Spielraum und Rahmen: Abstinenz und Agieren in der psychoanalytischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen 9783666402418, 9783525402412, 9783647402413


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Spielraum und Rahmen: Abstinenz und Agieren in der psychoanalytischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen
 9783666402418, 9783525402412, 9783647402413

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Ellen Lang-Langer

Spielraum und Rahmen Abstinenz und Agieren in der psychoanalytischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402412 — ISBN E-Book: 9783647402413

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40241-2 ISBN 978-3-647-40241-3 (E-Book) Umschlagabbildung: daniel.schoenen/photocase.com © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Spielraum und Rahmen der Behandlung in der analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist überhaupt ein Rahmen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ort und Zeit der Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rahmen und Flexibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rahmen und Setting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung und Wechselwirkung in der Beziehung von Therapeut und Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstinenz und Agieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gute, böse, idealisierte Objekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sieben Behandlungen, in denen Rahmen und Spielraum einander ergänzen konnten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marlon, zwölf Jahre – Grund der Anmeldung: Unruhe und Aggressivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cynthia, zwölf Jahre – Grund der Anmeldung: Trennungsangst/Anklammern an die Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jenny, 20 Jahre – Grund der Anmeldung: Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . Michel, sieben Jahre – Grund der Anmeldung: Aggressive Durchbrüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anna, 17 Jahre – Grund der Anmeldung: Bulimie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philip, 18 Jahre – Grund der Anmeldung: Panikattacken . . . . . . . . . . . . . . Sylvia, 17 Jahre – Grund der Anmeldung: Essstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . Fünf Behandlungen mit zerbrechendem Rahmen und mangelndem Spielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emil, zwölf Jahre – Grund der Anmeldung: Angst vor Menschen . . . . . . . Sonia, 17 Jahre – Grund der Anmeldung: Panikattacken . . . . . . . . . . . . . . . Martin, zehn Jahre – Grund der Anmeldung: Ängste, Kopfschmerzen, nachlassende Schulleistungen . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Noah, sechs Jahre – Grund der Anmeldung: Missbrauch der Schwester durch einen Betreuer im Kindergarten . . . . . . 158 Katrin, 17 Jahre – Grund der Anmeldung: Schlafstörungen, Antriebslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Fünf Behandlungen wiederkommender Patienten, in denen neuer Spielraum entstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mariam, 14 Jahre – Grund der Anmeldung: Seh- und Gehstörungen . . . . Merve, 13 Jahre – Grund der Anmeldung: Desorientierung, Konflikte mit der Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sandro, sieben Jahre – Grund der Anmeldung: Unfähigkeit, sich zu wehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maximilian, sieben Jahre – Grund der Anmeldung: Unruhe, Aggressivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sören, zehn Jahre – Grund der Anmeldung: Hyperaktivität . . . . . . . . . . . .

191 192 210 220 235 250

Resümee und historischer Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

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Vorwort

Bedrängende Gefühle von Angst, Schuld, Scham und Wut, aber auch der Wunsch, diese zu verleugnen und abzuwehren, begleiten den Versuch zweier Menschen, im Verlauf eines psychotherapeutischen Prozesses miteinander in Beziehung zu treten. In meinen Berichten über die psychoanalytische Behandlung von Kindern und Jugendlichen geht es immer darum, dem Patienten einen Spielraum zur Verfügung zu stellen. Dem inneren Spielraum des Therapeuten kommt dabei eine wesentliche Bedeutung zu: Er öffnet den Spielraum des Patienten. Hierzu gehört die Fähigkeit, den Rahmen – psychoanalytisches Setting, Abstinenz etc. – stets neu zu verhandeln. Die Angst, zu scheitern, die Angst, Fehler zu machen und ÜberIch-Gesetzen nicht zu genügen, verhindert genau das und verweigert den Kindern und Jugendlichen den Spielraum, den sie zu ihrer Entwicklung benötigen. Um die Tragweite des Zusammenspiels von Rahmen und Spielraum aufzuzeigen, beschreibe ich zum einen Behandlungen, in denen Spielraum und Rahmen einander ergänzten, zum anderen solche, die abrupt endeten, weil der innere Spielraum, den ich zur Verfügung stellte, nicht ausreichend war. Ich analysiere in beiden Szenarien die Beziehung zu meinen Patienten unter dem Fokus eines sich mehr oder minder entwickelnden inneren Spielraums, sowohl auf der Seite des Patienten als auch des Therapeuten. Meine Hoffnung ist, auf diese Weise allen, die sich mit der psychoanalytischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen befassen, eine praxisnahe und praxisrelevante Aufarbeitung meiner Erfahrungen zu bieten und damit zur Vertiefung einer Problematik beizutragen, die für die therapeutische Arbeit wesentlich ist. Ohne die Infragestellung des Rahmens ist eine psychoanalytische Behandlung undenkbar. Sehr häufig verhindern Angst und Scham des Therapeuten das Entstehen eines Spielraumes – so auch in einigen der von mir beschriebenen Fallgeschichten. Das Zulassen von Unsicherheit, Zweifel und Unwissenheit kennzeichnet einen fruchtbaren therapeutischen Prozess.

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Vorwort

Mir fällt in diesem Zusammenhang eine begabte Studentin ein, die die SMS eines Jugendlichen beantwortet hatte, weil sie es für dringend erforderlich hielt, den Patienten nicht alleinzulassen. Diese intuitive und spontane Aktion war von massiven Ängsten begleitet, von mir nun des Agierens bezichtigt und zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ein anderes Beispiel, das den Sachverhalt, um den es mir geht, gut verdeutlicht, ist folgendes: Eine erfahrene Kollegin berichtete mir von einem kleinen Jungen, der über viele Stunden hinweg nicht damit aufhören konnte, aus dem Praxisfenster hinaus einen hohen Turm anzuschauen, der, wie sie intuitiv begriff, für seinen Vater stand, nach dem er sich sehnte und den er noch nie gesehen hatte. Der Wunsch des Jungen, ein einziges Mal in Begleitung der Therapeutin den Turm zu besuchen, löste in der Kollegin einerseits die Angst aus, ihre therapeutische Kompetenz zu verlieren; andererseits drängte es sie, ihm spontan zu entsprechen, weil sie fühlte, wie bedeutsam dieser konkrete Wunsch war. Während meines Nachdenkens über den Zusammenhang von Spielraum und Rahmen ging dieser in einer mir bislang unbekannten Weise immer wieder verloren. Es war, als sei es mein Thema selbst, das sich mir entgegenstellte und verflüchtigte. Mein innerer Widerstand war ganz sicher ein Gegenübertragungsphänomen. Während ich meine Gedanken über den Rahmen auszuführen trachtete, wurde mir bewusst, wie wenig Spielraum ich hatte, wie stark ich bedrängt war von der Angst, etwas falsch zu machen, zu scheitern, ungeschriebene wie geschriebene Gesetze zu verletzen. Das Zulassen meiner inneren Rebellion gegen den Rahmen war ein wichtiger Schritt, um mich überhaupt in einer angemessenen Weise mit diesem auseinandersetzen zu können und einen Spielraum zu finden. Wann agiert ein Therapeut? Wann enthält er sich? Meine Untersuchungen möchten dazu beitragen, dass jeder, der im Bereich der Kinder- und Jugendpsychologie therapeutisch tätig ist, in seiner Auseinandersetzung mit dem Rahmen einen wichtigen Schritt vorankommt und einen Spielraum findet.

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Einleitung

Bei den Behandlungen von Kindern und Jugendlichen, die ich darstellen und analysieren werde, liegt mein Fokus auf dem Rahmen. Meine Falldarstellungen1 werden verdeutlichen, in welcher Weise es mir gelang, mich innerhalb eines einmal gesetzten Rahmens zu bewegen, aber auch, warum es erforderlich war, genau dieses nicht zu tun. Ohne Spielraum wird der Rahmen zu einem toten Konstrukt, in dem Lebendigkeit und Kreativität verloren gehen. Meine Fokussierung auf den Rahmen ist eine nachträgliche, weder die Behandlungsstunden selbst noch deren Beschreibung waren von einem Fokus geprägt. Sie glichen eher einem Prozess, in dem Bilder entstanden, die sich langsam miteinander verknüpften. Sowohl der innere Rahmen des Therapeuten als auch das Setting der Behandlung benötigen immer wieder die Möglichkeit eines Spielraumes, was das Scheitern der Behandlung, aber auch das Persönliche des Therapeuten einschließt. Spielraum und Rahmen befinden sich während der Behandlungsstunden in einem andauernden Abwägungsprozess. Die Begriffe Spielraum und Rahmen, die bei der Beschreibung der Fallgeschichten konkrete Bedeutung gewinnen werden, sind beide untrennbar miteinander verknüpft und bedingen einander. Der Spielraum betrifft die unbewusste Welt. Wenn ich von Spielraum spreche, dann a) im Hinblick auf den Therapeuten: Hier geht es um den inneren Spielraum des Therapeuten im Kontext von Abstinenz und Agieren/Konkurrenz. Diese Begriffe werde ich weiter unten genauer erläutern. Spielraum bedeutet das Zulassen widersprüchlicher Gefühle, das Hinhorchen auf rahmensprengende Gefühle, das Zulassen von Verwirrung. Spielraum heißt den Raum öffnen und frei für Gestaltung machen, im Sinne von spielen. Mangelnder Spielraum auf Seiten des Therapeuten entspringt auch dem Wunsch, Erfolg zu haben. Mangelnder Spiel1

Alle Namen in den Falldarstellungen sind anonymisiert.

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Einleitung

raum verhindert das Annehmen der (negativen) Übertragung. Vor allem die starre Orientierung an einmal gegebenen Gesetzen engt den Spielraum ein und führt unbewusst zur Herrschaft des Abgewehrten, zum Beispiel der Konkurrenz. Wird Abstinenz zum Zufluchtsort des Therapeuten, wird der Raum zum Spielen geschmälert und eine rigide Atmosphäre geschaffen. Abstinenz soll oft den mangelnden Spielraum wettmachen. Der so gezimmerte Rahmen wird zu einem Versteck des Therapeuten, in dem nichts Neues entstehen kann. Wenn der Spielraum des Therapeuten blockiert ist, zerbricht der Rahmen oder wird zu einem fassadären Instrument, das zur Analyse von Übertragung und Gegenübertragung nicht geeignet ist. Spielraum bedeutet auch das Zulassen von Nähe. b) im Hinblick auf den Patienten: Spielraum beinhaltet auf Seiten des Patienten die Möglichkeit, unbewusste, abgewehrte Gefühle zuzulassen. Mit Abwehr und Abgewehrtem zu spielen kann neue Wege eröffnen, mit Triebhaftigkeit, Aggression und Bedürftigkeit umzugehen. Der Spielraum des Patienten erweitert sich zumeist im Verlauf der Behandlung. Böse innere Objekte drohen den Spielraum zu zerstören. Eine Erweiterung des Spielraums beinhaltet das (oftmals wortwörtliche) Spielen mit den bösen Objekten. Vielleicht wird auch ein in der Vergangenheit versäumtes Spiel, eines das aufgrund schicksalhafter Umstände nicht stattfinden konnte, nachgeholt. c) im Hinblick auf die Eltern des Patienten: Die Behandlung findet vor dem familiären Hintergrund statt. Unbewusst konkurrierende Gefühle der Eltern in Bezug auf den Therapeuten behindern den Spielraum des Patienten. Hier hängt vieles davon ab, inwieweit es dem Therapeuten gelingt, die Eltern und deren Angst vor ihrem Ungenügen zu begreifen und zu halten. Es besteht eine Abhängigkeit des Spielraums der Eltern mit dem potenziellen Spielraum des Patienten. Der Rahmen betrifft die bewusste Welt. Er wird zunächst vom Therapeuten gesetzt. Er ist zuvorderst als Schutz für den Patienten gedacht, nicht als Einengung. Ein unbewusst vom Über-Ich geprägter Rahmen ist ein Gefängnis für Therapeut und Patient. Der Rahmen allein kann keinen Spielraum schaffen. Er ist nur das Potenzial, in dem sich Spielraum entfalten kann bzw. könnte. Der Rahmen ist von Traditionen geprägt, wesentlich aber gestaltet er sich durch den vorhandenen oder aber nicht vorhandenen Spielraum der Beteiligten. Der Rahmen soll das Spielen schützen, nicht behindern, den Raum nicht schmälern. Er symbolisiert die über das spielende Kind im Hintergrund wachenden Eltern und sichert, dass keine Rache genommen wird. Der Rahmen ist nicht für alle gleich.

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Einleitung

Eine »Schwachstelle«, so Orange, Atwood und Stolorow, sei die Annahme, »dass ein und derselbe Rahmen für jeden Patienten oder für jedes analytische Paar geeignet sei« (2001, S. 40). Es ist der Therapeut, der mit seinem inneren Spielraum die Möglichkeit des Patienten ertastet, den Rahmen (der schützen soll) zu ertragen, um ihn nicht zum Gefängnis werden zu lassen. Der abstinente Rahmen darf nicht um seiner selbst willen existieren, dann geht der Spielraum verloren und der Rahmen wird zu einem Versteck, in dem Gefühle nicht lebendig werden dürfen oder können. Manchmal wird der Rahmen zur Fassade. Jede Behandlung bewegt sich in einem Spannungsfeld von Abstinenz und Agieren. So wie Spielraum und Rahmen (auf beide gehe ich im der Einleitung folgenden Kapitel noch einmal ausführlicher ein) sind auch Abstinenz und Agieren miteinander verwoben. Während Abstinenz eher dem Rahmen zugeordnet ist, ordnet sich Agieren dem Spielraum zu. Das eine ist die Kehrseite des anderen: Abstinenz: Der Therapeut enthält sich. Er stellt dem Patienten einen Raum zur Darstellung seiner inneren Welt zur Verfügung, den dieser zur Übertragung nutzen kann, weil er so wenig als möglich durch die Person des Therapeuten verstellt ist. Der Therapeut vermeidet Agieren und Konkurrenz und orientiert sich am Rahmen. Die Abstinenz kann zum Versteck des Therapeuten hinter nicht integrierten Über-Ich-Gesetzen werden. Dann behindert sie das Spielen mit unbewusst andrängenden Gefühlen, das heißt den Spielraum, und wird zu einer Flucht in den Rahmen. Agieren: Der Therapeut enthält sich nicht. Er wird unbewusst in die Szene des Patienten hineingezogen, agiert, sprengt möglicherweise den Rahmen. Agieren, zum Beispiel durch unbewusste Konkurrenz, kann zum Verlust von Spielraum führen. Häufig ist das Agieren des Therapeuten ein wichtiges Erkenntnisinstrument. Das Unbewusste des Therapeuten begreift dann etwas von dem Patienten, was andernfalls nicht zugänglich wäre. In den Fällen, in denen es dem Therapeuten gelingt, sein Agieren mit einem dritten Blick zu analysieren, wird es für die Behandlung fruchtbar. Das Agieren des Therapeuten steht in engem Zusammenhang mit dem einer Kinderbehandlung inhärenten Agieren seines Patienten. Agieren ist nicht Spielen. Triebhafte Anteile, die nicht abgewehrt werden können, verschaffen sich szenischen Ausdruck. Die Integration dieser Anteile, die das Spiel gewährt, gelingt nicht. Entlang meines Fadens von Spielraum und Rahmen werde ich, nachdem ich die für meine Fallberichte wesentlichen Elemente und Begriffe der psychoanalytischen Behandlung in ihren verschiedenen Aspekten im folgenden Kapitel erörtert habe, ein breites Spektrum von sowohl gelingenden als auch scheiternden Behandlungen präsentieren. Hinzu kommen oftmals nach Jahren wieder

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Einleitung

aufgenommene Therapien. Der Umgang mit Spielraum und Rahmen gewinnt in den Fallgeschichten konkrete Bedeutung. Eine jede der beschriebenen Behandlungen war geprägt von der Notwendigkeit meiner Patienten, einen Spielraum zu finden. Die Über-Ich-Anforderungen waren entweder in einer neurotischen Weise übermächtig oder aber in einer archaischen Weise präsent. Der Raum der Behandlung eröffnete den Kindern und Jugendlichen eine Möglichkeit, sich selbst und ihr Dasein in der Welt neu zu betrachten und im guten Fall einen Spielraum für überwältigende Gefühle zu finden. Dabei machte ich die Beobachtung, dass der sich erweiternde Spielraum meinen Patienten im Verlauf der Behandlung immer mehr ermöglichte, den Rahmen der Behandlung wertzuschätzen. Es war eine gewisse innere Entwicklung erforderlich, in der die Sicherheit darüber wuchs, dass Platz für den individuellen Spielraum war. Mangelnder Spielraum führte zum Abbruch von Behandlungen. Ängste vor im therapeutischen Raum freigesetzten, bedrängenden und nicht mehr abzuwehrenden Gefühlen von Hass, Aggression und Bedürftigkeit konnten nicht gehalten werden. Gleichwohl zeichneten sich diese Behandlungen allesamt durch eine große Intensität aus, sie führten mich und die Patienten an eine Grenze. Ich hatte immer das Gefühl, dass wir angesichts dieser Grenze eine Menge erfuhren, wovon wir zuvor noch keine Vorstellung hatten. Das Vorstoßen zu dieser Grenze stellte einen wichtigen Abschnitt im Leben der betroffenen Patienten dar. Ich täusche mich dennoch nicht darüber hinweg, wie schmerzlich die abbrechenden Behandlungen für mich waren und wie ich in jeder von ihnen im Traum des Gelingens gefangen war. Im Nachhinein erkannte ich sehr oft, dass es die sehr kleinen Schritte, die ich mit meinen Patienten gegangen war, waren, um die es ging. Es ging um kleine Möglichkeiten, bei denen nicht absehbar war, inwieweit die Patienten daran würden anknüpfen können. Im Gegensatz zur abgebrochenen Behandlung zeichnet sich eine Behandlung mit ausreichendem Spielraum durch die Möglichkeit aus, den Rahmen einzuhalten, diesen gemeinsam auszuhalten und auszuschöpfen. Aus dieser Tatsache allein gewinnt die Behandlung Sicherheit und Bodenhaftung. Die im Prozess belebten Gefühle können im festgesetzten Rahmen gehalten werden und sprengen diesen nicht. Die Gefahr des Scheiterns und das Überwinden der Krise machen eine gelingende Behandlung aus. Die psychoanalytische Behandlung bewegt sich meiner Erfahrung nach auf einem schwierigen Grat zwischen der Akzeptanz der Abwehr und dem Versuch, verschollenen Gefühlen Bedeutung zu geben. Manchmal bricht die Sprengkraft des Abgewehrten plötzlich in ungeahnter Heftigkeit aus. Manchmal, zumeist einer Wiederholung der Lebensgeschichte der Patienten gleich, kann nicht

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Einleitung

gehalten werden, was berührt wurde. Der Patient (in manchen Fällen auch der Therapeut) flieht im Abbruch der Behandlung vor einer schmerzenden Wunde, an deren Heilung er nicht mehr glauben kann. Es kam mir aber immer so vor, als sei das Berühren des Schmerzlichen, das sich im Nachhinein als ein Zuviel herausstellte, unausweichlich gewesen. Einige Lebenskonstellationen bewegen sich in diesem unheilvollen Wiederholungsmuster. Ich dachte oft, später vielleicht würde der Patient in der Behandlung bei einer Kollegin oder einem Kollegen auf das, was er mit mir so unheilvoll berührt hatte, zurückkommen können. In der Tat behandelte ich mehrere Patienten, die nach einigen Therapieversuchen bei Kollegen und Kolleginnen schließlich zu mir kamen und Ernst machen konnten mit ihrem Wunsch, etwas zu verhandeln, in die Beziehung einzubringen. Manchmal bedarf es eines langen Vorspiels mit vermeintlich scheiternden Therapien, um sich dem zu nähern, was unausweichlich andrängt. Manchmal bedarf es der Wiederholung, der krisenhaften Konstellation mit einem neuen Therapeuten, um sich langsam dem Schmerz zu nähern. Das nicht immer zu Beginn vorhandene, sich aber im Verlauf der Behandlung herstellende Arbeitsbündnis mit den Eltern war ein kardinaler Faktor für das Gelingen von Kinderbehandlungen. Ohne die Möglichkeit, die Eltern hinreichend einzubinden, kann die Arbeit mit einem Kind keinen Bestand haben, unabhängig von der Gestaltung der Patient-Therapeut-Beziehung. Die Behandlung wird scheitern und ins Leere laufen, gelingt es nicht, gleichzeitig die Eltern zu erreichen. Ohne einen guten Kontakt zu den Eltern wird der Therapeut unwiderruflich zur besseren Mutter, was letztlich darauf hinausläuft, dass die Behandlung entweder abgebrochen wird oder aber in einer letztlich unfruchtbaren Weise verläuft. Ich glaube, dass Kinder sehr fein spüren können, ob ihre Eltern ihnen die Beziehung zum Therapeuten gestatten können. Die Liebe zu ihren Eltern und die Abhängigkeit von diesen, eine trotz vieler Ambivalenzen unbedingte Loyalität, hat der Therapeut seinerseits zu respektieren. Das Kind steht immer dazwischen und bedarf der Sicherheit, dass die Erwachsenen einen Weg der Verständigung finden. Manchmal hat mich dieses Verhältnis an die Situation geschiedener Eltern erinnert, die sich wieder aneinander anzunähern und das Kind zu verstehen versuchen. Denn es ist ja ganz sicher so, dass der Therapeut das Kind in einer intensiven Weise und anders als die Eltern erlebt. Die Frage ist nun: Können die Erlebnisweisen von Therapeut und Eltern sich treffen, einander berühren? Im guten Fall ist das gar keine Frage. Der Therapeut oder die Therapeutin wird im Behandlungsverlauf, im Übertragungsverlauf, dasselbe Kind kennenlernen, das seine Eltern kennen. Im guten Fall wird es zu einem fruchtbaren Austausch kommen.

