; engl. „ Will you read?" - „I will (I shall) "; dt. „ Werden Sie lesen?" - „Ich werde lesen (Ich werde es tun) ".
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Wenn eine ganze Reihe von Fakten, die im Englischen in den „Substitutions"-Bereich fallen, nicht durch den - im allgemeinen - vorwiegend analytischen Charakter des Baus dieser Sprache zu erklären ist, fragt es sich, was ihnen sonst zugrunde liegen kann. Beim Versuch, diese Frage zu beantworten, müssen u. E. zwei wichtige Momente berücksichtigt werden. 1. Bekanntlich ist der englische Sprachbau nicht rein analytisch. Die flexivischen Elemente sind nicht zahlreich, aber sie nehmen sehr wichtige Stellungen im englischen Sprachsystem ein, hauptsächlich im verbalen Bereich. Die flexivischen Formen verteilen sich auf bestimmte syntaktische Funktionen und sind fest an diese gebunden. Sie zeichnen sich somit durch dermaßen eindeutig ausgerichtete obligatorische Fügungspotenzen aus, daß dies die besten Voraussetzungen für ihren „absoluten" Gebrauch schafft. Monofunktional ist im Englischen im Grunde genommen der Genitiv. Er kann nur als Attribut zu einem Substantiv verwendet werden, wogegen er sowohl im Deutschen wie auch im Russischen in mehreren syntaktischen Funktionen auftreten kann (im Deutschen neben der Funktion als Attribut auch als Objekt, als Prädikativ, als adverbiale Bestimmung sowie als ein vom Adjektiv abhängiges Satzglied). Doch während manche Formen des Englischen monofunktional sind und eindeutig ausgerichtete obligatorische Fügungspotenzen aufweisen, gibt es in dieser Sprache zahlreiche andere Formen, deren Fügungspotenzen im Gegenteil ein weitreichendes Spektrum von syntaktischen „Partnern" zulassen, unter denen jeweils die Wahl getroffen wird, was diese nicht weglaßbar macht. So ist zum Beispiel der Gemeinschaftskasus beschaffen. Mehr noch, viele Nominalstämme beinhalten, wenn man sie sich in der Form des Gemeinschaftskasus vorstellt, infolge der starken Tendenz zur Konversion - zumindest vom Standpunkt des Hörers aus - die Fügungspotenzen sowohl der Substantive als auch der Adjektive, gelegentlich daneben auch noch verbale Fügungspotenzen. Eine Form des Typs work oder round impliziert an sich keine bestimmte eindeutig ausgerichtete obligatorische Fügungspotenz. Eben darum erfordern im Englischen die attributiven Wortgruppen, die aus Substantiven im Gemeinschaftskasus bestehen, die Wiedergabe des vollständigen Wortgruppenschemas, wenn auch eventuell unter Verwendung eines „Ersatzwortes" (one). Bezeichnenderweise kann im Deutschen, einer Sprache, in der sich das Substantiv und das Adjektiv morphologisch deutlich unterscheiden, das „absolut" gebrauchte Adjektiv eine solche attributive Wortgruppe vertreten. 2. In der Fachliteratur ist bereits vielfach auf die für den englischen Satzbau besonders wichtige Bedeutung der prädikativen Beziehung hingewiesen worden, d. h. der Beziehung zwischen dem Satzsubjekt (einem nominalen Wort im Gemeinschaftskasus) und dem Prädikat (zu dessen Ausdruck - mit äußerst seltenen Ausnahmen - ein Verb verwendet wird). Die Subjekt-Prädikat-Verbindung, die im allgemeinen innerlich festgefügt ist, im Satz einen bestimmten Platz einnimmt und fiir den zweigliedrigen Satz überhaupt unentbehrlich ist, bildet den strukturellen Kern des englischen Satzes, seine tragende Achse. In dieser Hinsicht macht sich ein wesentlicher Unterschied zwischen der Satzstruktur im Englischen und im Deutschen bemerkbar, denn die Hauptrolle beim Aufbau des Satzes spielt im Deutschen das Prädikat, dies auch dann, wenn es mehrteilig ist und seine Teile in Distanzstellung stehen.
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Unter den grundlegenden syntaktischen Beziehungen zeichnet sich die Subjekt-Prädikat-Beziehung im Englischen auch dadurch aus, daß sie nicht nur positionell, sondern auch durch flexivische Mittel verhältnismäßig deutlich gekennzeichnet erscheint. Abgesehen von solchen verbalen Flexionsformen wie der Endung der 3. Person Sg. (im Präsens), den Formen des Präteritums (Past Indefinite), den hauptsächlich suppletiven Formen der kopulativen Verben und der Hilfsverben, kann man darüber hinaus auf ein eigenartiges gegenseitiges Ausgleichsverhältnis zwischen den Formen des Satzsubjektes und des prädikativen Verbs in der 3. Person des Präsens hinweisen. Im Singular hat das als Satzsubjekt auftretende Substantiv keine Flexionsendung, dafür aber bekommt das prädikative Verb die Endung -(e)s. Im Plural dagegen tritt das substantivische Satzsubjekt mit der Endung -(e)s, das prädikative Verb aber in der endungslosen Form auf, vgl. A bell rings - Bells ring. Obwohl diese -s verschiedene Herkunft haben und obwohl sie ihre aktuellen Funktionen unterschiedlichen sprachgeschichtlichen Faktoren verdanken, stehen sie im heutigen Sprachsystem in einer spezifischen Wechselbeziehung zueinander und ergänzen sich in dieser Beziehung gegenseitig. Ihre Wechselwirkung trägt zur deutlichen formalen Heraushebung der Subjekt-Prädikat-Verbindung bei (obwohl sonstige wichtige grammatische Mittel, nämlich die Wortstelking, der Artikelgebrauch und einiges andere dem gleichen Zweck dienen). Diesem grammatischen Phänomen, der besonderen formalen Kennzeichnung der Subjekt-Prädikat-Beziehung bei der 3. Person (im Präsens), kommt - vor allem dann, wenn das Subjekt durch ein Substantiv und das Prädikat durch ein Vollverb ausgedrückt sind, - eine erhöhte Bedeutung zu, weil die für den Satz grundlegende Subjekt-Prädikat-Beziehung gerade in diesem Fall sonst weit weniger deutlich als die übrigen Ausdrucksformen dieser Beziehung von anderen syntaktischen Beziehungen im Satz strukturell abgehoben wäre. Im Lichte der erörterten allgemein-stukturellen und konkret-formalen Besonderheiten der Subjekt-Prädikat-Verbindung im Englischen wird auch der verstärkte innere Zusammenhalt, der ausgesprochen hohe Einigungsgrad dieser Verbindung einsichtig. Syntaktische Verbindungen verschiedenster Art zeichnen sich im Englischen überhaupt durch festen Zusammenhalt ihrer Bestandteile a u s , " doch weist die Festigkeit ihres internen Zusammenhalts auch graduelle Unterschiede auf. Unter anderem kann im Englischen - wie in anderen Sprachen auch - eine und dieselbe Form aufgrund ihrer gleichzeitig wirksam werdenden Fügungspotenzen, obligatorischer Fügungspotenzen zudem, eben gleichzeitig eine Verbindung mit zwei anderen Satzgliedern eingehen, wobei sich die entsprechenden Beziehungen als ungleich innig und eng erweisen können. Dieser Umstand dürfte besonders schwer ins Gewicht fallen, wenn man sich über die Möglichkeit und die tatsächliche Verbreitung des „absoluten" Gebrauchs der kopulativen Verben und der Hilfsverben im Englischen Klarheit verschaffen will. Diese Verben haben j e zwei obligatorische Fügungspo11
Vgl. flpueea, B.H.: CBoöcxaHoe H CBH3aHHoeaonojiHeHHe Β aHnwitcKOM «biKe. In: Λ 3 Μ Κ Η MbiuuieHHe. Bd. XI. M o c x e a - JleHHHrpaa 1 9 4 8 ; d i e s . : O C H O B H O H xapaicrep cnoBocoMCTaHns Β anrjinHcKOM «3biKe.
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der
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tenzen, von denen die eine zum Satzsubjekt, die andere zum nominalen Teil des Prädikats gerichtet ist. Aufgrund des besonders starken internen Zusammenhalts der Bestandteile der Subjekt-Prädikat-Verbindung erweist sich die strukturelle Verknüpfung dieser Verben mit dem Satzsubjekt als geradezu unlösbar, während ihre Beziehung zu einem Prädikativ oder einem anderen nominalen Teil des Prädikats weniger innigen Charakter hat. Die nach einer Seite gerichtete, äußerst enge Beziehung geht hier mit der andersgerichteten schwächeren und leicht lösbaren Beziehung einher. Und obwohl die Verbindungen des kopulativen Verbs bzw. des Hilfsverbs mit dem Prädikativ bzw. dem nominalen Teil einer zusammengesetzten verbalen Form sehr wichtig sind (die Kopula bildet j a zusammen mit dem Prädikativ, das Hilfsverb zusammen mit einem Infinitiv oder Partizip e i η Satzglied, das Prädikat, im letzten Fall stellt die Verbindung sogar e i n e - analytische - Wortform dar), kann eine Kopula oder ein Hilfsverb dessenungeachtet unter bestimmten Bedingungen auch „absolut", ohne die sie sonst ergänzenden Elemente gebraucht werden. Ihre Beziehung zum Satzsubjekt erweist sich als unvergleichlich enger und fester. 12 Im Bereich verbal-nominaler Beziehungen sind im Englischen aber auch entgegengesetzte Tendenzen wirksam. So stellt sich beim Großteil der Verben ihre strukturelle Beziehung zum Objekt als nahezu unlösbar dar. Darin bekundet sich offensichtlich die für das Englische zutiefst charakteristische wechselseitige Abhängigkeit zwischen den syntaktischen und semantischen Eigenschaften des Verbs auf der einen und dem Vorhandensein oder Fehlen des Objekts beim betreffenden Verb, dem Typ des Objekts usw. auf der anderen Seite. 13 Also basiert unserer Meinung nach der strukturell, für die Satzbildung „ausreichende" Charakter verbaler Dienstwörter im Englischen in starkem Maße darauf, daß in dieser Sprache eine besonders enge Beziehung zwischen dem Satzsubjekt und dem finiten Verb besteht. 14 Es stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang dieses Phänomens mit allgemeinen Entwicklungstendenzen des englischen Sprachbaus. Es liegt die Annahme nahe, daß für die von uns betrachteten Fakten die Tendenzen zu gegenseitiger struktureller Absonderung der wichtigsten Satzkomponenten, wie diese Tendenzen in der Entwicklung vieler indoeuropäischer Sprachen zutage treten, rahmenbildend gewesen sind. Potebnja meinte, daß die Verstärkung des Gegensatzes zwischen Nomen und Verb eine der Hauptrichtungen des Wandels der Satzstruktur in den indoeuropäischen Sprachen darstellt. Diese Entwicklung ist nach Potebnja mit einem Umbau des Satzes verbunden, sie verlief parallel mit wachsen12
Im Deutschen sind die entsprechenden Bindungen annähernd gleich stark. Das kopulative Verb und das Hilfsverb können sich nicht völlig auf ihre strukturelle Beziehung zum Satzsubjekt einstellen und sich gleichzeitig vom Prädikativ usw. absondern, obwohl sie intonatorisch-syntagmatisch nicht selten gerade mit dem Satzsubjekt eine engere Einheit bilden.
13
Vgl. ü ρ u e e a , B.H.: CBo6oflHoe η CBtrcaHHoe .nonojiHeHHe β aHrnHiiCKOM S3biice.
14
S. 410. Für diesen engen Zusammenhang sind vor allem die Eigenschaften des Verbs verantwortlich. Subjektloser Gebrauch des finiten Verbs kommt sehr selten vor.
Die Abgeschlossenheit
der Satzgestalt
\ 85
der formaler Differenzierung der Satzglieder, die bei steigender Komplexität des Satzes seine Einheitlichkeit sicherte.15 Freilich mündet die genannte Tendenz in den neueren indoeuropäischen Sprachen wohl hauptsächlich in die Sonderbehandlung des Prädikats (nicht nur des verbalen) vor dem Hintergrund sonstiger Satzglieder, und in einigen Sprachen (vor allem im Deutschen) hat das zu scharfer Gegenüberstellung der verbal-prädikativen Wortgruppe, die fast den ganzen Satz umfaßt und in hohem Maße seine innere Struktur bestimmt, und der Substantivgruppe gefuhrt, die sich durch eigene innere Geschlossenheit auszeichnet. Die Bedeutung dieser Vorgänge besteht darin, daß sie zu leichter überschaubarer Strukturierung des Satzes beitragen, nach der der wachsende Umfang des Satzes, insbesondere in der Schriftsprache, und seine gleichzeitig komplexer werdende interne Organisation verlangen. In der Sonderstellung einer syntaktischen Verbindung, nämlich der Verbindung des Satzsubjektes mit dem finiten Verb, als des notwendigen strukturellen „Minimums" des Satzes und dessen strukturellen Kerns, der sich von anderen syntaktischen Fügungen im Satz scharf abhebt, findet im Englischen die oben angesprochene allgemeine Entwicklungstendenz des Satzbaus ihren Ausdruck. Selbstverständlich entspricht an und für sich die Verbindlichkeit fester Verkettung des finiten Verbs mit dem Satzsubjekt dem Wesen des analytischen Sprachbaus. Jedoch kann man aus den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des analytischen Sprachbaus solche Phänomene wie beispielsweise die Abgeschlossenheit der Satzgestalt bei fehlendem Prädikativ, bei fehlendem lexikalischem Teil des nominalen Prädikats also, nicht erklären.
15
Π ο τ ε δ Η » , A.A.: H3 3anncoic no pyccKoft rpaMMaTHKe. l-II. MocKea 1958. S. 131-132,516-517.
1959
Die Entwicklung der Funktionen des Genitivs im Deutschen I
Der Genitiv ist im Deutschen der Kasus, dessen Funktionen sich im Verlauf der Sprachgeschichte am weitgehendsten verändert haben. In althochdeutscher Zeit tritt er in Wortgruppen verschiedenster Art auf, seine grammatische Bedeutung ist kompliziert und widersprüchlich. Die Forscher haben schon längst die überaus mannigfaltige und breite syntaktische Verwendung des Genitivs als eine Besonderheit des Althochdeutschen hervorgehoben, die diese Sprache im Kreis der altgermanischen Sprachen auszeichnet. 1 In der deutschen Gegenwartssprache überwiegt indessen der Gebrauch des Genitivs in einer seiner Funktionen, nämlich in der attributiven, ganz entschieden seine sonstigen Gebrauchsweisen. Die übrigen früheren genitivischen Funktionen sind zum Teil in den Hintergrund seines funktionalen Bereichs abgedrängt, zum Teil sind sie verschwunden oder bestehen nur noch als Archaismen. Die Germanistik kennt diesen Vorgang seit langem. In allen Handbüchern zur deutschen Sprachgeschichte und in den wissenschaftlichen Grammatiken des Gegenwartsdeutschen wird dem „Rückgang" bzw. gar dem „Verfall" des Genitivs ständig große Aufmerksamkeit gewidmet. 2 In einer Reihe von Monographien werden bestimmte Etappen der Geschichte des Genitivs, sein Gebrauch in dem einen oder anderen Denkmal des altdeutschen Schrifttums bis zum Frühneuhochdeutschen hin sowie einzelne Funktionen des Genitivs beleuchtet. Es besteht kein Zweifel, daß sehr umfassendes Material zusammengetragen und eine Vielzahl wertvoller Beobachtungen gemacht worden ist. Das Gesamtbild der Entwicklung des Genitivs ist aber noch nicht frei von Unklarheiten. Unklar bleiben die Ursachen des Wandels, der zum Fortbestehen bestimmter Funktionen des Genitivs und zur gleichzeitigen Schwächung bis Abschaffung anderer Funktionen dieses Kasus führte. Nicht geklärt ist weiterhin die komplizierte Wechselwirkung der Faktoren, die die Entwicklung des Genitivs bedingten. Der funktionale Umbau des Genitivs verlief keineswegs geradlinig: Im Mittelhochdeutschen nimmt der Gebrauch des Genitivs gegenüber dem Althochdeutschen nicht ab, sondern zu, und dies sowohl unter dem Aspekt der Vielfalt der genitivischen Funktionen wie auch unter dem Aspekt 1
2
G r i m m , J.: Deutsche Grammatik. Teil IV. Neuer vermehrter Abdruck. Gütersloh 1898. S. 809; W i n k l e r , H.: Germanische Casussyntax. I: Der Dativ, Instrumental, örtliche und halbörtliche Verhältnisse. Berlin 1896. S. 520-521. Β e h a g h e 1, O.: Deutsche Syntax. Bd. I. Heidelberg 1923. S. 478ff.; Ρ a u 1, H.: Deutsche Grammatik. Bd. III. Halle (Saale) 1954 [' 1919], S. 284ff.; W i l m a n n s , W.: Deutsche Grammatik. Bd. III, Abt. 2. Strassburg 1909. S. 577ff.; S ü t t e r l i n , L.: Die deutsche Sprache der Gegenwart. 3. Aufl. Leipzig 1910. S. 32 Iff. Vgl. auch die Bibliographie in: B e h a g h e l , O.: Op. cit. S. 478f.
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der Verwendungshäufigkeiten des Genitivs in seinen Funktionen. Diese Tatsachen lassen sich leicht konstatieren, ihre Feststellung ist zweifellos notwendig und nicht zu unterschätzen, sie kann aber die eigentliche Erklärung des historischen Vorgangs nicht ersetzen. Die bereits unternommenen Versuche der Erklärung dieses Vorgangs können nicht als befriedigend angesehen werden. Am häufigsten wird darauf hingewiesen, daß bei einigen Gruppen von Substantiven entweder die Endung des Genitivs abgefallen bzw. die Fähigkeit zu seiner formalen Bezeichnung überhaupt verlorengegangen sei. So äußert Behaghel die Meinung, daß dem Untergang des Genitivs die Abschwächung der Vollvokale in den Flexionsendungen gegen das Ende der althochdeutschen Periode zugrunde liege.3 Hinzu kam, nach Behaghel, die spätmittelhochdeutsche Unifizierung aller Kasusformen der Feminina im Singular und der meisten - mit Ausnahme des Dativs - Kasusformen aller Substantive im Plural. Für den Verfall des Genitivs machte man auch den Gebrauch konkurrierender Formen verantwortlich, und zwar, was den attributiven Bereich anbetrifft, den Gebrauch präpositionaler Fügungen, insbesondere mit von, sowie die Verwendung der possessiven Konstruktion mit dem Dativ als Attribut. Die Häufigkeit der letzteren wird manchmal durch phonetische Faktoren motiviert.4 Alle diese Ursachen waren jedoch nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Natürlich ist es für den attributiven Genitiv wichtig, eine eigene Form zu haben, die mit der Form des Bezugssubstantivs nicht zusammenfällt. Aber in den meisten Fällen konnte und kann der deutsche Genitiv formal - durch die Flexionsendung am Substantiv selbst oder mit Hilfe der Monoflexion gekennzeichnet werden, so daß der Grund fur die „Verdrängung" des Genitivs nicht im Bereich der Flexion zu suchen ist. Bezeichnenderweise bewahren andere germanische Sprachen, in denen von den Kasussystemen nur spärliche Reste geblieben sind, gerade den Genitiv, der seinen formalen Ausdruck sogar weiter entfaltet, indem der Gebrauch der Genitivendung -s auf alle Substantive ausgedehnt wird. Für Fälle, wo dem Genitiv in der einen oder anderen Etappe der Sprachentwicklung eine deutliche formale Bezeichnung fehlte, hätte sich auch im Deutschen, einer Sprache mit gut entwikkeltem Kasussystem, eine Möglichkeit gefunden, diesen Mangel zu beheben. Wenn das nicht geschehen ist, so liegt es offensichtlich nicht an einer deutlicheren oder weniger deutlichen formalen Kennzeichnung des Genitivs, sondern es muß dafür andere Gründe gegeben haben. In diesem Sinne ist es bedeutsam, daß der Genitiv einen auffallenden Aufschwung im Mittelhochdeutschen erlebte, als die Vokale der unbetonten Endsilben des Wortes bereits auf das schwache -e bzw. -e- [a] reduziert waren, die substantivischen Deklinationstypen einen Wandel durchgemacht hatten, der sie dem künftigen neuhochdeutschen Stand nahe brachte (die femininen o-Stämme und in bedeutendem Maße auch die /-Stämme wiesen bereits keine 3 4
B e h a g h e 1, O . : Op. cit. S. 4 7 9 - 4 8 0 . Ibid. S. 481.
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Formunterschiede zwischen den Kasus des Singulars auf) und der Gebrauch des Artikels (besonders des unbestimmten) bei weitem noch nicht das uns im Neuhochdeutschen bekannte Ausmaß erreicht hatte. All dies sind Faktoren, die die Position des Genitivs im grammatischen Bau der Sprache hätten schwächen sollen. Indessen, wie wir schon bemerkt haben, ist gerade die mittelhochdeutsche Periode, was den Genitiv anbetrifft, nicht von seinem Rückgang, sondern von seinem Aufschwung gekennzeichnet. Dem oft anzutreffenden Verweis auf den Einfluß der Dialekte mangelt es ebenfalls an Überzeugungskraft. Da der Genitiv in vielen Dialekten überhaupt nicht bzw. nicht mehr vorhanden ist, hätte man unter ihrem Einfluß die frontale, d. h. vollständige, Verdrängung des Genitivs aus der deutschen Gemeinsprache erwarten müssen. Bekanntlich wurde er aber gar nicht frontal, sondern nur aus einigen seiner funktionalen Sonderbereiche verdrängt, in anderen dagegen blieb er ständig in Gebrauch. Die Dialekte konnten die Veränderungen, die die Verwendungsmöglichkeiten des Genitivs erfahren haben, nur teilweise und nur indirekt stimulieren, sie konnten keinen entscheidenden Einfluß auf diese Veränderungen haben. An sich kann auch die Konkurrenz von seiten synonymer grammatischer Konstruktionen nichts erklären. Denn der Ersatz einer Konstruktion durch eine andere oder durch mehrere andere bedarf selbst einer Erklärung: Man hat zu erklären, warum der Ersatz diese, nicht die umgekehrte Richtung genommen hat. Die Schicksale des deutschen Genitivs können auch nicht durch allgemeine Tendenzen der Entwicklung menschlicher Denkprozesse erklärt werden. Die Unmöglichkeit, den funktionalen Wandel des Genitivs auf die Wirkung solcher Tendenzen der Entwicklung des Denkens wie vor allem die Tendenz zu dessen Komplizierung bzw. zum Übergang auf höhere Abstraktionsebenen zurückzuführen, ist schon daraus ersichtlich, daß im Deutschen zwei spezifische Objektskasus erhalten bleiben, der Akkusativ und der Dativ. Der Genitiv ist „logischer" (bzw. „grammatischer") als diese beiden Kasus. Es leuchtet ein, daß die Annahme direkter Einwirkung der genannten Entwicklungstendenz des menschlichen Denkvermögens auf den Wandel des deutschen Kasussystems in eine falsche Richtung fuhren würde. Man muß dennoch zugeben, daß alle Faktoren, auf die oben hingewiesen wurde, den Genitiv in seinem Entwicklungsgang in der einen oder anderen Weise beeinflußt haben können. Für einzelne Veränderungen im funktionalen Bereich des Genitivs wurden auch treffsichere Gründe vorgebracht. Wenn beispielsweise Paul auf die starke Einschränkung der genitivischen Form des attributiven Substantivs mit der Bedeutung des Stoffes (und ähnlichen Bedeutungen) beim Bezugssubstantiv mit der Bedeutung des Maßes zu sprechen kommt, weist er darauf hin, daß beim Genitiv, der von keinem Adjektiv begleitet wird, die Kasusbedeutung sehr oft formal überhaupt nicht bezeichnet wird; dies bezieht sich auf den Gen. Sg. Fem., vgl. ein Löffel Suppe, ein Pfund Gerste; das gleiche trifft für alle Substantive - unabhängig von ihrem Genus - im Plural zu, vgl. eine Menge Fische, ein Pfund Äpfel. Darum „empfinden wir", wie Paul schreibt, „den ursprünglichen Genitiv als bloße Quali-
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tätsbezeichnung ohne Kasusdifferenzierung oder als mit dem ursprünglich regierenden Worte in Kongruenz stehend".5 Dennoch können die Gründe, die für den einen oder anderen Einzelfall gelten, wie wichtig sie auch sein mögen, die allgemeine Richtung der Veränderungen, die die Funktionen des Genitivs betroffen haben, nicht erklären. Außerdem können solche Begründungen die Frage nicht beantworten, warum die Veränderungen zu einer bestimmten Zeit, weder früher noch später, vor sich gingen. So war die „nicht ausdrucksfähige" Genitivform der Substantive im Plural sowie der meisten Feminina im Singular bereits im Spätmittelhochdeutschen vorhanden. Warum aber beginnt der Ersatz des Genitivs durch die „undifferenzierte" Substantivform in den Maß-Stoff-Verbindungen erst im 17. Jahrhundert um sich zu greifen? Das läßt an Gesetzmäßigkeiten denken, die mit den dominierenden Tendenzen der Entwicklung des grammatischen Baus des Deutschen, mit dessen grundlegenden Strukturgesetzen zusammenhängen. Im folgenden unternehmen wir den Versuch, die wichtigsten konkreten Prozesse in der Entwicklung des deutschen Sprachbaus wenigstens zum Teil zu beleuchten, die die Veränderungen im funktionalen Bereich des Genitivs bedingten - und die ihrerseits von diesen Veränderungen beeinflußt wurden. Im Rahmen eines Artikels kann man natürlich den zu erörternden Tatbestand nur höchst schematisch darstellen, da der dazugehörige Sprachstoff unübersehbar ist. Es ist nochmals zu betonen, daß in der Germanistik viele wertvolle Beobachtungen zu unserem Thema gemacht wurden. Eine weitere ist von Bedeutung: Es wurde bemerkt, daß zwischen tiefgreifenden Veränderungen im Bereich der Wortzusammensetzung im Frühneuhochdeutschen und der Entwicklung des attributiven Genitivs ein unverkennbarer Zusammenhang besteht.6 Aus vereinzelten Beobachtungen dieser Art konnte sich aber keine ganzheitliche Auffassung der Entwicklung des Genitivs ergeben. Die Unklarheiten in bezug auf die Entwicklung des Genitivs betreffen selbst die Frage nach der Hauptrichtung des Wandels dieses Kasus. Die Meinungen zu dieser Frage gehen weit auseinander. Verbreitet ist einerseits die Vorstellung vom Genitiv als einem Kasus, der dem Untergang geweiht ist und eigentlich schon beinahe untergegangen ist. In diesem Sinne äußerte sich zum Beispiel Behaghel.7 Dieser Standpunkt beruht vor allem auf dem bereits erwähnten Schwund des Genitivs in einer Reihe von Dialekten und der damit zusammenhängenden Seltenheit seines Gebrauchs in mündlicher Umgangssprache. Andererseits aber wird der Genitiv in allen praktischen Grammatiken des Gegenwartsdeutschen als ein stabiles Element des Sprachbaus behandelt. Es gibt einen weiteren Aspekt, unter dem die Diskussion um den Genitiv geführt wird. Unterschiedliche Meinungen werden über die Vielfalt der Funktionen des Genitivs in den altgermanischen Sprachen (wie in den alten indoeuropäischen Sprachen überhaupt) geäußert. Es handelt sich dabei hauptsäch5 6
7
P a u l , H . : O p . cit. S. 295. P a u l , H.: Op. cit. § 220; d e r s . : Prinzipien der Sprachgeschichte. 5. Aufl. Halle (Saale) 1937. § 232. B e h a g h e l , 0 . : 0 p . cit. S. 480.
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lieh um die genetische Priorität der einen oder anderen Funktion des Genitivs. Es ist die Frage nach dem primären Charakter seines adverbalen oder seines adnominalen Gebrauchs, über die man sich in der Indoeuropäistik noch nicht geeinigt hat.8 Die Lösung dieser Frage wird dadurch erschwert, daß sich die beiden Gebrauchsweisen des Genitivs hinsichtlich der verallgemeinerten grammatischen Bedeutungen stark voneinander unterscheiden. Beim adnominalen Genitiv dominiert die Bedeutung der Zugehörigkeit, während bei seinem adverbalen Gebrauch die Bedeutung des partitiven Objekts vorherrscht, die sich gewissermaßen mit der ablativen Bedeutung berührt. Spezifische Nuancen der verallgemeinerten Bedeutung sind überdies in anderen Gebrauchsweisen des Genitivs feststellbar. Die Fragen der genetischen Priorität der einen oder anderen semanti sehen Funktion des Genitivs, darunter - und vor allem - die Frage nach der ursprünglichen verallgemeinerten grammatischen Bedeutung dieser Kasusform, sind sehr wichtig für das Verständnis ihrer Entwicklung in der historischen Zeit, in den germanischen Einzelsprachen, natürlich auch in der deutschen Sprache. Im vorliegenden Artikel werden wir die genannten Fragen leider beiseite lassen müssen, denn ihre Erörterung kann nur auf der Basis sehr umfangreichen historisch-vergleichenden Materials erfolgen. Wir werden uns auf die Feststellung der Tatsache beschränken, daß auf der frühesten durch das Schrifttum bezeugten Stufe der deutschen Sprachgeschichte, im Althochdeutschen, der Genitiv eine Reihe syntaktischer Funktionen sowie unterschiedliche Bedeutungen aufwies, die nicht auf einen gemeinsamen Nenner zurückfuhrbar sind. Wir werden unsere Problemanalyse mit der Charakteristik des Gebrauchs des Genitivs im Althochdeutschen beginnen. Die betreffende Obersicht wird - wie das im ganzen Artikel nicht zu vermeiden ist - notgedrungen schematisch ausfallen. II Der Genitiv wurde im Althochdeutschen sehr vielfältig verwendet. Er gehört zum Bestand der Substantivgruppe, zum Bestand der Adjektivgruppe, der Gruppe des Adverbs, der verbalen Gruppe, er tritt in diesen Wortgruppen vielfach in unterschiedlichen Bedeutungen auf, in einigen Fällen hängt er in komplizierter Weise von Verbindungen der Satzglieder ab, manchmal muß man ihm den Status des freien Satzgliedes zuerkennen. Es gibt eine beträchtliche Zahl von Arbeiten, in denen der Gebrauch des Genitivs im Althochdeutschen behandelt wird. Der Gebrauch des Genitivs in allen wichtigen Schriften der althochdeutschen Zeit ist - freilich mit unterschiedlicher Vollständigkeit - untersucht und beschrieben worden, im Isidor, 8
Vgl. H i r t , H.: Handbuch des Urgermanischen. Bd. III. Heidelberg 1934. S. 5 2 53; H e i n z , Α.: Genetivus w indoeuropejskim systemie przypadkowym. Warszawa 1955. S. 5. J . K n o b l o c h besteht aufgrund der Analogie mit einigen nichtindoeuropäischen Sprachen auf der Priorität des adnominalen Genitivs; s.: Zur Vorgeschichte des indogermanischen Genitivs der o-Stämme auf -sjo. In: Die Sprache. Zeitschrift für Sprachwissenschaft. Bd. II, 1950-1952. S. 131ff.
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im Tatian, im Otfrid, in den Schriften von Notker. 9 Reichlich ist das betreffende Material in den Werken von Behaghel und von Wilmanns präsentiert. 10 Eine der kompliziertesten Gebrauchsweisen des Genitivs im Althochdeutschen, sein adverbaler Gebrauch, ist Gegenstand der Monographie von Baldes, 11 der gleichen Frage ist die Habilitationsschrift der sowjetischen Germanistin Girägorn gewidmet. 12 Meinen weiteren Ausführungen liegt hauptsächlich der Sprachstoff zugrunde, der von den vorhin erwähnten Forschern bearbeitet wurde. Im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes ist es unmöglich, auf den besonderen Standpunkt jedes Forschers einzugehen. Dies ist allerdings in der Arbeit von GirSgorn zufriedenstellend geschehen. Wir gehen zur Charakteristik des Genitivgebrauchs im Althochdeutschen über. A. Die attributive Funktion des Genitivs Diese Funktion wird im Althochdeutschen in einer Vielfalt von Sonderbedeutungen realisiert. Verbreitet ist die Verwendung des partitiven Genitivs. Er kann bezeichnen: (a) die Gattung von Gegenständen, von denen das Bezugssubstantiv eine Anzahl angibt: siechero marmo menigi (Ο II 15, 9) 'eine Menge kranker Leute'; (b) den Stoff, dessen Teil das Bezugssubstantiv bezeichnet: lides zwei ode thriu mez (Ο II 9, 96) 'des Apfelweines zwei oder drei Maß'. Zum partitiven Bedeutungskreis gehören auch (c) der Genitiv, der den Gegenstand bezeichnet, von dem ein Teil bzw. mehrere Teile „abgezogen" werden, die sich von anderen Bestandteilen des Gegenstandes unterscheiden: dages enti ( O l 15, 6) 'das Ende des Tages', sowie (d) die genitivische Bezeichnung des Gegenstandes, dessen eine Eigenschaft das Bezugssubstantiv ausdrückt: fori mines fater guati (O III 22, 38) 'von der Güte meines Vaters'. Der partitive Genitiv kann auch dem Adjektiv (insbesondere im Superlativ) und dem Pronomen (vor allem dem Frage- und dem Indefinitpronomen) untergeordnet sein. Sehr verbreitet ist im Althochdeutschen ebenfalls (e) der possessive Genitiv, der die Beziehung des Besitzes anzeigt: mines fater hus (Ο IV 15, 5) 'das Haus meines Vaters'; des tiuveles swert (Notk II 24, 4) 'des Teufels Schwert'.
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10 11 12
D r e s c h e r , G.: Der Gebrauch der Kasus im althochdeutschen Isidor. Diss. Breslau 1921 (Auszug-Druck); M o u r e k , V.E.: Gebrauch der casus im althochdeutschen Tatian. In: Sitzungsberichte der königl. böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften. Classe fur Philosophie, Geschichte und Philologie. Jg. 1895, Beitrag XXIII. Prag 1896; Jg. 1897, Beitrag X. Prag 1898; Ε r d m a n η , Ο.: Untersuchungen über die Syntax der Sprache Otfrids. II: Die Formationen des Nomens. Halle 1876. S. 140ff; A n t r i m , E.I.: Die syntaktische Verwendung des Genitivs in den Werken Notkers. Diss. Göttingen 1897. Β e h a g h e I, O.: Op. cit. S. 478-608; W i I m a η η s , W.: Op. cit. S. 577-611. Β a I d e s ,H.: Der Genitiv bei Verbis im Althochdeutschen. Diss. Strassburg 1882. Γ κ ρ α ί Γ ο ρ Η , P.3.: ßonojmeHHe βpo/WTejibHOM naaeace βapeBHeßepxHeHeMeuKOM H3biKe. /^HCcepTauHfl ... KAH.an/UTTA (JimiojiorHHecKHx Hay κ. JLEHHHRPAJI 1947.
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Die aufgezählten Arten des Genitivgebrauchs lassen sich sämtlich unter dem Begriff der Zugehörigkeit zusammenfassen. Man kann im Bereich der Zugehörigkeit zwei Hauptarten der semantischen Beziehung unterscheiden: 1) der Genitiv und das Bezugssubstantiv bezeichnen einen und denselben Gegenstand, der Genitiv bezeichnet ihn ganz allgemein mit dem ihm zukommenden Namen und das Bezugssubstantiv gibt das Maß des abgesonderten Teils des betreffenden Gegenstandes an; außer dem durch den Genitiv bezeichneten Gegenstand werden hier keine anderen gegenständlichen Wesenheiten ins Blickfeld eingeführt; 2) der Genitiv und das Bezugsssubstantiv bezeichnen zwei nicht identische Gegenstände; diese können eng miteinander verbunden sein und sogar im Verhältnis des Teils und des Ganzen zueinander stehen; hierher gehören die Gebrauchsfälle, die oben unter (c), (d) und (e) betrachtet wurden. Aus der Sicht des Zugehörigkeitsbegriffs heraus stellt der Genitiv, der den Erzeuger eines Gegenstandes bezeichnet (der ,,Autoren"-Genitiv), eine unmittelbar benachbarte Erscheinung dar, vgl. zum Beispiel thera Kristes lera (O III 7, 61) 'die Lehren Christi'. Das Bezugssubstantiv bezeichnet hier das Ergebnis der Handlung bzw. der Tätigkeit der Person, deren Bezeichnung im Genitiv steht. Diese Art des attributiven Genitivs berührt sich auch mit dem Subjektsgenitiv. Der Subjektsgenitiv wie auch der Objektsgenitiv kommen im Althochdeutschen ebenfalls vor. Vgl. zum Beispiel die Bedeutung des Subjekts im Fall sunnun fart ( O l 17, 9) 'die Bewegung der Sonne' und die Bedeutung des Objekts in den Wortgruppen junger a uuorolti mord (Ο I 20, 24) 'die Ermordung der Kinder'; engilo gisiunes (Ο I 12, 32) 'der Anblick der Engel'; thes hereren forahta (Ο IV 6, 12) 'die Furcht vor dem Herrn'; zi gotes thionoste (O II 6, 55) 'zum Dienst an Gott'. Der Genitiv mit der Bedeutung des Objekts kommt in der althochdeutschen Periode selten vor. 13 Noch spärlicher sind in den althochdeutschen Texten der attributive Genitiv mit der Bedeutung der Eigenschaft bzw. der Qualität sowie der explikative Genitiv vertreten. Vgl. dennoch: thaz sines lichamen hus (Ο II 11, 44) 'das Haus seines Körpers'; mura dero sundon (Notk II 53, 6) 'die Mauer der Sünden' u. ä. B. D e r G e n i t i v als partitives S u b j e k t Als partitives Subjekt tritt der Genitiv in Sätzen auf, in denen ein bestimmtes oder unbestimmtes Numerale die Position des Prädikativs einnimmt; zum Beispiel: uuanta iro uuarun fiara (Ο IV 28, 3) 'da ihrer vier waren'; Thero iaro uuas in themo zimboronne ... fiarzug inti sehsu (Ο II 11, 36) 'Der Jahre war(en) im Zimmern (des Hauses) ... sechsundvierzig (vergangen)'. Ursprünglich spielte der Genitiv die Rolle des Attributs zum Numerale, und der 13
Winkler behauptet, daß die Bedeutung des Objekts für den Genitiv in den altgermanischen Sprachen überhaupt untypisch war im Gegensatz zur Bedeutung des Subjekts, die enger zusammenhängt mit der Grundbedeutung des attributiven Genitivs, und zwar mit der Bedeutung der Zugehörigkeit, die ins Abstrakt-Ablative hinüberspielt ( W i n k l e r , H.: Op. cit. S. 316, 323).
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Satz gehörte wahrscheinlich zur Klasse der nominativischen Existenzialsätze. Dann aber verfestigte sich nach und nach die Wortstellung, bei der der Genitiv, als Ausdruck des Ausgangspunktes des Gedankens in dessen Entfaltung an der Satzspitze stehend, in Begleitung des finiten Verbs einen selbständigeren Charakter annahm und in Analogie zu anderen zweigliedrigen Satztypen als Satzsubjekt empfunden wurde. Diese komplizierte wechselseitige Abhängigkeit zweier Satzglieder stellt ein gemeinindoeuropäisches Phänomen dar; allerdings ist es nicht auszuschließen, daß sie sich in den indoeuropäischen Einzelsprachen nach ihrer Aussonderung herausgebildet hat. An den attributiven Genitiv schließt sich unmittelbar der ebenso stark verbreitete Genitiv bei der Negation niowiht (dem künftigen nicht) an, deren Bestandteil das Substantiv wiht 'Ding' ist, sowie der Genitiv bei den Pronomen waz, swaz, wer u. dgl. Als adnominal ist auch der Genitiv beim undeklinierbaren Wort filu zu betrachten. C. Der Genitiv b e i m A d j e k t i v Der Kasus des einem Adjektiv untergeordneten Substantivs ist im Althochdeutschen vornehmlich der Genitiv. Behaghel weist darauf hin, daß eine gewisse Anzahl von Adjektiven bereits im Indoeuropäischen den Genitiv regierte (ahd. fol, sat, wis); hinzu kamen einige gemeingermanische adjektivierte Substantive (vom Typ alowaldo, gimacho u. ä.). Nach Behaghel verbinden sich mit dem Genitiv die Adjektive folgender semantischer Gruppen: a) mit den Bedeutungen 'weise', 'wissend', 'glaubend', vgl. anawart thero wego (Ο IV 15, 14) 'der Wege kundig'; b) mit der Bedeutung des Besitzes, vgl. richa des ... kuotes (Notk II 75, 8) 'des Gutes Reiche'; c) mit der Semantik des Fehlens von etwas, vgl. ital ubilis (Notk II 300, 20) 'des Bösen bar'; d) mit der Semantik der Macht, der Beherrschung, vgl. therero dato giweltig (Ο V 20, 18) 'dieser Taten mächtig (fähig)'; e) mit den Bedeutungen der Barmherzigkeit, Güte, Großmut, vgl. sines koldes milte (Notk I 63, 28) 'mit seinem Gold freigebig'; f) mit der Semantik des Begehrens, der Bemühung um etwas, vgl. flizig gotes worto ( O l l , 107) 'sich des Wortes Gottes befleißend'; g) mit der Semantik der Ähnlichkeit oder Gleichheit, vgl. Adames kelicho (Notk II 21, 20) 'Adam ähnlich'; h) mit der Semantik der Würde und des Verpflichtetseins, vgl. thes wari wirdigjoh harto filu sculdig (Ο IV 19, 69) 'wäre dessen würdig und in großem Maße schuldig'; i) mit der Semantik, die mit den Bedeutungen der Verben übereinstimmt, die mit dem Objektsgenitiv einhergehen (vorwiegend seit Notkers Zeit). Vgl. zum Beispiel die Verbindung des Genitivs mit dem Adjektiv gilos, die semantisch der Verbindung des Genitivs mit dem Verb losen entspricht: got ist alles thir gilos (O III 24, 18) 'Gott befreit dich von allem'. Manchmal korrelieren
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die Adjektive, die den Genitiv regieren, mit gleichstämmigen Substantiven, was die Übereinstimmung der Rektion bedingt. In allen diesen Fällen hat das Adjektiv nach Behaghel syntaktisch relativen Charakter, d. h. es bedarf der Ergänzung durch ein Substantiv, ohne die die Satzkonstruktion nicht abgeschlossen sein würde. Dies trifft wohl nicht für alle Belege, die Behaghel anfuhrt, zu, vgl. zum Beispiel das ohne substantivische Begleitung verwendete Adjektiv milte in sälige die milte (Ο II 16, 5) 'selig (sind) die Barmherzigen'. Allerdings besteht die Behauptung Behaghels in bezug auf die meisten von ihm als syntaktisch relativ charakterisierten Adjektive zu Recht. Der Genitiv verbindet sich im Althochdeutschen nicht selten auch mit syntaktisch absoluten Adjektiven. Behaghel unterscheidet drei Typen semantischer Beziehung des Genitivs zum Adjektiv, und zwar spricht er von Genitiven a) mit kausaler Bedeutung, insbesondere solchen, die innere Zustände („Gemütsbewegungen") bezeichnen, vgl. fro thes dodes (O III 26, 51) 'des Todes froh'; blidisulichera lera (Ο II 15, 16) 'über solche Lehre erfreut'; b) mit der Bedeutung der Beziehung; Behaghel definiert diesen Fall folgendermaßen: „das Adj. wird verbunden mit einem Gen. nicht persönlicher Bezeichnungen, um auszudrücken, daß das Adjektiv sich verwirklicht mit Bezug auf die im Gen. stehende Größe", 14 vgl. bistu muates lint (Ο II 7, 36) 'du bist sanftmütig'; c) mit der Semantik des räumlichen und zeitlichen Maßes, vgl. siu was alt zwelifjaro (Tat 60, 16) 'sie war zwölf Jahre alt'. D. Der adverbale Gebrauch des Genitivs Der adverbale Gebrauch des Genitivs war im Althochdeutschen außerordentlich vielfältig. In dieser Hinsicht übertraf die deutsche Sprache, insbesondere in den frühesten Etappen ihrer Entwicklung, die anderen germanischen Sprachen. In diesem Sinne äußerte sich seinerzeit Grimm, später wurde dasselbe von Winkler ausdrücklich betont. 15 Eine der wichtigsten Beobachtungen zum adverbalen Gebrauch des Genitivs besteht darin, daß beim gleichen Verb unterschiedliche Objektskasus vorkommen. Beispielsweise begegnet man als Objekt beim Verb huoten 'behüten, bewahren' in einem und demselben Denkmal - und in nächster Nähe zueinander - bald dem Genitiv, bald dem Akkusativ. In einer Schrift von Notker steht bei diesem Verb im gleichen Textabschnitt nach dreimaliger Verwendung der genitivischen Form iro einmal auch der Akkusativ sie.]6 Immerhin hängt die Wahl des Objektskasus vielfach von der konkreten Bedeutung des Verbs im betreffenden Kontext ab, vgl. hören mit dem Akkusativ in der Bedeutung 'hören' und mit dem Dativ in der Bedeutung 'Gehör schen-
14 15 16
B e h a g h e l , O . i O p . c i t . S . 557. G r i m m, J.: Op. cit. S. 809; W i η k 1 e r, H.: Op. cit. S. 520f. ΓκριιΐΓορΗ,Ρ.3.:Ορ. cit. S. 109.
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ken, gehorchen'. 1 7 Wesentlich ist auch die eventuelle gleichzeitige Verbindung des Verbs mit zwei oder sogar mit drei Objekten. So ist der Genitiv beim Verb hören als einziges Objekt ungebräuchlich, aber in der „dreigliedrigen" Konstruktion kommt er vor, vgl. Dero beto gehörte er mih (Notk II 48, 13) 'was dieses Gebet angeht, erhörte er mich'. Die Abhängigkeit des Kasusgebrauchs - vor allem des Gebrauchs des Genitivs - von der verbalen Homonymie und von der Anzahl der Kasus in der verbalen Gruppe wurde eingehend von Girägorn untersucht, die dabei von Vinogradovs Auffassung der verbalen Fügungspotenzen in der russischen Sprache ausging. Das Vorhandensein bestimmter Regeln der Kasus Verteilung in der verbalen Gruppe ist unbestreitbar, und doch kann man in den althochdeutschen Texten recht oft Schwankungen beobachten, wie sie das Beispiel des Verbs huoten demonstriert. Fast alle Forscher, die sich mit dem Genitiv im Althochdeutschen befaßten, erkannten diesem Kasus zwei Hauptbedeutungen zu, die partitive und die ablativisch-instrumentale; die letztere wurde von vielen aus dem hypothetischen genetischen Zusammenhang des Genitivs und des Ablativs hergeleitet. Aber diese beiden Grundbedeutungen erschöpfen keinesfalls das semantische Spektrum des adverbalen Genitivs im Althochdeutschen. Einige Forscher haben deshalb eine detailliertere Klassifikation vorgeschlagen. Das Äußerste in diesem Sinne hat wohl Mourek geleistet, der in seiner Beschreibung des Sprachstofifs sehr kleine Gruppen von Verben heraushebt, von denen einige aus einem einzigen Verb bestehen. 18 Behaghel unterscheidet außer dem partitiven Typ - thaz sie ... thes wazares giholoti (Ο II 14, 14) 'daß sie (etwas) Wasser holte'; bringan thero fisga (Ο V 13, 35) '(einige) Fische bringen' - fünf weitere Typen von Objektsbedeutungen, die mit folgenden Gruppen von Verben zusammenhängen: a) Verben, die eine zielgerichtete Handlung bezeichnen, vgl. sie batun fleiskes (Notk II 449, 18) 'sie baten um (etwas) Fleisch'; b) Verben, die das Verfehlen eines Ziels, das Abtrennen, Berauben, Nichtvorhandensein bezeichnen, vgl. mistun siu thes kindes (Ο I 22, 20) 'sie vermieten ein Kind (waren kinderlos)'; c) Verben, die die Nutzung, das Genießen (bzw. das Gegenteil davon) bezeichnen, vgl. himilriches nioton (Ο I 28, 15) 'das Himmelreich genießen'; d) Verben, die eine Wertung bezeichnen; dieser Gruppe mangelt es bei Behaghel an Bestimmtheit; er rechnet dazu Verben des Typs tihan, bemalon 'bezichtigen, anklagen', vgl. tes si bemalot was (Notk I 120, 11) 'dessen sie beschuldigt wurde'; hier haben wir es eher mit der Semantik der Schuldzuweisung zu tun; e) einige Verben des Sprechens, vgl. minero sundon iehen (Notk Ii 103, 19) 'von meinen Sünden sprechen'. 19 Von besonderem Interesse sind syntaktische Konstruktionen, in denen der Genitiv weder von einem Verb noch von einem Substantiv an sich, sondern 17 18 19
Ibid. S. 62. M o u r e k , V.E.: Op. cit. 1895. S. 4 6 - 4 8 . B e h a g h e l , 0 . : 0 p . cit. S. 5 6 4 - 5 7 4 .
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von der Verbindung aus Verb und Substantiv abhängt. Zum Beispiel erfordert die phraseologische Wortgruppe gouma neman 'Beachtung schenken' als ganzheitliche lexikalische Einheit den Genitiv. Die phraseologische Gruppe, von der der Genitiv abhängt, tritt als Prädikat auf. Der Genitiv kann auch zu einer freien verbal-nominalen Verbindung (dem Satzsubjekt mit dem verbalen Prädikat, dem finiten Verb mit einem Objekt u. ä.) treten. In den Fällen dieser Art ist der Genitiv selbst syntaktisch freier, er wird nicht von einem Einzelwort regiert, sondern hat den Status eines mehr oder weniger selbständigen Satzgliedes. Weiter unten werden wir darauf etwas ausführlicher eingehen. Girägorn und einige andere Forscher 20 sprechen von zwei Hauptbedeutungen des Objektsgenitivs, der partitiven und der ablativischen (die mit der instrumentalen Bedeutung zusammenhängt 21 ), wobei eine besondere Gruppe von Verben mit den Bedeutungen psychischer Tätigkeiten und Zustände herausgehoben wird. 22 Diese verbale Gruppe ist im Althochdeutschen tatsächlich dermaßen gewichtig, daß sie in der Klassifikation der Verben mit dem Genitiv eigens vertreten sein muß. Zu dieser Gruppe gehören beispielsweise die Verben gilouben, sih gilouben, huggen, thingen, wänen, thenken, thunken, wuntarön. Indessen erweist sich bereits im Althochdeutschen der Gebrauch des Objektsgenitivs bei den Verben fast aller semantischen Gruppen als instabil. Der Genitiv ist in gewissem Sinne fakultativ, denn vielfach konkurrieren mit dem Genitiv als Ergänzung - insbesondere in Sätzen mit zwei Objekten - andere Kasus und präpositional angefügte Substantive. Dies bezieht sich auf den Genitiv bei den Verben bitten, geban, ezzan u. a. Die sehr interessante, einsichtvolle Arbeit von Girägorn macht es deutlich, daß das Problem der allmählichen Verdrängung des Objektsgenitivs bei vielen Verben schon in bezug auf das Spätalthochdeutsche aktuell ist. „Die semantische Analyse von Verben mit doppelter Rektion hat gezeigt, daß der Genitiv und der Akkusativ als synonyme Formen in gleicher Funktion auftreten; der Akkusativ ersetzt den Genitiv (allerdings steht die Bedeutung des Akkusativs auf einem höheren Abstraktionsniveau), und das Gleiche kann man hinsichtlich der präpositionalen Konstruktionen behaupten." 23 Girägorn meint, daß der Objektsgenitiv bei einer Reihe von Verben, und zwar bei geban, ezzan, gilouben und noch einigen, wenn sie mit nur einem Objekt gebraucht werden, schon in der althochdeutschen Periode durch andere Formen ersetzt wird. Man darf aber nicht außer acht lassen, daß die entsprechenden Schwankungen der verbalen Rektion mit dem Ausklang des Althochdeutschen nicht zu Ende gehen, sondern noch jahrhundertelang fortdauern.
20 21 22 23
B a l d e s , H.:Op. cit. S. 50. r n p m r o p H , P . 3 . : O p . cit. S. 40. Ibid. S. 81. Ibid. S. 210-211. Über den breiten Gebrauch des Objektsgenitivs bei reflexiven Verben s. flßjiOHCKas, O.A.: Boseparaas opMa marojia β HevieuKOM H3biKe. Αβτορβφβρβτ KaHÄHaaTCKOH ÄHCcepTauHH. JleHHHrpaji 1953. S. 16.
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E. Die prädikative Funktion des Genitivs Als Prädikativ tritt der Genitiv in Verbindung mit den kopulativen Verben sin und werdan auf. Der prädikative Genitiv drückt folgende Bedeutungen aus: a) die Zugehörigkeit, vgl. ni bin ih thero manno (Ο I 27, 33) 'ich gehöre nicht zu diesen Menschen'; ich bin thesses thiotes (Ο II 14, 18) 'ich bin aus diesem Volk'; b) den Besitz, vgl. truhtenis ist diu erda (Notk II 74, 13) 'die Erde ist des Herrn'; c) eine Eigenschaft bzw. einen Zustand, vgl. die sint truobes muotes (Notk II 98, 27) 'sie sind betrübten Mutes'. F. Die adverbiale Funktion des Genitivs Im Althochdeutschen war der adverbiale Genitiv stark vertreten und hatte diverse Sonderbedeutungen. Man kann folgende Arten der Adverbialbestimmungen im Genitiv unterscheiden: a) die Adverbialbestimmung des Ortes, vgl. er fuar sar thera ferti ( O l 19, 13) 'er machte sich sofort auf diesen Weg'; b) die Adverbialbestimmung der Zeit; besonders gebräuchlich ist die alte Form nahtes', häufig begegnet man der Wortverbindung nahtes inti tages (Tat 53, 9); der Genitiv wird oft von einem Attribut begleitet, vgl. thes thritten dages (O III 13, 9) 'am dritten Tag'; c) die Adverbialbestimmung der Art und Weise bzw. des Mittels. Diese Funktion weist oft Berührungspunkte mit anderen Funktionen des Genitivs auf. Der Adverbialbestimmung der Art und Weise steht der instrumentale Genitiv bei den Verben des Sprechens nahe, vgl. zalt in iz harto ofonoro worto (Ο IV 1, 17) 'erzählte ihnen das mit sehr offenen Worten'. Mit dem lokativen Genitiv hängt der Gebrauch dieses Kasus in der Bedeutung der Adverbialbestimmung der Art und Weise zusammen, vgl. dannan fuaren sie iligero ferte (Notk I 838, 5) 'von dort machten sie sich eilig auf den Weg' (buchstäblich: 'eiligen Weges'). In einigen Fällen - vor allem bei Otfrid - wird dem Genitiv die Bedeutung einer Begleithandlung verliehen, die im instrumentalen Sinne verstanden werden kann, vgl. dua thiu selbun thing ellu giborgenero werko (Ο II 20, 5) 'tue alle diese Dinge im Geheimen' (buchstäblich: 'mit verborgenen Handlungen'). 24 Allmählich beginnen Adjektive ohne Bezugssubstantiv die Funktion der Adverbialbestimmung der Art und Weise zu erfüllen, vgl. tribent sie tweres iro gelüste (Notk II 239, 29) 'ihre Gelüste treiben sie schräg (auf die falsche Bahn)'; d) die Adverbialbestimmung der Beziehung und des Grundes. Diese Art der Adverbialbestimmungen im Althochdeutschen hat eine besondere Bedeutung. Sie stellt wohl das interessanteste und wichtigste Phänomen im Bereich des Genitivgebrauchs in dieser Epoche dar.
24
Vgl. B e h a g h e l , 0 . : 0 p . cit. S. 602.
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Der Genitiv bezeichnet in diesem Fall eine Erscheinung (manchmal, doch selten eine dingliche), die in einer abstrakt gefaßten Beziehung zur Handlung bzw. zum Zustand steht, die bzw. den das Prädikat zum Ausdruck bringt. Annäherungen an die Objektsbedeutung sind hier mitunter stark ausgeprägt. So bezeichnen im Satz ziu sorget ir thanne thes andares (Tat 38, 3) 'weshalb sorgt ihr euch denn um das andere' die Worte thes andares gleichzeitig das, worauf die („innere") Handlung sorgen gerichtet, und das, worauf die Handlung in allgemeinerer Weise bezogen ist, aber auch, wie Behaghel bemerkt, den Grund der Handlung (bzw. des Zustandes). Nach unserer Meinung dominiert hier allerdings die Semantik des Objekts. Vielfach ist dagegen die Semantik der reinen Bezogenheit vorherrschend. Vgl. beispielsweise den Satz thero selbun meindato thig ich ginada thina (Ο V 23, 35) 'in bezug auf jene Verbrechen bitte ich um Deine Gnade'. Sehr oft ist die allgemeine Bezogenheit mit der kausalen Bedeutung verflochten. Wenn diese entschieden dominiert, kann man den Genitiv direkt als Adverbialbestimmung des Grundes bezeichnen. Behaghel spricht vom Genitiv der Ursache bei den folgenden Gruppen von Verben: a) bei Verben, die eine Gemütsbewegung bezeichnen; Behaghel fuhrt eine Reihe von dazugehörigen Verben aus Otfrid an: angusten, sih belgan - irbelgan, sih bilden, egison, forahten - sih irforahten, sih frewen, hintarqueman, irqueman, sih menden, mornen, sih seamen, suorgen, sih wuntaron; b) bei Verben mit der Bedeutung 'sterben', vgl. hungeres irsterbent (Notk II 629, 7) '(sie) sterben vor Hunger'; c) bei Verben mit den Bedeutungen 'büßen' und 'büßen lassen' sowie mit den Bedeutungen des Lobes oder des Tadels, vgl. ist er sinero undato girefsit (Ο IV 23, 12) 'er ist wegen seiner Untaten gescholten'; sehr oft berührt sich in solchen Fällen die Adverbialbestimmung des Grundes mit der Semantik des Genitivobjektes; d) beim Verb antwurten, vgl. do antwurta ih iro des (Notk 1 260, 11) 'da antwortete ich ihr darauf (bezüglich dessen)'; e) beim Verb spilön, vgl. tisses spiles spilon ich (Notk I 60, 24) 'ich spiele dieses Spiel'; allerdings steht die Semantik des Objekts in Fällen dieser Art im Vordergrund, nicht selten weist der Genitiv dabei - wie im obigen Beispiel - eine Analogie mit dem Akkusativ des Inhalts auf; f) bei anderen Verben; Behaghel führt zwei ahd. Beispiele an: thaz siu unreini thera giburti fiarzug dago wurti ( O l 14, 12) 'daß sie wegen der Geburt vierzig Tage unrein (gehalten) werde' und er arbeitennes muodoti (Notk II 359, 20) 'er würde durch Arbeit ermüden'. Der Hinweis auf „andere Verben" ist ein offensichtliches Zeugnis dafür, daß der kausale Genitiv im Althochdeutschen durch seine Verbindung mit einer Reihe spezifischer verbaler Gruppen keine erschöpfende Erklärung finden kann. Bezeichnenderweise begegnet man der genitivischen Adverbialbestimmung des Grundes in Sätzen nicht nur mit verbalem, sondern auch mit nominalem Prädikat. Das nominale Prädikat findet sich beispielsweise im ersten von den zwei Belegen Behaghels in der Gruppe „ f . Eine beträchtliche Anzahl von Belegen für den Gebrauch des Genitivs bei Adjektiven, die Behaghel im betreffenden Abschnitt anfuhrt, zeigt ebenfalls den kausalen Geni-
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tiv beim nominalen Prädikat; vgl. Lazarus ther guato ward kumigßlu drato kreftiger suhti ioh grozer ummahti (O III 23, 5 - 6 ) 'der gute Lazarus wurde ganz erschöpft durch schwere Krankheit und große Schwäche'. Der Genitiv in der Bedeutung der Adverbialbestimmung des Grundes kommt also in Sätzen mit unterschiedlichen Formen des Prädikats vor und verbindet sich unmittelbar bald mit einem Verb, bald mit einem Adjektiv, eigentlich mit dem Prädikat unabhängig von seiner Form und somit gleichsam mit dem übrigen Bestand des Satzes im ganzen. Dies gilt gleicherweise für den Genitiv der allgemeinen Bezogenheit. Besonders deutlich tritt der Ausdruck der Bezogenheit und meist gleichzeitig des Grundes im Fall des Genitivs des Pronomens der 3. Person Sg. es und des Genitivs des neutralen Demonstrativpronomens thes in Erscheinung. Es finden sich in althochdeutschen Texten Fälle, in denen die pronominale genitivische Form weder von einem Verb noch von einem Adjektiv oder Substantiv regiert wird und dabei auf eine - mitunter sehr komplexe - Erscheinung hinweist, die in der einen oder anderen Beziehung, vor allem in der kausalen, zu der Handlung (bzw. zu dem Zustand) steht, die (bzw. der) im Satz zum Ausdruck kommt. Die spezifische Funktion dieser pronominalen Formen hat vielfach die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich gezogen. 2 5 Einige Belege: thes uns iamer ist thiu baz (Ο II 15, 15) 'deswegen ist uns hinfur desto besser'; tes nemag imo der scaz ze guote werdan (Notk I 866, 20) 'darum wird ihm der Schatz nicht zugute kommen'. Auf eine bestimmte Erscheinung deuten die Genitive es, thes in ganz allgemeiner Weise hin. Nicht selten gelten die von diesen Wortformen ausgedrückten Hinweise komplexen Sachverhalten, die im Kontext durch ganze Sätze umschrieben sind. Die abstrakte Art des Hinweises, den die Wortformen es, thes ausdrücken, ist auf die Verallgemeinerungspotenz der neutralen Pronomina zurückzuführen: Sie korrelieren im Text nicht nur mit Bezeichnungen einzelner Gegenstände bzw. Erscheinungen, sondern sie können auch Sachverhalte unterschiedlichen Charakters zusammenfassend „wiederaufgreifen" (vgl. die verallgemeinernde Funktion der Pronomina das und - insbesondere - es in der Gegenwartssprache). Es wirken hier also die verallgemeinerten grammatischen Bedeutungen zweier Kategorien zusammen, des Genitivs in einer seiner im komplizierten Verband einbegrifFenen Funktionen und des neutralen Pronomens.
III Die verallgemeinerte Bedeutung des Grundes und der abstrakten Bezogenheit, die wir in vielen Fällen des syntaktisch freien Genitivgebrauchs, besonders bei den Formen es und thes, beobachten, ist eng verbunden mit einer
25
Vgl. B e h a g h e l , O.: Op. cit. S. 595. Im „Deutschen Wörterbuch" der Brüder Grimm ist der Genitiv des in seiner kausalen Bedeutung als ein eigenes Lemma präsentiert, dabei ist auf die besondere Gebrauchshäufigkeit dieser Form in der mittelhochdeutschen Zeit hingewiesen (Bd. II, 1, Sp. 1027).