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Einleitung

Im schlechten Fall wird der Therapeut eine Dimension der inneren Welt des Kindes erfahren, die er nicht in den Austausch mit den Eltern einbringen kann, weil diese aufgrund vieler schicksalhafter Verknüpfungen die Dimension des Kindes nicht sehen können, die der Therapeut gerade für wichtig erachtet. Vielleicht gelingt es der Therapeutin in einigen Fällen gleichwohl mit dieser Situation umzugehen, abzuwarten, geduldig zu sein und immer wieder ins Gespräch zu bringen, was ihr wichtig ist, ohne dass die Behandlung abgebrochen wird. Manchmal gelingt in einem mühsamen Prozess ganz überraschend, wovon die Beteiligten nicht hätten träumen können. Im Nachhinein besehen ist es stets der unbewusste Wusch des Kindes gewesen, Eltern und Therapeut ins Gespräch zu bringen, der maßgeblich gewesen ist. Anders war es bei den Patienten, die mich erneut aufsuchten. Sie blickten auf ein ausreichend gutes Objekt zurück, das sie im Behandlungsverlauf gefunden, aber, wie ich beschreiben werde, zu früh verloren hatten. Im Nachhinein wurde deutlich, dass etwas gefehlt hatte, etwas nicht in die Verhandlung mit dem Objekt gekommen war. Diese Patienten vermochten es wieder- bzw. zurückzukommen, weil sie im Verlauf ihrer nicht ausreichenden Behandlungszeit gleichwohl ein prinzipiell ausreichend gutes Objekt verinnerlicht hatten, von dem sie sicher waren, dass es sich ihnen erneut zur Verfügung stellen, den Grund des Wiederkommens verstehen würde. Diese Patienten kamen auf der Grundlage einer gehaltenen inneren Beziehung zum Therapeuten zurück. Sie wünschten die Beziehung wieder aufzunehmen, nicht auszutauschen. In ihrem Wiederkommen strebten sie an, sich des guten inneren Objekts erneut zu versichern. Ihre Fähigkeit zurückzukommen deutet darauf hin, dass sie das gute innere Objekt aus dem ersten Teil der Behandlung nicht verloren hatten. Meine wiederkommenden Patienten hatten alle ein fürsorgliches Objekt in einer frühen Zeit entbehrt. Aus mannigfachen Gründen hatte es nicht zur Verfügung gestanden zum Auftanken. In ihrem Wiederkommen, ihrer Rückkehr zur Therapeutin (dem Übertragungsobjekt), unternahmen sie einen neuen Versuch. Würde die Therapeutin sich ihrer noch einmal annehmen in ihrer Not? Würde sie verzeihen, dass es nicht genug gewesen war? Würde sie nicht, selbst erschöpft, ablehnen? Die wiederkommenden Patienten kämpften sicher um einen zu früh verlorenen Ort. Es war, als ob sie plötzlich sprechen könnten und sagen: Es reichte nicht, ich will das jetzt. Ich komme zurück zu dir und will wissen, ob man das kann. Bist du noch da? Willst du es noch einmal aufnehmen mit mir? Die Behandlung meiner wiederkommenden Patienten gründete auf einer mindestens ein Jahr zurückliegenden Zeit, in der wir einen Modus der Beziehung gefunden hatten, den wir wieder aufnehmen konnten. Wir fingen nicht noch einmal von vorne an, sondern begegneten uns aufgrund einer spezifischen

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Einleitung

Geschichte, die wir fortentwickelten. Wir knüpften an eine Entwicklung an, die verloren zu gehen schien, aber nicht verloren war. Wir knüpften den Faden erneut, es war in allen Fällen ein sehr alter Faden, der der Verlebendigung bedurfte. Ich gehe davon aus, dass es in jeder Behandlung zur Auseinandersetzung mit bösen inneren Objekten kommt. Dieser Kampf, für den der therapeutische Raum ja vorgesehen ist und ohne den die Behandlung scheitern muss, kann gleichwohl zum Zerbersten des Rahmens führen, in sehr vielen Fällen führt er bis an die alleräußerste Grenze. Tatsächlich ist manchmal erst dann, wenn alles schon vorbei zu sein scheint, eine neue Entwicklung möglich. Der Patient wird der andrängenden Hoffnungslosigkeit des Therapeuten gewahr, er bemerkt urplötzlich die Begrenztheit des Therapeuten, den er als Gefäß für seine Destruktivität und Gier so dringend benötigt. Interessanterweise ist es gerade der drohende Untergang des Rahmens, der in vielen Fällen einen neuen Spielraum entstehen lässt und beim Patienten Fähigkeiten der Einfühlung mobilisiert, die ihm bislang unbekannt waren. Vermutlich ist es gerade das Bemerken der Begrenztheit des Objekts, das eine Entwicklung und neue Fragen ermöglicht. »Wird er es jetzt, wo er mich aufgibt, doch noch einmal mit mir versuchen?«, könnte eine der Fragen lauten. Wut, Hass und Enttäuschung vermischen sich mit der depressiv getönten Wahrnehmung des Objekts. Während dem Patienten die Begrenztheit des Objekts gewahr wird, eröffnen sich dem Therapeuten die unvermuteten Möglichkeiten des Kindes. Es entsteht ein Spielraum der wechselseitigen Wahrnehmung, eine Freisetzung des kreativen Potenzials auf beiden Seiten. Zu dieser krisenhaften Bewegung kommt es auch in den scheiternden Behandlungen, doch bricht sie hier vorzeitig ab. Die Wiederholung des alten Musters von Enttäuschung am Objekt und die Sicherheit dieses vertrauten Musters wird gesucht. Der Therapeut, der zum Zeugen der aufkeimenden Hoffnung des Kindes auf einen nicht in Wut und Entwertung untergehenden Spielraum in der Beziehung wurde, muss dann zurückgelassen, abgewehrt, die Behandlung abgebrochen werden. Was aber macht, unabhängig von der basalen, vorausgesetzten Kommunikation mit seinen Eltern, die gelingende Behandlung eines Kindes aus? In den gelingenden Behandlungen, die ich schildern werde, kam der Prozess in allen Fällen über einen krisenhaften Herd hinweg und es kam trotz oder wegen diesem zu einer ungemein dichten, liebevollen Art von Berührung, zu einer langsamen Bewegung, die in vielen fruchtbaren Entwicklungsschritten mündete. Für die Patienten, deren Behandlung ich als gelungen bezeichne, wurde ich in unseren Stunden zu einem frühen Übertragungs-, aber auch zu einem Hoffnungsobjekt. Sie vermochten an ihren inneren Wunsch anzuknüpfen, es mit dem Objekt noch einmal zu wagen. Sie wiederbelebten das gute Objekt, das in

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Einleitung

mannigfachen Erfahrungen von Enttäuschung verloren gegangen war. Sie bissen sich fest, sie kämpften, sie gaben nicht auf. Im Gegensatz zu meinen scheiternden Patienten wohnte ihnen etwas inne, was schwer zu beschreiben ist. Es gab da einen Ort in ihnen, so erklärte ich mir das oft, der schon lange, lange auf eine Gelegenheit gewartet hatte, neu in Verhandlung zu treten. Sie liebten es, auch wenn sie es immer wieder hassten, in Kontakt mit mir zu treten. Sie fanden einen Spielraum in ihren Kämpfen. Sie dehnten den Rahmen allesamt, aber es gefiel ihnen, dass er ihnen zur Verfügung stand und dass sie auf ihn zurückkommen konnten. Letztlich war es ihre neu gefundene Fähigkeit, zu lieben und sich anzuvertrauen, die ihre Behandlungen erfolgreich machte. Sie brachten etwas mit, woran es meinen scheiternden Patienten mangelte. Gelingende Behandlungen zeichnen sich meiner Erfahrung nach durch das Ausschöpfen des zu Beginn geplanten Behandlungskontingentes aus. In einigen Fällen waren mehr Stunden als geplant erforderlich. Auch bei den erfolgreichen Behandlungen kam es im Verlauf der Behandlung zu ausfallenden Stunden, drohten diese mitunter völlig abzubrechen, dehnte sich also der Rahmen weit. Doch im Unterschied zu den scheiternden Behandlungen schritt in diesen Fällen gerade auf diese Weise die Entwicklung weiter voran, und zwar im Sinne des Diskurses zwischen Patient und Therapeut. Ich werde im nächsten Kapitel Rahmen und Spielraum in ihren verschiedenen, für ihr Zusammenspiel und die psychoanalytische Behandlung relevanten Aspekten erörtern, das heißt im Hinblick auf Behandlungszeit, Behandlungsort, Flexibilität, Setting, die Entwicklung der Beziehung zwischen Patient und Therapeut, Abstinenz und Agieren sowie gute, böse und idealisierte Objekte. Es schließen sich die Fallgeschichten an, die das vorweg Erörterte praxisnah verdeutlichen und den Kern meiner Auseinandersetzung mit Rahmen und Spielraum bilden. Jede Fallgeschichte werde ich zunächst ausführlich in ihrem konkreten Behandlungs- und Deutungsverlauf nachvollziehen und auf diese Weise das Zusammenspiel von Rahmen und Spielraum, von Agieren und Abstinenz konkret veranschaulichen. Der Präsentation des Behandlungsverlaufs folgt jeweils eine kurze zusammenfassende Abschlussbetrachtung. Die Behandlungen sind drei Kapiteln zugeordnet und konkretisieren dementsprechend drei Behandlungstypen: Behandlungen, in denen sich Rahmen und Spielraum ergänzten; Behandlungen mit zerbrechendem Rahmen und mangelndem Spielraum; Behandlungen wiederkommender Patienten, in denen neuer Spielraum entstand. Abschließend werde ich ein kurzes Resümee bieten, das die persönlichen Erfahrungen, Deutungen und Analyseerkenntnisse, die meine Falldarstellungen präsentiert haben, anhand eines historischen Exkurses in eine Beziehung zum geschichtlichen Kontext der Kinderanalyse setzt.

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Spielraum und Rahmen der Behandlung in der analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie

Was ist überhaupt ein Rahmen? Der Rahmen umrahmt die Behandlung wie ein Bild. Das zu Gestaltende, und sei es auch selbst wild und voller Sprengkraft, formt sich innerhalb einer formalen Bgrenztheit, in ihr erst gewinnt es Gestalt. Das zu Gestaltende bedarf der Grenzen, um gestaltet zu werden. Im Fall eines zu malenden Bildes setzt der Künstler selbst sich seinen Rahmen, er erweitert oder vermindert ihn, er sucht ihn seiner Idee anzupassen. Er ringt mit dem Rahmen seines Bildes. Er sucht nach einem passenden Rahmen für sein Bild. Er will sein Bild, die in ihm aufgehobene Explosivität, umranden und erden. Das Geschöpf seiner Phantasie bedarf des Rahmens zum Überleben dringend. Der Rahmen der Behandlung von Kindern und Jugendlichen ist etwas Besonderes, weil das, was sich in den Behandlungsstunden abspielt, oft tatsächlich wild und uneingrenzbar ist. Der Ruheort, die Couch, für Erwachsene erdacht, existiert nicht. Kinder und Jugendliche stellen eine große Herausforderung für den Therapeuten dar. Manchmal denke ich, der Rahmen muss sich in jeder Behandlung erneut herstellen, denn jedes Kind, jeder Jugendliche droht ihn zum Zerbersten zu bringen. Der Rahmen stellt sich mit der Einfühlung in die Bedürfnisse des Kindes oder Jugendlichen her. Anders als Erwachsene sind Kinder und Jugendliche per se mit der Schaffung eines Rahmens beschäftigt. Sie lieben es, ihn zu verwerfen. Sie kämpfen gegen die Gesetze der Erwachsenen. Gleichzeitig suchen sie nach einem Ort für ihre Wildheit und sehnen sich nach Gestaltung. Der Therapeut ist in dieser Konstellation immer der Erwachsene, der der Gesetze mächtig ist. Zugleich erinnern ihn seine Patienten fortwährend an die eigene, vergangene, kindliche und jugendliche Zeit, an seine Rebellion gegen jedweden erwachsenen Rahmen. Der Therapeut erfüllt also eine doppelte Funktion: Er ist zum einen der Rahmenhalter, zum anderen nähert er sich in einer Art von Reminiszenz seinen Patienten, den Rahmenbrechern, an. Dass er beides kann, einen Spielraum besitzt, macht seine therapeutische Funktion aus.

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Spielraum und Rahmen der Behandlung

Spielraum Der Spielraum ist in der Kindertherapie einerseits der konkrete Ort, an dem gespielt wird, andererseits und darüber hinaus aber ein metaphorischer Ort. Der innere Spielraum mangelte meinen Patienten. Bedrängt von Gefühlen der Angst, Aggression und Ohnmacht fanden sie keinen Ort zum Spielen mit der Welt, den Objekten und dem, was diese in ihnen auslösten. Genauso wenig vermochten sie, den ihnen konkret angebotenen Raum zum Spielen kreativ zu nutzen. Jeglichen Spielraum fürchteten meine Patienten und wehrten ihn ab. Meist flüchteten sie sich in standardisierte, zwanghafte Spielmodi, die die Aufnahme einer Beziehung, die ja immer einen gewissen Grad von innerem Spielraum voraussetzt, verhinderten. Versagten diese Spielmodi, reagierten sie häufig mit Triebdurchbrüchen. Im Grunde befand ich mich mit meinen Patienten in einem Raum, in dem nicht gespielt werden konnte, weder im inneren noch im äußeren Sinne. Phantasie und Berührung, alles, was in einer verwirrenden und überwältigenden Weise aus dem Innen kam, wurde abgewehrt. Das abstinente Setting der psychoanalytischen Behandlung umrahmt die Geschehnisse im Behandlungsraum und bietet, so zumindest die Idee, Platz für alles Verwirrende, das aus dem Unbewussten andrängt. Der äußere Rahmen wird bestimmt durch das gewählte Setting, der innere Rahmen betrifft die innere Welt des Therapeuten, man könnte auch sagen: seinen Spielraum. Das heißt: Der innere Rahmen des Therapeuten, seine innere Struktur, ist verknüpft mit seinem inneren Spielraum. Seine Möglichkeiten, seinen Patienten zu begegnen, bewegen sich im Spannungsfeld von Rahmen und Spielraum. Seine Fähigkeit, mit Scheitern umzugehen, dieses als Voraussetzung von Entwicklung begreifen zu können, macht einen wesentlichen Teil seines Spielraumes aus. Der Spielraum des Patienten entwickelt sich erst im Verlauf der Behandlung. Ich bin der Überzeugung, dass projektive Identifizierungen hier eine wesentliche Rolle spielen. Der Therapeut, der zum Gefäß der abgewehrten Gefühle seines Patienten wird und diese überlebt, bietet sich im Behandlungsprozess als Objekt der Identifizierung an. Ich gehe davon aus, dass die therapeutische Entwicklung sowohl Patient als auch Therapeut betrifft. Spielen, ein kreativer Vorgang, ist nur dann möglich, wenn die Angst vor dem Unbekannten, Unberechenbaren nachlässt. Ein kreativ spielender Mensch weiß nicht, wohin ihn seine Phantasie treiben wird. Es macht ihm Freude, sich treiben zu lassen, was das Gegenteil von Getriebensein ist. Allein, dass gespielt werden darf, ist ein Ausdruck von innerer Freiheit. Das, was man spielt, wird und muss nicht real agiert werden. Im Spiel darf man alles. Der Spielende träumt.

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Ort und Zeit der Behandlung

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Orange, Atwood und Stolorow beschreiben den analytischen Prozess als einen, dem »eine ständige Spannung zwischen dem Festhalten an der Regel und der Förderung von Flexibilität« inhärent sei, als Spielen, als »einen Beziehungsprozess mit offenem Ausgang« (2001, S. 37). »Der Technikbegriff«, so fahren die Autoren fort, »impliziert die Vorstellung, dass es ein angemessenes und ›richtiges‹ Verfahren gäbe. Der primäre Zweck sämtlicher technischer Regeln besteht grundsätzlich darin, Gehorsam zu induzieren« (S. 38). Spielraum entsteht im normalen Entwicklungsverlauf des Kindes in einer frühen Zeit, bereits vor dem Erreichen der Objektkonstanz. Das Vertrauen in ein schützendes Objekt ist eine unabdingbare Voraussetzung hierfür. Traumatische Einbrüche mindern den Spielraum. Zwanghafte Abwehr wird mobilisiert und es kommt zu Triebdurchbrüchen. Triebhaftes kann nicht integriert werden und es wird agiert, statt gespielt. Spielraum beinhaltet eine gleichzeitige Nähe und Distanz zum Objekt. Auf dem Hintergrund der schützenden Nähe entsteht ein Spiel mit Distanz und Separation. Spielraum heißt Abstand nehmen können, eigene Wege finden. Um diese Wege träumerisch zu erkunden, bedarf es der Erfahrung mit einem frühen haltenden und seinerseits träumenden Objekt. Hinzu kommt die Erfahrung, einmal auch ohne Worte verstanden zu werden. Einmal entstandener Spielraum kann im Behandlungsverlauf wiederhergestellt werden. Viel schwerer ist es, dort eine Ahnung von Spielraum zu schaffen, wo nie einer war. Ort und Zeit der Behandlung Der Behandlungsraum, in dem Patient und Therapeut sich zu ihren Sitzungen treffen, prägt den Rahmen der Behandlung wesentlich. Er soll den Patienten nicht mit der Persönlichkeit des Therapeuten bedrängen, ihm vielmehr Raum lassen. Jede Veränderung des Raumes wird von Kindern und Jugendlichen bemerkt, egal ob sie das zu erkennen geben oder nicht. Hat ein anderes Kind mit der Puppe gespielt, die man selbst in jeder Sitzung benötigt? Es ist notwendig, dass der Patient den Rahmen seiner Behandlung zu akzeptieren lernt und begreift, dass er den Behandlungsraum mit vielen anderen teilt. Dies ist für Kinder schmerzlich und stellt in der analytischen Kinder- und Jugendpsychotherapie einen schwierigen Prozess dar. Das Kind muss zum Beispiel respektieren, dass es dem Therapeuten nicht möglich ist, ihm einen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem es Spielfiguren aufbaut, die es in der nächsten Sitzung genauso wieder vorfindet. Daher ist es wichtig, dass der Patient den Behandlungsraum am Ende der Sitzung wiederherstellt und somit für den folgenden Patienten herrichtet. Dies signalisiert dem Patienten den Rahmen der Behandlung, den er

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Spielraum und Rahmen der Behandlung

anzuerkennen hat und der die Stunden betrifft, in denen er sich mit dem Therapeuten im Behandlungsraum trifft. Er findet im besten Fall alles so vor, wie es immer war. Die Spuren der Benutzung des Raumes durch andere Patienten sind in der Regel ausgelöscht, weil jeder Patient am Ende der Sitzung, manchmal mit Hilfe des Therapeuten, den Raum wiederherstellt. Das ist eine unerlässliche Rahmenbedingung, die der Therapeut setzt. Sollte das Kind sich weigern, räumt der Therapeut in Anwesenheit des Kindes den Raum alleine auf, alles aber in der vereinbarten Zeit der Sitzung. Die Sitzung und der Ort der Behandlung stellen innerhalb dieser vereinbarten Zeit einen Raum zur Verfügung, der dem Kind allein gehört. In diesem Rahmen nimmt es auf seine besondere Weise Kontakt zum Therapeuten auf. Es verweigert sich, starrt vor sich hin, wirft sich auf den Boden, weint, erzählt etwas, das ihm einfällt, spielt mit seinen Händen, berichtet von seinen Sorgen, bringt seine Hausaufgaben oder seinen Gameboy mit, schweigt oder spricht. Egal, was geschieht und welche Art Beziehung sich im Verlauf der Zeit zwischen ihm und dem Therapeuten herstellen und entwickeln wird, es findet in einem unveränderlichen Raum und immer zur gleichen Uhrzeit statt. Diese Sicherheit über Zeit und Ort bildet ein Gegengewicht zu all dem Unvorhersehbaren, Ängstigenden und Unberechenbaren, was die Sitzungen bestimmen wird. Der Rahmen von Zeit und Ort verankert die Behandlung, den Umgang mit dem Unbewussten, in der Realität. Das Unbewusste, von der Realität Losgelöste, bedarf dieses Rahmens. Durch seine verbindliche Existenz gewinnt die Missachtung des Rahmens erst Bedeutung. Egal, wie oft die Zeit auch versäumt wird oder wie oft versucht wird, sie zu verschieben, sie steht ein für allemal fest. Egal, wie oft versucht wird, den Raum zu verändern und zu manipulieren, er wird immer wieder so verlassen, wie er vorgefunden wurde. Der Rahmen ist die Idee, das Ideal, an dem sich die Realität misst. Erst innerhalb dieses Ideals wird verstehbar, was dem Rahmen nicht genügen, ihn mitunter zum Explodieren bringen muss. Zur zeitlichen Struktur des Rahmens gehört auch die Frequenz der Behandlung. Wie bei den Fallgeschichten deutlich werden wird, reduzierte ich in einigen Fällen die Behandlungsfrequenz zum Ende der Behandlung hin. Grund hierfür war in der Regel die Idee, dass eine wesentliche Arbeit bereits geleistet war und zur nachfolgenden Stabilisierung des Erreichten der Zeitfaktor wesentlich sein würde. Bei einigen wiederkommenden Patienten war es möglich, an das bereits Erarbeitete in einer niedrigen Frequenz anzuknüpfen.

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Rahmen und Flexibilität

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Rahmen und Flexibilität Der Rahmen der Behandlung zeichnet sich aus durch einen bestimmten, unveränderbaren Ort und regelmäßige Termine sowie die Vereinbarung über ein zeitliches Mindestkontingent an Stunden zwischen einem Patienten und einem Behandler. Es ist eigentlich gar nicht zu glauben, wie unendlich kompliziert es ist, sich innerhalb dieser scheinbar einfachen Komponenten zu bewegen. Der Rahmen der Behandlung ist formal. Er stellt die Möglichkeit zu allem bereit, was nicht formal ist. Er ist erforderlich, weil alles, was innerhalb des Rahmens geschieht, Sprengkraft besitzt. Es gibt auch letztlich keinen Rahmen, der verhindern kann, dass er gesprengt wird. Der Rahmen ist immer davon bedroht zu explodieren. Denn die innerhalb des Rahmens zwischen Patient und Therapeut verhandelten Themen werden im Fall einer gelingenden Behandlung nahezu zum Scheitern des Rahmens führen. Der Rahmen ist insofern ein seltsames Konstrukt. Er ist nicht absolut. Er ist dehnbar. Sein Sinn überhaupt ist es, einen Spielraum zur Verfügung zu stellen. Seine Flexibilität verhindert, dass er vorzeitig bricht. Manchmal erscheint er als das Gegenteil seiner selbst. Am Rahmen halten sich Therapeut und Patient manchmal wie Ertrinkende fest. Sie spüren – in der Regel dann, wenn alles verloren scheint –, da ist etwas, an das es sich zu klammern lohnt, ein seltsam formales Konstrukt, eine alte, kaum erinnerbare Vereinbarung. Der Rahmen der Behandlung schützt häufig vor dem, was im wirklichen Leben geschieht: dem Abbruch der Beziehung. Seine Existenz, manchmal kaum erinnerbar im Lärm der Behandlungsstunden, gewährleistet gleichwohl deren Fortgang. Anton, zwölf Jahre alt, rief mich einige Wochen nach Aufnahme der Behandlung häufig an, um sich zu entschuldigen, weil er sich krank fühlte. Es dauerte einige Zeit, bis ich realisierte, was geschah. Wir sahen uns kaum noch. Die Behandlung fand eigentlich gar nicht mehr statt. Sahen wir uns dann doch, nahm ich seine Angst wahr. Anton war auf der Flucht, ich konnte ihn nicht mehr erreichen. Anton war bei mir angemeldet worden, weil er große Leistungsschwierigkeiten im Gymnasium hatte. Auch dort fehlte er häufig, weil er sich krank fühlte. Ich besprach die Situation schließlich mit seinen Eltern. Die Mutter berichtete, dass sie Anton sehr oft entschuldigen müsse, weil er sich nicht wohl fühle. Aus dem Vater brach es heraus. Er berichtete, bevor er sich für einen künstlerischen Beruf entschloss, lange Zeit beim Militär gewesen zu sein und Fieber sei da die einzige Möglichkeit gewesen, nicht anzutreten. Ich verstand in dieser Szene sehr viel von Anton, der ein großes Problem hatte, seinem idealisierten Vater das Wasser zu reichen und sich in die Bezie-

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Spielraum und Rahmen der Behandlung

hung zu seiner Mutter flüchtete. In der Behandlung von Anton war es somit ungemein wichtig, die Eltern als Paar zu erreichen und ihnen dies verständlich zu machen. Und da mir das gelang und ich dabei auch dem resignierten Vater einen Raum verschaffte, gelang mir auch die Behandlung von Anton. Ich hatte das Gefühl, dass beide Eltern über unsere Gespräche ihre Beziehung noch einmal neu verstehen konnten – ein Glücksfall. Der militärische Vater und die symbiotische Mutter fanden einen Weg, ihrem Sohn nicht nur den Weg zu seinen Sitzungen, sondern auch zu seinen Schulstunden zu ermöglichen. Anton blühte auf, nachdem ihm keine Entschuldigungen mehr geschrieben wurden. Er war gar nicht mehr wiederzuerkennen und begann es sogar zu lieben, in die Schule zu gehen und seine Therapiestunden einzuhalten. Er fand es einfach wunderbar, nicht mehr fliehen zu müssen. Er begann sich mit dem Vater zu identifizieren, der ja nicht nur der Militärische, sondern auch derjenige war, der diese Art des Lebens geflohen war und schließlich in einem künstlerischen Beruf Bestand hatte. Anton fand seine Eltern während der Behandlung noch einmal neu. Er entriss sich dem symbiotischen Zug seiner Mutter und entdeckte einen Vater, der sich selbst einmal hatte neu erfinden müssen. Der Rahmen der Behandlung, das vereinbarte Stundenkontingent, die wöchentlich zweimal vereinbarten Termine über den Zeitraum von mindestens zwei Jahren ermöglichten eine Neuverhandlung. Antons Vermeidung seiner Stunden führte nicht zum Abbrechen dieser. In dem Moment, in dem ich dachte: »Ich will nicht mehr, so nicht«, und mir in der Übertragung vermutlich die unbewussten Phantasien des Vaters bezüglich seines Sohnes aneignete, ermöglichte es mir der Rahmen, das Setting der Behandlung, neue Wege zu finden, nicht aufzugeben. Der Rahmen, den wir vereinbart hatten und der noch immer existierte und die Form vorgab, auch wenn er sich bis zur Unkenntlichkeit gedehnt hatte, war der Gegenentwurf sowohl zu Antons Flucht vor unseren Stunden als auch zu meinem Wunsch aufzugeben. Auf ihn kam ich zurück. Ohne die gelingende Kommunikation mit Antons Eltern wäre der Rahmen sicher zerbrochen. Das war vielleicht das Wichtigste: Der Rahmen konnte in seiner Bedeutung im Gespräch mit den Eltern erneuert werden. Das Kind, Anton, das zwischen Vater und Mutter stand, konnte neu bedacht werden.

Nicht immer gelingt, was in der Behandlung von Anton gelang. Manchmal scheitert der Rekurs auf den Rahmen und es ist, als habe er niemals existiert. In den scheiternden Fällen verliert der Rahmen seine Plastizität. Ein böses inneres Objekt scheint auf und will alles zerstören, den Rahmen vor allem. Denn dieser ist im Grunde das Gefäß, innerhalb dessen sich abspielt, was Entwicklung und die Hoffnung auf ein gutes Objekt ermöglicht. Die Explosion des Rahmens, sein

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Rahmen und Setting

Scheitern, zerstört die Hoffnung auf ein gutes Objekt und bezeugt die Vorherrschaft böser innerer Objekte, die keinen Spielraum zulassen können. Die Triebkraft dieser bösen inneren Objekte ist stets die Angst vor der Entwicklung, die unwägbar, unberechenbar, unerträglich und bedrohlich erscheint. Mitunter werden wir zu Zeugen des Lebens von Patienten, deren Realität aus den Fugen gerät, deren Lebensrahmen bedroht ist. In diesen Fällen wird unser beschränkter Rahmen zu allem, was diese Patienten haben und damit zu etwas, wozu er nicht erdacht worden ist. Der therapeutische Rahmen ist angewiesen auf eine ausreichend stabile Lebenswirklichkeit der Patienten. Aber nicht alles ist vorhersehbar, gerade in der Behandlung jugendlicher Patienten nicht. Manchmal verändert sich unser Rahmen unvermutet radikal und die therapeutische Situation wird in einer Weise wichtig in ihrer Zeugenschaft, die sich mit der einmal angestrebten Abstinenz kaum noch zu vertragen scheint. Der Phantasieraum des Therapiezimmers wird gesprengt, wir werden von Zuhörern, Übertragungsobjekten plötzlich zu realen Objekten, zu leibhaftigen Menschen, die Partei ergreifen und unseren Patienten gleich nicht mehr ertragen können, was geschieht. Manchmal kommt es zu solchen Situationen. Sie fordern den inneren Spielraum des Therapeuten heraus. Das Ideal des Rahmens weicht der Flexibilität, die ihm inhärent ist. Der Rahmen kann seine Existenzberechtigung nur behalten, wenn er dem, was er umrahmt, entspricht, und zwar im gesamten Verlauf der Behandlung. Im metaphorischen Sinne bedeutet das: Die Art des zu umrahmenden Bildes und der Verlauf seiner Entstehung gestalten den Rahmen mit. Rahmen und Setting Der Rahmen des Therapeuten ist eine innere Haltung, die sich im Setting spiegelt, darin aber nicht aufgeht. Das Setting könnte man beschreiben als einen Operationalisierungsversuch des Rahmens. Der Versuch ist naturgemäß beschränkt. Er betrifft die äußeren Bedingungen, die sich nur annähernd auf den inneren Rahmen beziehen. Wenn der Patient das Setting angreift, greift er den inneren Rahmen des Therapeuten an, den dieser in jeder einzelnen Behandlung neu herstellen muss. Damit der Therapeut den Rahmen halten und innerlich wiederherstellen kann, bedarf er eines Spielraumes. Das heißt: Der Angriff auf das Setting intendiert immer den Angriff auf den inneren Rahmen und damit auf den Spielraum des Therapeuten, der beide also in der Übertragung beständig zu verlieren droht. Verliert er den inneren Rahmen, findet er nur in einem mühsamen Prozess der Analyse seiner Gegenübertragung zu ihm zurück. Der Spielraum, den der innere

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Spielraum und Rahmen der Behandlung

Rahmen dem Therapeuten gewährt, ist jedoch genau das, was seinem Patienten in der Regel mangelt, so dass sich Über-Ich-Derivate und Es-Bedürfnisse unversöhnlich gegenüberstehen. Der Angriff auf das Setting hat daher immer dann eine vernichtende, alles infrage stellende Wirkung, wenn der Therapeut seinen Spielraum aufgibt. Denn nur innerhalb dieses Spielraumes ist es ihm möglich, mit der latenten Über-Ich-Haftigkeit des Settings und mit der Infragestellung desselben kreativ umzugehen. Was in einer Behandlung übertragen wird, betrifft stets den inneren und äußeren Rahmen des Patienten, seine Struktur und die Bedingungen seines Lebens. Es liegt nahe zu vermuten, dass Kinder und Jugendliche, deren Leben von äußeren Brüchen geprägt ist, dazu tendieren, den Rahmen anzugreifen. In jeder einzelnen Behandlung, unabhängig vom Entwicklungsniveau des Patienten, findet ein Kampf um den Rahmen, ein Angriff auf diesen statt. Bleibt dieser Angriff aus, kommt in der Therapeut-Patient-Beziehung etwas nicht zum Tragen, was für die Behandlung erforderlich ist. Doch wie die Fallgeschichten zeigen werden, erfolgt der Angriff auf den Rahmen nicht immer in der Intensität, die man vermuten würde. Über eins sollte die Professionalisierung nicht hinwegtäuschen: Mit jedem Angriff auf den Rahmen werden im Therapeuten existentielle Ängste belebt. Sie betreffen sowohl seine berufliche Existenz als auch seine innere Welt. Wie alle Menschen ist der Therapeut darauf angewiesen, angenommen zu werden und mit dem, was er tut, Bestand zu haben. Die Brüchigkeit der inneren Welt seiner Patienten überträgt sich auf den Therapeuten und mobilisiert in vielen Fällen schwere Versagens- und Verlustängste. Dabei ist es wichtig, dass der Therapeut sich diesen öffnen kann und sich nicht verschließt. Lichtenberg führte aus: »Manche Reaktionen gestehen die Therapeuten sich selbst oder ihren Patienten nur ungern ein. Ein starker Affekt, was immer es sei – eine hypomanische oder sexuelle Erregung, eine verliebte Zuneigung, Ekel, Zorn, Furcht, Verachtung, Verzweiflung oder fehlendes Interesse und Gleichgültigkeit –, bringt den Therapeuten in die schwierige Lage, entweder für die Subjektivität ihres Patienten offen zu bleiben oder ihre eigene Reaktion zu bewältigen […] Ihre Aufgabe besteht darin, das Zusammenspiel oder die Inszenierung unter ihrem eigenen Blickwinkel zu beschreiben und, sofern möglich, den Auslöser ihrer Reaktion festzustellen, während sie ihre Aufmerksamkeit zugleich auf die Perspektive des Patienten lenken« (2007, S. 181).

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Entwicklung und Wechselwirkung

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Entwicklung und Wechselwirkung in der Beziehung von Therapeut und Patient Manchmal denke ich darüber nach, wie viel ich aus meiner Arbeit mitnehme, wie viel ich von meinen Patienten lerne, von scheiternden, gelingenden und wiederaufgenommenen Behandlungen, sehr stark auch von jenen, die ich in keine meiner Kategorien einzuordnen vermochte, in denen vieles offen blieb. Es ist nämlich gar nicht wahr, dass nur die Patienten von mir profitieren. Jeder meiner Patienten vermochte es, mein eigenes Leben in einer sehr spezifischen Weise zu erhellen. Daher meine ich, dass die Rollenzuschreibung von Patient und Therapeut zu hinterfragen ist. Sie hängt einem hierarchischen Modell an. Wer sich in den therapeutischen Stunden auf sein Gegenüber einlässt, profitiert unweigerlich im Hinblick auf das eigene Leben. Orange, Atwood, und Stolorow, die sich mit dem Begriff der Intersubjektivität beschäftigten, lehnen es ab, die Ursprünge oder das Fortbestehen von Psychopathologie allein dem Patienten zuzuschreiben. Im Hinblick auf die Rolle des Therapeuten geben sie Folgendes zu bedenken: »die persönliche Geschichte prägt und begrenzt die Fähigkeit jedes Analytikers zu empathisch-introspektivem Verstehen […] das bedeutet, dass wir bei der Beschreibung unserer klinischen Arbeit weit offener über uns selbst berichten müssen« (2001, S. 19). In der Regel ist es so, dass der Therapeut eine Struktur mitbringt, die ihm das Halten schwieriger Gefühle ermöglicht. Er ist erfahren hinsichtlich einer Abwehr von Gefühlen, die zugleich das Zulassen dieser Gefühle bedingt. Seine Integrationsmöglichkeiten machen ihn zu einem guten Therapeuten. Seine Patienten fordern die durch Erfahrung und Schulung gewonnenen Fähigkeiten des Therapeuten mit ihrer Unfähigkeit zur Integration von Gefühlen immer wieder aufs Neue heraus. Jeder Patient bringt eine neue Situation mit sich, auf die sich der Therapeut mit seinem professionellen Hintergrund, aber auch mit seiner persönlichen Geschichte einstellen, die er zulassen und ernst nehmen muss. Mit jedem Patienten gerät die einmal erlangte Struktur ins Wanken. Ich bin davon überzeugt, dass die Fähigkeit zum Heilen notwendig mit der Fähigkeit zusammenhängt, die Verunsicherung der Struktur, die der einzelne Patient bewirkt, zu akzeptieren und flexibel auf sie zu reagieren. »Übertragung und Gegenübertragung bilden zusammen ein intersubjektives System der wechselseitigen Beeinflussung«, so Orange, Atwood und Stolorow. Der »Mythos von der Objektivität […] verleugnet, dass die analytische Wahrheit gemeinsam konstruiert wird« (S. 63). Die Wirklichkeit vieler Patienten, die zu mir kamen, wirkte derart fremd, dass sie mir wie Aliens erschienen. Mir fällt Sonia ein, ein von Panikattacken

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Spielraum und Rahmen der Behandlung

gepeinigtes Mädchen, aber auch die in der Wirklichkeit absolut desorientierte Katrin oder Sandro, der einen Amoklauf ankündigte. Ein Wunder, dass sie den Weg in meine Praxis fanden. Gab es irgendetwas, was mich mit ihnen verband? Dennoch verstanden es diese Patienten, mich in ihre Welt, die fern der Realität war, mitzunehmen. Jeder von ihnen machte mir bewusst, wie fern der Realität ich mich mitunter befand. Ihre bedürftigen Anteile berührten meine. Wie sonst hätte ich sie heilen können? Erst nachdem ich mich auf ihre Wirklichkeit, ihre Phantasien, eingelassen hatte, zu versinken drohte, setzte die Entwicklung der Patienten ein. Es ist ein Beruf am Rande der Grenze zur Wirklichkeit, dem ich nachgehe. Der Therapeut wird im Behandlungsprozess zu einem Grenzgänger. Er bedarf einer gefestigten inneren Struktur, die es ihm ermöglicht, die Phantasien seiner Patienten zu erden. Doch um das tun zu können, muss er die Wirklichkeiten der Patienten zunächst erfahren. Der Therapeut muss beides zugleich können: sich verlieren und sich erden, um nicht verloren zu gehen. Nach den Gesetzen der Logik ist das nahezu unmöglich. Der Umgang des Therapeuten mit der Wirklichkeit und den Phantasien seiner Patienten ist ein dialektischer. Adorno und Horkheimer haben in der »Dialektik der Aufklärung« den Prozess beschrieben, in dem der Mensch, während er die Natur und seine Ängste vor dieser im Prozess der Aufklärung und Säkularisierung zu beherrschen lernt, zugleich etwas Wesentliches verliert: seine Fähigkeit, sich die Natur anzuverwandeln, ein Teil von ihr zu sein. Sie beschrieben den Prozess der Aufklärung als einen Prozess des Verlustes der Mimesis. In jeder einzelnen Therapie findet Aufdeckung, Aufklärung statt. Es wird versucht, bedrängende Gefühle und Ängste zu begreifen. Die unintegrierbaren Gefühle und Erfahrungen machen den Patienten, so wie wir ihn kennenlernen, aus. Sie sind die Spur seiner Geschichte, seines Versuches, sich mit der Realität auseinanderzusetzen. Es kann in der Therapie nicht darum gehen, auszulöschen, was den Patienten auszeichnet. Mein gewählter Weg, mich meinen Patienten durch Mimesis anzunähern, erschien mir oft als langsam. Ich wusste nicht, was kommen würde, und hatte immer damit zu rechnen, dass es mir nicht gelingen würde, sie zu erreichen. Meine Patienten waren manchmal nicht bereit, den Weg mit mir zu gehen, mussten fliehen. Der Therapeut ist gleichzeitig der Zweite und der Dritte. Während er sich seinem Patienten anverwandelt, laufen die Fäden bei ihm zusammen. Es geht im Wesentlichen darum, dass seine Rolle als Zweiter (Dyade) und Dritter (Triangulierung) einander nicht ausschließen. Dieser Sachverhalt führt zu vielen entscheidenden Fragen: Kann Triangulierung überhaupt stattfinden, wenn man der Mimesis anhängt? Kann die Triangulierung die Dyade bewahren? Ist das

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Behandlungsvertrag

dyadische (mimetische) Modell der Anverwandlung überhaupt entwicklungsfähig? Welche Art von Triangulierung ist das eigentlich, die angestrebt wird, sobald man das dyadische Modell verlässt? Kann ich das Dritte über das Zweite finden? Geht mir das Dritte im Prozess des Anverwandelns nicht verloren? Können Zweites und Drittes sich überhaupt jemals versöhnen? Je länger ich darüber nachdenke, umso schwerer wird es mir, das Dritte in der psychotherapeutischen Beziehung zu orten. Es entsteht aus einer persönlichen, individuellen Lebenskonstellation mit dem Zweiten (der Mutter) und dem Dritten (dem Vater) und allen hieraus entstehenden Möglichkeiten der Vermittlung zwischen diesen. In der Regel befähigen den Therapeuten unter anderem ausreichend gute Erfahrungen mit dem Zweiten und Dritten zu seinem Beruf. In einem idealen Lebensverlauf stehen am Beginn Vater und Mutter, ein einander verbundenes Paar, das von der psychischen Wechselwirkung weiblicher und männlicher Gestaltung profitiert und ein seiner Beziehung entstammendes Kind teilhaben lassen kann an den Möglichkeiten, die das Zweite und das Dritte zu bieten haben. Das Dritte, unter dem wir ja auch das Gesetz, die Regel verstehen, ist keine feste, unveränderliche Größe, es ist stark angewiesen auf das Zweite, den Bestand, den dieses in der inneren Welt hatte. In der psychoanalytischen Arbeit gelingt es manchmal, auf der Grundlage einer guten und vertrauensvollen dyadischen Beziehung das Dritte in der inneren Welt zu orten, eine Art von Strukturierung vorzunehmen. Behandlungsvertrag Viele Kollegen und Kolleginnen setzen einen Behandlungsvertrag mit den Patienten oder deren Eltern auf.1 In diesem geht es vor allem um die Regelung der ausfallenden Stunden. Die Verträge weichen in den Details voneinander ab, zum Beispiel im Hinblick auf die Fragen: Wie lange vorher muss ein Patient Bescheid sagen, wenn er zu einer Stunde nicht kommen kann, einen, zwei, drei oder sehr viel mehr Tage vorher? Wie hoch sollte das Ausfallhonorar sein, das berechnet wird? Gemäß einigen Verträgen muss ein Patient ohnehin zahlen, wenn eine Stunde ausfällt, in anderen gibt es den Modus des Absagens gar nicht. Wieder andere haben besondere Klauseln in dem Vertrag, die sich auf eventuell eintretende Krankheiten des Patienten beziehen und festlegen, dass diese durch Krankheit entstandenen Stunden entweder gar nicht oder erst ab einem 1

Es sind nicht die juristischen Implikationen dieses Vertrags, die mich im Zusammenhang meiner Untersuchung von Rahmen und Spielraum interessieren. Daher gehe ich auf diese nicht ein.

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Spielraum und Rahmen der Behandlung

bestimmten Zeitraum (nach drei, vier Tagen oder Wochen) in Rechnung gestellt werden. Einige Kollegen und Kolleginnen besprechen das Prozedere mündlich, anstatt einen schriftlichen Behandlungsvertrag aufzusetzen. Das, was der Behandlungsvertrag festlegt, entspricht den Vorstellungen des Therapeuten, die er über den Rahmen der Behandlung und den Umgang mit dem Agieren seiner Patienten hat. Die verschiedenen Varianten und ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen werden im Kollegenkreis leidenschaftlich diskutiert. Die am einfachsten zu vertretende Variante ist sicherlich die, die ausgefallene Stunden grundsätzlich in Rechnung stellt. »Es gibt keine Wertigkeit ausfallender Stunden. Die Bezahlung dieser dient der Reproduktion des Therapeuten. – Es gibt keine gute oder schlechte Begründung für das Ausfallen dieser Stunden, sie sind ganz einfach zu entrichten«, argumentieren die Anhänger dieser Variante und klagen die Kollegen, die ausfallende Stunden aufgrund von Krankheit der Patienten nicht berechnen, einer unanalytischen Haltung an. Zwischen begründet und unbegründet ausgefallenen Stunden zu differenzieren, ist schwierig. Es werden oft Fälle angeführt, in denen Patienten die Regelung im Krankheitsfall ausnutzten und den Therapeuten belogen. Es gibt ein breites Spektrum psychosomatischer Erkrankungen, die früher oder später in die Übertragung zum Therapeuten kommen und dazu führen können, dass dieser in vielen Fällen aufgrund der Krankheitsklausel einen Ausfall der Bezahlung von Stunden hat. Gleichwohl führen die Kollegen die Krankheitsklausel mit gutem Recht an, da sie die Erfahrung gemacht haben, dass Eltern ihre kranken Kinder in einigen Fällen in die Therapiestunde brachten, weil sie das Honorar für die ausfallende Stunde nicht zahlen wollten. Die Therapeuten mussten dann mit den kranken Kindern arbeiten, was für deren Behandlung wenig sinnvoll war. In einigen Fällen wurden die Therapeuten angesteckt. Das wollten sie durch die Krankheitsklausel für die Zukunft vermeiden. Der Behandlungsvertrag beinhaltet die Idee, das Agieren des Patienten zu regulieren. Denn gerade das Ausfallenlassen von Behandlungsstunden bietet dem Patienten die Möglichkeit, seinen Unmut über den Therapeuten in einer diesen schädigenden Weise auszudrücken. Es gibt kaum eine direktere Möglichkeit. In der Kinderbehandlung sind die Patienten und Patientinnen jedoch selten in der Lage, auf diese Weise zu agieren, da sie von ihren Eltern hergebracht und vor der Tür abgesetzt werden. Fallen Stunden aus, handelt es sich meist um ein Agieren der Eltern, die auf diese Weise ihre ambivalente Haltung gegenüber der Behandlung ihres Kindes zum Ausdruck bringen. Anders ist es bei Jugendlichen. Sie ringen um Autonomie und nutzen dieses Mittel daher häufig. Der Therapeut und seine Regeln und Gesetze repräsentieren die inneren Eltern des Patienten, gegen die er ankämpft.