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Reihe anderer Bedeutungen des Genitivs. Einerseits hängt die kausale Bedeutung zweifellos mit der instrumentalen Bedeutung zusammen - wie mit der Gesamtheit der Funktionen überhaupt, die manche Forscher auf die primäre ablativische Bedeutung des Genitivs zurückfuhren. Andererseits ist die Bedeutung der allgemeinen Bezogenheit mit der grundlegenden abstrakten Bedeutung des adnominalen Genitivs, der Bedeutung der Zugehörigkeit, verbunden. Die Zugehörigkeit im weiten Sinne des Wortes und die Bezogenheit kommen als Begriffe einander sehr nahe, da die beiden die gegenseitige Bindung von Elementen der Wirklichkeit aneinander widerspiegeln. Die allgemeine Bezogenheit kann man als eine Bedeutung charakterisieren, die die vermittelnde Rolle spielt zwischen den Bedeutungskreisen des adverbalen und des adnominalen Genitivs. Die Entwicklung dieser Bedeutung betrachten wir als einen der wichtigsten Vorgänge im Bereich des Genitivgebrauchs; sie macht sich schon im Althochdeutschen bemerkbar und erlebt im Mittelhochdeutschen ihren Aufschwung. Was hat die mächtige Entfaltung der betreffenden Genitivfunktion bedingt? Wir glauben, daß die Haupttriebkraft nicht, jedenfalls nicht nur in der Entwicklung des Denkvermögens zu suchen ist, die immer größere Anforderungen an den sprachlichen Ausdruck komplizierter logischer Beziehungen, unter anderem der kausalen Beziehung, stellte, wie dies auf den ersten Blick am plausibelsten erscheinen könnte. Die kausale adverbiale Funktion hätten auch andere syntaktische Formen übernehmen können. Eine wichtige Voraussetzung dafür, daß gerade der Genitiv in dieser Funktion so breit genutzt wurde, ergab sich natürlich aus der Möglichkeit kausaler Umdeutung der primären ablativisch-instrumentalen Bedeutung des Genitivs. Jedoch wurde die Verwendungsbreite und -häufigkeit des Genitivs in der Funktion der Adverbialbestimmung des Grundes und als Ausdruck der allgemeinen Bezogenheit im Mittelhochdeutschen dadurch entscheidend beeinflußt, daß eine andere Form, die im Althochdeutschen dem Ausdruck dieser Bedeutungen diente, bereits im Althochdeutschen aus ihrer Position im Sprachsystem nach und nach verdrängt wurde. Es ist der Instrumental, den wir meinen. Eben der Instrumental des neutralen Demonstrativpronomens (thiu) in Verbindung mit einigen Präpositionen (bi thiu, mit thiu) diente im Althochdeutschen als Hauptmittel des Ausdrucks der Bedeutungen, von denen hier die Rede ist. Die Fügungen des Typs bi thiu, die bezeichnenderweise oft zusammengeschrieben wurden (bithiu), fungierten damals als wichtige konjunktionale Satzelemente in allgemein-koordinativer und kausaler Funktion; vgl. Uuanu sie ... iz bi thiu datin (Ο I 27, 11) '(ich) glaube, sie taten es darum'. Der Untergang des Instrumentals gab den Weg für eine starke Ausbreitung des Genitivgebrauchs in den betreffenden Funktionen frei. Während beispielsweise in Otfrids Evangelienharmonie (Mitte des 9. Jahrhunderts) die Instrumentale des Typs bithiu die Genitivformen thes in ihrer kausalen Funktion überwiegen, ist schon in den frühesten Denkmälern der mittelhochdeutschen Periode die Form des in dieser syntaktischen Rolle vorherrschend. Immerhin stößt diese Form auf Konkurrenz, vor allem von Seiten der Verbindungen des abstrakt-verallgemeinemden Adverbs dar mit Präpositionen, besonders der Fügung dar umbe, vgl. dar umbe muosen der degene vil Verliesen den lip
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(Nib 2, 4) 'darum sollten viele Ritter das Leben verlieren'. Die Formen mit dar kamen allerdings seltener als die deutlich ausgeprägten Genitive vor. In der Forschung finden sich mehrere Hinweise auf den Zusammenhang zwischen dem Absterben des Instrumentals und der Entwicklung des Genitivs. Man interpretiert dies als Folge des allgemeinen „Ersatzes" des Instrumentals durch den Genitiv, was nach der Meinung vieler Forscher eine der charakteristischen Verschiebungen im adverbalen Kasusgebrauch überhaupt darstellt. Wenn man dieser Meinung zustimmt, so ist dabei der wesentliche Umstand nicht zu vergessen, daß dieser Vorgang, der „Ersatz" des Instrumentals durch den Genitiv, schon in einer sehr frühen Zeit, noch vor dem Entstehen der ersten altdeutschen Schriftdenkmäler verlief. Indessen setzte die Verdrängung des Instrumentals durch den Genitiv in der spezifischen Sphäre der pronominalen Konstruktionen, die dem Ausdruck der meist in die Kausalität hineinspielenden allgemeinen Bezogenheit dienen, viel später ein, in einer Zeit, als die restlichen sonstigen Verwendungen des Instrumentals (in der Bedeutung des „Werkzeugs") dem präpositionalen Dativ gewichen waren. Einerseits hat also der Verfall des Instrumentals die Entwicklung des Genitivs beeinflußt. Andererseits aber steht diese Entwicklung im Zeichen der eigenen Tendenz des Genitivs zur Entfaltung seiner funktionalen Potenzen, einer Tendenz, die für die germanischen Sprachen im allgemeinen typisch war und die sich besonders stark in altdeutschen Dialekten auswirkte. Obwohl wir für diese Tendenz keine Erklärung vorschlagen können, unterliegt sie an sich keinem Zweifel, und sie muß hier tatsächlich wirksam gewesen sein. Eine wichtige Voraussetzung für den Wandel des Genitivs in Richtung auf die Funktion der allgemeinen Bezogenheit und der Kausalität hin wurzelte in diesem Kasus selbst, in den Potenzen seiner organischen inneren Entwicklung. Übrigens muß dabei unter allen sonstigen Umständen seine ursprüngliche Nähe zum Instrumental eine bestimmte Rolle gespielt haben. Im Gegensatz zu den Forschern, die dem Genitiv eine einheitliche verallgemeinerte grammatische Bedeutung nicht nur im adnominalen, sondern auch im adverbalen Bereich seiner Verwendung absprechen, meint Winkler, daß der Genitiv im Althochdeutschen unter den adverbalen Objektskasus einen besonderen Platz einnimmt, da er hier eine eigene verallgemeinerte Bedeutung aufweist. Allerdings verbindet Winkler diese Bedeutung mit einem spezifischen Typ verbaler Handlung, und zwar mit dem Eintreten eines emotionalen subjektiven Zustandes: „Während der accusativ das object bloss als solches, der dativ als besonders l e b h a f t b e t r o f f e n e s hervorhebt, macht man bei dem genetivobject gewissermassen emphatisch wie auf etwas eigentlich unerwartetes aufmerksam, fur das g l e i c h w o h l hier räum sei; der eindruck der Spannung in vielen solchen fallen kann nicht weggeleugnet werden." 26 Im Zusammenhang mit dieser Bestimmung richtet Winkler sein Augenmerk in erster Linie auf den Gebrauch des Genitivs mit den Verben des Beherrschens, des Denkens, des Wünschens, des Ergreifens, und er fuhrt diese Gebrauchsweise des Genitivs auf die gemeinindoeuropäische Sprachstufe zu26
W i n k l e r , H.:Op.cit.S. 333.
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rück; seine Aufmerksamkeit gilt auch deutschen Ausdrücken der Art wie schone mein, vergiß mein nicht, freue dich deines Triumphes, harre meiner, spotte seiner nicht, bemächtige dich ihrer. Die Fragwürdigkeit dieser Deutung der verallgemeinerten Bedeutung des Objektsgenitivs, jedenfalls in Anwendung auf das Deutsche, ist nicht zu übersehen. Es ist kaum möglich, das Moment des Unerwarteten, des Überraschenden in der überwiegenden Mehrheit der von uns oben angeführten Belege für den Gebrauch des Genitivs in der Funktion des Objekts und in anderen adverbalen Funktionen, einschließlich des freien Genitivs, zu erkennen. Es ist gewissermaßen zutreffend, daß der Genitiv, der adverbale im direkten Sinne des Wortes wie der syntaktisch freiere, oft an Wörter angefugt ist, die innere Zustände des Menschen bezeichnen, an Verben, die eine mentale Handlung oder einen psychischen Zustand, an Adjektive, die eine Gemütsverfassung u. ä. zum Ausdruck bringen. Aber Winkler meint ja etwas anderes, nämlich das emotional gesteigerte Verhältnis gegenüber einem Objekt, das unerwarteterweise wahrgenommen wird (von wem? - vom Satzsubjekt oder vom Sprecher?). Indessen ist Winklers Bestreben, eine mehr oder weniger einheitliche bzw. die Hauptbedeutung des adverbalen (einschließlich des freien) Genitivs, die spezifisch genitivische adverbale semantische Nische, festzustellen, an sich zweifellos sinnvoll. Wir sind aber der Meinung, daß dieser spezifisch genitivische Verwendungsbereich nichts zu tun hat mit den Phänomenen der emotionalen Steigerung und des nicht vorausgesehenen Eintretens eines „Objekts" ins subjektive Wahrnehmungsfeld, sondern der Genitiv drückt die allgemeine - genauer: abstrakt gefaßte, nicht weiter differenzierte - Bezogenheit des vom Prädikat wiedergegebenen Inhalts einer Handlung oder eines Zustandes auf eine Erscheinung aus, die mitunter an sich sehr komplex ist. Die Bedeutung der allgemeinen Bezogenheit erschöpft natürlich nicht das gesamte semantische Potential des adverbalen Genitivs. Beispielsweise hieße es den Bogen überspannen, wenn wir diese Bedeutung in ihrer Unmittelbarkeit dem klassischen partitiven Genitiv zuschreiben wollten. Immerhin ist auch in diesem Fall eine gewisse Bedeutungsschattierung zu finden, die von der allgemeinen Bezogenheit ausgeht: Eine partielle Einwirkung auf den Gegenstand bedeutet eben eine Art Beziehung zwischen Handlung und Gegenstand, die sich von dem vollen Umfassen des Objekts durch die Handlung, von seiner restlosen Bewältigung unterscheidet; das letztere setzt eine umfassendere Wechselwirkung von Subjekt und Objekt voraus, als dies bei dem Verhältnis der einfachen Bezogenheit der Fall ist. Am wichtigsten bei alledem ist, daß der Genitiv mit seiner Bedeutung der allgemeinen Bezogenheit tatsächlich eine eigene semantische Nische im Bereich des adverbalen (obligaten und freien) Gebrauchs findet, die in den germanischen Sprachen vorher durch keine darauf spezialisierte Kasusform besetzt war. Der Genitiv, der diese Bedeutung ausdrückt, bekommt damit eine Eigenschaft, die ihn von dem Dativ und dem Akkusativ unterscheidet, deren Objektsbedeutungen auf einer grundsätzlich anderen Basis beruhen. Allerdings ist die Semantik des Akkusativs und insbesondere des Dativs in anderen germanischen Sprachen sehr kompliziert und teilweise widersprüch-
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lieh. So erschwert zum Beispiel die überaus breite Verwendung des Dativs im Altisländischen seine Bestimmung als Kasus des obliquen Objekts mit der Bedeutung der „Hinwendgröße". Nicht zufällig ist in der historisch-syntaktischen Forschung so viel die Rede vom instabilen und widersprüchlichen Charakter des Systems der Objektskasus in den altgermanischen Sprachen. Und gerade darum scheint uns die Tatsache von besonderer Wichtigkeit zu sein, daß sich der adverbale Genitiv im Mittelhochdeutschen so eng mit der spezifischen Bedeutung der allgemeinen Bezogenheit verbindet. Damit befreit er gleichsam die anderen Objektskasus, vor allem den Dativ, von einer Reihe semantischer Nebenfunktionen und gewährt diesen Kasus die Möglichkeit, sich als Träger in hohem Maße deutlich ausgeprägter verallgemeinerter grammatischer Bedeutungen zu konstituieren, dem Akkusativ als Kasus des direkten Objekts zur Bezeichnung des Gegenstandes, der unmittelbar und ganzheitlich von der Handlung erfaßt wird, und dem Dativ als Kasus des indirekten Objekts zur Bezeichnung des „Adressaten" der Handlung. Die verschärfte gegenseitige Absonderung der Grundbedeutungen des Akkusativs und des Dativs ist wohl einer der Faktoren, die für das Fortbestehen dieser Kasus im Deutschen verantwortlich sind. Dies liegt nicht nur an der Bewahrung phonetisch-phonologischer Unterscheidungen. Die Erklärung des Fortbestehens des Akkusativs und des Dativs muß man in den grundlegenden Entwicklungsrichtungen des deutschen grammatischen Systems suchen, vgl. den Untergang dieser Kasus in anderen germanischen Sprachen. Erinnern wir uns im Zusammenhang damit daran, daß das Vorhandensein einer eigenen gut ausgeprägten Genitivendung den Genitiv in einer Reihe deutscher Dialekte nicht gerettet hat. Nicht phonetische Faktoren, sondern bestimmte allgemeine Gesetzmäßigkeiten des grammatischen Wandels erwiesen sich hier als ausschlaggebend.
IV Im Vergleich mit dem Althochdeutschen ist für die mittelhochdeutsche Periode eine noch breitere Verwendung des Genitivs charakteristisch. Dies bezieht sich auf die eine oder andere Weise auf fast alle funktionalen Bereiche des Genitivs. Der attributive Genitiv wird viel häufiger in der qualitativen und in der explikativen Funktion genutzt. Der Gebrauch des Genitivs beim Adjektiv erreicht die größte Ausdehnung in der gesamten deutschen Sprachgeschichte, er wird zur Hauptform des Objekts beim Adjektiv. Der adverbale Genitiv behauptet im großen und ganzen seine Stellung im System der Objektskasus (obwohl Schwankungen bei der Kasuswahl nach wie vor zu verzeichnen sind); teilweise erweitert der adverbale Genitiv sein funktionales Feld. Viel konsequenter wird der Genitiv bei Verneinungen aller Art verwendet. Auch der prädikative Genitiv bleibt bestehen. Besonders auffällig ist die äußerst breite Verwendung des freien Genitivs. Der Genitiv kommt außerordentlich häufig in der Bedeutung der allgemeinen Bezogenheit bei Verben und Adjektiven vor, die an sich keine Objektsergän-
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zung erfordern. Sehr verbreitet ist der freie Genitiv mit kausaler Bedeutung. Die Form des, die sich besonderer Beliebtheit erfreut, drückt in erster Linie die abstrakt-ursächliche Bedeutung aus und wird zur echten Konjunktion. Betrachten wir einige mhd. Beispiele des Genitivs in der Bedeutung der allgemeinen Bezogenheit und der kausalen Bedeutung: der järe ein kint, der witze ein man (Greg 1180) 'bezüglich der Jahre ein Kind, bezüglich des Verstandes ein Mann'; der alles dinges was ein helt (Troj 6882) 'der in allem (in jeder Hinsicht) ein Recke war'; sine mohte mit ir kreften des schuzzes niht gestän (Nib 460, 3) 'mit ihren Kräften konnte sie dem Wurf nicht standhalten'. Vgl. auch Ausdrücke der Art wie des ist rät 'dagegen gibt es Mittel'. Die kausale Bedeutung drückt die Form des in ganz allgemeiner Weise aus, und diese Form wird zum grammatischen Dienstwort, zur Konjunktion. Der Form des stehen einige andere Mittel abstrakten Ausdrucks der kausalen Beziehung zur Seite. Bezeichnend sind Fälle, in denen synonyme Ausdrucksmittel nebeneinander auftreten, vgl. hey waz er tiefer wunden durch die helme
sluoc! / des muos vor im strüchen vil manic küener man: / dar umbe lop vil grözen der küene Dancwart gewan (Nib 1945, 2-4) 'hey, wie viele tiefe Wunden er durch die Helme schlug! / deswegen mußten viele tapfere Männer fallen / darum erwarb sich der kühne Dankwart großen Ruhm'. Ein solcher Wechsel und überhaupt die Wahl einer bestimmten Form kann vielfach stilistisch bedingt sein; dies kann man in einigen Fällen zum Beispiel durch das Bestreben erklären, Wiederholungen der gleichen Form zu vermeiden. Manchmal zeichnet sich aber auch ein semantischer Unterschied ab: Die Form des leitet mitunter eine naheliegendere, unmittelbarere Folge der Erscheinung ein, auf die mit dem verallgemeinernden des hingewiesen wird, während mit dar umbe eine Konsequenz gemeint ist, die einen entfernteren, gleichsam abschließenden Charakter hat - wie dies in dem oben angeführten Zitat der Fall ist. Außer der Fügung dar umbe gehören zu den wichtigsten grammatischen Mitteln des Ausdrucks des Grundes bzw. der allgemeinen Bezogenheit die Konjunktion sit sowie die Präpositionen an und umbe.17 Für sit ist in der mittelhochdeutschen Zeit natürlich die temporale Semantik typisch, diese assoziiert sich aber oft genug mit der allgemeinen Bezogenheit. In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, daß das mhd. des seinerseits oft eine temporale Beziehung ausdrückt, vgl. ez troumte, des ist mannec jär, ze Babilone ... dem kiinge (Walther 23, 11) 'dem König zu Babel - seither sind viele Jahre vergangen - träumte es . . . ' . Nach ihrer Verwendungshäufigkeit und nach der Vielfalt semantischer Beziehungen, zu deren Ausdruck die Form des verwendet wird, spielt sie - vor allem in der Dichtung - wohl die führende Rolle unter allen grammatischen Elementen mit analoger Bedeutung. Parallel zu des wird die interrogativ-relative Form wes gebraucht. Einer der charakteristischen Züge des Mittelhochdeutschen ist also der freie Gebrauch des Genitivs in kausaler Bedeutung und in der Bedeutung der allgemeinen Bezogenheit. Was sich im Althochdeutschen als eine Tendenz anbahnt, wird im Mittelhochdeutschen zur dominierenden Gesetzmäßigkeit. 27
P a u l , H.: Mittelhochdeutsche Grammatik. 16. Aufl. Halle (Saale) 1953. S. 184.
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Der Genitiv gelangt zu einer sehr breiten Verwendung nicht aus dem Grunde, daß ihn bestimmte Verben „traditionell" erfordern, sondern darum, daß er das Prädikat, genauer: die Subjekt-Prädikat-Verbindung als Ganzes, vom Standpunkt der Beziehungen, u. a. der kausalen Beziehung, aus konkretisiert, die die prädikative Basis des Satzes mit seinem Kontext verbinden. Der Genitiv erweist sich als grammatische Kategorie, die an und für sich in der Lage ist, die kausale Bedeutung und die Bedeutung der allgemeinen Bezogenheit zu vermitteln. Diese Fähigkeit des Genitivs fuhrt unter anderem dazu, daß einige konkrete Adverbialbestimmungen des Grundes bzw. der Bezogenheit mitunter in adverbähnlicher Form lexikalisiert werden. Vgl. mhd. dank.es 'freiwillig', des endes 'in dieser Richtung', gähes 'sogleich' u. ä.28 Der Ausdruck gähes ist besonders interessant, denn im Althochdeutschen hatte der Akkusativ des gleichstämmigen Femininums gähun lexikalischen Status, und er wurde häufig gebraucht, zum Beispiel in Otfrids Evangelienharmonie, parallel zu festgewordener präpositionaler Fügung in gähi. Intensiver wird überhaupt die adverbiale Funktion des Genitivs genutzt, was unter anderem die Verbreitung des Genitivs in der Rolle der Adverbialbestimmung der Art und Weise in Verbindung mit dem Infinitiv und dem negierten Partizip anzeigt. Vgl. zum Beispiel: daz ir min grüfel nament unverdienter dingen (Neidh 48, 19) 'daß ihr mir meinen Griffel unverdienterweise nahmen' (die Form dingen ist hier wahrscheinlich durch die Erfordernisse des Reims, vgl. -ingen, bedingt).29 Eine ähnliche Form hat in der Gegenwartssprache die Wendung unverrichteter Dinge. Als Adverbialbestimmung tritt auch der Genitiv mit instrumentaler Bedeutung auf (dabei handelt es sich gewöhnlich um einen Kampf). Die Bedeutung dieses Genitivs nähert sich der Adverbialbestimmung des Grundes. Vgl. si füerent roubes eine maget (Parz 122, 20) 'sie (ent)führen gewaltsam (mit Gewalt) ein Mädchen'. 30 Die Ellipse begünstigt die Verwendung isolierter Adjektive im Genitiv als Adverbialbestimmungen der Art und Weise, vgl. dem get wol sin schibe enzelt, siebtes unde krumbes (Neidh 91,4) 'sein Glücksrad ist mit ihm unter allen Umständen'. Dieser Gebrauchsweise des Genitivs entspringen Adverbien des Typs langes, ilendes u. ä. Von allen Funktionen des adverbialen Genitivs ist die lokale am spärlichsten vertreten. Sehr oft begegnet man dem partitiven Genitiv als Satzsubjekt, von dem bereits im Zusammenhang mit dem Althochdeutschen die Rede war; vgl. der chruge waren sehs (Pred II, 36) 'der Gefäße waren sechs'; der zaichen sint sümlichen ergangen (Pred II, 10) 'der Wunder sind mehrere geschehen'; do des wines da zeran (Pred II, 31) 'als der Wein zu Ende war'. Die mittelhochdeutsche Periode kann man mit vollem Recht als die Blütezeit des Genitivs bezeichnen. Dem stimmen viele Forscher auf die eine oder 28 29
30
Ibid. S. 185. Vgl. W i e s s n e r , E.: Vollständiges Wörterbuch zu Neidharts Liedern. Leipzig 1954. S. 54; Β e h a g h e I, O.: Op. cit. S. 604. Ibid. S. 603.
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andere Weise zu, vgl. zum Beispiel die Äußerungen von Ingerid Dal. 31 Über die Ursachen dieser Erscheinung kann man - wie immer in Fällen ähnlicher Art - nur schwer beweisbare Hypothesen aufstellen. Es scheint, daß hier vor allem die vorhin von uns angesprochenen Triebkräfte am Werk waren. Die Übertragung einer Reihe wichtiger Funktionen des Instrumentals auf den Genitiv, die sich auf den frühesten Stufen der deutschen Sprachgeschichte anbahnte, gab der Entfaltung des Genitivgebrauchs einen starken Anstoß. Der endgültige Schwund des pronominalen Instrumentals, der in Verbindung mit Präpositionen die Funktionen kausaler und allgemein-korrelativer Konjunktionen erfüllte, öffnete den Weg zu noch breiterer Verwendung des syntaktisch freien Genitivs mit den gleichen Bedeutungen und führte unter anderem dazu, daß der Genitiv des neutralen Demonstrativpronomens zum konjunktionsähnlichen Wort mit der Bedeutung der Begründung bzw. der Bedeutung der allgemeinen Bezogenheit wurde. Daß gerade der Genitiv (des) an die Stelle der pronominalen Formen des Instrumentals trat, erklärt sich unserer Meinung nach daraus, daß der Genitiv schon im Althochdeutschen die verallgemeinerte grammatische Bedeutung des Grundes und der abstrakten Bezogenheit hatte. Bezeichnenderweise konnte die Genitivform der Demonstrativpronomen diese Bedeutung selbständig, ohne Präposition ausdrücken, während der pronominale Instrumental auch im Althochdeutschen in der gleichen Funktion auf Vermittlung durch Präpositionen angewiesen war. Man kann sich den historischen Tatbestand nicht ohne weiteres so vorstellen, als habe der Genitiv das funktionale Erbe des Instrumentals angetreten. Gerade die Hauptbedeutung des Instrumentals, die Bedeutung des Mittels bzw. des Werkzeugs, mit dem die Handlung ausgeführt wird, geht bekanntlich nicht auf den Genitiv, sondern auf den Dativ über. Der Instrumental hinterläßt dem genitivischen Verwendungsbereich die Funktion, die dem eigenen Bedeutungskomplex des ad-verbalen und des ad-adjektivischen Genitivs, vor allem in der freien Variante seines Gebrauchs, besonders nahe stand, nämlich die Bedeutungen der allgemeinen Bezogenheit und des Grundes. Eine wesentliche Voraussetzung fur die Entwicklung dieser verallgemeinerten Bedeutungen beim Genitiv in dem genannten Verwendungsbereich ergab sich aus der verallgemeinerten Bedeutung des adnominalen Genitivs, der Bedeutung der Zugehörigkeit. Diese Bedeutung berührt sich gewissermaßen mit der Bedeutung der allgemeinen Bezogenheit, die sich mehr oder weniger deutlich auf sämtliche nichtadnominalen Verwendungen des Genitivs abfärbt. Es zeichnete sich also im Deutschen seinerzeit eine Bindung aller Gebrauchsweisen des Genitivs an einen gemeinsamen Kern ab. Jedenfalls scheint die Annahme berechtigt, daß die Entwicklung des adverbalen Genitivs im allgemeinen sowie des Genitivs mit kausaler Semantik und mit der Bedeutung der abstrakten Bezogenheit im besonderen - die man als die wichtigsten Bedeutungen des Genitivs als Gliedes der Prädikatsgruppe bezeichnen kann - großen Einfluß auf die Entwicklung des gesamten grammatischen Baus des Deutschen ausgeübt hat. Wie wir schon bemerkt haben, hatte dieser Vorgang mit großer Wahrscheinlichkeit bedeutsame Folgen für das 31
D a l , I.: Kurze deutsche Syntax. Tübingen 1952. S. 21.
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ganze deutsche Kasussystem. Der Genitiv bildete gleichsam einen Anziehungspunkt für die komplizierteren, oft etwas undeutlich faßbaren Bedeutungen des semantischen Bereichs des Objekts, die an die adverbialen Bedeutungen grenzen, und dies muß im Mittelhochdeutschen zu schärferer Profilierung der Hauptbedeutungen der beiden anderen Objektskasus, des Dativs und des Akkusativs, beigetragen haben. Die Bedeutungsspektren des Dativs und des Akkusativs erwiesen sich als enger, dafür aber als bestimmter ausgegrenzt, was sich wohl auf ihre Dauerhaftigkeit auswirken mußte. Der Akkusativ ohne Präposition bezeichnet das direkte, unmittelbare Objekt der Handlung, der nichtpräpositionale Dativ bezeichnet deren „Zuwendgröße", und diese Bedeutungen, die im Mittelhochdeutschen einen sehr deutlichen Ausdruck bekamen, bleiben im Deutschen fortbestehen - trotz der andersgerichteten grammatischen Entwicklung vieler Dialekte (die Unterscheidung des Dativs und des Akkusativs wurde beispielsweise im Niedersächsischen aufgegeben) und trotz des Schwundes dieser Unterscheidung in den anderen germanischen Sprachen (außer dem Isländischen). Den Fortbestand der Differenzierung des Dativs und des Akkusativs kann man kaum allein durch die Eigenart der phonetischen Entwicklung des Deutschen erklären, die Ursachen sind vor allem rein grammatischer Natur, eine wichtige Rolle muß eben die relative funktionale Eindeutigkeit der betreffenden Kasus gespielt haben.
V Die Entwicklung des Genitivs erreichte im Mittelhochdeutschen ihre Kulmination. Danach kommt die Zeit der allmählichen Einschränkung der Funktionen dieses Kasus. In der deutschen Gegenwartssprache bleibt der Genitiv bestehen und spielt eine bedeutende Rolle, doch der Verwendungsbereich des Genitivs ist merklich enger geworden im Vergleich mit seinem Gebrauch im 12. und 13. Jahrhundert. Wann beginnt die Verdrängung des Genitivs aus einigen seiner früheren Positionen? Dieser Vorgang vollzieht sich natürlich - wie dies für den Wandel grammatischer Phänomene überhaupt typisch ist - langsam, Schritt fur Schritt, und er erstreckt sich auf die gesamte neuhochdeutsche Periode. Aus chronologischer Sicht verläuft die Umgestaltung des Systems der Funktionen des Genitivs nicht gleichmäßig. Die Einschränkung des Genitivgebrauchs (in der Schriftsprache) wird erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts merklich intensiviert. Vor dieser Zeit nimmt der Genitivgebrauch bereits etwas ab, insbesondere im Bereich des freien Genitivs mit den Bedeutungen des Grundes und der allgemeinen Bezogenheit, aber noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts stimmt das Gesamtbild seiner Verwendung mit dem uns aus dem Mittelhochdeutschen bekannten im großen und ganzen überein; allerdings sind die Verwendungshäufigkeiten des Genitivs - in ungleichmäßiger Verteilung auf verschiedene Schriftdenkmäler - schon etwas niedriger. Bezeichnend sind in dieser Hinsicht die Angaben über den Gebrauch des Genitivs bei Mur-
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ner, die Voß macht.32 Der Verfasser zeigt, wie vielfältig der Genitiv sowohl beim Substantiv wie auch beim Verb und beim Adjektiv gebraucht wird. Besonders interessant ist das Material, das Voß im Zusammenhang mit dem nur relativ „objektiven" Genitiv demonstriert. Er führt eine beträchtliche Anzahl von Verben an, die in Verbindungen mit dem Genitiv auftreten (Schwankungen in bezug auf den Genitivgebrauch bei einigen von diesen Verben waren noch im Althochdeutschen zu verzeichnen). Voß nennt u. a. folgende Verben: betrachten, empfinden, zuhören, vernehmen, hüten, achten, schweigen, berichten, klagen, berühmen (Akk. der Person, Gen. der Sache), glorieren, bitten, gewähren (Akk. der Person, Gen. der Sache), überreden (ebenso), anrufen (ebenso), ersuchen (ebenso). Er weist auch auf den Genitiv hin, der sich mit Phraseologismen in der Rolle des Prädikats verbindet, wie beispielsweise wahr nehmen, inne werden, gewahr werden, acht nehmen.33 Zu dem Wichtigsten von dem, was Voß bei Murner feststellt, gehören freilich spärlich vorhandene - Fälle des Genitivs mit der kausalen Bedeutung und der Bedeutung der allgemeinen Bezogenheit. Vgl.: ... die leibs in zweien gestalten waren '... in bezug auf den Körper ...'; Der seiner schuld die unschuldige dochter betrogen und beroubet hat irs gantzen leibs und lebens gebrauch '... durch seine Schuld ...'; Paris der kam syndes in den fal '... der Sünde wegen ...\ 3 4 Verbreitet sind adverbiale Formen der Art wie seines gefallens, unserer achtung, gleicher folg, gleich der massen, der gleichen, des gleich, dermassen, eins deils ... des andern deils, der gstalt u. ä., die zwar als feststehende, lexikalisierte Ausdrücke fungieren, bei denen aber der deutlich wahrnehmbare Zusammenhang mit dem Genitiv immer noch erhalten bleibt. Das Vorhandensein von Reihen konkurrierender, parallel gebrauchter Formen, wie zum Beispiel gleicher folg, gleich der massen, der gleichen, des gleich, zeugt davon, daß wir es hier mit noch nicht endgültig „festgefrorenen" Formeln zu tun haben und daß auf der einen Seite die in diesen Wendungen verwendeten Wörter ihre „lebendigen" Bedeutungen gewissermaßen beibehalten und auf der anderen Seite die verallgemeinerte Bedeutung des Genitivs noch nicht verwischt ist. Voß fuhrt auch einige Beispiele des kausalen Gebrauchs der Formen des und wes an.35 Man kann nicht behaupten, daß die Mehrzahl der Schriftdenkmäler des 16. Jahrhunderts, was die Häufigkeit und die Mannigfaltigkeit des Genitivgebrauchs anbetrifft, ein ähnliches Bild bietet wie wir es in Murners Schriften vorfinden. Dieses Bild läßt aber die Aussage zu, daß der Genitivgebrauch jedenfalls noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts viel Gemeinsames mit dem Gebrauch dieses Kasus in der mittelhochdeutschen Zeit aufzuweisen hat. 32
33 34 35
V o ß , E.: Der Genitiv bei Thomas Murner. Diss. Leipzig 1895. Vgl. H a x MeftH, A.E.: JJonojiHeHHe β p0/iwTejibH0M ria^ewe npw BOJBpaTHbix niaiojiax β paHHeHOBOBepxHeHeMeuKHH nepnon. In: yneHbie 3anncKn JleHHuipajiCKOiO rocy/lapcTBeHHoro nejarorHwecKoro HHCTHTyTa. Bd. XXVIII, 1957. Voß,E.:Op. cit. S. 26. Ibid. S. 67-69. Ibid. S. 67.
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Eines der vielen Anzeichen dafür ist die für das 16. Jahrhundert charakteristische breite Verwendung der Wortform des als Satzelementes mit konjunktionaler Funktion in kausaler (bzw. kausal-korrelativer) Bedeutung. Die konjunktionale Funktion dieses Wortes an sich, die auf der verallgemeinerten Bedeutung des neutralen Demonstrativpronomens beruht, muß natürlich zum Fortbestehen dieser Form selbst in der Zeit, als der Genitivgebrauch sonst stark eingeschränkt wurde, wesentlich beigetragen haben. Es sei daran erinnert, daß auch der Instrumental sich am längsten als Kasus des Demonstrativpronomens behauptete, besonders lange gerade in der konjunktionalen Funktion, vgl. got. bithe, duthe u. ä., ahd. bithiu, mit thiu u. dgl. Immerhin ist es bemerkenswert, daß die Formen des präpositionalen Instrumentals im Gotischen den Instrumental an sich überlebt haben, und im Althochdeutschen wird ihr Gebrauch nach dem Untergang des eigentlichen Instrumentals recht schnell auf das Mindestmaß reduziert (im Mittelhochdeutschen fehlen sie fast völlig). Indessen ist die Form des eine „reine" Kasusform, sie stützt sich auf keine Präposition, und im 16. Jahrhundert ist sie dennoch in den Texten reichlich vertreten, sie konkurriert nicht ohne Erfolg mit den Pronominaladverbien des Typs darum sowie mit Bildungen der Art wie derhalb, der halben u. dgl., die iür das Frühneuhochdeutsche sehr charakteristisch waren. Häufig gebrauchte Hans Sachs die Form des. Er gebrauchte sie vornehmlich als beiordnende Konjunktion, im Einklang mit der Natur des Demonstrativpronomens, das sie auch tatsächlich darstellt. Dagegen verwendet Hans Sachs das Wort derhalb meist als unterordnende Konjunktion. Vgl.: Des musz ich stets in sorgen baden. / Derhalb ich nichts erwerden mag, / Webt ich bisz an den Jüngsten tag (Sachs 44). Das Wörterbuch der Brüder Grimm spiegelt in entsprechender Weise die häufige Verwendung des kausalen des im 16. Jahrhundert. Diese Form wird im Wörterbuch als ein eigenes Lemma behandelt (vgl.: „... der alte Genitiv des Demonstrativpronomens daz in der Bedeutung 'deshalb, daher', wie er häufig im Mittelhochdeutschen anzutreffen ist"), und die meisten Belege für dieses Lemma sind Texten aus dem 16. Jahrhundert entnommen; einzelne Beispiele aus späterer Zeit (von Claudius, Stolberg, Goethe) weisen untrügliche Züge bewußter archaisierender Stilisierung auf. Vgl. einen Beleg aus Goethe: Wohl dem, der ein tugendsam Weib hat, des lebt er noch eins so lange?6 Dieser Unterschied zwischen der Syntax des Genitivs im 16. und im 18. Jahrhundert scheint aussagekräftig zu sein. Gerade in der Zeit zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert vollzieht sich offensichtlich die Einschränkung des Genitivgebrauchs in einer Reihe seiner Funktionen bzw. seine Verdrängung durch andere grammatische Formen. Im 17. Jahrhundert nimmt der Gebrauch des Genitivs beim Verb und beim Adjektiv sowie der Gebrauch des freien Genitivs merklich ab. Bei Grimmelshausen finden sich vielfältige Verwendungen des Genitivs, jedoch trifft man die Form des mit kausaler oder korrelativer Bedeutung bei ihm nur äußerst selten, es fehlt der freie Genitiv als Adverbialbestimmung des Grundes, enger 36
Deutsches Wörterbuch, Bd. II, 1 (1854). Sp. 1027.
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ist im Vergleich mit dem vorigen Jahrhundert der Kreis von Verben und Adjektiven, die mit dem Genitiv einhergehen. In gleicher Richtung verläuft der Wandel der Syntax des Genitivs in der nachfolgenden Zeit, bis ungefähr zu Beginn des 19. Jahrhunderts das System des Genitivgebrauchs in den Hauptzügen den Stand annimmt, den wir in der Gegenwartssprache vorfinden. Dies schließt Schwankungen, besonders im Gebrauch der Objektskasus, darunter auch später aufkommende, nicht aus. Interessant ist die Zusammenstellung von Fakten, die Paul im III. Band der „Deutschen Grammatik" bringt. Hier werden viele Fälle der Bewahrung der adjektivischen Genitivrektion aufgezählt, in denen die Objektsbedeutung mit der Bedeutung der Adverbialbestimmung des Grundes bzw. der allgemeinen Bezogenheit verflochten ist. Beispielsweise beim Verb lachen·, hab ich des schönen Traums nicht gleich gelacht (Lessing); du lachst des trotzigen Entschlusses (Goethe); er lachte dreier demütig niedergeschlagenen Augen (Gutzkow). 37 Hinzuzufügen ist, daß es einen syntaktischen Bereich gibt, in dem die Rolle des Genitivs in der neuhochdeutschen Periode nicht nur nicht an Gewicht verlor, sondern sich im Gegenteil zunehmend verstärkte, j a sich eigentlich erst konstituierte. Es handelt sich um den Gebrauch des Genitivs nach Präpositionen. Diese Art des Genitivgebrauchs fehlte im Alt- und im Mittelhochdeutschen fast völlig. Der Genitiv kam damals nur in Verbindung mit solchen Präpositionen vor, die sich kaum von Adverbien unterschieden und in der Regel auch als Adverbien angesehen werden, zum Beispiel mit ahd. innana, üzana, gagen - ingagen', vgl. innan huses (Ο V 25, 16) 'innerhalb des Hauses'; uzana thes grabes (Ο V 7, 1) 'außerhalb des Grabes'. Nur sehr sporadisch findet sich - wohl unter dem Einfluß des vorhin erwähnten Genitivgebrauchs - der Genitiv nach echten Präpositionen, vor allem bei Notker und im späteren Schrifttum, zum Beispiel bei der Präposition äno (hier ist der Einfluß von üzana anzunehmen), auch bei in aftar (in zeitlichem Sinne). Gewöhnlich ist der präpositionale Genitiv durch das verallgemeinernde Demonstrativpronomen vertreten. Nach Behaghel machte sich darin der Einfluß der temporalen Fügung innan des geltend. 38 In der mittelhochdeutschen Epik und Lyrik ist das Bild des präpositionalen Genitivgebrauchs in den Hauptzügen das gleiche. Aber im Spätmittelhochdeutschen, insbesondere in prosaischen Schriften und vor allem in aller Art Urkunden, zeichnet sich eine neue Tendenz ab, die im frühneuhochdeutschen Schrifttum ihre Blütezeit erlebt und in hohem Maße bis auf den heutigen Tag wirksam ist. Wir sprechen vom Gebrauch des Genitivs bei neu aufkommenden Präpositionen, den Präpositionen der sogenannten sekundären Schicht wegen, laut, kraft u. a. Obwohl bei einigen von diesen, meist denominalen, Präpositionen Schwankungen der Kasuswahl zu verzeichnen sind (hier konkurriert vor allem der Dativ mit dem Genitiv), erweist sich letzten Endes vorwiegend der Genitiv als normativ. Die gleiche Bewandtnis hat es mit den neu aufkommenden „halbpräpositionalen" Fügungen der Art wie in betreff u. ä.
37 38
P a u 1, H.: Deutsche Grammatik. Bd. III. Halle (Saale) 1954. S. 352ff. B e h a g h e l , O.: Deutsche Syntax. Bd. II. Heidelberg 1924. S. 44.
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Wie wir gesehen haben, vollzieht sich die tiefgreifende Änderung der Syntax des Genitivs hauptsächlich in der Periode, die die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts und das 17. Jahrhundert umfaßt. Womit kann man das erklären? Spielt dabei die Konkurrenz anderer reiner Kasusformen sowie präpositionaler Kasus im ad-verbalen und ad-adjektivischen Gebrauch die Hauptrolle? Schwankende Wahl bespielsweise zwischen dem Genitiv und dem Akkusativ als Objekt bei einigen Verben kann man schon seit althochdeutscher Zeit beobachten. Warum fällt die endgültige Entscheidung zugunsten des Akkusativs vielfach gerade im 16.-17. Jahrhundert? Eine negative Antwort auf diese Fragen ist oben bereits formuliert worden: Weder der Einfluß der Dialekte, die den Genitiv aufgegeben haben, noch die ungenügende Bezeichnung des Genitivs mit den Mitteln der Substantivflexion kann dafür ausschlaggebend gewesen sein. Entscheidend waren für die betreffenden Veränderungen in der Schriftsprache nach unserer Ansicht Faktoren innerer Art, die mit der allgemeinen Entwicklung des grammatischen Baus des Deutschen zusammenhingen. Selbstverständlich hätten solche Faktoren diese Veränderungen nicht bewirken können, wenn ihre Wirkung nicht durch bereits vorhandene Voraussetzungen, vor allem durch die auf die ältesten Sprachstufen des Deutschen zurückgehende Konkurrenz zwischen dem Genitiv und dem Akkusativ ermöglicht worden wäre. Aber ohne Einwirkung gewichtiger Faktoren grundsätzlichen, sprachbaulichen Ranges, die wir im Auge haben, hätte die Umgestaltung des Systems des Genitivgebrauchs auch nicht stattgefunden. Von diesen Faktoren muß an erster Stelle die historische Tendenz zur fortschreitenden gegenseitigen strukturellen Absonderung der verbalen und der substantivischen Wortgruppe genannt werden. Wie wir anderenorts eingehend ausgeführt haben, 3 9 erlangt die gegenseitige Absonderung dieser syntaktischen Gebilde erstmals in der zweiten Hälfte der frühneuhochdeutschen Periode, im 16. und 17. Jahrhundert, eine deutlich spürbare Reife. Und wie sich das deklinierte und das nichtdeklinierte Adjektiv (die adjektivische „Kurzform") resp. auf die Gruppe des Substantivs (als gewöhnliches, nicht postpositives und abgesondertes, Attribut) und die verbale Gruppe (als die übrigen Verwendungen des Adjektivs, vor allem in der Funktion des Prädikativs und des prädikativen Attributs) verteilten, so spezialisiert sich seinerseits der Genitivgebrauch, der Genitiv wird nun vorwiegend als untergeordnetes Glied der Substantivgruppe, als Attribut zum Substantiv gebraucht. Freilich bewahrt der Genitiv auch seine sonstigen Funktionen in einem gewissen Maße. Dies bezieht sich unter anderem auf den adverbalen Genitiv. Aber der Genitiv bleibt beim Verb in lebendigem Gebrauch eigentlich nur unter bestimmten strukturellen Bedingungen, nämlich dann, wenn sich das Verb mit zwei Objekten verbindet, die - beide - in ihrem Verhältnis zur Handlung den Charakter direkter Objekte haben. In diesem Fall nimmt eines der Objekte seine „natürliche" Form an, die Form des Akkusativs, das andere Objekt 39
A ä m o h h , Β.Γ.: Ο Ηεκοτορωχ 3aK0H0MepH0CT»x pa3BHTH5i cHHTaKCHHecKoro CTpoH. In: /^OKJiaau η cooömeHH« HHcmryTa «biKcmianMH AH CCCP, V, 1953 [s. in diesem Band S. 35ff.].
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tritt dagegen in der Form des Genitivs auf, vgl. zum Beispiel die Rektion der Verben berauben, versichern, beschuldigen, würdigen und einiger anderer. Verbreitet ist der Genitiv, dessen Bedeutung der des direkten Objekts gleichkommt, bei reflexiven Verben, vgl. sich bemächtigen, sich entledigen, sich erinnern u. ä. 40 Um diese Erscheinung richtig zu verstehen, muß man die Tatsache berücksichtigen, daß im Deutschen seit eh und je der Gebrauch zweier gleicher Objektskasus gemieden wurde. Im Gegenwartsdeutschen gibt es bekanntlich eine sehr kleine Gruppe von Verben, bei denen zwei Akkusative möglich sind {lehren, lernen, kosten, nennen). Der Genitiv erweist sich als notwendig bei Verben, die sich mit zwei Objekten verbinden, die, das eine wie das andere, ihrer semantischen Natur nach als direkte Objekte gelten können, und gerade in diesem Bereich bleibt der Genitiv in der Objektsfunktion in verhältnismäßig breitem Gebrauch. 41 Dies ist der Bereich der verbalen Rektion, in dem sich zwei entgegengesetzte Tendenzen historischer Entwicklung durchkreuzen, und das, was sich in der Gegenwartssprache daraus ergeben hat, ist als Kompromiß zwischen diesen Tendenzen zu werten. Nebenbei gesagt, wird dem Genitivobjekt von einigen Forschern ein wahrhaft lebendiger Charakter pauschal abgesprochen. Beispielsweise schreibt Behaghel, daß die Verben, die heutzutage den Genitiv verlangen, „unlebendig" sind. 42 Aber diesen Verben begegnet man in Verbindung mit dem Genitiv in der Literatursprache, wenn auch nicht sehr oft, so dennoch ständig. Obwohl der Genitiv bei solchen Verben teilweise durch präpositionale Fügungen verdrängt ist, bleibt der adverbale Genitivgebrauch usuell genug, um die Wertung von Behaghel fraglich erscheinen zu lassen. Die von ihm geäußerte Meinung in bezug auf den konkreten Fall, den wir hier erörtern, verrät seinen Standpunkt gegenüber der deutschen Literatursprache im allgemeinen, insbesondere gegenüber ihrer schriftlichen Form, die er für ein der lebendigen Volkssprache entfremdetes Kunstgebilde hält. Die Verdrängung des Genitivs aus dem adverbalen Gebrauch wurde außer dem vorhin besprochenen grundlegenden strukturellen Faktor auch durch andere Faktoren stimuliert. Die für den Genitiv im Mittelhochdeutschen beinahe typisch gewordene Bedeutung der allgemeinen Bezogenheit hat sich jedoch nicht genügend generalisiert und hat sich nicht verfestigt, und das Fehlen einer profllierterweise generalisierten Bedeutung erleichterte den Ersatz des Genitivs durch präpositionale Fügungen mit ihren deutlich umrissenen verallgemeinerten grammatischen Bedeutungen sowie durch den Akkusativ, der ebenfalls eine scharf profilierte Objektsbedeutung aufzuweisen hat. Der Rückgang des adverbalen Genitivgebrauchs förderte also die Deutlichkeit des Ausdrucks verallgemeinerter Bedeutungen untergeordneter Glieder der verbalen Wortgruppe. Allerdings ist der Umstand, daß der Umbau sich gerade in 40 41
42
D a l , I.: Op. cit. S. 27.. Dem Dativ verwehrt seine verallgemeinerte Bedeutung der „Zuwendgröße" die Verwendung in der Position des direkten Objekts. Hier ist nur die Konkurrenz von Seiten des präpositionalen Objekts möglich, B e h a g h e l , O.: Deutsche Syntax. Bd. I. Heidelberg 1923. S. 574.
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der verbalen Wortgruppe abspielte und die Einschränkung des adverbalen Genitivgebrauchs, nicht aber andere Folgen herbeiführte, kaum zu erklären, wenn man die intensive Einbindung des Genitivs in die Substantivgruppe außer acht läßt, die im Tauziehen um den Genitiv die Oberhand gewann. Damit wird unter anderem erklärlich, warum die Schwankungen der verbalen Rektion zwischen dem Genitiv und anderen Formen nominaler Ergänzungen gerade im 18. Jahrhundert, als die gegenseitige strukturelle Absonderung der verbalen und der substantivischen Wortgruppe im schriftsprachlichen Ausdruck ihren Höhepunkt erreichte, weitgehend ausgeglichen wurden. Der Gebrauch des Genitivs erleidet auch in der Substantivgruppe bestimmte Veränderungen. Obwohl diese Veränderungen höchstwahrscheinlich durch einige Sonderfaktoren bewirkt wurden, können sie nur im Zusammenhang mit grundlegenden Entwicklungstendenzen des grammatischen Baus des Deutschen verstanden werden. Der Kreis der Bedeutungen des attributiven Genitivs wird etwas enger. Weitgehend reduziert wird der Gebrauch des partitiven Genitivs; völlig schwindet der (allein stehende) Genitiv des Stoffes bei den Substantiven mit der Bedeutung des Maßes, eingeschränkt wird der Gebrauch des qualitativen Genitivs. Es gibt auch andere Verwendungsweisen des Genitivs in der Substantivgruppe, die unter starken Konkurrenzdruck von Seiten präpositionaler Fügungen und des zusammengesetzten Wortes geraten. Die Tendenz zur postpositiven Stellung des Genitivs in bezug auf das Kernglied der Substantivgruppe wird immer stärker. Schon im Frühneuhochdeutschen beschränkt sich die Voranstellung vornehmlich auf den „Autoren"- und den Subjektsgenitiv sowie im allgemeinen auf den Genitiv der Eigennamen. Nur in der Dichtung bleibt der präpositive Genitiv nach wie vor in mannigfaltigem Gebrauch. Die Verlagerung des Genitivs in die Nachstellung ist eines der Momente des Umbaus der Substantivgruppe, bei dem alle kongruierenden (nicht abgesonderten) Wortgruppenglieder vorangestellt werden und hier zusammen mit dem Bezugswort eine kompakte Struktur bilden, die meist durch die Monoflexion und die Rahmenkonstruktion zusammengehalten wird; die nichtkongruierenden Glieder der Substantivgruppe werden nachgestellt. Die kongruierenden und die nichtkongruierenden Substantivgruppenglieder unterscheiden sich gewissermaßen hinsichtlich ihrer Semantik. Ausgehend von A.Potebnjas Ausführungen zu analogen Erscheinungen im Russischen, haben wir an anderer Stelle zu zeigen versucht, daß kongruierende Attribute vornehmlich „innere", dem vom Substantiv bezeichneten Gegenstand innewohnende Merkmale ausdrücken, während nichtkongruierende Attribute vor allem auf den Ausdruck „äußerer" Merkmale ausgerichtet sind. 43 Der enge semantische Zusammenhang der kongruierenden Attribute mit dem substantivischen Gruppenkern wird durch Monoflexion und Rahmenbildung strukturell betont. 43
A ä m o h h , Β . Γ . : BeefleHHe β CHirraKCHC ccmpeMeHHoro HeMeuKoro »3biKa. MocKBa 1955. S. 254ff. [s. auch den Artikel „Die Struktur der Substantivgruppe im Deutschen" in diesem Band].
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Eine wichtige Bedeutung hatte für die Entwicklung des Genitivs auch seine häufige Umwandlung in das attributive erste Glied des zusammengesetzten Wortes. Dies mußte sich ebenfalls auf die Neuregelung der Position des Genitivs in bezug auf das Kernglied der Wortgruppe auswirken, denn zum ersten Zusammensetzungsglied wurde ja der präpositive Genitiv. Bezeichnenderweise dauerten die Schwankungen zwischen der Getrennt- und der Zusammenschreibung von Zusammensetzungen des neuen Typs sehr lange, bis ins 18. Jahrhundert hinein. Die Übertragung des eigentlichen Genitivs in die Postposition ermöglichte eine deutliche formale Gegenüberstellung des Genitivs und des ersten Gliedes der Zusammensetzung. Dem semantischen Unterschied zwischen Wortgruppe und Zusammensetzung mangelt es dagegen oft an Schärfe und Bestimmtheit. Die Veränderung der dominierenden Position des Genitivs in der Substantivgruppe korreliert auf eigenartige Weise mit der semantischen Unterscheidung kongruierender und nichtkongruierender Attribute. Zum ersten Zusammensetzungsglied wurde der Genitiv (im 15.-16. Jahrhundert) nur unter der Bedingung, daß das Substantiv in der Genitivform eine generisch, begrifflich ausgerichtete, nichtindividualisierte Bedeutung hatte und eine enge semantische Verbindung mit dem Bezugswort einging. Deshalb konnten Substantive in der Genitivform, wenn sie in allgemein-begrifflicher Bedeutung auftraten, leicht als attributive Zusammensetzungsglieder aufgefaßt werden. Wenn aber der Genitiv etwas Individuelles bezeichnete (und dies ist vor allem die Eigenschaft der Eigennamen), konnte er seine Position in der Voranstellung behaupten, denn in diesem Fall bestand keine Gefahr, die Wortgruppe mit der Zusammensetzung zu verwechseln. Also konnte es in diesem Fall geschehen, daß - abweichend von der Gesetzmäßigkeit semantischer Unterscheidung kongruierender und nichtkongruierender Attribute - präpositiv gerade das maximal individualisierte „äußere" Attribut gebraucht wurde, das wie das Bezugswort selbst einen Gegenstand bezeichnete und mit dem Bezugswort keine idiomatische Einheit bilden konnte. Am schwierigsten ist die Frage, warum einige Bedeutungsvarianten des adnominalen Genitivs überhaupt ungebräuchlich geworden sind. Es ist anzunehmen, daß auch diese Veränderung mit der allgemeinen Umgestaltung der Substantivgruppe zusammenhängt, die eine schärfere Gegenüberstellung der „inneren" und der „äußeren" Merkmale herbeigeführt hat. Das Maß-Stoff-Verhältnis ist nicht als Verhältnis zwischen separaten Gegenständen, sondern als Verhältnis zwischen gleichsam einander durchdringenden Wesenheiten zu verstehen. Die Umdeutung der Maß-Komponente als „inneres" Merkmal der Stoff-Komponente und die damit verbundene Übertragung der Funktion des Wortgruppenkerns auf die Bezeichnung des Stoffes sowie die Annäherung der Maß-Komponente an den Charakter des kongruierenden Attributs (ein Pfund Fleisches > ein Pfund Fleisch, ein Stück Brotes > ein Stück Brot) - all das stimmte also mit dem tatsächlichen Inhalt des betreffenden Verhältnisses überein und trug dazu bei, diesen Inhalt von den Fällen zu unterscheiden, in denen die substantivischen Wortgruppenglieder separate Gegenstände bezeichnen, als separat faßbar selbst dann, wenn der eine Teil des anderen ist, vgl. das Bein des Tisches, der Kopf des Mannes. Hohe Bedeutung kommt na-
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türlich dem Umstand zu, den Paul betont, nämlich dem sehr häufigen Fehlen des Artikels beim Substantiv, das den Stoff bezeichnete. Damit zusammen entfiel die formale Bezeichnung des Genitivs der Feminina und aller Plurale, was die Voraussetzung dafür ergab, daß die betreffende Form umgedeutet wurde, und diese Umdeutung erstreckte sich danach auf die maskulinen und die neutralen Stoffbezeichnungen. Immerhin kann der frontale Wegfall des Genitivs in der Maß-Stoff-Konstruktion allein durch einen solchen „analogischen Ausgleich" nicht erklärt werden. Die frontale Durchsetzung der „Analogie" wird aber verständlich, wenn man die allgemeine Richtung des Umbaus der Substantivgruppe in Betracht zieht, mit der sie im Einklang steht. Ein wohl noch aussagekräftigeres Zeugnis für die grundlegenden Entwicklungstendenzen der substantivischen Wortgruppe stellt der Untergang des Genitivs beim unbestimmten Pronomen was dar. Die Beziehung dieses Pronomens zum Substantiv, das von ihm abhing, ist eine „innere", denn was drückt dabei keinen „danebenstehenden" Gegenstand aus, sondern eine unbestimmte Charakteristik des Gegenstandes, vor dessen Bezeichnung was zu stehen kommt. Es ist kein Zufall, daß die Genitivform in den Fügungen dieser Art früher verlorengeht als in den Wortgruppen des Typs „Maß + Stoff'. Ähnlich verhielt es sich nach unserer Meinung mit dem Umbau der Fügung, in der der Genitiv von dem unbestimmten Numerale abhing, das im Althochdeutschen die Form filu hatte. Diese Fügung weicht nach und nach (die ersten Fälle sind noch im Mittelhochdeutschen zu beobachten) einer Konstruktionsform, in der es keinen Genitiv mehr gibt und das unbestimmte Numerale - teilweise - mit Flexion versehen als kongruierendes Attribut zum nachfolgenden Substantiv auftritt. Der Gebrauch einiger anderer Arten des attributiven Genitivs wird gewissermaßen eingeschränkt. Wie der Subjekts-, der „Autoren"-Genitiv, so wird auch der Objektsgenitiv oft durch präpositionale Fügungen ersetzt (die Werke von Goethe, die Bearbeitung von Metallen). Fast völlig schwindet der qualitative Genitiv mit der Bedeutung einer konkreten „stofflichen" Eigenschaft (noch bei Goethe kann man Wortgruppen wie ein Rock ostindischen Stoffes begegnen). Auch in diesem Fall sind die Auswirkungen der oben erörterten grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der Substantivgruppe nachweisbar. Die Verdrängung des genitivischen Attributs mit konkreter qualitativer Bedeutung hängt allem Anschein nach mit dem „inneren" Charakter des Merkmals zusammen, das dieses Attribut wiedergibt. Bezeichnenderweise bleibt das qualitative Genitivattribut, wenn es die Zugehörigkeit zu einer Klasse von Erscheinungen angibt, sich also der explikativen Funktion nähert, noch heute weitgehend gebräuchlich, vgl. ein Substantiv männlichen Geschlechts. Für die meisten funktionalen Arten des attributiven Genitivs ist jedenfalls nicht die Verdrängung durch andere grammatische Formen mit analogen Funktionen (durch präpositionale Fügungen, Zusammensetzungen, Bezugsadjektive) charakteristisch, sondern der parallele Gebrauch mit diesen Formen, vgl. Goethes Werke - die Werke von Goethe, die Bearbeitung der Metalle die Bearbeitung von Metallen u. dgl. Dieser Parallelismus scheint festen Bestand zu haben. Das Vorhandensein synonymer Ausdrucksmittel ist nicht als
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Mangel des Sprachbaus zu betrachten, dessen Abschaffung notwendigerweise bevorsteht. Die Synonymie ermöglicht die stilistische Variation des sprachlichen Ausdrucks, bei der es auch um feine semantische Nuancierung der Inhalte geht. Wäre der Ausfall einer der konkurrierenden Formen eventuell tatsächlich zu erwarten, so würde er nicht spontan, „von alleine", geschehen, sondern mit Sicherheit eine Folge irgendwelcher tiefgreifender Entwicklungstendenzen des grammatischen Gesamtsystems bzw. der Struktur der Substantivgruppe selbst sein. Da, wo sich solche allgemeineren, grundlegenden Voraussetzungen vorfanden, trat auch, wie wir gesehen haben, totaler Untergang des Genitivs ein. So stellen sich uns die Haupttendenzen der Entwicklung des Genitivs im Deutschen unter dem Aspekt seiner Funktionen dar. Wie wir einleitend betont haben, konnten hier die Charakteristiken des geschichtlichen Vorgangs nur schematisch, ohne Anspruch auf erschöpfend detaillierte Darstellung, dargelegt werden. Unser Ziel war zu zeigen, daß dieser Vorgang, der in komplizierter und widersprüchlicher Weise mit einer Reihe von spezifischen Veränderungen der phonetischen und der morphologischen Struktur des Deutschen verbunden war, letzten Endes doch nur im Zusammenhang mit den profilierenden Entwicklungstendenzen des grammatischen Baus der deutschen Sprache, das heißt mit der Tendenz zur scharf hervortretenden strukturellen Gegenüberstellung der verbalen und der substantivischen Wortgruppe und mit der Umgestaltung der Struktur der Substantivgruppe, zu verstehen ist. Eben diese Richtung des historischen Wandels, der vor allem die Syntax des Deutschen betraf, bestimmt im Grunde genommen das Schicksal des Genitivs. Zum Schluß wollen wir noch einmal betonen, daß die genannten Tendenzen sich nicht allein, nicht selbsttätig auf den Gebrauch des Genitivs auswirkten, sondern den Verlauf der Entwicklung in Zusammenwirkung mit einer Reihe anderer Faktoren bedingten.
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1960
Die Entwicklung der Struktur des einfachen Satzes in den indoeuropäischen Sprachen I Wenn der Sprachforscher die Entwicklungsgeschichte des syntaktischen Systems einer indoeuropäischen Sprache eben als eines Systems, nicht als einer Reihe vereinzelter Veränderungen untersucht, muß er die gemeinsamen Tendenzen des Syntaxwandels berücksichtigen, die in den indoeuropäischen Sprachen zur Zeit ihrer selbständigen Existenz wirksam waren und deren Wurzeln mit Sicherheit in die indoeuropäische Gemeinsprache zurückreichen. Ohne sich die Richtung vorzustellen, in der die Entwicklung des syntaktischen Baus dieser Sprache in vorgeschichtlicher Zeit verlief, kann man die spätere Evolution der Struktur der indoeuropäischen Sprachen nicht verstehen. Allerdings ist die Aufgabe, auf komparativ-historischem Wege nicht nur die gemeinsamen Entwicklungstendenzen des Satzbaus der indoeuropäischen Sprachen in den ältesten Perioden ihres Bestehens, sondern auch deren einzelne Kategorien und Erscheinungsformen festzustellen, überaus schwierig. Die komparativ-historische Forschung kann sich zu syntaktischen Gegebenheiten nur auf dem Umweg über die morphologischen Daten Zugang verschaffen. Diese sind ihrerseits erst aus der vergleichenden Analyse der phonologischen Fakten ableitbar. Die Untersuchung des morphologischen Systems der indoeuropäischen Ursprache hat in den letzten Jahrzehnten vieles in Frage gestellt, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch mehr oder weniger unbestreitbar zu sein schien. So wurde beispielsweise eine Theorie aufgestellt, der zufolge das Pronomen als morphologische Kategorie nicht zu den ältesten Eigenschaften des indoeuropäischen Sprachsystems zähle, sondern erst relativ spät entstanden sei. Doch scheint die Fragestellung nach den allgemeinen Entwicklungstendenzen des syntaktischen Baus des Indoeuropäischen durchaus begründet und aktuell zu sein. Als eine der wichtigsten stellt sich die Frage nach der Veränderung der Struktur des einfachen Satzes im Zuge des Wandels des Gemeinindoeuropäischen zu den späteren indoeuropäischen Einzelsprachen. Es handelt sich um die Entwicklung von Sprachformen, die dem einfachen Satz strukturelle Ganzheitlichkeit verleihen, um die fundamentalen Prinzipien seiner Bauweise. Es wird hier aber auf eines der wesentlichsten formalen Mittel der Ausprägung der Satzstruktur nicht näher eingegangen, nämlich auf die Intonation, da einerseits der Zugang zu den rhythmisch-intonatorischen Merkmalen des Satzes auf den älteren Sprachstufen außerordentlich schwierig ist und da andererseits spezifische Probleme der Satzentwicklung schon vom morphologischsyntaktischen Standpunkt aus kompliziert genug sind.
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Angesichts der genannten Schwierigkeiten, mit denen es die vergleichende historische Sprachforschung zu tun hat, sollen hier von vornherein einige grundlegende methodische Richtlinien formuliert werden. 1. Man muß sich an den morphologischen Kategorien und Formen orientieren, die am offensichtlichsten und zweifellosesten der indoeuropäischen Einheitssprache angehörten, bevor es zu ihrer Spaltung kam, und an den Funktionen und Bedeutungen dieser Formen. Von Offensichtlichkeit und Zweifellosigkeit kann man sprechen, wenn in bestimmten Fällen in allen indoeuropäischen Sprachen (mit seltenen Ausnahmen) genaue wechselseitige Entsprechungen etymologisch identischer Formen samt ihren Bedeutungen zu beobachten sind. Zum Beispiel gilt als unbestreitbare Tatsache, daß in allen indoeuropäischen Sprachen das finite Verb und der Nominativ des Substantivs als grammatische Kategorien vorkommen bzw. vorkamen, ganz gleich, wann und unter welchen Bedingungen sie entstanden sind. 2. Als Anzeichen allgemeingültiger Entwicklungstendenzen des indoeuropäischen Sprachbaus, die im Gemeinindoeuropäischen verwurzelt sind, hat man Sprachformen zu werten, die allen oder mindestens den meisten späteren Einzelsprachen eigen sind. In diesem Zusammenhang ist es für die Bestimmung gemeinsamer Entwicklungsrichtungen des syntaktischen Baus der indoeuropäischen Sprachen kaum sinnvoll, Fakten, die der letzten Periode des Gemeinindoeuropäischen zuzuschreiben sind, und die Gemeinsamkeiten der späteren indoeuropäischen Einzelsprachen auseinanderzuhalten. 3. Als Hauptziel der anstehenden Problemanalyse - jedenfalls in der heutigen Forschung auf dem Gebiet der vergleichend-historischen Syntax - ist die Feststellung der gemeinsamen Züge der Satzstruktur in ihrem Verhältnis zur Wortstruktur zu betrachten; es sind dies also nicht so sehr die konkreten Fügungspotenzen und syntaktischen Funktionen einzelner morphologischer Formen, als vielmehr die Hauptgesetzmäßigkeiten der Gestaltung syntaktischer Einheiten. Außerdem ist es angebracht, als Voraussetzungen für das Verständnis der indoeuropäischen Satzstruktur in ihrer geschichtlichen Entwicklung folgende Gesetzmäßigkeiten des syntaktischen Baus zu betrachten, die zwar bis jetzt nur für einzelne Sprachen festgestellt wurden, vermutlich aber in einem breiteren Sprachenkreis wirksam sind. 1. Eine der wichtigsten Triebkräfte der Entwicklung des Satzbaus stellen die maximal umfassenden syntaktisch-strukturellen Regularitäten dar, die einer bestimmten Einzelsprache eigen sind. Hat sich in einer Sprache eine Reihe strukturell homogener satzbaulicher Gestaltungsweisen und Mittel der Satzgliederung herausgebildet, so beeinflussen sie andere syntaktisch relevante Elemente der Sprache im Zuge des allgemeinen Umbaus der Satzstruktur. 2. Grundsätzlich bedeutsamen Anhalt für die historisch-syntaktische Forschung bieten „extreme" stilistische Systeme, die bestimmte literarische Gattungen aufweisen. Eine mindestens in einigen Textarten als Stilmittel besonders breit genutzte syntaktische Struktur kann den wesentlichen Strukturmerkmalen der Sprachsyntax nicht fremd sein; es kommt vielmehr dazu, daß diese Merkmale in den Vordergrund rücken und manchmal sogar auf groteske Weise übertrieben werden. Deshalb können solche Erscheinungen wie der Nomi-
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nativsatz in der philosophischen Sanskrit-Literatur, wie die äußerst komplizierten syntaktischen Strukturen (Hyperbaton) der altgriechischen Klassik und des Latein von Cicero oder der restlos in die Rahmenformen eingefaßte Satz in der klassischen deutschen Prosa des 18. Jahrhunderts wichtige Informationen über gewisse Tendenzen des syntaktischen Baus der betreffenden Sprache liefern. II In vielen wissenschaftlichen Arbeiten wird - direkt oder indirekt - die Dauerhaftigkeit, die Unveränderlichkeit der Grundzüge des indoeuropäischen Satzbaus behauptet. Dies ist u. a. die vorherrschende Ansicht der Junggrammatiker. Sehr deutlich kommt sie im letzten Buch von Brugmann zum Ausdruck, das der Syntax des einfachen Satzes in den indoeuropäischen Sprachen gewidmet ist. Einerseits betont Brugmann die syntaktische Eigenart unterschiedlicher stilistischer Sprachschichten, andererseits behauptet er, daß der einfache Satz bereits im Indogermanischen dermaßen vollständig urfd ganzheitlich gewesen sei, daß die späteren Einzelsprachen wenig daran zu ändern gehabt hätten.' In den Untersuchungen der tiefgreifenden qualitativen Umgestaltungen des indoeuropäischen Satzbaus kann man zwei Richtungen unterscheiden. Eine dieser Richtungen, die sich nicht allein mit dem Satzbau an sich, sondern mit der Syntax der indoeuropäischen Sprachen im allgemeinen befaßt, stellt den Übergang zu handlicheren und klareren Ausdrucksformen in den Vordergrund und verbindet diese Entwicklung mehr oder weniger konsequent mit der Entwicklung der Denkvorgänge. Von einigen Forschern wird der Korrelation mit den logischen Formen sogar die maßgebende Rolle zugeschrieben. So meint Wackernagel, eine der bedeutendsten Autoritäten im Bereich der komparativ-historischen Syntax, daß in der Evolution der Syntax ein gewisser Fortschritt zutage trete. Wackernagel schreibt: „... möchte ich betonen, dass man in der Tat von einem Fortschritt in der sprachlichen Entwicklung sprechen kann (vgl. das schöne Buch Jespersens „Progress in language")· Namentlich eben dann, wenn die jüngern Ausdrucksformen der Logik mehr Genüge tun als die ältern. Die Wortstellung der modernen Sprachen ist ζ. B. logischer als sie in der Vorzeit gewesen ist." 2 Er beruft sich dabei in erster Linie auf die Übertragung von enklitischen Wörtchen aus der Stellung nach dem ersten Wort im Satz in die Position nach den Wörtern, auf die sie sich unmittelbar beziehen. Das bedeutet nach Wackernagels Meinung, daß das logische Prinzip der Wortverbindung die Oberhand gewinnt über das rhythmische Prinzip.
1
2
B r u g m a n n , K.: Die Syntax des einfachen Satzes im Indogermanischen. In: Indogermanische Forschungen. Beiheft zum XLIII. Band. Berlin u. Leipzig 1925. S. 4. W a c k e r n a g e l , J.: Vorlesungen über Syntax mit besonderer Berücksichtigung von Griechisch, Latein und Deutsch. Basel 1920. S. 63.
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Aber bei weitem nicht alles in den indoeuropäischen Sprachen Beobachtbare bestätigt diese These Wackernagels. Was die Wortstellung anbetrifft, so fuhrt die Entwicklung einer Reihe von Sprachen zur Festigung und gar zur Ausbreitung einer Struktur, für die es typisch ist, daß die semantisch und logisch eng zusammengehörenden Satzkomponenten voneinander getrennt werden. Die Distanzstellung ist selbst im Englischen und im Französischen vertreten, in Sprachen also, die sonst zur kontakten Wortstellung neigen. Sehr verbreitet ist die sogenannte Rahmenstruktur im Deutschen. Die andere Richtung im Studium der Entwicklungsgeschichte des Satzbaus in den indoeuropäischen Sprachen faßt die Entwicklung vor allem als Steigerung des Komplexitätsgrades der syntaktischen Struktur auf oder, mit anderen Worten, als Übergang zu einer Struktur, die auf qualitativ differenzierteren Beziehungen zwischen den Satzelementen aufbaut und „kompakter" ist (Übergang von der Parataxe zur Hypotaxe). In einigen Fällen wird dabei die Entwicklung der Satzstruktur ebenfalls mit dem Fortschritt des logischen Denkens verbunden. Wir teilen im großen und ganzen diesen Standpunkt. Allerdings nicht vorbehaltlos, denn es sind einige wesentliche Berichtigungen notwendig, sonst kann das Gesamtbild verzerrt werden. So ließ eine zu geradlinige Vorstellung von der parataktischen Struktur des indoeuropäischen Ursatzes Knabe behaupten, in diesem Satz seien nicht nur die Eigenschaften der „Ganzheitlichkeit, Zentralisierung und hierarschicher Ordnung" noch sehr unentwickelt gewesen, sondern es habe auch nicht einmal geeignete Mittel gegeben, die es ermöglicht hätten, „die eigentliche Mitteilung von den sie begleitenden Kommentaren zu trennen und diese jener unterzuordnen". 3 Solche Formulierungen erwecken den Eindruck, als wäre der Satz überhaupt keine irgendwie ganzheitliche Einheit und die Satzgrenzen im Redefluß wären völlig verwischt gewesen. In Wirklichkeit war der syntaktische Sachverhalt viel komplizierter. Es ist kaum korrekt, einer und derselben historischen Periode alle Merkmale, die man hie und da in den alten indoeuropäischen Sprachen entdeckt hat, zuzuschreiben und als Folge den indoeuropäischen Ursatz im Grunde genommen als ungeordnetes Gemengsei von nur locker zusammenhängenden gleichrangigen Bestandteilen hinzustellen. Der Zustand, den wir selbst in den ältesten indoeuropäischen Sprachdenkmälern vorfinden, kann nicht als der ursprüngliche betrachtet werden. Die „reine", durchgängige Parataxe ist nur hypothetisch und auch dann nur für die früheste Stufe der gemeinindoeuropäischen Sprachentwicklung anzunehmen. Jedenfalls kann in der Zeit, die der Aufspaltung des Gemeinindoeuropäischen in Einzelsprachen unmittelbar voraufgeht, ein solcher parataktischer Satzbau nicht mehr bestanden haben. Das bezeugt schon zum Beispiel der Genitiv im Hethitischen, der etymologisch mit den Genitivformen anderer indoeuropäischer Sprachen übereinstimmt und wie in diesen auch adnominal, d. h. attributiv, verwendet wurde. Allein die Tatsache, daß das Gemeinindoeuropäische bereits kasuelle Unterschiede kannte, genügt, um die morphologische Diffe3
Κ η a 6 e, r.C.: Eme pa3 ο jieyx nyrsx pq3bhthh cjioacHoro npe/uioweHHH. In: Bonpocbifl3biK03HaHHü.1955, ,N° 1. S. 109-113.
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renzierung der Nomina mit ihren unterschiedlichen Funktionen im Satz zu verbinden. Dem Genitiv kommt in dieser Hinsicht eine besondere Bedeutung zu, denn er manifestiert in offensichtlichster Weise die syntaktische Abhängigkeit eines Nomens von einem anderen Nomen. Also vollzieht sich schon im Gemeinindoeuropäischen der Übergang zur hypotaktischen Satzstruktur, und das Zusammenspiel von Parataxe und Hypotaxe charakterisiert von jener Zeit an bis in die Gegenwart hinein alle indoeuropäischen Sprachen. Was eine rein parataktische Periode in der Entwicklungsgeschichte des indoeuropäischen Satzbaus angeht, so mag es eine solche im Prinzip tatsächlich gegeben haben. Aber, wie schon gesagt, kann es sich dabei nur um die älteste Zeit handeln, und wir verfügen über zu wenige Anhaltspunkte, um uns einen solchen Satzbau auch nur annäherungsweise konkret vorstellen zu können.
III Zugunsten des lockeren, parataktischen Charakters des indoeuropäischen Ursatzes werden wiederholt drei besonders wichtige Argumente vorgebracht. Zum ersten ist das der Hinweis auf das Fehlen von Kongruenz und Rektion sowie auf die fuhrende Rolle der Juxtaposition (dies ist das Hauptargument von Meillet). Zum zweiten fuhrt man die mangelnde gegenseitige Abgrenzung von nichtprädikativen und prädikativen Formen an. Dieses Moment wurde am entschiedensten von Potebnja hervorgehoben. Zum dritten argumentiert man mit dem formalen Parallelismus von Wortgruppengliedern, die logisch im Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehende Begriffe zum Ausdruck bringen. Auf diese Erscheinung machen viele Forscher auf mehr oder weniger definitive Weise aufmerksam. Besonders tiefgehend wurde sie - vorwiegend am germanischen Sprachstoff - von Kaznelson untersucht. 4 Betrachten wir diese drei Argumente der Reihe nach. 1. Mag das ursprüngliche Indoeuropäische in der Tat die Kongruenz und Rektion, wie sie in den späteren Einzelsprachen zu beobachten sind, nicht gekannt haben, so daß die Wortform, wenn sie auch eine Flexionsendung hatte, nicht die Abhängigkeit eines Wortes von einem anderen, sondern nur die Beziehung des Wortes zum Satzganzen anzeigte. Dennoch müssen schon hier gewisse strukturell-syntaktische Unterschiede zwischen den Satzgliedern vorhanden gewesen sein, und zwar zwischen solchen Formen, die allein oder, wenn sie sich miteinander verbanden, vollendete Sätze bilden konnten, und solchen, die an sich dazu nicht ausreichten. Man kann zum Beispiel zulassen, daß das finite Verb auf einer bestimmten Entwicklungsstufe tatsächlich absolut, syntaktisch selbstgenügend war, 5 so daß es kein Objekt, kein Prädikativ, nicht einmal ein Subjekt benötigte, also keine einzige obligatorische Fügungs-
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KauHejibcoH, C.fl.: McT0pnK0-rpaMMaTHHecKHe HCCJie^oeaHHa. Bd. I. MocKea - JleHHHrpaa 1949. Apropos: In allen indoeuropäischen Sprachen, die uns bekannt sind, selbst in den ältesten auf uns gekommenen Schriften, weist das Verb gewisse Züge der kopulativen bzw. der Hilfsfunktion, was von Verlusten an absoluter Autonomie zeugt.
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potenz aufwies. 6 Es ist auch sehr wahrscheinlich, daß der Nominativ - nicht anders als in den modernen Sprachen - in bestimmten Funktionen, insbesondere beim Ausdruck bloßer Existenz von Gegenständen, ebenfalls keine obligatorische Fügungspotenz hatte und allein auf sich gestellt einen vollständigen Satz abgab. Jedoch können andere Wortformen ohne spezifische Unterstützung durch den Kontext bzw. die Sprechsituation keine selbständigen Sätze bilden, sondern sie müssen sich auf Wortformen stützen, die fähig sind, die Satzfunktion zu tragen. Die obliquen Kasus, die Adverbien, alle Formen des Adjektivs haben obligatorische Fügungspotenzen, die freilich einseitig sind, d. h. sie richten sich auf prädikativ selbstgenügende Elemente, ohne daß diese Beziehung reziprok wäre. Also muß es bereits in der indoeuropäischen Gemeinsprache Formen gegeben haben, die für die Satzbildung ausreichend oder in dieser Hinsicht unzulänglich waren. Die einen wurden von den anderen angezogen, so daß sich alles um einen Satzkern vereinigte und zu einer gewissen Ganzheit zusammenschloß. Sicher war das eine andere Art Ganzheit, als sie in solchen modernen Sprachen wie zum Beispiel im Französischen oder im Deutschen vorliegt, doch war der Satz schon zu jener Zeit eine im eigentlichen Sinne des Wortes ganzheitliche Einheit. Die Struktur, in der sich die sekundären Satzglieder einseitig auf die notwendigen primären Satzglieder stützen, kann man als eine „ruhige" Struktur bezeichnen, im Gegensatz zur „gespannten" Einheit, die entsteht, wenn die primären, notwendigen Satzglieder ihrerseits Verbindungen mit sekundären Gliedern eingehen müssen, damit der Satz zustande kommt (vgl. zum Beispiel die Umwandlung eines bedeutungsmäßig selbstgenügenden Verbs in die Kopula, die ein Prädikativ bei sich verlangt, die Entwicklung der echten verbalen Transitivität u. ä.). 2. Das zweite Merkmal des alten indoeuropäischen Satzes ist, nach Knabe, der sich in diesem Punkt auf die Aussagen von Potebnja beruft, „die fehlende formale Unterscheidung prädikativer und appositiver Beziehungen". 7 Es handelt sich dabei um folgende Fälle: a) Nichtunterscheidung des abhängigen vom unabhängigen Nominativ bzw. des Prädikativs von der Apposition im Nominativ; b) Verwendung verbaler Nomina, insbesondere der Partizipien, als Prädikat parallel zum finiten Verb in der gleichen Funktion. Bei näherer Betrachtung widersprechen diese beiden Momente nicht dem Wesen der „ruhigen" strukturellen Einheitlichkeit des indoeuropäischen Satzes. Isolierter Gebrauch des Nominativs als Existenzial- oder Benennungssatz unterscheidet sich in keiner Weise von der gleichen Verwendung des Nominativs in späteren indoeuropäischen Sprachen - bis in ihren gegenwärtigen Stand hinein. Vgl. ζ. B. bei Cicero: clamor senatus, querellae, preces, socer ad pedes abiectus (Pro Sest., 34, 74) 'Lärm im Senat, Klagen, Flehen, der
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V g l . : A J I M O H H , Β . Γ . : 3aBepmeHHOCTb KOHCTPYKUHH KAK AEJIEHME cHHTaiccHHec-
κοίί φορΜΗ. In: Bonpocu >ni>iK03HaHHfl. 1958, X» 1 [s. in diesem Band S. 175ff.]. K H a ö e , f.C.: Op. cit. S. 110.
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sich vor die Füße kniende Schwiegervater'. 8 Der Nominativsatz koexistiert mit anderen Satzarten und sagt nichts über deren Beschaffenheit aus. Die Verwendung des Nominativs im verbalen Satz in einer zwischen dem Prädikativ und der Apposition schwankenden Funktion, eine Verwendung, die sicherlich für die kommunikative Gliederung des Satzes von Bedeutung ist, kann die strukturelle Ganzheitlichkeit des Satzes genauso wenig verletzen wie ζ. B. die schwankende syntaktische Funktion des Wortes sorglos im Satz Sie erwachte sorglos im modernen Deutsch. Der Gebrauch des Nominativs als Prädikat im verblosen zweigliedrigen Satz schließt die strukturelle Geschlossenheit des Satzes ebenfalls nicht aus, diese übertrifft vielleicht sogar die strukturelle Geschlossenheit des analogen verbalen Satzes, denn sie wird durch die enge Aufeinanderbezogenheit von zwei nominalen Gliedern als tragende Achse der Satzstruktur eher verstärkt. Intonation, Wortstellung und Kontext wirken hier zusammen und tragen zur Deutlichkeit der syntaktischen Formgebung bei; man kann auch annehmen, daß der verblose nominativische zweigliedrige Satz sich auch semantisch vom Satz mit der Kopula unterscheidet.9 Besondere Aufmerksamkeit widmeten viele Forscher, allen voran Potebnja in seinen grundlegenden Werken, der Überschneidung von Prädikativität und Appositivität beim alten indoeuropäischen Partizip. Als schlagende Beispiele dafür werden von Potebnja Fälle herangezogen, in denen ein Unites Verb und ein Partizip durch eine beiordnende Konjunktion miteinander verknüpft sind, vgl. ζ. Β. Μ e-bcmaeb Μακοβτ> omt CHCI, U peue [deutungsweise: 'Und aufgestanden lakov und sagt ...']. 10 Vom strukturellen Standpunkt aus sieht Potebnja hier eine viel größere „Lockerheit" als im Gegenwartsrussischen, was auf das Vorhandensein von zwei „fast gleich starken" Zentren im Satz zurückzuführen ist. Aber „locker", mangelhaft geordnet erscheint der Satz gerade in dem Fall, wenn man annimmt, daß die Konjunktion zwei nicht gleichrangige (prädikative) Satzglieder miteinander verbindet, d. h. wenn man das Partizip als prädikatives Attribut auffaßt. Sollte dagegen das Partizip durch und durch prädikativ sein, so ergibt sich daraus die gewöhnliche kopulative Verbindung von zwei gleichrangigen Prädikaten, was das Prinzip der strukturellen Ganzheitlichkeit des Satzes keinesfalls verletzt. Die Entwicklung macht also den Weg von einer geschlosseneren Satzstruktur zu einer lockereren durch, um dann wieder zu einer Struktur zurückzukehren, die durch größere Geschlossenheit und Einheitlichkeit gekennzeichnet ist. Das widerspricht grundsätzlich dem von uns kritisierten Schema der Entwicklung von fehlender Ganzheitlichkeit zu dieser Eigenschaft. Es sei hinzugefügt, daß das oben in bezug auf Sätze mit prädikativem Nominativ Ausgeführte sich auch auf die Partizipien
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Zitiert nach: L ö f s t e d t , E.: Syntactica. Studien und Beiträge zur historischen Syntax des Lateins. Teil I. Lund 1928. S. 75f. Vgl.: Η a ν e r s , W.: Zur Syntax des Nominativs. In: Glotta. Bd. XVI, 1928, S. 94ff. Vgl.: B e n v e n i s t e , E.: La phrase nominale. In: BSLP, t. XLVI, 1950, fasc. 1. Π ο τ ε δ Η » , A.A.: H3 3anHCOK no pyccKofi rpaMMaTHKe. l - I I . MocKBa 1958. S. 192.
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im Nominativ bezieht, die nicht als Attribut schlechthin, sondern als prädikatives Attribut auftreten. 3. Formaler Parallelismus von Wortgruppengliedern, die Begriffe bezeichnen, von denen im gegebenen Fall einer dem anderen untergeordnet ist (Parataxe in Wortgruppen mit Subordination), insbesondere Verwendung von Substantiven im gleichen Kasus, ihre Koordination, wenn sie logisch nicht auf gleicher Linie stehen, ζ. B. den Teil und das Ganze bezeichnen, verleiht nach der Meinung einiger Forscher dem indoeuropäischen Satz einen logisch diffusen Charakter. Es handelt sich um weithin bekannte syntaktische Konstruktionen des Typs oöjiumb eedpoM eodoio, κ nany 'jeneny ewy u. ä . " Aber die Wiederholung des Kasus, z.B. des Instrumentals (eedpoM eodoio), bedeutet noch lange nicht, daß hier subordinative syntaktische Bindungen fehlen und folglich eine mangelhafte strukturelle Organisation vorliegt. Jeder zweite (dritte usw.) Kasus, wenn er nicht appositiv mit dem vorangehenden verknüpft ist, nimmt die gleiche abhängige syntaktische Position wie der erste ein. Diese Kasus treten als gleichartige Satzglieder auf; wenn das oblique Kasus sind, sind sie u. a. als parallel gebrauchte Bezeichnungen von Objekten zu werten, usw. Natürlich bleibt in solchen Fällen die logische Nichtparallelität der Begriffe, der besondere Charakter ihrer Beziehung zueinander formal Undefiniert. Aber der Umstand, daß diese Beziehung sich hier formal nicht manifestiert, muß nicht unbedingt bedeuten, daß wir es mit einer durchaus lockeren syntaktischen Struktur zu tun haben. Das bestätigt die Entstehung mehr oder weniger ähnlicher Konstruktionen in Sprachen mit hochgradig zentriert-geschlossenen Satz- und Wortgruppenstrukturen (vgl. zwei Fädchen geronnenes Blut im Deutschen). Das Aufkommen solcher Konstruktionsarten in den indoeuropäischen Einzelsprachen widerlegt die pauschale Erklärung der Parataxe in den Substantivgruppen durch die archaische Denkweise. Hier können rein strukturelle Faktoren im Spiel gewesen sein.
IV Der Ansicht über die Entwicklung des indoeuropäischen Satzes, nach der diese Entwicklung den Übergang von strukturell diffuser zu ganzheitlich-geschlossener Satzstruktur darstellte, setzen wir die Behauptung entgegen, daß diese Entwicklung im Übergang von einem Typ der Ganzheitlichkeit und Geschlossenheit des Satzes zu einem anderen bestand, von einer Organisationsform des Satzes zur anderen. Als das finite Verb und die Kasus entstanden, erlangte der indoeuropäische Satz auf der Grundlage dieser morphologisch ausdruckskräftigen Formen eine Geschlossenheit, die sie ihm selbst verliehen,
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Π ο τ β δ Η ί ΐ , A.A.: H3 3ariHCOK no pyccKoH rpaMMaraKe. III. XapbKOB 1899. S. 278ff. [deutungsweise: 'begießen mit einem Eimer mit Wasser'; 'zum Kübel zum Weine'; im ersten Fall ist eodoio 'mit Wasser' im altrussischen Text formal als präpositionsloser Instrumental - nicht dem Substantiv - ebenfalls im Instrumental - eedpoM 'Eimer', sondern dem Verb oÖAumb 'begießen' untergeordnet].
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der Struktur des einfachen
Satzes
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ohne daß zusätzliche syntaktische Mittel dazu nötig wären. Das ergab eine „ruhige", „nichtgespannte" syntaktische Satzeinheit. Die morphologischen Formen, auf denen eine solche Satzstruktur basiert, sind syntaktisch nicht gleichwertig, sie treten im Endeffekt entweder als notwendige, primäre, als die Hauptglieder oder als Nebenglieder des Satzes auf. Diese haben obligatorische Fügungspotenzen, die sie an die primären Satzglieder binden. Immerhin dominiert hier die ruhige, nichtgespannte Art der ganzheitlichen Satzstruktur. Eine Reihe von Faktoren war für die weitere Entwicklung des indoeuropäischen Satzbaus von entscheidender Bedeutung. Die Mittel, die die Ganzheitlichkeit des älteren indoeuropäischen Satzmodells gewährleisteten, erwiesen sich nur so lange effektiv genug, wie der Satz verhältnismäßig kurz war. Mehrte sich die Anzahl abhängiger Satzglieder, wobei einige sekundäre Satzglieder sich an andere sekundäre syntaktische Elemente usf. hefteten, so wurde dadurch die strukturelle Ganzheit des Satzes, die auf der Zentrierung aller Bestandteile um einen Mittelpunkt beruhte, ernsthaft bedroht. Je weiter die Satzgrenzen ausgedehnt wurden, wobei der Satz nicht mehr fächerartig, sondern wie eine langgezogene Linie wirkte, desto weniger deutlich konnten die Wechselbeziehungen der Satzbestandteile zum Vorschein kommen. Und, wie Meillet zu Recht bemerkt hat, „gibt es keine Höchstzahl von Elementen für die Bildung eines idg. Satzes". 12 Natürlich kann man im Aspekt des Satzumfangs, ebenso wie in bezug auf andere Entwicklungslinien, keine deutliche Grenze zwischen verschiedenen Sprachstufen ziehen. Aber zweifellos kann man unterschiedliche Tendenzen der Entfaltung des Bestandes an Gliedern im Satz, unterschiedliche Frequenz von mehrgliedrig ausgebauten Satzgebilden in verschiedenen Etappen der indoeuropäischen Sprachentwicklung annehmen. Neben dem Faktor Satzumfang wirkten sich auf den Wandel der Satzstruktur die Veränderungen der Wortstruktur aus. Unterschiedliche Entwicklungstendenzen in diesem Bereich lösten einander auf verschiedenen Sprachstufen ab oder beeinflußten gleichzeitig die indoeuropäische Wortstruktur. Immerhin bestand im Laufe einer langen Periode, deren Beginn in die Epoche der „ruhigen", nichtgespannten Satzstruktur zurückreicht, die Haupttendenz darin, daß sich an das Wurzelwort Determinative, Suffixe und Flexionsendungen hefteten. Am kompliziertesten fiel die Struktur des Verbs aus, in dem eine Reihe von Formanzien, hauptsächlich relativ späten Ursprungs, besonders deutlich ausgegrenzt werden konnte. Eine solche Erweiterung der Wortgrenzen gefährdete - trotz der „Gesetze" des Wortauslauts im Indoeuropäischen die Ganzheitlichkeit des Wortes, zumal die musikalische Wortbetonung vorherrschend war und die Wortgrenzen im Redefluß vielfach verwischt wurden (Sandhi). Als Gegenreaktion auf diese Gefahr entwickelte sich die dynamische Wortbetonung, die den Zusammenschluß aller Wortelemente um das durch die Betonung hevorgehobene Kemelement kennzeichnet. Von diesem
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Μ e i 11 e t , Α.: Einfuhrung in die vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen. Leipzig u. Berlin 1909. S. 217 [s. Fußn. 3 auf S. 39],
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Prozeß wurden - zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenem Maße - fast alle indoeuropäischen Sprachen betroffen. Selbstverständlich mußten sich die genannten Vorgänge auf die Satzstruktur auswirken. Dem im Zeichen der musikalischen Betonung ohne innere Spannung dahinfließenden Wort entsprach die „ruhige", nichtgespannte Struktur des Satzes. Die neue gespanntere, schärfer ausgegrenzte Wortstruktur mußte einen Systemdruck auf die Satzstruktur ausüben. Sie ergab eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Herausbildung wesentlich gespannterer, geschlossenerer Satzstrukturen. Aber auch von einer anderen Seite erwies sich die Änderung der Wortstruktur als mächtiger Faktor der Evolution des Satzbaus. Bekanntlich geht die starke Akzentuierung einer, das Wort beherrschenden, Silbe mit mehr oder weniger weitgehender Abschwächung anderer Silben im Wort einher, was vielfach zu deren Reduktion führt, und diese betrifft in der Regel die grammatischen Endsilben des Wortes, vor allem die Flexionsendungen. Dadurch wird die Ausdrucksfähigkeit der morphologischen Formen beeinträchtigt. Oft fallen sie zusammen, ihre syntaktische Bedeutung verliert an Bestimmtheit. Ausgeglichen werden konnten diese negativen Vorgänge im morphologischen Bereich nur durch den Wandel des Satzbaus in Richtung auf ein Organisationssystem, bei dem die Funktionen der in den Satz einbezogenen Wörter durch rein syntaktische Baumittel zum Ausdruck gebracht werden konnten. Und das konnte nichts anderes als die Herausbildung straff organisierter Satzbauweisen bedeuten, die mit rein syntaktischen Gestaltungsmitteln jedem Wort eine bestimmte Funktion zuzuweisen vermochten. In den indoeuropäischen Sprachen waren die dargelegten Faktoren in verschiedener Zeit und in unterschiedlichem Maße wirksam. Immerhin kommen hier, wie es scheint, zwei Hauptrichtlinien der Umgestaltung des Satzbaus in Frage. 1. Eine dieser Richtlinien ist dadurch gekennzeichnet, daß die Entfaltung des Satzes sich vorwiegend auf der Grundlage von Mitteln vollzog, die fur das Zeitalter der nichtgespannten Satzstruktur charakteristisch waren. Das Wort bleibt hier größtenteils noch autonom, die Beziehungen eines Wortes zum anderen sind weitaus einseitig. Das heißt, daß die sekundären Satzglieder obligatorische Fügungspotenzen aufweisen, die auf die notwendigen, die Kernglieder des Satzes ausgerichtet sind, diese sind dagegen syntaktisch selbstgenügend. Die syntaktische Funktion des Wortes ist hauptsächlich aus seiner eigenen Form ersichtlich, nur selten bedarf es dazu der Unterstützung von Seiten des Kontextes. Dem Satzbau liegt vor allem die morphologische Form des Wortes zugrunde, die entweder syntaktisch völlig eindeutig ist oder in Verbindung mit einer anderen Wortform ihre syntaktische Funktion leicht erkennen läßt. Eben auf der Basis deutlich gekennzeichneter Bedeutungen morphologischer Wortformen entstehen neue Satzbauweisen und Mittel zur Erweiterung des Satzumfangs. So haben sich in absoluten Partizipialgruppen Konstruktionen durchgesetzt, die auf obliquen Kasus aufbauen (Genitiv im Griechischen, Ablativ im Latein, Dativ in slawischen und germanischen Sprachen, Lokativ und Genitiv im Sanskrit), was dadurch zu erklären ist, daß die obliquen Kasus in ihrer Opposition zum Nominativ den abhängigen Charakter der gesamten
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Partizipialgruppe zum Ausdruck brachten, die sich notwendigerweise auf den Hauptteil des Satzes stützte. Die absoluten Partizipialgruppen in den obliquen Kasus gehen nicht auf den alten parataktischen Satzbau zurück, sondern es offenbart sich in ihnen die Eigenart einer neuen indoeuropäischen Satzstruktur, die die Satzgrenzen auszudehnen erlaubt und gleichzeitig den grammatischen Zusammenhang der Satzteile sichert. Das verhältnismäßig späte Aufkommen der absoluten Partizipialgruppen wird dadurch bestätigt, daß sie in den Sprachen, in denen wir sie antreffen, verschiedene, etymologisch miteinander nicht korrelierende oblique Kasus aufweisen. Als wesentliches Baumittel tritt in einem solchen „autonom-zusammengefaßten" Satz auch die Wortstellung auf. Starke Ausdrucksfähigkeit der morphologischen Einzelwortform macht es möglich, im mehrgliedrigen Satz eng zusammengehörende Wörter voneinander zu distanzieren, was u. U. zur teilweisen Verflechtung der Wortgruppen im Satz fuhren kann. So kann das strukturell notwendigste Satzglied, das finite Verb, ans Ende des Satzes rükken, wodurch der Satz, wenn auch nur einseitig, umrahmt erscheint. Die Endstellung des finiten Verbs fuhrt wohl eine Tradition fort, die in den ältesten Sprachstufen des Indoeuropäischen verankert ist, aber ihre strukturelle Bedeutung kommt mit wesentlicher Erweiterung der Satzgrenzen in besonderer Weise zum Tragen. Diese Art Rahmenstruktur des Satzes - bei weitgehender Autonomie des Wortes im Satz - ist zum Beispiel für Latein und Sanskrit typisch. 2. Die andere Richtung in der Entwicklung der nichtgespannten Satzstruktur besteht in ihrem radikal tiefgreifenden Umbruch, und zwar in ihrer Verwandlung in eine kompakte „gespannt-zusammengefaßte" Struktur. Das Wort verliert in bedeutendem Maße seine satzinterne Autonomie. Das hängt mit dem Aufkommen und der Verbreitung obligatorischer Fügungspotenzen beim Verb und bei den Kerngliedern des Satzes und der Wortgruppen überhaupt zusammen, damit, daß gewisse Verben die kopulative bzw. die Hilfsfunktion übernehmen, was u. a. zur Entstehung zusammengesetzter („umschreibender") Prädikat- und Konjugationsformen führt. Das hängt auch mit deutlicher gegenseitiger Absonderung der verbalen und der substantivischen syntaktischen Gruppe zusammen hinsichtlich der Wortformen, die zum Bestand dieser Gruppen gehören, sowie in bezug auf die allgemeinen Prinzipien ihrer Gestaltung. 13 Von besonderer Tragweite sind diese Tendenzen in Sprachen mit weitgehender Reduktion der Flexionsendungen. Die Gespanntheit der Satzstruktur wird hier durch feste (kontakte oder nichtkontakte) Wortstellung verstärkt, die hauptsächlich dazu dient, die syntaktischen Funktionen der Satzglieder zu kennzeichnen. Dem Einzelwort werden bestimmte Stellungen im Satz bzw. in der Wortgruppe zugewiesen.
13
Vgl.: A a M O H H ,
Β.Γ.: Ο
H e K O T O p b l X 3 a K O H O M e p H O C T 5 I X pa3BMTHSl C M H T a K C H H e C -
ΚΟΓΟ CTpos. In: FLOIOIAJBI Η c o o ö m e H H « H H C T m y r a A3BIKO'3HANNS ΑΙΟΛΚΜΜΜ H a y K C C C P . V , 1 9 5 3 [s. in d i e s e m B a n d S. 35ff.].
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Die Entwicklung der Struktur des einfachen
Satzes
Bezeichnenderweise demonstriert die deutsche Sprache (vgl. die Monoflexion), wie der verhältnismäßig hohe Entwicklungsstand der Flexion mit „gespannt-zusammengefaßter" Satzstruktur einhergehen kann. Sprachen mit gespannter Satzstruktur tendieren dazu, daß die Rolle des syntaktischen Zentrums des Satzes nicht mehr dem finiten Verb allein, sondern komplexeren Gebilden zufällt. In vielen Sprachen übernimmt diese Rolle die Verbindung des Subjektsnominativs mit dem finiten Verb (dieses Prinzip herrscht im Englischen); andererseits kann das tragende Satzgerüst - wie im Deutschen - die verbal-prädikative syntaktische Gruppe bilden. Wie schon gesagt, können Elemente beider Satzstrukturtypen in einer Sprache vertreten sein, absolut reine Strukturen des „autonom-zusammengefaßten" und des „gespannten" Typs gibt es nicht. Es kann sich nur um die Dominanz der einen oder der anderen Entwicklungsrichtung handeln, die der gesamten Bauart einer indoeuropäischen Einzelsprache bzw. Sprachgruppe ihr qualitatives Gepräge verleiht. Leicht kann freilich der Eindruck entstehen, daß die umrissenen Satzbauweisen einander im Zeitverlauf ablösen, nämlich so, daß nach der „ruhigen", nichtgespannten Satzstruktur die „autonom-zusammengefaßte" die Oberhand gewinnt und auf diese dann die gespannte syntaktische Bauart folgt. Das Beispiel der romanischen Sprachen, die den Wandel von der „autonom-zusammengefaßten" Struktur des lateinischen Satzes zur gegenwartssprachlichen gespannten (in unterschiedlichem Grade gespannten) Satzstruktur durchgemacht haben, scheint diesen Standpunkt zu bekräftigen. In Wirklichkeit trifft er jedoch nicht zu. Das Festhalten an der „autonomzusammengefaßten" und die Entstehung und Festigung der „gespannten" Satzstruktur stellen zwei in der indoeuropäischen Sprachgeschichte parallel verlaufende und ζ. T. zusammenwirkende Entwicklungstendenzen dar. Die Erscheinungsformen des einen oder des anderen Strukturtyps können in einer bestimmten Sprache vorherrschend geworden sein. Das Beispiel der russischen Sprache zeigt, wie nach einer langen Periode, in der die Merkmale der gespannten Satzstruktur immer mehr an Boden gewannen (Verluste an syntaktischer Autonomie des Wortes, vor allem des Verbs, Schaffung „umschreibender" verbaler Formen), sich wieder die entgegengesetzte Tendenz durchsetzt. Das Wort gewinnt nämlich erneut weitgehende syntaktische Autonomie, die Sprache bedient sich in breitem Maße (teilweise kontextabhängiger) syntaktischer Ausdrucksmöglichkeiten der substantivischen Kasus, vgl. ζ. B. den Instrumental in der prädikativen Funktion. Bezeichnend ist, daß im Russischen einige zusammengesetzte verbale Formen untergehen, vgl. den Übergang von der Form, die aus dem Hilfsverb 6bimb 'sein' und dem Partizip auf -η bestand, zur einfachen Vergangenheitsform auf -n. Interessant ist auch die Tatsache, daß die Zweigliedrigkeit in einigen Satztypen des Russischen eingeschränkt ist und daß das finite Verb oder ein spezielles prädikatives Wort, das die „Kategorie des Zustandes" repräsentiert, oft allein als Satz„Achse" auftritt. Sicher kann man Elemente des gespannten Satzbaus dem Gegenwartsrussischen nicht absprechen. Die Beschaffenheit des russischen Satzbaus unterscheidet sich wesentlich von den uns aus dem ältesten indoeuropäischen Schrifttum bekannten Beispielen der „autonom-zusammengefaßten" Satz-
Die Entwicklung der Struktur des einfachen Satzes
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struktur. Der Satz ist im Gegenwartsrussischen unvergleichlich zentrierter und geschlossener. Bemerkenswert ist, daß das Russische keine Partizipialkonstruktionen in obliquen Kasus mehr kennt, dafiir aber eine Sonderpartizipialform, das sogenannte „dejepriöastije" hat, das die Unterordnung einer, der Begleithandlung, einer anderen, der Haupthandlung, anzeigt. Das Russische weist auch ein weitverzweigtes System von beiordnenden und unterordnenden Konjunktionen auf. Bei alledem sind aber dem Satz im Russischen eine Flexibilität der Wortstellung und eine Autonomie des Wortes eigen, die ihn ζ. B. vom deutschen Satz mit seiner ausgesprochen gespannten Struktur nahezu bis zur Gegensätzlichkeit unterscheiden. Es sei zum Schluß nochmals betont, daß die „autonom-zusammengefaßte" und die „gespannte" Satzstruktur nicht zwei aufeinanderfolgende Entwicklungsstufen repräsentieren, sondern die Eigenart zweier Haupttendenzen in der Entwicklung des gesamtindoeuropäischen Satzbaus, und in den indoeuropäischen Einzelsprachen stehen sie in verschiedenen Perioden ihrer Geschichte in unterschiedlichem Kräfteverhältnis zueinander - in Abhängigkeit von mannigfaltigen in diesen Sprachen wirksamen Faktoren.
1961
Das Problem des „Gemeinschaftskasus" in der deutschen Gegenwartssprache In einer im Jahre 1898 veröffentlichten Arbeit behandelte Mensing die Funktionen des Nominativs im Deutschen viel eingehender, als dies in den wissenschaftlichen Grammatiken des Deutschen vor ihm und nach ihm getan wurde. Besondere Aufmerksamkeit widmete er der Nennfunktion des Nominativs und der Möglichkeit, ihn als casus absolutus zu verwenden. Er wies auch auf den Gebrauch des Nominativs in präpositional eingeleiteten „formelhaft verbundenen" Fügungen aus zwei Substantiven bzw. Adjektiven hin. 1 Es handelt sich in diesen Fällen nach Mensing um Wortgruppen, die als einheitliche Begriffe aufgefaßt werden. Die Kasusform der Substantive in solchen Wortgruppen bezeichnet er zunächst als „unflektiert" und unmittelbar daneben in Klammern als „Nominativ"; betitelt ist der betreffende Abschnitt seiner Abhandlung mit den Worten „Der Nominativ als ,Gemeinschaftskasus' nach Präpositionen". In Beispielen, die Mensing anführt, finden sich vier Präpositionen: mit, für, zwischen, von. Einige Wortgruppen, die diese Belege enthalten, stellen in der Tat Phraseologismen dar, vgl. mit Mann und Maus; öfter sind in den Wortgruppen solche Begriffe miteinander verknüpft, die einander entgegengesetzt sind, aber zusammen die ganze Gattung von Wesenheiten bestimmter Art restlos umfassen, vgl .für Alt und Jung; mitunter - nach zwischen - bezeichnen die Komponenten der Wortgruppe Begriffe, die lediglich aufgrund eines Merkmals einander gegenüberstehen, vgl. zwischen Bös und Gut, zwischen Affe und Mensch, zwischen Gatte und Vater. Man trifft auch Verbindungen von Begriffen, zwischen denen kein Gegensatz besteht und die durch bloße Anreihung miteinander vereinigt sind, vgl. mit Herz und Mund, mit Herz und Schwert. Die Fakten, die Mensing selbst anfuhrt, zeigen unmißverständlich, daß es sich keinesfalls durchweg um einheitliche Begriffe als Inhalt der betreffenden Wortgruppen handelt. Ungenau ist ebenfalls Mensings Hinweis darauf, daß die Substantive in den von ihm anvisierten Wortgruppen pauschal in der „unflektierten" Form auftreten. Substantive schwacher Deklination, die in diesen Wortgruppen die Formen wie Affe, Mensch, Gatte aufweisen, bezeugen offensichtlich, daß wir es hier mit dem Nom. Sg. zu tun haben (Formen wie Vater können nicht nur als Nominativ, sondern auch als Dativ oder Akkusativ gedeutet werden). Die die schwache Deklination kennzeichnende formale Gegenüberstellung des Nominativs und der übrigen singularischen (sowie aller pluralischen) Kasus
1
M e n s i n g , O.: Die Formationen des Nomens. In: E r d m a n n , O., M e n s i n g , O.: Grundzüge der deutschen Syntax nach ihrer geschichtlichen Entwicklung. Abt. 2. Stuttgart 1898. S. 117-118. Im ganzen ist dem Nominativ der Abschnitt auf S. 56-118 gewidmet.
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Das Problem des „ Gemeinschaftskasus
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macht die Bestimmung der betreffenden Form als „Gemeinschaftskasus" zumindest sehr fraglich. Das Problem des Gemeinschaftskasus hat auch Sütterlin thematisiert.2 Als eine Erscheinungsform des Gemeinschaftskasus sieht er vor allem die Gleichheit aller Kasusformen eines und desselben Substantivs (bei getrennter Betrachtung der singularischen und der pluralischen Kasusreihen) an: Kirschen sind gut; das gleicht Kirschen; er liebt Kirschen; ein Pfund Kirschen. Sütterlin weist einschränkend auf die Bedingung hin, daß man nur dann vom Gerne inschaftskasus sprechen kann, wenn man von der Korrelation unveränderlicher und veränderlicher Formen in den gleichen syntaktischen Positionen absieht. Ferner charakterisiert Sütterlin als Gemeinschaftskasus, der dem Gemeinschaftskasus im Englischen und Französischen sowie dem status constructus des Hebräischen analog ist, die zweiten Komponenten von Konstruktionen der Art wie Antrag Kanitz, Schulzes Beruf als Lehrer, Müller-Meiningen (Mensing hat alle diese Fälle berücksichtigt, nicht aber als Erscheinungsformen des Gemeinschaftskasus). 3 In der russischen Germanistik befaßte sich Moskalskaja mit dem Problem des Gemeinschaftskasus. 4 Außer den Phänomenen, die Mensing als Erscheinungsformen des Gemeinschaftskasus betrachtete, sieht Moskalskaja - teilweise in Übereinstimmung mit Sütterlin - als Gemeinschaftskasus die unflektierte Form des Stofifnamens in partitiven Fügungen mit einem Substantiv an, das ein Maß bezeichnet, sowie die manchmal anzutreffenden unveränderlichen Formen beider Glieder solcher Fügungen nach einem Numerale wie in zwei Sack Mehl, einige Glas Tee, eine Flasche Wein, eine Menge Leute. Ferner zieht sie die Form der Monatsnamen, denen die Bezeichnung eines Zeitabschnitts bzw. Zeitpunktes vorangeht, als Gemeinschaftskasus in Betracht: Anfang Juni, Ende Oktober. Schließlich gilt für Moskalskaja als Gemeinschaftskasus auch die nichtkongruierende substantivische Apposition mit als in Fällen wie die Verdienste Humboldts als Naturforscher. Wie Sütterlin nimmt auch Moskalskaja an, daß das Aufkommen des Gemeinschaftskasus im Deutschen nicht nur durch den funktionalen Charakter des Nominativs, sondern auch durch das Übergewicht der Null-Endung in der Substantivdeklination gefördert wurde 5 Das Vorhandensein des Gemeinschaftskasus im Deutschen wird dabei nicht als eine hypothetische Annahme, sondern als unzweifelhafte tatsächliche Gegebenheit hingestellt. Ein wesentliches Merkmal der Verwendung der Nominativform in der Eigenschaft des Gemeinschaftskasus stellt für Moskalskaja - wie ehedem für Mensing - der artikellose Gebrauch des Substantivs dar. Überblickt man alle Konstruktionsarten, mit denen die oben genannten Forscher die Existenz des Gemeinschaftskasus im Deutschen belegen, so muß 2
3 4
5
S ü t t e r l i n , L.: Die deutsche Sprache der Gegenwart. 3. Aufl. Leipzig 1910. S. 190. M e n s i n g , 0 . : 0 p . cit. S. 100, 115-116. Μ Ο c κ a JI b c κ a a , O.H.: TpaMMaTHKa HeivieuKoro snbiKa (TeopeTHHecKHH Kypc). ΜορφοηοΓΗ». MocKBa 1956. S. 85.
Ibid.
Das Problem des „ Gemeinschaftskasus"
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man feststellen, daß ihre gemeinsamen Eigenschaften in mangelnder Motiviertheit des Gebrauchs des Nominativs in diesen Konstruktionen vom Standpunkt der klassischen syntaktischen Funktionen des Nominativs aus sowie in der Abweichung von den Regeln der Kongruenz bzw. der Rektion bestehen. In der Tat hätte man in diesen Konstruktionen nach den gemeingültigen Regeln der Kongruenz bzw. Rektion entweder einen der obliquen Kasus oder in einigen Fällen - ein grammatisches Dienstwort verwenden müssen. So wären zum Beispiel in den präpositionalen Wortgruppen zwischen Affe und Mensch, mit Herz und Mund der Dativ zu erwarten gewesen, in der Fügung des Typs Antrag Kanitz die Präposition von {Antrag von Kanitz) oder der Genitiv, wenn dies nicht phonetisch behindert ist, in der Wortgruppe mit als ebenfalls der Genitiv (Schutzes Beruf als Lehrers), statt der zweiten Komponente der Fügung Müller-Meiningen die Form des präpositionalen Attributs mit von oder aus (Müller von Meiningen, Müller aus Meiningen), in den Maß-Stoff-Verbindungen des Typs eine Flasche Wein das Genitivattribut (eine Flasche Weins), desgleichen bei der Bezeichnung der Zeitabschnitte, vgl. Ende Oktober - Ende Oktobers. Der Nominativ wirkt in allen diesen Fällen wie der Ersatz eines anderen, eines unter den gegebenen grammatischen Bedingungen „normativen" Kasus. Immerhin hat es mit einer Konstruktion eine andere Bewandtnis, nämlich mit der von Sütterlin unter den Begriff des Gemeinschaftskasus subsumierten Konstruktion mit der Substantivform Kirschen, die alle vier pluralischen Kasus vertritt. In allen übrigen Erscheinungsformen des „Gemeinschaftskasus" handelt es sich auch um den Nominativ als Substitut anderer Kasus. Da eine solche Substitution die allgemeine Basis der Auffassung bestimmter Substantivformen als „Gemeinschaftskasus" darstellt, darf man andere Fälle, in denen eine ähnliche Substitution vorliegt, nicht außer acht lassen. Jedes grammatische Phänomen, das auch nur ein wesentliches Merkmal mit anderen grammatischen Phänomenen teilt, muß bei der wissenschaftlichen Betrachtung in eine Reihe mit diesen gestellt werden. Die frontale Musterung solcher Reihen ist ein unabdingbares Element systemischer Analyse sprachlicher Gegebenheiten. Ebenso notwendig ist die Eingliederung jedes grammatischen Teilbereichs in das Gesamtsystem der Morphologie und Syntax. Als ein Sonderfall der nominativischen Substitution ist der Nominativ anstelle anderer Kasus in einigen Wortgruppen anzusehen, die durch einen engen strukturell-semantischen Zusammenschluß zweier Substantive mit Präpositionen gebildet sind; hierher gehört auch der alleinstehende Nominativ nach einer Präposition; vgl. von Mann zu Mann, von Mensch zu Mensch, von Kamerad zu Kamerad, eine Art von Humorist, eine Seele von Mensch, laut Befehl, wegen Diebstahl.6 Zu den Sonderfällen gehört ebenfalls der Gebrauch des Nominativs in Verbindung mit dem Substantiv Art, vgl. eine Art Glück. Es sei demgegenüber aber die überaus große Verbreitung des Nominativs in unterschiedlich ausgeformten Wortgruppen hervorgehoben, zu deren Bestand Eigennamen, Berufsbezeichnungen, Bezeichnungen von Ämtern, Titeln 6
L j u n g e r u d , I.: Zur Nominalflexion in der deutschen Literatursprache nach 1900. Lund - Kopenhagen 1955. S. 121-124.
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Das Problem des ,, Gemeinschaftskasus"
u. dgl. gehören. In diesen Wortgruppen hängen die Formen der Substantive, darunter die nominativische, bekannterlich von dem Bautyp der Gruppe im ganzen, insbesondere vom Gebrauch bzw. Nichtgebrauch des Artikels, ab.
Vgl. das Buch des Doktors Reinhart - Doktor Reinharts Buch. Vgl. auch Karls Buch - Karl Reinharts Buch, wo der Personenname Karl, der im Genitiv im allgemeinen mit dem vollauf ausdrucksfähigen Formans -s versehen wird, im zweiten Fall keine Endung hat. 7 Alle vorhin angeführten Beispiele demonstrieren das Substantiv in der Nominativform ohne einen unmittelbar auf dieses Substantiv bezogenen Artikel,
vgl. Meiningen in Müller-Meiningen, Kanitz in Antrag Kanitz, Doktor in Doktor Reinharts Buch, Reinhart in des Doktors Reinhart. Aber der einen anderen Kasus ersetzende Nominativ tritt mitunter auch mit einem eigenen Artikel auf. Dies kommt einigermaßen häufig vor, wenn das Substantiv als abgesonderte Apposition gebraucht wird, vgl. Außerdem gab es ehemals eine Britzer Heide, ein übelberüchtigter Wald (Alexis). Manchmal steht der Nominativ anstelle des Akkusativs in der absoluten Konstruktion, vgl. Wenn ich nun
einst wiederkehrte, den Busen mit den schönsten Gefühlen angefüllt, mein Geist genährt mit den Erfahrungen der Vorwelt (Tieck).8 Die Gesamtheit mannigfaltiger Konstruktionen, in denen der Nominativ anstelle anderer Kasus auftritt, sollte auf den ersten Blick die Ansicht bekräftigen, nach der es im Deutschen einen Gemeinschaftskasus gibt, der breit verwendet wird. In Wirklichkeit trifft dies meiner Meinung nach nicht zu. Die absolute Mehrheit dieser Konstruktionen weist in eine andere Richtung. Sie zeigen, wie weiter unten eingehend ausgeführt wird, daß die Substitution obliquer Kasus durch den Nominativ nicht als das Aufkommen eines neuen Kasus interpretiert zu werden braucht, denn diesem Phänomen liegen einige spezifische Funktionen eben des Nominativs zugrunde; es hängt auch mit bestimmten allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Wortgruppenstruktur im Deutschen zusammen. Der scheinbar unmotivierte Gebrauch des Nominativs kann sich als durch das funktionale Spektrum dieses Kasus motiviert erweisen. Beginnen wir mit den Konstruktionen appositiver Art. Der Gebrauch des Nominativs anstelle anderer Kasus kann hier durch unterschiedliche Ursachen bewirkt werden. Im Satz Traf ich einen jungen V. an, ein offener Junge (Goethe) ist die Apposition mit dem Benennungssatz in kontextbedingter Verwendung vergleichbar. Ein solcher Nominativ ist funktional verwandt mit dem Nominativ, der einen selbständigen Satz bildet, er hat dabei aber keine rein existentiale Bedeutung, sondern bezieht sich auf ein Element des Kontextes: Die prädikative Projektion, die vom appositiven Nominativ ausgeht, ist zum
7
V g l . A Ä M O H H , Β . Γ . : O p y i c r y p a rpynnbi cymecTBHTejibHoro Β HCMCUKOM »3biKe. In: YneHbie 3armcKn I JleHMHrpaacKoro rocyaapcTBeHHoro neaarornnecKoro HHCTHTyra HHocTpaHHbix «3biKOB. H o e a f l cepH», BbinycK 1. J l e H H H r p a j 1 9 5 4 . S.
1 2 8 - 1 3 4 [s. in diesem Band S. 8 6 - 9 2 ] , 8
Das Beispiel ist dem Werk von Paul entlehnt: P a u l , H.: Deutsche Grammatik. Bd. III. Halle (Saale) 1954 [Ί919], S. 281.
Das Problem des „ Gemeinschaftskasus
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Akkusativobjekt des Basissatzes, einen jungen V., gerichtet. 9 Die syntaktische Beziehung, die hier vorliegt, stellt eine Analogie zur syntaktischen Beziehung im folgenden Fall dar, in dem der Nominativ vom vorangehenden Satz (bzw. vom Dativ ihm in diesem Satz) durch den Punkt abgetrennt ist: Freilich, ich muß es sagen, es wird nichts mit ihm. Aber ein guter Junge, der mir alles zuliebe tut (Fontane); vgl. auch: Er guckte auch nach den Schuhnummern. Lauter feine gute Stücke (Seghers). Für die Konstruktionen, in denen anstelle des „absoluten" Akkusativs der „absolute" Nominativ gebraucht wird, kann die Aktualisierung der Subjektsfunktion des Nominativs ausschlaggebend sein, und die Konstruktion nähert sich dann ihrem grammatischen Charakter nach dem verblosen zweigliedrigen Satz, wobei ihre Abhängigkeit vom Basissatz abgeschwächt wird. Es scheint uns kein Zufall zu sein, daß diese Fügung als Ganze in vielen Fällen des „absoluten Nominativs" auf eigenartige Weise vom Basissatz abgehoben erscheint, sei es dadurch, daß sie ihm vorangestellt wird, oder durch Umkehrung der Glieder innerhalb der Konstruktion selbst, vgl. Die Gräfin ging zurück zum Schloß, in ihren Augen fieberhafter Glanz.10 Viele Fälle dieser Art scheinen Behaghels These von der Herstellung der „syntaktischen Ruhelage" zu bestätigen." Der Übergang von einem obliquen Kasus zum Nominativ könnte wohl im Sinne Behaghels als Vorgang interpretiert werden, der im Zeichen der Tendenz zum Gebrauch eines „normaleren" Kasus anstelle einer „indirekten" und darum größere Spannung bewirkenden Kasusform steht. Aber auch bei dieser Annahme muß als wichtiger Faktor des „Abrutschens" zum Nominativ die allgemeine funktionale Spezifik des Nominativs in Rechnung gestellt werden, denn er kann nur unter der Bedingung die Rolle des syntaktisch „ruhigen" Kasus spielen, daß er die Nennfunktion erfüllt, und das bedeutet, daß der Nominativ der Kasus ist, den man gebraucht, wenn man lediglich etwas benennen will, ganz gleich in welchem Kontext oder in welcher Sprechsituation. Die Nennfunktion des Nominativs überschneidet sich mit dem Kreis der Funktionen des vermeintlichen Gemeinschaftskasus noch in einem Punkt. In der Substantivgruppe finden sich oft abhängige Glieder, die - ohne jegliche Anzeichen von Kongruenz oder Rektion - Begriffe bezeichnen, die die allge9
10
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Α λ μ ο η η , Β.Γ.: 3aBepuieHHOCTb κοΗςτργκιΐΗΗ KaK HBJieHne CHHTaiccHHecKoH φορΜΜ. In: Bonpocbi H3biK03HaiiHfl, 1958, X» 1. S. 114 [s. in diesem Band S. 175ff.]; d e r s . : Ο npeÄHKaTHBHOCTH. In: yneHbie 3anncKn JleHHHrpaacKoro rocyaapcTBeHHoro neaaroranecKoro HHCTmyra. Bd. XXVIII. JleHHHrpaa 1957 [s. in diesem Band S. 149ff.]. Das Beispiel ist Blatz entlehnt: B l a t z , F.: Neuhochdeutsche Grammatik. Bd. II. 3. Aufl. Karlsruhe 1896. S. 310-311. B e h a g h e l , O.: Die Herstellung der syntaktischen Ruhelage im Deutschen. In: Indogermanische Forschungen. Bd. XIV, 1903. Der Nominativ steht auch in anderen indoeuropäischen Sprachen als Kasus der syntaktischen Ruhelage den übrigen Kasus gegenüber. S. dazu: L ö f s t e d t , E.: Syntactica. Studien und Beiträge zur historischen Syntax des Lateins. Teil I. 2. Aufl. Lund 1942. S. 25ff.; Η a ν e r s,W.: Zur Syntax des Nominativs. In: Glotta. Bd. XVI, 1927; d e r s . : Handbuch der erklärenden Syntax. Heidelberg 1931. S. 68.
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Das Problem des „ Gemeinschaftskasus "
meinere Bedeutung des Kerngliedes der Gruppe individualisieren; somit sind sie mit gewöhnlichen Benennungen vergleichbar, mit Buchtiteln, Titeln von Theaterstücken, Schiffsnamen u. dgl. Vgl. Ljungeruds Belege für einen solchen Gebrauch des Substantivs Mensch: die Tatsache Mensch, des Traumes Mensch, diesem jämmerlichen Bündel Mensch.12 Diese Funktion des Nominativs könnte man als individualisierend-benennende bezeichnen. Bemerkenswerterweise trifft man das gleiche Wort unter gleichen Bedingungen mitunter in Anführungszeichen an: was die Menschen jeweils unter dem Begriff „Mensch" verstehen.n Eine direkte Analogie zu Wortgruppen des Typs das Drama „Maria Stuart" ist hier somit offensichtlich. Vgl. unter dem Gesichtspunkt der Analogie auch Wortgruppen mit Zeitbezeichnungen der Art wie der Monat Mai, das Jahr 1959 u. ä. Also erfolgt der Gebrauch der Nominativform in allen diesen Fällen - abweichend von den Regeln der Kongruenz und Rektion - nicht ohne Motivierung durch bestimmte spezifische Funktionen und überhaupt durch die verallgemeinerte grammatische Bedeutung des Nominativs. Bestimmte Funktionen des Nominativs sind ebenfalls in vielen Konstruktionen feststellbar, auf die sich die Ansicht mancher Forscher von der Existenz des Gemeinschaftskasus im Deutschen gründet. In Wortgruppen des Typs Antrag Kanitz spielt die zweite Komponente die individualisierend-benennende Rolle in bezug auf das Hauptglied der Gruppe Antrag, vergleichbar mit der Rolle der zweiten Komponenten in den Konstruktionen der Art das Drama „ Maria Stuart", der Begriff,, Mensch ". Der mit dem Bezugssubstantiv nicht kongruierende attributive Nominativ mit als (Schutzes Beruf als Lehrer, die Verdienste Humboldts als Naturforscher) nähert sich, ähnlich wie dies mit der substantivischen Apposition der Fall ist, dem kontextualen Benennungssatz, der inhaltlich (prädikativ) auf den in den angeführten Beispielen mit dem Genitiv bezeichneten Gegenstand bezogen ist. Mit anderen Worten bezieht sich Lehrer auf Schulzes gewissermaßen analog zu dem, wie sich der Satz Lauter gute feine Stücke auf das Substantiv Schuhnummern im vorangehenden Satz bezieht (s. das betreffende Beispiel oben). Fälle wie Schuhes Beruf als Lehrer können, insbesondere bei der Distanzstellung des appositiven Attributs hinsichtlich seines Bezugswortes, unter dem Einfluß der Tendenz zur Herstellung der syntaktischen Ruhelage stehen (die durch den der a/s-Fügung unmittelbar vorangehenden Nominativ auch verstärkt werden kann).14 12
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L j u n g e r u d , I . : Op. cit. S. 102. Die Nennfunktion des Nominativs bedingt seine Verwendung auch bei einigen Verben, insbesondere bei spielen, nennen, lernen, wo er anstelle des Akkusativs auftritt, vgl. du ... spieltest Gassenjunge. Ich habe Drogist gelernt (ibid. S. 116). Ibid. S. 102. Jung meint, daß sich das α/s-Attribut in solchen Fällen nicht auf die Personenbezeichnung, sondern auf den substantivierten VerbalbegrifT bezieht. Im Beispiel die Einführung der Deutschen Mark als alleiniges Zahlungsmittel bezieht sich die alsFügung nach Jung auf Einführung ( J u n g , W.: Kleine Grammatik der deutschen Sprache. Leipzig 1954. S. 69-70). Eine semantisch-syntaktische Projektion, die Zahlungsmittel in unmittelbare Abhängigkeit von Einführung gestellt hätte, hätte
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Einen Zusammenhang mit der Nennfunktion des Nominativs kann man auch in der Konstruktion des Typs Müller-Meiningen erkennen. Die Ortsbezeichnung spielt in Fällen dieser Art die Rolle eines unterscheidenden Merkmals, das einem - vom logischen Standpunkt aus - allgemeineren Begriff zugeschrieben wird (eine notwendige Voraussetzung fiir die sinnvolle Bildung von Verbindungen wie Müller-Meiningen besteht darin, daß es eine Vielzahl von Menschen mit dem Namen Müller gibt). Folglich ist auch hier das Moment der Individualisierung vorhanden. Aber im Gegensatz zu Fügungen des Typs Antrag Kanitz, die ständig eine rhyhmisch-intonatorische Einheit darstellen, kann die zweite Komponente der Bildungen des Typs Müller-Meiningen abgesondert werden; graphisch wird dies durch Kommata, Klammern, Gedankenstriche zum Ausdruck gebracht. Die zweite Komponente, die die eigentliche Benennungsfunktion erfüllt, kann ebenfalls als Apposition abgesondert werden, vgl. in diesem neuen Drama („MariaStuart") u. ä. Zusammenfassend kann man sagen, daß es eine Reihe von Konstruktionen gibt, in denen der Nominativ trotz der gemeingültigen Regeln der Kongruenz und Rektion teilweise statt anderer Kasus gebraucht wird und sich dennoch als durch eigene spezifische Funktionen motiviert erweist, nämlich durch seine existentiale und seine Nennfunktion. Eben dies macht die Substitution obliquer Kasus durch den Nominativ tendenziell zulässig. Selbstverständlich ergibt sich aus solchen Substitutionen kein Grund ftir die Behauptung der Existenz eines besonderen Gemeinschaftskasus im Deutschen. Es gibt aber eine andere Art Konstruktionen, in denen ein obliquer Kasus nicht dem eigentlichen Nominativ, sondern lediglich der Nominativform des Substantivs weicht. Es stellt sich die Frage, ob sich auf der Basis solcher Konstruktionen nicht doch der Gemeinschaftskasus zu erkennen gibt. Dies sind vor allem die oben bereits erwähnten Konstruktionen mit Eigennamen. In diesen Konstruktionen liegt Kongruenz vor: Karl Müllers, des Doktors Reinhart, Doktor Reinharts. Hier treten Substantive bestimmter Klassen auf (Eigennamen, Berufsbezeichnungen, Bezeichnungen von Ämtern, verschiedene Titel), und sie weisen variable Formen auf: In Abhängigkeit von Varianten des Wortgruppenbaus treten die Glieder solcher Wortgruppen bald in einer grammatisch ausdrucksfähigen, bald in einer kasusneutralen Form in Erscheinung. Die Variabilität der substantivischen Formen in dieser Wortgruppenart gehört zu den Auswirkungen der allgemeinen Tendenz zur monoflexivischen Gestaltung der Substantivgruppe, die ihrerseits mit der für das Deutsche typischen Tendenz zu engem innerem Zusammenschluß und deutlicher gegenseitiger Abgrenzung syntaktischer Gruppen im Satz zusammenzur Auffassung von Zahlungsmittel nicht als Nominativ, sondern als Akkusativ fuhren müssen, denn 'Zahlungsmittel' ist das direkte Objekt der Handlung des 'Einfuhrens'. Indessen dient die Projektion, die von Zahlungsmittel ausgeht, der Konkretisierung des Begriffs der 'Deutschen Mark' durch seine Subsumierung unter einen allgemeineren Begriff, was direkt mit der verallgemeinerten grammatischen Bedeutung des Nominativs in seiner prädikativen Funktion korreliert, und das Wörtchen als reicht dazu, das Wortgruppenglied Zahlungsmittel zum „Abrutschen" von der der Kongruenzregel entsprechenden Form des Genitivs zur „normaleren" Nominativform zu veranlassen.