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Behandlungsvertrag

Agieren, das zur psychoanalytischen Kur gehört, hat für den Patienten seinen Preis. In einem Gesundheitssystem, das zwar für abgehaltene Therapiestunden aufkommt, aber nicht für die ausfallenden – den Patienten also für die Einhaltung seiner Verpflichtung durch Übernahme der Kosten belohnt –, wird die ausfallende Stunde zum Kampf gegen Regel und Gesetz und erhält eine besondere Bedeutung. Weder war die Psychotherapie in den Anfängen der Psychoanalyse Kassenleistung, noch ist sie es heute in vielen anderen Ländern. Die Psychoanalyse findet in diesen Ländern noch immer unter vollkommen anderen Vorzeichen statt. Wer sich ihr unterzieht, zahlt jede vereinbarte Stunde selbst. Das heißt: Die ausfallende Stunde hat im psychoanalytischen Prozess keinen geringeren Stellenwert als die stattfindende. Im Rahmen der Kassenleistung entsteht ein Bewertungssystem, das meines Erachtens einen Eingriff in das Setting darstellt. Da der Therapeut, der sich den Regeln der kassenärztlichen Versorgung unterwirft, sein Honorar für ausfallende Stunden beim Patienten einklagt, wird, wer seine Stunden nicht wahrnimmt, bestraft. Ich bin davon überzeugt, dass dieses System der Kassenleistung der Idee der psychoanalytischen Kur widerspricht. Es wird häufig gesagt, dass es wichtig sei, die ausfallenden Stunden in Rechnung zu stellen, damit der Therapeut über diese Regelung verfüge, wenn die Aggression des Patienten aufgrund dessen Agierens im Hinblick auf das Nichtstattfinden von Sitzungen in die Übertragung komme. Was aber resultiert daraus? Doch nichts anderes, als dass das, was der Therapeut auf diese Weise vertritt: die Regel, das Dritte, das Gesetz, seinen Ansprüchen entspricht, diese also durch das Gesetz sichert. Dies bedeutet innerhalb der Behandlung, in der Übertragung, jedoch eine Übermacht von Über-Ich-Anteilen. Auf diese Weise entsteht eine regressionsfeindliche Situation, die dem psychoanalytischen Rahmen nicht gemäß ist. Der Patient, vor allem der finanziell schlecht gestellte, dem die Kassenregelung zugutekommt, kann sich ein Agieren mit ausfallenden Stunden nicht leisten, er wird entmündigt. Rebelliert er und lässt Stunden dennoch ausfallen, führt das zum Abbruch der Behandlung, die Bedürftigkeit des Patienten wird bestraft. Der Therapeut wiederum tritt in eine direkte Geschäftsbeziehung zum Patienten, wenn er erklärt: »Ich muss Ihnen ausfallende Stunden berechnen, um wirtschaftlich arbeiten und existieren zu können.« Solch Umgang mit den Patienten beinhaltet eine nichtabstinente Haltung. Andere Arztgruppen, die ein Ausfallhonorar berechnen, haben in der Regel keine so lange Behandlungszeitspanne. Ist das gleichwohl der Fall, zum Beispiel bei größeren Zahnbehandlungen oder kieferorthopädischen Behandlungen, wird zum Teil ein geringes, privat zu zahlendes Ausfallhonorar berechnet. Vor allem Kieferorthopäden führen die Behandlung nur bei Entrichtung eines Ausfallhonorars von 20 Euro fort. Alle anderen Arztgruppen kalkulieren Ausfälle

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Spielraum und Rahmen der Behandlung

ein und bestellen aus diesem Grunde stets mehr Patienten in die Praxis, als im vorgegebenen Zeitabschnitt behandelt werden können. Sie benötigen ein volles Wartezimmer, um ökonomisch arbeiten zu können. Eine solche, den Patienten von anderen Ärzten her vertraute Handhabung, ist in der psychoanalytischen Therapie jedoch nicht realisierbar. Abstinenz und Agieren Abstinenz wird häufig zu einem Deckmantel für die Unsicherheit des Therapeuten, der Angst hat, Fehler zu machen, wenn er Intuition und Spontanität zulässt. Orange, Atwood und Stolorow beziehen sich auf Thomson, wenn sie bemerken, »dass Analytiker und Therapeuten vor allem dann geneigt sind, Neutralitätsansprüche geltend zu machen, wenn die Übertragungszuschreibungen ihrer Patienten ihr eigenes Selbstgefühl bedrohen« (2001, S. 57; siehe auch Thomson, 1991). Ohne einen inneren Spielraum, in dem die Regeln verhandelt werden, verliert der Therapeut jedoch Authentizität und Glaubwürdigkeit. Man kann sehr viel über sich selbst und den Patienten erfahren, wenn man riskiert die Grenzen des Rahmens nicht zu eng zu stecken. Eine gewisse Regressionsbereitschaft des Therapeuten ist hierzu erforderlich. Wovon ich spreche, ist das, was man Agieren nennt. Es geschieht unbewusst. Wenn auf Seiten des Therapeuten genügend Spielraum oder die Fähigkeit zur nachträglichen Analyse vorhanden ist, führt sein Agieren zu einem Reichtum an Erkenntnis: Warum stelle ich einem bestimmten Patienten eine ausgefallene Stunde nicht in Rechnung? Warum beantworte ich einem bestimmten Patienten in der letzten Sitzung vor meinem Urlaub die Frage nach meinem Urlaubsort? Warum mache ich einem bestimmten Patienten ein Abschiedsgeschenk? Warum mache ich bei bestimmten Patienten dort eine Ausnahme, wo ich mich in der Regel enthalte? Die Analyse solcher Fragen, das heißt von Situationen, in denen der Therapeut seinen gewohnten Rahmen verlässt und einen für einen bestimmten Patienten notwendigen Spielraum unbewusst zulässt, bietet eine Fülle von Material für die Auseinandersetzung mit Abstinenz und Agieren und der ihnen zugrunde liegenden, dem Therapeuten unbewussten Haltung. »Konsequentes Abstinenzdenken des Analytikers« – Orange, Atwood und Stolorow beziehen sich hier auf Kohut und Wolf – »verzerrt den therapeutischen Dialog entscheidend, indem es Feindseligkeit und heftige Konflikte erzeugt, die in höherem Maße ein Artefakt der Haltung des Analytikers darstellen als eine genuine Manifestation der Psychopathologie des Patienten« (2001, S. 57; siehe auch Kohut, 1976 und Wolf, 1977). Abstinenz und Agieren sind die Vorder- und Rückseite der gleichen Medaille. Die abstinente Haltung, das heißt der abstinente Rahmen, versucht einen Raum

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Abstinenz und Agieren

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für das Unbewusste des Patienten zu schaffen. Hierdurch findet gleichzeitig eine Regulierung statt. Die Abstinenz des Therapeuten ist für den Patienten wie ein Gesetz, das er nicht begreift. Behandlungen, in denen die Abstinenz des Analytikers nicht angegriffen und infrage gestellt wird, sind bei Kindern und Jugendlichen kaum vorstellbar und sicher auch nicht wünschenswert. Kinder mit einer neurotischen Struktur neigen dazu, den abstinenten Rahmen schnell zu akzeptieren, was man allerdings auch als eine Anpassungsleistung bezeichnen könnte. Kinder mit Entwicklungsstörungen kämpfen über weite Strecken gegen den Rahmen und die damit verbundene Abstinenz an. Die Identifizierung mit den Gesetzen des Erwachsenen ist abhängig von der inneren Struktur des Patienten, seinen Erfahrungen mit den Objekten. Die meisten Kinder agieren per se im therapeutischen Raum. Sie sitzen nicht still auf ihrem Platz, sie springen und laufen umher, wählen dieses oder jenes Spiel aus dem Vorrat, bald darauf ein anderes. Sie fordern den Therapeuten auf, mit auf dem Boden Platz zu nehmen, mit ihnen zu spielen, manchmal auch dazu, einen Purzelbaum zu machen. Sie bringen Süßigkeiten mit in die Sitzung, die sie mit dem Therapeuten teilen wollen, und verlangen nicht selten, dass dieser sie sofort und nicht später zu sich nimmt. Sie rennen aus dem Raum. Sie hören nicht auf den Therapeuten. Kurz, sie bringen den Analytiker und seine abstinente Haltung während der Behandlungsstunden ständig in Bedrängnis, sie zwingen ihn auszusprechen, was er sich versagen muss, nein zu sagen, etwas abzulehnen, etwas zu verbieten, in manchen Fällen zum handgreiflichen Festhalten. Sie provozieren auf diese Weise seine Reaktion, sie wollen wissen, wer er ist. Sie wollen ihn aus dem Versteck seiner Abstinenz hervorlocken. Je mehr er sich versteckt, umso heftiger werden sie sich bemühen. Mit ihrem Agieren versuchen sie eine Beziehung herzustellen. Vieles hängt davon ab, wie der Therapeut mit diesen Versuchen umgeht. Kann er sie als eine, vielleicht die einzige Möglichkeit begreifen, mit dem Kind in Kontakt zu kommen? In einigen Fällen wird er zum Agieren verleitet, die Aggression, die Wut des Kindes bemächtigt sich seiner, vielleicht schreit er es unvermutet an. Unbewusste Triebkräfte reißen ihn mit und lösen im Nachhinein Scham aus. Im guten Fall gelingt es ihm, die beschämende Szene, in die er sich hineinziehen ließ und in der er die notwendige Distanz und Abstinenz verlor, zu nutzen, um etwas von seinem Patienten und der Beziehung zu ihm zu begreifen. Das Deuten derartiger Szenen und unbewusster Zusammenhänge stellt einen wichtigen Rahmen der psychoanalytischen Behandlung dar. Manchmal wird es jedoch zum Gegenteil von Spielraum und zu einem Versteck vor ängstigenden Gefühlen, die den Therapeuten bedrängen. Manchmal ist es schwer, einfach nur anwesend zu sein und abstinent zu bleiben, was zum Beispiel bedeu-

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Spielraum und Rahmen der Behandlung

tet, das Zusammensein mit dem Patienten nicht zu kontrollieren. Der Wunsch, eine ängstigende Situation in der Übertragung zu kontrollieren, indem man sie deutet, ist nachvollziehbar und häufig unvermeidlich. Gerade in der Behandlung von Kindern ist eine Deutung aber nur dann sinnvoll, wenn sie im Dialog von Therapeut und Patient entsteht, sich also innerhalb der Beziehung entfaltet. Im guten Fall entstehen Deutungen aus einem tiefen, sich langsam und lange annähernden Verstehen. Im schlechten Fall entspringen sie der Abwehr des Therapeuten und seinem Versuch, Kontrolle auszuüben. »Alles, was der Analytiker tut oder sagt – insbesondere die Deutungen, die er anbietet –, ist ein Produkt seiner eigenen psychischen Organisation und verrät dem Patienten zentrale Aspekte der Persönlichkeit des Analytikers. Insoweit sind auch Deutungen Suggestionen, und es ist von entscheidender Bedeutung für die Analyse, zu erforschen, ob der Patient glaubt, sich den Blickwinkel des Analytikers zu eigen machen zu müssen, um die therapeutische Beziehung nicht zu verlieren« (Orange, Atwood u. Stolorow, 2001, S. 57). Wie authentisch bleibt der Therapeut in der Abstinenz? Was ist erlaubt? Was findet innerhalb des Rahmens statt? Was sprengt ihn? Die Kinder versuchen persönliche Daten des Therapeuten zu erfragen: Ist er verheiratet, hat er Kinder, was ist sein Sternzeichen, wo wohnt er, welches Auto fährt er, wie alt ist er? Etc. Selbstverständlich bedeuten diese Fragen etwas und stehen im Zusammenhang mit der Entwicklung des Kindes, seiner Konfliktlage, dem Stand der Übertragungsbeziehung. Evident ist jedoch auch, dass eine Beantwortung dieser Fragen die Übertragungsbeziehung stört und den Therapeuten zum konkreten Objekt werden lässt. Wie geht der Therapeut also mit diesen Fragen um? Ein einheitlicher Umgang mit dieser Situation ist meiner Erfahrung nach nicht möglich. Es besteht nämlich die Gefahr, in einer schablonenhaften Weise an der Abstinenz festzuhalten. Das Gefühl, falsch reagiert zu haben, wird immer einmal wieder auftreten. Eine Möglichkeit, die allgemein beliebt ist, besteht, wie ich aufgrund der vielen Fallvorstellungen, die ich gehört habe, weiß, darin, zurückzufragen: »Was denkst du denn?« Dabei ist mit unterschiedlichen Reaktionen der Patienten zu rechnen: Manche werden eine Antwort verweigern und auf ihrer ursprünglichen Frage beharren, andere werden antworten und dann auf ihre ursprüngliche Frage zurückkommen, wieder andere werden antworten und es dabei bewenden lassen. Letztere, so vermute ich, fühlen das Problem des Therapeuten im Umgang mit diesen Fragen und passen sich an. Das Zurückgeben der Frage stellt somit eine Chance dar, die Grenzen zwischen Therapeut und Patient auf eine Weise aufzuzeigen, die der Patient annehmen kann. Eine andere, ähnlich schablonenhafte Möglichkeit, auf die konkreten Fragen des Patienten zu antworten, beginnt mit der Phrase: »Das würdest du sicher

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Abstinenz und Agieren

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gerne wissen …«, und erscheint mir wenig sinnvoll, weil sie derart offensichtlich dem Über-Ich-Gesetz des Therapeuten gerecht zu werden versucht. Eine Variante, die ich oft wähle, lautet: »Das sind hier deine Stunden, es geht um dich, und wenn ich jetzt anfangen würde, aus meinem Leben zu erzählen, wäre das für mich, als würde ich dir diese Stunde wegnehmen und für mich gebrauchen, das will ich nicht. Es ist wirklich besser, wenn ich deine Fragen nicht beantworte.« In einigen Fällen kann ich gut mit dieser Antwort leben. Sie ist weniger schablonenhaft als das Zurückgeben der Frage und enthält den Wunsch, dem Patienten etwas zu erklären. Trotzdem trägt auch sie schablonenhafte Züge. »Du willst jetzt wissen, wer und wie ich bin«, ist eine weitere Reaktion, die mir bei manchen Patienten einfällt. Im Grunde gerate ich aber jedes Mal, wenn ein Patient mir eine persönliche Frage stellt, erneut in eine innere Not. Zu wissen, wie man in einer Weise Nein sagt, die der Patient nachvollziehen kann, bleibt bei allen erprobten Möglichkeiten eine Herausforderung. In vielen Fallvorstellungen fiel mir auf, dass die Kollegen und Kolleginnen versuchen, eine direkte Antwort auf die persönlichen Fragen der Patienten und Patientinnen zu vermeiden. Einige reagieren mit Schweigen. So oft ich diese Reaktion anstrebte, gelang sie mir nicht. Ich bin inzwischen überzeugt davon, dass sie die kindlichen und jugendlichen Patienten stark verwirrt und in ihrer Not alleinlässt. Die konkreten Fragen der Patienten haben eine Berechtigung, die ernst zu nehmen ist. Sie sehnen sich danach zu wissen, wer und wie ich bin. Dass die konkrete Existenz des Analytikers sich hinter der Abstinenzregel verflüchtigt, ist befremdlich und wirkt pädagogisch, obwohl es nicht so gemeint ist. Es erinnert an das, was die Erwachsenen ja nur gut meinen, wenn sie den unersättlichen Begierden des Kindes Einhalt gebieten. Es setzt die Über-IchRegel, kann nicht wirklich erklärt und verständlich gemacht werden. Ich denke in diesem Zusammenhang an meine Tochter, die ihren Vater im Alter von drei Jahren heiraten wollte. Ich sagte ihr, dass doch aber ich mit ihm verheiratet und sie viel zu jung sei. Der Vater versuchte sich in Erklärungen. Unsere Tochter hörte sich das alles an. Plötzlich, unvermutet, unberührt von all unseren Erläuterungen, sagte sie: »Ich werde den Papa heiraten.« Offensichtlich fiel es uns schwer zu verstehen, wie stark der Wunsch in ihr war. Wir sagten nicht: »Du darfst das nicht.« Wir schwiegen auch nicht. Nein, wir versuchten immer wieder, diesen realitätsfernen, unerfüllbaren Wunsch anzunehmen und zu begreifen. Es bedurfte einiger Jahre, bis unsere Tochter die Realitätsferne ihres Wunsches anzuerkennen vermochte. Die Identifizierung mit den Regeln der Erwachsenen benötigt eine sehr lange Zeit. Sie gelingt nur, wenn das Kind in seinem irrealen Wunsch angenommen werden kann, wenn es fühlt, dass es ernst genommen wird. Der Erwachsene

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Spielraum und Rahmen der Behandlung

steht immer wieder da und weiß nicht, was er antworten soll. Die ödipale Frage stellt eine Herausforderung dar, mit der er ringt. Dass er das tut, dabei das Kind ernst nimmt und Geduld mit ihm hat, erweist sich als entwicklungsfördernd. Es gibt nämlich keine angemessene Antwort auf die grenzüberschreitende ödipale Frage. Sie möchte die Beziehungen und Regeln der Erwachsenen ergründen und außer Kraft setzen. In der analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie haben wir es häufig mit Klienten und Klientinnen zu tun, die den Prozess, der von der ödipalen Frage zur Akzeptanz der Realität und der damit verbundenen kindlichen Rolle und Identität führt, nicht durchlaufen konnten. Sie blieben bei ihrem Drängen stehen, drängen in das Schlafzimmer der Eltern hinein. Traumatisierte Kinder können das Nicht-Antworten des Therapeuten häufig nicht einordnen und fühlen sich in ihrer Sicherheit bedroht. Manchmal ist es wichtig, zu antworten, um ein Kind zu beruhigen. »Manchen Patienten scheint eine direkte Antwort auf Fragen mit anschließender Erforschung der Bedeutung die Sicherheit zu vermitteln, die für eine tiefere Reflexion erforderlich ist« (Orange, Atwood u. Stolorow, 2001, S. 50). Jonas, elf Jahre alt, beschwerte sich häufig über »Ihre doofen Therapieregeln«, die er nach vielen Diskussionen um den Rahmen der Behandlung folgendermaßen zusammenfasste: »Die Therapie findet immer in diesem Raum statt, man geht nicht raus, außer aufs Klo, das ist erlaubt. Sie sagen Nein, wenn man Sie zu sich nach Hause einladen möchte oder zu einem Konzert in der Schule. Wenn man Durst hat, gibt es Leitungswasser. Zu essen gibt es gar nichts. Die Termine bleiben immer gleich, außer Sie müssen mal wieder verreisen, dann werden sie verlegt. Man muss immer alles gründlich aufräumen, wenn man Sachen benutzt hat. Sie sagen nichts über Ihr Privatleben, außer man findet selbst was raus, dann sagen Sie Ja oder Nein und plötzlich, man kann da nie sicher sein, erfinden Sie eine neue Therapieregel.« Ich fragte nach: »Wie meinst du das?« Jonas: »Man weiß ja nicht, was Ihnen noch alles einfällt.« Ich: »Da fällt mir nichts mehr ein. Es ist genauso, wie du es gesagt hast.« Jonas brachte mich oft zum Lachen mit seinen Versuchen, meine Therapieregeln zu unterwandern, es war wie ein Spiel zwischen uns, jedenfalls schien es mir lange Zeit so. Er zählte zum Beispiel die Autos auf, die in meiner Straße parkten, dann sagte er plötzlich: »Der Ferrari gehört Ihnen«, beobachtete dabei meine Reaktion und fuhr schnell fort: »Nein, es ist der kleine Fiat.« »Jonas, du willst wissen, wie groß ich bin, ob ich vielleicht zu groß bin für dich«, erwiderte ich und merkte, dass das zu abrupt klang, dass mir die richtigen Worte fehlten.

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Abstinenz und Agieren

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Einmal sah ich ihn kurz vor dem Beginn unserer Sitzung auf dem Parkplatz umhertigern, der hinter meinem Haus lag. Ich beobachtete, wie er sich mein Haus sehr gründlich ansah. Genau in diesem Moment sah ich meinen Mann in die Garage fahren, die ebenfalls hinter dem Haus lag. Pünktlich schellte Jonas zu seiner Stunde. »Ich habe heute etwas herausgefunden«, sagte er sofort, »Ihre Wohnung ist sehr groß, ich schätze das jetzt mal so auf 160 Quadratmeter, und direkt neben unserem Raum ist Ihr Wohnraum mit so einer großen Glasfront. Ich glaube, ich habe auch Ihren Mann gesehen, er ist in die Garage gefahren mit so einem kleinen, gelben Golf.« Es verschlug mir fast den Atem, so richtig hatte er alles erraten. Ich sagte: »Ach, Jonas, es gibt so schrecklich viel, was du wissen willst, manchmal denke ich, es ist viel zu viel.« Ich glaube, Jonas spürte in dieser Situation, wie stark er mich in Bedrängnis gebracht hatte, vielleicht konnte er auch fühlen, dass das alles für ihn selbst zu viel war. Ohne weiter darauf zurückzukommen rollte er das Spielfeld für das Tipp-Kick-Spiel aus. In einer unserer Sitzungen war es erforderlich, ihm eine Nachricht an die Eltern mitzugeben, die den Termin eines Elterngespräches betraf. Ich unterschrieb »E. Langer«. Jonas begann nun zu mutmaßen, wie ich wohl hieße, und repetierte alle weiblichen Vornamen, die mit E anfingen und die er kannte. Wie in einem Triumphzug kam er zur nächsten Sitzung. »Sie heißen Ellen, es ist sicher, mein Vater wusste es sofort. Es steht nämlich auf den Rechnungen.« Ich nickte und bemerkte: »Jetzt hast du etwas rausgefunden über mich.« Mein Gefühl war, dass Jonas sehr genau wusste, worum es bei meinen »blöden Therapieregeln« ging. Wer außer ihm hätte sie wohl so gut zusammenfassen können? Jonas war das Kind, das immer schon vor Weihnachten wusste, was es geschenkt bekommen würde. Er durchsuchte das gesamte Haus, vom Dachboden bis zum Keller. Das Ergebnis seiner Suche, so erzählte er mir einmal, berichtete er seinen Eltern nicht. Ich: »Du lässt sie in dem Glauben, Sie könnten dich überraschen.« Er: »Ich behalte das alles für mich. Ich kontrolliere meine Eltern, wo sie gehen und stehen«, dabei lachte er diabolisch. Ich, spontan: »Da ist noch was, was du weißt.« Er: »Ich habe die lauten Geräusche gehört. Sie haben Sex, einmal habe ich das gehört.« Ich: »Wahrscheinlich ein komisches Gefühl.« Er: »Sehr komisch.« Ich: »Vielleicht hast du dir gewünscht, du hättest es nicht gehört.« Jonas: »Kann man sagen.« Ich: »Manchmal will man gar nicht alles wissen, es ist einfach zu viel.« Jonas nickte ernst. Als wir einen unserer festen Termine verlegen mussten, weil dieser sich mit dem Leichtathletiktraining des Patienten überschnitt, brachte er zu unserer »letzten Donnerstagsstunde«, so nannte er das, überraschend eine Tüte mit Kuchen mit. Jonas: »Haben Sie vielleicht Teller?« Ich holte die Teller, Jonas packte seine

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Spielraum und Rahmen der Behandlung

Tüte aus und bemerkte langsam: »Ich dachte, das wird jetzt komisch, wenn wir uns donnerstags nicht mehr sehen.« Ich: »Du hast recht, eine wunderbare Idee mit dem Kuchen.« Intuitiv verstand ich, dass Jonas mit seiner grenzüberschreitenden Aktion genau den Rahmen intonierte, den ich gesetzt hatte. Er bedankte sich unbewusst für meine Flexibilität, diesen zu verändern und gab ihm damit erneut eine Bedeutung. Gleichzeitig fühlte ich, in welch hohem Maße ihm bewusst war, wie weit er sich in dieser Weise hervorgewagt hatte. Bei unserem nachfolgenden Tipp-Kick-Spiel war er ungewöhnlich schlecht. Es war wieder einmal alles zu viel, dachte ich für mich. Ich: »Jonas, vielleicht bereust du das jetzt mit dem Kuchen, so schlecht hast du noch nie gespielt.« Er: »Es ist schon komisch, ich war auch richtig verblüfft, dass Sie die Therapieregeln gebrochen haben, und ich weiß auch nicht, was geworden wäre, wenn Sie einfach nur Nein gesagt hätten. Es gefällt mir und es gefällt mir nicht.« Ich: »Ich habe gedacht, es war eine besondere Situation, eine, in der wir die Regel unserer festen Termine geändert haben, aber wir haben es auch geschafft, einen neuen, festen Termin zu finden. Stimmt, damit und mit dem Kuchen habe ich eine Ausnahme von der Regel gemacht, ich habe sie nicht aus der Welt geschafft.« Jonas lachte erleichtert. Ich verstand: Es war einerseits wichtig gewesen, eine Art von Flexibilität walten zu lassen, zu zeigen, dass es eine Ausnahme geben durfte und ich seine Bedürfnisse und Versuche ernst nahm. Noch wichtiger war es andererseits, die Therapieregeln damit nicht außer Kraft zu setzen, ihm zu versichern, dass abgesehen von der Ausnahme alles beim Alten blieb. Ich spürte, wie intensiv Jonas über mein Verhalten nachdachte. Wir lernten beide sehr viel aus der Ausnahme-von-der-Regel-Szene. Mir wurde bewusst, dass ich Jonas verunsichert hatte. Er selbst konnte eindringlich erfahren, wie viel Sicherheit es ihm vermittelte, dass wir die Therapieregeln hatten. Eine sehr alte Dame, die in meinem Haus lebte, fragte Jonas – er schellte gerade bei mir: »Was macht ihr eigentlich da oben?« Jonas lächelte, als er mir davon berichtete: »Ich habe ihr gesagt, dass wir da Therapie machen«, und klang dabei sehr selbstverständlich und klar. Jonas kam zu mir, weil er in der Nacht mitunter einnässte. Er war niemals richtig sauber gewesen. Manchmal war er monatelang trocken, dann überschwemmte er sein Bett regelrecht, manchmal tröpfelte es auch über Monate hinweg. Nach ca. 50 Behandlungsstunden verschwand die Symptomatik vollkommen. Ich habe nur eine einzige Erklärung dafür: Jonas fand in unseren von den »doofen Therapieregeln« beherrschten Stunden einen Raum für sein Bedrängtsein von sexuellen und aggressiven Phantasien. Die Tür zwischen Jonas und seinen Eltern war niemals geschlossen worden. Jonas’ Eltern liebten dieses erst spät gekommene Kind unglaublich, nahmen es in ihrer Mitte auf. Sie teil-

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Gute, böse, idealisierte Objekte

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ten ihr Leben mit ihm und bezogen es bei allen wichtigen Entscheidungen mit ein. Ohne dass ihnen das bewusst wurde, verschwammen die Grenzen. Jonas entwickelte sich zu einem sehr beziehungsfähigen, leistungsstarken Jungen mit vielen Freunden und Interessen. Einzig die nächtliche Symptomatik sprach davon, dass er manchmal nicht wusste, wie groß oder klein er war. Sie sprach von der Brüchigkeit seines ihn überfordernden Lebensrahmens.