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hängt. 15 Der Wechsel der Substantivform bedeutet in diesem Fall keinen Wechsel der Kasusbedeutung. Die Formen Doktors in der Wortgruppe des Doktors Reinhart und Doktor in der Wortgruppe Doktor Reinharts besetzen die gleiche funktional-syntaktische Position. Innerhalb solcher Wortgruppen, die eine zutiefst innige Verbindung, ein wechselseitiges Durchdringen zweier Begriffe (des Einzelnen und des Allgemeinen) 16 zum Ausdruck bringen, besteht ein vollkommener Parallelismus zwischen Substantiven, die mit einem formalen Kasuszeichen versehen sind, und Substantiven, die einer „nach außen" gekennzeichneten Kasusform entbehren bzw. durch das Null-Flexiv gekennzeichnet sind. Beide Glieder der Wortgruppe des Doktors Reinhart stehen in gleicher syntaktischer Beziehung zu einem Element bzw. zu Elementen des übrigen Bestandes des gegebenen Satzes (von der Frage, welcher Teil der Wortgruppe des Doktors Reinhart als Gruppenkern zu betrachten ist, sehen wir hier ab). Also kongruieren hier dank diesem semantischen und funktionalen Parallelismus die Wortgruppenglieder miteinander, obwohl die Kongruenz in solchen Wortgruppen von variierender Verteilung ungleicher Substantivformen begleitet wird. Eine Analogie dazu finden wir übrigens in der flexivischen Variation der Adjektivformen (der starken und der schwachen Deklination der Adjektive) in Abhängigkeit von bestimmten Formen der Substantivgruppe mit attributivem Adjektiv. 17 Die Substantivformen, die in den Wortgruppen mit Eigennamen usw. vorliegen, sind von keinem Forscher als Gebrauchsfälle des Gemeinschaftskasus angesprochen worden. Aber ganz ähnliche Erscheinungsformen der Monoflexion finden sich in einigen Konstruktionen, in denen man den Gemeinschaftskasus sehen will. Hier kommen vor allem die Substantivgruppen in Betracht, die das Maß-Stoff-Verhältnis ausdrücken (ein Stück Brot, ein Glas Wein) und in denen die zweite Komponente, die den Stoff bezeichnet, die Deklination der Wortgruppe als Ganzer in dem Sinne nicht mitmacht, daß sie dabei keiner formalen Veränderung unterliegt, indem sie in allen Kasus ihr Null-Flexiv beibehält (eines Stückes Brot, mit einem Glas Wein). Obwohl die substantivischen Wortgruppenglieder unterschiedliche Formen haben, bestehen hier syntaktisch-fünktionaler Parallelismus und Kongruenz, was vermittels der eigenartigen Variabilität der Substantivformen erreicht wird (vgl. der Wert des Brotes - der Wert eines Pfundes Brot). Die Form der Wortgruppenglieder in den Fällen, in denen der Stoffname von einem attributiven Adjektiv begleitet wird, bestätigt das Vorhandensein der Kongruenz. Wenn der Name des Maßes nicht im Nominativ steht, so steht auch das Adjektiv vor dem Stoffhamen nicht im Nominativ, vgl. Elli hätte viel lieber eine Tasse heißen Kaffee ge-
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Α λ μ ο η η , Β.Γ.: Ο Η β κ ο τ ο ρ ω χ 3aKOHOMepHOCT»x pa3BHTHJi cnHTaKcn4ecicoro c r p o s . In: AoKJiaau μ cooömeHH« M H c r m y r a a3biK03HaHH>i A H C C C P . V , 1953.
16
Αλμοηη,
S. 42-46 [s. in diesem Band S. 52-53],
17
Β.Γ.: C r p y i c r y p a r p y n n w cymecTBHTejibHoro β HeMeuKOM «3biKe.
S. 128-132 [s. in diesem Band S. 86-89]; d e r s . : BeeaeHHe β cmhtcikchc coepeMeHHoro HeMeuKoro snbiKa. MocKea 1955. S. 253-257. Α λ μ ο η η , Β.Γ.: Crpyicrypa r p y n n b i cymecTBHTejibHoro β HeiueuKOM «3ωκε. S. 114-121 [s. in diesem Band S. 74-80],
Das Problem des „ Gemeinschaftskasus
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trunken (Seghers). Bei Jung findet sich als Paradebeispiel folgendes: bei einem Glas(e) kühlem Wein.18 Das Aufkommen der Kongruenz zwischen dem Maß- und dem Stoffhamen anstelle der früher allein gültigen formalen Abhängigkeit des Genitivs des Stoffhamens von der Bezeichnung des Maßes als dem Wortgruppenkern (ein Stück Brotes) hängt wahrscheinlich mit der Möglichkeit zusammen, die partitive Beziehung zu einer inneren Beziehung umzudeuten, bei der sich das Maß wie ein vom Stoff nicht zu trennendes Merkmal eben des Stoffes darstellt. Wenn man aber gerade die partitive Beziehung unterstreichen will, wird heutzutage meist die Präposition von gebraucht, vgl. ein Stück vom Brot - ein Stück von diesem Brot. Das Brotstück wird in einem solchen Fall als abgetrennt, vom Brotlaib abgeschnitten vorgestellt (bereits oder in allernächster Zukunft). Besonders deutlich tritt der Gegensatz zutage, wenn wir die Ausdrücke Gib mir ein Stück von diesem Brot und Gib mir ein Stück Brot miteinander vergleichen. Im ersten Fall handelt es sich um ein Stück, das von einem bestimmten Brotlaib abgetrennt ist bzw. wird, im zweiten Fall dagegen um ein Stück beliebigen Brotes, so daß hier die Partitivität als solche im Hintergrund steht und die Aufmerksamkeit allein der Vorstellung einer Menge Stoff gilt, ganz gleich, welche anderen Mengen dieses Stoffes in welcher Form auch immer überhaupt existieren. Der Genitiv in dieser Konstruktionsart verleiht dem Ausdruck einen etwas archaischen bzw. „gehobenen" stilistischen Charakter, vgl. ein Stück Brot - ein Stück Brotes. Ähnliche Züge weisen die Wortgruppen auf, in denen die erste Position ein Numerale einnimmt und außer dem Substantiv, das den Stoff bezeichnet, auch das Substantiv mit der Bedeutung des Maßes ohne Pluralzeichen gebraucht werden kann, vgl. die Beispiele von Moskalskaja: zwei Sack Mehl, einige Glas Tee. Eine etwas entferntere Analogie bietet die Konstruktion des Typs Anfang Oktober. Das Element Anfang bezeichnet einen Teil und die Komponente Oktober ist mit der Bezeichnung des Stoffes (als eines Ganzen) vergleichbar. Übrigens müssen beim Aufkommen dieser Konstruktion der Lehnwortcharakter der Monatsnamen und die Analogie der Wortgruppen des Typs der Monat Oktober eine gewisse Rolle gespielt haben. Ein größerer Abstand trennt die oben betrachteten Konstruktionen von der Konstruktion mit einem zweiten Glied, das eine Menge identischer Gegenstände bzw. Personen bezeichnet und die Pluralform hat, was die Unterscheidung des Nominativs und des Genitivs unmöglich macht, vgl. eine Menge Leute, eine Anzahl Studenten. Wenn das zweite Substantiv von einem attributiven Adjektiv begleitet wird, tritt die Form des Genitivs zutage: eine Anzahl junger Studenten. Der Einfluß der monoflexivischen Tendenz findet in den Konstruktionen dieser Art in der Artikellosigkeit der zweiten Komponente
18
J u n g , W.: Op. cit. S. 66-67. Es sei betont, daß die morphologische Ausformung solcher Wortgruppen Schwankungen aufweist, besonders in den Fällen, wenn die Wortgruppe als Ganzes im Nominativ steht. Vgl. zwei Fädchen geronnenes Blut (Seghers) mit der ebenfalls regelhaften Form zwei Fädchen geronnenen Blutes. Beim Gebrauch des Nominativs in dieser Konstruktion ist der Einfluß der individualisierend-benennenden Funktion des Nominativs anzunehmen.
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Das Problem des „
Gemeinschaftskasus'
Ausdruck (der Artikel wird j a sonst unter bestimmten Umständen unabhängig von den semantischen Bedingungen des Kontextes und des gedanklichen Inhalts ausschließlich zum Zweck der Kasusangabe verwendet). Es gibt also eine bedeutende Zahl unterschiedlicher Konstruktionen, in denen nicht der eigentliche Nominativ (in der Singularform) aus dem einen oder anderen Grunde einen obliquen singularischen oder auch pluralischen Kasus ersetzt, sondern ein obliquer Kasus lediglich durch die Nominativform vertreten wird. Alle diese Konstruktionen, zu denen die Mehrzahl der Bildungen mit dem vermeintlichen Gemeinschaftskasus gehört, der nicht durch die Funktionen des „richtigen" Nominativs motiviert ist, haben eine gemeinsame Eigenschaft, sie stellen nämlich Substantivgruppen dar und unterliegen den Auswirkungen der Tendenz zur Monoflexion. Eine solche Verwendung der betreffenden Substantivform unterscheidet sich aber völlig von all dem, was für den Gemeinschaftskasus in Sprachen, in denen es ihn wirklich gibt, charakteristisch ist. Da ist der Gemeinschaftskasus nicht an irgendeine Wortgruppenart gebunden, sondern er tritt autonom in verschiedenen, darunter den wesentlichsten, syntaktischen Funktionen auf. Wenn eine solche Sprache auch über einen anderen Kasus bzw. andere Kasus verfugt, so erweisen sich gerade diese anderen Kasus als spezialisierte Formen, denen enge funktionale Grenzen gesetzt sind. Dies trifft für eine Reihe germanischer Gegenwartssprachen zu, die außer dem Gemeinschaftskasus den Genitiv bewahrt haben, der nur attributiv verwendet wird. Wollte man in bezug auf das Deutsche den Gesichtspunkt nicht teilen, es handle sich hier um die Tendenz, unter bestimmten Bedingungen oblique Kasusformen durch die Nominativform zu substituieren, die eben in der substituierenden Funktion auftritt, und wollte man die entsprechenden Fakten dahin interpretieren, daß sie auf die Entstehung eines eigenen Kasus hinweisen, so hätte man auch dann keinen Grund, diesen aufkeimenden Kasus zum „Gemeinschaftskasus" zu erklären, denn er hat einen ausgeprägt spezialisierten Charakter, ist nur an eine besondere syntaktische Konstruktionsart, an die Substantivgruppe mit der für sie charakteristischen Tendenz zur Monoflexion, gebunden. Ein solcher Kasus wäre wohl als „monoflexivisch" („Monoflexiv") oder als „substituierend" („Vikarietiv") zu bezeichnen. Eine entfernte Analogie zu dieser Sachlage kann man in einem der Kasus des Russischen sehen, und zwar im „präpositionalen" Kasus, der ebenfalls mit einem bestimmten Element seiner unmittelbaren syntaktischen Umgebung aufs engste verbunden ist, nämlich mit einer Präposition (die präpositionale Fügung als Ganzes kann im Satz in verschiedenen Funktionen auftreten). 19 Indessen kann man den „Monoflexiv" nur unter Mißachtung sehr wesentlicher Momente als einen besonderen Kasus im deutschen Kasussystem unterbringen. Von eigentlichen Kasus unterscheidet er sich grundsätzlich dadurch, daß er keine eigene verallgemeinerte grammatische Bedeutung aufzuweisen hat. Da er keine spezifische Flexionsform hat, formal mit dem Nominativ zu19
Ohne Präposition kommt dieser Kasus (der meist durch besondere Flexionsformen gekennzeichnet ist) überhaupt nicht vor, vgl. HÜ cmone, Ο ΛΜ0ΗΧ, npu doMe u. ä. Hgg·
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sammenfällt, hebt er sich vor dem Hintergrund anderer grammatischer Formen nur durch rein funktionale Merkmale, durch seine Zugehörigkeit zu bestimmten syntaktischen Strukturen ab, und dies genügt nicht zur Konstituierung eines neuen eigenständigen Kasus und der entsprechenden Erweiterung des Kasussystems. Also kann man den Terminus „Monoflexiv" keinesfalls vorbehaltlos im Sinne einer Kasusbezeichnung verwenden. Den Gemeinschaftskasus (genauer ausgedrückt: die „Kasuslosigkeit" des Substantivs) im Deutschen hätte man in dem Fall mit einiger logischer Konsequenz postulieren können, wenn es Gründe gegeben hätte, die kasuell unveränderlichen Pluralformen des Typs Kirschen, auf die Sütterlin hinweist, von anderen Deklinationsparadigmen getrennt zu betrachten. Eine solche Betrachtung ist aber unzulässig. Zum ersten steht das Pluralparadigma des Typs Kirschen in Wechselwirkung mit anderen substantivischen Deklinationsparadigmen, in denen rein formale Kasusunterscheidungen (-gegenüberstellungen) - mit diversen Graden der Vollständigkeit - durchgeführt sind. Zum zweiten korreliert das System der substantivischen Deklinationsparadigmen mit den Paradigmen anderer deklinierbarer Wortklassen, von denen einige die betreffenden Formen auch noch viel deutlicher markieren, als dies beim Substantiv der Fall ist. Bezeichnenderweise konnte Sütterlin die Singularform Kirsche nicht als Form des Gemeinschaftskasus ansprechen, denn Kirsche ist ein „konkreter", „dinglicher" Gattungsname, und als solcher kann er nur in seltenen Ausnahmefällen ohne Artikel verwendet werden, was dazu führt, daß das Substantiv in seinem realen Gebrauch ständig kasuell charakterisiert ist. Von den Konstruktionen, die wir im Zusammenhang mit dem Problem des Gemeinschaftskasus im Deutschen auf die eine oder andere Weise ins Blickfeld gebracht haben, ist eine noch unerörtert geblieben. Dies ist gerade die Konstruktionsart, die Mensing seinerzeit dazu veranlaßt hat, den Begriff des Gemeinschaftskasus in die deutsche Grammatikschreibung einzuführen. Es handelt sich um den Gebrauch der Nominativformen in präpositional eingeleiteten Wortpaaren wie zwischen Mensch und Affe. Zu dieser Konstruktionsart kann man die oben angeführten Beispiele des Typs von Mensch zu Mensch rechnen sowie eine Reihe von Gebrauchsfallen des Substantivs mit Präposition, vgl. laut Befehl, wegen Diebstahl, in Angst, bei Kasse u. ä. Die Nominativform kann hier nicht als „Monoflexiv" bestimmt werden, denn es fehlt neben der Substantivform, die in solchen Fällen einen obliquen Kasus ersetzt, ein zweites Substantiv, das mit dem ersten durch das funktional-semantische Kongruenzverhältnis verbunden wäre und sich dabei formal als obliquer Kasus auswiese. Aber auch diese Fälle sind kaum sachgerecht als Erscheinungsformen des Gemeinschaftskasus zu deuten. Vor allem werden die genannten Konstruktionstypen nur spärlich gebraucht. Außerdem lassen sich verschiedene Faktoren feststellen, die im oben umrissenen Bereich den Gebrauch des Nominativs anstelle obliquer Kasus motivieren können. Eines dieser Motive nannte Mensing selbst, indem er auf den feststehenden, phraseologischen Charakter solcher substantivischer Wortpaare mit Präpositionen hinwies. Wir haben freilich bereits angemerkt, daß es unter Mensings Beispielen nur wenige gibt, die als echte phraseologische Einheiten gelten können. Die Phraseologismen des Typs mit Mann und Maus, mit Kind
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Das Problem
des „
Gemeinschaftskasus"
und Kegel üben aber einen analogisierenden Einfluß auf ähnlich gebaute substantivische Wortpaare mit Präposition aus, indem sie die Tendenz zur festeren strukturellen Geschlossenheit aller Bildungen gleicher formaler Art verstärken. Substantive, die kasusgleiche Wortreihen bilden, besonders solche, die vermittels der Konjunktion und miteinander verbunden sind, weisen im Deutschen überhaupt eine starke Tendenz zu struktureller Einheitlichkeit auf. Diese findet ihren Ausdruck in häufiger Weglassung des - sonst fälligen - Artikels, mitunter im Ersatz eines obliquen Kasus durch den Nominativ (im Fall schwacher Substantive), auch darin, daß man die sich wiederholenden Komponenten von zusammengesetzten Wörtern nur einmal (auf „monoflexivische" Art) „Laut werden" läßt, vgl. beispielsweise Bau- und Düngemittelsektor.20 Hinzu kommt die wohlbekannte Tendenz zum artikellosen Gebrauch des präpositionalen Substantivs, wenn dies durch bestimmte syntaktisch-semantische Momente begünstigt wird, nämlich durch die abstrakte lexikalische Bedeutung des Substantivs und durch die Wendung der syntaktischen Funktion einer solchen Fügung ins Adverbial-Charakterisierende, vgl. in Angst, bei Trost, bei Kasse. Die allgemeine Möglichkeit, das Substantiv in seiner generalisierenden Bedeutung - als Bezeichnung der ganzen Gattung - ohne Artikel zu gebrauchen, wird zusätzlich durch die Präposition aktualisiert, insbesondere bei der Wortpaar- bzw. Wortreihenbildung, umsomehr als der Artikel hier, wäre er verwendet worden, jedes einzelne Substantiv begleiten müßte (man könnte nicht sagen zwischen dem Gatten und Vater oder zwischen Gatten und dem Vater, es wäre nur zwischen dem Gatten und dem Vater möglich). Beim Weglassen des Artikels fallen die Formen der obliquen Substantivkasus (bei starken Substantiven) in der Regel mit dem Nominativ zusammen, oder diese Formen sind (bei schwachen Substantiven) dermaßen mit Homonymie belastet, daß sie, was ihre morphologische Bedeutung anbetrifft, vielfach mißverstanden werden könnten. Beispielsweise würde man die Fügung zwischen Menschen und Affen höchstwahrscheinlich im pluralischen Sinne auffassen, was ihr - jedenfalls bei kontextfreier Betrachtung - eine konkretere, deskriptiv-referentielle Bedeutungsschattierung verleihen würde. Die Wortgruppe zwischen Mensch und Affe erfaßt dagegen das Bezeichnete ganz unmißverständlich von der allgemein-begrifflichen Seite her. 21 Bei eini20
21
Interessante Belege bringt Ljungerud: Sie ließ Kämmerer und Stalljunge, Bonze und Schmied ...zu sich kommen; er fährt weiter, vergißt Erlebnis und Name; still vergessen wir Erde, Mensch und Tier ( L j u n g e r u d , I.: Op. cit. S. 117). Übrigens finden wir schon bei Behaghel folgendes: „Die Teile einer Gruppe können ihre Zusammengehörigkeit dadurch bekunden, daß ihre Flexion eine andere ist, als wenn jedes für sich steht < . . . > . Oder dadurch, daß gemeinsame Bildungssilben (Konipositionsglieder und Ableitungssilben) oder Flexionssilben erspart werden" ( B e h a g h e l , O.: Deutsche Syntax. Bd. III. Heidelberg 1928. S. 3 6 4 - 3 6 5 ) . Würde man den obliquen Kasus, sagen wir, in der Wortgruppe von Mensch zu Mensch irgendwie flexivisch bezeichnen, beispielsweise in der Form von Mensch zu Menschen, s o wäre in einem solchen Fall (infolge der Homonymie der Form Menschen) die numerale Doppeldeutigkeit unvermeidlich. Man muß übrigens anmerken, daß Wortgruppen des Typs zwischen dem Knaben und dem Jüngling trotz
Das Problem des
„Gemeinschaftskasus"
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gen Präpositionen, deren Rektion zwischen dem Genitiv und dem Dativ schwankt, kann die scheinbare Form des Nominativs (bzw. des „Gemeinschaftskasus") als Dativform gedeutet werden, wobei das Weglassen des Artikels als eine Stileigenschaft der Amtsprache, der Zeitungsberichte u. ä. verstanden werden kann. Also wird die Verwendung der Form des Nominativs anstelle der obliquen Kasus in Wortgruppen mit Präpositionen durch eine Reihe von - teilweise einander überlagernden - Faktoren bedingt. Folglich gibt es keinen ausreichenden Grund, einen besonderen „Gemeinschaftskasus" (und somit einen zusätzlichen Fall der Kasushomonymie: Nominativ/Gemeinschaftskasus) anzunehmen. Die obigen Ausführungen verfolgten das Ziel, unterschiedliche Konstruktionen, die meist mit dem Begriff des Gemeinschaftskasus in Verbindung gebracht wurden, vorzuführen, um mannigfaltige Faktoren zu erkennen, die von Fall zu Fall die Verwendung des Nominativs anstelle der obliquen Kasus bewirken bzw. die Voraussetzungen dazu schaffen. Aus formaler Vielfalt und genetischer Heterogenität der betreffenden Konstruktionen folgt aber nicht, daß diese Konstruktionen als voneinander isoliert und wechselseitig sozusagen „gleichgültig" anzusehen sind. Bei ihrer Zusammenstellung zeichnet sich eine gewisse Affinität in bezug auf die Prinzipien der kasuellen Gestaltung der Substantive im Deutschen sowie in bezug auf die Entwicklungstendenzen des grammatischen Systems des Deutschen im allgemeinen ab. Das Verdienst der Forscher, die die Frage des Gemeinschaftskasus aufgeworfen haben, besteht gerade darin, daß sie auf eine Reihe irgendwie zusammenhängender Phänomene hingewiesen haben, die eben in ihrer Gesamtheit und in ihren gegenseitigen Korrelationen von Bedeutung sind, obwohl diese besondere Gesamtheit auch nicht als eine durch die Kategorie des Gemeinschaftskasus zusammengehaltene Reihe von Phänomenen interpretiert werden kann. Meiner Ansicht nach liegt der Entwicklung dieser grammatischen Formen die strukturelle Tendenz, die wir oben schon genannt haben, nämlich die Tendenz zur Monoflexion, zugrunde. Ein bestimmter Teil der Konstruktionen, die wir vorhin betrachteten, verdankt seine Formen den monoflexivischen Gesetzmäßigkeiten in direkter und unmittelbarer Weise. Aber auch die Konstruktionen, in denen oblique Kasus nicht bloß durch die Form des Nominativs, sondern durch den „richtigen" Nominativ substituiert erscheinen, stehen unter dem Einfluß der Tendenz zur Monoflexion, der Nominativ nach Präpositionen nicht ausgeschlossen. Die Möglichkeit der Substitution der obliquen Kasus durch den Nominativ, wenn bestimmte funktional-syntaktische bzw. grammatisch-semantische Bedingungen dies fordern bzw. fordern, die Leichtigkeit, mit der diese Substitution, den Kongruenz- und Rektionsregeln zuwiderlaufend, zustande kommt, erklärt sich vor allem aus dem breiten Wirkungsfeld des monoflexivischen Systems im Deutschen, das den Wechsel von morphologisch ausdrucksfähigen bzw. ausdrucksfähigeren und morphologisch weniger ausdrucksfähigen Deklinationsformen (hauptsächlich den ihrer Schwerfälligkeit doch anzutreffen sind (vgl. L j u n g e r u d , S. 118-119).
I.: Op. cit.
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Das Problem des „ Gemeinschaftskasus"
Wechsel zwischen der Nominativform und den Formen obliquer Kasus) gewährleistet und aufgrund rein struktureller Gesetzmäßigkeiten funktioniert. Wir haben oben auf eine Reihe von Faktoren hingewiesen, die die formale Eigenart der entsprechenden Wortgruppenkomponenten, beispielsweise in Konstruktionen des Typs eine Art Glück, zwischen Mensch und Affe, bedingen. Hätte es aber keine allgemeinen strukturellen Voraussetzungen dafür gegeben, wäre das grammatische System des Deutschen zu einem solchen Wandel nicht „prädisponiert" gewesen, so wäre es zu dieser eigenartigen Entwicklung nicht gekommen. Und es ist gerade die generelle Tendenz zur Monoflexion in der Substantivgruppe, der die betreffenden Voraussetzungen entspringen. Das Prinzip der Monoflexion realisiert sich im Wechsel der Kasusformen. Dank dieser Tendenz besteht im Deutschen eine eigenartige Veranlagung zu Übergängen - im Rahmen gewisser Konstruktionen - von einer Kasusform zu einer anderen, sobald sich bestimmte Voraussetzungen dafür einstellen. Die Kasusform erweist sich als nachgiebig gegenüber dem Druck von seiten semantisch-syntaktischer bzw. rein struktureller Verhältnisse in Satz und Wortgruppe. Mit anderen Worten: Die Wahl der Kasusform ist im Deutschen durch die aktuelle Funktion des Substantivs im Satz nicht so unabänderlich prädeterminiert wie dies in den meisten anderen Kasussprachen der Fall ist. Die Hauptausrichung der Monoflexion auf den Kasuswechsel, bei dem in Abhängigkeit von der Gesamtgestaltung der Substantivgruppe zwischen Flexionsformen gewählt wird, die hinsichtlich der morphologischen Ausdrucksfähigkeit unterschiedlich graduiert sind, kann mitunter in den Hintergrund rücken, bestehen bleibt aber auch dabei das Prinzip der Kasussubstitution, die diverse Aufgaben semantischer bzw. struktureller Art erfüllt. Wollte man also die als Substitut verwendete substantivische Nominativform unbedingt in den Rang eines besonderen Kasus erheben, so wäre für diesen Kasus der Terminus „Monoflexiv" am geeignetsten. Selbstverständlich stehen die erörterten Verhältnisse im Schnittpunkt einer Reihe mehr oder weniger wesentlicher Faktoren und Voraussetzungen struktureller, semantischer, auch stilistischer Art. Die Forscher betonen vor allem den überaus häufigen Zusammenfall der Nominativform mit anderen substantivischen Kasusformen, in einigen Paradigmen sogar mit den Formen aller obliquen Kasus. Eine solche Unifizierung der Kasusformen, die in den meisten anderen germanischen Sprachen das Aufkommen eines wirklichen Gemeinschaftskasus herbeigeführt hat, ist auch im Deutschen breit genug belegbar. Dieser Faktor spielt aber im Deutschen nicht direkt, sondern nur mittelbar in den Stand der Dinge, von denen wir hier handeln, hinein, nämlich unter Vermittlung des im Zeichen der Monoflexion stehenden Systems der Kasusformenwahl und -Verwendung. Bezeichnenderweise finden sich unter den Beispielen der Konstruktionen, aus deren Betrachtung sich seinerzeit Anlässe zur Fragestellung nach dem Gemeinschaftskasus ergeben haben, zahlreiche Fälle mit dem Nom. Sg. von Substantiven schwacher Deklination, mit der Form also, die allen übrigen Kasusformen gleicher Substantive in den beiden Numeri absolut deutlich gegenübersteht und eben keinesfalls als homonym, als mehrere Kasusbedeutungen in sich bergend angesprochen werden kann.
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Gemeinschaftskasus"
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Natürlich kann man den Ersatz des Genitivs durch den Nominativ in den Wortgruppen, die Maß und Stoff bezeichnen, mit dem allgemeinen Rückgang des Genitivs im Deutschen verbinden. Aber dann entsteht die Frage, warum im Gegensatz zum partitiven Genitiv andere Arten des attributiven Genitivs mit wenigen Ausnahmen - bestehen geblieben sind. Der Genitiv der Stoffbezeichnung schwindet aus den Maß-Stoff-Gruppen im Zuge allgemeiner Umgestaltung der Substantivgruppe in Richtung auf die frontale Gegenüberstellung des Ausdrucks der äußeren und der inneren Merkmale gegenständlicher Begriffe hin.22 Eine solche Umgestaltung wäre aber überhaupt kaum möglich gewesen, wenn die Substantivgruppe nicht schon vorher recht gebräuchliche monoflexivisch ausgerichtete Konstruktionsmodelle mit variablen adjektivischen Kasusformen und variablen Formen der Eigennamen aufzuweisen gehabt hätte. Ohne auf die Monoflexion Bezug zu nehmen, kann man also auch den Wandel im Bereich der Maß-Stoff-Gruppen nicht erklären. Der Übergang vom abgesonderten Attribut zum (kontextualen) Benennungssatz, der sich in der Substitution des einen oder anderen obliquen Kasus durch den Nominativ bekundet, ist in den verschiedensten Kasussprachen möglich. Aber bei weitem nicht in allen Sprachen, in denen es beispielsweise den Dativ gibt, kann der Dativ, der aufs engste mit dem ihm vorangehenden Bezugssubstantiv, dem Substantiv, auf das sich die Apposition als Ganzes bezieht, verbunden zu sein scheint, zum Nominativ „abrutschen", wie es im Deutschen ungeachtet aller Proteste der Stilratgeber so oft beim Adressieren der Briefe geschieht, vgl. Herrn Müller, Vorsitzender des wissenschaftlichen Vereins ... Dem Russischen sind derartige Formen fremd. Dieser Unterschied ist unserer Meinung nach nicht nur durch die deutsche Monoflexion bedingt. Bezeichnenderweise werden die kontextualen Benennungssätze im Deutschen recht häufig durch ein Komma vom Bezugswort abgetrennt, während die russische Schrift für solche Fälle den Punkt vorsieht. Da die kontextualen Benennungssätze normalerweise Nominativsätze sind, kann hier der Gebrauch des Nominativs - scheinbar anstelle eines obliquen Kasus - nicht direkt mit der Monoflexion in Verbindung gebracht werden. Aber schon die Leichtigkeit, mit der der oblique Kasus im Rahmen eines Satzes vom Nominativ abgelöst wird, hängt offenbar mit monoflexivischen Gepflogenheiten im Deutschen zusammen. Zum Schluß wollen wir eine terminologische Frage besprechen. Bei aller Ungleichartigkeit der von uns betrachteten Konstruktionen weisen sie ungeachtet dessen, daß heterogene Faktoren und Tendenzen im Spiel sind, bestimmte Gemeinsamkeiten auf. Diese Gemeinsamkeiten reichen aber nicht dazu aus, für das Deutsche einen „richtigen" fünften Kasus zu postulieren, von einem fünften Kasus mit einem besonderen Status im Kasussystem kann man - wenn überhaupt - nur unter gewichtigen (und streng formulierten) Vorbehalten sprechen. Wenn man indessen alle Erscheinungsformen des substituie22
Vgl. Α λ μ ο η η , Β.Γ.: Pa3BMTne nane>Ka β HeMeuKOM »3biKe. In: Tpy/ibi HHCTHTyra H3biK03HaHMH AH CCCP. Bd. IX. MocKBa 1959. S. 2 8 6 - 2 8 7 [s. in diesem Band S. 2 1 4 - 2 1 5 ] ,
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renden Nominativs bzw. der substituierenden Form des Nominativs unter einer begrifflich-terminologischen Bezeichnung zusammenfassen will, so fragt es sich, warum wir statt des bereits mehr oder weniger gebräuchlich gewordenen Terminus „Gemeinschaftskasus" eine andere Bezeichnung, nämlich den Terminus „Monoflexiv", vorschlagen. Im Vordergrund steht j a im allgemeinen die Notwendigkeit, ein bestimmtes sprachliches Phänomen zu erkennen und bewußt zu machen, die Wahl eines Terminus dafür spielt dabei eine untergeordnete Rolle, der Terminus wird gewöhnlich als eine letzten Endes konventionell festgelegte Bezeichnung hingenommen. Im gegebenen Fall scheint es mir dennoch angebracht, den Terminus „Gemeinschaftskasus" aufzugeben, denn er induziert eine ganz irrige Vorstellung vom Charakter des hier behandelten Phänomens. Mit diesem Terminus wird nämlich der neue deutsche „Kasus" auf die gleiche Linie mit den wirklichen Gemeinschaftskasus anderer Sprachen gestellt, und es wird somit die für das Deutsche charakteristische strukturelle Eigenart dieses „Kasus" verwischt. Wenn wir den Terminus „Gemeinschaftskasus" in die deutsche Grammatikschreibung einführen, unterstellen wir dem Deutschen - willentlich oder unwillentlich - den Entwicklungsgang, den die meisten germanischen und romanischen Sprachen durchlaufen haben und der darin besteht, daß diese Sprachen ihre Kasussysteme völlig oder beinahe völlig aufgegeben und sie durch verschiedene analytische Ausdrucksmittel ersetzt haben. Das deutsche grammatische System hat aber in Wirklichkeit, insbesondere was gerade die Deklination anbetrifft, eine wesentlich andere Entwicklung durchlaufen; bestenfalls ist der Terminus „Monoflexiv", wenn man schon nach einer kasuellen terminologischen Zusammenfassung trachtet, dazu geeignet, die Eigenart des betreffenden Sachverhalts im Deutschen kenntlich zu machen.
1961
Polydimensionalität und dimensionale Dominanz als Leitfaden der Grammatikforschung Die Sprachwissenschaft kennzeichnen in den letzten Jahrzehnten intensive Bemühungen um die Schaffung neuer Methoden der Sprachanalyse. Unter anderem werden neue Untersuchungsmethoden für den grammatischen Sprachbereich ausgearbeitet, die, indem sie sich den „traditionellen" Vorgehensweisen in der Grammatikforschung gegenüberstellen, echte Wissenschaftlichkeit und unangreifbare Monopolstellung ausschließlich für sich beanspruchen. Aber jede Methode ist nur insofern daseinsberechtigt, als sie den realen Eigenschaften des Untersuchungsgegenstandes entspricht. Um die Frage zu beantworten, inwiefern die Ansprüche der neuerdings eingeführten Methoden begründet sind, muß man sich darum zunächst - hier in ganz allgemeiner Weise - über die wichtigsten Eigenschaften des Untersuchungsgegenstandes Klarheit verschaffen, im gegebenen Fall also über die Eigenschaften des grammatischen Baus der Sprache als eines trotz seiner Fülle und inneren Vielfalt übersehbaren Ganzen. Im weiteren betrachten wir die Hauptseiten des grammatischen Baus der Sprache, und zwar die Beschaffenheit der Redekette und des paradigmatischen Systems. Es scheint zweckdienlich, unsere Hauptthesen vorerst auf eine Sprache, nämlich auf das Gegenwartsdeutsche, zu beziehen, um danach zur Frage überzugehen, inwiefern die für das Deutsche charakteristischen Gesetzmäßigkeiten Sprachen mit andersgearteten Strukturen eigen sind.
Die grammatische Struktur der Redekette in der deutschen Sprache Die Haupteigenschaft der grammatischen Ausformung der Redekette im Deutschen besteht in ihrer Polydimensionalität, d. h. im Vorhandensein einer Reihe von Schichten (bzw. Entfaltungslinien) grammatischer Information, die vom Sprecher gleichzeitig aktualisiert und vom Hörer ebenfalls gleichzeitig empfangen werden. Möglicherweise wird diese Behauptung überraschen, denn in der modernen Sprachwissenschaft herrscht die auf Saussure zurückgehende Idee vom linearen Charakter der Redekette. Saussure formuliert die These von der Linearität der Redekette indessen nicht vorbehaltlos, sondern er schränkt sie gewissermaßen ein. Seine Ansicht ist nicht frei von Widersprüchen. Bei der Einführung dieses Begriffs deklariert er nicht die Linearität des Sprachzeichens als eines Ganzen, sondern er schreibt dieses Charakteristikum einer Seite des Sprachzeichens zu, nämlich dem „signifiant", der Lautform.
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Polydimensionalität
und dimensionale
Dominanz
Überdies finden wir bei ihm Hinweise auf Abweichungen von reiner Linearität auch der Ausdrucksseite des Sprachzeichens. 1 Aber im Kapitel „Syntagmatische und assoziative Beziehungen" äußert sich Saussure über die Linearität so, daß man diese Eigenschaft als Charakteristikum sowohl der Ausdrucks- wie auch der Inhaltsseite der Redekette verstehen muß: „Einerseits gehen die Worte infolge ihrer Verkettung beim Ablauf irgendwelcher Aussagen Beziehungen unter sich ein, die auf dem linearen Charakter der Sprache beruhen, der es unmöglich macht, zwei Elemente zu gleicher Zeit auszusprechen (vgl. S. 82). Sie reihen sich eins nach dem andern in der Kette des Sprechens an, und diese Kombinationen, deren Grundlage die Ausdehnung ist, können Anreihungen oder Syntagmen genannt werden. In eine Anreihung hineingestellt, erhält ein Glied seinen Wert nur, weil es dem vorausgehenden oder folgenden oder beiden gegenübersteht." 2 Dieses Element der Sprachtheorie haben zahlreiche Nachfolger von Saussure übernommen. Obwohl die Strukturellsten die Kompliziertheit der sprachlichen Ausdrucksebene anerkennen und ein ganzes System suprasegmentaler „Morpheme" ausgearbeitet haben und obwohl einige Grammatiker hohen Ranges das Prinzip der Linearität kritisierten,3 dominiert dieses Prinzip - sei es auch in einer minder kategorischen Form, die die gleichzeitige Entfaltung von zwei und sogar mehr als zwei „Linien" zuläßt, - im modernen Strukturalismus ebenso wie im Großteil anderer grammatischer Theorien. Am konsequentesten wird das lineare Prinzip im amerikanischen Deskriptivismus befolgt. In Wirklichkeit ist die Redekette, wenn man sie als lautlich-inhaltliche Einheit betrachtet, ein sehr kompliziertes Gebilde, das eine Vielzahl miteinander verflochtener und in Wechselwirkung stehender Schichten umfaßt. Besonders kompliziert ist in diesem Sinne die semantische Seite der Redekette. Natürlich enthält die Redekette lexikalische Bedeutungen ihrer Komponenten; diese verknüpfen sich indessen - mehr oder weniger organisch - mit einer Reihe grammatischer Bedeutungen, die die lexikalischen Bedeutungen überlagern und ein gleichsam „vertikal" geordnetes Bündel bilden, das die Redekette vom Sprecher zum Hörer „trägt". Sprecher, Hörer, gleichzeitige Übermittlung eines Bündels von Bedeutungen von einem zum anderen - all das bedeutet keineswegs, daß wir den grammatischen Standpunkt mit dem psychologischen vertauschen. Denn es handelt sich nur um Bedeutungen, die unbedingt, als objektive Gegebenheit mit den formalen Elementen der Redekette verknüpft sind, nicht irgendwelchen spontanen psychischen Einstellungen der Kommunikanten bzw. zufällig aufkommenden Assoziationen u. dgl. entspringen, sondern eben die unabdingbare
1
2 3
S a u s s u r e , F. de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Herausgegeben von Ch.Bally und A.Sechehaye. Übers, von H.Lommel. 2. Aufl. Berlin 1967, S. 82, 162 [Admoni benutzte die 1933 herausgegebene Übersetzung des Buches von Saussure ins Russische], Ibid. S. 147. Β a 11 y , Ch.: Linguistique generale et linguistique franiaise. 3 e m e ed. Berne 1950. § 217-306; T e s n i e r e . L . : Elements de syntaxe structurale. Paris 1951. S. 16ff.
Polydimensionalität
und dimensionale
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Folge der Einführung dieser oder jener formalen Elemente in den Sprechvorgang sind. Und es ist möglich, daß die betreffenden Bedeutungen von den Kommunikanten subjektiv, „introspektiv" überhaupt nicht wahrgenommen werden, sie bleiben unter der Schwelle des Bewußten. Doch sind sie real (und können notfalls ins Bewußtsein treten). Die Sprachen unterscheiden sich in bezug auf die Mengen grammatischer Bedeutungen, die die lexikalischen Bedeutungen der Satzkomponenten überlagern, und diese Mengen sind hochgradig variabel. Für flektierende und flexi visch-analyti sehe Sprachen sind beträchtliche Mengen solcher grammatischen Bedeutungen charakteristisch. Wir gehen nun zur Erörterung dieser Frage am Beispiel des Deutschen über. Die Gesamtzahl der Bedeutungs-Linien, die im Deutschen die Entfaltung einer einzelnen Redekette begleiten, beträgt im Ergebnis unserer Analyse fünfzehn. Dazu gehören die grammatischen Bedeutungen, die direkt die lexikalischen Bedeutungen modifizieren und präzisieren (die Bedeutungen der Wortart, des Genus, des Numerus, der Verallgemeinerung oder Individualisierung, der Bestimmtheit oder Unbestimmtheit, der syntaktischen Abhängigkeitsausrichtung, des Merkmalsgrades); es gibt grammatische Bedeutungen, die die Aussage auf den Zeitpunkt des Sprechens beziehen, und Bedeutungen, die das bewertende Verhalten des Sprechenden gegenüber dem Inhalt seiner Aussage widerspiegeln (Tempus, Person, Modalität, emotionaler Gehalt und Gliederung des Satzes unter dem Aspekt der kommunikativen Perspektive in das „Gegebene" und das „Neue"); schließlich gehören dazu auch die grammatischen Bedeutungen, die mit der kommunikativen Funktion des Satzes und dessen Eingliederung in den ihn umfassenden Kontext zusammenhängen (Aussage vs. Frage usw., Satzformen, die die Beziehungen des Satzes zu seiner kontextualen Umgebung anzeigen). Teilweise sind die grammatischen Bedeutungen unmittelbar mit der einen oder anderen lexikalischen Bedeutung verbunden, andere grammatische Bedeutungen prägen die Struktur des ganzen Satzes und korrelieren mit den lexikalischen Bedeutungen nur mittelbar, in Abhängigkeit von der Wortstellung und der rhythmisch-intonatorischen Ausformung des Satzganzen. So setzt sich der gesamte grammatische „Überbau" einer lexikalischen Einheit im Rahmen einzelner Äußerungen in Satzform (der grammatische Bedeutungs-„Akkord") aus Elementen zusammen, die der lexikalischen Einheit ständig zukommen, und Elementen, die instabil sind und sich mit dem lexikalischen Bestand nur eventuellerweise, je nach spezifischen Eigenschaften konkreter Äußerungen verknüpfen. Die Haupteinheit der Redekette, die von einem Bündel grammatischer Bedeutungen belastet wird, ist im Deutschen nicht das Morphem, sondern das Wort, genauer: die Wortform. Denn im Deutschen sind die grammatischen Morpheme im Regelfall mehrdeutig und drücken bestimmte Bedeutungen nicht an und für sich aus, sondern in Verbindung mit dem einen oder anderen Wortstamm. In erster Linie bezieht sich dies auf die Flexionsendungen -e und -(e)n, sowie auf die Null-Endung. Eine bedeutende Rolle spielt im Deutschen auch die ausgiebige Verwendung der inneren Flexion, die den Wortstamm direkt zum Träger morphologischer Bedeutungen macht. So drückt beispielsweise die Wortform Wälder die Pluralbedeutung zweifellos mit Hilfe der En-
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dung -er aus, aber diese Bedeutung wird ebenfalls durch den Umlaut des Wurzelvokals bezeichnet - und kann grundsätzlich auch allein mit diesem Mittel bezeichnet werden. Die Unterscheidung konkreter Bündel von grammatischen Bedeutungen, die sich mit dem Wortstamm bzw. mit der flexivischen Wortform verknüpfen, wird weiterhin dadurch erschwert, daß auch eine solche Wortform grammatische Charakteristika haben kann, die sie an sich nicht mit genügender Deutlichkeit erkennen läßt, die nur mit Hilfe verschiedener Dienstwörter und des Kontextes im allgemeinen erkannt werden können. Der Lautkörper lieben stellt eine Vielzahl von Gliedern unterschiedlicher Paradigmen dar, des verbalen, des adjektivischen und sogar - wenn man von der Differenzierung durch die Schreibung des Anfangsbuchstabens absieht - des substantivischen (die Homonymie ist in der Schriftsprache etwas mäßiger). In einer Wortgruppe wie dem lieben Freund oder in einem Satz wie Wir lieben sind die Bedeutungen der Wortart (vgl. die Beispiele miteinander) sowie (im Rahmen jedes Beispiels für sich) die Bedeutungen des Kasus und des Numerus (beim Adjektiv lieben), der Person (beim Verb lieben) nur auf Grund des Kontextes feststellbar. Beim Verb drückt die Endung -en nur die numerate Bedeutung eindeutig aus (dies selbstverständlich erst, nachdem sich lieben aufgrund des Kontextes eben als Verb ausgewiesen hat). Der grammatische Bedeutungs-„Akkord", den eine einzige Wortform trägt, kann von beträchtlichem Ausmaß sein. So überlagern die Wortform Hunde im Satz Die Hunde bellen 11 grammatische Bedeutungen, die zum Teil durch Kooperation mit anderen Formen, die im Satz enthalten sind (Form und Bedeutung von die, Wortstellung, Intonation), wie auch mit dem Kontext (und unter dem Beistand der Situation) zum Ausdruck gelangen. Wir zählen diese Bedeutungen auf: 1) die verallgemeinerte gegenständliche Bedeutung der Wortart Substantiv; 2) die syntaktische Bedeutung des Subjekts; 3) die individualisierende Bedeutung (verdeutlicht durch den Kontext); 4) die Bedeutung der Bestimmtheit (ebenfalls durch den Kontext verdeutlicht); 5) Genus: Maskulinum; 6) die Bedeutung des Plurals; 7) die Bedeutung der 3. Person; 8) neutrale emotionale Färbung (Funktion der Tonfuhrung, die die Wortform Hunde einbezieht); 9) die Bedeutung des Ausgangspunktes der mitzuteilenden Information; 10) der Hinweis auf den kommunikativen Satztyp als Aussagesatz (dies folgt aus der Spitzenstellung der Wortform Hunde - zusammen mit dem zu Hunde gehörenden Artikel - im Satz; 11) die Bedeutung des selbständigen bzw. des Hauptsatzes, die die Spitzenstellung von (die) Hunde dem Satz verleiht. Die Verteilung grammatischer Bedeutungen auf die Komponenten der Redekette nimmt im Deutschen einen besonders komplizierten Charakter an, und dies liegt nicht nur am Vorhandensein einer ansehnlichen Anzahl analytischer Verbformen, sondern auch daran, daß die Bestandteile dieser Formen im selbständigen bzw. Hauptsatz voneinander distanziert werden. Folglich werden bestimmte Bedeutungen, die das finite Verb in diesen Satztypen nur als Möglichkeit voraussehen läßt, erst am Satzschluß, mit der nominalen Verbform, als „beglaubigte" Wirklichkeit realisiert. Die grammatische Bedeutung wird somit nicht nur von zwei kooperierenden Wortformen gemeinsam
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ausgedrückt, sondern sie überspannt auch alle Satzteile, die im verbal-prädikativen Rahmen eingeschlossen sind, und leistet auf ihre besondere Art einen Beitrag zur Komplexität des diese Satzkomponenten überlagernden Bündels grammatischer Bedeutungen. 4 Wir müssen zugeben, daß einige der hier im Hinblick auf das Deutsche aufgeführten Bedeutungslinien wohl fraglich erscheinen werden. Beispielsweise kann bezweifelt werden, daß Bedeutungen wie Bestimmtheit bzw. Unbestimmtheit oder begriffliche Generalisierung Sonderelemente des Bedeutungskomplexes darstellen, denn der Artikel ist mehrdeutig und die Realisierung der einen oder anderen seiner Bedeutungen hängt gemeinhin vom Inhalt des Kontextes ab. Aber trotz möglicher Einwände und potentieller Änderungen bzw. Beschränkungen der Zahl und Nomenklatur der Bedeutungslinien bleibt das Wesen des Sachverhalts, den wir betrachten, unangetastet, die Zahl der am oben analysierten Beispiel feststellbaren Elemente des Bedeutungskomplexes kann höchstens um zwei bis drei vermindert werden, da der zweifelsfrei grammatische Charakter des Großteils davon offensichtlich ist. Und dies bedeutet, daß das Prinzip der polydimensionalen, vielschichtigen grammatischen Bauweise der Redekette tatsächlich absolute Geltung hat. Diese Grundeigenschaft der Redekette drückt dem Sprachbau im ganzen ihren Stempel auf. Die Kompliziertheit der grammatischen Struktur der Redekette korreliert notwendigerweise mit der Polydimensionalität des paradigmatischen Systems grammatischer Phänomene. Etwas genauer ausgedrückt, ist die Polydimensionalität der Redekette Ausdruck und Erscheinungsform der Polydimensionalität grammatischer Phänomene in deren paradigmatischer Existenzweise. Die beiden Seiten des Phänomens Sprache, Sprache als Sprechvorgang und Sprache als paradigmatisch geordnete Einrichtung, bedingen einander durch Wechselwirkung und bilden eine organische Einheit.
Das paradigmatische System des Deutschen Jede grammatische Kategorie und Form ist, was ihre Semantik und ihre Funktionen anbetrifft, wie diese den im paradigmatischen Sprachsystem vertretenen grammatischen Phänomenen zugeordnet sind, vielschichtig, polydimensional und kann bzw. muß darum unter einer Reihe von Aspekten analysiert und beschrieben werden. Eben dies macht Bestimmung und Klassifikation vieler Komponenten des grammatischen Baus der deutschen Sprache, zum Beispiel des Systems der Wortarten oder der Satzglieder, so schwierig. Die Vielseitigkeit eines grammatischen Phänomens bedeutet im Regelfall seine gleichzeitige Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Reihen anderer Phänomene, was seine Betrachtung unter verschiedenen Aspekten, von verschiedenen 4
Um Komplexe grammatischer Bedeutungen, die in der Redekette realisiert werden, anschaulich darzustellen, schlagen wir ein „partitur"-ähnliches Schema vor; s. Α λ μ ο η η , Β.Γ.: napTHTypHoe CTpoemie peHeeofi nenn η CHCTeMa rpaMMaTH-
necKHx 3Ha4eHHH β npeAnoxceHHH. In: HayMHbie Λθκ/iajibi Bbicwefi lukojiu. cDhjiojiorHHecKHe HayKH. 1961, Xe 3 [s. auch: A d m o n i , W. : Der deutsche Sprachbau. 4. Aufl. München 1982. S. 3 1 1 - 3 1 7 ] ,
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Standpunkten aus möglich und notwendig macht. Grammatische Phänomene, die aufgrund eines gemeinsamen Merkmals eine bestimmte Reihe bilden, werden durch andere Merkmale, die ihnen eigen sind, in unterschiedlichem Maße von anderen Reihen grammatischer Phänomene angezogen, was vielfach die Homogenität von Klassen bzw. Subklassen grammatischer Kategorien und Formen untergräbt. Nur selten weist eine Gruppe grammatischer Phänomene einen völlig eindeutigen Merkmalskomplex auf. Bekannterlich sind fur grammatische Wortklassen in erster Linie folgende differenzierende Merkmale typisch: die morphologische Form, die syntaktische Funktion (genauer: sowohl die syntaktischen Rollen der Wortklasse im Satz wie auch alle ihre syntagmatischen Verbindungsmöglichkeiten mit anderen Wortklassen und Klassen von Wortformen), die verallgemeinerte grammatische Bedeutung. Die Charakteristik des einen oder anderen Satzgliedes umfaßt vor allem seine funktionale Bestimmung bezüglich des Satzes oder der Wortgruppe, seinen morphologischen Ausdruck, seine verallgemeinerte grammatische Bedeutung. In der Mehrheit aller Fälle finden sich in den betreffenden Merkmalskomplexen einzelne Merkmale, denen eine besondere Bedeutung zukommt, die im Merkmalskomplex die dominierende Rolle spielen und somit diesem Komplex eine gewisse Einheitlichkeit sichern, obwohl bestimmte Merkmale anderen Merkmalen derselben Kategorie sogar widersprechen können. Unter dem Aspekt morphologischer Wortabwandlung ist die Wortart Substantiv nicht homogen. Neben Subklassen des Substantivs, die die Kasusflexion aufweisen, gibt es einige Gruppen von Substantiven, denen diese Eigenschaft fehlt, vgl. beispielsweise die Pluralia tantum Masern, Kosten. Doch stimmen die verallgemeinerte grammatische Bedeutung dieser substantivischen Spielart und ihre syntaktischen Fügungspotenzen mit den entsprechenden Eigenschaften der Substantive mit Kasusflexion dermaßen voll überein, daß die Zugehörigkeit der Wörter des Typs Masern, Kosten zur Wortart Substantiv durchaus nicht in Zweifel gezogen werden kann. Es gibt auch kompliziertere Fälle: Die Diskrepanz zwischen einzelnen Merkmalen, die wesentlichen Charakter haben, kann einen Grad erreichen, bei dem die Klasse grammatischer Phänomene in zwei oder mehrere Subklassen aufgeteilt dasteht, die gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen, aber durch kein entschieden dominierendes Merkmal zur zweifelsfreien Einheit konsolidiert erscheinen. Mangelnde dimensionale Dominanz läßt in einem solchen Fall bestimmte Klassen bzw. Subklassen grammatischer Phänomene nicht deutlich voneinander abgrenzen. Ein bezeichnendes Beispiel mangelnder Abgrenzbarkeit und offensichtlicher Zwischenstellung im paradigmatischen System des Deutschen stellen die sogenannten „Kurzformen" des Typs schön, gesund u. ä. dar, die gleichstämmig sind mit den deklinierbaren Adjektiven wie schön, gesund usw. (vgl. ein schönes Mädchen). Im Rahmen des vorliegenden Artikels können wir die verschiedenen Ansichten, die über die „Kurzform" geäußert wurden, nicht referieren. Wir beschränken uns auf die wichtigsten Tatsachen aus dem betreffenden Bereich. Die Kurzform weist einen Merkmalskomplex auf, der sie gleichzeitig mit
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zwei Wortklassen verbindet, nämlich mit dem Adjektiv und mit dem Adverb. Mit dem Adjektiv verbinden die Kurzform folgende Merkmale: 1) die verallgemeinerte grammatische Bedeutung der Eigenschaft eines Gegenstandes, die die Kurzform in den syntaktischen Funktionen des abgesonderten Attributs, des Prädikativs und des prädikativen Attributs ausdrückt; 2) an gewisse Bedingungen gebundene wechselseitige Austauschbarkeit der Kurzform und der flektierten Form beim Gebrauch der flektierten Form in der Funktion des abgesonderten Attributs, vgl. die Mädchen, schön und heiter - die Mädchen, schöne und heitere. Folgende Gemeinsamkeiten verbinden die Kurzform mit dem Adverb: 1) die morphologische Gestalt, nämlich die Null-Endung; 2) die verallgemeinerte grammatische Bedeutung des Merkmals beim Gebrauch in der Funktion einer adverbialen Bestimmung; 3) die Verwendung der adverbialen Form des Superlativs als Prädikativ, vgl. Sie ist am schönsten - Sie singt am schönsten. Mit dem Adverb teilt die Kurzform im allgemeinen auch die fast ausschließliche Zugehörigkeit zur syntaktischen Gruppe des Verbs. Die Gegenüberstellung der Kurzform und der flexivischen Form des „Eigenschaftswortes" steht also im engen Zusammenhang mit der für die deutsche Syntax sehr wichtigen gegenseitigen strukturellen Gegenüberstellung der substantivischen und der verbalen Wortgruppe. Auf den ersten Blick scheinen die gemeinsamen Merkmale der eigenschaftlichen Kurzform und der Wortart Adverb die analogen Beziehungen der Kurzform zum flexivischen Adjektiv in den Hintergrund zu drängen. Aber im grammatischen System des Gegenwartsdeutschen sind die Wortformen des Typs schön, gesund von den gleichstämmigen flektierten Adjektiven nicht zu trennen, denn die Kurzform bezieht sich als Nennform auf das Gesamtparadigma des entsprechenden „Eigenschaftswortes". Die flektierten Adjektive und die gleichstämmigen Wörter mit Null-Endung sind mit nur wenigen Ausnahmen bedeutungsgleich. Die Kurzform, die in höchstmöglichem Maße von grammatischen Bedeutungen entlastet ist, die eine konkrete Wortform überlagern, eignet sich am besten dazu, das morphologische Gesamtparadigma des betreffenden Wortes zu repräsentieren. Jede flektierte Adjektivform an sich, wenn man sie vom Kontext isoliert betrachtet, beispielsweise die singularische Nominativform, wird vor dem Hintergrund der Kurzform immer ein etwas konkreteres, ein etwas „vergegenständlichtes" Merkmal bezeichnen, denn das dieser Form anhaftende Genusmerkmal assoziiert sie potentiell mit einer genusspezifischen Person bzw. einem genusspezifischen Gegenstand, vgl. guter - gute - gutes. Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Deutschen und dem Russischen in dieser Beziehung, denn was in der russischen Grammatik als „Kurzform" bezeichnet wird und zu Recht als Kurzform (nichtpronominale Form) eben des Adjektivs gilt, drückt durch eine Endung sowohl das Genus wie auch die Zahl aus und weicht überdies in vielen Fällen in lexikalisch-semantischer Hinsicht von dem „vollen" Adjektiv ab. Aus dem oben Ausgeführten folgt, daß die uns hier interessierende Kurzform derart eng sowohl mit dem Adjektiv als auch mit dem Adverb verbunden ist, daß man sie weder von der einen noch von der anderen Wortart trennen kann. Hier fehlt eine Dominante, die die entsprechenden Bindungen definitiv aus dem Gleichgewicht zugunsten der einen oder der anderen Seite brin-
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gen könnte. Anschaulich kann man sich die Stellung des Wortformtyps schön, gesund im Bilde eines gemeinsamen Segmentes zweier einander überschneidender Kreise vorstellen, die symbolisch resp. den Bereich des Adjektivs und den des Adverbs umschließen. Die gleichzeitige Zugehörigkeit einer Klasse von Wortformen zu zwei verschiedenen grammatischen Wortklassen ist bei aller inneren Widersprüchlichkeit des betreffenden grammatischen Subsystems objektive Wirklichkeit, ist ein unverrückbarer Bestandteil des paradigmatischen Systems der deutschen Sprache. Wenn man im Deutschen nach anderen Phänomenen Umschau hält, die in auffälliger Weise widersprüchlich sind, da sie sogenannte „Grenzfälle" darstellen, so wäre als erstes die Wortzusammensetzung zu nennen, da sie einerseits der Schaffung neuer lexikalischer Einheiten dient, andererseits aber - als Vorgang - eine Analogie zum Konstruieren syntaktischer Wortgruppen darstellt. Bezeichnend ist, daß die Zusammensetzung ebenfalls zu seit langem heftig umstrittenen Phänomenen des deutschen Sprachbaus gehört. Aber auch in diesem Fall haben wir es mit objektiver Widersprüchlichkeit des Sprachbaus an sich zu tun, die durch bestimmte Tendenzen der Sprachentwicklung entstanden ist.
Die Struktur der Redekette und des paradigmatischen Systems in Sprachen unterschiedlicher Typen Es stellt sich die Frage, wie andere Sprachen hinsichtlich der Polydimensionalität beurteilt werden müssen, die sich im deutschen Sprachbau in der Vielschichtigkeit der Merkmalskomplexe und der Vielzahl von Aspekten grammatischer Phänomene bekundet, unter denen diese zu betrachten sind. Sprachen unterschiedlichen Bautyps sind in dieser Hinsicht natürlich nicht uniform. Man kann sich leicht davon überzeugen, daß in flexivischen und flexivisch-analytischen Sprachen Verhältnisse vorherrschen, die den im Deutschen vorfindlichen im großen und ganzen analog sind. Im Grunde genommen gehörte zur Idee der Flexion schon immer die Vorstellung von einer Form, die gleichzeitig mehrere grammatische Bedeutungen wiedergeben kann, sowie die Vorstellung davon, daß die Grenze zwischen Wortstamm und Flexionsendung häufig nicht mit absoluter Sicherheit zu erkennen ist. Große Aufmerksamkeit widmete Bally in nicht ferner Vergangenheit verschiedenen Abweichungen vom linearen Prinzip des Aufbaus syntagmatischer Einheiten, darunter komplexer Wortformen, und betonte dabei mit besonderem Nachdruck den multiplen Bedeutungsgehalt vieler synthetischer (flexivischer) Formen.5 Aber welche Bewandtnis hat es damit in Sprachen anderer Typen? Auf den ersten Blick finden sich da ganz andersgeartete Gesetzmäßigkeiten vor. Zum Beispiel betrachtet man die agglutinierenden Sprachen als solche, in denen jedes Morphem nur eine Bedeutung ausdrückt und das lineare Prinzip des Aufbaus der Redekette somit in besonders reiner Form in Erscheinung tritt. 5
Β a 11 y, Ch.: Op. cit. §§ 225-233.
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Eine solche Ansicht kann absolut plausibel erscheinen: Sprachen, in denen die Redekette dazu neigt, eine lexikalische Einheit mit dem gleichzeitigen Ausdruck einer Vielzahl grammatischer Bedeutungen zu belasten, stehen Sprachen gegenüber, für die die Tendenz zur linear aufeinanderfolgenden Bezeichnung aller Bedeutungen, sowohl der lexikalischen wie auch der grammatischen, charakteristisch ist. Es besteht die Neigung zur „vertikalen" Struktur, zum „akkord"-förmigen Aufbau der Bedeutungskomplexe und die entgegengesetzte Neigung zur „horizontalen" Struktur, zur Linie. Aber obwohl die Leistungsfähigkeit des in dem einen oder anderen Sprachtyp bevorzugten strukturell-topologischen Zugriffs sehr groß sein kann, ist sie dennoch nicht grenzenlos. Auf der Basis eines isolierten strukturellen Prinzips kann man sehr viele lexikalische und grammatische Bedeutungen zum Ausdruck bringen, aber kaum ihre Gesamtheit. Die Wirkung des vorherrschenden Prinzips wird durch bestimmte Bedingungen und Forderungen eingeschränkt, die ihren Grund in der Natur des kommunikativ ausgerichteten Sprech-Denk-Vorgangs haben. Damit die kommunikative Funktion der Sprache verwirklicht werden kann, darf die Aufnahmefähigkeit der Redekette für den Bedeutungsgehalt bei beliebiger Komplizierung ihres Inhalts - die Grenzen des Zulässigen vom Standpunkt gesicherter „Portativität" aus, d. h. vom Standpunkt deutlicher innerer Gliederung und fester Zusammenfügung struktureller Einheiten, ihrer ungehinderten Übersichtlichkeit aus, nicht übersteigen. Die Unmöglichkeit (zum mindesten eine äußerst geringe Wahrscheinlichkeit) der Alleinherrschaft des „akkord"-fÖrmigen Bauprinzips folgt daraus, daß die ausschließliche Dominanz der „Partitur"-Struktur der Redekette 6 zu einer die Kommunikation behindernden Überbelastung solcher Formmittel wie die Intonation und die Wortstellung, zum Übermaß an Homonymie und zu inhaltlichen Unklarheiten führen würde. Darum finden sich in isolierenden Sprachen trotz der starken Entwicklung intonatorischer Ausdrucksmittel (bemerkenswert ist der Wortton) neben rein lexikalischen Morphemen allerdings auch grammatische Hilfsmorpheme wie zum Beispiel im Chinesischen die prädikative Partukel sa, die phrasalen modalen Partikeln a, ma u. dgl., die modal-temporale Partikel la usw. Wie Dragunov mitteilt, unterscheiden sich diese und ähnliche Dienstwörter („leere Wörter") von „Vollwörtern" dadurch, daß die Dienstwörter an der Tonalität nicht teilhaben und sich mit dem nominalen Suffix dy nicht verknüpfen können. 7 Es ist also offensichtlich, daß die lexikalisch-grammatischen Komponenten der Redekette im Chinesischen nicht gleichwertig sind, so daß man von rein „akkord"-förmiger Struktur der Redekette in dieser Sprache nicht sprechen kann.
6
Die „partitur"-artige Bedeutungsstruktur der Redekette erhebt Admoni später in den Rang einer besonderen Dimension der (Sprech)-Sprache neben der paradigmatischen und der syntagmatischen; s. A d m o n i , W.: Der deutsche Sprachbau. 4. Aufl. München 1982. S. 11-19, 311-317. - / / g g .
7
/ J p a r y H O B , A . A . : Hcc.neaoBaiiM» n o rpaMMaraKe coepeMeHHoro KHTaiicKoro H3biKa. I. MocKea - JleHHHrpaa 1 9 5 2 . S. 13.
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Auf der anderen Seite kann man auch die Möglichkeit rein linearen Aufbaus der Redekette nicht zulassen, denn eine Redeeinheit, bei der alle grammatischen Bedeutungen durch aufeinanderfolgende lexematisch-morphematische Elemente bezeichnet würden, wäre unübersichtlich und kommunikativ untauglich; sie würde übermäßig lang ausfallen, und infolge ihrer Lockerheit würde sie der Auflösung in ihre Bestandteile preisgegeben sein - selbst bei breitester Verwendung der Intonation und der Wortstellung als formaler Mittel straffer struktureller Organisation syntaktischer Einheiten. Theoretische Erwägungen wie die vorhin dargelegten werden durch sprachliches Material hinlänglich bestätigt. Auch in Sprachen, die dem Ideal der Linearität nahekommen, und zwar in den agglutinierenden Sprachen, erweist sich die vielschichtige Redekette als möglich, obwohl das Maß der Vielschichtigkeit in diesen Sprachen im Vergleich mit flektierenden Sprachen ein anderes ist. In den Turksprachen bewirkt schon das Vorhandensein unterschiedlicher Wortarten, daß bestimmte grammatische Bedeutungen - bei aller deutlichen Ausgrenzbarkeit einzelner grammatischer Morpheme im Wort die lexikalische Bedeutung des ganzen Wortes überlagern. Zum Beispiel hat die tatarische Wortform ama-HbiH '(des) Vaters', in der an den lexikalischen Stamm ama das genitivische Formans HUH geheftet ist, als Ganzes die verallgemeinerte grammatische Bedeutung der Gegenständlichkeit, die dem Substantiv im allgemeinen eigen ist. 8 Möglich sind in den Turksprachen auch andere Spielarten der Vereinigung grammatischer Bedeutungen im Inhalt eines einzelnen Sprachzeichens - im Bereich des Verbs, das mit allerlei Formanzien besonders reich ausgestattet ist. Beispielsweise werden die Bedeutungen der Person und der Zahl durch ein einziges Morphem ausgedrückt, vgl. im Tatarischen die präsentische Form der 1. Person Sg. ϋα3ά-ΜΚΗ, der 2. Person Sg. üü3ü-cbH 'ich schreibe' - 'du schreibst'. 9 Es sei auch daraufhingewiesen, daß im Tatarischen die Hauptbedeutungen der Dimension der kommunikativen Perspektive, die Bedeutungen des „Gegebenen" und des „Neuen", nicht durch irgendwelche linear angeordneten Formanzien ausgedrückt werden, sondern die Wortformen auf indirekte Weise überlagern, indem ihr Ausdruck durch intonatorische Mittel erfolgt; durch die Intonation wird auch der emotionale Gehalt des Satzes zum Ausdruck gebracht. 1 0 So liegt auch in agglutinierenden Sprachen ein gewisses, wenngleich verhältnismäßig geringes, Maß an „akkord"-förmiger Komplexität im Bedeutungssystem grammatischer Ausdrucksmittel vor. Das strukturelle Prinzip gleichzeitiger Entfaltung einer Vielzahl von grammatischen Bedeutungslinien ist auch den agglutinierenden Sprachen nicht völlig fremd. Was das Prinzip der Polydimensionalität des paradigmatischen Systems anbetrifft, so stellt es sich heraus, daß dieses Prinzip ebenfalls allgemeine Geltung hat und sich mit mehr oder weniger tiefgreifenden Konsequenzen in typologisch unterschiedlichen Sprachen offenbart. Auf die Polydimensiona8
Vgl. B o r o p o ^ H U K H i i , B.A.: BeeaeHHe β TaTapcKoe 5i3biK03HaHne. 2-e H3aaHHe. KasaHb 1953. S. 151.
9 10
Ibid. S. 172. Ibid. S. 195ff.
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lität des paradigmatischen Systems der agglutinierenden Sprachen kann man daraus schließen, daß hier die Unterteilung in Wortarten mit der Möglichkeit einhergeht, bestimmte Formanzien aus einer grammatischen Wortklasse in eine andere zu übertragen. Es ergeben sich somit sehr komplizierte Überschneidungen sowohl im Bereich der Wortarten wie auch in dem der Satzglieder. Es genügt, auf die Fähigkeit türkischer Nomina hinzuweisen, sich mit Personalendungen zu verbinden, die die prädikative Funktion des Wortes anzeigen und vorrangig zum Verb gehören. Vgl. tat. Mm yqynbi-MhH 'Ich bin Schüler', MUH öaü-M-bH 'Ich bin reich' und ύα3ά-Μτ>Η 'Ich schreibe'. Die Polydimensionalität der Merkmalskomplexe grammatischer Wortklassen macht überhaupt das Problem der Wortarten zu einem der schwierigsten und umstrittensten in der türkischen Grammatikforschung. 1 1 Was die isolierenden Sprachen anbetrifft, so weisen paradigmatische Einheiten in diesen Sprachen gemeinhin weniger Merkmalsdimensionen auf als in den agglutinierenden oder flektierenden Sprachen. Beispielsweise sprachen viele Forscher dem Chinesischen aufgrund nichtkomplexer morphologischer Wortstruktur die Unterteilung des Wortschatzes in Wortarten überhaupt ab. Aber einsichtigere Untersuchungen, in denen allen Seiten der Sprachstruktur Rechnung getragen wurde, haben gezeigt, daß sich auch im Chinesischen eine Reihe lexikalisch-grammatischer Wortklassen abzeichnet, deren Differenzierung Bedeutungsunterschiede, unterschiedliche syntaktische Funktionen, unterschiedliche Worttöne und Unterschiede der Fügungspotenzen zugrunde liegen (die letzteren betreffen vor allem Verbindungsmöglichkeiten mit Partikeln; dies, aber auch die Verwendung einiger Suffixe verleihen den Wortklassen im Chinesischen bis zu einem gewissen Grade sogar eigentlich morphologische Züge). Uneingeschränkt gilt für die isolierenden Sprachen wie für alle anderen Sprachtypen ohne Ausnahme die Polydimensionalität der wichtigsten sprachlichen Einheit, nämlich des Satzes. Eine eigenartige Erscheinungsform der Kompliziertheit lexikalischer Wortbedeutungen einerseits und der Tendenz zur Vielschichtigkeit der Redekette andererseits spiegelt sich in den isolierenden Sprachen in einer besonderer Häufigkeit lexikalischer Homonymie wider. Diese übertrifft in auffälliger Weise die lexikalische Homonymie in Sprachen, für die die Wortstruktur mit Suffixen und Flexion typisch ist, mit Morphemen also, die die einzelnen Bedeutungen des Wortes in seinen eigenen Grenzen auseinander halten helfen, ohne daß erst semantische Zusammenhänge im Rahmen der Wortgruppe bzw. des Satzes oder auch breiteren Kontextes dafür entscheidend wären. Großes Ausmaß hat die Homonymie auch in einigen neueren indoeuropäischen Sprachen angenommen, in denen flexionslose Wortformen vorherrschen (Englisch, Französisch).
11
Vgl. C e e o p T H H , 3.B.: Κ npoö^eMe HacTeft pen η β tiopkckhx «3biKax. In: Βοπpocbi rpaMMäTHHecKoro CTpofl. MocKea 1955, S. 220.
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Die auf Polydimensionalität und dimensionale Dominanz ausgerichtete Herangehensweise in der Grammatikforschung Die universelle Polydimensionalität der Sprachstruktur (die in typologisch heterogenen Sprachen unterschiedliche Erscheinungsformen aufweist) stellt bestimmte Anforderungen an die Methode der Grammatikforschung. Damit man mit dieser Methode eine richtige Vorstellung von dem Untersuchungsobjekt, wie es in Wirklichkeit, an und für sich, vorliegt, erzielen kann, muß sie auf die Berücksichtigung aller Aspekte, d. h. aller Seiten und wesentlichen Beziehungen des zu untersuchenden grammatischen Phänomens, ausgerichtet sein. Und dies bedeutet, daß man bei der Charakteristik des Großteils grammatischer Phänomene vom jeweiligen Vorhandensein nicht eines einzigen „ausschlaggebenden" Merkmals, sondern zweier oder auch mehrerer Merkmale und von der notwendigen Anwendung einer Reihe entsprechender Kriterien ausgehen muß. Dies bedeutet aber auch, daß man beim Ausarbeiten eines Komplexes von Aspekten, unter denen das grammatische Objekt zu betrachten ist, die relative Gewichtung dieser Aspekte bzw. Kriterien ständig berücksichtigen muß; wünschenswert ist jedesmal, die führende, die im gegebenen Fall wichtigste Dimension festzustellen, die fur die Bestimmung des Grundtyps des betreffenden grammatischen Phänomens die entscheidende Bedeutung hat. Ohne eine solche Hierarchisierung bleibt der Merkmalskomplex eine mechanische Summe einzelner Elemente und wird nicht als Ganzheit erkannt. Aus den genannten Forderungen ergibt sich die Notwendigkeit, die Zusammenhänge jedes grammatischen Phänomens mit grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des konkreten Sprachbaus zu beachten. Denn schon das Bestehen von Komplexen bestimmter Merkmale, die den grammatischen Phänomenen eigen sind, sowie die Unterscheidung der Merkmale nach Graden der Wesentlichkeit, sowohl das eine wie das andere, spiegelt in jedem gegebenen Fall die Gesetzmäßigkeiten wider, die die umfassendsten, letztendlich mit den strukturellen Grundeigenschaften der betreffenden Sprache zusammenhängenden grammatischen Kategorien charakterisieren. Die methodische Forderung, bei der Beschreibung der Merkmalskomplexe grammatischer Phänomene jeweils das dimensional dominante Merkmal herauszustellen, gilt nicht absolut, denn die dominierende Stellung eines der Merkmale, die zur eindeutigen Kategorisierung eines grammatischen Phänomens verhelfen könnte, ist gar nicht immer deutlich erkennbar. Aus dem objektiven Wesen grammatischer Phänomene, daraus, daß bei der Bestimmung ihrer Beschaffenheit eine Vielzahl von Kriterien Pate stehen muß, ergibt sich im Gegenteil die Möglichkeit von Grenz- bzw. Übergangserscheinungen, denen die Dominanz der einen oder anderen Dimension fehlt und in denen entgegengesetzte Verhaltens- bzw. Entwicklungstendenzen einander die Waage halten. Ohne den Boden gängiger sprachwissenschaftlicher Terminologie zu verlassen, kann man die von uns oben in den Grundzügen umrissene Methode als polydimensional-dominanzorientierte Methode bezeichnen. Sie eröffnet die Perspektive adäquater ganzheitlicher Erkenntnis des Sprachbaus, einer Erkenntnis, die vom zutiefst Wesenhaften des Untersuchungsobjektes ausgeht
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und eine allseitige, erschöpfende Beleuchtung grammatischer Phänomene im Zusammenhang mit den grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des konkreten Sprachbaus und mit Festlegung der Dominanzverhältnisse in dessen Komponenten vorsieht. Wir meinen hier mit dem Terminus „Methode" das Prinzipielle an der Vorgehensweise der linguistischen Untersuchung und gehen im Rahmen dieses Artikels auf spezielle methodische Zugriffe nicht ein. Der konkreten Methodik liegen soziale Sprecherfahrung im weitesten Sinne des Wortes und Erfahrungen aus gedanklichen Experimenten an Sprechvorgängen zugrunde; sie greift zum Kriterium der Frequenz, zum Kriterium frontaler (hundertprozentiger) Verwendung grammatischer Formen unter bestimmten Bedingungen, zum Kriterium der Abgeschlossenheit syntaktischer Konstruktion u. dgl. Und es sei betont, daß man diese Methodik durchaus nicht ab ovo ausarbeiten muß, sondern hauptsächlich das, was der Sprachwissenschaft seit langem bekannt ist, verallgemeinert und weiter ausbaut. Im Zusammenhang damit wollen wir ebenfalls unterstreichen, daß das, was wir die polydimensional-dominanzorientierte Methode nennen, im Grunde genommen nicht neu, keine originelle Erfindung des Verfassers ist. Allerdings ist dieser Begriff mit dem entsprechenden Terminus bisher nicht vorgeschlagen worden. Aber für den traditionellen „Trend" sprachwissenschaftlicher Studien, wie er einige Jahrhunderte lang die Entwicklung der Grammatik bestimmte, für die bedeutendsten Vertreter der Grammatikforschung, die in den letzten Jahrzehnten des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirkten und die vieles an Überliefertem überarbeiteten und neugestalteten, ohne es aber in Grund und Boden zu verdammen, war gerade das Streben nach vielseitigem, polydimensionalem Erfassen grammatischer Gegebenheiten charakteristisch, wobei gewöhnlich auch deren wichtigste Seiten hervorgehoben wurden. Bei der Analyse beispielsweise solcher Komponenten des paradigmatischen Systems wie der Wortarten oder der Satzglieder wurde eine Reihe von Kriterien angewandt; so verfuhren - mehr oder weniger konseq u e n t - Paul, Jespersen, Sachmatov, Peäkovskij und viele andere. 12 Die Pluralität der Kriterien wird in der neueren Linguistik bereits einige Jahrzehnte lang vielfach als unwissenschaftlich angeprangert, aber in Wirklichkeit stellt sie angesichts der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Sprachbaus, von denen oben die Rede war, keine Schwäche, sondern die Stärke der traditionellen Grammatik dar. Das soll keineswegs dahingehend gedeutet werden, daß die traditionelle Grammatik einen Vollkommenheitsgrad erreicht hätte, der sie gegen alle Kritik gefeit macht. Es unterliegt keinem Zweifel, daß jede der zahlreichen Richtungen traditioneller Grammatik viele, mitunter schwerwiegende, Mängel hat. Oft wird der Facettenreichtum wichtiger grammatischer Phänomene nur unvollständig und nicht systematisch genug erfaßt. Besonders häufig sind mangelhafte Bestimmungen dominierender Dimensionen bzw. in betreffende Di12
Am eingehendsten ist die Auffassung der Wortarten des Russischen in diesem Sinne von Vinogradov in seinem Buch „PyccKHH snbiK" [s. Fußn. 27 auf S. 123] ausgearbeitet.
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Polydimensionalität und dimensionale Dominanz
mensionen fallender Merkmale in der Struktur grammatischer Phänomene zu verzeichnen. Aber die größte Schwäche der traditionellen Grammatik besteht darin, daß sie die Aufgabe außer acht läßt, Zusammenhänge zwischen einzelnen grammatischen Formen und grundlegenden allgemeinen Eigenschaften konkreter Sprachbausysteme zu klären. Eben darauf ist die das Gesamtbild des Systems in einzelne Elemente zerstückelnde, empirisch ausgerichtete Darstellungsweise zurückzuführen, die filr manches fundamentale Ergebnis traditioneller Grammatikforschung, insbesondere der junggrammatischen, so typisch ist. Die Nichtherausstellung von Dominanten und die Vernachlässigung von Korrelationen zwischen den Charakteristiken einzelner grammatischer Formen und den Grundzügen des Baus betreffender Sprachen setzen in bedeutendem Maße den Wert beispielsweise sehr interessanter Arbeiten von Havers herab, die man hinsichtlich des Aufzeigens der Vielseitigkeit grammatischer Phänomene und multipler auf sie einwirkender Faktoren als vorbildlich bezeichnen kann. 1 3 Die Unzulänglichkeiten der traditionellen Grammatik ergeben dennoch keinen Grund für einen radikalen Umbau der grammatischen Wissenschaft, weder ihrer Theorie noch ihrer Praxis. Das Streben nach einem absoluten Neubeginn, nach einer Analyse grammatischer Phänomene auf der Grundlage von Prinzipien, die denen der traditionellen Grammatik entschieden entgegengesetzt werden, halten wir für verfehlt. Die immerfort vorgebrachte Forderung nach „exakt-wissenschaftlicher" Grammatik, nach Einheitlichkeit ihrer Kriteriengrundlage, die ablehnende Haltung gegenüber Grenzfallen und ganzen Übergangsbereichen im Sprachsystem kann nur in einer unvollständigen, inhaltsarmen Darstellung realer Sprachverhältnisse resultieren, was auch bei Realisierungen dieser Forderung der Fall ist. Dies betrifft vor allem eklatante Bemühungen um eine radikale Umgestaltung der Grammatik, die manche Vertreter des Strukturalismus anstreben; einen Sonderfall stellt der Deskriptivismus dar, in dessen theoretischer Einstellung höchste Konsequenz des linearen Analyseverfahrens in seiner Anwendung auf die Redekette mit deklarierter Nichtbeachtung der sprachlichen Inhaltsseite einhergeht. Aus dem Ausgeführten ist keineswegs zu schließen, daß die struktural istische Vorgehensweise und andere Methoden - außer der polydimensional-dominanzorientierten - pauschal unbrauchbar seien. Wenn u. U. das Ziel erklärt und verfolgt wird, nicht den Sprachbau in der erschöpfenden Fülle seiner Eigenschaften, sondern nur bestimmte Schichten, Seiten, Aspekte der sprachlichen Wirklichkeit zu beleuchten, wenn die Redekette aus irgendwelchen praktischen Gründen nicht als eine vielschichtig, mehrere gleichzeitige Entfaltungslinien umfassende Gegebenheit dargestellt werden muß, sondern als ein lediglich monodimensional-geradlinig verlaufender Vorgang, dann sind eben andere Methoden, darunter die strukturalistische, vollkommen berechtigt. Aber wenn eine ganzheitliche, eine allumfassende Erkenntnis des Sprachbaus angestrebt wird, dann scheint uns die Anwendung der polydimensional-dominanzorientierten Methode unerläßlich - jedenfalls in bezug auf die Sprachtypen, die wir im vorliegenden Artikel im Auge hatten, und unter 13
Η a ν e r s , W.: Handbuch der erklärenden Syntax. Heidelberg 1931.
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angemessener Abwandlung dieser Methode je nach spezifischen strukturellen Besonderheiten der betrachteten Sprache. Zweifellos ist die polydimensional-dominanzorientierte Methode kompliziert und ihre Anwendung schwierig. Sie erfordert das Heranziehen einer in höchstem Maße umfassenden, den Untersuchungsgegenstand erschöpfend widerspiegelnden Menge sprachlichen Materials und das Durchleuchten aller wesentlichen wechselseitigen Korrelationen seiner Bestandteile. Dafür aber gewährleistet diese Methode ein weitgehend ganzheitliches und im Grunde genommen eben ein genaues Wissen um die Sprachstruktur, die man untersucht. Gerade darauf waren lange Zeit die Bestrebungen der traditionellen Grammatik gerichtet. Es sei noch einmal ausdrücklich betont, daß die polydimensional-dominanzorientierte Methode sich der Vorgehensweise der traditionellen Grammatik keinesfalls gegenüberstellt, sondern im Gegenteil als deren Verallgemeinerung unter einem bestimmten Blickwinkel verstanden werden will. Gleicherweise will die theoretische Begründung dieser Methode als eine Art Begründung der Haupttendenzen der traditionellen Grammatik verstanden werden.
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Zur „Portativität" grammatischer Strukturen Bevor ich zum eigentlichen Thema des Vortrags übergehe, dessen Titel den etwas rätselhaften Terminus „Portativität" enthält, möchte ich einige allgemeine Fragen berühren. Es ist als sehr positiv einzuschätzen, daß manche Forscher, die an der Diskussion um das Problem der Wortstruktur teilnehmen, die Vielfalt der Dimensionen der Wortstruktur hervorheben. Es wurden unterschiedliche Aspekte angesprochen, unter denen das Wort zu betrachten ist. Es sei ausdrücklich betont, daß dies nicht von ungefähr geschieht. Polydimensionalität, Facettenreichtum ist allen wichtigen strukturellen Einheiten des Sprachbaus eigen. Sie verdanken diese Eigenschaft der Vielfalt und Mannigfaltigkeit semantischer Inhalte, die die grammatischen Formen zum Ausdruck bringen, und der Mannigfaltigkeit der Ausdrucksmittel, die zur Prägung grammatischer Formen verwendet werden, sowie dem Umstand, daß jede Sprache auf jeder Stufe ihrer historischen Entwicklung von Übergangserscheinungen durchsetzt ist. Wesentlich ist, daß die Aspekte, unter denen grammatische Phänomene, darunter das Wort, betrachtet werden können bzw. müssen, mit unterschiedlichen objektiven Dimensionen dieser Phänomene zusammenhängen und daß die vielfachen „Schnitte" durch das eine oder andere davon nicht auf einen gemeinsamen Nenner zurückzufuhren sind, der auch irgendwie quantitativ bestimmbar wäre. Daraus ergibt sich aber kein Grund dafür, die Möglichkeit anzuzweifeln, das Wort als einheitliches Gebilde wissenschaftlich zu ergründen bzw. die Wissenschaftlichkeit einer solchen Untersuchung überhaupt in Frage zu stellen, wobei man sich gewöhnlich darauf beruft, daß es seit eh und j e mißlingt, ein einziges entscheidendes Kriterium für die Begriffsbestimmung des Wortes zu finden. Der Forscher hat mit der Notwendigkeit zu rechnen, eine Vielzahl von Kriterien bei der Bestimmung grammatischer Einheiten zu berücksichtigen, weil dies der eigentlichen Natur der Sprache als des Untersuchungsobjektes entspricht. Deshalb ist die Hinwendung zu einer Reihe von Kriterien keineswegs als Verstoß gegen strenge Wissenschaftlichkeit der Grammatiktheorie anzusehen, sondern die polykriteriale Betrachtung stellt im Gegenteil eine notwendige Bedingung echt wissenschaftlicher Analyse dar. In bezug auf jedes grammatische Phänomen muß festgestellt werden, inwieweit darin die eine oder andere der Eigenschaften (Seiten), die dieses Phänomen im allgemeinen charakterisieren, vertreten ist. Die betreffenden Verbreitungsbereiche kann man anhand eines Schemas von Kreisen mit gleichen Durchmessern darstellen; einige von diesen Kreisen werden in ihrem vollen Umfang miteinander zusammenfallen, andere dagegen werden einander überschneiden. Wenn sich daraus ein Bild von Kreisen ergibt, die sich vollständig oder wenigstens nahezu vollständig decken, weist dies auf genau qualifizier-
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bare Einheiten oder Kategorien des Sprachbaus hin. Jedoch wird sich - zumindest in flektierenden und flexivisch-analytischen Sprachen - ein deutliches Übergewicht von Fällen herausstellen, in denen der zentrale Teil des Gesamtfeldes, der die Konzentration aller charakteristischen Merkmale der betreffenden grammatischen Kategorie repräsentiert, von einer Peripherie umgeben wird, in der grammatische Phänomene mit „defekten", unvollständigen Merkmalskomplexen ihren Platz finden. Bei der Fragestellung nach dem Wort als einer besonderen grammatischen Einheit - im Hinblick beispielsweise auf das Deutsche - bedeutet das oben Ausgeführte, daß man sich zunächst einen Kreis vorstellen muß, der alle Phonemreihen umfaßt, denen unmittelbar separate „fertige" Einzelbegriffe zugeordnet sind (Kreis 1); den ersten Kreis muß dann ein zweiter überlagern, der alle Lautungen umschließt, die durch eine die Silbenreihe beherrschende Betonung (meist auf der ersten Silbe) zu phonetisch-phonologischen Ganzheiten zementiert erscheinen und auf dieser Grundlage heraushebbar sind (Kreis 2); es folgt eine weitere Überlagerung - mit einem Kreis, dessen Gehalt alle Lautungen darstellen, die sich von der semantischen Seite her in Komponenten aufgliedern lassen, wobei eine dieser Komponenten ein individualisiertes Element des „Weltbildes" wiedergibt, eine „dingliche" - im weitesten Sinne des Wortes - Bedeutung hat, während eine andere Komponente oder mehrere andere Komponenten diese Bedeutung durch ihre verallgemeinerte, also grammatische, Bedeutung bzw. ihre verallgemeinerten grammatischen Bedeutungen überlagert bzw. überlagern (Kreis 3). Schließlich kommt die Reihe an einen - ebenfalls zu superponierenden - Kreis, der alle Lautungen umfaßt, die als stabile Komponenten von Redeketten auftreten und dabei verschiedene Verbindungen mit anderen Komponenten gleicher Art eingehen können. Durch die Überlagerung läßt sich ein umfänglicher gemeinsamer Teil aller Kreise erkennen, aber außerhalb seiner Grenzen bleibt eine Reihe von Segmenten, die ebenfalls recht gewichtig sein können. Beispielsweise gehören zum Kreis 1, dem das Kriterium der Bezeichnung stabil „fertiger" Einzelbegriffe zugrunde liegt, u. a. sogenannte Phraseologismen wie blaue Bohnen, blinde Kuh spielen u. dgl., die mit den Kriterien der Kreise 2 und 3 unvereinbar sind, da die unter diese fallenden Phänomene hinsichtlich der Vereinheitlichung unter einer die Lautung beherrschenden Betonung bzw. hinsichtlich des Verhältnisses der Komponenten mit „dinglicher" zu denen mit grammatischer Bedeutung anders strukturiert sind. Nicht zusammenfallen werden respektive der Umfang des Kreises 2 (durch Akzentstruktur zusammengehaltener Einheiten) und des Kreises 1, denn zum Kreis 2 gehören u. a. Lautkörper, die Zusammensetzungen darstellen, deren Komponenten erst im Sprechakt die Verbindung zu phonologisch ganzheitlichen Bildungen eingehen. Aber bei allen diesen Diskrepanzen wird sich ganz bestimmt das Übergewicht der übereinstimmenden Teile einander überlagernder Kreise abzeichnen, die zusammen das Zentrum des Gesamtschemas abgeben. Die zentrale Stellung nehmen also Phänomene ein, die die Gesamtheit der Merkmale besitzen, von denen oben die Rede war. Dies berechtigt zu der Behauptung, daß die Merkmale, die die genannten Kreise symbolisieren, alle zusammen und als Einheit das grammatische Phänomen charakterisieren, das wir als „Wort" bezeichnen.
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Das Ausgeführte reicht allerdings nicht aus, um als erschöpfende Antwort auf die Frage nach dem Wortbegriff gelten zu können. Man muß die Aspekte der Worteinheit auf ihre funktionalen Bestimmungen hin beleuchten. Die Einheit der Aspekte ist das Ergebnis ihrer Wechselwirkung im Zuge der Erfüllung der Aufgaben des Wortes. Ohne auf alle Probleme einzugehen, die mit der Kooperation der Wortaspekte zusammenhängen, will ich nur eine Forderung erörtern, die das Funktionieren des Wortes an alle Seiten seiner Struktur stellt. Die allgemeinen Bedingungen des Sprech-Denk-Vorgangs erfordern die strukturelle Ganzheitlichkeit des Wortes, und dies bedeutet u. a. die Forderung nach seiner Stabilität, seiner inneren Festigkeit und seiner Ausgrenzbarkeit. Es handelt sich um die Notwendigkeit solcher Eigenschaften des Wortes, die der Auflösung des Redestroms in zusammenhangslose Brocken entgegenwirken, die seine innere Kohärenz, den festen Zusammenschluß seiner Bestandteile sichern, wobei gleichzeitig die Möglichkeit seiner Gliederung in deutlich voneinander abhebbare Komponenten und seine Übersichtlichkeit gewahrt werden. Diese Forderung bezeichne ich - konsensbedingt - als die Forderung nach „Portativität". Wie wird die Portativität gewährleistet? Vor allem mit phonetischen Mitteln. Hier wirken die Gesetzmäßigkeiten der Betonung und Intonation (die exspiratorisch dominierende Silbe u. a.), lautliche Zusammenwirkung und wechselseitige Beeinflussung einzelner Laute (Umlaut, Vokalharmonie u. dgl.), besondere Auslautgesetze. Diese Mittel verleihen dem Wort Monolithheit und Abgrenzbarkeit von anderen Wörtern in der Redekette. In gleicher Richtung wirkt sich das besondere Verhältnis zwischen der „dinglichen" und der die „dingliche" Bedeutung überlagernden abstrakt verallgemeinerten, grammatischen Bedeutung bzw. solchen Bedeutungen aus (diese stellen keine unmittelbaren Objekte gedanklicher Tätigkeit dar). Wesentlich ist auch die Fähigkeit der Wortformen, selbständig, mit Hilfe ihrer eigenen Elemente, ihre syntaktischen Rollen, ihre Beziehungen zu anderen Wörtern im Satz zum Ausdruck zu bringen. Der Grad der Portativität des Wortes kann von Sprache zu Sprache differieren. Das kann an unterschiedlichen Bedingungen und unterschiedlichen Arten sprachlicher Kommunikation liegen. Zu berücksichtigen ist, ob die Kommunikation in der gegebenen Sprache nur in mündlicher oder auch in schriftlicher Form erfolgt, wie die relative Gewichtung beider Formen sprachlicher Kommunikation zu bewerten ist, welchen konkreten Charakter die schriftlichen Kommunikations-„Kanäle" haben, usw. 1 Eine wichtige Bedeutung hat auch die Möglichkeit unterschiedlicher Verteilung der Portativitätsgrade zwi-
1
Auf die psychischen Mechanismen, die hier am Werk sind, gehe ich nicht ein. Von Interesse sind rein linguistische Gegebenheiten wie zum Beispiel die Tatsache, daß sich in der Schrift mitunter solche syntaktisch-morphologischen Bildungen als hinreichend portativ erweisen, denen diese Eigenschaft in mündlicher Kommunikation abhanden kommt, was die Übersichtlichkeit (und entsprechend die Verständlichkeit) der mündlichen Redekette beeinträchtigt.
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sehen den Haupteinheiten des syntaktischen Baus diverser Sprachen, nämlich dem Wort, der Wortgruppe und dem Satz. Diese Arten sprachlicher Bildungen können hinsichtlich ihrer Portativität gleichsam einander ergänzen. Für eine Reihe moderner indoeuropäischer Sprachen flexivisch-analytischen Typs ist eine mehr oder weniger weitgehende „Verlegung" der Portativität kommunikativer Einheiten von der Wortgestalt auf die Wortgruppenform typisch. Selbstverständlich behält das Wort bestimmte Merkmale seiner Ganzheitlichkeit und Ausgrenzbarkeit. Wie wir schon bemerkt haben, gehören dazu - beispielsweise im Englischen und im Deutschen - die dynamische Betonung und einige besondere phonetische Regularitäten des Wortauslauts. Doch sind auch in diesen Sprachen massenhaft Wörter vorhanden, denen solche Merkmale fehlen (einsilbige Wörter, Wörter mit Endlauten, die auch im Inlaut vorkommen, so daß die entsprechende Opposition entfällt), auch Wörter, die - hier meine ich die Nomina - von den ersten (attributiven) Komponenten der Zusammensetzungen bzw. von den Stämmen affixaler Ableitungen ununterscheidbar sind. Außerdem kann eine Menge von Wortformen in diesen Sprachen ihre syntaktischen Rollen im Satz nicht autonom ausdrücken, da sie entweder keine oder grammatisch nicht „ausdrucksfähige", in diesem Sinne also „neutrale" Flexionsendungen haben. Solche Formen erweisen sich als portativ in der Hinsicht, daß sie in syntagmatischen Reihen als Wörter heraushebbar sind, aber sie sind in einer anderen Hinsicht nicht portativ, in der Hinsicht nämlich, daß sie bei eventueller Umstellung in einer syntagmatischen Reihe mit ihrer eigenen Form die gleiche, unveränderte syntaktische Funktion nicht anzeigen können (und oft in der Tat eine andere Funktion annehmen). All das schränkt die Portativität des Wortes beträchtlich ein. Die Unzulänglichkeit der Portativität des Wortes wird in den betreffenden Sprachen gemeinhin durch erhöhtes Niveau der Portativität der Wortgruppe kompensiert, in formaler Hinsicht auf unterschiedliche Weise und in verschiedenem Grade. Besonders deutlich ausgeprägt ist die Portativität der Wortgruppe im Deutschen. In der Substantivgruppe werden straffer Zusammenschluß und Abhebbarkeit der Gruppe von ihrer Umgebung durch eine Rahmenkonstruktion erzielt, die aus dem Substantiv selbst und seinem Artikel (bzw. „Artikelwort") besteht und alle kongruierenden Glieder der Gruppe umfaßt, sowie durch den unmittelbaren postpositiven Anschluß nichtkongruierender Gruppenglieder an das Kernsubstantiv. Die „Beweglichkeit" der Substantivgruppe im Satzganzen wird durch die Monoflexion bzw. durch die Kooperation aller ausdrucksfähigen Flexionsendungen miteinander kongruierender Gruppenglieder ermöglicht. Was die verbale Gruppe anbetrifft, so beruhen ihr ganzheitlicher Zusammenschluß und die Deutlichkeit ihrer Grenzen auf spezifischer Distanzstellung bestimmter Elemente dieser Gruppe. Wichtig ist auch, daß die Portativität der verbalen Gruppe weitgehend mit der Portativität des Satzes zusammenfällt, sich in diese umsetzt und so die Ganzheitlichkeit und Ausgrenzung des Satzes im ganzen gewährleistet. Freilich büßt die verbal-prädikative Gruppe somit jede Umstellungsmöglichkeit im Satz ein (umstellbar sind nur die untergeordneten Glieder der Verbgruppe), aber angesichts der Basisrolle
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der verbal-prädikativen Gruppe in der Satzstruktur wäre es kaum richtig, dies in bezug auf die Portativität dieser Gruppe als Mangel zu deuten. Auf der anderen Seite hat das Wort im Deutschen eine Struktur, die es in bestimmten Fällen erlaubt, das Wort in Analogie zur Wortgruppe für die Portativität des Satzes zu verwerten. Der Satzrahmen kann u. a. durch Spaltung des Verbs in seine Bestandteile gebildet werden, ohne daß die lexikalische Einheitlichkeit des Verbs dadurch beeinträchtigt wird, vgl. Er nimmt heute die Bücher mit. Ich sehe darum keinen Grund, distanzierte Verbindungen des Verbs mit trennbarem Präfix für Wortfügungen zu erklären. Im Zusammenhang mit der erwähnten Besonderheit des Deutschen ist es offensichtlich, daß der Begriff der Portativität in seiner Beziehung zum Wort mit solchen Begriffen wie morphologische Ganzheitlichkeit, Kompaktheit u. dgl. referenziell nicht unbedingt zusammenfällt. Indessen sind Wortgruppen im Englischen ebenfalls geschlossen und heraushebbar, aber ihre beschränkte Umstellbarkeit - vor allem im Rahmen verbaler Gruppen - hängt damit zusammen, daß feste Stellungen, die sie einnehmen, im Regelfall ihre syntaktischen Funktionen kennzeichnen. Mangelnde Portativität der Wortfügung wird hier also durch die Struktur des Satzganzen ausgeglichen. Bezeichnenderweise lassen sich die verschiedenen Bedeutungen der universellen Flexionsendung -s (bzw. -'s) im Englischen vielfach nur aus der einen oder anderen Kombination der Wortformen, die diese Endung haben, mit anderen Wortformen in syntagmatisehen Wortketten erkennen.2 Man muß daneben auch betonen, daß es nicht unbedingt merkliche qualitativ-quantitative Unterschiede zwischen der Portativität des Wortes, der Wortgruppe und des Satzes geben muß. Es sind Sprachen bzw. bestimmte Entwicklungsstufen der einen oder anderen Sprache möglich, für die eine mehr oder weniger gleichmäßige Portativitätsgewichtung aller drei sprachlichen Grundeinheiten charakteristisch ist. Man kann beispielsweise einen solchen Zustand für das Indoeuropäische unmittelbar vor dessen Aufspaltung in eigenständige Sprachgruppen und Sprachen annehmen.3 Die Portativität der Wortgestalt bedeutet durchaus nicht, daß der Lautkörper des Wortes nicht deformiert werden kann. Im Gegenteil, gerade auf der Basis portativer Formen können sozusagen „beschädigte" Wortgestalten, mannigfaltige Abbreviaturen entstehen und - teilweise in spezifischen Kontexten bzw. Situationen - gebraucht werden. Wie auf der Grundlage stabiler portativer (logisch-grammatischer) Satztypen die Möglichkeit elliptischer Satzformen gegeben ist, so sind eben auch „elliptische Wörter" möglich, die sich aber ihrerseits auf voll ausgeformte Wortgestalten stützen. Es trifft schon zu, daß mitunter ein „halbes Wort" zur Verständigung genügen kann. Ich möchte noch eine Frage berühren, die hier heftig diskutiert wurde. Ich teile die Meinung von Zirmunskij, daß nicht alle Wortformen, die sich zu einem Paradigma vereinigen, als gleichrangig anzusehen, daß in solchen Para2
Α λ μ ο η η , Β.Γ.: 3aeepujeHHOCTb KOHCTpyKUHH Kaie >iBjieHne CHHTaiccHHecKoti In: Bonpocu «jbiKOHaHHS. 1958, Xe 1 [s in diesem Band S. 175ff.]. Α λ μ ο η η , Β.Γ.: Pa3BHTne crpyicrypbi npocToro npe,mi05KeHHH β HH^oeBponeiickhx »3biKax. In: Bonpocu η3μκο3ηHJio.nornHecKne Haykh. 1961, >fe 3. S a u s s u r e , F. de: Op. cit. S. 19, 136-137, 143-144. Ibid. S. 147.
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Man kann nicht sagen, daß diese Thesen Saussures nicht kritisiert worden seien. Die Kritik richtete sich aber vorwiegend gegen die Behauptung, daß die Gegenüberstellungen sprachlicher Zeichen allein, an sich, unabhängig von der Bezugnahme auf objektive Inhalte, eine entscheidende Rolle für die Bestimmung ihrer „Werte" („valeurs") spielen. Man protestierte gegen die These, daß es in der Sprache ausschließlich auf die Unterschiede ankommt. Man bestand darauf, daß die Sprachelemente nicht nur auf die eine oder andere Weise miteinander korrelieren, sondern sich auch auf Elemente der außersprachlichen Wirklichkeit beziehen, indem sie diese bezeichnen. Es wurde auch auf zahlreiche Erscheinungsformen von Synonymie und Homonymie hingewiesen, auf Phänomene also, die ins Bild durchgängiger Gegenüberstellungen nicht passen. Es wurde auch die These von der grundsätzlichen Asymmetrie zwischen der Ausdrucks- und der Inhaltsebene des Sprachsystems aufgestellt. Doch im Grunde genommen ließ das alles die Auffassung des Sprachsystems als Systems von Beziehungen unangetastet, es änderte sich nur die Deutung des sprachlichen Beziehungs-Begriffs. Bei dieser Auffassung blieb es auch trotz der von Saussure eingeführten theoretischen Unterscheidung zweier Seiten des Sprachsystems, der paradigmatischen und der syntagmatischen. Die moderne Linguistik hat sich die genannte Unterscheidung genauso zu eigen gemacht, in ihrer konkreten Verwertung bereichert diese aber die verschiedenen Schulen des Strukturalismus lediglich um einen Zusatz, der darin besteht, daß zu einem „vertikalen" Beziehungssystrem, dem paradigmatischen, ein „horizontales" Beziehungssystem, das syntagmatische, hinzukommt. Damit stimmt die für die meisten Richtungen der modernen Linguistik charakteristische Vorstellung vom rein linearen Aufbau syntagmatischer Reihen überein. Und selbst dann, wenn man in konkreter Untersuchung des Sprachstoffs, etwa bei der Hinwendung zu prosodischen grammatischen Ausdrucksmitteln, die die phonomorphologischen Redeketten überlagern, den Rahmen einer solchen linearen Konzeption notgedrungen durchbricht, werden im Strukturalismus die die Sprachelemente zu kommunikativen Einheiten zusammenschließenden Faktoren als Komplexe von Beziehungen zwischen den Komponenten der Redekette gedeutet. Das Wesen der Sprachstruktur, die in der Sprachform verkörpert ist, erschöpft sich also im Strukturalismus in einer Masse von Beziehungen. Das Wesen dieser Beziehungen erschöpft sich in den Begriffen der Identität und der Differenz. Dies hat schwerwiegende Konsequenzen. Denn an sich können j a die Beziehungen äußerst mannigfaltig sein. Aber die durch das Prisma der Postulate der Saussureschen Sprachtheorie betrachteten Beziehungen müssen sich im Regelfall entweder als Beziehung der Identität oder als Beziehung der Differenz herausstellen (diese Art Beziehungen ist übrigens logischer Provenienz). Nur in Einzelfällen werden Beziehungen anderer Art ins Blickfeld der neueren strukturalistischen Linguistik hereingebracht; so unterscheidet man beispielsweise „unfreie" Beziehungen zwischen Morphemen im Wort und „freie" Beziehungen in syntaktischen Konstruktionen. In Wirklichkeit kann der Sprachbau in seiner vollständigen Breite und Tiefe nicht als nur ein System von Identitäten und Differenzen bestimmt werden. Die Sprache benötigt noch ein anderes Teilsystem, und dies ist das System
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von Mitteln und Verfahren, die dem Aufbau sprachlicher Einheiten, der Silbe und des Wortes, aber auch der Wortgruppe und des Satzes, dienen, d. h. dem Aufbau und Ausbau von Komponenten sprachlicher Äußerungen, dem Zusammenschluß ihrer Elemente zu kommunikativen Einheiten. Es handelt sich demnach nicht nur um die Unterscheidung „freier" und „unfreier" Morphemverbindungen (mithin von syntaktischen Konstruktionen und Wörtern) und nicht nur um unterschiedliche Wortstrukturen, sondern auch um unterschiedliche Ausprägungen syntaktischer Strukturen, d. h. - um einige Beispiele zu nennen - der offenen und geschlossenen, „autonom-zusammengefaßten" und „gespannten" Satzstruktur usw. Unter Verwendung einer Reihe grammatischer Mittel, und zwar vor allem der rhythmisch-intonatorischen und der Wortstellung, aber auch durch Realisierung diverser Typen von Fügungspotenzen lexikalischer Satzelemente u. dgl. ausgestaltet, weisen die Satzstrukturen, die wir in verschiedenen Sprachen auf den verschiedenen Entwicklungsstufen dieser Sprachen vorfinden, bedeutende Unterschiede auf, und oft bestimmen gerade die Spielarten der Satzstruktur den spezifischen Charakter der Gesamtstruktur einer Sprache. In die Herausbildung der Satzstrukturen wirken viele Faktoren hinein. Als außerordentlich wichtig erweist sich in dieser Hinsicht der Charakter des paradigmatischen Systems. Auf den Bau sprachlicher Einheiten einer höheren Ebene wirken sich die Besonderheiten des Baus sprachlicher Einheiten der darunterliegenden Ebene aus. Und umgekehrt: Sprachliche Einheiten höheren Rangs können Einheiten niedrigeren Rangs in deren Entwicklung bzw. Ausgestaltung beeinflussen. Es sind aber bei der Gestaltung der Satzstrukturen auch ganz andere Faktoren am Werk. Wenden wir uns nun bestimmten Strukturveränderungen zu, die sich im Bereich syntaktischer Konstruktionen abspielen. Im Zuge der Entwicklung der indoeuropäischen Sprachen vollzieht sich ein tiefgreifender Umbau des Satzes in Richtung auf größere „Festigkeit", größere Kompaktheit, stärkere Geschlossenheit seiner Struktur. Die Erscheinungsformen dieses Wandels werden von den meisten Forschern mehr oder weniger übereinstimmend bestimmt und bewertet. Verbreitet ist - in unterschiedlichen Varianten - die Meinung, nach der der ursprüngliche indoeuropäische Satzbau einen lockeren Charakter hatte, 4 das Wort im Satz hochgradig autonom, „frei" war, es fehlten Rektion und Kongruenz, es dominierte das parataktische Prinzip der Zusammenfugung der Satzelemente. 5 Das Verb allein reichte hin, um die Wörter im Satz zu vereinigen. Manchmal spricht man dem ältesten indoeuropäischen Satz die Eigenschaften der „Ganzheit! ichkeit, Zentralisierung und hierarchischer Ordnung" sogar völlig ab. 6
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Π ο τ β δ Η » , A . A . : H3 3anHCOK no pyccKoß rpaMMaTHKe. I-II. MocKea 1958. S. 190-191, 199, 5 1 6 - 5 1 7 ; d e r s . : H3 3anwcoK no pyccKofi rpaMMaTHKe. III. XapbKOB 1899. S. 1 3 1 , 2 1 3 , 3 2 1 , 3 5 4 . M e i l l e t , Α.: Einführung in die vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen. Leipzig u. Berlin 1909. S. 218ff. [s. Fußn. 3 auf S. 39]. Κ η a 6 e , r.C.: Eme pa3 ο aeyx nyxflx pa3BHTH5i οιο>κηογο iipc/uioxcchhh. In: Bonpocbi H3biK03HaHHii. 1955, X» 5. S. 109-113.
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In den heutigen indoeuropäischen Sprachen - bei allen individuellen bzw. von Sprachgruppen geteilten Besonderheiten ihres Baus - sind die Bindungen der Wörter aneinander fester, die Satzstrukturen kompakter geworden. Wie der Verfasser an anderer Stelle zu zeigen unternahm, bestand der Wandel der indoeuropäischen Satzstruktur im Übergang von der „ruhigen", „nichtgespannten" Satzeinheit zu zwei anderen (im Regelfall teilweise einander durchdringenden) Satzbautypen, nämlich zum „autonom-zusammengefaßten", in dem die Wörter weitgehend eigene Markierungen ihrer syntaktischen Funktionen aufweisen, und zum „gespannt-zusammengefaßten" Satz. 7 Diese beiden Strukturtypen dienen, jeder auf seine Weise, dazu, den größer und komplexer werdenden Satz als geschlossene Einheit auszuformen. Im „autonom-zusammengefaßten" Satztyp spielt die Rahmenkonstruktion eine wesentliche Rolle. Der Rahmen umfaßt zunächst einzelne Satzteile, deren Komponenten, j e d e für sich, durch ihre Formen deutlich genug ihre syntaktischen Funktionen anzeigen. Im „gespannt-zusammengefaßten" Satztyp verstärkt sich die Abhängigkeit des Wortes von der Wortgruppe und vom Satz als Ganzem, der Zusammenschluß der Elemente der Redekette zum Satz erfolgt nicht mehr auf der Basis eines Einzelwortes (des Verbs) als Satzkerns, sondern auf einem komlizierteren Wege, in vielen Sprachen beispielsweise auf der Grundlage der Subjekt-Prädikat-Verbindung, im Deutschen vereinheitlicht den Satz vor allem der verbal-prädikative Rahmen. Keiner der Grundsatztypen ist in der Geschichte der indoeuropäischen Sprachen jemals in seiner völlig reinen Form vertreten. Zum Beispiel ist das Wort in Sprachen, für die die „autonom-zusammengefaßte" Satzeinheit charakteristisch ist (im Latein, im Sanskrit, im Altgriechischen, in einigen anderen Sprachen), nicht absolut autonom. So bekundet sich im Altgriechischen, das Meillet und Vendryes als eine der syntaktisch „freiesten" alten indoeuropäischen Sprachen bezeichnen, 8 die Abhängigkeit des Wortes von der Wortgruppe in der Entwicklung des Artikels. Und umgekehrt sind in Sprachen, die am ausgeprägtesten den „gespannt-zusammengefaßten" Satztyp aufweisen (zum Beispiel im Englischen und im Französischen), einige Erscheinungsformen der Einklammerung sowie Wort- und Wortgruppenformen zu beobachten, die autonom die syntaktischen Funktionen der betreffenden Satzkomponenten anzeigen und ihnen zur Stellungsfreiheit verhelfen. Die Merkmalskomplexe des „autonom-zusammengefaßten" und des „gespannt-zusammengefaßten" Satzbautyps überschneiden sich - in unterschiedlicher Weise - im Russischen und im Deutschen. Veränderungen der Struktur syntaktischer Einheiten, des Satzes und der Wortgruppe, sind eng verbunden mit Veränderungen der Wortstruktur. Im-
7
Α Λ Μ Ο Η Η , Β.Γ.: Pa3BHTHe CTpyicrypbi n p o c r o r o NPEÄJIOÄEHH» Β HH/iocBponeHCKHX s3biKax. In: Bonpocbi »3biKp3HaHH«, 1960, Λ» 1 [s. in diesem B a n d S. 219iT.]; d e r s . : O r p y i c r y p a HCMEUKORO npeaJiojKeHHji H OCHOEHWE TCH^CHUHM Β pa3BHTMn n p e A H O H c e H H H Β M H / i o e e p o n e H C K H x H3biKax. In: Bonpocbi Teopnn MeuKoro »3biKa. B d . I. MpKyrcK - JleHHHrpan 1960, S. 5 - 3 3 . CTpyKTypu
8
He-
M e i l l e t , Α., V e n d r y e s , J.: Traite de grammaire comparee des langues classiques. 2* me ed. Paris 1948. S. 572-573.
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Gestaltungssystems
merhin besteht hier keine einseitige Abhängigkeit der syntaktischen Strukturen von der Wortstruktur, zum Beispiel von der Analytisierung der Wortformen, sondern es handelt sich um die Wechselwirkung der Entwicklungsprozesse in den beiden Bereichen. Zu beachten ist auch, daß die grammatisch relevanten Eigenschaften des Wortes nicht nur durch Gegenüberstellungen der Wortformen im Rahmen von Paradigmen, zu denen sie gehören, und im Rahmen syntagmatischer Ketten bestimmt werden, sondern auch durch unterschiedliche Grade innerer Festigkeit, der Festigkeit des Zusammenschlusses von Elementen, aus denen das Wort aufgebaut ist, insbesondere bei größerer Ausdehnung des Wortes. So waren alle indoeuropäischen Sprachen (nach der Auflösung der indoeuropäischen Gemeinsprache) auf diversen Stufen ihrer Entwicklung und in verschiedenem Maße der Tendenz zur Stärkung des Zusammenschlusses der Wortteile unterworfen, die ihren Ausdruck vor allem im Übergang vom melodischen zum expiratorischen (dynamischen) Wortakzent fand. Was die Syntax anbetrifft, so verfugt dieser Bereich über eine Reihe von (heterogenen) Mitteln, die der Organisation des Satzes als struktureller Einheit dienen. R h y t h m i s c h - i n t o n a t o r i s c h e M i t t e l . Sie spielen die Hauptrolle bei der Ausgestaltung ganzheitlicher syntaktischer Gebilde und bei der Vermittlung der Gliederung syntaktischer Einheiten. Einige von diesen Mitteln sind nicht eindeutig. Zum Beispiel erfüllt die Pausensetzung unterschiedliche Funktionen bei der Entfaltung des Satzganzen (kontrastierende Trennung, anreihend-weiterführende Trennung, Atempause ohne semantische Funktion). Graphisch werden Rhythmus, Melodik, Akzentverteilung nicht nur durch Interpunktionszeichen markiert, sondern auch mit Hilfe von Majuskeln und durch andere Hilfsmittel (Kursivschrift, Sperrdruck u. dgl.). Obligatorische Fügungspotenzen von Wortklassen u n d K l a s s e n v o n W o r t f o r m e n . 9 Ein in den Satz oder in die Wortgruppe eingeführtes Wort (gegebenenfalls in der einen oder anderen seiner Formen) kann mitunter für die Abgeschlossenheit der syntaktischen Konstruktion nicht ausreichen, ohne daß ein anderes Wort in einer bestimmten Form bzw. einige andere Wortformen an das betreffende Wort angeknüpft werden. Besonders schwerwiegend ist eine solche strukturelle Unzulänglichkeit, wenn sie die Hauptglieder des Satzes aufweisen, vor allem das Prädikat. Die dabei notwendigerweise aufkommende Forderung nach weiteren Satzkomponenten (zum Beispiel nach einem Prädikativ, nach einem Objekt bzw. nach Objekten, nach einem Glied des „erweiterten Prädikats" 10 ) stellt eines der wichtigsten Mittel der Zementierung des Satzes dar. Allerdings können in bestimmten Fällen Kontext und/oder Situation den Satz von einem Wort, das einer solchen Forderung entspricht, „entlasten", weil ein in den Satz bereits eingeführtes bzw. einzuführendes anderes Wort, eine andere Wortform eine
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ΑΛΜΟΗΗ,
Β.Γ.:
3aBepmeHHOCTb
φορΜΜ. In: Bonpocbi 10
»3biK03HaHH«.
KOHCTpyKUHH
KaK siBJieHHe
CHHTaKCHHecKofi
1958, X» 1 [s. in diesem Band S. 175ff.].
Α Α Μ ο Η Η , Β . Γ . : B e e ^ e m i e Β CHHTEKCMC c o e p e M e H H o r o H e M e m c o r o s n b i K a .
KBa 1955. S. 55.
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„Projektion" enthält, die die betreffende Satzkomponente in ihrer genauen Form (und in der vom Kontext bzw. der Situation induzierten Bedeutung) unmißverständlich impliziert und eben darum auszulassen erlaubt. Verschiedene Sprachen verhalten sich in dieser Hinsicht ungleich. Es gibt Sprachen, in denen die Forderung besteht, daß bestimmte Satzkomponenten, die obligatorischen Fügungspotenzen entsprechen, unbedingt durch reale Wortkörper selbst dann vertreten sein sollen, wenn diese Satzkomponenten in den Satz aus den benachbarten Teilen des Monologs oder Dialogs mit vollkommener semantischer Deutlichkeit projiziert werden. Um das Satzschema abzurunden, verwendet man u. U. einige Wortformen, die eben darauf spezialisiert sind. Im Deutschen ist es das pronominale es, das diese Aufgabe weitgehend erfüllt. Deutlich umrissenen Satzschemen, in denen j e d e Position eine morphologische „Füllung" erfordert, liegen überhaupt obligatorische Fügungspotenzen zugrunde. Es gibt verschiedene Arten obligatorischer Fügungspotenz. Folgendes Unterscheidungskriterium ist von großer Bedeutung: Eine obligatorische Fügungspotenz kann ständiges Merkmal einer Wortklasse bzw. einer Klasse von Wortformen sein; zum Beispiel verbindet sich das Adjektiv obligatorisch, wenngleich in alternativer Weise, als Attribut, als Prädikativ, als prädikatives Attribut, immer mit dem Substantiv. Es finden sich aber auch obligatorische Fügungspotenzen, die Klassen von Wörtern oder Wortformen nur dann zukommen, wenn die betreffenden Wörter oder Wortformen in bestimmten syntaktischen Positionen auftreten. So verknüpft sich der Nominativ obligatorisch mit dem finiten Verb, wenn er in den Satz als Satzsubjekt eingeführt wird (was übrigens die wichtigste syntaktische Funktion des Nominativs ist). W o r t s t e l l u n g . Sie funktioniert immer in Zusammenwirkung mit anderen satzorganisierenden Mitteln. An sich kann die Abfolge von Wörtern deren Zusammenschluß zu einer fest zusammengefügten Einheit nicht gewährleisten. Einerseits muß sie von einer rhythmisch-intonatorischen Spielart der Stimmführung überlagert werden. Andererseits wirkt sich die Rahmenkonstruktion in Satz und Wortgruppe strukturell-organisatorisch nur dank obligatorischer Fügungspotenzen aus; den Klammerstrukturen liegt j a die Distanzstellung von Satzelementen zugrunde, deren enge Zusammengehörigkeit auf obligatorschen Fügungspotenzen beruht. So werden zum Beispiel unter bestimmten Umständen das Satzsubjekt und das finite Verb positionell voneinander getrennt. Durch Rhythmus und Intonation, durch obligatorische Fügungspotenzen unterstützt, wird die Wortstellung zu einem effektiven Mittel der Vereinheitlichung und Zementierung des Satzes und der Wortgruppe. Die genannten drei Mittel beteiligen sich an der strukturellen Organisation des Satzes in der Regel gemeinsam, freilich in ungleichem Maße, indem sie einander bei der Erfüllung derselben Aufgabe ergänzen. Eines davon oder zwei bzw. bestimmte Erscheinungsformen des einen oder anderen von diesen Mitteln können immerhin in verschiedenen Sprachen die Hauptrolle spielen. So war die Rahmen struktur - unterschiedlich ausgeformt - für einige alte indoeuropäische Sprachen typisch, die zur Stellung des Verbs am Satzende neigten; sie charakterisiert auch die deutsche Sprache, seitdem in ihr das verbale Prädikat des untergeordneten Satzes regelmäßig an das Satzende gestellt
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wird und Teile des Prädikatskomplexes des selbständigen Satzes, voneinander getrennt, einen Rahmen bilden." Diese Struktur findet sich mitunter auch im russischen Satz. Die normalerweise schwach betonten bzw. unbetonten pronominalen Satzkomponenten kommen nicht selten zwischen den Subjektsnominativ und das verbale Prädikat zu stehen. Zum Beispiel lassen sich im russischen Satz Bbt MHC 3mozo eufe He eoeopwiu12 außer der Stimmführung, die allein die Wortkette als Satz markiert, die Auswirkungen noch einer Reihe struktureller Momente feststellen, die zum Aufbau der Satzeinheit beitragen. Das Pronomen e « ist in den Satz als Subjekt eingeführt und bekundet diese seine Funktion aufgrund der allgemeinen Tendenz zum Gebrauch des Nominativs als Satzsubjekt, durch seine Spitzenstellung und die entsprechende Stellung im rhythmisch-intonatorischen Satzschema. 1 3 Es entsteht sofort das Streben des Subjektsnominativs nach Verbindung mit dem Prädikat - kraft der obligatorischen Fügungspotenz des als Satzsubjekt verwendeten Nominativs. Die vier nachfolgenden Satzkomponenten weisen sich durch ihre morphologischen Eigenschaften als Nicht-Prädikate aus, die Vereinigung des Subjekts mit dem Prädikat wird bis zum Wort hinausgezögert, das den Satz abschließt, und so kommt es zu einer Spannung, die den Satz zusätzlich als eine deutlich ausgrenzbare Ganzheit charakterisiert. Die nach dem Satzsubjekt stehende Dativform MHe strebt als Form mit der verallgemeinerten Bedeutung des Adressaten der Handlung ebenfalls zum Prädikat hin, von dem sie durch drei andere Wörter getrennt ist, was einen weiteren Spannungsstrang schafft, der parallel zur oben erläuterten Spannung zwischen Satzsubjekt und Prädikat verläuft und von dieser gleichsam mitgetragen wird. Eine ähnliche Bewandtnis hat es mit der Beziehung zwischen dem direkten Objekt 3mozo und dem verbalen Prädikat am Ende des Satzes. Auf das Prädikat ist mit seiner obligatorischen Fügungspotenz auch das Adverb eine ausgerichtet, das Gleiche trifft für die Negation ne zu. Eine solche „gespannte" Struktur ist nur einem Teil der Sätze des Russischen eigen; vorwiegend sind das Sätze, die pronominale Satzglieder beinhalten. In dieser Hinsicht nähert sich das Russische gewissermaßen dem Französischen, in dem ein krasser struktureller Unterschied besteht zwischen Sätzen mit nominalen und Sätzen mit pronominalen Komponenten: Die pronominalen Satzglieder stehen meist zwischen dem Subjekt und dem verbalen Prädikat, eine solche Einklammerung ist aber bei nominal vertretenen analogen Satzelementen nicht möglich. Allerdings beherrscht die Tendenz zu sehr flexibler Wortstellung die russische Sprache. Weder die Klammerform noch ihr Nichtvorhandensein sind im Russischen zu allgemeinen Regularitäten der Satzgestaltung zu rechnen, die Satzstruktur ist hochgradig variativ und die
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Ibid. S. 377ff.; B o o s t , Κ.: Neue Untersuchungen zum Wesen und zur Struktur des deutschen Satzes. Berlin 1955. Wortwörtlich: 'Sie mir dieses (Gen.) noch nicht sagten'. - Hgg. V g l . Α α Μ Ο Η Η , Β.Γ.: IlapTHTypHoe CTpoewie peHeeoii uenH H CHCTeMa rpaMMaTHHeCKHX 3HaHeHMH Β npeÄJlOHCeHHH. S. 8.
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Wortstellung hängt jeweils von der Erkenntniseinstellung des Sprechenden, vom Gefühlswert der Aussage usw. ab. 14 Aus der Verwendung der Mittel der Gestaltung von Satzstrukturen geht selbstverständlich nicht hervor, daß die betreffenden Formen speziell dazu erschaffen oder auch im gegebenen Einzelfall angewandt wurden, um die strukturelle Geschlossenheit des Satzes bzw. der Wortgruppe zu gewährleisten. Beispielsweise kann die Klammerform in der einen oder anderen Sprache zunächst durch ein bestimmtes rhythmisch-intonatorisches Satzschema ins Leben gerufen worden sein, ein Satzschema, das das stark betonte Verb an das Satzende abdrängte. 15 Die obligatorische Fügungspotenz kann die Folge solcher Entwicklungsvorgänge im Bereich semantisch-grammatischer Beziehungen zwischen Klassen von Wörtern und Wortformen als Satzkomponenten gewesen sein wie des Aufkommens sekundärer, die Hauptglieder erweiternder Satzglieder, der Umwandlung bestimmter vollwertiger Komponenten des Satzes in Elemente mit Hilfsfunktion, in Dienstwörter, u. dgl. Der Sprachträger stellt sich nicht bewußt die Aufgabe, die Satzaussage mit Hilfe bestimmter Mittel ganzheitlicher und gespannter zu gestalten, doch tut er es objektiv, indem er die Mittel, von denen hier die Rede ist, anwendet. Und dies wirkt sich eben in objektiver Weise auf das Funktionieren sprachlicher Einheiten, auf das gesamte Satzbausystem der Sprache aus. Allerdings kann das kommunikativ bedingte Bedürfnis nach deutlicher ausgeprägter struktureller Einheitlichkeit des Satzes im Verlauf der Sprachentwicklung auch mehr oder weniger unmittelbar zur Herausbildung bestimmter Formen und Gesetzmäßigkeiten beigetragen haben. Rhythmus und Intonation einerseits und Wortstellung andererseits bedingen sich wechselseitig sowohl genetisch wie auch funktional. Die gängigen rhythmisch-intonatorischen Stimmfiihrungsmuster sind, wie stabil, „standardisiert" sie auch erscheinen, letzten Endes das Ergebnis nicht nur des Wandels uralter rhythmisch-intonatorischer Schemen menschlicher Äußerungen aus der Zeit, als die Rede noch nicht in mehrwortige Satzeinheiten gegliedert war, sondern sie spiegeln in sich auch die Gesetzmäßigkeiten späterer Entwicklung der Wortstellung in den indoeuropäischen Einzelsprachen wider, der Wortstellung, auf die sich mannigfaltige Faktoren, darunter nicht zuletzt semantische Beziehungen der Satzkomponenten, auswirkten. 16
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Erstmalig hat Admoni seine Lehre von Dimensionen („Aspekten") des Satzes bzw. der Satzanalyse im Aufsatz „Crpyicrypa npciuroKeiiH»" (1935) dargelegt, der (in Auszügen) in deutscher Sprache veröffentlicht ist, s.: A d m o n i , W.: Die Struktur des Satzes. In: Das Ringen um eine neue deutsche Grammatik. Darmstadt 1962. HggFür das Gemeinindoeuropäische hat Wackernagel die Hypothese aufgestellt, nach der für das Verb die Endstellung typisch war, wenn es unter Betonung stand, was seiner Meinung nach im untergeordneten Satz der Fall war; s.: W a c k e r n a g e I, J.: Über ein Gesetz der indogermanischen Wortstellung. In: Indogermanische Forschungen. Bd. 1, 1892.