Die Aufrechterhaltung des Rahmens in der psychoanalytischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen setzt, wie die Beschreibungen der Fallgeschichten verdeutlichen werden, eine flexible innere Haltung des Therapeuten voraus. Die Gratwanderung zwischen Abstinenz und Agieren prägt jede einzelne Behandlung. Hierbei ist der Therapeut ganz auf seine Intuition und seinen inneren Spielraum angewiesen. Manchmal gelingt es, über die Analyse des eigenen Agierens etwas zu begreifen, was sonst unverstanden bliebe. Es kann insofern für die Entwicklung des Patienten förderlicher sein, Fehler zu machen, als sich zu verstecken. Worum es letztlich geht, ist der Versuch, mit dem Patienten in Beziehung zu treten und diese zu halten. Auch Deutungen können zu einem Versteck des Therapeuten werden und zur Abwehr eingesetzt werden. Ich gehe davon aus, dass es in einer Kinder- und Jugendlichenbehandlung zentral ist, da zu sein und allem Raum zu geben, was in der Sitzung auftaucht. Die Fähigkeit, nicht zu wissen, nicht wissen zu müssen, nicht wissen zu wollen, ist hier bedeutungsvoll. Solange ein innerer Spielraum existiert, muss man sich über den Fortgang der Behandlung keine Sorgen machen. Gute, böse, idealisierte Objekte »unter dem Druck der Furcht, die geliebte Mutter [das geliebte Objekt] zu verlieren, arbeitet das Kind an der Aufgabe, seine innere Welt aufzubauen und zu integrieren, das heißt, seine guten Objekte in sich selbst sicher zu verankern« (Klein, 1962, S. 209). Die guten, bösen und idealisierten Objekte prägten die innere, unbewusste Welt meiner Patienten. Im Behandlungsprozess gewannen diese Gestalt und bevölkerten den Behandlungsraum. In den meisten Fällen fand im Verlauf der Behandlung ein harter und anstrengender Kampf um den Bestand der guten inneren Objekte statt. Auch Kinder und Jugendliche, deren reales Leben arm gewesen war an Halt und Zuwendung, führten diesen Kampf leidenschaftlich. Die Bemühungen um die guten Objekte bestehen unabhängig von dem, was einer einmal real bekommen hat oder nicht. Ich nenne es die Hoffnungs-

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Spielraum und Rahmen der Behandlung

kapazität meiner Patienten. Es waren oft nicht die realen Objekte, an die die Kinder und Jugendlichen in ihren Sitzungen anknüpften, deren Spur sie aufnahmen. Es waren die in den Stunden ihrer Not oder in ihren Träumen entstandenen Objekte, nach denen sie sich sehnten. Vielen meiner Patienten war in den Momenten, in denen sie drohten, innerlich unterzugehen, eine Fähigkeit zu bestehen, die Erinnerung an ein gutes Objekt und die Sehnsucht nach einem guten Objekt erwachsen. Ich hatte oft den Eindruck, sie hätten eine Eiszeit überstanden, als ich sie traf. Vielen meiner Patienten gefiel es, mich zurückzustoßen, mir ein Nein entgegenzuhalten. Ich verstand sehr gut, wie überlebensnotwendig dieses Nein für sie war. Spricht man es nicht gerade dann gerne aus, wenn die immer auch bedrohliche Erfüllung durch das Ja nicht wirklich ausgeschlossen ist? Ist es nicht herrlich, das Nein hinauszuschreien, weil es einen zu schützen scheint? Setzt es nicht sogar voraus, dass da einer ist, der Ja sagen will? Aber kann man diesem Jasager trauen? »Nein« ist in jeder Hinsicht ein wunderbares Wort. Ohne das Nein gibt es kein Ja. Die Vorherrschaft des bösen Objekts führt zu einer regelrechten Abpanzerung des Ich, zu einem zutiefst misstrauischen, enttäuschten und hoffnungslosen Blick auf die Realität, zur Leugnung des guten Objekts. Melanie Klein (1962) wählte die Bilder gute Brust und böse Brust, um den frühen inneren Zustand des Säuglings zu beschreiben. Die Brust, die nicht rechtzeitig da ist, um die verzweifelte Gier des Säuglings zu stillen, diese böse Brust, die die Milch für sich behält, wird in der Wut angegriffen. Der Angriff des Kindes auf die böse Brust löst die Angst aus, von dieser nun seinerseits angegriffen und verfolgt zu werden. Allein die Übermacht einer guten, stillenden Brust vermag die Angst des Kindes zu mildern. Die frühe Erfahrung mit der guten und der bösen Brust, die Melanie Klein eindrücklich schildert, bildet die Basis für die gesamte weitere Entwicklung des Kindes, vor allem für seine Fähigkeit, sich von der Mutter zu trennen. Wird die sich im Verlauf der Entwicklung des Kindes unweigerlich trennende Mutter, der bösen Brust gleich, zu einem bösen Objekt, das in der inneren Welt des Kindes nicht gehalten werden kann? Oder gibt es die Erinnerung an eine das Bedürfnis erfüllende, stillende Brust? Aber auch: In welcher Weise geschieht die Trennung der Mutter von ihrem Kind? Wird sie ihm die Zeit geben, die es benötigt, sich seinerseits von ihr zu entfernen? Es war Margaret Mahler, die in ihren Studien (1961) darüber sprach, wie das Kleinkind voller Lust mit seinen ersten Schritten in die Welt zu laufen beginnt, begleitet von einem Hochgefühl, als gehöre sie ihm. Die Verfügbarkeit der Mutter, die Möglichkeit, zu ihr zurückzulaufen, von ihr eingefangen zu werden, bei ihr aufzutanken, ist unabdingbar für dies Liebesverhältnis mit der Welt und

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Gute, böse, idealisierte Objekte

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die weitere Entwicklung des Kindes. Bis zur Vollendung seines dritten Lebensjahres benötigt es die Gegenwart der Mutter als sicheren Hafen. Aber es benötigt auch sehr stark die Mutter, die sich seiner Fähigkeit, Nein zu sagen, stellt. Ich bin davon überzeugt, dass die Möglichkeit des Kindes, seine Nein mit der Mutter zu verhandeln, von der vorangegangenen Auseinandersetzung mit der bösen Brust abhängt. Vermochte das Kind, das gewahr wurde, dass die Brust der Mutter nicht immer präsent und verfügbar war, die Milch, wenn sie floss, dennoch zu genießen? Oder färbte die böse, sich verweigernde Brust die Milch in einer Weise, dass die gute Brust das Kind nicht mehr zu beruhigen verstand? Trank es die Milch voller Wut und Hass? Spätere, traumatisch eingefärbte Trennungserfahrungen wiederbeleben die frühe Angst vor einem bösen Objekt. Das böse Objekt ist der Nachfahre der bösen Brust, trägt Spuren der bösen Brust, die nicht stillt, die versiegt, die Rache übt. Das böse Objekt löscht die Ambivalenz aus. Es macht das einstmals gute Objekt unkenntlich. Das Objekt insgesamt wird zu einem verfolgenden Objekt. Es kann in seiner Zwiespältigkeit nicht mehr erkannt werden. Die Macht des guten Objekts (der guten Brust) ist begrenzt, sein Trost ist in der inneren Welt nicht immer verfügbar und unendlich. Das sich von der Mutter fortbewegende, im Nein übende Kind – beides lustvolle Vorgänge, in denen es sich selbst als getrenntes Wesen erfährt –, ist mit diesen Aktivitäten einerseits angewiesen auf die Präsenz seiner Mutter mit ihren verständnisvollen Antworten, andererseits aber in seiner inneren Welt von den sehr frühen, vorangegangenen Erfahrungen mit der mütterlichen Brust geprägt. Man könnte auch sagen: Die innere Repräsentanz seiner Mutter begann sich in dieser allerfrühesten Zeit zu bilden. Die Frage ist nun, welcher Spielraum für die weitere Entwicklung des Kindes entstand. Führt die ungenügend repräsentierte gute und stillende Brust unweigerlich zur Konstitution eines bösen Objekts? Tatsächlich weist vieles darauf hin. Das Kind, das die Milch seiner Mutter selten oder nie genießen konnte, wird wahrscheinlich in allen folgenden Phasen seiner Entwicklung auf der Suche nach der frühen Milch sein. Es wird nicht lustvoll krabbeln, sich erheben können, es wird fortwährend der bösen, abwesenden, es allein lassenden Mutter gewärtig sein, sich deshalb an seine Mutter klammern und schreien, die kleinste ihrer Bewegungen als ein Fortgehen interpretieren. Die Mutter wird verzweifeln, nicht verstehen, sich als ungenügende Mutter begreifen. Das Kind wird sein Nein in einer verzweifelten Weise in die Welt hinausschreien, es wird sich nicht trösten lassen. Es wird das gute Objekt, die Mutter, die wiederkommt, in seiner inneren Welt nicht halten können. Das gute Objekt droht ausgelöscht zu werden, der guten Brust gleich, die nicht da war in den Momenten seiner Not.

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Spielraum und Rahmen der Behandlung

Die frühe Beziehung zwischen Mutter und Baby findet einen Spiegel in der Beziehung von Therapeut und Patient. Wie bei der Beschreibung der Fallgeschichten deutlich werden wird, verhindert die Übermacht der bösen inneren Objekte Spielraum, Flexibilität und Ambivalenz. Aufgrund der inneren Spaltungstendenzen droht der Therapeut – manchmal geht eine Phase der Idealisierung voraus – zu einem unwiderruflich bösen Objekt zu werden. Frühe ungehaltene Gefühle von Angst, Wut und Hilflosigkeit tendieren dazu, den Behandlungsrahmen zu sprengen, denn auch der Therapeut wird in der Gegenübertragung vom Verlust seines inneren Spielraums bedroht. »Der Forschergeist ist nicht so leicht explizit zu machen, weil er auf eine implizite, prozedurale Form von Bezogenheit verweist, die im Hintergrund verbleibt, der ›Neugierde‹ einer Mutter und eines Säuglings vergleichbar, die aus der gesamten Palette ihrer Aktivitäten etwas über den anderen in Erfahrung bringen« (Lichtenberg, 2007, S. 317).

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Sieben Behandlungen, in denen Rahmen und Spielraum einander ergänzen konnten

Der Entwicklungsspielraum des Patienten und die Möglichkeit des Therapeuten ihm diesen zur Verfügung zu stellen bilden den Rahmen der Behandlung. Der innere Spielraum der Therapeutin sowie der des Patienten oder der Patientin und gegebenenfalls seiner oder ihrer Eltern ergänzten einander bei den Fällen, die ich in diesem Kapitel beschreiben werde. Die Kinder und Jugendlichen, von denen ich hier sprechen werde, besaßen trotz der immer wieder sich bemerkbar machenden Brüche in ihrer Entwicklung, trotz der inneren Hölle, durch die sie immer wieder hatten gehen müssen, eine Hoffnungskapazität, einen tiefen Wunsch, zu vertrauen. Was ihnen widerfahren war, hatte nicht vermocht, das Übergewicht des guten Objekts in ihrer inneren Welt zu zerstören. Diese Kinder und Jugendlichen vermochten etwas in sich zu bewahren, an das ich in der Behandlung wieder anknüpfen konnte. Die Geschichte dieser Kinder, von multiplen Traumatisierungen und sie am Leben hindernden Delegationen ihrer Eltern geprägt, barg ein Trotzdem. Inmitten ihrer chaotischen Lebensbedingungen war es ihnen gelungen, die Hand, das Antlitz ihrer Eltern festzuhalten in den Zeiten, als sie ihnen real verloren gingen. Manchmal war es vielleicht nur eine kleine, wiederkehrende Geste, ein stolzer, freuderfüllter Blick der von ihnen geliebten Menschen, der sie traf. Aus diesen vermochten sie sehr viel zu machen. In diesen fanden sie einen Trost in Gegenwart ihrer vielfältig überforderten Eltern, gegen die, um die sie aber auch immer wieder stark kämpften. Man könnte auch sagen: Ihnen eignete die Möglichkeit eines ambivalenten Blickes auf das Objekt. Sie verleugneten und idealisierten nicht. Ihr Blick war ein das Gute bewahrender. Sie besaßen eine Fähigkeit, die andere Kinder nicht aufwiesen – Kinder, die im Bild des bösen, enttäuschenden Objekts verharrten, misstrauisch und zurückgezogen in diesem gefangen blieben oder ein ideales Erlöserobjekt aus dem Boden stampften, um innerlich überleben zu können. Die Patienten, die um das gute Objekt zu kämpfen in der Lage waren, besaßen eine Hoffnungskapazität, eine Fähigkeit, aus wenig viel zu machen, einen inneren Spielraum.

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Sieben Behandlungen, in denen Rahmen und Spielraum einander ergänzen konnten

Der Rahmen der Behandlung Marlons war über große Strecken umkämpft. Die Eltern, präokkupiert mit vielen Schwierigkeiten, ihr eigenes Leben betreffend, überließen mir ihren Sohn in einer diesen und mich überfordernden Weise und kamen lange Zeit, über Monate hinweg, nicht mehr zu den Elterngesprächen. Ihr Wiederauftauchen war kardinal für die folgende Entwicklung Marlons, der es in den Zeiten ihrer Abwesenheit trotz vieler Schwierigkeiten, eines permanenten Schatten des Scheiterns, der über allem lag, vermochte, seine Sitzungen wahrzunehmen. Vermutlich spiegelte dieses Fortsein und Wiederauftauchen der Eltern im Behandlungsverlauf die gesamte, meinen Patienten immer wieder überfordernde Konstellation mit seinen Eltern und seinen Kampf mit Verlorensein und Einsamkeit, die in die Übertragung zu mir kamen. Es gab aber offensichtlich auch ein frühes, einmal erfahrenes Sich-anvertrauen-Können, das meinen Patienten befähigte, den Rahmen der Behandlung und die Beziehung zu mir aufrechtzuerhalten. Cynthia, ein zu Behandlungsbeginn zwölfjähriges Mädchen, schwankte in einer dramatischen Weise zwischen Sich-anvertrauen und Rückzug. Auch diese Konstellation spiegelte die Beziehung zu ihren Eltern. Vielleicht drückte dieses Schwanken Cynthias Möglichkeit aus, kämpfen und einen Spielraum zwischen Enttäuschung, Wut, Ruhe und Sich-Anvertrauen finden zu können. Es war das unablässige Auftauchen ihres zutiefst verletzten und untröstlichen Blicks im Behandlungsverlauf, das wichtig war, mit dem sie etwas erzählen konnte, was sie bislang noch nie in eine Beziehung eingebracht hatte. Im Fall Jennys war es der äußere Rahmen ihres Lebens, der immer wieder zusammenzubrechen drohte. Alles, was sie in Angriff zu nehmen versuchte, scheiterte. Während sie sich in einem permanenten Untergangsszenarium ihres realen Lebens befand, biss sie sich fest am Rahmen der Behandlung, der sich tatsächlich zu einem Gefäß entwickelte, innerhalb dessen es ihr gelang, eine innere Struktur auszubilden, Spielraum zu finden. Sylvia fand im Verlauf einer intensiven, hochfrequenten Behandlung einen Rahmen, der es ihr ermöglichte, den Spielraum für die sie bedrängenden aggressiven Gefühle zu erweitern und eine neue Art von Lebendigkeit zu erfahren. Anna und Philip kamen nicht zu ihrer letzten Sitzung, eine Tatsache, die mich beschäftigte, am Ergebnis der Behandlung und mir selbst zweifeln ließ und die ich lange nicht als den Spielraum begreifen konnte, den sie benötigten, um ihren eigenen Weg zu finden. Alle in diesem Kapitel geschilderten Behandlungen erzählen nicht nur die Geschichte des sich entwickelnden Spielraums meiner Patienten, sondern auch von meiner Auseinandersetzung mit meinem eigenen inneren Spielraum.

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Marlon

Marlon, zwölf Jahre – Grund der Anmeldung: Unruhe und Aggressivität (150 Stunden, zweimal wöchentlich eine Stunde) Darstellung des Behandlungsverlaufs

Marlon, ein leicht adipöser Junge, sah mich verwirrt an, nachdem er die Treppe hochgekommen war, sein Gesicht wie von Schmerzen verzerrt. Ich dachte, dass er nicht wisse, wo er sei. Es sprudelte jedoch sofort aus ihm heraus: »Ich habe so wahnsinnige Kopfschmerzen, ich kann das nicht mehr aushalten. Und meine Eltern schreien so laut, sie streiten sich jeden Tag, sie kümmern sich überhaupt nicht um mich. Meinen Vater interessiere ich die Bohne.« Die Ungebremstheit seines Redeflusses ängstigte mich, aber auch die Verzweiflung, das Unglück, das sich so schnell Bahn brach und nicht zu stoppen war. »Er wird sich etwas antun, so kann er nicht leben«, schoss es mir durch den Kopf. Ein derart verzweifeltes Kind hatte ich selten gesehen. Marlon: »Ich nehme, seit ich denken kann, Ritalin, sonst bin ich nur noch unruhig und aggressiv.« Ich: »Ich kann das merken, es geht dir sehr schlecht.« Er: »Die Medikamente helfen mir nicht wirklich. Ist mir egal.« Diesen Ausspruch: »Ist mir egal«, wiederholte der Patient mehrfach. Immer wenn ich ihm etwas zu sagen suchte, kam er darauf zurück: »Ist mir egal.« Ich: »Vielleicht ist das sehr wichtig für dich, ›ist mir egal‹ zu sagen, als ob du keine Hoffnung mehr hättest und nicht enttäuscht werden wolltest, auch von mir nicht.« Marlon starrte mich an, sein Redefluss versiegte, es wurde still zwischen uns. Erst als seine Mutter schellte, ihn abholen kam, sprach er wieder, und zwar zu ihr: »Ich schaffe das alles nicht, ich werde heute nicht einschlafen können, ich habe so schreckliche Schmerzen in meinem Kopf.« Marlon war seit seinem Kindergarteneintritt durch Unruhe und Aggressivität aufgefallen. Die Mutter sagte: »Sie haben in ihm ein Monsterkind gesehen und er hat ja auch ständig und unvermutet andere Kinder angegriffen. Als er in die Schule kam, weigerte sich die Lehrerin schon nach wenigen Wochen ihn zu unterrichten, wenn er kein Ritalin bekäme. Wir haben dann einen Psychiater aufgesucht, der das verordnet hat. Marlon ist viel ruhiger geworden – aber da ist etwas, da sind wir uns mit dem Psychiater einig: Marlon ist vollkommen einsam, er kann keine Freunde haben, in seinem ganzen Leben hatte er noch keinen Freund. Niemals wurde er zu Geburtstagen eingeladen. Das ist besonders schlimm, weil sein drei Jahre jüngerer Bruder ein absoluter Sonnyboy ist, den alle lieben.« Im Gespräch mit den Eltern Marlons war es die Mutter, die berichtete, der Vater saß seltsam zusammengekauert dabei, so als ginge ihn das alles nichts an.

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Sieben Behandlungen, in denen Rahmen und Spielraum einander ergänzen konnten

Einmal klingelte sein Handy und er verließ für einige Minuten den Raum. Ich sagte, nachdem er zurückgekehrt war: »Das ist jetzt schwer, hier zu sein.« Er: »Es ist alles okay, wenn Sie mich fragen, alles übertrieben.« Ich: »Ich dachte, Ihr Sohn will manchmal nicht mehr leben, es geht ihm schlecht.« Der Vater: »Fallen Sie da mal nicht darauf herein, er ist ein großartiger Schauspieler«. Wir schwiegen eine Weile. Plötzlich fuhr er fort: »Es fällt mir allerdings auf, wie er zunimmt und zunimmt. Das macht mir Sorgen, und ich erlebe das auch so, dass sein drei Jahre jüngerer Bruder ihn irgendwie in die Tasche steckt, das gefällt mir nicht.« Ich verstand, dass er nun begann aufzutauchen. Ich hatte den Eindruck, dass Marlons Vater sehr stark mit einem Gefühl von Bedeutungslosigkeit und Leere kämpfte, es war, als hätte er mir immer wieder sagen wollen, seinem Sohn gleich: »Es ist alles egal.« Marlons Mutter hatte ihre Schwangerschaft erst bemerkt, als sie bereits im sechsten Monat war. »Es ging alles so schnell, wir waren auf ein Kind gar nicht vorbereitet. Marlon war dann auch so still, niemals hat er geschrien, immerzu geschlafen. Ich hatte Angst, er könne plötzlich sterben. Ich hatte eine panische Angst, er könne einmal gar nicht mehr aufwachen, ich war ja auch meistens allein. »Du«, sie schaute ihren Mann an, während sie weitersprach, »warst ja meistens weg, und es war auch nicht nur die Arbeit, du hast dich am Abend mit Freunden getroffen.« Er nickte schwer. Ich konnte förmlich körperlich spüren, wie eine schreckliche Last den Raum zu beherrschen begann. Ich ahnte: Marlon war eine große Last für seine Eltern gewesen. Er hatte diese Situation unbewusst bewältigt, indem er sich nahezu tot stellte. Zu den Eltern sagte ich: »Es war damals, als er geboren wurde, wirklich schwer, einen Raum für Marlon bereitzustellen. Es war, als geschähe etwas völlig Ungeplantes, Sie Überrumpelndes, vielleicht auch so, als zerstörte seine Ankunft etwas.« Die Mutter begann zu weinen: »Ich habe auch immer solche Angst gehabt«, wieder sah sie ihren Mann an, »du würdest mich verlassen.« Der Vater saß völlig zusammengesunken da, er gab kein Lebenszeichen von sich. Der späteren Unruhe und Aggressivität Marlons steht das Stillsein und Schlafen seiner frühen Zeit gegenüber. Die Mutter, die das Kind in ihrem Leib ignorierte, und der Vater, der nach der Geburt wenig präsent war, verweisen auf die frühe Schwierigkeit der Eltern, ihr Kind anzunehmen. Dies mag Marlon mit der Zurücknahme seiner frühen Bedürftigkeit beantwortet haben. Er schrie nicht einmal. Die Ängste der Mutter, er könne des plötzlichen Kindstodes sterben, enthalten vermutlich sowohl unbewusste Todeswünsche als auch ein bedrängendes Gefühl von Schuld. Die Geburt des Bruders erlebte der Patient im Alter von drei Jahren als Bedrohung seiner ohnehin brüchigen Existenz. Der bald darauf folgende Eintritt in den Kindergarten, die auch dort herrschende Konkurrenz-

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Marlon

situation mit anderen Kindern, führte zu auffälliger Unruhe und Aggressivität in allen sozialen Kontakten, was ich als Ausdruck seiner frühen, abgewehrten Wut verstand. Der Schuleintritt verschärfte Marlons Symptomatik. Der Patient befand sich, als ich ihn kennenlernte, in einem Zustand innerer Verzweiflung. Sein sich wiederholendes »Ist mir egal« verriet sein Gefühl, niemandem wichtig und sozusagen egal zu sein, und wehrte depressive Gefühle ab. Als die Behandlung begann, kam Marlon stets zu früh, er schellte in die Stunden der anderen Kinder wild hinein und ließ sich nur schwer beruhigen. Ich dachte: Als wolle er sagen: »Ich bin doch schon da, soll ich noch einmal sechs Monate warten, bis du das endlich merkst?« Regelmäßig saß er bereits zehn Minuten vor Beginn seiner Sitzung im Wartebereich. Am Ende seiner Sitzung wollte er nicht gehen. Er suchte mich zu überreden, länger zu machen. »50 Minuten sind zu wenig für mich«, gab er an. »Ich verstehe, das ist schwer für dich, Marlon, bei mir ist alles abgezirkelt«, sagte ich oft, »aber es ist so, was wir haben sind die zweimal 50 Minuten pro Woche, eine schwere Situation für dich.« Stets erneut fragte er mich, ob ich etwas zu trinken für ihn hätte, und war immer aufs Neue enttäuscht, dass es nur Leitungswasser gab. In unseren Sitzungen begann er Flugzeuge zu malen. Er kannte sich gut aus mit den verschiedensten Typen und brachte auch oft Fotografien von Flugzeugen mit. Es war ihm sehr wichtig, mir alles zu erklären, die Art der Triebwerke, die Höchstgeschwindigkeit, das Fassungsvermögen etc. Ich sollte auch lernen, die Flugzeuge zu zeichnen. Ich erfuhr, dass es sein allergrößter Wunsch war, später einmal Pilot zu werden. Ich hatte das Gefühl, von ihm völlig vereinnahmt zu werden. Er brauchte unendlich viel von mir. Grenzen akzeptierte er nicht oder ignorierte sie. Als er mir berichtete, dass er wieder einen neuen Freund habe, dem er vom Porsche seines Vaters erzählt habe, und dass er Angst habe, dass es wieder nicht lange dauern würde, das sei nämlich immer so bei ihm, erwiderte ich: »Ich kann mir vorstellen, dass du ebenso wie hier bei mir viel zu viel auf einmal willst und nicht abwarten kannst, was eigentlich mit dem anderen los ist. Ich denke, du hast das merkwürdige Gefühl, die anderen ganz fest binden zu müssen, weil da so eine Angst in dir ist, dass sie sonst gehen, weil du nicht interessant genug bist.« Marlon sah mich lange an und sagte: »Es ist so, genau so und man kann nichts daran ändern.« Ich: »Das muss schwer sein, unglaublich anstrengend, so zu leben.« Marlon: »Man kann es nicht beschreiben, wie die Hölle vielleicht.« Marlon beschattete mich zunehmend, die Atmosphäre der Sitzungen war sehr dicht. Wir malten weiter Flugzeuge, das war unser Berührungspunkt. Manchmal dachte ich, dass wir beide etwas Neues lernen würden, ich, wie man Flugzeuge male (ich malte sehr gerne, hatte aber noch nie Flugzeuge gemalt), er,

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wie man etwas libidinös Gemeinsames umsetzen könne. Ich spürte, wie ich großen Spaß daran entwickelte, Flugzeuge zu zeichnen, etwas, was mich vorher noch nie interessiert hatte. Marlon lobte mich manchmal, wenn mir etwas besonders gut gelang. Ich beobachtete mit Interesse seine Art zu zeichnen, die ungemein akkurat war und sich von meiner unterschied. Ich schaute mir bei ihm die Genauigkeit ab, seine Liebe zum Detail, er sich bei mir die schwungvolle Linienführung. Man kann es nicht anders sagen, wir ergänzten uns ideal. Unsere Flugzeuge wurden immer besser. Immer wieder bedrängte mich der Gedanke, was wäre, wenn wir damit aufhörten, und machte mir Angst. Ich dachte darüber nach, dass wir das nicht für immer tun könnten. Aber es war so friedlich, dass ich mir das gewünscht hätte. Es war Marlon, der Beunruhigendes in unsere Sitzungen einführte. Er erzählte mir von seinen Diebstählen. Er stahl seinem Vater sehr viel Geld, ohne dass dieser das bemerkte. Marlon hatte ihm, so erfuhr ich, nach und nach bereits 1000 Euro gestohlen. Er wusste gar nicht, was er mit dem vielen Geld anfangen sollte, außer sich Kakao und Geleebananen zu kaufen, die er in unsere Sitzungen mitzubringen begann. Er wurde immer dicker. Einmal stahl er aus Versehen einen 500-Euro-Schein, den er wegwarf. Das Stehlen wurde zu einer Sucht. Wenn der Vater ihm etwas verweigerte, bestahl er ihn. Er sagte: »Er hasst mich, und ich werde ihn dafür bestrafen.« Das Verrückte war, dass die Eltern nichts mitbekamen. Er rannte gegen eine Wand. Ich spürte seine Verzweiflung, diese Sucht, etwas tun zu müssen, das ihn zerstörte, diesen Wunsch, sich vollkommen zu zerstören. Den Weihnachtskalender, den der Vater ihm gekauft hatte, aß er am 1. Dezember auf und kaufte von dem gestohlenen Geld einen neuen. Er erzählte mir, dass er die Schokolade von insgesamt fünf Kalendern aufgegessen habe, die er jeweils ersetzt habe. Über das gestohlene Geld sagte er: »Ich werde später einmal, wenn ich Pilot bin, alles zurückgeben.« Als er das sagte, legte er sich auf mein Sofa und deckte sich bis zum Hals zu. Am Ende unserer Sitzungen wartete er oft auf seinen Vater und hielt die Hoffnung aufrecht, dieser werde ihn abholen. Ich wusste genau, dass dem nicht so war. Seine Sitzung war durchweg meine letzte am Tag, er stand da, wenn ich das Haus verließ, und häufig stand ich mit ihm auf der Straße und versuchte ihn zu überreden, die U-Bahn zu nehmen. Manchmal lief er dann mit mir bis zur U-Bahn-Station, die auf meinem Heimweg lag. Oft sah ich ihn, wenn ich ging, verloren auf der Straße stehen. Ich hatte dann das Gefühl, ihn auszusetzen, allein zu lassen in der Dunkelheit. Er machte mich immer mehr zur Zeugin seiner Diebstähle. Er begann Spielsachen zu kaufen, die er in einem Rucksack mit in die Sitzungen brachte. Er wusste genau, was er tat: »Sie haben ja die Schweigepflicht«. Ich wurde auf diese

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Marlon

Weise zu einer Mittäterin, die genauso verzweifelt war wie er selbst. Plötzlich sagte er in einer Sitzung: »Können Sie das meinen Eltern sagen, dass ich das mache, weil ich sie hasse, denn sie haben mich kein bisschen lieb.« »Du sehnst dich danach, dass es aufhört«, sagte ich. »Manchmal«, sagte er, »aber dann wieder nicht, weil ich mir so alles kaufen kann. Meine Augen sind so trocken, das ist immer so, wenn ich Wut habe.« Tatsächlich wirkte er am Ende seiner Kräfte. Ich hatte die Phantasie, ihn in die Decke einzupacken und ihn schlafen zu legen wie ein kleines Baby. Mir fiel ein, wie regungslos er als Baby gewesen war, wie die Mutter, die sich vom Vater alleingelassen gefühlt hatte, seinen plötzlichen Tod gefürchtet hatte. Ich dachte auch noch einmal daran, dass ich bei unserer ersten Begegnung gefühlt hatte, dass er nicht mehr leben wolle. Ich sagte: »Die vielen Dinge, die du anhäufst, es ist alles nicht das Richtige.« Marlon: »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie stressig mein Leben ist, wie ich um meinen Freund kämpfen muss. Sie wollen ihn mir wegnehmen, immer muss ich hinter ihm her rennen.« Marlon hatte diesen Freund in unseren ruhigen Zeiten gefunden, als wir noch Flugzeuge gemalt hatten. Es war sein erster Freund – er war ja immer das Monsterkind gewesen, mit dem keiner etwas zu tun hatte haben wollen. Nun, in der neuen Schule, wurden seine Leistungen immer besser und er war auch nicht mehr ausgeschlossen. Ich sagte ihm: »Immer wieder denkst du, wenn du nicht hinter den anderen herläufst, will niemand etwas mit dir zu tun haben, als seist du nicht viel wert.« Marlon antwortete: »Das denke ich wirklich oft.« Ich: »Und dann willst du immer wieder wissen, ob ich auf der Straße mit dir warte, ob ich dich mitnehme zur U-Bahn, ob ich dich allein lasse in der Dunkelheit.« Marlon sah mich lange ernst an, dann lächelte er: »Stimmt, und es gefällt mir, dass Sie das verstehen können.« Im Fortgang beobachtete ich, dass sich sein Verhalten änderte, er hörte auf, hinter seinem Freund her zu rennen und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass dieser ihn von sich aus zu suchen begann. Das Stehlen hörte nahezu auf, jedoch nicht vollkommen. Noch immer kam es vor, dass Marlon seinem Vater einen Euro wegnahm. Das Verhältnis zum Bruder, dem Sonnyboy, dem alles gelang und dem er alles neidete, war immer wieder Thema unserer Sitzungen. Marlon schien im Schatten seines Bruders zu leben und nur mit dem verzweifelten Stehlen daraus hervortreten zu können. Im Zuge der durch das Bekenntnis der Diebstähle ausgelösten Krise im Behandlungsverlauf veränderte sich meine Wahrnehmung der Eltern. Die zur Schau getragene Gleichgültigkeit des Vaters hatte mich zögern lassen, die Behandlung aufzunehmen. Dagegen hatte die Verzweiflung des Patienten gestan-

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den, auch die Mutter, die ich als zugänglich erlebte. Nun stellte sich heraus, dass es der Vater war, der sehr wohl etwas bemerkt hatte. Er hatte den leidenschaftlichen Wunsch, Marlon zu begrenzen, und darüber war gut mit ihm zu sprechen, auch darüber, wie Marlon ihn mit seinem Stehlen suchte. Die Mutter erschien mir hingegen inzwischen mehr eine Fassade als tatsächlich vorhandenes Interesse zur Schau zu stellen, wenn sie ihren Willen zur Mitarbeit betonte. Aus vielem, was Marlon mir erzählte, erschloss ich, dass sie sich bei ihm über den Vater beklagt, ihn zu ihrem Vertrauten, zum ihr gleichgestellten und gegenüber dem Vater besseren Partner gemacht hatte. In der Übertragung gestaltete der Patient sein unersättliches Verlangen nach dem Objekt, das sich während der Behandlung auf gestohlene Waren verschoben hatte. Es gelang ihm in den Sitzungen aber auch, seiner tiefen Verzweiflung Ausdruck zu geben, in die ihn sein suchtartiges Stehlen trieb. Ich vermute, dass das Stehlen als neues Symptom durch den Rückhalt in der Behandlung aufgetreten war. Seine Wut und sein Hass, verborgen hinter der Unruhe des ADHSKindes, hatten eine Form, eine Gestaltung gefunden, über die es ihm möglich war, in Kontakt zu treten. Der Patient teilte mir in einer Sitzung nun beiläufig mit, dass er Ritalin jetzt nur noch am Morgen einnehme. »Ich will das jetzt versuchen«, sagte er, »ich muss davon loskommen. Sie wissen ja, dass ich Pilot werden will, das geht so gar nicht.« Über einen Zeitraum von mehreren Wochen erlebte ich Marlon im Anschluss als extrem getrieben und unruhig. Er schellte wieder wie verrückt, wenn er kam, fiel, mehr als er ging, in den Raum und war immerzu dabei, etwas kaputt zu machen, zu verschmieren, fallen zu lassen. »Sie merken das bestimmt, wie ich jetzt bin«, sagte er, »es ist irgendwie Scheiße, es ist fast wie früher.« Ich erwiderte: »Nein, es gibt einen großen Unterschied, du kannst das jetzt wahrnehmen.« Marlon ging zu einem Orthopäden und trug zum ersten Mal in seinem Leben die verschriebenen Einlagen. Er suchte auch einen Physiotherapeuten auf, um Übungen zu machen, die ihm halfen, seine Füße, die, so erfuhr ich erst jetzt, seit seiner Geburt verdreht waren, in die richtige Stellung zu bringen. Er war ganz klar dabei, Verantwortung für seinen Körper zu übernehmen. Er strengte sich richtig an. Ich war beeindruckt. Als wir wieder einmal auf das Thema Klauen zu sprechen kamen, realisierte ich, dass Marlon seinem Vater immer noch Geld stahl, zwar keine großen Summen mehr, aber nach wie vor den einen oder anderen Euro. Er redete das klein und war vollkommen unberührbar, wenn ich sagte: »Es geht also alles so weiter.« In dieser Zeit wurde Marlon selbst in der Schule von einem Klassenkameraden bestohlen. Sein ganzes Portemonnaie war weg, mit 50 Euro, seiner Bankkarte, seiner Versichertenkarte und einigen Kleinigkeiten. Er machte einen riesigen

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Aufstand in der Schule, der Dieb konnte jedoch nicht gefasst werden. Er schrie vor Wut in den Sitzungen, vor Hilflosigkeit. Ich konnte das gut verstehen. Als ich aber sagte, dass es so etwa seinem Vater ergangen sei, schrie er noch mehr und sagte, das sei etwas vollkommen anderes. Er begann riesige Sushi-Portionen mit in die Sitzungen zu bringen und sie da zu konsumieren, dazu mindestens zwei Flaschen Limonade. Ich war mir sicher, dass er das von dem vom Vater gestohlenen Geld bezahlte. Darauf angesprochen, machte er keinen Hehl daraus. Marlon hatte kein Gefühl von Schuld mehr, seit er selbst beklaut worden war. Ich verbot ihm schließlich in den Stunden zu essen und zu trinken, weil ich es nicht mehr ertragen konnte. Er war völlig konsterniert. Es begann eine Phase in der Behandlung, in der er selten oder viel zu spät kam. Statt zu mir ging er zu dem Sushi-Imbiss, mit dessen Besitzer er sich angefreundet hatte. Er rief immer an und behauptete, krank zu sein. Später gestand er das ein. Ich sagte jedes Mal, wenn er schließlich kam: »Du bist so böse und wütend auf mich, weil du hier nicht mehr essen und trinken darfst, du willst nicht mehr zu unseren Stunden kommen.« Marlon war merklich bedrückt, wenn ich das sagte. »Ich weiß schon, was Sie denken«, sagte er bald von sich aus, »ich bin sauer, weil sie mir hier alles verbieten, das stimmt auch.« Ich: »Ich habe auch darüber nachgedacht, dass du, seit du bestohlen worden bist, wieder angefangen hast, deinem Vater viel Geld zu stehlen, und du warst auch richtig böse auf mich, als ich das verglichen habe.« »Es ist noch was. Meine Eltern lassen sich vielleicht scheiden. Mehr sage ich nicht«, erwiderte Marlon. Tatsächlich kamen die Eltern drei Monate lang nicht mehr zu den vereinbarten Gesprächen. Ich war völlig allein mit dem Patienten, hing ebenso in der Luft wie er. Ich dachte oft: »Das ist sehr viel, was du von ihm verlangst, er soll alles alleine regeln.« Trotzdem schien es mir, als hätte ich keine Wahl und so sagte ich zu Marlon: »Es geht nicht mehr. Ich merke das ganz deutlich. Du willst nicht mehr kommen. Du gehst zum ›Sushi King‹, weil ich das hier nicht mehr will, das Essen und Trinken, weil du sehr böse auf mich bist. Wir müssen aufhören. Wir müssen uns eine Möglichkeit überlegen, wie nicht alles verloren geht, was wir zusammen gemacht haben, denn es war nicht nur schlecht, wir hatten auch gute Zeiten. Ich schlage dir vor, nur noch einmal wöchentlich zu kommen und die Behandlung in sechs Wochen zu beenden.« Marlon sah mich grimmig an und äußerte sofort: »Das will ich nicht. Ich will es so haben, wie wir es ausgemacht haben, ich komme bis zu den Sommerferien zweistündig.« »Das ist für mich in Ordnung«, sagte ich, »wenn du das wirklich so willst.« Marlon kam in der Folge immer und pünktlich. Wir nahmen uns die seit Jahren gemalten Flugzeuge vor und begannen sie zu ordnen. Erstmals sahen wir uns die Flugzeuge gründlich an und sortierten sie. Es gab meine, es gab Mar-

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lons und es gab welche, die in Gemeinschaftsarbeit entstanden waren. Wir verbrachten viele Stunden mit dem Ordnen und diskutierten, was diese Flugzeuge wert seien und wie lange sie würden fliegen können. Seit langer Zeit hatte ich wieder das Gefühl, mit Marlon in Kontakt zu treten, und zwar in einer neuen Weise. Wir ordneten, was wir geschaffen hatten. Es war ein neuer Raum entstanden, geprägt von der Vorstellung, alles, was wir gemacht und erlebt hatten, ordnen zu müssen. Marlon kam und ging nach seinen Stunden wie ein Kind, das eine neue Sicherheit gewonnen hatte. Unbewusst hatte er nach meiner Grenze gesucht, er hatte nicht alles zerstören wollen. Es ging erstaunlich gut ohne Essen und Trinken. Ich dachte für mich: »Er übt sich im Verzichten, im Einhalten der Grenze.« Wichtig dafür war gewesen, dass er an die äußerste Grenze gegangen war. Er sehnte sich danach, den Anforderungen des Dritten zu genügen. Er wollte kein »Abbrecherkind« sein, so nannte er das einmal. Er wollte seinen Vertrag erfüllen und ein ganz normales Kind sein. Er nähere sich, so dachte ich, einer inneren Gesetzesstruktur. Ich war mir sicher, dass er kein Geld mehr vom Vater stahl. Die Eltern tauchten wieder auf, merklich schuldbewusst. Seit Weihnachten hatte der Patient nicht mal einen Euro mehr gestohlen. Die Mutter sagte, Marlon sei anders geworden, sie spüre das. Er mache ganz ordentlich seine Hausaufgaben. In Mathematik werde er eine Eins im Zeugnis bekommen. Nach einer schweren Krise, so erfuhr ich, hatten die Eltern sich wieder angenähert. Der Vater hatte sich »platonisch«, wie er betonte, mit einer Frau getroffen. Die Mutter musste sehr weinen, als er darüber sprach. Ich dachte an Marlons Äußerung: »Da gibt es Dinge, die kann ich nicht sagen, weil es mir zu peinlich wäre.« Einmal, er war schon im Gehen begriffen, blieb Marlon plötzlich stehen und sah mich ernst an. »Da ist noch was, ich wollte es Ihnen schon so lange sagen. Manchmal habe ich gedacht, dass ich mich umbringen will, mein Kopf tat dann so weh, dass ich es nicht mehr ertragen konnte.« Ich daraufhin: »Ich habe das gefühlt, damals schon, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe.« Er: »Das haben Sie damals echt gemerkt.« »Ja«, erwiderte ich, »das habe ich damals gemerkt.« Er: »Es ist besser geworden, aber ich habe immer noch Angst, dass meine Eltern sich trennen, wenn mein Bruder nach Salem geht. Wo soll ich dann hin?« »Ein furchtbarer Gedanke«, sagte ich spontan und fühlte eine tiefe Hoffnungslosigkeit Besitz von mir ergreifen. Marlons Angst, die Eltern könnten sich trennen, erfüllte sich nicht. Sein Bruder wurde nicht in Salem aufgenommen, sondern vertröstet. Es war Marlon, der plötzlich Pläne umsetzte. Er wechselte von seiner Gesamtschule auf das Gymnasium und hörte auf, alles in sich hineinzufressen. Er begann mit dem Vater täglich Fahrrad zu fahren. Manchmal nahm der Vater ihn mit auf Baustellen, wo er

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Marlon

sich etwas verdienen konnte. Nachdem er darüber hatte sprechen können, dass er manchmal nicht mehr hatte leben wollen, etwas, was ich in unserer allerersten Stunde intuitiv erspürt hatte, gelang ihm vieles. Er nahm ab und sah nicht mehr so verquollen und aufgedunsen aus. Seine Gestalt und sein Gesicht konturierten sich. Es war, als schäle er sich aus einem Kokon heraus, und nun konnte man sehen, was für ein gutaussehender Junge, mit glänzenden schwarzen Haaren und ausdrucksvollen, dunklen Augen, er war. Ritalin nahm er nach wie vor nicht mehr ein. Noch immer träumte er davon, Pilot zu werden, und versprach, mir eine Karte zu schicken, wenn sein Traum in Erfüllung gehen sollte. »Frau Langer, ich würde gerne für immer diese Stunden haben, aber ich weiß ja, dass das nicht geht. Wir haben jetzt nur noch wenige Wochen Zeit, ich weiß das ja, und ich würde sehr gerne, wenn Ihnen das auch Spaß macht, mich mit der Inneneinrichtung unserer Flugzeuge beschäftigen.« Ich holte insgeheim tief Luft und dachte: »Ist das Marlon? Nun will er wissen, was mir Spaß macht.« »Das ist okay für mich«, antwortete ich, »das mit der Inneneinrichtung, ich bin wirklich gespannt.« Zu all unseren Flugzeugen zeichneten wir nun den Innenraum, diskutierten über ökonomische und unökonomische Varianten, über bequeme Sitzplätze in der Holzklasse und die Möglichkeit von Liegeflächen in der Business-Class. Dabei war immer wichtig, ob ein Flugzeug mit Gewinn würde fliegen können, wenn wir es so gut wie möglich ausstatteten. Manchmal meinte ich, dass wir Jahre mit unserem neuen Projekt verbringen könnten, das begonnen hatte, als Marlon mir zum allerersten Mal gestanden hatte, dass er manchmal nicht mehr leben wolle. Unsere Beschäftigung mit dem Innenraum war im Grunde eine doppelte: Es ging nicht nur darum, den Innenraum der Flugzeuge effizient und zugleich komfortabel auszustatten, es ging auch darum, den Innenraum meines Patienten in ähnlicher Weise zu sichern. Denn Marlon hatte Anschluss an die Wirklichkeit gefunden. Zu unserer allerletzten Sitzung brachte er mir einen großen Kasten exquisiter Pralinen mit, die »Pralinés des Dames« hießen. Es war mir bewusst, dass er die teuren Pralinen von seinem kärglichen Taschengeld gekauft hatte. Ich bedankte mich langsam und ausführlich, ich glaube, Tränen standen in meinen Augen. »Frau Langer, ich habe lange überlegt, was ich Ihnen zum Abschied schenken soll, da habe ich diesen Pralinenkasten gesehen, er schien mir genau richtig. Er ist viel teurer als alle anderen, aber ich wollte genau diesen zum Abschied, ich weiß gar nicht warum.« Ich: »Ein wirklich komfortables Geschenk zum Abschied, viel zu teuer, einfach wunderbar, ganz vielen Dank, Marlon.« Marlon: »Wer weiß, vielleicht werden Sie einmal meine Karte bekommen, dass alles geklappt hat mit dem Pilotenschein.« Ich: »Wer weiß, vielleicht werde ich einmal ein Flugzeug besteigen, das du fliegst.« »Danke, Frau Langer, dass ich zu Ihnen