Ajjmohh, Β.Γ.: Κ npoöjieivie noptura cjiob. In: H3Becnm AKaaeMMH HayK CCCP. OraejieHHe jiHTeparypu η snbiKa. Bd. VIII, 1949. S. 378.
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Im vorliegenden Artikel können wir nur die Arten dieser Faktoren auflisten. Eine wichtige Rolle spielt der Charakter des paradigmatischen Systems und der Wortstruktur, letztendlich auch der Charakter der Silbenprägung. Es liegt auf der Hand, daß die fehlende paradigmatische Unterscheidung bestimmter morphologischer Formen, zum Beispiel der finiten und der nominalen Formen des Verbs, die Herausbildung der den Satz strukturell vereinheitlichenden Rahmenkonstruktionen behindert. Ebenso offensichtlich ist, daß die Wortstruktur für die Satz- bzw. die Wortgruppenstruktur nicht gleichgültig sein kann, diese hängen in großem Maße davon ab, ob das Wort ein Gebilde darstellt, dessen Bestandteile sich zu einem fest zusammengefügten Ganzen konsolidieren, oder aber leicht zerlegbar ist in einzelne Morpheme, die sich mitunter sogar voneinander absondern; wichtig ist auch die Frage nach dem Verhältnis beider Arten der Wortstruktur zueinander in der gegebenen Sprache. Dabei ist zu bedenken, daß beispielsweise die „gespannte" Wortstruktur die Satz- und Wortgruppenstruktur auf zweierlei Weise beeinflussen kann. Einerseits besteht die Möglichkeit, daß sich die Satz- bzw. Wortgruppenstruktur gleichsam unter dem Systemdruck von Seiten der Wortstruktur dieser angleicht und „gespannter" wird, denn die Tendenz zu strukturellem Ausgleich unterschiedlicher Typen sprachlicher Einheiten ist in der einen oder anderen Sprache nicht selten zu beobachten. Andererseits aber kann die „gespannte" Wortstruktur, insbesondere wenn das Wort mit einem morphologischen Element versehen ist, das seine syntaktische Funktion anzeigt, auch mit einer mäßig gespannten Satz- und Wortgruppenstruktur einhergehen, was zum Beispiel die Entwicklung der russischen Sprache charakterisiert. All das sind Probleme, die eingehendster Erörterung bedürfen. Doch werden uns in diesem Artikel andere universelle und tiefgreifende Faktoren beschäftigen, die sich auf den Satzbau auf diversen Entwicklungsstufen der Sprachen in Abhängigkeit von deren strukturellen Besonderheiten in unterschiedlicher Weise auswirken. Gemeint sind die immer vorhandenen, wenngleich historisch variierenden, Forderungen an den Aufbau des Satzes, die mit aktuellen Bedingungen der sprachlichen Kommunikation zusammenhängen. Grundlegend sind zwei Bedürfiiisse, nämlich das nach der „Portativität", d. h. nach der Geschlossenheit des Satzes, nach seiner „Unauflösbarkeit" (bei gesicherter Übersichtlichkeit), und das Bedürfnis nach optimalem Fassungsvermögen des Satzes, d. h. nach seiner Geeignetheit dazu, einen Inhalt aufzunehmen, der - j e nach historischen sozial-kulturellen Verhältnissen - für den Satz als angemessen erachtet wird. Die Forderung nach Portativität bedeutet vor allem, daß die Komponenten des Redeflusses in Einklang mit den die konkrete Einzelsprache beherrschenden Gesetzmäßigkeiten und in Übereinstimmung mit der jeweiligen kommunikativen Aufgabe der Äußerung als zusammengehörende, aufeinanderbezogene wahrgenommen werden sollen, daß, grob gesagt, kein Mißverständnis entsteht in bezug auf die Zugehörigkeit von Elementen einer niedrigeren strukturellen Sprachebene zu bestimmten Einheiten der nächsthöheren Ebene, der Phoneme zu Morphemen, der Morpheme zu Wörtern, der Wörter zu Wortgruppen und - zusammen mit Wortgruppen - zu Elementarsätzen, der Elementarsätze zu komplexen Sätzen. Im Grunde genommen galten unsere
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Überlegungen eben der Portativität, als wir von der deutlich ausgeprägten strukturellen Geschlossenheit des Satzes sprachen. Natürlich werden die Mittel, denen Wortgruppe und Satz ihre Portativität verdanken, unter dem Einfluß verschiedener Faktoren mit unterschiedlicher Intensität verwendet. Gerade im syntaktischen Bereich lassen sich in dieser Hinsicht die Eigenart bestimmter Funktionalstile und deren relative Gewichtung erkennen. Zum Beispiel kann die Entstehung und Verbreitung der Schriftlichkeit, mannigfaltiger Stile und Textgattungen die Anforderungen, die in einer bestimmten Sprache auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung die Erscheinungsformen der Portativität betreffen, irgendwie modifizieren. Im Regelfall wirken sich die in dieser Entwicklung wurzelnden Faktoren auf die Portativität nicht unmittelbar aus. Ihre Einwirkung auf den Charakter der Portativität wird durch das Bedürfnis bzw. die Forderung nach reichhaltigerer Sättigung des Satzes mit lexikalisch-morphologischem Stoff vermittelt. Es vergrößert sich, mit anderen Worten, der Satzumfang. Die Grenzen des Einzelsatzes in jeder Sprache, in der es im Satz außer den Hauptgliedern auch diesen untergeordnete Nebenglieder gibt (und dies ist heutzutage in allen Sprachen der Welt der Fall), kann man sich theoretisch als unendlich dehnbar vorstellen. Meillet schrieb seinerzeit, die Zahl von Elementen, die ein Satz enthalten könne, kenne keine Grenze. 17 Er bezog diese Aussage auf die indoeuropäischen Sprachen im allgemeinen und unabhängig von ihren Entwicklungsstufen. Man begegnet tatsächlich einzelnen Sätzen sehr großen Umfangs in Texten aus verschiedener Zeit und verschiedener Gattungen und Stile. Doch finden sich auch Epochen, in denen Sätze, die mit lexikalisch-morphologischem Stoff überladen sind, nicht sporadisch, sondern massenweise erzeugt werden. Dies geschieht als Antwort auf bestimmte sozialgeschichtliche Vorgänge, auf neue Bedingungen sprachlicher Kommunikation. Es entwickeln sich dann einige spezifische Sprachstile und Genres. Und wenn das Streben nach höchstmöglicher lexikalischer Sättigung des Satzes in wichtigen Bereichen der Kommunikation zu einer weittragenden Tendenz wird, erwachsen daraus - zumindest eventuell - sprachliche Mittel, die für die Portativität syntaktischer Einheiten verantwortlich sind, und somit dem Sprachbau im allgemeinen neue Aufgaben. Um Einheit und Geschlossenheit typisch gewordener Sätze mit großer Anzahl von Bestandteilen zu wahren, muß der Gebrauch der Mittel des sprachlichen Gestaltungssystems intensiviert werden. Vorgänge dieser Art vollziehen sich - in unterschiedlichen Erscheinungsformen - insbesondere in der Etappe der Entstehung von Nationalsprachen. In gleicher Richtung verläuft die beschleunigte Entwicklung schriftlicher Kommunikationsformen, die meist mit der Herausbildung der Nationalsprachen zeitlich zusammenfällt. 18 Diese Entwicklungsrichtung kann sogar extreme Auswüchse zeitigen, und zwar vor allem dann, wenn die Entfaltung schriftlicher Sätze ohne ständige Rücksichtnahme auf die Gesetzmäßigkeiten des Satzbaus bei der mündlichen 17 18
M e i l l e t , Α.: Op. cit. S. 217. ÄHpMyHCKHii, B.M.: HauHOHajibHbifi «3biK η counajibHbie ÄHajieKTbi. Mocxea — JleHHHrpaA 1936.
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Kommunikation, in der Umgangssprache, erfolgt. Dies kann dazu fuhren, daß die Gestaltungsmittel, die die Portativität syntaktischer Konstruktionen sichern sollen, sozusagen übersteigerte Formen annehmen, und somit wird das entgegengesetzte Ergebnis erzielt, denn die so angewandten Gestaltungsmittel behindern nun die Übersichtlichkeit der Gliederung der Redekette, sie werden also der Portativität selbst abträglich. Die Anreicherung des Satzinhalts erweist sich gewissermaßen als fiktiv, da das reale Verständnis des Satzes durch Anschwellung seines Umfangs erschwert wird. Bestimmte Formen des Gestaltungssystems, die den Satz zusätzlich zu rhythmisch-intonatorischen Mitteln zementieren, können u. U. zu mechanischer Anwendung kommen und zum obligatorischen formalen Merkmal des Satzes werden, während sie früher fakultativ waren und der Biegsamkeit des Satzbaus nicht im Wege standen. Bezeichnend ist in diesem Sinne die Entwicklung der verbal-prädikativen Rahmenkonstruktion in der deutschen Schriftsprache des 16.-18. Jahrhunderts. Diese Konstruktionsweise war im Deutschen überhaupt für Sätze kleineren Umfangs typisch und allgemein üblich in der Umgangssprache; freilich waren auch Abweichungen von ihr möglich. Es ist nur natürlich, daß die Rahmenkonstruktion auch auf Sätze größeren Umfangs in schriftlichen Texten unterschiedlicher Art angewandt wurde. Im Anfang des 18. Jahrhunderts setzt die Tendenz zu extrem rigoroser Befolgung der betreffenden Regel ein; u. a. erlebt der vielfach umrahmte Satz („Schachtelsatz") seinen Aufschwung. Allerdings ist anzumerken, daß Abweichungen von der Rahmenkonstruktion immer wieder zu verzeichnen sind, und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehen Literaturstile, in denen die Klammerformen bei der Satzgestaltung nach wie vor die führende Rolle spielen, aber auch mannigfaltige Konstruktionsformen mit Ausklammerung beliebt sind. Die Portativität wird auch hier angestrebt und erreicht, nicht aber durch geradlinige Anwendung der Rahmenform, sondern sie gründet sich viel mehr auf den rhythmisch-intonatorischen Faktor, und es trägt dazu auch ein mäßigerer Umfang des mehrteilig aufgebauten Ganzsatzes bei. 19 Es sei noch einmal betont, daß wir unter „Portativität" der Satzäußerung nicht nur ihr festes, geschlossenes Zusammengefügtsein verstehen, sondern auch ihre leichte Übersichtlichkeit oder, wie man vielleicht sagen dürfte, ihre „Handlichkeit". Daraus ergibt sich übrigens ein Berührungspunkt mit Sprachtheorien, die als vornehmste Triebkraft der Sprachentwicklung das Streben nach minimalem psychisch-physiologischem Energieaufwand betrachten (wenn man davon absieht, daß in diesen Theorien die Auswirkungen dieses Prinzips maßlos übertrieben werden). Unter dem uns jetzt beschäftigenden Blickwinkel bedeutet der letztgenannte Aspekt der Portativität eine Reihe zusätzlicher Forderungen, denen im Redefluß die Verteilung des lexikalischmorphologischen Materials auf einzelne Sätze und Wortgruppen entsprechen muß, sowie die Limitierung des Satzumfangs, die Einschränkung maximaler Ausdehnung des Satzes. Die Notwendigkeit, den Satzumfang zu beschränken, hängt offensichtlich mit der Forderung nach der Zementierung des Satzgan19
Vgl. A d m o n i , W.G.: Die umstrittenen Gebilde der deutschen Sprache von heute. I—II. In: Muttersprache. Bd. 72, 1962.
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zen zusammen. Die oben erwähnte Meinung von Meillet, nach der der Satz grenzenlos ausgedehnt werden kann, trifft also nicht zu, wenn man die Anforderungen der Portativität an die Satzstruktur in Rechnung stellt. Jede Äußerung - dies entspricht dem Wesen der sprachlichen Kommunikation - muß durch eine Abfolge zusammenhängender Sprachelemente einen Sachverhalt, dessen Inhalt Beziehungen zwischen Gegenständen, Vorgängen, Merkmalen ausmachen, zum Ausdruck bringen. Jede Beziehung weist eine Vielfalt von einzelnen Momenten, Seiten, Merkmalen auf; Dinge und sonstige Phänomene besitzen Mengen von Eigenschaften, jedes steht in vielfachen Beziehungen zu anderen Phänomenen. Wenn es um die Wiedergabe eines komplexen Sachverhalts geht, ist man in der sprachlichen Kommunikation mitunter bestrebt, eine große Zahl solcher Beziehungen, aktueller Wechselwirkungen u. dgl. in einer umfangreichen Äußerung auf einmal zu umfassen. Immerhin kann der Kontext, wie wir oben bereits bemerkt haben, u. a. auch sehr umfangreiche Äußerungen von lexikalisch-morphologischer Bezeichnung einiger dem Bewußtsein als aktuell vorschwebender inhaltlicher Elemente entlasten. Von weitreichender Entlastung kann aber nicht die Rede sein. Daraus ergeben sich Situationen, in denen gerade die Hauptformen und -gesetzmäßigkeiten des einzelsprachlichen Gestaltungssystems besonders offenkundig zur Geltung kommen: Sie bestimmen hauptsächlich die konkreten Formen, die die Verteilung des sich im Rahmen der Einzeläußerung mehrenden lexikalisch-morphologischen Sprachstoffs auf unterschiedliche Arten syntaktischer Gebilde vermitteln, und zwar mündet dies vor allem in wachsende Sättigung des Elementarsatzes mit lexikalischem Material, in verschiedene Strukturen komplexer Sätze usw. Selbstverständlich werden das Strukturschema und der Umfang eines konkreten Satzes durchaus nicht ausschließlich durch frontal wirkende allgemeine syntaktische Gesetzmäßigkeiten der einen oder anderen Sprache bestimmt. In verschiedenen Textgattungen können spezifische strukturelle Tendenzen aufkommen. Eine wichtige Rolle spielt die Vielfalt stilistischer Einstellungen, die man in allen Sprachschichten beobachten kann, die sich aber besonders deutlich in der Kunstprosa kundgibt (Bevorzugung kurzer oder langer Sätze u. dgl.). Rein individuelle Vorlieben und Abneigungen des Sprechers (des Schreibenden) sind ebenfalls nicht zu übersehen. Bei alledem aber bewahrt das sprachtypische Gestaltungssystem ständig seine Geltung für die unterschiedlichsten Äußerungsformen, indem es den Hintergrund für Abweichungen aller Art abgibt. Vor eben diesem Hintergrund erlangen die Abweichungen von ihm ihre besondere Ausdruckskraft. Wie in allen Phänomenen, die im Sprachsystem Schlüsselstellungen einnehmen, verflechten sich in den Erscheinungsformen des Gestaltungssystems verschiedene Dimensionen, die die Sprache im allgemeinen charakterisieren. Wir haben es hier mit einem typischen Fall der Polydimensionalität (unter Dominanz der einen oder anderen Dimension) zu tun, die allem Sprachlichen eigen ist. Die Forderungen nach Portativität und zugleich nach genügendem Fassungsvermögen sprachlicher Einheiten wirken sich, wie wir schon ausgeführt haben, auf den Charakter aller wichtigen Bestandteile des grammatischen
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Baus der Sprache aus. In einer Sprache können Satz, Wortgruppe und Wort ein analoges Aufbauprinzip erkennen lassen (die Struktur der Silbe lassen wir angesichts ihrer Spezifik beiseite); sie können dabei in gleichem Maße, oft eben aufgrund ihrer strukturellen Homogenität, zu festerer oder weniger fester Geschlossenheit, zu größerem oder geringerem Fassungsvermögen tendieren. Möglich sind aber auch Divergenzen. Sprachliche Einheiten (bzw. ihre Abarten) können sich in bezug auf ihre konkreten Formen, in bezug auf das Maß ihrer monolithischen Geschlossenheit, in bezug auf ihr Fassungsvermögen voneinander unterscheiden (und sich in der einen oder anderen Hinsicht gegenseitig ergänzen). So besteht in der gegenwartsdeutschen Schriftsprache ein Kontrast zwischen der höchst kompakten Struktur der Substantivgruppe und dem freieren Aufbau der verbalen Gruppe, die eine weit größere Variabilität aufweist, und dies bei vorherrschender Neigung aller syntaktischen Strukturtypen zur Geschlossenheit und beträchtlichem Fassungsvermögen. Im Englischen kann der Satz - wenn man die Möglichkeiten seiner Erweiterung durch verschiedene auf nominalen Formen des Verbs basierende Wendungen berücksichtigt - sehr umfangreich werden, aber das englische Einzelwort verfugt nur über ein beschränktes semantisches Fassungsvermögen, denn in dieser Sprache spielt die Wortzusammensetzung keine bedeutende Rolle. Die Aufzählung ähnlicher Beispiele könnte man fortsetzen. In jeder Sprache erweist sich das Gestaltungssystem als ein kompliziertes Gebilde, das aus homogenen und heterogenen Erscheinungsformen zusammengesetzt ist. Aber in allen Fällen stellt das Gestaltungssystem einen Komplex von dynamischen Phänomenen dar, die sich auf lebendige Wechselbeziehungen zwischen Sprachelementen, auf die Arten ihrer strukturellen Zusammenfügung und ihre gegenseitigen Abgrenzungen aktiv auswirken. Die Sprachelemente, die in das Gestaltungssystem einbezogen sind bzw. einbezogen werden, erweisen sich gleichzeitig immer auch als Komponenten des Beziehungssystems der Sprache, indem die Formen, in denen sie zum Vorschein kommen, entweder zusammenfallen oder differieren. Aber aktualisiert und aktiv werden sie eben als Realisierungen von Elementen des Gestaltungssystems. Das Verhältnis zwischen dem Beziehungssystem und dem Gestaltungssystem darf nicht als Verhältnis zwischen den „langue"- und den „parole"-Kategorien gedeutet werden. Diese - im allgemeinen recht fragliche - Gegenüberstellung ist auf das wechselseitige Verhältnis beider Systeme überhaupt nicht anwendbar. Sie gehören beide zum Bestand der Sprache. Sprache machen nicht nur Identitäten und Differenzen aus, zur Sprache gehören auch die Strukturmodelle mannigfaltiger Einheiten zusammen mit ihren Wechselbeziehungen. Und in den Sprechvorgang werden sowohl diese Modelle wie auch alle Erscheinungsformen der Identität und Differenz sprachlicher Phänomene unmittelbar einbezogen, die hier freilich aus ihrer paradigmatischen in ihre syntagmatische Existenzform übergehen. Die Unterscheidung des Beziehungs- und des Gestaltungssystems bedeutet die Unterscheidung bestimmter Organisationsweisen sowohl des Sprachsystems als auch des Sprechvorgangs bzw. Textes, die einander voraussetzen und einander ergänzen. Keines der beiden Subsysteme kann aus dem anderen erklärt und auf das andere zurück-
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geführt werden. Die Erkenntnis der Sprache umfaßt die Erkenntnis ihres Beziehungssystems und ihres Gestaltungssystems, die eine Einheit darstellen. Kein Versuch, die Sprachstruktur zu klären, indem man das Vorhandensein nur des Beziehungssystems voraussetzt, kann Erfolg bringen. Die Sprachstruktur realisiert sich am direktesten und am vollständigsten gerade in den Verkörperungen seines Gestaltungssystems. Die eigentlich strukturelle Vorgehensweise in der linguistischen Untersuchung kann ohne erschöpfende Einbeziehung formaler Ausprägungen sprechsprachlicher Phänomene in ihrer realen kommunikativen Ausgestaltung als Ketten ganzheitlicher Einheiten nicht verwirklicht werden. Das System des Sprachbaus vereinigt in sich zwei Subsysteme, das System gegenseitiger Beziehungen seiner Komponenten und das System von Gestaltungsmodellen „körperhafter" sprachlicher Einheiten. Das System des Sprachbaus kann mehr oder weniger homogen sein, d. h. es kann mit unterschiedlicher Konsequenz analoge Organisationsformen im Bereich des Beziehungssystems und im Bereich des Gestaltungssystems aufweisen. Aber bei aller eventuellen Vielfalt realer Verhältnisse zwischen diesen Subsystemen in verschiedenen Einzelsprachen wird der spezifische Charakter des konkreten Sprachbaus nicht nur durch das ihm innewohnende Beziehungssystem, sondern auch durch die Eigenart seines Gestaltungssystems, sowohl durch das Prinzip der Opposition, wie auch durch das Prinzip der Komposition determiniert.
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Die qualitative und die quantitative Analyse grammatischer Phänomene Eine ausgereifte Grammatiktheorie erfordert - wie die Sprachtheorie überhaupt - den Zusammenschluß, das Ineinandergreifen qualitativer und quantitativer Analyseverfahren, die sich notwendigerweise ergänzen. Damit ist nicht gemeint, daß die beiden Arten von Analyseverfahren gleichen Wert haben. Angesichts der Eigenart des Objektes Sprache kommt der qualitativen Analyse, die auf die Korrelationen zwischen den sprachlichen Inhalten und den diesen Inhalten zugeordneten Ausdrucksmitteln (generalisierend unter Berücksichtigung homogener und heterogener Fakten) ausgerichtet ist, primäre und fundamentale Bedeutung für die linguistische Untersuchung im allgemeinen und für die Grammatikforschung im besonderen zu. Es ist durchaus kein Zufall, daß die grammatische Beschreibung einer Einzelsprache - sowie die Ausarbeitung der theoretischen Grundsätze dieser Beschreibung - in der Regel mit der Feststellung der wichtigsten qualitativ bestimmbaren grammatischen Kategorien beginnt, wobei quantitative Momente, allerdings nur implizite, gewissermaßen auch beachtet werden. Die erste Aufgabe, die Aufgabe der Bewußtmachung der grammatischen Sprachstruktur, wird durch ein solches qualitatives methodisches Vorgehen hinlänglich erfüllt. Die Erarbeitung und Anwendung besonderer quantitativer Methoden der Untersuchung des Sprachbaus erfolgt in der traditionellen Grammatik mit ihrem Bestreben, die Polydimensionalität sprachlicher Erscheinungen zu erhellen, erst dann, wenn die betreffende Sprache bereits mehr oder weniger weitgehend erforscht ist. Allerdings bleibt der Unterschied in besagter Hinsicht zwischen mehr bzw. weniger erforschten Sprachen bis heute aktuell. Eine gründliche Erkenntnis des Sprachsystems ist ohne spezielles Erfassen der quantitativen Seite sprachlicher - insbesondere grammatischer - Phänomene undenkbar. Der Grund dafür besteht darin, daß jede sprachliche Erscheinung außer ihrer qualitativen Beschaffenheit bzw. Bestimmtheit, bildhaft ausgedrückt, durch eine „Masse" ausgezeichnet ist, d. h., daß sie in ihrem sprachsystemischen Umkreis einen relativ meßbaren Raum einnimmt, mit den betreffenden Elementen des Sprachsystems in bestimmten Dimensionen kommensurabel ist und, verglichen mit den „benachbarten" Elementen, einen gewissen Intensitätsgrad aufweist. Was als „Masse" bezeichnet ist, stellt inwendig gemeinhin einen Komplex von vielschichtig zusammenhängenden Elementen dar, die in unterschiedlichen Beziehungen zueinander stehen. In diesem Begriff spiegelt sich eine objektive Gegebenheit wider, die auf ihre quantitative Seite hin unter Verwendung geeigneter Zugriffe untersucht werden muß. Einleitend sind noch einige die Fragestellung präzisierende Bemerkungen angebracht.
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Die qualitative
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1. Wenn wir den Wert des einen oder des anderen Analyseverfahrens für die Untersuchung der Sprache erörtern, meinen wir eine Untersuchung, deren Ziel die - stufen- und schrittweise voranschreitende - Erkenntnis des Wesens der Sprache ist. Es handelt sich also nicht um Wege und Mittel zur Sprachbeschreibung als solcher, sondern um eine Erkenntnisaufgabe, bei der pragmatische Anliegen bestenfalls im Hintergrund stehen. Die Handlichkeit der anzuwendenden Methoden muß natürlich berücksichtigt werden, ausschlaggebend ist jedoch ihr Wert für den Erkenntnisvorgang, der auf die objektive Sprachwirklichkeit abzielt. 2. Die Sprache, vor allem ihr grammatischer Bau, ist polydimensional, die Redekette trägt gleichzeitig eine Vielzahl von Bedeutungslinien, das paradigmatische System läßt eine Vielfalt von Aspekten erkennen. Diese Eigenschaften der Sprache sind von uns mehrmals betont worden. 1 3. Der Sprachbau umfaßt außer dem Beziehungssystem auch ein Gestaltungssystem, nämlich ein System von konkreten Mitteln, die der dynamischen Organisation aufeinander bezogener sprachlicher Ausdrücke zu sinnvollen Einheiten der Redekette dienen. Um kommunikativen Aufgaben in befriedigender Weise zu entsprechen, müssen die Redeeinheiten einerseits ein zweckdienliches Fassungsvermögen haben, andererseits aber auch „portativ", d. h. kompakt, durch inneren Zusammenhalt geprägt sein. Im Dienste dieser Anforderungen steht das System der Gestaltungsmittel, das in jeder Sprache auf eigene Art ausgeformt ist und im Zeichen geschichtlichen Werdegangs steht. 2 4. Unterschiede des grammatischen Baus von Einzelsprachen bringen es unvermeidlich mit sich, daß auch die „Massen" grammatischer Phänomene, die die Einzelsprachen aufweisen, unterschiedlichen Charakter haben, was zur Wahl jeweilig angemessener Methoden der quantitativen Analyse dieser Phänomene zwingt. Im vorliegenden Artikel werden wir uns den Unterschieden dieser Art nicht zuwenden können. Es wird auch nicht möglich sein, die ganze Vielfalt grammatischer Phänomene im Rahmen einer Sprache unter dem Gesichtspunkt ihrer „Massen" und des Charakters ihrer „Massen" zu beleuchten. Wir beschränken uns auf die Betrachtung der wesentlichsten Erscheinungsformen der quantitativen Bestimmtheit grammatischer Phänomene in drei eng zusammengehörigen Bereichen, und zwar in dem der grammatischen Paradigmen, in dem der Verwendung grammatischer Formen und in dem der historischen Entwicklung des grammatischen Baus der Sprache. Die Kategorien und Formen, die das grammatische Gesamtparadigma einer Sprache bilden, präsentieren sich unserer Wahrnehmung zunächst von ihrer qualitativen Seite. Auf den ersten Blick ist die Grammatik das Reich reiner
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Α Λ Μ Ο Η Η , Β.Γ.: Ο MHoroacneKTHO-aoMHHaHTHOM no.nxo.ae κ rpaMMarawecKHM ABJieHHHM. In: Bonpocbi s3biK03HaHH«. 1961, .N° 2 [s. in diesem Band S. 249fF.];
d e r s .: ilapTHTypHoe crpoeHHe peneBOH nenn Η CHCTeMa rpaMMaTHnecKHX 3HaHe-
ripeflJioxceHHH. In: 1961, .Ns 3.
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OmiojiorimecKHe HayKM.
Α Λ Μ Ο Η H , Β.Γ.: CwcTeMa »3biKa icaK E^MHCXEO cHCTeMbi OTHOMEHHII H CHCTeiwbi nocTpoeHHH. In: /JoKjiaabi Bbicwefi IIIKOJIM. OwiojiorHHecKHe HayKH. 1963, Xa 3
[s. in diesem Band S. 27Iff.].
Die qualitative und die quantitative Analyse grammatischer Phänomene
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Qualitäten. Danach hätten wir uns auf die Methoden qualitativer Analyse beschränken können. Jedoch geht j e d e Qualität mit ihr innewohnender Quantität, ihrer besonderen „Masse", einher. Diese „Masse" ist nichts anderes als die Gesamtheit des Sprachstoffs, der das Wirkungsfeld der einen oder anderen grammatischen Erscheinung darstellt. Für eine Wortart (einen „Redeteil") beispielsweise ist das die Masse der dieser Wortart angehörenden Wörter, unterteilt in Subklassen, denen gewisse Sonderfunktionen im Rahmen des funktionalen Großraums der Wortart zufallen. In der Sprachforschung bzw. -beschreibung sind quantitative Ermittlungen schon längst keine Neuheit mehr. Zählungen wurden vorgenommen, wenn es vor allem darum ging, synonyme - und mithin „konkurrierende" - Formen in einer bestimmten Sprache durch quantitativen Vergleich miteinander nach ihrem funktionalen Gewicht im Sprachsystem zu befragen, beispielsweise in der gegenwartsdeutschen Schriftsprache den adnominalen (attributiven) Genitiv und das präpositionale Attribut, das Bezugsadjektiv und die Form des Kompositums mit dem substantivischen ersten Glied u. ä. In diesen und ähnlichen Fällen bieten die Messungen, die an Elementen des Sprachbaus vorgenommen werden, keine besonderen Schwierigkeiten. Der quantitative Vergleich ist hier dank der Eindeutigkeit der auf gleicher Ebene liegenden Meßeinheiten leicht durchführbar. Da sind, um auf die vorhin angeführten Beispiele zurückzugreifen, einerseits funktional einheitliche Bereiche, andererseits kommen Wörter in Betracht. Natürlich können auch solche Messungen auf Schwierigkeiten stoßen; diese sind einmal mit der Ausgrenzung funktionaler Bereiche unterschiedlicher Abstraktionsebenen verbunden, ein anderes Mal mit der Bestimmung der Mengen von Wörtern, die dem einen oder anderen funktionalen Bereich zugeordnet sind, wenn er nicht „geschlossenen" Charakter hat, d. h. ständigen Zufluß neuen lexikalischen Gutes zuläßt. Im Prinzip jedoch - wenn man gewisse Toleranzgrenzen annimmt sind quantitative Vergleiche der umrissenen Art uneingeschränkt praktikabel und erbringen oft absolut unbestreitbare Erkenntnisse, die übrigens oft genug mit Erkenntnissen auf intuitiver Basis übereinstimmen. So ist beispielsweise die „Masse" der Bezugsadjektive in der deutschen Gegenwartssprache ganz offensichtlich bedeutend geringer als die „Massen" der Verwendung synonymer grammatischer Formen. Die einfachsten, nicht raffiniert ausgeklügelten Zählungsvorgehen sind in derartigen Fällen vollauf überzeugend. Wenn man den Blickwinkel ändert und nicht die „konkurrierenden" grammatischen Synonyme, sondern die Gesamtmassen der Wortarten miteinander zu vergleichen versucht, wird die Situation schwieriger. Natürlich kann man jederzeit die Gesamtzahlen funktionaler Sonderbereiche, die von verschiedenen Wortarten „bedient" werden, einander gegenüberstellen, ebenso die Mengen von Wörtern, die zu entsprechenden Wortarten gehören. Doch sind die betreffenden grammatischen Funktionen und die dazu gehörenden lexikalischen Verbände bzw. die auf die Wortarten selbst verteilten Lexemklassen vom Standpunkt ihres Gewichtes im Sprachsystem aus keinesfalls gleichwertig. Die Klärung objektiver Verhältnisse in dieser Hinsicht ist von der Hinwendung zu den Gebrauchsfrequenzen zu erwarten. Der Vergleich der Ge-
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Phänomene
samtfrequenzen der textuellen Verwendungen des lexikalischen Bestandes unterschiedlicher Wortarten bzw. der Wort(sub)klassen mit unterschiedlichen funktionalen Eigenschaften relativiert die „direkten" Zählungsergebnisse und hilft somit die durch diese allein gewonnene grobe Annäherung an die quantitativen Kennzeichen von „Massen" grammatischer Phänomene überwinden. Durch Relativierung auf dem Umweg über die Verwendungsfrequenzen kommt das „spezifische Gewicht" dieser „Massen" wesentlich unmittelbarer zum Vorschein. Selbst eine quantitativ ausgesprochen schwache „Masse" kann für das grammatische System von erstrangiger Bedeutung sein, wenn ihre Elemente eine besonders wichtige Funktion erfüllen und in dieser Funktion unersetzlich sind. Zum Beispiel ist in den meisten Sprachen die Zahl der Präpositionen und der Konjunktionen verschwindend gering im Vergleich mit der Masse von Substantiven. Auch hinsichtlich der Frequenz stehen sie den Substantiven nach, obwohl der Abstand in dieser Hinsicht schon nicht so auffallend ist. Aber ohne Präpositionen und Konjunktionen ist die Bildung von Sätzen und sonstigen syntaktischen Konstruktionen, die für das Funktionieren der Sprache notwendig sind, einfach unmöglich, und so ist ihre Bedeutung für das Sprachsystem im Vergleich mit ihrer Anzahl unverhältnismäßig gewichtiger. Folglich wird das reale funktionale Gewicht eines grammatischen Phänomens im Sprachsystem durch die Einheit seiner Quantität („Masse") und seiner Qualität (vornean des Grades seiner Notwendigkeit) bestimmt, wobei der qualitativen Seite dieser Einheit die führende Rolle zukommt. Die Notwendigkeit kann in der Tat unterschiedliche Grade haben, vgl. beispielsweise die weit geringere Notwendigkeit der Interjektionen für die Bildung von Grundtypen des Satzes im Vergleich mit dem Notwendigkeitsgrad der Pronomina und der Konjunktionen. Man kann vielleicht für das funktionale „spezifische Gewicht" grammatischer Erscheinungen die Möglichkeit etwaiger Koeffizienten erwägen, die das Ergebnis des Aufeinanderbeziehens der qualitativen und der quantitativen Merkmale dieser Erscheinungen erfassen und zum Ausdruck bringen würden. Allerdings ist die qualitative Charakteristik einer grammatischen Form bzw. Kategorie zunächst unabhängig von ihrer quantitativen Charakteristik zu erarbeiten, da die beiden im objektiven Sprachstoff selbst nicht als unteilbares Eines vorgegeben sind. Immerhin weist das grammatische Gesamtparadigma Knoten auf, bei denen die Aufgabe, das Qualitative und das Quantitative gegeneinander abzugrenzen, besonders schwierig ist. Die obigen Ausführungen bezogen sich auf grammatische Objekte als klar und deutlich bestimmte, ausgrenzbare und einander gegenüberstellbare Bildungen bzw. Formen. In zahlreichen Fällen finden wir sie jedoch in komplizierten paradigmatischen Verflechtungen. Es gibt grammatische Übergangsformen, Formen, die eben objektiv - nicht infolge mangelnder methodologisch-methodischer Ausrüstung des Forschers - sich als an „fließenden Grenzen" qualitativ bestimmter grammatischer Phänomene befindlich erweisen und sich selbst als nur „fließend" von diesen abgegrenzt darbieten. Die Grundlage solcher Übergänge bildet die sprachliche Polydimensionalität. Ein grammatisches Phänomen vereinigt in sich gemeinhin eine Vielzahl
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qualitativer Merkmale, die unterschiedlichen Dimensionen des Sprachbaus zugeordnet und nicht voneinander herleitbar sind. Einerseits überlagern die qualitativen Merkmale einander im Rahmen eines grammatischen Elementes, mehr noch, sie können sich gegenseitig durchdringen, andererseits aber sind sie meist nicht nur diesem, sondern auch anderen Elementen des Sprachbaus eigen.3 Das spezifische qualitative Gepräge verleiht dem grammatischen Element der ihm eigene Merkmalskomplex. Doch finden sich vielfach auch periphere Fälle, die dadurch charakterisiert sind, daß dem formal gleichen Element einzelne Teile seines spezifischen Merkmalskomplexes fehlen, und es können in solchen Fällen auch andere Merkmale hinzukommen. Und so stellt sich notgedrungen die Frage nach der Kraft gegenseitiger Anziehung von in dieser Weise sich ergebenden Merkmalskomplexen, nach dem Maß ihrer gegenseitigen Nähe, ihrer eventuellen Einheit im paradigmatischen System und schließlich danach, ob, mit welchen Mitteln und mit welchem Genauigkeitsgrad die hier wirksamen Faktoren gemessen werden können. Ziehen wir ein konkretes Beispiel heran. Es handelt sich um die sogenannte Kurzform des Adjektivs in der deutschen Gegenwartssprache. Eine Gruppe von Merkmalen dieser Form verbindet sie mit dem Adjektiv (die verallgemeinerte grammatische Bedeutung, die paradigmatische Einheit stammgleicher Formen, die auf identischer lexikalischer Bedeutung basierenden Fügungspotenzen); andere Merkmale (die morphologische Prägung, die syntaktische Verwendung hauptsächlich in der verbalen Gruppe) teilt dieselbe Form mit dem Adverb. Seit langem konkurrieren diesem widersprüchlichen Boden entsprießende Ansichten, in denen die Anziehungskräfte unterschiedlich gewertet werden, die sich auf die Stellung der adjektivischen Kurzform im grammatischen System auswirken. Diskutiert wird die Frage, ob diese Wortform zum Adjektiv oder zum Adverb gehört oder möglicherweise als eine besondere Wortart zu betrachten ist. Es ist offensichtlich, daß die genannte Frage durch die quantitative Analyse nicht beantwortet werden kann, obwohl es um die Stärke, die Intensität der Bindungen an die eine oder andere Wortart geht, um Parameter also, die ihrer Natur nach gemessen werden könnten. Denn der Gegenüberstellung liegen Merkmale zugrunde, die unterschiedlichen Dimensionen angehören, die betreffenden Eigenschaften sind folglich unter dem Aspekt ihrer Intensitäten grundsätzlich inkommensurabel. Es gibt zum Beispiel keine Meßeinheit, die gleicherweise auf folgende durchaus heterogene Merkmale anwendbar wäre: einmal das morphologische Merkmal „flexionslos" („Null-Endung"), das die adjektivisch-adverbiale Kurzform an das Adverb bindet, und das andere Mal das auf der höheren, der allgemein-paradigmatischen Ebene liegende Merkmal der Zugehörigkeit der Kurzform und der flektierten Formen gleicher Lexeme zu einem gemeinsamen Paradigma, das Merkmal also, das die Kurzform von der Wortart Adjektiv nicht loszulösen erlaubt. Was die zahlenmäßi3
Als Beispiele qualitativer Merkmale, die nur einem grammatischen Phänomen zukommen, kann man die für viele Sprachen typische Fähigkeit des finiten Verbs, allein als Prädikat zu fungieren, oder die gegenständliche Bedeutung des Substantivs nennen.
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ge Stärke der Merkmalsgruppen gegensätzlicher Ausrichtung anbetrifft, so halten sie in etwa einander die Waage. Hinzu kommt, daß das Maß der Wesenhaftigkeit einzelner Merkmale unterschiedlich beurteilt werden kann. Allerdings kommt einigen Momenten, die im engen Zusammenhang mit dem oben entworfenen Gesamtbild stehen, eine besondere Bedeutung zu. Höchst wesentlich ist der Frontalcharakter, der Grad der Notwendigkeit, der Unumgänglichkeit des einen oder des anderen Merkmals. So stellt das frontale Merkmal der Flexionslosigkeit, das für die untergeordneten nichtsubstantivischen Verbgruppenglieder typisch ist, die Kurzform des „Eigenschaftswortes" auf eine Linie mit dem Adverb - was in vollem Einklang steht mit der allgemeinen morphologischen Differenzierung der Wortformenklassen, die im Deutschen als Bestandteile unterschiedlicher syntaktischer Wortgruppenarten auftreten. Andererseits drückt eben die Kurzform am reinsten die verallgemeinerte lexikalisch-grammatische Bedeutung des gleichstämmigen deklinierbaren Adjektivs aus, sie abstrahiert diese Bedeutung von den sie überlagernden morphologischen Bedeutungen des Kasus, des Numerus und des Genus (die Kurzform wird im Wörterbuch als Nennform des Adjektivs genutzt). All das macht die Kurzform zum unverzichtbaren Element des adjektivischen Gesamtparadigmas. Im objektiven gegenwartsdeutschen Sprachbau an und für sich ist die Kurzform des „Eigenschaftswortes" gleichzeitig aufs engste sowohl mit dem deklinierten Adjektiv wie auch mit dem Adverb als Verbgruppenglied verbunden. Wenn man sich das deklinierbare Adjektiv und das Adverb als Gesamtheiten in der Form von Kreisen vorstellt, so überschneiden sich die Kreise, und die Kurzform bildet ihr gemeinsames Segment. Zu betonen ist, daß eine solche Überschneidung unter den Wechselbeziehungen von Einheiten des paradigmatischen Systems keinen Ausnahmefall darstellt, sondern nur sehr anschaulich, in zugespitzter Form, das allgemeine Strukturprinzip des Sprachbaus manifestiert. Das ist das Prinzip der Feldstruktur. Die Einheiten des paradigmatischen Systems sind in der Regel keine scharf abgrenzbaren, in sich geschlossenen Bildungen, solche Fälle kommen nur vereinzelt vor. Typisch sind - jedenfalls für das Deutsche und Sprachen ähnlicher Art - grammatische Formen, bei denen man das semantisch-funktionale Zentrum (den Kernbereich) und die Peripherie unterscheiden kann. Das Zentrum zeichnet sich durch maximale Konzentration aller im jeweiligen grammatischen Phänomen vereinten Merkmale aus. Die Peripherie bildet eine mehr oder weniger beträchtliche Anzahl von Verwendungsweisen der gleichen Form, bei denen sie das eine oder das andere, u. U. auch mehrere Merkmale ihres zentralen Eigenschaftskomplexes einbüßt; es kann sich ebenfalls die Intensität einzelner Merkmale ändern. Es variieren die Richtungen, in denen sich die peripheren Erscheinungen vom Zentrum entfernen, und die Maße ihrer Entfernung vom Zentrum. Häufig genug haben wir es mit einem teilweisen Zusammenfall grammatischer Einheiten zweier Felder zu tun, mit einem gemeinsamen Segment also, das die Überschneidung der Felder hervorbringt. Es wäre zutiefst irrig, sich von der Übereinstimmung des Terminus „Feld" dazu verleiten zu lassen, auf die grammatischen Erscheinungen in ihrem para-
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digmatischen Status Gesetzmäßigkeiten übertragen zu wollen, die Feldstrukturen in anderen Wirklichkeitsbereichen eigen sind, zum Beispiel die der mathematischen Felder oder, wenn wir zur Sprache zurückkehren, selbst der Wortfelder (ganz gleich, wie das „Wortfeld" aufgefaßt wird). In der Grammatik sind eigene, spezifische Gesetzmäßigkeiten und Kräfte am Werk, und es ist deren Eigenart, die man zu untersuchen hat. Besagte Eigenart beruht darauf, daß hier im Regelfall Kräfte wirksam sind, die unter qualitativem Aspekt sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen, weil sie unterschiedlicher dimensionaler Provenienz sind. Doch gibt es sicher auch einige Züge, die dem „Feld" im allgemeinen eigen sein müssen, unabhängig von seiner Art und dem Grad seiner aspektmäßigen Vielschichtigkeit, so vor allem das Vorhandensein von das Feld vereinheitlichenden Faktoren und Kräften, die für den Zusammenhalt seiner Bestandteile verantwortlich sind. Da aber, wie bereits ausgeführt, solche Kräfte und ihr Verhältnis zueinander sich trivialen Messungsvorgehen widersetzen, mußten wir das Prinzip wechselseitiger Bedingtheit grammatischer Einheiten bzw. Merkmale einfuhren, das Prinzip ihrer frontalen gegenseitigen Unlösbarkeit. Dieses Prinzip hat freilich qualitativen Charakter, doch beinhaltet es auch ein quantitatives Moment. Das qualitative Moment besteht darin, daß wir die Bindung einer grammatischen Einheit an eine andere auf ihre Untrennbarkeit und mithin auf den Grad der Untrennbarkeit hin angehen; und wenn wir fragen, ob das Einhergehen beider frontal ist, so ist das nur eine andere Formulierung der gleichen Frage. „Frontal" da sein bedeutet die hundertprozentige Zugehörigkeit eines Merkmals bzw. und ganz allgemein eines grammatischen Tatbestandes zu einer Reihe anderer gattungsgleicher Erscheinungen. Was hundertprozentig ist, ist eine Synthese von Quantität und Qualität. Die Totalität läßt sich als Qualität erkennen, weil die Eigenschaft der Totalität der Notwendigkeit entspringt; der frontale Charakter des Merkmals, das wir gegebenenfalls ins Auge gefaßt haben, ist als unausbleibliche Folge des Zusammenwirkens der Elemente zu verstehen, die das Wesen des betreffenden Objekts ausmachen. So wird der Sprachforscher mit der Notwendigkeit konfrontiert, bei der Analyse von Einheiten des grammatischen Paradigmas die Vielfalt methodischer Zugriffe, mit denen er operiert, so zu gestalten, daß die Aufgabe, die relativen Quantitäten festzustellen, die den qualitativ erkannten und bestimmten Wesenheiten innewohnen, nicht außer acht gelassen wird. Diese Forderung entspricht der Natur der grammatischen Untersuchungsobjekte, primär-ursächlich ihrer Polydimensionalität. Die Polydimensionalität ist dasjenige, was die Verwendung einfacher gemeinsamer Meßeinheiten für unterschiedliche wesenhafte Aspekte grammatischer Phänomene unmöglich und die umrissene komplizierte Herangehensweise für die Bestimmung der quantitativen Seite ihrer Beschaffenheit unverzichtbar macht. Wir gehen jetzt zu Fragen über, die sich auf die Verwendung grammatischer Einheiten im Text beziehen. Im Bereich der (statischen) grammatischen Paradigmenstruktur, der auf den ersten Blick von durchweg qualitativen Bestimmtheiten beherrscht sein sollte, trafen wir auf schwer zu durchdringende Verflechtungen von Qualität und Quantität. Als Pendant dazu zeichnen sich im Bereich der textuellen Verwendung grammatischer Formen, der anschei-
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nend vice versa nur zu rein quantitativen Feststellungen Anlaß gibt, Probleme ab, bei denen es um verwickelte qualitative Verhältnisse geht. Diese Probleme entstehen im Zusammenhang mit der textlichen und stilistischen Vielschichtigkeit jeder Sprache; insbesondere trifft das auf Sprachen mit umfangreichem, hochentwickeltem, funktional weitverzweigtem Schrifttum zu. Die kommunikativen Sprachbereiche und -formen, die thematische Bedingtheit der Textgestaltung, die Äußerungsziele, das Literarisch-Kunstvolle an den sprachlichen Äußerungen (Literaturstil), ihre individuelle Prägung (Individualstil) - all das bestimmt die Eigenart des jeweiligen Textes, und diese Eigenart ist das Ergebnis vor allem der Wahl aus der Vielfalt sprachlicher Ausdrucksmittel, nicht zuletzt der grammatischen. Unterschiede im Charakter konkreter kommunikativer Situationen färben auf die textuellen Verwendungsfrequenzen der Sprachelemente ab. Bei alledem ist es infolge uferloser Mannigfaltigkeit kommunikativer Sonderfalle äußerst schwierig, gleichzeitig die Frequenzdaten und die Textqualität (im weitesten Sinne des Wortes) im Auge zu behalten, und das allein auf die Verwendungsfrequenzen gerichtete Augenmerk birgt die Gefahr in sich, die Messungsergebnisse von jeglicher Beziehung zur jeweiligen Textqualität loszulösen. Vor allem besteht die Gefahr, daß der Forscher bei gegebenenfalls annähernd gleichen Zahlen die Ungleichheit der Faktoren übersehen kann, die die betreffenden Frequenzen hervorgerufen haben. In den deutschen Texten des 18. Jahrhunderts zeichnen sich die Elementarsätze 4 sowohl in Gellerts Roman „Das Leben der schwedischen Gräfin von G." (Durchschnittsumfang: 8,07 Wörter) wie auch einige Reisebeschreibungen, zum Beispiel die von Kleemann5 (Durchschnittsumfang: 9,28 Wörter), durch einen recht bescheidenen Erweiterungsgrad aus. Darin äußert sich aber im ersten Fall eine stilistische Kontroverse, denn Geliert setzt seinen kurzen und klaren Satz bewußt und gezielt dem prunkhaft-schwülstigen Elementarsatz der Barockliteratur entgegen, während sich im zweiten Fäll Enge des geistigen Horizontes, emotionale Stumpfheit und stilistische Unbeholfenheit kundgeben. Eine Gruppe von Fragen, die die Verwendung grammatischer Einheiten betreffen, bringt unausweichlich die Gesetzmäßigkeiten der Sprachentwicklung mit ins Spiel, denn Verwendung und Wandel sind Vorgänge, die unentwegt ineinander übergehen. Da die beiden uns hier in ihrem Zusammenspiel interessierenden Seiten der sprachlichen Wirklichkeit, die ihr innewohnenden Qualitäten und Quantitäten, sich im Zuge des Sprachwandels ständig wechselseitig bedingen, ist beim Studium der Sprachgeschichte die systematische Hinwendung zum quantitativen
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Mit dem Terminus „Elementarsatz" bezeichnen wir alle Arten syntaktischer Konstruktionen, die den formalen Kriterien des einfachen Satzes (von dem einen oder anderen logisch-grammatischen Typ) entsprechen, unabhängig davon, ob eine solche Konstruktion im syntaktischen Ganzen als selbständige Einheit, als Hauptsatz oder als Nebensatz (bzw. Gliedsatz) im Satzgefüge oder auch als Bestandteil der Satzreihe auftritt. K l e e m a n n , N.E.: Reisen von Wien über Belgrad bis Kilianova ... in den Jahren 1768, 1769 und 1770 ... in Briefen an einen Freund. Wien 1771.
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Aspekt grammatischer Gegebenheiten geboten. In einzelnen Fällen ist die eintretende bzw. eingetretene Veränderung bestimmter Verhältnisse im grammatischen Bereich im großen und ganzen klar genug, ohne daß man zu Messungen zu greifen hätte. Das trifft zum Beispiel auf das Absterben des Instrumentals im Althochdeutschen zu. In einem solchen Fall kann man das Quantitative am Vorgang mit Ausdrücken wie „wenig", „fast nie" u. dgl. erfassen und sich damit begnügen, es entfällt die Notwendigkeit, sie mittels spezieller quantitativer Zugriffe zu begründen. Im Gegenteil, falls wir Sätze bzw. Wortgruppen verschiedenen Umfangs (und das heißt: verschiedenen Fassungsvermögens), nach Wortmengen geordnet, als qualitativ unterschiedliche syntaktische Objekte betrachten, ist schon die erste Differenzierung dieser Objekte, ihr eigentliches „Erkennen" als solches Sache der quantitativen Analyse. Quantitative Analysen im Untersuchungsbereich Sprachwandel sind äußerst schwierig. Unter dem Blickpunkt der sich über Jahrhunderte erstreckenden Perspektive historischen Geschehens muß man eine Vielfalt von Sprachstilen und Textgattungen sowie sonstiger Faktoren, die die Entwicklung des einen oder anderen grammatischen Phänomens beeinflussen konnten, schließlich auch eventuelle Verzahnungen solcher Faktoren berücksichtigen. Man hat mit ab und zu sogar überraschenden Abweichungen von scheinbar absolut zweifelsfrei festgestellten Richtungen qualitativ-quantitativen Wandels zu rechnen, besonders wenn außersprachliche Faktoren - direkt oder durch innersprachliche Vermittlung - hineinspielen. Natürlich verläuft die Entwicklung in manchem Fall im großen und ganzen bruchlos geradlinig. So vollzog sich beispielsweise der Ausgleich der Stammvokallautung in den zwei numeralen Reihen des Präteritums starker Verben (hauptsächlich im 17. Jahrhundert), ohne daß der Vorgang irgendwie behindert worden wäre, und Texte jener Zeit lassen ohne weiteres quantitative Bestimmungen dieses Vorgangs zu. Aber gerade solche Vorgänge sind meist leicht feststellbar und erklärbar, ohne daß man sie speziell auf ihre quantitative Seite hin anzugehen brauchte; in Fällen dieser Art beinhaltet die Beleuchtung des qualitativen Wandels implizite auch quantitative Erkenntnisse. Es sind vielmehr die komplizierteren Prozesse, deren Verständnis die Anwendung quantitativer Untersuchungsmethoden erfordert, und gerade solche Prozesse unterliegen häufig Umbrüchen bzw. Abweichungen von der einmal angenommenen Hauptrichtung. So wird das Anwachsen des Umfangs des Elementarsatzes in Traktaten und in der sich von der Tradition des „Volksbuches" entfernenden Kunstprosa des 17. und 18. Jahrhunderts mehrmals unterbrochen, zum Beispiel tendiert der späte Zesen (17. Jh.) in seinem „gelehrten" Roman zum ausgesprochen kurzen Elementarsatz. Solche Einschnitte in die fuhrende Entwicklungstendenz können nicht aus sprachlichen Gründen an sich erklärt werden, die irgendwie mit den grammatischen Bedingungen der Steigerung des Satzumfangs zusammenhängen, wohl aber mit beschränkter Möglichkeit mehrmaliger Wiederholung gleicher Bauformen oder mit dem Prinzip der „Portativität" des Satzes. Die Reichweite dahingehender struktureller Möglichkeiten des Elementarsatzes war im 17. Jahrhundert in den genannten Textgattungen noch keineswegs erschöpft. Schon nach Zesen tritt Lohenstein mit seinem übermäßigen Elementarsatzumfang (13,82 Wörter) auf
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die literarische Bühne. Nahe daran ist der Elementarsatzumfang in solchen stilistisch vorbildlichen Werken einer späteren Epoche wie in der „Geschichte der antiken Kunst" von Winckelmann (13,57) und in Goethes „Wahlverwandtschaften" (12,48). Die schroffe Kürzung des Elementarsatzes bei Zesen im oben erwähnten Fall ist als bewußte sprachästhetisch bedingte stilistische Annäherung an bestimmte lateinische Vorbilder zu verstehen. Wir haben es hier und in vielen ähnlichen Fällen nicht mit einem gleichmäßig und geradlinig ablaufenden geschichtlichen Vorgang zu tun, der im Zeichen einer beschränkten Menge leicht einsichtiger und zum Teil von vornherein erkennbarer sprachlicher Faktoren steht, sondern mit einem Vorgang, der mitunter von unvermutet hereinbrechenden Einwirkungen aus anderen sozialen Bereichen beeinflußt wird. Wesentlich ist, daß die Einwirkungen eigentlich sprachexterner Faktoren in vielen Fällen deutlich zu erkennen sind. Schwankungen, die die quantitative Seite grammatischer Merkmalskomplexe betreffen, stehen mit solchen Faktoren (mit deren Vorhandensein bzw. Intensitätsgrad) recht oft in offensichtlichem unmittelbarem und meist nicht zufälligem Zusammenhang. Die Hinwendung zum Wahrscheinlichkeitskalkül als Mittel der quantitativen Analyse derartiger entwicklungsgeschichtlicher Sachverhalte im Bereich der Verwendung grammatischer Formen würde aber nur eine unnötige Komplizierung der Forschung bedeuten. Angezeigt ist hingegen ein leichter begehbarer Weg. Unsere Ansicht geht dahin, daß - jedenfalls auf der heutigen Entwicklungsstufe der Grammatikforschung - für die Erkenntnisse im quantitativen Bereich die methodischen Zugriffe am zweckdienlichsten sind, die es gestatten, auf unmittelbare Weise sowohl der allgemeinen Entwicklungsrichtung wie auch den unter bestimmten Umständen eintretenden Abweichungen davon bzw. scharfen Einschnitten in die Hauptlinie der Entwicklung sowie dem Charakter der all dies bedingenden Faktoren Rechnung zu tragen. Wichtig ist insbesondere die kein kompliziertes Vorgehen darstellende Zusammenstellung von quantitativen Daten, die sich aus durchgängigen Zählungen an Texten gleichen Umfangs ergeben, die chronologisch gleichmäßig verteilt sind. Die unter Beobachtung genommene grammatische Erscheinung kann in diesen Texten unter dem Einfluß gleicher oder ungleicher Faktoren stehen, und es ist geboten, Texte heranzuziehen, die sich am krassesten nach Art der Gruppierung dieser Faktoren unterscheiden. Es müssen also bei der Textkorpusbildung qualitative Erwägungen die entscheidende Rolle spielen. Von den bereits gewonnenen Einsichten in die Textqualitäten ist jedoch nur in Ausnahmefällen zu erwarten, daß dabei gleichzeitig die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung deutlich erkannt werden könnten und ihr Endergebnis voraussagbar wäre. Im Regelfall muß es bei der Bildung der Textkorpora lediglich möglich sein, daß sich eine gewisse Entwicklungstendenz in ihrer Perspektive - gegebenenfalls in einer Reihe eventueller Perspektiven - in ihrer faktoriellen Bedingtheit annäherungsweise zu erkennen gibt. Die dabei zutage tretenden Korrelationen zwischen der faktoriellen und der quantitativen Seite grammatischer Sachverhalte ergeben den Hintergrund und die Ausgangsbasis der weiteren Analyse auch solcher Texte, in denen andersgeartete Korrelationen gleicher Ordnung vertreten sind und
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selbst solcher Texte, die ihre Gestaltung der Wirkung ganz andersgearteter Faktoren verdanken. Aus dem Ausgeführten ist ersichtlich, daß den Ergebnissen der quantitativen Analyse der Wert von Symptomen der Qualität der Texte und der darin enthaltenen grammatischen Einheiten zukommt. Das oben beschriebene Verfahren zielt darauf ab, quantitative Kennzeichen der grammatischen Phänomene zu erfassen, die unter statischem sowie unter historisch-dynamischem Aspekt qualitativ unterschiedlich sind. Dieses Verfahren ist damit selbst qualitativ ausgerichtet, und man könnte es als die „symptomatische" oder die „qualitativ-quantitative" Methode bezeichnen. In der laufenden Forschung wurde die dargelegte Methode, genauer: wurden bestimmte Vorgehen und Zugriffe, die zu dieser Methode gehören (ohne daß sie in der vorgeschlagenen Weise betitelt wird), bereits in einer Reihe germanistischer Arbeiten angewandt, in denen die Entwicklung bestimmter grammatischer Phänomene unter Berücksichtigung der quantitativen Seite des historischen Vorgangs verfolgt wurde.6 Nur diese Herangehensweise ermöglicht die einfühlsame Betrachtung so komplizierter Erscheinungen wie beispielsweise des Wandels des Umfangs der Substantivgruppe im Deutschen, wo dieser Wortgruppentyp unter den Einwirkungen einer Vielfalt von Faktoren sehr beträchtlichen Schwankungen seines Fassungsvermögens unterlag. Texte unterschiedlicher Art, die für verschiedene historische Perioden jeweils typisch waren, bezeugen folgende Bandbreiten von Durchschnittswerten: Der Wortbestand der Substantivgruppe betrug 2,98 bis 7,17 Wörter im 14.-15. Jh., 2,54 bis 4,57 im 16. Jh. und 3,34 im 17. Jh. Was wir hier bisher vorgebracht haben, soll nicht bedeuten, daß die mathematisch-statistische Vorgehensweise in der historischen Grammatikforschung sowie bei sonstigen Untersuchungen im Bereich grammatischer Phänomene nicht grundsätzlich anwendbar wäre. In gewissen Fällen kann sie angezeigt bzw. sogar notwendig sein. Doch ist die qualitativ-quantitative Methode, was ihr inhaltliches Aufschlußpotential für die Grammatikforschung angeht, vorzuziehen. Es könnte irrtümlicherweise der Eindruck entstehen, daß die von uns als empfehlenswert befundene qualitativ-quantitative Untersuchungsmethode der Statistik - in ihrer Anwendung auf den Gegenstand Sprache im allgemeinen - entgegengesetzt wird. Dem ist aber nicht so. Der althergebrachte Begriff der „Statistik" umfaßt alle für das Wissen um beliebige Gegenstände brauchbaren quantitativen Untersuchungszugriffe, auch wenn die Ergebnisse der Einzelermittlungen dabei nur auf die elementarste Weise systematisiert zu werden brauchen. Das können einfache Zählungen sein, die tabellarisch angeordnet werden, wobei man unkomplizierte Koeffizienten einführt, oder auch
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Zu den neuesten Arbeiten dieser Art gehören zwei Dissertationen, in denen - bei aller sonstigen Eigenart - in analoger Weise sehr umfangreich zusammengetragener Sprachstoff auf seine „symptomatischen" quantitativen Merkmale hin untersucht wird: Κ ο 3 Μ a Η , C.M.: PasBHTHe aTpHÖyTHBHoro poaHTe^bHoro naaewa Η e r o CHHOHHMOB Β HOBOBEPXHEHEMEUKOM »3biKe. JleHHHrpaa
1962; Τ Ρ ο A Η C -
κ a Η, E.C.: BJIHSHHC ,anajieKTa Ha οφορινυιεΗΗε rpynribi cymecTBHTejibHoro Β HeMerncoM jiHTeparypHOM H3biKe 16-17 bckob. ABTopeepaT KaHmwrcKOH jinccepTauHH. MocKBa 1961.