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Sieben Behandlungen, in denen Rahmen und Spielraum einander ergänzen konnten

kommen durfte, ich weiß, wie schrecklich ich manchmal war.« Wir gaben uns fest die Hand und sahen uns in die Augen. Abschlussbetrachtung des Behandlungsverlaufs

Marlon hatte, dies wurde mir erst spät bewusst, im Verlauf der Therapie seine Eltern wieder zusammengebracht. Er hatte sich befreit aus der dichten, schuldhaft geprägten Beziehung zur Mutter. Seine Sehnsucht nach dem Vater war immer groß gewesen, ohne diesen, der die Familie während der Behandlung zu verlassen drohte, der schon zu Beginn seines Lebens geflohen war, konnte Marlon nicht überleben. In der Übertragung zu mir hatte er das Dritte gesucht und halten wollen, eine Instanz, die nicht in alter Schuld untergeht. Man könnte aber auch sagen, er hatte darum gekämpft, wahrgenommen zu werden. Schon das Monsterkind im Kindergarten hatte sich nach nichts anderem gesehnt. Der Marlon, der seinen Vater bestahl, hatte nichts mehr ersehnt, als erkannt, angeschaut zu werden. Er benötigte den stets zur Flucht neigenden Vater dringend, um sich zu beruhigen und der hilflosen, ihn als Vertrauten ausnutzenden Nähe zur Mutter zu entfliehen. Es war die Zeit, als der Vater mit seinem Sohn Fahrrad zu fahren begann, in der Marlon sich aus seinem Kokon befreien konnte. Ohne die letztlich erfolgreiche Arbeit mit den Eltern hätte diese Behandlung keinen Bestand gehabt. Dass die Arbeit mit den Eltern fast gescheitert wäre, indem sich die frühe Konstellation der Flucht des Vaters ebenso wiederholte wie die schuldhaft enge Bindung der Mutter an ihren Sohn, erwies sich am Ende als notwendig für den Erfolg. Es war Marlon, der im Verlauf seiner Behandlung die Weichen neu stellte. In der gesamten, 150 Stunden umfassenden Behandlung war es ihm darum gegangen, seinen Vater zu erreichen, von dem er in der allerersten Sitzung angegeben hatte: »Er interessiert sich nicht die Bohne für mich.« Marlons Behandlung ordne ich den gelungenen Behandlungen zu, weil es nicht nur glückte, eine Beziehung zu dem Patienten und seiner Not herzustellen, diese Not zu begreifen, sondern auch, die Eltern im Verlauf eines krisenhaften Prozesses in einer Weise zu erreichen, die den Boden bereitete für Marlons Leben nach der Therapie. Der Rahmen der Behandlung allerdings war lange umkämpft. Marlon wollte mehr, wollte alles, akzeptierte die Begrenzungen des Rahmens nicht, klingelte in die Stunden der anderen hinein, akzeptierte das ihm zu frühe Enden der Sitzungen nicht, brachte Essen und Trinken mit in die Sitzungen. Ich verstand intuitiv, dass er auf diese Weise einen Ort für die ihn überflutende Bedürftigkeit suchte. Erst als es ihm gelungen war, den Rahmen der Behandlung nahezu zu zerstören und meinen inneren Spielraum bis zum Äußersten zu reizen, war er es, der den Rahmen suchte: Als ich ihm das Essen und Trinken während der Sitzun-

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Marlon

gen verbot, agierte er seine Wut über diese Regel, indem er Sitzungen ausfallen ließ und die Stunden im Sushi-Imbiss, statt bei mir verbrachte. Als ich daraufhin vorschlug, die Behandlung in sechs Wochen zu beenden, bestand er auf dem zu Anfang ausgemachten Rahmen und hielt ihn in der Folge ein. Er mobilisierte erstaunliche Fähigkeiten und war selbst dann in der Lage, seine Stunden ernst zu nehmen, als die Eltern für einen längeren Zeitraum nicht mehr zu den Elterngesprächen kamen. Für Marlon wurde der Behandlungsraum zu einem Spielraum für sein unersättliches Verlangen nach dem guten Objekt. Er nutzte ihn in einer kreativen Weise, immer nahe am Sprengen des Rahmens – er baute mit mir Flugzeuge, trank und aß aber auch gestohlene Lebensmittel in den Sitzungen. Hilfreich war, dass dieser Patient einen Plan und damit einen inneren Rahmen mitbrachte: Er wollte Pilot werden und sich weiterentwickeln, um dieses Ziel zu erreichen. Marlons kreativer Umgang mit dem Rahmen der Behandlung bestand darin, dass er es zum einen wagte, diesen Rahmen anzugreifen, zu agieren, indem er etwa Stunden ausfallen ließ und auf diese Weise einen unübersehbaren Raum für seine Wut schuf, zum anderen aber auch darin, dass er mein Festhalten am Rahmen als Beziehungsangebot verstehen konnte. So hatte er mit mir um genau den Spielraum gekämpft, den er benötigte, um sich zu entwickeln. Hierzu war wichtig gewesen, meine Regeln durch sein Agieren in Frage stellen zu können, aber auch, dass ich diese Regeln mit ihm, in der Beziehung zu ihm, neu verhandelte und mich nicht hinter einem allgemeinen Abstinenzgesetz verbarg. Marlons Eltern waren stark mit sich selbst und ihrer Beziehung zueinander beschäftigt. Sie überließen mir den Patienten und nahmen ihre Elternschaft erst im Verlauf der Behandlung wieder auf, nachdem auch sie den Rahmen bis zum Äußersten gedehnt hatten. Sie stellten keine konkurrente Szene her und ermöglichten mir und Marlon einen Spielraum. Hierzu passt, dass sie sich ebenso wie der Patient meine Arbeit wertschätzend und dankbar verabschieden konnten. Ich komme, was die Behandlung Marlons angeht, zu dem Schluss, dass es entscheidend war, dass die Eltern ihrem Sohn den therapeutischen Raum gönnen konnten, aber auch, dass mein Spielraum groß genug war, mit dem Rückzug der Eltern umzugehen, das heißt, mit den Verletzungen des vereinbarten Rahmens nicht nur von Seiten Marlons, sondern auch von Seiten der Eltern, was letztlich zur Folge hatte, dass sich die Eltern schließlich einlassen konnten. Innerhalb des von mir und seinen Eltern zur Verfügung gestellten Raums konnte der Patient nach einem eigenen Weg suchen. Der Behandlungsverlauf regte mich unter anderem auch dazu an, darüber nachzudenken, dass es viel weniger die aktive Unterstützung der Eltern war, die für Marlon einen Entwicklungsspielraum bereitstellen konnte, als vielmehr die Abwesenheit von Konkurrenz.

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Sieben Behandlungen, in denen Rahmen und Spielraum einander ergänzen konnten

Cynthia, zwölf Jahre – Grund der Anmeldung: Trennungsangst/Anklammern an die Mutter (190 Stunden, zweimal wöchentlich eine Stunde; zehn Stunden, einmal wöchentlich eine Stunde) Darstellung des Behandlungsverlaufs

Cynthias Mutter war hochschwanger, als sie mich aufsuchte. Ihr Gesicht war aufgedunsen, sie quälte sich die drei Stockwerke zu meiner Praxis empor. Auch das Sprechen fiel ihr schwer. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, was Sie interessiert, was ich hier berichten soll«, begann sie in einer mühseligen Weise, die überlagert war von einem geschäftsmäßigen Ton. »Mich interessiert alles, und es ist egal, wo Sie anfangen«, erwiderte ich. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Cynthias Vater, ein schwarzer amerikanischer Soldat, so berichtete die Mutter, sei in sein Heimatland zurückgekehrt, als die Tochter gerade zwei Jahre alt gewesen sei. Cynthia habe die folgende Zeit bis zu ihrem zehnten Lebensjahr mit der Mutter alleine verbracht. Manchmal, sehr unregelmäßig, habe der Vater angerufen und mit Cynthia am Telefon gesprochen. Dann sei alles schnell gegangen. Sie, die Mutter, habe sich verliebt, geheiratet, eine zweite Tochter mit dem neuen Mann bekommen: »Es war zu schnell, alles ging zu schnell, Cynthia kam gar nicht mehr mit. Jetzt erwarte ich schon das zweite Kind mit meinem Ehemann, manchmal denke ich, Cynthia hasst mich. Sie hasst auch meinen Mann, er hat sich sehr um sie bemüht, aber sie lässt ihn irgendwie auflaufen. Ich wünsche mir auch, dass er hierher mitkommen kann, er hat es heute nicht geschafft, er ist dabei, sich eine Praxis als Steuerberater aufzubauen, und hat so wenig Zeit übrig. Aber er hat mir versprochen mitzukommen, wenn Cynthia zu Ihnen kommen darf. Wir waren ja schon bei einem anderen Therapeuten, es hat leider nicht geklappt, Cynthia weigerte sich.« Cynthia, so verstand ich, begann sich in der Zeit der großen Veränderungen stark an ihre Mutter anzuklammern, sie beschattete sie regelrecht, verließ kaum noch das Haus, außer um in die Schule zu gehen, und verwickelte die Mutter in aggressive Auseinandersetzungen. Am Morgen stand sie nur nach einem langwierigen Prozedere auf, verschloss sich am Nachmittag bei den geringsten Versagungen in ihrem Zimmer, manchmal schrie und tobte sie wild. Ihre Leistungen ließen deutlich nach, auch kam es zu aggressiven Auseinandersetzungen mit Lehrern und Mitschülern. »Seit ich geheiratet habe, verweigert sich Cynthia. Es war eigentlich immer dicht zwischen uns gewesen früher, es war irgendwie wunderbar. Sie macht auch keine Hausarbeiten mehr, jetzt. Das ist neu für mich, auch, dass sie mich

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Cynthia

belügt in vielen Kleinigkeiten, dass sie jetzt dauernd mit ihren Fingern knackt und mit den Zähnen knirscht in der Nacht, so laut, dass wir es durch die Wand hören können.« Ich: »Als würden Sie Ihr Kind nicht wiedererkennen, als sei Cynthia Ihnen fremd geworden.« Die Mutter begann vor sich hinzustarren, es wurde ganz still. »Da ist noch etwas«, bemerkte sie wie mechanisch, »ich bin adoptiert worden. Damit hatte ich nie ein Problem, meine Adoptiveltern sind meine Eltern und werden es immer bleiben.« Ich nickte. Nur langsam, nach längerem Schweigen, fuhr die Mutter fort: »Als ich mit Cynthia schwanger war, habe ich meine leibliche Mutter ausfindig gemacht. Es hat mich vorher nicht interessiert, dann plötzlich doch.« Sie verstummte erneut und sah mich wie fragend an. Ich: »Das kann ich gut verstehen. Sie waren dabei, Mutter zu werden, ein Kind wuchs in Ihnen, Sie sehnten sich danach, den Menschen zu sehen, in dem Sie einmal gewachsen waren, der Sie auf die Welt gebracht hatte.« Sie: »Es war sehr schwer mit meinen Adoptiveltern. Ich musste sie stark beruhigen. Sie dachten, nun verlasse ich sie für immer. Ich bin dann mit Cynthia, sie war gerade zwei Monate alt, nach Amerika gereist. Ich habe meine leibliche Mutter zum ersten Mal gesehen, ich fiel in ihre Arme, da war ich 22. Sie hat mich und Cynthia wunderbar aufgenommen. Es war sofort so, als hätten wir uns schon immer gekannt. Wir haben viel geweint. Es war nah zwischen uns. Meine Mutter hat Cynthia oft im Arm gehalten.« Ich: »Da hat sie etwas wiedergutmachen können.« »Meine Mutter«, fuhr sie fort, »war sehr jung gewesen, erst 16 Jahre alt, als ich in Frankfurt auf die Welt kam. Und ist es nicht verrückt, auch mein Vater war ein schwarzer Amerikaner – da ist so viel, was mich mit meiner ersten Tochter verbindet.« Unvermutet für mich begann sie plötzlich zu weinen, es brach wild aus ihr heraus. »Es tut so weh, die Kluft, die zwischen Cynthia und Ihnen gewachsen ist«, sagte ich leise. Cynthia, ein wirklich großes, mich überragendes Mädchen, sah ich bald darauf. Sie war recht füllig und man hätte sie gut und gerne für 16 statt zwölf halten können. Im Gegensatz zur Mutter hatte sie eine dunkle Hautfarbe, ein wirklich schönes Gesicht mit ausdrucksvollen Augen. Ich bemerkte, dass sie dezent geschminkt war und ihre Nägel lackiert hatte. Sofort nahm ich wahr, unter wie starken körperlichen Anspannungen sie stand. Sie bewegte immer wieder ihren Hals hin und her und versuchte ihren Rücken zu lockern. Als sie zu sprechen begann, wirkte sie wie ein sehr kleines Mädchen auf mich und ich vergaß sofort meine erste Wahrnehmung von ihr. Sie beklagte sich über die Mutter und sagte gleichzeitig: »Ich bin am liebsten zu Hause mit der Mama.« Ich: »Und dann gibt es Streit.« Sie nickte traurig: »Immer, immer gibt es Streit, schon am Morgen, ich will nicht aufstehen, Achim [Stiefvater] macht

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Sieben Behandlungen, in denen Rahmen und Spielraum einander ergänzen konnten

dann in meinem Zimmer das Licht an und ich möchte schreien. Dann rufen sie mich und rufen.« Ich: »Du willst liegenbleiben, gar nicht in die Schule gehen.« Sie: »Es soll immer alles so schnell gehen.« Ich: »Es ging wirklich alles schnell, plötzlich war der Achim da, dann deine Schwester, und bald noch ein Geschwister.« Sie: »Sie hat mich gar nicht gefragt – der Achim ist schon manchmal nett, aber ich will das nicht, dass er morgens mein Licht anmacht.« Ich: »Manchmal wünschst du dir, er wäre weg.« Cynthia lächelte plötzlich und nickte. Dann fuhr sie fort: »Wenn ich dann morgens runterkomme, drängelt mich meine Mutter und sagt, willst du jetzt frühstücken, ich sage Nein, dann räumt sie die Nutella weg, obwohl sie weiß, dass ich die haben will und am Morgen mag.« Ich: »Es ist wie verhext, als ob ihr nicht mehr zueinander finden könntet.« Cynthia schwieg, und ich hatte einen Moment lang den Eindruck, sie finge an zu weinen. Sie fasste sich aber und sagte: »Überall habe ich Probleme, in der Schule auch. Ich bin so gerne in meinem Zimmer und da lese ich und lese, manchmal schließe ich mich ein, dann klopfen sie und klopfen.« Sie schwieg eine Weile und begann mit ihren Händen zu knacksen. Dabei schaute sie mich verschämt an und sagte: »Ich muss das immer machen.« Ich nickte: »Es ist alles schwer für dich, da ist eine riesige Anspannung in dir.« Cynthia schaute mich mit großen Augen an und wieder schien es mir, dass sie gleich anfangen würde zu weinen. Sie sagte aber: »Ich wollte nicht hierher kommen, ich wollte zu Hause bleiben und lesen, es ist aber nicht so schlimm, wie ich dachte.« In der Gegenübertragung empfand ich eine mit der Patientin verschmelzende Beziehung, als seien wir von nun an für immer zusammen und als könne uns niemand mehr trennen. Es bestand diese Diskrepanz zwischen der erwachsenen Körperlichkeit der Patientin und ihrer inneren Entwicklung, ihrer kleinkindlichen Bedürftigkeit. Ich dachte viel darüber nach, dass Cynthias Geburt, überhaupt die Tatsache, dass sie das Kind eines schwarzen, amerikanischen Soldaten war, die Mutter an ihre Wurzeln erinnert und dazu getrieben hatte, mit ihrer lange verleugneten, leiblichen Mutter Kontakt aufzunehmen. Ich fragte mich, ob die schnelle Heirat mit einem Deutschen und die aufeinanderfolgenden Kinder als unbewusste Flucht vor Cynthia, vor der eigenen Vergangenheit zu lesen seien. »Es ging alles so schnell«, hatte die Mutter gesagt, und es war Cynthia, die nun langsam war und nichts mehr verstand. Es war Cynthia, die an der Mutter festhielt, die ihr einmal allein gehört hatte. In gewisser Weise fühlte sie sich nun als das Adoptivkind in der schnell wachsenden Familie und wusste nicht mehr, wo ihr Ort war. Sie verweigerte sich den alltäglichen Anforderungen, zog sich lesend in ihr Zimmer zurück. Sie knackste unablässig mit den Fingern, knirschte mit den Zähnen, formte ihre Gestalt zu einem nahezu erwachsenen Mädchen, in

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Cynthia

dem sich ein Kleinkind verbarg, das die Mutter beschattete und in einer unbewussten Weise nach einem Raum für die sie bedrängende Überforderung und Aggressivität suchte, für ihr Verlorensein, ihre Verwirrung und die innere Frage, wo nun eigentlich ihr Platz sei. Ich vermutete, dass Cynthia bis zur Heirat der Mutter eine von symbiotischen Zügen geprägte Beziehung zur Mutter hatte und den Einbruch des Dritten als traumatisierend erlebte, als ein von der Mutter Verlassensein. Hinter den stets erneut ausbrechenden aggressiven Bestrebungen drängten depressive Gefühle an. Zu Beginn der Behandlung sprach Cynthia oft über die verschiedensten Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter, darüber, wie sie, Cynthia, sich nichts gefallen lasse, dass sie zum Beispiel das ihr weggenommene Fernsehkabel so lange gesucht habe, bis sie es gefunden habe. Ich erklärte ihr: »Du kannst es nicht ertragen, wenn sie Nein sagt, vielleicht, weil es dir dann manchmal vorkommt, als sage sie nicht nur zu dem Nein, was gerade Thema ist, sondern zu sehr vielem, was du tust und bist.« Cynthia schwieg lange, nachdem ich das gesagt hatte, plötzlich brach es aus ihr heraus: »Ich bin so gemein, es ist unglaublich, wie gemein ich zu ihr bin, aber es tut mir dann so leid, so leid.« Tränen standen in ihren Augen. Die Patientin begann mich scharf zu beobachten, sie musterte meine Kleidung und überprüfte meinen Blick. Sie dachte auch laut darüber nach, ob ich wohl verheiratet sei, Kinder hätte, welches Auto ich führe. Auch die Gegenstände in unserem Raum nahm sie unter die Lupe, räumte auf und schaute in der folgenden Stunde stets nach, ob etwas verändert war. Gleichzeitig schien sie oft zu träumen, schaute aus dem Fenster heraus. Einmal sagte sie: »Ich träume eigentlich immer.« Ich: »Als wärst du gar nicht richtig da.« Cynthia nickte. Ich: »Wo du wohl sein magst?« Wir schwiegen. Cynthia: »Frau Langer, eben haben Sie auch geträumt.« Sie lächelte mich an und hatte recht, ich hatte über Cynthia nachgedacht, geträumt. Ich fühlte mich ihr sehr verbunden in dieser Szene und dachte: »Das ist Cynthia, sie muss von ihrer Mutter träumen, sie fragt sie unbewusst, wo sie manchmal sein mag.« Und mir fiel ein, in der Schule war sie ja auch dafür bekannt, dass sie dasaß und träumte. Ich dachte oft, dass sie auf diese Weise versuche, ihre Mutter festzuhalten – auch mit ihren immer schlechter werdenden Schulleistungen, die, so überlegte ich mir, in gewisser Weise ein Resultat ihres Träumens, ihrer Präokkupiertheit seien. Cynthias Mutter fiel es schwer, innerlich für die Patientin da und ansprechbar zu sein, dies war mein Eindruck und ich konnte fühlen, dass das nicht nur an der Belastung mit zwei Kleinkindern lag. Es war innig mit Cynthia in unseren Stunden und zugleich oft leer, bedeutungslos, das machte mich zunehmend verrückt. Oft dachte ich: »Was machen

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Sieben Behandlungen, in denen Rahmen und Spielraum einander ergänzen konnten

wir hier, wir träumen.« Cynthia kritzelte, mitunter tauschten wir uns aus, über etwas, was geschehen, ihr wichtig war. Ich verstand diese Leere nicht, dachte aber auch an die Mutter, die Brüche, daran, dass die tiefe Innigkeit und Verbundenheit der Mutter mit Cynthia sich gleichfalls mit einer Leere, mit ihrem geschäftsmäßigen Gar-nicht-da-Sein verband. Ganz plötzlich begriff ich in einem heftigen Gegenübertragungsgefühl: Diese Mutter wagte es nicht, ihrer innigen Beziehung zu Cynthia Bedeutung zu geben. Schnell fühlte sie sich zurückgestoßen, wenn sie etwa, wie wir es besprochen hatten, eine Unternehmung zu zweit vorschlug, auf die Cynthia nicht positiv reagierte. Die Mutter hatte solche Angst, von Cynthia nicht als Mutter angenommen und akzeptiert zu werden, genauso große Angst wie Cynthia hatte, ihrer Mutter keine gute Tochter sein zu können. Cynthia, die sagte, sie käme nicht gerne zu unseren Stunden, aber keine einzige versäumte (vieles hatte sie heimlich abgebrochen: Tanzen, Nachhilfe), hatte eine solche Sehnsucht, suchte den Blick ihrer Mutter in der Übertragung, in der Begegnung mit mir. Ich sollte mit ihr träumen, schweigen, sie ansehen. Hinzu kam die erneute Enttäuschung über ihren Vater, mit dem sie einige Wochen lang in E-Mail-Kontakt gestanden hatte, und der sich plötzlich nicht mehr meldete. Daraufhin löschte die Patientin seine Adresse und sagte: »Ich kann ihn jetzt gar nicht mehr erreichen, es ist unmöglich.« Ich verstand, wie sie sich schützen musste. Nur noch selten knackste sie mit ihren Fingern. Ich konnte eine starke Wut aufsteigen fühlen, wenn sie das machte. Einmal erzählte sie, sie habe sich aus einer Bildcollage der Familie, die sie der Mutter zum letzten Muttertag geschenkt hatte, herausgerissen, dabei knackste sie mehrfach mit ihren Fingern. Ich: »Als ob du nicht dazugehörtest, nicht dazugehören wolltest.« Cynthia erwiderte: »Manchmal will ich nicht.« Dann begann sie zu weinen. In den Sommerferien flog sie allein zur Familie der leiblichen Mutter ihrer Mutter. Es war die Zeit, in der ich mit der Mutter über ihre Adoption in Kontakt kam. »Mein Herz ist schwarz«, äußerte sie einmal unter Tränen, als sie in einer Sitzung darüber sprach, wie sie ihrer leiblichen Mutter zusammen mit dem Säugling Cynthia zum ersten Mal begegnet war. »Amerika, das habe ich gleich gemerkt, da bin ich anders, wie zu Hause, meine Halbgeschwister dort sehen mir ähnlich, wir sind alle kräftig, aber das fällt da gar nicht auf. Zum ersten Mal konnte ich mir ohne Scham eine Hose kaufen.« Ich verstand, dass sie sich, in Anwesenheit ihrer leiblichen Mutter, die sie zart und behutsam aufnahm, nicht mehr schämen musste. Cynthia, sagte mir, zurückgekehrt aus Amerika: »Es war wunderbar, ich liebe Amerika, aber ich war auch froh, als meine Mama mich am Flughafen in Frankfurt abholte, und da war eine große Überraschung. Sie hatten, als ich weg