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nicht. Die „symptomatische" Methode, um die es sich hier handelt, ist ebenfalls darauf angelegt, die erbrachten quantitativen Erkenntnisse systemisch zusammenzufassen sowie Koeffizienten zu verwenden, vgl. ζ. B. den Koeffizienten des Anteils der Substantivgruppenglieder am Satzumfang oder den Koeffizienten der Satzsubordination im Text. Diese Methode hat auch statistischen Charakter, und man könnte sie als „grammatische Statistik" bezeichnen. „Statistik" wird neuerdings in der linguistischen Forschung oft anders gedeutet, und zwar beschränkt man den Statistik-Begriff auf die mathematische Statistik als solche und deren rigorose Anwendung zur Errechnung von Wahrscheinlichkeitsgraden sprachlicher Gesetzmäßigkeiten. Dabei hält man mitunter auch spezifische Formen der Darstellung quantitativer Informationen, insbesondere die Form des Diagramms, fur verbindlich. Nur solche Wege und Mittel der quantitativen Sprachanalyse werden heute von vielen als zeitgemäß und beachtenswert angesehen. Unserer Meinung nach ist diese Wertschätzung abzulehnen. Wenn die Hinwendung zum Wahrscheinlichkeitskalkül in bestimmten Fällen bei der Analyse historisch-grammatischer Sachverhalte auch zweckdienlich ist, nämlich bei der Analyse und Beschreibung mehr oder weniger geradlinig verlaufender Veränderungen, so kann dadurch die Zweckdienlichkeit wohl etwas „altmodischer" quantitativer Verfahrensweisen nicht in Frage gestellt werden. Alles hängt von der Beschaffenheit des jeweiligen Untersuchungsobjektes ab. Die moderne höhere Mathematik mit all ihrem Potential macht die Anwendung elementarster arithmetischer Verfahren keineswegs unnötig - da, wo sie gegenstandsgerecht sind. Wenn man zwei Hefte zum Preis von 10 Pfennig pro Heft kaufen will, greift man nicht zum Rechenschieber, sondern es genügt das Einmaleins. Man kann nicht sagen, daß die Art qualitativ-quantitativer Analyse grammatischer Phänomene in ihrem geschichtlichen Wandel, fur die wir uns einsetzen, ebenso leicht zu handhaben ist wie die Zwei-mal-zweiRechnung; wesentlich ist immerhin die Daseinsberechtigung jener wie dieser. Die Entwicklung führt von qualitativen Erkenntnisvorstößen, in die Quantitatives nur implizite hineinspielt, über eine Stufe der Forschung, bei der quantitative Erhebungen vorgenommen werden, jedoch sprachtheoretisch noch nicht in ihrer systemischen Notwendigkeit erkannt sind, zur qualitativquantitativen Verfahrensweise, die in der allgemeinen Sprachtheorie ihre Begründung findet und in deren Rahmen die quantitative Analyse einen systematischen Charakter erhält, ohne daß man Gefahr liefe, das Quantitative vom Qualitativen zu isolieren und somit das Gesetzmäßige an Veränderungen der Quantitäten zu verkennen. Ein weiterer Schritt, die Einführung einer rein quantitativen Methodik, die von nur implizite vorausgesetzten qualitativen Anhaltspunkten ausgeht, ist nicht nur möglich, sondern sogar angezeigt und in bedeutendem Maße bereits verwirklicht. Ausschlaggebend für die Erkenntnis der quantitativen Seite des Sprachbaus ist allerdings die qualitativ-quantitative Sprachanalyse, die „grammatische Statistik" mit ihrem „symptomatischen" Kern. Die mathematische und die „grammatische" Statistik bilden keinen absoluten Gegensatz, denn sie unterscheiden sich voneinander vor allem darin, inwieweit sie bei der quantitativen Analyse sprachlicher Erscheinungen qualita-
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tive Momente unmittelbar berücksichtigen, sowie darin, inwieweit die quantitativen Variationen dem Zufall zugeschrieben werden. Diese Unterschiede haben letztendlich einen graduellen Charakter, der Übergangsformen zuläßt. Die Arbeit eines Forschers, der sich selbst vor einer mathematisch-statistischen Aufgabe sieht, fuhrt manchmal in unmittelbare Nähe unserer „Symptomatik". Es leuchtet beispielsweise nicht ein, warum der Beitrag von Sannikov unter dem Titel „Die Stellung des erweiterten Attributs in der russischen Phrase vor und nach dem Bezugswort" in der Zeitschrift „Voprosy jazykoznanija" [„Fragen der Sprachwissenschaft"] 7 der Sparte „Mathematische und angewandte Linguistik" zugewiesen worden ist. In diesem Artikel werden die Bedingungen behandelt, unter denen ein erweitertes Partizipialattribut in der Prä- bzw. Postposition zu stehen kommt. Der Artikel von Sannikov gibt ebensoviel - eigentlich: ebensowenig - Anlaß, ihn zur „mathematischen Linguistik" zu rechnen, wie zum Beispiel die von uns bereits erwähnten Arbeiten von Kozman und Trojanskaja, die dem Boden der traditionellen Grammatik in ihrer organischen Entwicklung entsprungen sind. Daß der Artikel von Sannikov von der Zeitschrift falsch eingestuft wurde, ist unserer Meinung nach einerseits aus der Geringschätzung der traditionellen Grammatik zu erklären, die sich bei einigen Anhängern neuer „echt wissenschaftlicher" Anschauungen und Methoden bemerkbar macht, andererseits tun sich darin Unklarheit und Verwechslung der Begriffe im Bereich der quantitativen Sprachanalyse kund. Die Klärung dieser Begriffe gehört in den Kreis sprachtheoretischer Aufgaben, und die betreffende Aufgabe kann nur unter der Bedingung bewältigt werden, daß bei und zu ihrer Lösung der Eigenart des Untersuchungsgegenstandes Sprache sorgfältigst Rechnung getragen wird. Aus der Sicht einer weiterfuhrenden Perspektive tritt als wesentlichste und als schwierigste - die „langfristige" Aufgabe auf, Methoden auszuarbeiten, mit deren Hilfe die qualitativ-quantitativen Korrelationen zwischen den „Massen" und dem jeweiligen „spezifischen Gewicht" von Elementen des paradigmatischen Systems der Sprache erforscht werden können. Dabei fallen insbesondere Kriterien wie der frontale Charakter eines Merkmals, seine notwendige Bindung an ein anderes bzw. andere Merkmale ins Gewicht. Da, wo die Sprachwissenschaft auf Zusammenhänge und Wechselwirkungen von Elementen des Sprachbaus trifft, die qualitativ auseinanderstrebenden Dimensionen angehören, auf Wechselwirkungen ferner, die sich in jeweiligen spezifischen Maßen und Graden manifestieren, muß die Notwendigkeit erkannt werden, einen für die Einfuhrung entsprechender adäquater Erkenntnismittel offenen Weg einzuschlagen. Indem die Sprachwissenschaft sich in ihren besonderen Stoff vertieft, kann sie nicht nur sich selbst, sondern auch andere Wissenschaften um wichtige neue methodologische Einsichten bereichern.
7
C a H H H K O B , B.3.: Mecro pacnpocTpaHeHHoro onpeaejieHHH no OTHomeHwo κ 0npe,aejuieM0My cjioey β pyccKoft φ ρ ω ε . In: Bonpocbi snbiK03HaHHH. 1963, Λ» 1.
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Die Methodik grammatischer Analyse in der „traditionellen Grammatik" In den letzten Jahrzehnten stehen die Fragen der Methodik wissenschaftlicher Anayse grammatischen Materials im Mittelpunkt des Interesses der Sprachforscher. Die Ausarbeitung dieser Methodik droht für die Grammatiker zum Selbstzweck zu werden. Konsequenz, einwandfreie Begründung, Exaktheit sind die Hauptforderungen, die an die neue Methodik gestellt werden. Der „traditionellen Grammatik" (diesen Ausdruck gebrauchen wir in der Bedeutung, die man ihm jetzt meist zuschreibt, nämlich als Bezeichnung der „vorstrukturalistischen" Grammatik) wird vor allem vorgeworfen, daß ihre Untersuchungsmethodik ungenau, inkonsequent, überhaupt unwissenschaftlich sei, daß sie bloß auf der Intuition des Forschers beruhe. Ich bin weit davon entfernt, alles Neue, was man in letzter Zeit im Bereich grammatischer Analyseverfahren ausgearbeitet hat, pauschal abzulehnen. Beginnen wir damit, daß die neuen und neuesten Methoden auf der einen Seite und die Methoden der „traditionellen Grammatik" auf der anderen Seite durch keine unüberbrückbare Kluft voneinander getrennt sind. Aber die Fragestellung nach einer radikal erneuerten Methodik grammatischer Analyse in der modernen Linguistik scheint mir strittig, denn jede Methodik basiert auf einer bestimmten allgemein-theoretischen Auffassung des grammatischen Systems der Sprache; die strukturalistische Auffassung ist jedoch der Sprachwirklichkeit bei weitem nicht adäquat. Die saussureanische Linguistik erhebt Anspruch auf einwandfreie Exaktheit, dabei aber hausiert sie mit einer Reihe von Mythen, und zu solchen Mythen gehört die Vorstellung, daß in der „traditionellen Sprachwissenschaft" die Quelle aller Erkenntnis und Qualifizierung grammatischer Phänomene die Intuition ist. Obwohl man dies neuerdings immer wieder wie eine Selbstverständlichkeit wiederholt, bedeutet die Auffassung vom Intuitionismus der „traditionellen Grammatik" nichts weiter als eine laienhafte Profanierung des Begriffs. 1 Die Grundeigenschaft der Intuition besteht in unmittelbarer Wahrnehmung, sinnlicher oder intellektueller. Intuitive Erkenntnis ist Erkenntnis durch unvermittelte Wahrnehmung, für den Erkennenden ist das intuitiv Erkannte wahr und unwiderlegbar, und dies entspringt dem naturgegebenen Gefühl, daß die wahrgenommenen Züge des Objekts dessen innerem Wesen entsprechen, nichts anderes darstellen können. Wichtig ist, daß obwohl für die intuitive Erkenntnis in der Tat irgendwelche Elemente bereits vorhandener Erfahrung, realer menschlicher Praxis unerläßlich sind, der Erkennende sich aber im Akt intuitiver Erkenntnis der Rolle der eigenen vorausgegangenen Praxis nicht bewußt wird. Diese würde in den Erkenntnisakt Ursächlichkeit und Be1
Vgl. die Deutung des Intuitions-Begriffs in: A c μ y c, Β.Φ.: npoö/icMa ηητ>ήι;ηη β φΗϋοεοφΗΗ η MaTeMaTHKe. MocKea 1963. S. 3, 6.
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weisfiihrung hineinbringen, was in direktem Gegensatz zur intuitiven Erkenntnis-,,Methode" steht. Eine ganz andere Verfahrensweise charakterisiert den Erkenntnisvorgang in der „traditionellen Grammatik". Die angesammelte Erfahrung, die vorausgegangene Praxis werden hier keineswegs beiseite gelassen, sie spielen im Gegenteil die entscheidende Rolle. Und das ist keinem Zufall zuzuschreiben, wie es ebenfalls nicht zufällig ist, daß dieser Umstand lange Zeit theoretisch nicht reflektiert wurde. Die Sprache selbst ist eng mit dem praktischen Leben des Menschen verflochten, begreift seine Praxis - im weitesten Sinne des Wortes - in sich, so daß Verständnis und Beschreibung der Sprache von Anfang an nur auf der Grundlage dieser Praxis erfolgen konnte, umsomehr, als das Verständnis der Sprache in älterer Zeit vor allem gerade der praktischen Aufgabe der Normierung bestimmter Formen des Sprachgebrauchs diente. Die organische Verbindung von Sprache und Praxis machte es unvermeidlich, daß die „traditionelle Grammatik" immer von der Praxis, und das heißt von der realen massenhaften sprachlichen Kommunikation, ausging, wenn es sich um die Bestimmung von Formen handelte, die das grammatische System der Sprache ausmachen, um die Bestimmung des Netzes von wechselseitigen Korrelationen dieser Formen, um die Bestimmung ihrer verallgemeinerten Bedeutungen. Die „traditionelle Grammatik" hatte wirklich empirischen Charakter, aber dieser Empirismus entsprang nicht der Intuition, sondern praktischer Erfahrung. Auch daraus, daß bei der Analyse und Beschreibung neuerer Sprachen die Anwendung von Begriffen, Kategorien, Termini lange üblich war, die der lateinischen Grammatik entlehnt wurden, ergibt sich kein Grund, von intuitiver Vorgehensweise zu sprechen. Wir sehen hier Lehnübersetzung und Schematismus, aber die Intuition hat damit nichts zu tun. Bei dieser Vorgehensweise wurde das bereits vorliegende Ergebnis einer Erkenntnis verwertet, die nicht der Intuition, sondern einer bestimmten Auffassung des grammatischen Sprachbaus entsprang, der ihrerseits linguistische Erfahrung, kommunikative Praxis in lateinischer Sprache zugrunde lag. Nicht selten wurde von solchen Kategorienschemata auch bei der Hinwendung der traditionellen Grammatik zu „exotischen", der Wissenschaft noch nicht bekannten Sprachen Gebrauch gemacht. Aber auch in diesem Fall bildete die reale Praxis der Sprechtätigkeit letzten Endes den Ausgangspunkt der Untersuchung, so daß die Entwicklung der Wege und Mittel grammatischer Analyse im allgemeinen in erkenntnistheoretisch richtiger Bahn verlief. Im Gegensatz zu der verbreiteten Meinung wird dem durch die „Fesseln der lateinischen Grammatik" aufgezwungenen Schematismus schon früh entgegengearbeitet, und die eklatantesten Erscheinungsformen dieses Schematismus werden nach und nach beseitigt (Kenntnis des Altgriechischen, dessen grammatischem Bau bestimmte Züge eigen sind, die diese Sprache vom Latein unterscheiden und gleichzeitig neueren europäischen Sprachen nahebringen, kann dazu beigetragen haben). Jedenfalls kennen schon die deutschen Grammatiker des 16. Jahrhunderts den Artikel, bis zum 18. Jahrhundert wird eine solche direkte Übertragung aus der lateinischen Grammatik in die deutsche grammatische Nomenklatur wie der Vokativus aufgegeben. Bereits in
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der fundamentalen Grammatik von Schottel (1663) werden einige spezifische Eigenschaften des Deutschen herausgestrichen, die das Deutsche von anderen Sprachen, darunter vom Latein, unterscheiden; in erster Linie ist dies die überaus mächtige Verbreitung der Zusammensetzung. 2 Eine gewisse Abhängigkeit von der lateinischen Grammatik besteht bis heute, aber sie betrifft hauptsächlich lediglich die Terminologie. Kennzeichnend ist, daß die Grammatiker, die in der ersten Hälfte und um die Mitte des 20. Jahrhunderts ihre Ansichten veröffentlichten und die das Ziel verfolgten, auf eine mit der Tradition brechende Weise den grammatischen Bau des Deutschen zu beschreiben und eine Grammatiktheorie auszuarbeiten, die den tatsächlichen Verhältnissen im Deutschen adäquat wäre (die „arteigene" Grammatik von Pfleiderer und von Boost, etwas später die Arbeiten von Weisgerber mit analoger Zielsetzung und der breitangelegte Versuch von Glinz3), im Gunde genommen zu den seit eh und je bestehenden grammatischen Hauptkategorien gekommen sind. Auch die beste der strukturalistisch orientierten Grammatiken des Englischen, nämlich die Grammatik von Ch.Fries,4 kommt zu Untersuchungsergebnissen, die den Ergebnissen traditioneller grammatischer Untersuchungen sehr nahe stehen. Es besteht also kein Grund für die Ansicht, die traditionelle Grammatiktheorie passe nicht zur Eigenart des grammatischen Baus moderner europäischer Sprachen. Was diese Grammatiktheorie ursprünglich aus dem antiken grammatischen Begriffsgerüst unkritisch übernommen hatte, wurde nach und nach überwunden; dies muß man im Zusammenhang damit sehen, daß die Grammatiktheorie in ihrer Entwicklung sich immer auf die eine oder andere Weise an der konkreten Sprachwirklichkeit, wie diese in zahllosen Sprechvorgängen zutage tritt, orientierte. Obwohl die Grammatiktheorie dabei mitunter vornehmlich auf veraltetes bzw. veraltendes Schrifttum ausgerichtet war, mußte sie ständig den Besonderheiten der Einzelsprache, mit der sie sich beschäftigte, Rechnung tragen. Zur Analyse des einzelsprachlichen Sprachstoffes brauchte sie unbedingt eine Reihe spezifischer methodischer Zugriffe. Diese mußte man ausarbeiten, und sie wurden und werden in der Tat ausgearbeitet; allerdings werden sie selten explizite formuliert und begründet - dies dadurch ermöglicht, daß der Forscher aufs intimste mit der Sprache, die er untersucht, vertraut ist und die Vorgehensweise, von der er Gebrauch macht, ihm als etwas ganz Natürliches vorkommt, da sie vom sprachlichen Material selbst so unmittelbar vorgegeben erscheint. Wenden wir uns nun einigen der Zugriffe zu, die längst zum methodischen Arsenal der „traditionellen Grammatik" gehören.
2
3
4
S c h o t t e l i u s , J.G.: Ausfuhrliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache. Braunschweig 1663. S. 65, 75-103. Vgl. z.B. B o o s t , Κ.: Arteigene Sprachlehre. Breslau 1938; W e i s g e r b e r , L.: Vom Weltbild der deutschen Sprache. 1. Halbband: Die inhaltbezogene Grammatik. 2. Aufl. Düsseldorf 1953; G l i n z , H.: Die innere Form des Deutschen. Bern 1952. F r i e s , Ch.: The structure of English. An introduction to the construction of english sentences. New York 1952.
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Die Gliederung des grammatischen Materials, d. h. die Ausgrenzung von Stämmen, Präfixen und Suffixen, Flexionsendungen, Wortformen, Wortgruppen, Sätzen, erfolgt im Regelfall durch Feststellung stabiler Korrelationen zwischen Elementen des Laut-(bzw. Buchstaben-)Bestandes von Abschnitten des Redestroms und Elementen seines semantischen Inhalts, wobei die Ergebnisse der im gegebenen Fall vollzogenen Zusammenstellungen mit Einheiten verglichen werden, die sich im Ergebnis vorausgegangener Untersuchungserfahrungen als bereits deutlich fixiert darbieten. Beim Aufkommen grammatischer Beschreibungen neuer europäischer Sprachen war die Zusammenstellung dessen, was man durch unmittelbare Gliederung des Redestroms (durch „horizontale" Analyse) erbrachte, mit den vordem erarbeiteten Kategorien des paradigmatischen Sprachsystems (der „vertikalen" Sprachansicht) unabdingbar, und die entscheidende Rolle spielten dabei die paradigmatischen Erkenntnisse, nicht zuletzt aus dem Grunde, daß sie dem Grammatiker gleichsam vorgegeben waren. Anfänglich entsprang diese Vorgegebenheit direkt der Grammatik der lateinischen Sprache. Dies bedeutet aber durchaus nicht, daß das Kategoriensystem der lateinischen Grammatik auf den grammatischen Bau einzelner europäischer Sprachen einfach als Ganzes und in unveränderter Form übertragen, ihm aufgezwungen wurde. Im Gegenteil, es fand meist ein kompliziertes Zusammenspiel des vorgefaßten Wissens um die grammatischen Kategorien und der Gegebenheiten des momentan betrachteten Textabschnittes statt. Die Diskrepanzen, die man dabei feststellen mußte, führten zu Korrekturen des Paradigmas, das korrigierte Paradigma wurde bei der Analyse neuer Textabschnitte, die andere Grammatiker vornahmen, notfalls wiederum korrigiert, und so ging es weiter. Allein die Tatsache an sich, daß den Grammatikern von Anfang an das methodische Mittel der Aufgliederung von Textabschnitten in Elemente, die sich im Text durch bestimmte Form-Inhalt-Beziehungen heraushoben (insbesondere der groben Gliederung des Wortes in Stamm und Endung), zur Verfügung stand, machte das Fortschreiten adäquater Erkenntnis der Besonderheiten konkreter Einzelsprachen nicht nur möglich, sondern sogar unvermeidlich. Konkretes Sprachmaterial wird für die Aufstellung zusammenhängender Reihen sprachlicher Formen genutzt, die die Basis für die Beschreibung des realen grammatischen Sprachbaus ergeben (was natürlich die Möglichkeit von Fehlern und Widersprüchen nicht ausschließt). Interessante Beispiele solcher Reihen kann man in dem bereits erwähnten Werk von Schottel finden. Er vereinigt in einer Liste - in wenig geordneter Weise - die Wortformen, die mit der Wurzel reich zusammenhängen (einige von diesen Formen sind offenbar gekünstelt); dabei werden die drei Homonyme zusammengeworfen: das Reich (als Staatsform), reich ('vermögend') und reich-en ('zum Nehmen hinhalten'). Als „Metasprache" benutzt Schottel zur Deutung der Vokabeln Latein. Der Anfang dieser Reihe sieht folgendermaßen aus: 5 Reich ich Reich e
5
Schottelius,
dives, Regnum, porrige porrigo
J . G.: Op. cit. S. 68-69
Die Methodik grammatischer Analyse in der „ traditionellen Grammatik " im Reich die Reich Reich Reich Reich Reich
e e en es er est
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in regno dives in faeminino diviti Regni, dives in neutro Ditior, porrector porrigis
Diese Reihe umfaßt bei Schottel insgesamt 29 Wortformen. Bei einigen davon gibt er zwei bis drei diverse grammatische Bedeutungen an. Obwohl die Liste der Formen, die zu den von Schottel gewählten Wörtern gehören, nicht vollständig ist (es fehlt zum Beispiel das Partizip II gereicht) und obwohl einige von diesen Formen phantastisch wirken, demonstriert die Liste zusammen mit bestimmten Zügen der Struktur von Wortformen eine Methode morphologischer Analyse, die einerseits eine erschöpfende Darstellung des grammatschen Sachverhalts anstrebt und andererseits das Wort aufgrund formaler, morphologischer Gemeinsamkeiten in lautliche Komponenten gliedert, die mit der einen oder anderen Bedeutung verbunden werden können. Bemerkenswert ist auch, daß Schottel, um diese Bedeutungen festzustellen, die syntaktischen Zusammenhänge berücksichtigt, nämlich die Verbindung der beobachteten Wortform mit dem pronominalen Subjektsnominativ, mit dem Artikel, mit einer Präposition, und er differenziert auf diese Weise die Homonyme. Eine solche Verfahrensweise begünstigte - trotz Fehlern und Lücken bei ihrer Anwendung - in hohem Maße die Revision jeweils vorhandener kategorial-grammatischer Schematismen. Schottel ging in seiner Analyse von der Lautform aus. Ein klares Zeugnis dafür liefert die zitierte Liste, in der er drei Wörter zusammenführt, die - aus synchroner Sicht - nur ihre homonyme Lautform miteinander verbindet, obwohl er im allgemeinen morphologische Wortklassen auf der Grundlage sowohl formaler (darunter syntaktischer) wie auch semantischer Merkmale deutlich genug unterscheidet. Das formale und das semantische Moment werden hier aufeinander abgestimmt und als eine Einheit verstanden, was für die „traditionelle Grammatik" überhaupt charakteristisch ist; dies schließt nicht aus, daß verschiedene Vertreter dieser Grammatik die beiden Seiten grammatischer Einheiten unterschiedlich gewichten. Was die semantische Deutung (die Bedeutungsbestimmung) von Abschnitten des Redestroms anbetrifft, so gab in der „traditionellen Grammatik" auch in dieser Hinsicht keineswegs die Intuition den Ausschlag. Wenn es sich um lebendige Sprachen handelte, gelangte man zu Bedeutungsbestimmungen aufgrund persönlicher Erfahrungen des Forschers, die er aus eigener kommunikativer Tätigkeit schöpfte, auch aufgrund des Wissens anderer Forscher, die ihre sprachlichen Erfahrungen in Grammatiken, Wörterbüchern u. dgl. niedergelegt hatten oder sie durch persönliche Kontakte vermittelten, wobei die vorgefundenen Erfahrungen durch die persönlichen Erfahrungen des Grammatikers angereichert, präzisiert, korrigiert usw. wurden. Wenn es um tote Sprachen ging, gelang die Bedeutungsbestimmung auf dem Wege der Zusammenstellung von Fakten einer toten Sprache mit Fakten einer lebendigen Sprache; bei der Begegnung mit einer vorher unbekannten toten Sprache mußte man
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nach Denkmälern dieser Sprache suchen, die es ermöglichten, sie mit schon bekannten Sprachen zu vergleichen, die man - wiederum dank der Beobachtung und Analyse kommunikativer Vorgänge - gut kannte. Also liegen der Gliederung des Redestroms und der Semantisierung seiner Komponenten letzten Endes, direkt oder indirekt, auf der sprachlichen Kommunikation basierende Erfahrungen zugrunde. Hier ein Beispiel. In der deutschen Grammatik wird eine verbale Form als „Präsens" qualifiziert und als Mittel zur Wiedergabe einer in der Gegenwart stattfindenden Handlung verstanden. Dies ist keinesfalls das Resultat einerseits der Lehnübersetzung eines Elementes der lateinischen Grammatik und andererseits der intuitiven Erkenntnis des Zusammenhangs der Verbform mit der momentan verlaufenden Handlung. Ganz unabhängig davon, wie und wann die betreffende FormFunktion-Beziehung entstanden ist, wird diese Beziehung immerfort durch die Sprechtätigkeit bekräftigt, die unentwegt bestätigt, daß die präsentische Form dem Bedürfnis entspricht, eine Handlung zu bezeichnen, die zeitlich mit dem Redemoment zusammenfällt oder diesen Moment - wie auch immer umfaßt. Wir können schlußfolgern, daß die traditionelle Vorgehensweise zur Bestimmung grammatischer Kategorien und Formen auf dem Herausheben von Teilen des Redestroms beruhte, die sich als mit dem einen oder anderen semantischen Gehalt verbunden darstellten, und auf der Identifizierung dieser Teile mit analogen Elementen der gleichen oder anderweitig herangezogener Texte. Auf diese Weise erfolgten die syntagmatische Ausgrenzung und die paradigmatische Bestimmung der Sprachbaueinheiten. Denn schon die Tatsache an sich, daß bereits die ältesten Grammatiken mit Begriffen wie Wurzel und Endung operierten und Paradigmen aufstellten, was ohne Anwendung darauf ausgerichteter methodischer Zugriffe überhaupt unmöglich gewesen wäre, beweist, daß eine grammatische Sprachbeschreibung ohne Verwendung solcher Zugriffe grundsätzlich undenkbar ist. Schon bei den ersten Regungen des antiken grammatischen Gedankens machen sich bestimmte konkrete methodische Zugriffe bemerkbar. Glinz analysiert die grammatischen Ansichten, die Plato im Dialog „Die Sophisten" entwickelt, und erkennt zu Recht in seinen Ausführungen und an Beispielen, die er anführt, die Anfänge des Verfahrens der Substitution (der Ersatzprobe). In der Tat können die Reihen von Wortformen, mit denen Plato die Kategorien der Nomina und der Verben belegt, nämlich die griechischen Wörter für 'Löwe', 'Hirsch', 'Pferd' und 'geht', 'läuft', 'schläft', beliebig kreuzweise miteinander verbunden werden. 6 Eine ebenso systematische Zusammenstellung von Formreihen in Verbindung mit ihren verallgemeinerten grammatischen Bedeutungen stellt Glinz bei Protagoras fest, der die Unterschiede des grammatischen Genus im Griechischen aufzeigte, und in einigen anderen Fällen. Da die römischen Gelehrten und nach ihnen die mittelalterliche sowie die spätere europäische Grammatiktheorie letztendlich von den auf den „Proben" 6
G I i η ζ , Η.: Die Begründung der abendländischen Grammatik durch die Griechen und ihr Verhältnis zur modernen Sprachwissenschaft. In: Wirkendes Wort. Bd. 7, 1956/57. S. 131-132.
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der alten Griechen basierenden paradigmatischen Klassifikationen ausgingen, steht die gesamte Entwicklung der Grammatik im Zeichen dieser experimentell-empirischen Herangehensweise an den grammatischen Sprachbau. Glinz meint, daß die schöpferische Verwertung des altgriechischen sprachwissenschaftlichen Erbes erst im 20. Jahrhundert beginnt und daß dies das Verdienst der Grammatiker ist, die mit der „traditionellen Grammatik" brechen. 7 Aber in Wirklichkeit verflocht sich die oben umrissene experimentell-empirische Vorgehensweise mit der „traditionellen Grammatik" nicht nur in Form schematisierender Lehnübersetzung fertiger Klassifikationen, sondern auch in dem Sinne, daß bei späterer Herausbildung analoger, mitunter aber auch nicht ganz analoger, Klassifikationen, Paradigmen u. dgl. die methodischen Zugriffe unvermeidlich angewendet werden mußten, die schon die altgriechischen grammatischen Studien erkennen lassen. Gegen Ende des 18. und im Anfang des 19. Jahrhunderts wurden in die grammatische Lehre die Begriffe der Satzglieder eingeführt, und das bedeutete eine grundsätzliche Erweiterung des Arsenals grammatischer Untersuchungsmethoden. Denn man ging nun dazu über, die Gemeinsamkeiten, auf deren Grundlage sich Reihen gleichartiger grammatischer Phänomene abzeichneten, nicht in Elementen morphologischer Formen, sondern in der Gleichheit funktionaler, inhaltlicher Rollen morphologisch unterschiedlicher Satzkomponenten zu suchen. Viele Grammatiker des 19. und 20. Jahrhunderts strebten bewußt die Ausarbeitung möglichst exakter Methoden grammatischer Analyse an. In der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft erreicht die morphologische Wortanalyse (vgl. die Lehre vom Wortstamm, von stammbildenden Morphemen usw.) einen hohen Entwicklungsstand. Bei aller Aufmerksamkeit, die den Urformen galt, und trotz der Tendenz zum Projizieren der betreffenden Erkenntnisse in spätere Sprachzustände hatten die im Komparativismus ausgearbeiteten präzisen Techniken morphologischer Analyse nicht zu unterschätzende positive Folgen fiir die Entwicklung der Sprachwissenschaft. Es unterliegt dabei keinem Zweifel, daß die Methode der Aufstellung von Wortreihen, die formale Gemeinsamkeiten aufweisen und Substitutionen (sei es mit Berücksichtigung der Bedeutungen oder sei es nur auf formaler Basis) zulassen, dieser ganzen methodischen Technologie zugrunde liegt. Nicht zufällig erarbeitete beispielsweise Schleicher ein scharf profiliertes System von Schemen diverser Wortstrukturen (heutzutage werden sie terminologisch als „Modelle" bezeichnet).8 Die formale Reihenbildung, verbunden mit dem einen oder anderen Maß an Substitution, ist nicht das einzige Verfahren, von dem die „traditionelle Grammatik" Gebrauch macht. Wenden wir uns zwei weiteren Verfahren zu, die zeitgenössische Grammatiker häufig anwenden (und die sie nicht selten fiir ganz neue Verfahren ausgeben). Zum ersten wurden grammatische Formen in der „traditionellen Grammatik" schon längst unter dem Aspekt ihrer wechselseitigen Umkehrbarkeit, 7 8
G l i n z , H.: Ibid. S. 134-135. S c h l e i c h e r , Α.: Zur Morphologie der Sprache. Sankt Petersburg 1859. S. 4fT.
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ihrer Transformierbarkeit, betrachtet. Darauf beruht beispielsweise die alte Auffassung des Passivs als „umgekehrten" Aktivs, eine Auffassung, die neuerdings heftig bestritten wird - aus historisch-vergleichender Sicht, da sich das Passiv nicht aus dem Aktiv herleitet, sondern ganz anderen Ursprungs ist. Zum zweiten wurde in der „traditionellen Grammatik" ebenfalls seit langem das experimentelle Verfahren des Weglassens nicht notwendiger Komponenten syntaktischer Gebilde verwendet, das zur Feststellung des minimal notwendigen strukturellen Bestandes syntaktischer Einheiten diente.9 Ohne dieses Verfahren wäre zum Beispiel der Begriff des „nackten Satzes" undenkbar, dessen Sinn darin besteht, daß anhand konkreter kommunikativer Erfahrung die Satzgestalt bestimmt wird, die jenes Minimum an Komponenten enthält, das den Satz ohne Unterstützung von seiten des Kontextes bzw. der Sprechsituation zu einer strukturell abgeschlossenen syntaktischen Einheit macht. Es sei auch betont, daß der Einführung des Begriffs der grammatischen Transformation das traditionelle Experimentieren mit grammatischen Strukturen vorausgeht: Nur aus zahlreichen Proben kann man auf die prinzipielle wechselseitige Transformierbarkeit zweier grammatischer Konstruktionen schließen. Hinzu kommt, daß der Bestand formaler Reihen mit gemeinsamen inhaltlichen Merkmalen der experimentellen Überprüfung der angenommenen Bedeutung jedes Elementes der betreffenden Reihen durch seine Verwendung in kommunikativen Akten bedarf. Die „traditionelle Grammatik" bediente sich des grammatischen Experimentes der traditionellen Untersuchungsmethodik. Auf keiner Stufe ihrer Entwicklung beschränkte sich die „traditionelle Grammatik" auf eine der oben genannten Methoden. Charakteristisch war für diese Richtung grammatischer Analyse immer das Kombinieren einer Reihe methodischer Verfahren. Dies darf indessen keineswegs als Eklektizismus angeprangert werden, denn diese Arbeitsweise entspricht dem grundsätzlichen polydimensionalen Charakter grammatischer Phänomene. 10 Außerdem stehen einige dieser Verfahren im Verhältnis gegenseitiger Ergänzung zueinander. So stellt beispielsweise das grammatische Experiment eines der Elemente des Verfahrens der Weglassung nichtnotwendiger Komponenten syntaktischer Gebilde dar. Die Verwendung einer Vielzahl von Untersuchungsverfahren bei der grammatischen Analyse ist überhaupt fur grammatische Schulen typisch, die eine möglichst vollständige, vielseitige Beleuchtung des Untersuchungsgegenstandes anstreben. Bezeichnenderweise macht sich neuerdings eine Entwicklung im amerikanischen Deskriptivismus bemerkbar, in der sich der Übergang von der ausschließlichen Verwendung einer Methode, die mit dem
9
10
In neueren Grammatiken des Deutschen wird dieses Verfahren „Abstrichmethode" genannt; vgl. W e i s g e r b e r , L.: Vom Weltbild der deutschen Sprache. 2. Halbband: Die sprachliche Erschließung der Welt. 2. Aufl. Düsseldorf 1954. S. 178; Der Große Duden 4. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Hg. von P. G r e b e . Mannheim 1959. S. 434. Vgl. Α λ μ ο η η , Β.Γ.: Ο MHoroacneKTHO-^OMHHaHTHOM iioäxo/ic κ iparnMaTHHecKOMy CTpoio. In: Bonpocu H3biK03HaHHH, 1961, Λ® 2 [s. in diesem Band S. 249ff.].
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Begriff der unmittelbaren Konstituenten arbeitet (diese Methode gehört in ihrem Kern, nebenbei gesagt, auch zum methodischen Arsenal der „traditionellen Grammatik"), auch zu anderen Methoden abzeichnet, insbesondere zur sogenannten transformationellen Methode (von deren altem Gebrauch in der „traditionellen Grammatik" vorhin die Rede war). Das oben Ausgeführte soll nicht dahin gedeutet werden, daß die traditionelle Methodik grammatischer Analyse seit langem so vollkommen ausgearbeitet ist, daß Air sie keine Aussicht auf Weiterentwicklung und Erneuerung besteht. Ihre Weiterentwicklung ist im Gegenteil nicht nur möglich, sondern sogar notwendig. Aber diese Entwicklung wird nur unter der Bedingung zweckentsprechend und produktiv, daß sie sich nicht so darstellt, als beginne sie ab ovo, von einer Tabula rasa, nachdem die im Laufe von Jahrhunderten angesammelte Erfahrung wissenschaftlicher Grammatik für null und nichtig erklärt wurde - mit der Begründung, daß die Grammatik bisher angeblich allein mit der unwissenschaftlichen Methode intuitiver Erkenntnis operiert habe. Die Entwicklung muß auf der facettenreichen Methodik der „traditionellen Grammatik" aufbauen, die sich letzten Endes auf die Gegebenheiten der sprachlichen Kommunikation, auf das Erfahrungswissen um das sprachliche Material gründet. Es handelt sich also nicht darum, überlebte und überholte grammatische Untersuchungsverfahren zu konservieren, sondern darum, alles Nutzbringende, das die traditionelle grammatische Verfahrensweise in sich birgt, bei deren Weiterentwicklung zu verwerten, sowie darum, eine solche organische Entwicklung nicht durch „Neuentdeckungen" von Verfahren durcheinanderzubringen, die in der Grammatikforschung seit langem eine wichtige Rolle spielen. Was man die „traditionelle Grammatik" (oder einfach „Grammatik") nennt, ist kein Fossil, sondern eine höchst lebendige, sich ständig erneuernde, zugleich aber ihr bewährtes Erbgut keinesfalls aufgebende sprachwissenschaftliche Lehre.
1968
Die „Feld"-Natur der Wortarten (am Beispiel der Numeralien) Die Grammatikforschung hat schon längst erwiesen, daß es unmöglich ist, eine Klassifikation der Wortarten auszuarbeiten, die das ganze erfaßbare sprachliche Material umspannt, dem Wesen dieses Materials entspricht und dabei auf einem einzigen Kriterium beruhen würde. Hinweise darauf finden wir zum Beispiel im bekannten Aufsatz von Scerba „Über die Wortarten im Russischen", in dem er sich u. a. auf einen im Jahre 1923 veröffentlichten Artikel von Durnovo beruft. 1 Das hat seinen Grund. Er besteht darin, daß sich die Spezifik der Wörter bzw. der Wortformen als morphologischer Einheiten nicht in einem Merkmal erschöpft, sondern sie basiert auf einer Reihe von Merkmalen (Eigenschaften), wobei diese Merkmale nicht gleichmäßig auf die Klassen von Wörtern und/oder Wortformen verteilt sind. Während sich eine bestimmte Menge von Wörtern aufgrund eines gemeinsamen Merkmals zu einer in betreffender Hinsicht homogenen Klasse zusammenschließt, kann ein anderes Merkmal nur einem Teil dieser Menge, dafür aber auch einer Gruppe von Wörtern zukommen, die außerhalb der auf der Basis des ersten Merkmals konsolidierten Klasse stehen. Das bedeutet aber nicht, daß hier die Suche nach einem Organisationsprinzip, nach einer inhärenten Struktur überhaupt aussichtslos ist. Ganz im Gegenteil: Es liegt, wie ich sie nenne, die „Feldstruktur" vor, die den grammatischen Phänomenen im allgemeinen eigen ist. In der Wortmasse j e der beliebigen Sprache finden sich Mengen von Wörtern, die - jede für sich Komplexe bestimmter Merkmale und keine anderen Merkmale haben. Um eine solche Menge gruppieren sich, gleichsam als deren Peripherie, andere Wortmengen und einzelne Wörter, die nur einen Teil des betreffenden spezifischen Merkmalskomplexes aufweisen, dafür aber auch andere grammatische Merkmale haben können. Derartige lexikalisch-grammatische Wortklassen, die im umrissenen Sinne durch ein Zentrum und eine periphere Zone charakterisiert sind, stellen im Grunde genommen gerade das dar, was man die „Wortarten" nennt. Aber im Wortschatz jeder Sprache kann man eine so große Zahl von auf der Grundlage dieses Strukturierungsprinzips heraushebbaren Klassen von Wörtern unterscheiden, und die Beziehungen zwischen diesen sind oft dermaßen mannigfaltig und kompliziert, daß die Bestimmung hierarchisch dominierender größerer Wortklassen zu einer äußerst schwierigen Aufgabe wird. Problematisch ist u. a. die verhältnismäßige Stärke der Bindungen einzelner, mitunter zahlenmäßig kleiner, Gruppen bzw. Klassen von Wörtern untereinander. Wenn eine bestimmte Gruppe von Wörtern Merkmale hat, von
1
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In:
Pyccicafl penb. Η ο Bas ce-
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H3biK β uiKOJie. 1923, Λ® 4.
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Die „ Feld"-Natur der Wortarten
denen einige diese Gruppe mit einer (größeren) Wortklasse und sonstige mit einer anderen (oder mit mehr als einer anderen) verbinden, stellt sich die unausweichliche Frage, welche dieser Bindungen fester sind, welcher größeren Klasse wir folglich die unter Betrachtung stehende Gruppe von Wörtern zuschlagen müssen. Die Klärung dieser Frage wird durch eine Kombination quantitativer und qualitativer Kriterien erreicht, d. h. unter Berücksichtigung nicht nur der Zahl gemeinsamer Merkmale, die Gruppen (Klassen) von Wörtern eigen sind, bzw. der Zahl von Wörtern oder Wortformen, denen solche Merkmale zukommen, sondern auch des frontalen Charakters des einen oder anderen Merkmals, was seine Notwendigkeit für die eigentliche Existenz der entsprechenden Wortklasse bezeugen kann. Und es kann sich gegebenenfalls herausstellen, daß es in der Sprache eine bestimmte Menge von Wörtern bzw. von Wortformen gibt, die gleichzeitig zum Bestand zweier verschiedener Wortklassen gehören; man kann sie sich schematisch als ein gemeinsames Segment einander überschneidender Kreise vorstellen. Dies ist beispielsweise der Fall mit der sogenannten Kurzform des Adjektivs im Deutschen. 2 In allen Sprachen bestehen vielfach ausgesprochen komplizierte und oft nur schwer durchschaubare Beziehungen zwischen einzelnen Wortklassen, Gruppen und Grüppchen von Wörtern. Wie stark dies eine plausible grammatische Klassifikation des Wortschatzes behindert, ist allgemein bekannt. Die meisten Probleme, die hier entstehen, sind aus der Sicht der Feldstruktur des Wortartensystems überhaupt noch nicht angegangen worden. Gemeinhin handelt es sich dabei um Fälle, die seit eh und j e für die Klassifikationen der Wortarten der Stein des Anstoßes waren und die unterschiedlich interpretiert wurden. Ein charakteristisches Beispiel bieten die Numeralien, die von einigen Forschern als eine eigenständige Wortart und von anderen als ein Sammelsurium von Wortmengen bestimmt werden, die mithin Bestandteile verschiedener Wortarten darstellen und lediglich unter rein semantischem, nicht aber unter grammatischem Aspekt zusammengehören. Deshalb halte ich es für zweckdienlich, ausgehend von der Vorstellung des Wortartensystems als „Feldes", in dem spezifische Kräfte wirksam sind, die Frage nach den Numeralien (am Material der deutschen Sprache) nochmals zu erörtern. Die Analyse solcher schwierigen Grenzfälle kann für die allgemeine Grammatiktheorie von Interesse sein. Von zahlreichen schwierigen semantischen und genetischen Fragen, die die in wissenschaftlichen Schriften vieldiskutierten Beziehungen zwischen den Numeralien und den entsprechenden besonderen Denkformen betreffen, sehe ich dabei ab. Die Zusammengehörigkeit der Numeralien, ihre Sonderstellung gegenüber anderen Wortarten gründet sich durchaus nicht allein auf ihre semantische Eigenart. Die Kardinalzahlen weisen in vielen Sprachen einige morphologische Merkmale auf, die sie von den Substantiven unterscheiden. Dies bezieht 2
Vgl. den Aufsatz „Polydimensionalität und dimensionale Dominanz als Leitfaden der Grammatikforschung" in diesem Band, bes. S. 254-255; s. auch: A d m o n i, W.: Grundlagen der Grammatiktheorie. Aus dem Russischen (1964) übersetzt und mit einem Vorwort von Th.Lewandowski. Heidelberg 1971. § 5. - Hgg.
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sich auf die Formen des Genus, des Kasus und des Numerus. Im Russischen sind die morphologischen Besonderheiten der Kardinalzahlen schärfer ausgeprägt als im Deutschen, und dies ist wohl eine der Ursachen dafür, daß in den Grammatiken des Russischen seit den 30er Jahren die Tendenz vorherrscht, die Numeralien als eine besondere Wortart herauszuheben, während die neuere deutsche Grammatikschreibung dazu tendiert, die Numeralien in anderen Wortarten unterzubringen. Aber die Besonderheiten der Deklination der deutschen Kardinalzahlen, wie geringfügig sie auch erscheinen können, ergeben - zusammen mit den Besonderheiten ihres Gebrauchs - genügenden Grund, diese Wörter als eine eigenständige lexikalisch-grammatische Wortklasse, nämlich als eine der Wortarten des Deutschen, zu betrachten. Die fakultativen pronominalen Flexionsendungen im Genitiv bei den Numeralien zwei und drei sowie die sporadisch auftretenden Flexionsendungen bei allen Kardinalzahlen im Dativ trennen diese Wörter vom Substantiv (vgl. zweier Zeugen Mund), während ihre gewöhnliche Verwendung in den gleichen obliquen Kasus in der endungslosen Stammform (vgl. zum Beispiel die Aussage der zwei Zeugen) sie vom Adjektiv trennt, da die Adjektive in der Stellung des (nicht abgesonderten) Attributs ständig mit Flexionsendungen versehen werden. Ein weiteres Moment ist in Rechnung zu stellen. Die Konsolidierung der Numeralien zu einer eigenen Wortart, deren Bestandteile nicht in anderen Wortarten aufgehen, basiert auf einer spezifischen Eigenschaft der Wortklasse, die man insgesamt als Numeralien bezeichnet. Es handelt sich um eine besondere Beziehung zwischen einzelnen Reihen von Wörtern, die man in den Grammatiken des Deutschen seinerzeit zu den Numeralien rechnete, die aber neuerdings oft entweder ignoriert oder in einer sehr unbestimmten Weise behandelt werden. Ich meine die „Distributiva" des Typs je zwei, je drei usw. wie auch zu zwei (zu zweit) u. dgl., die die Verteilung einer Menge auf Untermengen wiedergeben, femer die Wörter des Typs erstens, zweitens, drittens usw., die im Auftakt syntaktischer Abschnitte auftreten und deren logisch geordnete Abfolge markieren, auch die ebenfalls offene Reihe der „Iterativa" bzw. „Multiplikativa" wie einmal, zweimal, dreimal usw., schließlich gehören hierher die „Proportionalia" („Vervielfaltigungszahlwörter") vom Typ zweifach, dreifach usw.; diese bezeichnen j e eine bestimmte Anzahl von Komponenten einer Menge, die als homogen aufgefaßt werden, wiewohl sie potentiell auch variieren können. Vor allem aber sind hierher die wohlbekannten Ordinalien zu stellen, deren sehr unmittelbarer Zusammenhang mit den Kardinalien unverkennbar ist. Was verbindet die Kardinalien mit allen anderen vorhin genannten Reihen von Wörtern sowie diese Reihen untereinander? Wenn wir die Numeralien als eine homogene Wortklasse betrachten, so veranlaßt uns dazu auf den ersten Blick und in erster Linie ihre Semantik. Das ist richtig. Aber nicht nur die Semantik ist für den Zusammenhalt der Wortart Numerale verantwortlich. Schwer fallen ins Gewicht auch die Einheitlichkeit des lexikalischen Stoffes, der diese Wortart ausmacht, und der monoton-systemische formale Charakter der Wörter, die sich um die Kardinalzahlen gruppieren und die entweder di-
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Wortarten
rekt von diesen oder von den Ordinalien abgeleitet sind, die ihrerseits Ableitungen von den Kardinalien darstellen. Der gesamte Bereich wird von ausgeprägten Analogien beherrscht, von gleichartigen Wortbildungsmodellen, die gleichartige Lexeme - oft als Komponenten von Zusammensetzungen - in sich aufnehmen, vom weitreichenden Parallelismus beim Gebrauch dieser Lexeme. Dem Parallelismus sind bestimmte Schranken gesetzt. Es kommt vor, daß einige übereinstimmende Stellen („Nummern") paralleler Reihen von nicht gleichstämmigen Lexemen besetzt sind. Den offensichtlichsten Fall des Suppletivismus stellt das Ordinale der erste (entsprechend auch erstens) zum Kardinalzahlwort ein dar. Aber bekannterweise trifft man auf Suppletivformen auch in solchen morphologischen Reihen (pronominalen, verbalen, adjektivischen), deren grammatischer (paradigmatischer) Charakter keinem Zweifel unterliegt. Noch wichtiger ist, daß sich der Parallelismus, der potentialiter, „theoretisch", einen bestimmten Teilbereich voll und ganz abdeckt, realiter, im wirklichen Sprachgebrauch als eingeschränkt erweisen kann. Obwohl man im Deutschen potentiell von jedem Kardinale ein Ordinale bilden kann, ergibt sich in Wirklichkeit ein ganz anderes Bild. Der Grund liegt nicht allein darin, daß in der praktischen Kommunikation üblicherweise kein Bedarf nach Ordinalzahlen zu großen bzw. sehr großen Kardinalzahlen besteht. Es gibt Wissenschafts-, Wirtschafts-, Produktionsbereiche usw., in denen dies denkbar wäre. Es müssen noch zwei andere Gründe genannt werden. Zum ersten fehlt den Ordinalien zu großen, mehrfach zusammengesetzten, mehrstelligen Kardinalzahlen die Portativität des Einzelwortes, sie sind unhandlich, schwerfällig, besonders in der Stellung des präpositiven Attributs. Aus rein morphologischer Sicht heraus steht es frei, zum Beispiel zur Kardinalzahl 756482 das Ordinale der siebenhundertsechsundfünfzigtausendvierhundertzweiundachtzigste (Besucher) zu bilden. Kann man sich aber eine so maßlos überladene, beinahe völlig unübersichtliche Wortstruktur - eben in Wortform - als Attribut zu einem Substantiv vorstellen? Eine zusätzliche Schwierigkeit schafft im Deutschen die Umkehrung der Zehner und Einer, beispielsweise dreiundzwanzig als gleichsam „dekodierte" Entsprechung der Zahl 23. Übrigens setzt sich in der letzten Zeit immer mehr der Brauch durch, diese Umkehrung bei mündlicher Kommunikation (besonders in Telefongesprächen) aufzugeben und das mehrstellige Numerale in der Reihenfolge der Ziffern zu „verworten". Zum zweiten ist die Bildung der Ordinalien zu Kardinalzahlen problematisch, wenn deren genetischer Zusammenhang mit Substantiven aktuell bleibt. Das Wort tausend ist ein echtes Numerale geworden, und die Verwendung der Form der tausendste erfolgt leicht und anstandslos. Auf Schwierigkeiten stößt man dagegen, wenn es sich um die Ordinalien zu Million und Milliarde handelt. Sanders hat seinerzeit in seinem Wörterbuch Gebrauchsfälle solcher Formen registriert wie der zehnmillionste Teil, meinen millionten Liebesbrief, der millionteste Teil. Selbstverständlich erklären sich Schwankungen in der Form solcher Wörter vor allem daraus, daß es in der Kommunikation nur sehr selten zu ihrer Bildung kommt, aber diese Schwankungen erschweren ihrerseits den Gebrauch der betreffenden Numeralien in den Fällen, da wirklicher
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Bedarf nach ihnen entsteht, und zwingen dazu, nach anderen Ausdrucksmöglichkeiten zu suchen. Also halten sich die Möglichkeiten der Bildung und des Gebrauchs der Ordinalien im Deutschen in bestimmten Grenzen, der Parallelismus zweier Reihen, der Kardinalien und der Ordinalien ist durchaus nicht vollständig durchführbar. Im Zusammenhang mit allgemeinen strukturell-syntaktischen Gesetzmäßigkeiten des Deutschen, eigentlich auf der Grundlage dieser Gesetzmäßigkeiten, vor allem der Gesetzmäßigkeiten des Baus der Substantivgruppe, und bei der Notwendigkeit, in diese Gruppe ein mehrstelliges Numerale als Attribut einzuführen, tritt die Tendenz zutage, das Ordinale durch das Kardinale zu ersetzen. Dieses kommt dabei in der Form des sogenannten „Gemeinschaftskasus" (bzw. „Monoflexivs") postpositiv zu stehen. Sehr deutlich zeigt dies der Gebrauch der Jahreszahlen. Als Norm gilt hier nicht die Form das neunzehnhundertfünfundsechzigste Jahr (obwohl sie morphologisch „normal" ist), sondern die Form das Jahr neunzehnhundertfünfundsechzig. Die verbale Wiedergabe der Zahl erfolgt hier gleichsam als eine Konkretisierung des allgemeinen Begriffs Jahr, etwa so, wie der Titel des Kunstwerks der Bezeichnung der Kunstwerkgattung folgt, vgl. das Drama „Die Räuber". Und ebenso wie solche konkretisierend-benennenden postpositiven Komponenten von Substantivgruppen unterliegt das Kardinale beim Substantiv Jahr keiner morphologischen Veränderung, wenn die Substantivgruppe in einem obliquen Kasus steht, vgl. in dem Jahr neunzehnhundertfünfundsechzig. Noch begrenzter ist der Parallelismus der Kardinalien auf der einen und der „Distributive", der „Iterativa" und der „Proportionalia" auf der anderen Seite. Diese Subklassen beschränken sich noch entschiedener auf kleine Zahlen (Beziehungen zu großen „runden" Zahlen werden sporadisch hergestellt, doch sie zielen auf spezifische, bildlich-emphatische, hyperbolisierende Effekte ab). Am kürzesten ist wohl die Reihe der distributiv-ordnenden Einleitungswörter des Typs erstens usw. Bei diesen ist selbst die Möglichkeit von Bildungen, die mit großen Zahlen korrelieren, zweifelhaft. Gekünstelt wirken Formen wie fünfundachtzigstens oder zweihundertdreiundvierzigstens, und ganz undenkbar sind Formen des Typs tausendst (-tausends), geschweige denn millionstem. Eine gewisse Rolle spielt im Fall der distributiv-ordnenden Einleitungswörter der Umstand, daß sie von den Ordinalien abgeleitet werden. Und wenn man vom häufigen Gebrauch des hyperbolischen Iterativums tausendmal absieht, sind beispielsweise Formen wie siebzigtausenddreihundertsechsundzwanzigmal - nicht in arithmetischem, multiplikativem Sinne zwar als möglich anzuerkennen, aber in realen Sprechvorgängen werden wir solchen Formen kaum begegnen. Ebenfalls potentiell möglich, aber ungebräuchlich sind Distributiva mit je und zu sowie Proportionalia auf -fach zu großen (nicht „runden") Kardinalien. Also besteht keine frontale Korrelation zwischen den Kardinalien auf der einen und den Ordinalien sowie den sonstigen numeralischen Subklassen auf der anderen Seite. Auch die Beziehung wechselseitiger Voraussetzung zwischen diesen Subklassen und der Klasse der Kardinalien besteht nicht; die Ordinalien usw. gründen sich auf die Kardinalien, nicht aber umgekehrt.
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Unsere Analyse scheint gezeigt zu haben, daß die oben betrachteten Worttypen kein einheitliches System bilden, das Systemen echter Wortarten in allem Wesentlichen analog wäre. Aber die Teilmengen numeralischer Wörter werden nicht nur durch ihren lexikalisch-semantischen Parallelismus, sondern auch durch bestimmte grammatische Affinitäten zusammengehalten. Vor allem sei darauf hingewiesen, daß aus der potentiell unendlichen numerischen Reihe ein Abschnitt herausgehoben werden kann, in dessen Rahmen der Parallelismus unterschiedlicher Teilmengen numeralischer Wörter lückenlos ist und folglich wahrhaft paradigmatischen Charakter annimmt. Dieser Abschnitt umfaßt die Einer, zum Teil die Zehner: Jeder „Nummer" entspricht in allen numeralischen Subklassen ein Wort, und die betreffenden Ausdrücke enthalten das gleiche Grundmorphem, das sich mit unterschiedlichen, die Subklassen spezifizierenden grammatischen Morphemen verbindet (in Bildungen des Typs je zwei tritt das grammatische Morphem in der Form eines separaten Wortes auf). Dieser Schnitt durch alle Subklassen legt mit aller Deutlichkeit ihren „materiellen", sprachstofflichen Zusammenhang offen, der zu ihren semantischen Gemeinsamkeiten ergänzend hinzukommt. Die einförmige Wiederholung gleicher Korrelationen im Rahmen einer bestimmten Zahlenreihe erlaubt es, wenigstens im betreffenden beschränkten Zahlenbereich den hier zutage tretenden morphologischen Abwandlungsformen über die Wortbildung hinaus einen rein formal-grammatischen Status zuzuerkennen. Auf der Basis dieses Systems von Korrelationen im Bereich „kleiner" Zahlen (bei besonderer Stellung der Eins), das nicht lediglich Wortbildungscharakter hat, sondern als stabiles formal-grammatisches Paradigma anzusehen ist, können nötigenfalls - und sei es auch okkasionell - Ordinalien, Iterativa und sonstige Numeralientypen auch zu „großen" Zahlen gebildet werden. Wie oben schon erwähnt wurde, waren im 19. Jahrhundert beispielsweise nur äußerst seltene (morphologisch variierende) Vorkommen der Ordinalform zu Million zu verzeichnen. Die 1959 von Grebe herausgegebene Grammatik der deutschen Gegenwartssprache („Der Große Duden", Bd. 4) steht dagegen nicht an, unter den Beispielen zu den Ordinalien die Form der millionste anzuführen. Man muß also einerseits zugeben, daß das Deutsche in seinem realen Gebrauch keine frontalen Korrelationen der Kardinalien mit den übrigen Typen numeralischer Wörter aufweist; andererseits aber kann man dem Deutschen die potentielle frontale Realisierung dieser Korrelationen nicht absprechen. Selbstverständlich fallt die potentielle Realisierung weit weniger als der wirkliche Sprachgebrauch ins Gewicht, trotzdem bekräftigt sie die oben vorgebrachte These, daß die Beziehungen zwischen den formalen Reihen, die wir erörtert haben, nicht einfach im Wortbildungsbereich unterzubringen, sondern als mindestens in nächster Nähe morphologischer Wortabwandlung stehend zu betrachten sind. Auf die heikle Frage nach der Unterscheidung von Wortbildungskonstruktionen und grammatischen Modellen, d. h. nach der gegenseitigen Abgrenzung verschiedener Wörter und verschiedener Formen des gleichen Wortes, werde ich hier nicht eingehen. Aber es ist kaum anzuzweifeln, daß schon die potentiell reguläre Bildung gleicher Wortformen mit glei-
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Wortarten
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eher Bedeutung von einer und derselben Wortklasse eine eben fur die grammatische Formenwelt charakteristische Eigenschaft ist. Man hat also allen Grund zu schlußfolgern, daß das Beziehungsnetz, das wir im Bereich der numeralischen Worttypen beobachten, um es sehr vorsichtig zu formulieren, am Systemisch-Grammatischen teilhat. Dieser Bereich stellt eine lexikalisch-morphologische Einheit dar, die als Ganzes in keine „nichtnumeralische" Wortart eingeordnet werden kann und folglich selbst eine besondere, eine eigene Wortart ist. Den Kern, das Zentrum dieser Wortart, bilden die Grund-, die Kardinalzahlen; andere Subklassen ergeben die Peripherie der Wortart „Numerale", da sie bestimmte spezifische Merkmale und zum Teil Gemeinsamkeiten mit anderen Wortarten aufweisen. Die Ordinalien werden wie Adjektive dekliniert, sie teilen mit Adjektiven die attributive syntaktische Funktion, die iterativen Wörter sind undeklinierbar und werden als Adverbiale gebraucht, was sie in unmittelbare Nähe der Adverbien bringt, usw. Es tritt hier also das in Erscheinung, was eine typische Eigenschaft der Feldstruktur des Wortartensystems darstellt, nämlich das Vorhandensein peripherer Subklassen, die sich gleichzeitig in zwei (gegebenenfalls auch in mehr als zwei) Wortarten eingliedern (sich im Bilde gemeinsamen „Segmentes" wortartlicher „Kreise" darbieten). Die Eigenart der Wortart Numerale besteht darin, daß die Doppelnatur peripherer Wort(sub)klassen der Regelfall ist, und sogar die zentrale Wortklasse, die Kardinalien, wesentliche Eigenschaften einer anderen Wortart, des Substantivs, besitzen: Sie teilen mit den Substantiven die Möglichkeit des appositioneilen Gebrauchs ohne Absonderung vom Bezugswort (immerhin stimmt ihre Verwendung in dieser syntaktischen Position nicht ganz mit der der Substantive überein). Das oben Ausgeführte trifft in vollem Maße nur für die Wortart Numerale in der gegenwartsdeutschen Schriftsprache zu. Was andere Sprachen anbetrifft, insbesondere Sprachen ganz anderer struktureller Typen, so muß man für diese Sprachen mit der Möglichkeit unterschiedlicher Beziehungen sowohl zwischen diversen Subklassen innerhalb der Gesamtheit von Wörtern, die Zahlenbedeutungen haben, wie auch zwischen diesen Subklassen und nichtnumeralischen Wortklassen rechnen. Die Lösung der Frage nach dem Zusammenschluß der „Zahlwörter" zu einer besonderen Wortart und in diesem Fall der Frage nach der Zusammensetzung der Wortart Numerale sowie der Frage nach den Beziehungen der Numeralien zu anderen grammatischen Wortklassen hängt von der Analyse des konkreten Sprachstoffs der jeweiligen Sprache ab. Nicht ausgeschlossen sind wesentliche Übereinstimmungen, insbesondere zwischen Sprachen analogen Bautyps. Interessant ist in dieser Hinsicht der Sachverhalt im Russischen. Der Kern der Wortart Numerale, die Klasse der Kardinalien, ist im Russischen schärfer als im Deutschen von anderen lexikalisch-grammatischen Wortklassen abgegrenzt. Schon dieses eine Moment stimulierte eine in der russischen Grammatikschreibung recht definitive, neuerdings nahezu einmütige Bestimmung der „Zahlwörter" als einer eigenständigen Wortart. Vom Deutschen unterscheiden das Russische auch einige - mit der Eigenart des russischen Sprachtyps zusammenhängende - Besonderheiten der Bildung und des Gebrauchs bestimmter Subklassen der Numeralien, die sich an die Kardi-
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Die „ Feld"-Natur der Wortarten
nalien anlehnen. Bedeutend freier ist die Bildung der Ordinalien. Dies hängt wohl damit zusammen, daß das attributive Adjektiv im Russischen sehr breit verwendet wird und daß es in dieser Sprache den sogenannten „Monoflexiv" (den „Gemeinschaftskasus") nicht gibt; diese Faktoren fördern den Gebrauch der „wörtlich" formulierten Ordinalien zu Zahlen, die die Zehner weit übersteigen können. Den deutschen Formen des Typs das Jahr neunzehnhundertfünfundsechzig, im Juli siebzehnhundertneunundachtzig (und ähnlichen Formen anderer germanischer Sprachen) stehen im Russischen Ausdrücke wie mbiCHHa deaambcom uiecmbdecnm mmtnü eod, β urojie mbicma ceMbcom eoceMbdecnm deenmozo zoda gegenüber. 3 Ebenso frei wird im Russischen das Ordinale zu MwiJiuapd u. dgl. gebildet. Auch im Russischen teilen die Ordinalien die Zugehörigkeit zum Numerale und zum Adjektiv, aber die russischen Ordinalien korrelieren mit den Kardinalien noch weitgehender, fast vollkommen frontal. Dagegen reicht im Russischen die iterative Reihe - wohl infolge schwacher Entwicklung der Zusammensetzung - nur bis zur vierten „Nummer": deaotcdu, mpioicdbi, Hemupeotcdu (die Wortform odnaoicdbi unterlag einer wesentlichen semantischen Verschiebung); 4 von ' f ü n f an tritt an die Stelle des Iterativums in Wortform eine Wortfügung mit dem Kernsubstantiv pa3 [ ' M a l ' ] : nxmb pas, juecmbpa3 usw. Ungeachtet dieser Irregularität ist das Gesamtsystem der numeralischen Wörter im Russischen, das eine Reihe lexikalisch-grammatischer Wort(sub)klassen umfaßt, als Ganzes in seiner inneren Geschlossenheit und in der Abgrenzbarkeit gegen andere grammatische Wortklassen deutlicher als im Deutschen ausgeprägt; dies verdankt die russische Wortart Numerale nicht zuletzt gerade der ungehinderten Bildung „großer" Ordinalien. Die Einbeziehung der Ordinalien in die Wortart Numerale basiert im Russischen auf einer breiteren rein grammatischen, formal-paradigmatischen Grundlage. Die Ordinalien, eine sehr wichtige numeralische Subklasse, schließen sich enger an den Kern der Feldstruktur der Wortart Numerale, an die Kardinalien, an, sind als weniger peripher zu bewerten; dies läßt das numeralische Feld im ganzen kompakter erscheinen - obwohl die iterative Subklasse im Russischen im Vergleich mit dem Deutschen eine in diesem Feld weiter vom Zentrum entlegene periphere Stellung einnimmt.
3
4
Die Form des Ordinalzahlwortes erhält im Russischen das letzte Glied der numeralischen Zusammensetzung, hier nnmbiu (Nom. Sg. Mask, zum Kardinale mmb),
deenmozo (Gen. Sg. Mask, zu deenmb). - Hgg. JJeaMcdbi = zweimal, mpuotcdbi = dreimal, tembtpewdbi einmal in der Bedeutung 'eines Tages'. - Hgg.
= viermal; odHa:wdbi =
1970
Noch einmal zur quantitativen Analyse grammatischer Phänomene I In den letzten 10-15 Jahren widmete man sowohl bei uns als auch im Ausland der Untersuchung der quantitativen Seite grammatischer Phänomene eine hohe Aufmerksamkeit. Dies ging mit dem Aufschwung der angewandten und der mathematischen Linguistik einher. Aber auch die fortschreitende Entwicklung der klassischen Sprachwissenschaft, insbesondere der traditionellen Grammatik, hat dazu beigetragen. Bereits um die Jahrhundertwende waren zahlreiche junggrammatische Arbeiten erschienen, in denen der quantitative Aspekt grammatischer Phänomene berücksichtigt wurde, vor allem die Vorkommenshäufigkeiten grammatischer Formen (es seien zum Beispiel Blümel oder Behaghel genannt). Es wirkten sich in dieser Weise die praktischen Erfordernisse der Sprachbeschreibung, eigentlich die innere Logik des Fortschritts der Sprachwissenschaft überhaupt aus. Der Autor des vorliegenden Artikels wurde im Zuge seiner Forschungsarbeit am konkreten syntaktischen Sprachstoff des Deutschen auch mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich der quantitativen Seite grammatischer Phänomene zuzuwenden, insbesondere als es galt, diesen Sprachstoff einer historischen Untersuchung zu unterziehen. Einerseits erwiesen sich Probleme wie die Entwicklung der Satzrahmenstruktur, der Wandel der Struktur der substantivischen Wortgruppe u. ä. als untrennbar verbunden mit Bestimmungen des Umfangs der Wortgruppe und des Elementarsatzes, andererseits verlangte die Untersuchung, die textuellen Verwendungsfrequenzen der betreffenden grammatischen Formen festzustellen. Durch den rein linguistischen Untersuchungsgegenstand (und rein linguistische Forschungsziele) zur Beschäftigung mit quantitativen Merkmalen grammatischer Phänomene veranlaßt, sahen wir uns vor die Aufgabe gestellt, eine Methodik auszuarbeiten, die die Klärung dieser Merkmale ermöglicht. Die Anwendung der mathematischen Statistik, des Wahrscheinlichkeitskalküls usw., die sich gegen Ende der 50er Jahre in der Linguistik auszubreiten begann, erwies sich für die Arbeit am spezifischen grammatischen Sprachstoff in vielen Fällen als wenig hilfreich. Wir haben ein komplexes Verfahren für das Zusammentragen und die arithmetische Bearbeitung des Sprachstoffs vorgeschlagen und angewandt; dieses ist im Gegensatz zur Feststellung etwaiger - durch den Wahrscheinlichkeitskalkül zu errechnender - strenger quantitativer Gesetzmäßigkeiten darauf angelegt, lediglich Tendenzen zu erkunden, die sich im Bereich der Korrelationen zwischen dem Intensitätsgrad, der „Quantität" schlechthin, eines unter Beobachtung gestellten Merkmals eines (polydimensionalen) grammatischen Phänomens, und der qualitativen Beschaffenheit dieses Phä-
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Noch einmal zur quantitativen
Analyse
nomens erkennen lassen. Wir haben dieses Verfahren als „grammatische" oder „symptomatische Statistik" bzw. einfach als „Symptomatik" bezeichnet. Unsere Ausführungen dazu wurden Mitte der 60er Jahre veröffentlicht.' In dieser Zeit wurden - in Buchform - auch die Ergebnisse unserer Untersuchung der Entwicklung der Satzstruktur im Deutschen präsentiert, einer Untersuchung, in der die Textkorpusbildung und die quantitativen Ermittlungen sowie ihre Systematisierung auf der Grundlage der „symptomatischen Statistik" erfolgten. 2 Nun aber ist es notwendig, die Diskussion um die allgemeinen Fragen der linguistischen Herangehensweise an die quantitative Seite grammatischer Phänomene erneut aufzugreifen. Den Anlaß dazu gibt das Erscheinen des Artikels von Zinder und Strojeva unter dem Titel „Zur Frage der Anwendung der Statistik in der Sprachwissenschaft". 3 Und es handelt sich nicht so sehr darum, daß dieser Artikel in beträchtlichem Maße der Kritik unserer Auffassung der quantitativen Seite grammatischer Phänomene gewidmet ist, sondern vielmehr darum, daß zu Thesen, die uns seinerzeit als klar genug und keiner speziellen Begründung bedürftig erschienen, von den Linguisten entgegengesetzte Ansichten geäußert werden. Das hat uns davon überzeugt, daß alles, was implizite mitgemeint wurde, deutlich ausgesagt werden muß. Die Daseinsberechtigung einer Statistik, die nicht mathematisch exakt sein will, wird von Zinder und Strojeva nicht anerkannt. Sie behaupten, daß man bei jeder Hinwendung zum quantitativen Aspekt grammatischer Phänomene (zumindest im Rahmen ihrer textuellen Verwendungen) zu den Verfahren der mathematischen Statistik greifen soll. Nicht nur Zinder und Strojeva betrachten die mathematische Wahrscheinlichkeitsstatistik als das einzig geeignete Instrument der quantitativen linguistischen Analyse. Bezeichnenderweise wurde in einer der frühesten Publikationen, die hierzulande der Anwendung der Statistik in der Sprachwissenschaft gewidmet waren, in einem Artikel von Frumkina, der sich breiter Resonanz erfreute, 4 nicht einmal die Möglichkeit einer anderen Statistik außer der mathematischen Wahrscheinlichkeitsstatistik erwähnt.
1
Α Λ Μ Ο Η Η , Β . Γ . : KAHECTBEHHBIFL Η KOJIHMECTBEHHBIFI A H A J U « RPAMMATHHECKHX Η Β -
In: TeoperawecKHe npo6;ieMbi coepeMeHHoro COBCTCKORO H 3 B I K 0 3 H A H H » . MocKBa 1964 [s. in diesem Band S . 287ff.]; d e r s . : O C H O B M TeopHH rpaMMaTHKH. MocKßa - JleHHiir paa 1964. S. 6 2 - 7 2 [hier und im weiteren wird auf die Ausgabe des Buches von Admoni in deutscher Sprache verwiesen: A d m o n i , W.G.: Grundlagen der Grammatiktheorie. Heidelberg 1971. S 8 4 - 9 5 ] . In diesen Arbeiten betonten wir, daß unsere Thesen nur für die Grammatik, nicht für andere Sprachbereiche Geltung haben, da für das grammatische System spezifische Beziehungen zwischen der Ausdrucks- und der Inhaltsseite sprachlicher Bildungen typisch sind. JICHHH.
2
3
4
Α λ μ ο η η , Β.Γ.: Pa3BHTne cTpyicrypbi npeanoHceHHH β ηερΗΟΛ (F>opMnpoBaHna HeMeuKoro HauHOHaribHoro »3biKa. JlcHHHrpa/ι 1966. 3 Η Η A e Ρ , JI.P., C T p o e e a , T . B . : Κ eonpocy Ο N P H M E H E H H H CTATHCRWCH Β «3biK03HaHMM. In: Bonpocbi H3biK03HaHHH. 1968, JVa 6. O p y M K H H a , P.M.: IlpHMeHeHHe CTaTHCTHHecKHX MeroßOB β λ3μκ03Η3ημμ. In: Bonpocbi »3biK03HaHHH. 1960, JVs 4. Die Hauptforderung, die im Artikel von Frumkina an die quantitative Analyse sprachlicher Tatbestände gestellt wird, ist
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Die Wahrscheinlichkeitsstatistik hat im Vergleich mit den viel primitiveren rein „arithmetischen" Mitteln statistischer Bearbeitung quantitativer Daten erhebliche Vorzüge. Wir zählen einige davon auf. Die Wahrscheinlichkeitsstatistik ist in der Lage, mit ihren eigenen Mitteln, selbst, durch Anwendung bestimmter mathematischer Operationen eine Antwort auf die Frage zu geben, ob die Streuung der quantitativen Werte, die anhand einer Stichprobenauswahl festgestellt wurde, eine Zufallsstreuung darstellt, eine Streuung also, die die zufallsbedingte Verteilung der Merkmale von Erscheinungen gleicher Qualität repräsentiert, oder ob diese Streuung wesenhaften Charakter hat, d. h. von der unterschiedlichen Beschaffenheit der miteinander verglichenen Objekte abhängt. Die „primitive" Statistik unterscheidet dagegen die Zufallsstreuungen von den Streuungen wesenhaften Charakters nur dann, wenn der quantitativen die qualitative Analyse der sprachlichen Objekte vorausgeht. Ferner kann man mit den Mitteln der mathematischen Statistik den Zuverlässigkeitsgrad quantitativer Daten feststellen, die zulässigen Fehlerquoten beim Operieren mit Stichproben unterschiedlichen Umfangs aus der einen oder anderen Gesamtheit errechnen, den Teil der gegebenen Gesamtheit bestimmen, der von der gewonnenen statistischen Gesetzmäßigkeit nicht erfaßt wird, u. ä. Mit Hilfe der „arithmetischen", der Nichtwahrscheinlichkeitsstatistik läßt sich ζ. B. der Grad der Zuverlässigkeit quantitativer Werte nicht bestimmen. Und doch berechtigen alle diese Vorteile nicht zu der Schlußfolgerung von der ausschließlichen Anwendbarkeit der Wahrscheinlichkeitsstatistik bei Fragestellungen nach der quantitativen Seite grammatischer Phänomene. Die vollkommenste Untersuchungsmethode muß nicht unbedingt jederzeit und allerorts angezeigt sein. Wir wollen an einigen typischen Beispielen zeigen, daß es im grammatischen Bereich Fälle gibt, in denen bei der quantitativen Analyse die Anwendung der mathematischen Statistik entweder dem der Untersuchung gesetzten Ziel nicht entspricht bzw. überhaupt unmöglich ist oder sich trotz prinzipieller Anwendbarkeit angesichts bestimmter Besonderheiten des Untersuchungsgegenstandes als unzweckmäßig erweist. II Die Beleuchtung eines grammatischen Sachverhalts von seiner quantitativen Seite her kann u. U. eine Nebenaufgabe sein; dann würde die Verwendung des mathematisch-statistischen Analyseverfahrens die Untersuchung nur unnötigerweise verkomplizieren und überdies vom eigentlichen Ziel ablenken. Wenden wir uns dem Beispiel einer Untersuchung der deutschen Zugehörigkeitsadjektive, die von den Eigennamen abgeleitet sind (Adjektive des Typs Hegelsch-, Berliner, dänisch u. ä.), und deren grammatischer Synonyme zu.
folgendermaßen formuliert: „Bei der Stichprobenauswahl sollen bestimmte Regeln befolgt und die Ergebnisse auf ihre Zuverlässigkeit geprüft werden".
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Das ist der Gegenstand einer Untersuchung von Rumjanina. 5 Rumjanina fuhrt systematisch quantitative Angaben an, die sich sowohl auf den Wortbestand der semantisch-funktionalen Subklassen des Zugehörigkeitsadjektivs wie auch auf deren Gebrauchsfrequenzen und die Gebrauchsfrequenzen ihrer grammatischen Synonyme beziehen. Verwertet wurde von ihr der Sprachstoff, der aus einem Gesamttext im Umfang von 15 Millionen Druckzeichen exzerpiert worden war und der 3850 Beispielsätze mit Zugehörigkeitsadjektiven und synonymen Formen ergab; hinzu kommen 250 Wortgruppen mit Zugehörigkeitsadjektiven, die Wörterbüchern, in erster Linie terminologischen Wörterbüchern, entnommen sind. Es ergaben sich folgende Zahlen: Die Zugehörigkeitsadjektive geographischer Ableitung kamen 1816mal, synonyme Genitivattribute hingegen 150mal, präpositionale Attribute 264mal und kompositionelle Bestimmungsglieder nur 71 mal vor. Von einer Bewertung dieser Verteilung von Frequenzen hinsichtlich ihrer Geltung für die Gesamtheit der gegenwartssprachlichen deutschen Texte wird abgesehen. Aber die gewonnenen quantitativen Charakteristiken des Gebrauchs der betreffenden Formen entsprechen vollauf dem Bedürfnis nach allgemeiner Orientierung in diesem Bereich des grammatischen Systems: Es zeichnen sich unter den synonymen Formen sowohl ein beträchtliches quantitatives Gefälle („viel häufiger" bzw. „viel seltener" u. ä.) als auch gegenseitige Annäherungen ab. Ohne Anspruch auf den Ausdruck strenger Gesetzmäßigkeiten zu erheben, ergänzen die in der umschriebenen Weise erbrachten Zahlen die qualitative Charakteristik einer Gruppe von grammatischen Formen durch eine quantitative Charakteristik, die zwar im Hinblick auf den objektiv-sprachlichen Sachverhalt nur relativ genau sein kann, jedoch eine für die konkrete Aufgabe der unternommenen Untersuchung hinlänglich befriedigende Orientierung gewährleistet. Die Behandlung der quantitativen Daten in der Arbeit von Rumjanina hat statistischen Charakter. Es ist aber nicht die mathematische Wahrscheinlichkeitsstatistik, die hier angewandt wurde. Es fehlen die Zuverlässigkeitswerte u. ä. Trotzdem ist das von der Forscherin genutzte Verfahren den von ihr verfolgten Untersuchungszielen durchaus angemessen, und es hat sich als fruchtbar erwiesen. Selbst da, wo das Herausfinden der Verwendungsfrequenzen grammatischer Formen zu den erklärten Forschungszielen gehört, kann sich die Hinwendung zur Wahrscheinlichkeitsstatistik als praktisch überflüssig oder sogar als unmöglich erweisen, wenn diese Formen nur äußerst selten, sporadisch vorkommen wie beispielsweise die Formen, die in der bekannten Arbeit von Ljungerud anvisiert worden sind. 6 Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist auch dann von vornherein als unnötig anzusehen, wenn es sich um die quantitative Charakteristik eines grammatischen Phänomens handelt, in der sich dessen besondere Qualität spiegelt und 5
6
P y M H H H H a , B . M . : NPHTHMCATEJIBHBIE npnjiaraTejibHbie Η CHHOHHMHHHBIE HM onpe/iejieHHfl Β coepeMeHHOM HCMCUKOM snbiKe. AeTopeijiepaT KAN/IH^ATCKOH JIHCcepTaijHH. JleHHHrpaji 1968. L j u n g e r u d , I.: Zur N o m i n a l f l e x i o n in der deutschen Literatursprache nach 1900. Lund 1955. V g l . ζ. B. S. 1 7 1 - 1 7 2 , 2 2 4 - 2 2 5 , 2 5 4 - 2 5 5 .
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bei der man auf dessen Verwendungsfrequenz (bzw. -frequenzen im Kreis verschiedener Textarten) nicht einzugehen braucht. Hat man bei solchen Meistern der deutschen Prosa wie Goethe oder Winckelmann - sei es auch im Rahmen eines verhältnismäßig kurzen Textes - Elementarsätze großen Umfangs gefunden, so ist das höchst bedeutsam, ohne daß man die Frage nach der Frequenz solcher Sätze in den Prosawerken dieser Schriftsteller zu beantworten weiß. Die Tatsache an sich, daß Goethe und Winckelmann, Schriftsteller, die die Kunst der biegsamen, harmonischen syntaktischen Formgebung so vollkommen beherrschten, sich umfangreicher Elementarsätze bedienten, zeigt, daß derartige Satzstrukturen bereits zu jener Zeit nicht vom „papierenen" Kanzleideutsch monopolisiert waren. Diese Tatsache hat eine bestimmte Bedeutung fur die historische Syntax des Deutschen, unabhängig von eventuellen auf mathematisch-statistischer Grundlage feststellbaren Wahrscheinlichkeiten des Gebrauchs von Sätzen unterschiedlichen Umfangs in der Prosa von Goethe und Winckelmann, obwohl natürlich auch Fragestellungen vorgebracht werden können, bei denen es auf eine weit detailliertere Untersuchung von Sätzen unterschiedlichen Umfangs sowie ihres Gebrauchs in den prosaischen Texten dieser Schriftsteller ankommen wird. 7 Für die linguistische Forschung können also Feststellungen der Art von großer Bedeutung sein, daß wirklich bestimmte Korrelationen von Qualität und Quantität vorliegen, und für Feststellungen dieser Art braucht man nicht die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ein Beispiel derartiger Verzahnung qualitativer und quantitativer Züge bietet - im sprachstilistischen Bereich - ein auffallend häufiger Gebrauch des Genitivs beim zeitgenössischen Prosaisten P.Weiss, den wir in seinem Werk stellenweise, insbesondere bei Beschreibungen, beobachten können. So stehen auf der ersten Seite der Erzählung „Der Schatten des Körpers des Kutschers" 26,15% aller Substantive im Genitiv (17 Fälle). Das übersteigt in bedeutendem Maße die durchschnittliche Frequenz des Genitivs in der Kunstprosa.8 Dahinter steht das einzelne Textabschnitte kennzeichnende gezielte Bemühen darum, der beschreibenden Kunstprosa einen für die Gebrauchsprosa, vor allem für die technischen Texte typischen grammatisch-stilistischen Anstrich zu geben. Bereits der Titel der Erzählung von Weiss mit zwei aufeinanderfolgenden Genitiven (und den gleichförmigen Artikeln davor) legt Zeugnis für dieses gleichsam experimentelle Bemühen ab. Die weit überdurchschnittliche Häufigkeit der substantivischen Genitivform im erwähnten Fall ist, obwohl wir sie nur in einem beschränkten Textabschnitt eines Prosawerkes beobachten, vom Standpunkt der grammatischen Stilistik des Gegenwartsdeutschen aus gesehen von großem Interesse, da dieser Fall die aktuellen Gebrauchspotenzen des Genitivs demonstriert - und das 7
Vgl. Α Λ
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, Β.Γ.:
Pa3BHTHe
crpyicrypu n p e j u i o w e H H « S. 70-72.
Β
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H H 0 3 e M u e B ,
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1965,
S. 9; Inozemcev hat für den Genitivgebrauch in der Kunstprosa nur 6,74% von der Gesamtzahl der Substantivvorkommen errechnet.
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gilt unabhängig davon, ob eine solche Verwendungsfrequenz des Genitivs in anderen Abschnitten der Erzählung von Weiss oder in anderen Prosawerken dieses Schriftstellers oder auch bei anderen zeitgenössischen deutschen Prosaisten vorzufinden ist. Beliebige quantitative Daten, die aus Zählungen an anderen Texten zu gewinnen wären, könnten nicht gegen die Tatsache ausgespielt werden, daß ein bestimmter Text sich einen hinsichtlich der Korrelation von Qualität und Quantität in besonderer Weise auszeichnenden Genitivgebrauch aufweist. Es entfällt in diesem Fall die Fragestellung danach, ob diese Intensität des Genitivgebrauchs den Gesamttext des Prosawerkes charakterisiert, und somit entfällt auch jeder Grund dafür, auf den Text das mathematisch-statistische Verfahren anzuwenden, um den „Wahrheitswert" der am behandelten Textabschnitt vorgenommenen Zählungen zu prüfen. Wir haben nur einige wenige Beispiele für Situationen angeführt, die bei der Hinwendung zum quantitativen Aspekt grammatischer Phänomene aus dem Wesen des Untersuchungsgegenstandes heraus die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung ausschließen. In allen diesen Situationen wurden vom Forscher Zähl ungen ausgeführt, und das bedeutet, daß er auf die eine oder andere Weise statistisch - und dabei erfolgreich genug - vorgegangen ist. Aber das war keine mathematische Statistik. Man konnte sich auf die elementarsten arithmetischen Operationen beschränken.
III Wenden wir uns nun Situationen zu, in denen die Eigenschaften des sprachlichen Untersuchungsobjektes die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung prinzipiell zulassen, aufgrund der wesenhaften Züge des Sprachstoffs aber die „symptomatische Statistik" - wenigstens teilweise - vorzuziehen ist. Wir werden nur eine Art solcher Situationen betrachten, und zwar Texte, in denen die unter Beobachtung gestellte grammatische Form nicht vereinzelt, sondern regelmäßig vorkommt. Diese Wahl scheint uns im Zusammenhang damit zweckmäßig, daß die Wahrscheinlichkeitsrechnung vielfach gerade auf die grammatischen Formen angewandt wurde, für die massenhafter Gebrauch charakteristisch ist, und man nicht anzweifeln kann, daß dieses Verfahren hier wirklich (wenn auch nicht in jedem solchen Fall) anwendbar ist. 9 Als Beispiel wählen wir den Gebrauch des Genitivs in der gegenwartsdeutschen Schriftsprache. Wir wählen dieses Problem nicht zuletzt aus dem Grunde, daß lehrreiche Publikationen dazu vorliegen, u. a. ein Artikel von Strojeva, der deut-
9
Das haben wir auch früher betont: „Was wir bisher vorgebracht haben, soll nicht bedeuten, daß die mathematisch-statistische Vorgehensweise in der historischen Grammatikforschung sowie bei sonstigen Untersuchungen im Bereich grammatischer Phänomene nicht grundsätzlich anwendbar wäre. In gewissen Fällen kann sie angezeigt bzw. sogar notwendig sein" ( A d m o n i , W.: Die qualitative und die quantitative Analyse grammatischer Phönomene) [S. 297 dieses Bandes],
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lieh macht, wie die von Zinder und Strojeva propagierten Ansichten über die quantitative Analyse (s. oben) in die Praxis umgesetzt werden. 10 Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist nicht der einzige Schlüssel zu grammatischen Frequenzproblemen, und das vor allem darum, daß man nur äußerst selten Zugang hat zur quantitativen Bestimmung der Gesamtheit, auf die die Sammlung des konkreten Sprachstoffs anhand eines Textkorpus bezogen werden müßte, damit die Aussagekraft der daran vorgenommenen Zählungen hinsichtlich ihres „Konfidenzniveaus" ermessen werden könnte. Unmöglich erscheint die Bestimmung der Sprache in ihrer Ganzheit, der Sprache eines Volkes zu einem Zeitpunkt bzw. in einer Periode ihres Bestehens, selbst wenn man sich auf die Schriftsprache beschränkt. Außerdem wäre man schon eingangs mit dem Problem der Wahl unter den Funktionalstilen konfrontiert als Grundlage und Ausgangspunkt für das Aufdecken der für die Sprache allgemein charakteristischen quantitativen Gesetzmäßigkeiten. Wenn man verschiedene Funktionalstile vornimmt, so ist völlig unklar, auf welcher Basis und wie man die anhand von Texten diverser Funktionalstile errechneten quantitativen Daten miteinander vergleichen soll. Denn die Funktionalstile sind unter sozial-kommunikativem Aspekt nicht gleichwertig, und Texte unterschiedlicher funktionalstilistischer Zugehörigkeit gleichen Umfangs als statistisch zu bearbeitendes Material würden im krassen Mißverhältnis zur objektiven Gewichtsverteilung der Funktionalstile stehen. Demnach können die Durchschnittszahlen, die wir für die quantitative Charakteristik des Gebrauchs einer grammatischen Form in einer Sprache errechnen, nur Annäherungswert haben. Für nichts anderes gibt Inozemcev solche quantitativen Daten aus; er schätzt sie „nicht als Ausdruck einer im Wahrscheinlichkeitssinn geltenden strengen Regularität, sondern als Symptome einer qualitativen Tendenz" ein. Inozemcev untersucht in seiner Arbeit vier 10
C T p o e e a , T.B.: ConocraBHTejibHaji CTaTHCTMKa naae>KHbix α π ο β ο φ ο ρ Μ HMCHH cymecTBHTejibHoro β HeMeuKOM η pyccKOM snbiKax. In: MHOCTpaHHbie 5i3biKH β
liiKOJie. 1968, .Na 5. Obwohl der erklärte Gegenstand der Untersuchung der Sprachvergleich ist, wird im Artikel hauptsächlich der Gebrauch des Genitivs in der gegenwartsdeutschen Schriftsprache behandelt. Was den Vergleich mit dem Russischen anbetrifft, so betont Strojeva mehrmals, daß im Russischen der Genitiv viel häufiger vorkommt. Aber vom Standpunkt der inneren Problematik des Deutschen aus betrachtet, ist wichtig, daß die quantitativen Daten, die Strojeva anfuhrt (und die mit den Untersuchungsergebnissen anderer Autoren übereinstimmen), auf eine verhältnismäßig hohe textuelle Frequenz des deutschen Genitivs hinweisen. Sie steht den Frequenzen anderer Kasus nach, ist aber mit diesen kommensurabel, es handelt sich also keinesfalls um „vereinzelte Fälle". Das ist wichtig, denn der Genitiv im Deutschen wurde oft und wird nicht selten immer noch als eine „absterbende" grammatische Form angesehen - mit der Begründung, daß er in den Dialekten völlig außer Gebrauch gekommen ist, in der Umgangssprache eine Seltenheit darstellt, usw. Bedeutsam ist nicht so sehr die Tatsache, daß die Gebrauchsfrequenzen des Genitivs im Deutschen und im Russischen auseinandergehen, sondern daß sie dennoch kommensurabel sind: In den russischen Texten kommt der Genitiv zwei- bis zweieinhalbmal häufiger vor. Zur historischen Entwicklung des Genitivs im Deutschen s. A d m ο η i , W.: Die umstrittenen Gebilde der deutschen Sprache von heute. I-II. In: Muttersprache. Bd. 72, 1962.
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Funktionalstile (wissenschaftlich-technische, publizistische, kunstprosaische und umgangssprachliche Texte), und fur die deutsche Sprache „überhaupt" errechnet er die durchschnittliche Vorkommenshäufigkeit des Genitivs in Höhe von 14,1% der textlichen Substantivverwendungen (im wissenschaftlichtechnischen Bereich beträgt der Anteil des Genitivs am Substantivgebrauch 18,6%, im publizistischen sogar 24,9%)." Ganz anders verfährt Strojeva. Sie setzt sich zum Ziel, mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung bestimmbare strikte Regularitäten herauszufinden. Im konkreten Fall, auf den wir oben hingewiesen haben, wendet sie sich einer einzigen, der wissenschaftlichen, Textart zu, überträgt aber - jedenfalls was den Gebrauch des Genitivs anbetrifft - die gewonnene quantitative Charakteristik auf die deutsche Sprache im allgemeinen. Strojeva weiß natürlich, daß „die quantitative Verteilung der substantivischen Kasusformen in den verschiedenen Funktionalstilen krasse Differenzen aufweist". Aber eben damit motiviert sie die Wahl eines der Funktionalstile für die vorgenommene Untersuchung.12 Mit keinem Wort wird dabei die Frage angeschnitten, ob und inwiefern es berechtigt ist, die erhaltenen quantitativen Daten sozusagen im erweiterten Sinne fur ein Charakteristikum des Deutschen „im allgemeinen" anzunehmen. Der untersuchte Sprachstoff gestattet es, nur von einer bestimmten Textgattung zu sprechen. Und der Sprachvergleich Deutsch - Russisch, der als das unmittelbare Untersuchungsziel deklariert ist, beschränkt sich in der Arbeit nur auf den entsprechenden Funktionalstil der beiden Sprachen. Indessen weisen eine Untersuchung des Russischen von Nikonov 13 und die bereits erwähnte Untersuchung des Deutschen von Inozemcev darauf hin, daß im umgangssprachlichen Bereich der Genitivgebräuch im Deutschen demjenigen im Russischen weit deutlicher als in den wissenschaftlichen Texten nachsteht. Nach Nikonov schwankt der Genitivgebrauch in der russischen Umgangssprache zwischen 11% und 16%, nach Inozemcev beträgt sein Durchschnittswert in der deutschen Umgangssprache 3,2%. Das bedeutet eine 3,5- bis 4mal niedrigere Vorkommenshäufigkeit in der deutschen Umgangssprache im Vergleich mit der russischen, während in den wissenschaftlichen Texten der Genitiv im Deutschen - nach Nikonov, Inozemcev und Strojeva - nur 2- bis 2,5mal seltener als im Russischen vorkommt. Die Unmöglichkeit, das mathematisch-statistische Verfahren auf die Schriftsprache im ganzen, als Gesamtheit, anzuwenden, macht es verständlich, warum dieses Verfahren in der Regel in Untersuchungen benützt wird, die auf einzelne Textgattungen, nicht auf die Sprache als Ganzes ausgerichtet sind. Man darf aber nicht außer acht lassen, daß auch im Rahmen eines Funktionalstils Texte unterschiedlicher Fachbereiche und -richtungen, ja die Individualstile hinsichtlich der quantitativen Charakteristiken grammatischer Formen auseinandergehen können. 11 12 13
HH03eMueB, Jl.H.:Op.cit S. 9. C τ ρ ο e Β a, T.B.: Op. cit. S. 8. H H K O H O B , B . A . : CraTHCTMKa naaejKeü
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BOÄ Η NPHKJIAAHAII JIHHRBHCTHKA. 1 9 5 9 , Ms 3 . S . 4 8 .
«3biKa. In: M a u i H H H b i R
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Am einheitlichsten im Sinne des Gebrauchs grammatischer Formen sind wohl auf enge Gegenstandsbereiche spezialisierte wissenschaftliche und technische Fachtexte, in denen nicht nur die Terminologie, sondern auch die allgemeine Darlegungsweise traditionell stereotyp sind; in den Fachtexten nämlich kehren ständig die gleichen Strukturen des sprachlichen Ausdrucks wieder, selbst Klischees, die sich dem Schreibenden gleichsam aufdrängen. Die wiederholte Verwendung von Formeln bzw. konventionell festgelegten Zeichen trägt hier zur formalen sprachlichen Einheitlichkeit bei. Für die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung eignen sich solche Texte in besonderem Maße. Wie wir schon ausgeführt haben, sind in vielen wissenschaftlichen Bereichen, vor allem in solchen, die hinsichtlich ihrer Problemkreise bzw. thematisch ein buntes Mosaik darstellen, bei den Verfassern diverse stilistische Einstellungen und demnach - als textliche Folge davon - ein breites Spektrum der Vorkommensfrequenzen verschiedener grammatischer Formen zu erwarten. Kehren wir noch einmal zum Gebrauch des Genitivs im Deutschen zurück. Es ist oben erwähnt worden, daß nach Inozemcev, der für seine Angaben keine absolute Genauigkeit beansprucht, der Anteil der Frequenz des Genitivs an der Gesamtmasse der Substantivverwendungen im wissenschaftlich-technischen Funktionalstil des Deutschen im Durchschnitt 18,6% beträgt. Nach Strojeva, die mathematisch-statistisch begründete Präzision anstrebte, ist dieser Anteil gleich 16,6%. Strojeva hat die Auszählungen an Texten vorgenommen, die zu sechs unterschiedlichen Bereichen der Wissenschaft gehören (in Klammern sind Strojevas Angaben über die Vorkommensfrequenzen des Genitivs angeführt): 1) Philosophie und politische Ökonomie (17,8%), 2) Linguistik (15,3%), 3) Literaturwissenschaft (18,4%), 4) Geologie (16,1%), 5) Geschichte der Mathematik (17,7%), 6) Metallkunde (14,7%). Die Texte gehören (mit unterschiedlichen zeitlichen Abständen) dem 20. Jahrhundert an, es gibt u. a. solche, die kurz nach der Jahrhundertwende entstanden sind. Die russischen Texte haben den Umfang von je 5000, die deutschen von je 10000 Wörtern. Die angenommene zulässige Fehlerquote liegt bei 0,1.14 Stimmen jedoch die Vorkommensfrequenzen des Genitivs in den Texten dieser Wissenschaftsbereiche mit denen in den Texten anderer Wissenschaftsbereiche überein? Der Analyse wurden ja mathematische und physische, biologische und medizinische, chemische und astronomische Texte sowie Texte vieler anderer Wissenszweige nicht unterzogen. Wenn auch in einigen Fällen der von Strojeva gewählte Wissenszweig für eine Anzahl anderer stehen kann (die Metallkunde „deckt sich" vielleicht mit einer ganzen Reihe anderer technischer Disdiplinen), so bestehen zwischen den Wissenschaften, die Strojeva gewählt hat, und den von uns genannten jedenfalls keine engen „verwandtschaftlichen" Beziehungen. Sogar die Geschichte der Mathematik und die 14
C r p o e e a , T.B.: Op. cit. S. 10-11. Für die russische Sprache hat der Koeffizient der Variation den Wert von 14%. Für die deutsche Sprache ist dieser Koeffizient nicht angegeben, aber nach einer Anmerkung (in der Tabelle II unter Verweis auf die Tabelle I) zu urteilen, fällt er mit dem Koeffizienten für Russisch zusammen.
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Mathematik als solche gehen weit genug auseinander, denn die Geschichte der Mathematik stellt einen Übergang von der Mathematik zu den Sozial- und Geisteswissenschaften dar.
IV Strojeva geht in ihrem Artikel stillschweigend davon aus, daß für die Texte aller von ihr der Analyse nicht unterzogenen Wissenszweige die gleichen Verteilungen der Kasusfrequenzen charakteristisch sein würden wie diejenigen, welche die von ihr untersuchten Texte charakterisieren. Die Unterschiede in den durch ihre Analyse erbrachten Werten hält sie aus dem Grunde für unwesentlich, daß sie bei der Anwendung der Formel zur Errechnung des Variationskoeffizienten Werte feststellte, die die Wahrscheinlichkeitsrechnung als zulässig anerkennt fiir die Hypothese vom Zufallscharakter der Variationsquote. Wir waren nicht in der Lage, eine eigene breit angelegte Untersuchung des Problems des deutschen Genitivs von dessen quantitativer Seite her vorzunehmen. Es bieten sich aber genügend Beobachtungen am SprachstofF, die die Auffassung von Strojeva in Frage stellen. Zunächst sei darauf hingewiesen, daß schon im Rahmen des Materials, das Strojeva in ihrer Untersuchung verwertete, ein gewisses Gefalle der Vorkommensfrequenzen des Genitivs zum Vorschein kommt, das mit dem unterschiedlichen Charakter der Wissenschaftsbereiche zusammenhängt, denen die untersuchten Texte angehören. Die Ergebnisse der quantitativen Analyse zeugen davon, daß der Genitiv in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Texten - mit einer Ausnahme häufiger vorkommt als in den Texten der exakten Wissenschaften (zu denen man auch die technischen Disziplinen zählen kann). Auf der einen Seite sehen wir die Philosophie und politische Ökonomie (17,8%), die Literaturwissenschaft (18,4%) und die Geschichte der Mathematik (17,7%), auf der anderen die Geologie (16,1%) und die Metallkunde (14,7%). Einen besonderen Platz nimmt mit ihren 15,3% die Linguistik ein, den zweitletzten, unmittelbar vor der Metallkunde. Die Linguistik scheint demnach unsere Annahme eines bedeutsamen Einschnitts zwischen den Sozial- und Geisteswissenschaften einerseits und den exakten Wissenschaften andererseits zu widerlegen. Aber die Linguistik weist - besonders auffallig im letzten Jahrzehnt - sehr ungleichartige Sprachstile auf. Dies hängt sowohl mit der Art, wie der Sprachstoff präsentiert wird, wie auch mit den praktizierten Untersuchungsmethoden zusammen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, sind die beiden linguistischen Texte, die Strojeva bearbeitet hat, zum gleichen spezifischen Zweig der Sprachwissenschaft zu zählen, und zwar zur strukturalistischen Linguistik, wie sie in der Reihe „Studia grammatica" gepflegt wird, und da dominieren Arbeiten, in denen man - wie dies auch fiir manche andere Richtung in der strukturalistischen Linguistik charakteristisch ist - dem Vorbild der exakten Wissenschaften nachstrebt. Wenn man aber Texte heranzieht, in denen andere Zweige der Sprachwissenschaft oder andere Einstellungen zur strukturalistischen Linguistik vertreten sind, so fallen die Ergebnisse der
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quantitativen Analyse auch anders aus. Wir haben probeweise drei Ausschnitte aus deutschen Sprachgeschichten verschiedener Autoren analysiert, Ausschnitte, die wir den Kapiteln über die Entwicklungsgeschichte der Schriftsprache entnahmen, und das ergab folgende weithin übereinstimmende quantitative Daten: bei Moser 1 5 insgesamt 1432 Substantive, davon 304 im Genitiv, also 21,23%; bei Bach 1 6 1238 Substantive, davon 251 im Genitiv, also 21,1%; bei Eggers 1 7 624 Substantive, davon 118 im Genitiv, also 19,09%. Diese Werte sind größer als die von Strojeva ermittelten, und zwar etwa um 4 bis 6 Prozent. Aber auch linguistische Texte, die thematisch anders ausgerichtet sind, ergeben Werte, die mit den von Strojeva ermittelten nicht übereinstimmen. So stellten wir anhand einiger Publikationen zur Grammatik der deutschen Gegenwartssprache und zur historischen Grammatik des Deutschen, die der „traditionellen Grammatik" nahestehen, für Textabschnitte dieser Publikationen, die mehr oder weniger verallgemeinernden Charakter haben (vor allem sind das die Einleitungen oder die abschließenden zusammenfassenden Textteile), folgende Werte fest: bei Flämig 1 8 von 220 Substantiven 50 im Genitiv, d. h. 22,7%; bei Fleischer 1 9 von 575 Substantiven 127 im Genitiv, d. h. 22,9%; in der „Einleitung" des Buches von Seibicke, 20 in dem die Bedeutungsentwicklung des Wortes Technik behandelt wird, finden sich 506 Substantive, davon 106, 20,95%, im Genitiv. Noch interessanter mögen die Angaben erscheinen, die anhand einer die Linguistik und die Literaturwissenschaft umfassenden Arbeit ermittelt werden konnten, in der Fragen des kunstprosaischen Stils abgehandelt werden. In einem Buch von Martini 21 schwankt der Anteil der Genitive in den zwei letzten Absätzen aller Kapitel zwischen 16,44% (das Kapitel über Kafka) und 31,68% (das Kapitel über Broch); der Durchschnittswert beträgt 24,46%. Der Text des Vortrage von Th.Mann „Die Kunst des Romans", gehalten vor Studenten in Princeton im Jahre 1939, enthält insgesamt 954 Substantive, von denen 215 im Genitiv stehen, und das sind 22,5%.
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M o s e r , H.: Deutsche Sprachgeschichte. 3. Aufl. Stuttgart 1957. S. 142-163. Hier und im weiteren wurden bei der Auszählung die Zitate und allerlei Anmerkungen, die sprachlichen Belege und die Abbreviaturen nicht berücksichtigt. Die Buchtitel wurden als ein Wort gezählt. B a c h , Α.: Geschichte der deutschen Sprache. 8. Aufl. Heidelberg 1965. S. 3 6 8 397. Stellen in Petitschrift wurden bei der Auszählung übergangen. E g g e r s , H.: Deutsche Sprachgeschichte I. Reinbek bei Hamburg 1963. S. 2 2 5 233. FI ä m i g , W.: Zum Konjunktiv in der deutschen Sprache der Gegenwart. 2. Aufl. Berlin 1962. S. 1-5. F l e i s c h e r , W.: Strukturelle Untersuchungen zur Geschichte des Neuhochdeutschen. Berlin 1966. S. 5-10, 9 4 - 9 8 (Abschnitte 1.1-5; 3.12.1-7). S e i b i c k e , W.: Technik. Versuch einer Geschichte der Wortfamilie um tekne in Deutschland vom 16. Jh. bis etwa 1830. Düsseldorf 1968. S. 1-12. M a r t i n i , F.: Das Wagnis der Sprache. Interpretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn. 2. Aufl. Stuttgart 1956.
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Die quantitativen Daten, die wir mitteilen, weisen auf keine strengen Regularitäten hin. Sie berechtigen schlechthin dazu, für die Vorkommenshäufigkeiten des Genitivs in den linguistischen und der Linguistik nahestehenden Texten bestimmte Tendenzen anzunehmen, in die die von Strojeva angewandte Vorgehensweise keinen Einblick gewährt. Den quantitativen Unterschieden, die sich im betreffenden Bereich erkennen lassen, liegen offenbar qualitative, wesenhafte Unterschiede zwischen den Ganztexten und selbst zwischen einzelnen Abschnitten dieser Texte zugrunde. Vorderhand ergibt sich aus dem Ausgeführten mit gutem Grund die Annahme, daß je mehr sich die linguistische Problematik der historischen und philosophischen nähert, je stärker auch das Allgemeine bzw. das Zusammenfassende auf Kosten des Formalen und Beschreibenden in den Vordergrund rückt, desto größer der Anteil des Genitivs an der Gesamtzahl der Substantivverwendungen im Text ist. Kennzeichnend ist, daß beispielsweise in einem rein beschreibenden Abschnitt der Arbeit von Fleischer (S. 22-67: 2.4-2.5) der Anteil des Genitivs (34) an der Gesamtzahl der Substantive (428) auf 7,94% sinkt - vgl. 22,9% in der Einleitung und der Zusammenfassung am Ende der Abhandlung. Vermutlich spielt in die Verteilung der Kasusformen auch ein solcher stilistischer Faktor hinein wie die Neigung ganzer Gruppen von Gelehrten bzw. einzelner Forscher zur nominalen oder zur verbalen Satzbauweise. Jedenfalls zeichnet sich hier eine weitgehende Differenzierung ab, die durch mannigfaltige konkrete Faktoren bedingt ist. Und wenn das bereits für einen speziellen Bereich einer Wissenschaft zutrifft, so kann die Möglichkeit bedeutender Unterschiede auch zwischen diversen Bereichen einer und derselben Wissenschaft kaum in Zweifel gezogen werden. Die reale Verteilung der substantivischen Genitivformen im Gesamtsystem des deutschen wissenschaftlichen Schrifttums ist weit komplizierter als das von Strojeva in ihrem Artikel entworfene Bild vorgibt. Im Gegensatz zu dem Eindruck der endgültigen Lösung der gestellten Frage, den ihre Arbeit vermittelt, muß man die Untersuchung von Strojeva sowie die von Inozemcev unserer Meinung nach als erste Schritte zur Lösung des Problems betrachten. Aber schon jetzt kann man behaupten, daß der Gebrauch des Genitivs im gesamten wissenschaftlichen Schrifttum nicht durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung geklärt und als streng geregelt gedeutet werden kann, was u. a. den präzisen mathematischen Ausdruck der irrtümlich vorausgesetzten monotonen Regularitäten unmöglich macht. Quantitative Charakteristiken der Kasusformen in der deutschen wissenschaftlichen Literatur wie das „Übergewicht" des Nominativs und des Dativs - mit beträchtlichem Abstand - gegenüber dem Akkusativ und insbesondere dem Genitiv erweisen sich als durchaus genauer, verglichen mit Charakteristiken, bei denen es um die obere und die untere Grenze der Abweichungen von Mittelwerten geht, die für die Vorkommensfrequenzen der Kasusformen im wissenschaftlichen Funktionalstil angegeben werden, wobei man solche Abweichungen als nicht wesenhafte Variationen einschätzt. Gerade das meinten wir, als wir schrieben, daß sehr oft mit nur in allgemeiner Weise orientierenden Ausdrücken der Art wie „mehr", „weniger", „viel", „selten", „bedeutend häufiger" u. ä. im Grunde genommen eine
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größere Genauigkeit zu erzielen ist als mit quantitativen Daten, die die Wahrscheinlichkeitsrechnung liefert. 22 Wir wollen noch einmal folgendes betonen: Indem wir hier die Bedeutung der symptomatischen Herangehensweise bei den Fragestellungen nach der quantitativen Seite grammatischer Phänomene hervorheben, stellen wir das Potential der mathematisch fundierten Statistik durchaus nicht pauschal in Frage. Gerade die Forscher hingegen, die für die quantitative Analyse in jedem anliegenden Fall ausschließlich die Wahrscheinlichkeitsrechnung zulassen, erschweren das Herausfinden von Bereichen des Sprachbaus, innerhalb deren die mathematisch-statistische Verfahrensweise wirklich angemessen ist. Zu diesem Zweck muß man eine tiefgehende Differenzierung anstreben in bezug auf die Elemente des grammatischen Systems vom Standpunkt ihrer quantitativen Merkmale, insbesondere ihrer Vorkommenshäufigkeiten, aus. Den Gebrauch grammatischer Formen im wissenschaftlichen Funktionalstil wieder ins Auge fassend, merken wir an, daß hier nicht nur die einzelnen Wissenschaftsbereiche einer feinen Differenzierung bedürften, sondern auch die Art, wie man die Ausführungen gestaltet bzw. das Material behandelt. Die auf der Ebene des Allgemeinen vollzogene theoretische Auseinandersetzung mit einem Problem kann im Prinzip mit anderen Tendenzen des Gebrauchs bestimmter grammatischer Formen einhergehen als die Beschreibung eines Experimentes, die Aufzählung konkreter Fakten u. ä. Bei sprachwissenschaftlicher Untersuchung der Kunstprosa unterscheidet man gewöhnlich (und behandelt getrennt) den Autorentext und die Rede der Personen. Für andere Funktionalstile können andere Blickwinkel geltend gemacht werden, eingehende Differenzierungen sind allenfalls erwünscht. Will man eine möglichst adäquate Charakteristik des Gebrauchs der einen oder anderen grammatischen Form erarbeiten, so scheint uns übrigens die Unterscheidung solcher Sonderfälle angezeigt wie der Umweltbeschreibung, der Darstellung des Äußeren eines Menschen u. ä. Die Erforschung der quantitativen Seite grammatischer Phänomene ist ein komplizierter und langwieriger Vorgang, der auf eine immer feinere Differenzierung und Detailkenntnis abzielt. Die Vorstellung, daß man auf wahrscheinlichkeitsstatistischem Wege die aus dem Wesen der Sache erwachsenden Probleme mühelos und eindeutig lösen und „erledigen" kann, ist zutiefst irrig. V Zinder und Strojeva behaupten, es sei notwendig (und möglich), die mathematische Statistik frontal, d. h. hundertprozentig, anzuwenden, wenn es um die Vorkommenshäufigkeiten grammatischer Formen geht, und sie begegnen unserem Argument, die Wahrscheinlichkeitsstatistik lasse eventuell hinter übereinstimmenden quantitativen Daten stehende qualitative Unterschiede nicht erkennen, mit dem Gegenargument, das erste Gesetz der Statistik sei die
22
A d m o n i , W.G.: Grundlagen der Grammatiktheorie. S. 106.
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Auszählung homogener Objekte. 23 Die Frage, ob homogen oder heterogen, ist aber in der Praxis nicht immer leicht zu beantworten. So unterscheiden sich nach Arens 24 ganz unwesentlich der Umfang des Ganzsatzes in Lessings Fabeln aus der Mitte des 18. Jahrhunderts (13,66), die - generalisierend - für allgemeingültige ethische Verhaltensweisen werben, und der Umfang des Ganzsatzes in Döblins Roman „Berlin, Alexanderplatz" (13,92), der, in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts geschrieben, das Großstadtleben sehr anschaulich, mit einer Fülle von konkreten Einzelheiten schildert. Noch auffälliger ist - ebenfalls nach Arens - der fast vollständige Zusammenfall des Ganzsatzumfangs in den „Märchen" der Brüder Grimm (27,22) und in Th.Manns Roman „Der Zauberberg" (27,19). In den „Märchen" stehen Handlungen und Zustände im Vordergrund, die Substantive haben entweder keine oder nur die notwendigsten Attribute; Th.Mann schafft dagegen intellektuelle Prosa, die den Gegenstand der Darstellung vielseitig beleuchtet, die die Suche nach dem treffendsten, dem wesentlichsten Merkmal des Gegenstandes unter seinen mannigfaltigen Merkmalen widerspiegelt, usw. Und das kommt, nach den Auszählungen von Arens, in Ganzsätzen gleichen Umfangs zum Ausdruck. Die qualitative Heterogenität bei quantitativer Homogenität lauert dem Forscher auf Schritt und Tritt auf. Das bestätigt unsere Hauptthese, die darauf hinausläuft, daß bei der quantitativen Analyse grammatischer Phänomene außer der Wahrscheinlichkeitsrechnung auch andere Verfahren anzuwenden sind. Von besonders großer Bedeutung ist es, in der Textmasse Stellen ausfindig zu machen, die Anhaltspunkte für die Feststellung der die Gebrauchsfrequenzen bestimmter grammatischer Formen offensichtlich bedingenden Faktoren enthalten. Um solche Textstellen kann man weitere Texte gruppieren, die die Wirkung gleicher Faktoren - wenn auch manches Mal eine schwächere Wirkung - erkennen lassen. Diese Herangehensweise schmälert nicht die Bedeutung der umfassenden Durchschnittswerte. Um die besondere Art des Gebrauchs der einen oder anderen grammatischen Form unter dem Einfluß spezifischer Faktoren deutlich hervortreten zu lassen, muß man gerade den Durchschnittswert kennen, der für den Funktionalstil im ganzen gilt oder für einen Teilbereich des Funktionalstils, unter Umständen sogar gewissermaßen für die „totale" Sprache. Aber im Gegensatz zur mathematischen Statistik werden in der symptomatischen Statistik die Durchschnittswerte nicht als streng fixierte und exakte Überprüfung zulassende quantitative Merkmale angesehen. Sie gelten umgekehrt als nur in sehr allgemeiner Weise orientierende Anzeichen qualitativquantitativer Gesetzmäßigkeiten, als Anzeichen, die eine - möglicherweise sogar großzügige und keineswegs irgendwie vorgegebene - Bandbreite eventueller Schwankungen zulassen. Auf einige Teilbereiche des einen oder anderen Funktionalstils ist, wie wir schon bemerkt haben, die mathematisch-statistische Verfahrensweise anwendbar, und die vermittels dieser gewonnenen Durchschnittswerte müssen als 23 24
3 Η Η Λ e ρ , JI.P., C T p o e B a , T . B . : Op. cit. S. 122. A r e n s , H.: Verborgene Ordnung. Die Beziehungen zwischen Satzlänge und Wortlänge in deutscher Erzählprosa vom Barock bis heute. Düsseldorf 1965.
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Ausdruck strenger Regularitäten angesehen werden. Das sind aber lediglich Sonderfälle, die sich übrigens in das umfassende System quantitativer Daten ungehindert einfügen lassen, von Daten, die gemeinhin Durchschnittswerte schwankender Annäherungsgrade darstellen und von denen sich eigenartige Charakteristiken gewisser Texte bzw. Textabschnitte abheben können, die „Anhaltspunkte" für das Erkennen spezifischer textgestaltender Faktoren enthalten. In der Regel weisen also die flexiblen, Schwankungen unterliegenden statistischen Daten nicht auf streng verbindliche Regularitäten hin, sondern sie sind als Anzeichen, „Symptome" des Qualitativen an den grammatischen Sachverhalten zu werten. Aus diesem Grunde hielten wir es seinerzeit fiir angemessen, die elementaren sprachstatistischen nicht-wahrscheinlichkeitsstatistischen Verfahren als „symptomatische Statistik" („Symptomatik") zu bezeichnen. Die Einführung eines eigenen Terminus sollte mit Nachdruck die Verwendungsmöglichkeit von zwei grundsätzlich unterschiedlichen, wenn auch eventuell koordinierbaren, Verfahrensweisen zur Bestimmung der quantitativen Seite grammatischer Phänomene betonen. Das Attribut „symptomatisch" eignet sich gut dazu, das Wesentlichste an dieser Herangehensweise zu unterstreichen, nämlich den Wert der quantitativen Daten für die Deutung qualitativer Merkmale als deren wichtiger Anzeichen. Zinder und Strojeva argumentieren in ihrer Kritik des Terminus „symptomatische Statistik" mit dem Hinweis darauf, daß auch die Wahrscheinlichkeitsrechnung „symptomatisch" ist - weil dabei die quantitativen Merkmale ebenfalls auf das Qualitative an den untersuchten Objekten schließen lassen. Selbst wenn man dem zustimmt, darf man den Umstand nicht übersehen, daß die Wahrscheinlichkeitsrechnung, wenn sie auch „Symptome" ermittelt, diese als Anzeichen für den Sprachstoff unentwegt und strikt beherrschende Regularitäten interpretieren läßt, was unter anderem die exakte Bestimmung des Zuverlässigkeitsgrades der zutage geförderten quantitativen Daten erfordert. Die Funktion der „symptomatischen Statistik", wie wir sie verstehen, beschränkt sich darauf, über quantitative „Symptome" Einsichten in die qualitative Beschaffenheit grammatischer Phänomene zu gewähren. Die Wahrscheinlichkeitsstatistik ist ihrer Ausgangsbasis nach sowie nach ihrer Ausrichtung j a kaum als eine „symptomatische" anzusprechen. In ihrem Rahmen werden quantitative Schwankungen bei bestimmten Objekten nicht als Anzeichen differierender Qualitäten dieser Objekte verstanden, sondern es bekunden sich für sie darin nur die Gesetzmäßigkeiten von Zufallsstreuungen, die den eigentlichen Gegenstand der mathematischen Statistik darstellen. Zur symptomatischen, d. h. qualitativ ausgerichteten, wird die Wahrscheinlichkeitsstatistik dann, wenn sie geradezu eine Umkehrung in ihr Gegenteil erleidet, indem sie schlußfolgem läßt, daß die ermittellte Varianz mit den mathematisch-statistisch fundierten Formeln der Zufallsstreuung unvereinbar und folglich als nicht zufällig zu werten ist. Freilich verfugt die Wahrscheinlichkeitsstatistik über Mittel zur Festlegung der Grenze, bei deren Durchbruch die Streuung den Zufälligkeitscharakter verliert und wesenhaft wird. Das läßt die Beziehungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der symptomatischen Statistik sogar etwas inniger erscheinen.
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Doch ist die konzeptionelle Basis der Wahrscheinlichkeitsstatistik nichtsdestoweniger den Wesenszügen der symptomatischen Statistik fremd. Denn das Erkunden statistisch zu ermittelnder Wahrscheinlichkeiten zufälliger Ereignisse zielt im Grunde genommen Uberhaupt nicht auf die Erkenntnis der kausalen Wechselwirkungen ab, die die eine oder andere quantitative Verteilung der Objekte hervorrufen; vielmehr verstellen die durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung erbrachten Angaben über die Zufallsstreuungen geradezu die Sicht auf die ursächlichen Zusammenhänge. Ihrem Wesen nach verhalten sich die wahrscheinlichkeitsstatistische Beleuchtung des Sachverhalts und dessen Klärung im ursächlichen Sinne als ein Entweder - Oder zueinander. Die „Symptomatik" ist dagegen gerade darauf angelegt, zur Klärung ursächlicher Beziehungen beizutragen. Man kann gegen unsere Überlegungen einwenden, daß da die Wahrscheinlichkeitsstatistik über Operationalisierungsmittel zur Feststellung der Grenze verfügt, bei deren Überschreitung die Verteilung der quantitativen Werte aus einer zufälligen zur kausal motivierten wird, man in der Grammatik - wie überall sonst - stets mit dem mathematisch-statistischen Verfahren beginnen müsse, um den Sprachstoff auf seine Eignung für die darauffolgende Anwendung der einen oder der anderen Vorgehensweise zu prüfen. Aber abgesehen davon, daß die betreffenden Operationen nicht unter beliebigen Bedingungen Erfolg versprechen, würde dieser Schritt nur einen überflüssigen Zeitaufwand, aus reiner Pedanterie, bedeuten: Der ursächliche Zusammenhang der quantitativen Verteilungen mit bestimmten Faktoren ist in manchem Fall offensichtlich genug, so daß sich eine vorherige mathematisch-statistische Probe erübrigt. Eine der Aufgaben unserer früheren Publikationen zur quantitativen Problematik in der Sprachwissenschaft war, die jungen Sprachforscher vor mechanischer Anwendung wahrscheinlichkeitsstatistischer Zugriffe bei beliebigen Fragestellungen nach den quantitativen Charakteristiken grammatischer Phänomene zu warnen. Sonst läuft man Gefahr, die Erarbeitung dieser Charakteristiken auf das Manipulieren mit einem Satz von vorgegebenen Formeln zu reduzieren; diese Gefahr ist um so größer, als ein solches Manipulieren mit der allgemeineren Tendenz Hand in Hand einhergeht, für das linguistische Forschungswerk vorgefaßte „Konzepte" und Vorgehensschemata zu instrumentalisieren, ohne der Eigenart des Sprachstoffs als Untersuchungsgegenstandes Rechnung zu tragen. Diese Tendenz verstärkte sich merklich in den letzten Jahrzehnten, mit dem Ergebnis, daß die Erkenntnis der Sprache im allgemeinen zunehmend oberflächlich zu werden droht.25 Allerdings bahnt sich heute die Überwindung der genannten Tendenz an. Desto betrüblicher ist es, daß sie gerade im Bereich der quantitativen Analyse sprachlicher Erscheinungen wieder regsam wird. Der vorliegende Artikel entspringt dem Bestreben, eine solche Entwicklung zu verhindern. Die Hinwendung zur symptomatischen Statistik bei der quantitativen linguistischen Analyse bereitet dem Sprachforscher kein „leichtes Leben". Im 25
Vgl. Α Λ Μ Ο Η Η , Β.Γ.: Ü3biK03HaHHe Ha nepejioMe. In: HHOCTpaHHbie iUKOJie. 1968, X« 3.
Η3ΜΚΗ
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Gegenteil, er wagt sich auf einen sehr schwierigen Weg, denn parallel zu den Auszählungen muß er die Wechselwirkungen des beobachteten Phänomens mit anderen Elementen des Sprachsystems im Auge behalten, die Kräfteverhältnisse im Kreis der Faktoren erwägen, die dieses Phänomen beeinflussen, und überhaupt die (qualitativen) Aspekte einsichtig machen, unter denen das Untersuchte zu betrachten ist. Unter anderem muß er es verstehen, falls sich unabweisbare Anlässe dazu bieten, die Wahrscheinlichkeitsrechnung anzuwenden. Entlohnt wird er mit dem Erhellen, wenn auch in einer nicht gerade unmittelbaren Perspektive, der realen sehr komplizierten Sprach Wirklichkeit. In der Regel bringt seine Arbeit keine endgültigen Lösungen der Probleme, sondern man entdeckt neue Aspekte, bisher unbekannte Seiten der Forschungsobjekte sowie neue Möglichkeiten für die Anwendung verschiedener Methoden der quantitativen Analyse grammatischer Phänomene im engen Zusammenhang mit der Erkenntnis ihrer qualitativen Beschaffenheit. Die Menschheit hat allen Grund, stolz darauf zu sein, ein so kompliziertes, polydimensionales und vielschichtiges System wie die Sprache erschaffen zu haben, das der Forschung immer neue Seiten, neue Verflechtungen und Verzahnungen seiner Elemente offenbart. Das gleiche Verhältnis besteht zwischen Natur und Naturwissenschaften. Eine außerordentlich gewichtige Bedeutung kommt in der Sprachforschung den Methoden der quantitativen Analyse sprachlicher Phänomene zu, die es ermöglichen, bisher nicht erkannte Zusammenhänge und Tendenzen zu erkunden.
1971
Der strukturell-semantische Kern des Satzes Es ist üblich, unter den Komponenten des Satzes wichtigere, primäre, notwendige bzw. Hauptglieder und sekundäre, weniger wichtige, fakultative bzw. Nebenglieder des Satzes - unter verschiedenen Benennungen - zu unterscheiden. Somit unterscheidet man den notwendigen, den Hauptbestandteil des Satzes (den man manchmal als Satzkern, als Satzgerüst, als Basis des Satzes bezeichnet) von dem nebensächlichen, nichtnotwendigen Teil der Satzeinheit. Diese Differenzierung findet Ausdruck u. a. in den altbekannten Termini „nichterweiterter" („nackter") und „erweiterter" Satz. Auf den ersten Blick scheint hier bloß eine unterschiedliche Terminologie vorzuliegen, was in der Sprachwissenschaft überhaupt kein seltener Fall ist. Aber die Vielfalt der Bezeichnungen spiegelt auch konzeptionelle Unterschiede wider, die das Wesen der Sache betreffen (und dabei muß man unbedingt fragen, wie konsequent bestimmte Unterscheidungen durchgeführt werden). Als „Satzkern" können verschiedene Bestandteile des Satzes angesprochen werden, denn der Satz stellt ein vielseitiges, kompliziertes Gebilde dar, und je nach Grammatiktheorie werden verschiedene Elemente des Satzes als sein fester und stabiler Kern angesehen, den zusätzliche Komponenten erweitern. Man kann fünf Hauptprinzipien herausheben, die unterschiedlichen Bestimmungen des Satzkerns zugrunde liegen. 1. Als Satzkern kann man die Komponenten (bzw. eine Komponente) des Satzes betrachten, die den Satz hinsichtlich seines Inhalts und seiner Struktur - unabhängig vom Kontext und der Redesituation - als genügend abgerundet, abgeschlossen erscheinen lassen. Zum Satzkern rechnet man bei dieser Vorgehensweise die Komponenten, die man nicht auslassen kann, ohne daß der Satz unbeendet und ergänzungsbedürftig geblieben wäre. 1 Einen solchen Satzkern meint man eben, wenn man vom einfachen nichterweiterten Satz spricht. Auf dieser Auffassung des „Satzkerns" beruht das System der logisch-grammatischen Satztypen: Ihm liegen Form und verallgemeinerte grammatische Bedeutungen der - im oben ausgeführten Sinne - notwendigen Satzkomponenten zugrunde. 2 Den Satzkern vertreten unter dem dargelegten Standpunkt das Satzsubjekt und das Prädikat des zweigliedrigen Satzes (einschließlich der Komponenten des erweiterten Prädikats 3 ) bzw. das Hauptglied 1
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Dies wird mit Hilfe der „Abstrichprobe" erreicht: Aus einem realen, dem natürlichen sprachlichen Kommunikationsvorgang entnommenen Satz „streicht" man alle Komponenten, deren Entfernung die strukturelle und die (relative) semantische Abgeschlossenheit des Satzes nicht beeinträchtigt. Über die logisch-grammatischen Satztypen s.: A j i m o h h , Β.Γ.: Τηπολογη» npe.njiojKeHHH. In: HccjieaoBaHHa no oömefi TeopHH rpaMMETHKH. MocKea 1968. S. 232ff. Zum Begriff des erweiterten Prädikats s.: A a m o h h , Β.Γ.: BeeßeHHe β CHHTaKchc coepeMeHHoro HeMeuKoro sttbixa. MocKßa 1955. S. 55-56.
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Der strukturell-semantische
Kern des Satzes
des eingliedrigen Satzes.4 Der so definierte Satzkern ist als der logisch-grammatische Kern des Satzes zu bezeichnen. 2. Zum Satzkern kann man die Komponenten des Satzes rechnen, von denen alle übrigen Komponenten syntaktisch - direkt oder indirekt - abhängen. Was im Satz die dominierende Rolle spielt, wird aufgrund formal-syntaktischer Merkmale erkannt. Von den Konzeptionen, die auf diesem Prinzip aufbauen, ist die - äußerst anfechtbare - Theorie besonders verbreitet (die beispielsweise Tesniere vertritt5), nach der das Verb den Satz beherrscht und vom Verb sogar das Satzsubjekt abhängt. Tatsächlich aber sind in den Sprachen, für die die Zweigliedrigkeit des Satzes typisch ist, das Satzsubjekt und das verbale Prädikat formal-syntaktisch gleich gewichtet. Diese Satzglieder streben aufeinander zu und sind miteinander vermittels einer spezifischen obligatorischen Fügungspotenz 6 verbunden, die das Satzsubjekt dem Prädikat keineswegs unterordnet, schon ganz abgesehen davon, daß das Prädikatsverb in vielen Sprachen durch seine morphologische Abwandlung formale Kongruenz mit dem Satzsubjekt anzeigt und daß es außerdem verblose Sätze gibt. Welche Bewandtnis es damit in jeder Einzelsprache auch hat, es kann doch nicht angezweifelt werden, daß der Satz jeder Sprache eine hierarchische Struktur syntaktischer Abhängigkeiten aufweist, in der bestimmte Satzkomponenten (bzw. eine Satzkomponente) die Gipfelstellung einnehmen. Man kann diesen Bestandteil des Satzes als seinen „hierarchischen Kern" bezeichnen. 3. Als kommunikative Einheit bedarf der Satz einer Ausformung, die ihm die Eigenschaft straffer ganzheitlicher Geschlossenheit verleiht, ihn vor Auflösung in nur schwer zusammenzufügende Teile bewahrt. Einer solchen „Portativität" des Satzes7 dienen in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Mittel. Das wichtigste davon ist das universale Mittel der Intonation. Von großer Bedeutung dafür ist auch ein satzmodellierendes strukturelles Gerüst, das vielen Sprachen eigen ist und das gleichsam den ganzen, mitunter sehr umfänglichen, Satz abstützt. Die dieses Gerüst bildenden Satzkomponenten sind gewöhnlich in bestimmter Reihenfolge angeordnet, jede hat eine eigene Fügungspotenz und verhält sich auf eine besondere Weise hinsichtlich eventueller Weglassung. Die Komponenten des minimalen strukturellen Satzschemas, die den logisch-grammatischen Satzkern ausmachen, müssen nicht unbedingt dieselben sein; dies ist nur eine der Möglichkeiten. Zum Beispiel bildet im Englischen in den meisten Fällen die Verbindung des Satzsubjektes 4
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Vgl.: L U a x M a T O B , A . A . : CHHTHKCMC pyccKoro «3biKa. 2-oe M3/IAHNE. JleHHHrpaa 1941. S. 49ff. T e s n i e r e , L.: Elements de syntaxe structurale. Paris 1952. Am ausführlichsten ist die betreffende Auffassung in der Arbeit von Abramow dargelegt: A 6 p a M Ο Β , E.A.: CuHTaKCHMecKHe ποτβΗΐΐΗΗ marona (ΟΠΜΤ cmmiKCHHecKoro onncaHHS rjiarojia coepeMeHHoro HeMewcoro «3biKa KaK CHCTeMbi). ABTope