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Cynthia

war, mein Zimmer in meiner Lieblingsfarbe grün gestrichen.« Ich: »Es war auch wunderbar, wie sie an dich gedacht haben, als du so weit weg warst.« Es war deutlich, dass sie sich sehr vorsichtig an die sie verwirrende Geschichte ihrer Mutter heranwagte. Sie wusste, dass diese mit ihr zusammen zum ersten Mal ihrer leiblichen Mutter begegnet war. Manchmal stellte sie mir spontan eine Frage, zum Beispiel: »Warum war das eigentlich so, meine Mutter hatte doch eine Mutter, die sie geboren hatte?« Ich konnte fühlen, wie sie sich fragen musste, ob wohl auch sie, Cynthia, weggegeben werden könnte, denn manchmal sprach die Mutter von Internat. Cynthia sagte leidenschaftlich: »Niemals gehe ich so wohin.« Ich: »Du willst das schon wissen, wenn du streitest, die Wohnung nach dem Fernsehkabel durchsuchst, ob sie dich, egal, was passiert, behalten wird.« Cynthia lächelte und sagte: »Eigentlich bin ich sicher, nur manchmal.« Es war wichtig gewesen, dass die Mutter sich mir im Hinblick auf ihre Adoption anvertraut hatte. Gleichwohl war es immer wieder schwer mit ihr. Wenn wir gerade in Fluss gekommen waren, verreiste sie und schien gar nicht mehr da zu sein. In den Sitzungen mit der Mutter war es häufig, als habe ihre Lebendigkeit einen Riss. Sie konnte dann nicht bei dem bleiben, worüber wir gerade sprachen und zog sich unvermutet zurück. Sie erzählte mir, dass ihre Adoptiveltern sie schon kurz nach ihrer Geburt im Heim besucht hätten, dass es dann aber ein Dreivierteljahr gedauert habe, bis sie sie hatten mitnehmen dürfen. Sie habe, so äußerte sie wie nebenbei, schrecklich geschrien in dieser Zeit, immer nur geschrien und man habe sie im Heim nicht mehr beruhigen können, wenn die Adoptiveltern gegangen waren. Als ich spontan ausrief: »Es muss furchtbar gewesen sein«, sagte sie knapp: »Ich bin nur froh, dass ich davon nichts mitbekommen habe«, und ich spürte sofort, da war ganz viel Schmerz, dem sie nie wieder begegnen wollte. Es war schon viel, dass sie mir von einem Artikel erzählte, den sie geschrieben hatte, nachdem sie ihrer leiblichen Mutter zum ersten Mal begegnet war. Er lautete: »Mein Herz ist schwarz«. Insgeheim gefiel es ihr, als ich sie fragte, ob ich den Artikel einmal lesen dürfe. Und es gefiel ihr auch, als ich später darüber sprach, dass Cynthia damals ja dabei gewesen sei, bei dieser sehr wichtigen Zusammenkunft. »Cynthia und ich teilen so vieles«, sagte sie, »ich kann so vieles spüren von ihr.« Zwischen Cynthias Mutter und mir entwickelte sich ein zartes, störungsanfälliges Band und ich hatte immer das Gefühl, wir würden sehr viel Zeit benötigen. Den Stiefvater Cynthias erlebte ich als hilfreich in unseren Gesprächen. Mit seinem Humor und seiner guten Beobachtungsgabe konnte er die Steifheit der Mutter immer wieder beleben. Cynthia war stark damit beschäftigt, wer sie sei, ob sie bei ihrer Mutter bleiben dürfe, die sie oft terrorisierte, ob diese sie wirklich wolle oder weggeben

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Sieben Behandlungen, in denen Rahmen und Spielraum einander ergänzen konnten

würde, wie sie weggegeben worden war, ob es einen Raum für sie gebe, das Kind, das lange vor der nun existierenden Familie geboren worden war. In ihren Tagträumen näherte sie sich der Mutter, das heißt in der Übertragung mir an. Sie entwickelte sich, ihre Widerstände lockerten sich. Eine große, mich fast ängstigende Innigkeit beherrschte unsere Stunden. Cynthia, die große Neinsagerin, genoss den ruhigen Raum, den unsere Stunden ihr boten. Sie begann mit mir »Stadt, Land, Fluss« zu spielen, sie erschwerte das Spiel, indem wir uns in jeder Stunde auf Städte, Gebirge und Flüsse eines einzigen Landes konzentrierten. Es gefiel ihr, als ich ihre ausgezeichneten geographischen Kenntnisse erkannte. Wir spielten endlos. Ich hatte das Gefühl, mich in der Übertragung fallen zu lassen. Meine dahineilenden Gedanken (was machst du da, wieder und wieder?) wurden von dem starken Gefühl besänftigt, warten zu müssen, der Patientin die Führung zu überlassen. In den Spielpausen begann sie ein neues Spiel: Sie begann stakkatoartig aufzuzählen, was sie alles nicht mochte (Lieder, Filme, Prominente …). »Cynthia, du liebst es, Nein zu sagen«, bemerkte ich. Sie strahlte, als hätte ich etwas Wichtiges von ihr erkannt, und führte das Pausenspiel lustvoll fort. Es gefiel ihr, dass ich ihr schweigend zuhörte, sie nicht zu beschwichtigen versuchte, mich abstinent verhielt. Sie suchte ganz offensichtlich einen Ort für ihr Nein. Das Gefühl von Leere, das die Stunden beherrscht hatte, schwand. Cynthia begann zu erzählen, auf ihr Nein folgte ein intensives Ja. Ich verstand, ein wie einsames Mädchen sie war, nun, da sie sich anzuvertrauen begann, sich hineinstürzte in die Beziehung zu mir. Sie erzählte vom Wechsel von der privaten Grundschule in die Gesamtschule, wie sie sich verstellen musste, um nicht unterzugehen, wie sie ein ganz anderer Mensch hatte werden müssen. »Aber in Wirklichkeit«, so Cynthia, »hasse ich es, laut zu sein, es ist mir alles zu viel, ich will nicht so sein, wie ich sein muss. Ich will das alles nicht, aber Frau Langer, wenn ich nicht laut und frech bin, ich weiß gar nicht, was werden soll, und wenn ich mein Handy ausschalte, sie fallen über mich her.« Ich dachte an unsere Sitzungen, in denen es ruhig und still war. In dieser Zeit berichtete mir Cynthias Mutter von ihrer frühen Geräuschempfindlichkeit im Säuglingsalter, wie sie zu weinen begann, wenn es zu laut, zu viel war. Zum allerersten Mal sprach Cynthia darüber, was sie einmal werden wollte: Maschinenbauingenieurin oder Architektin. Ich erfuhr, dass sie überhaupt etwas werden, dass sie erwachsen werden wollte. Oft sprach die Patientin über ihre Angst vor Einbrechern, etwas Lautes, so dachte ich, dass plötzlich einbrechen könnte in ihren unzulänglich geschützten Raum. In diese Entwicklung platzte ich mit meiner Idee der Reduzierung der Stundenfrequenz auf einmal pro Woche. Ich dachte geschäftsmäßig: »Nun haben

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Cynthia

wir noch eine begrenzte Anzahl von Stunden zur Verfügung, Cynthia beginnt sich zu entwickeln, mit einer Stunde pro Woche werde ich sie noch eine Weile begleiten können.« Ich wurde in der Übertragung zur Mutter, die Cynthia oft nicht wahrnehmen konnte. Cynthia verfiel sofort in eine tiefe Traurigkeit. Dann erwiderte sie: »Es ist so schade, so traurig, wenn wir uns nur noch einmal sehen können, auch wenn ich die Zeit gut brauchen kann.« Obwohl es mir gleichsam das Herz zerschnitt, ich fühlen konnte, dass Cynthia nicht bereit war, nahm ich ihr Statement als Einverständnis. Cynthia wurde nun unglaublich manisch in ihren Stunden, extrem erregt und unansprechbar. Die Zeit unserer Stille war vorbei. Die Patientin hielt ihr eingeschaltetes Handy in den Stunden in der Hand und erwartete Nachrichten. Trotz aller Anzeichen, wie schlecht es ihr ging, vermochte ich sie zu verleugnen. Erst als ich die Eltern wiedersah, verstand ich, dass Cynthia dabei war, zu verzweifeln. Sie hatte, das rekonstruierten wir, ab dem Tag nach der Ankündigung der Reduzierung der Stundenfrequenz begonnen, die Eltern zu bestehlen, hatte die Mutter mehrfach gewaltsam an den Händen festgehalten und nicht aus ihrem Zimmer gehen lassen, und sie hatte eine große Packung Schmerztabletten aus dem Badezimmerschrank genommen und nach und nach geschluckt. Die Mutter fand die leere Packung in Cynthias Zimmer. Cynthias Mutter weinte furchtbar, als sie darüber sprach. Sie spielte mit dem Gedanken, Cynthia in ein Heim zu geben. »Ich kann diese gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht mehr ertragen«, sagte sie. Ich verstand sofort, wie es sie quälte, mit dem Gedanken zu spielen, Cynthia in ein Heim zu geben – war sie selbst doch aus einem solchen adoptiert worden. Ich begriff, dass sie das nicht ertragen würde. Es war so dicht wie nie zuvor in diesem Gespräch. Der Stiefvater war erschrocken über die Idee seiner Frau. Ich glaube, es tröstete sie, dass ich sowohl verstehen konnte, was sie in ihrer Hilflosigkeit Cynthias Verhalten gegenüber plante, als auch, wie sie sich zugleich vor ihrem Plan fürchtete. Ich schlug vor, mit Cynthia über das von den Eltern Berichtete zu sprechen. Ich fühlte mich auf einmal sehr stark. Nachdem die Eltern gegangen waren, überfiel mich eine entsetzliche Angst. Als ich in unserer nächsten Stunde zu sprechen begann, erwiderte Cynthia abrupt: »Ich weiß nicht, warum ich die Tabletten genommen habe, ganz sicher, ich wollte mich nicht umbringen.« Ich: »Trotzdem, es war dir alles egal, wie es deinem Körper geht.« Cynthia nickte und sagte: »Es war mir alles egal, ich war dann so müde, es war so wie in Watte gepackt, es war richtig für mich.« Wir schwiegen lange. Dann sagte ich langsam: »Cynthia, ich will dich was fragen, ich glaube, ich habe da etwas zu schnell gesagt. Möchtest du weiter zweimal kommen?« Ohne Wenn und Aber antwortete sie kurz: »Ja.« Und ich sah eine unermessliche Last von ihren Schultern fallen. In dem Moment fiel mir

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die Szene ein, in der ich mit der Mutter über die Reduzierung der Stundenfrequenz gesprochen hatte. Sie hatte spontan ausgerufen: »Cynthia wird sich freuen.« Ich erinnerte mich gut daran, wie ich versteinert war und zu denken begonnen hatte: »Da ist etwas, das versteht sie nicht, so, als dürfe das nicht sein, Cynthias gute Zeit mit mir.« Nun erkannte ich, dass ich unterschätzt hatte, wie sehr die Mutter meine Konkurrenz fürchtete. Die Mutter war so unglaublich froh gewesen, dass ich begonnen hatte, mich zu verabschieden. Obwohl ich wusste, wie langsam Cynthia war, war ich ihr vorausgeeilt. Ich war laut geworden und hatte aufgehört, ihren Raum zu schützen, hatte mein Einfühlungsvermögen in Cynthia verloren und in Bezug auf die Mutter die Konkurrenzsituation nicht genügend beachtet. Erst Cynthias heftige, panische Reaktion auf die Reduzierung der Stundenfrequenz, aber auch mein Verständnis für den verzweifelten Wunsch der Mutter, Cynthia wegzugeben, bahnte für die Mutter einen Weg. Nun schien sie sagen zu können: »Frau Langer, helfen Sie mir.« Denn sie verstand, dass ich ihr Cynthia nicht wegnehmen wollte, sie nicht adoptieren würde. Mir blieb der Schreck über mich selbst, über meine geschäftsmäßige Reaktion und mein Haushalten mit dem Standardkontingent. Es war ein großer Fehler gewesen, die Stundenfrequenz zu verringern und damit den zu Beginn vereinbarten Rahmen zu verändern. In meinem Wunsch, die Behandlung fristgerecht zu beenden, hatte ich den nach langer Zeit gefundenen Raum für die Bedürftigkeit und Aggressivität (das Neinsagen) der Patientin zerstört. Ich hatte alle Signale ignoriert, mich in der Übertragung der Mutter anverwandelt, die ihr Kind – ungeschützt, wie sie es selbst zu Beginn ihres Lebens gewesen war – nur unzureichend vor dem Lauten bewahren konnte. Cynthia hatte mit einer Explosion selbstzerstörerischen Verhaltens geantwortet. Sie hatte sich nicht bewusst töten wollen, aber das Leben war ihr zu viel gewesen, sie hatte es nur noch in die Watte der Schmerztabletten eingepackt ertragen. Es gelang mir, einen formalen Rahmen herzustellen, innerhalb dessen unsere Sitzungen wieder wie gewohnt in zweistündiger Frequenz stattfinden konnten. Cynthia verzieh mir aber nicht. Es fielen zweimal Sitzungen aus und es war kaum zu rekonstruieren, warum, wo sie gewesen war. Erst von den Eltern erfuhr ich, dass sie einen 19-jährigen Mann im Internet kennengelernt hatte, den sie ihnen vorgestellt hatte. Er hatte ihr einen Strauß roter Rosen mitgebracht und gab auf Nachfragen der Mutter an, nicht gewusst zu haben, dass Cynthia erst 13 sei. Ich begann nun zu vermuten, dass Cynthia, wenn unsere Stunden ausgefallen waren, sich mit dem jungen Mann getroffen hatte, mit dem die Mutter ihr den Umgang verboten hatte. Cynthia hatte mich beide Male angerufen und mit einer zuckersüßen Stimme auf Band gesprochen – diese Stimme kannte

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Cynthia

ich gar nicht von ihr. Sie hatte sich wegen diesem und jenem entschuldigt und ich hatte begonnen, ihr zu misstrauen. Bezüglich unserer Termine kam hinzu, dass sie mit Schuljahresbeginn Sportunterricht an einem ihrer Behandlungstermine hatte. Ich hatte das Gefühl, dass nichts mehr sicher sei. Der neu eingerichtete Termin habitualisierte sich kaum. Einmal fiel eine Hochzeit in der Familie auf ihn. Ich merkte, wie ich stets zu Cynthias altem, seit Beginn der Behandlung bestehenden Termin auf sie wartete. Ich konnte es nicht fassen, dass sie häufig nicht mehr kam, sich nicht an den Rahmen hielt, zu dem sie spontan Ja gesagt hatte. Wenn sie kam, kam sie wie ein sehr kleines Mädchen zu mir. Ich hatte oft den Eindruck, dass sie fünf Jahre alt sei. Sie malte vor sich hin, betrachtete die alten Bilder ihrer Mappe. Wir taten, dies erkannte ich bei längerem Nachdenken, so, als sei nicht geschehen, was geschehen war und als hätte sie nun nicht einen Freund, um den sie einen erbitterten Kampf mit ihren Eltern führte. »Ich habe jetzt einen Freund, Frau Langer, er ist Serbe, er macht eine Lehre im Maschinenbau«, äußerte sie einmal unvermittelt, schon an der Tür stehend. Ich dachte: »Sie hat mich zu ersetzen getrachtet mit diesem Freund.« Die Lücken zwischen unseren Stunden verhinderten, dass es ernst wurde zwischen uns. Ich war oft einfach nur froh, sie überhaupt wiederzusehen. Dann, nachdem ich mich wieder auf sie eingestellt hatte, kam sie nicht mehr und alles, was ich hätte sagen wollen, verpuffte. Dabei war es nicht so, dass ich auf eine passende Gelegenheit wartete, es war vielmehr so, dass ich mich bemühte, erneut in Kontakt zu treten, und dann war sie schon wieder verschwunden – das war jedenfalls mein Gefühl, obwohl es letztlich insgesamt nur drei Sitzungen waren, die ausfielen. Cynthia, nach einer der ausgefallenen Stunden: »Ich wollte meiner Mutter nicht den Gefallen tun, zu Ihnen zu gehen am Donnerstag, nach dem Streit, sie hat mich praktisch rausgeworfen.« »Dann kommst du also deiner Mutter zu Gefallen zu mir.« Sie nickte, halb beschämt, halb trotzig. Ich, nachdenklich: »Das war mal anders.« Sie, wieder voller Trotz: »Es war nie anders.« Ich: »Es ist alles anders geworden, seit ich dir damals vorgeschlagen habe, nur noch einmal zu kommen, und über das Ende unserer Stunden sprach, du hast mir das nicht verziehen.« Cynthia, sehr ernst: »Ich finde das nicht in Ordnung, wenn Sie ein Kind einfach so fallen lassen.« Ihre Worte fielen schwer in den Raum, ich musste erst einmal Luft holen. Ich, ebenfalls sehr ernst: »So hast du das also erlebt.« Cynthia nickte bedrückt. Ich: »Und ich, ich war langsam darin, das zu verstehen, und als ich es schließlich verstand, war es schon zu spät – zu spät, mir zu verzeihen, ich habe das sehr stark empfunden, wie etwas zwischen uns abbrach.« Sie, plötzlich strahlend: »Frau Langer, ich zeige Ihnen jetzt mein neues Passbild,

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auch wenn es kein schönes Bild ist, mein Gesicht ist so dick.« Sie legte das Bild vorsichtig vor mir auf den Tisch. Es war ein wunderbares Bild, das die Schönheit ihres Gesichtes zum Ausdruck brachte. Ich: »Das Bild zeigt dich genauso schön, wie du bist.« Sie, mich unsicher anlächelnd: »Wirklich, finden Sie? Ich wollte Ihnen auch noch was erzählen, in der Schule bin ich plötzlich ruhiger geworden, ich kann jetzt wieder zuhören und«, sie unterbrach ihren Redefluss und sah mich schweigend an, bevor sie nach einer Weile fortfuhr, »ich habe eine Eins in Englisch geschrieben.« Ich: »Wirklich, eine Eins, unglaublich.« Sie: »Wirklich, ohne auch nur einen einzigen Fehler, die beste Arbeit.« Ich: »Das muss ein wunderbares Gefühl sein, alles richtig gemacht zu haben.« Cynthia nickte und strahlte. Ich bemerkte, dass da wieder diese alte Ruhe zwischen uns war. Cynthia begann vor sich hin zu zeichnen, wie selbstverloren. Plötzlich: »Wie lange muss ich eigentlich noch kommen?« Ich, verblüfft: »Wie lange willst du noch kommen?« Sie: »Wie lange muss ich noch kommen?« Ich: »Da musst du auch was dazu sagen.« Sie: »Was sagen Sie?« Ich: »Es war ein Fehler, als ich etwas gesagt habe, du hast es empfunden, als würde ich dich fallen lassen.« Cynthia: »Stimmt.« Nach einer Weile fuhr sie langsam fort: »Ich hätte gerne schon jetzt alles Geld für die Miete, den Strom und alles, was ich in meinem Leben brauchen werde.« Ich: »Es wäre ein sicheres Gefühl.« Sie: »Ich weiß gar nicht, ob ich das alles schaffen kann, ich bin in gar nichts gut.« Ich: »Ein furchtbares Gefühl.« Sie nickte. Wir schwiegen lange. Plötzlich fiel mir ein, sie hatte doch eine Eins geschrieben, und das sagte ich ihr. Cynthia, plötzlich strahlend: »Und in Bio, da habe ich auf die Hausaufgabe eine Eins bekommen, ich war überhaupt die Einzige, die alles richtig gemacht hat, und zwar ganz allein.« Ich: »Du scheinst angefangen zu haben, daran zu arbeiten, an der Zukunft, dass sie nicht so unsicher ist.« »Aber, ob das reicht, ich weiß nicht, ob es reicht.« Es war mir bewusst, dass sie sich auch fragte, ob es jemals reichen würde mit ihren Stunden bei mir, ob wir uns jemals trennen könnten. Manchmal sehnte ich mich nach der alten Zeit, in der wir »Stadt, Land, Fluss« gespielt hatten. Cynthia war immer wieder vollkommen unansprechbar, versäumte allerdings keine einzige Stunde mehr. Sie hörte zumeist die ganze Stunde Musik. Manchmal stellte sie ihr Handy laut. Sie hörte ausschließlich Hip-Hop, insbesondere Fard, einen iranischen Rapper aus dem Ruhrgebiet, den ich erst durch Cynthia kennenlernte. Es war eine wirkliche Entdeckung, eine wunderbare, authentische Musik, hart, aber auch voller Melancholie. Cynthia sagte: »Er ist irgendwie anders, da ist manchmal so eine Melodie im Hintergrund, sie passt eigentlich gar nicht zu dem, was er rappt, sie ist so leise.« Ich verstand, dass das Cynthia war, die das Leise liebte und laut sein musste, die jetzt sprach. Ich: »Als hätte er zwei sehr verschiedene Seiten, eine laute, eine leise.« Sie, plötzlich: »Das

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Cynthia

Album, es heißt ja auch ›Alter Ego‹, ich glaube, das bedeutet so etwas wie ›zwei Ich‹.« Ich: »Damit kennst du dich aus.« Sie lächelte. Über die Musik von Fard begegneten wir uns noch einmal neu. Sie, die sich abstöpselte, um das enttäuschende Objekt (mich) nicht mehr hören zu müssen, sie beschenkte mich, als sie ihr Handy manchmal auf laut stellte und mich diese besondere, laute und leise Musik hören, an etwas teilnehmen ließ, was ihr wichtig war. Schon an der Tür stehend, teilte sie mir nach einer Sitzung abrupt mit: »Mit meinem Freund ist es aus, sagen Sie nichts, gar nichts dazu, Frau Langer.« Ich nickte und sah, dass sie die Treppen schon hinabgestürmt war. Manchmal erzählte sie mir von einer Gruppe von Jungen und Mädchen, der sie sich angeschlossen hatte. Am Wochenende gingen sie zusammen ins Schwimmbad oder Shisha rauchen. Ich merkte, wie gut es ihr damit ging. Sie hatte jetzt oft was vor. Unsere Stunden waren still, manchmal sprachen wir kaum ein Wort. Es war die Musik von Fard, der wir lauschten, die uns verband und eine Brücke baute zwischen der Cynthia, die nicht erwachsen werden und für immer bei mir bleiben wollte, und der, die innerlich wuchs. Trotzdem überraschte es mich, als sie im Winter plötzlich sagte: »Frau Langer, ich habe nachgedacht darüber, wie lange ich noch zu Ihnen kommen will. Ich will noch bis zum Sommer kommen.« »Bis zum Sommer«, wiederholte ich gedankenverloren und merkte, dass ich schon lange nicht mehr an das Ende unserer Stunden gedacht hatte. Sie, leise: »Ist das okay für Sie?« Ich: »Jetzt bin ich es, die sich daran gewöhnen muss. Es ist gut, dass du das jetzt so sagen kannst, wie du es willst, das ist wunderbar. Es gefällt mir.« Cynthia strahlte. Am Ende unserer letzten Stunde sagte sie plötzlich: »Frau Langer, heute möchte ich Sie so gerne umarmen, ich weiß nicht, ob das geht.« »Das geht, Cynthia«, erwiderte ich spontan. Es fühlte sich richtig gut an, Cynthia zu umarmen, die mehrfach überrascht sagte: »Frau Langer, ich bin so froh, dass ich Sie umarmen durfte, danke Frau Langer.« »Es ist okay«, murmelte ich leise, »ich bin dir auch dankbar für alles, was du verstanden hast, verstehen konntest, auch dafür, dass du das ausgehalten hast, dass ich manchmal so langsam war.« »Frau Langer, auch wenn Sie manchmal langsam waren, für mich war es irgendwie richtig«, sagte Cynthia und drückte fest meine Hand, bevor sie langsam die Treppe hinunterging. Es war wirklich sehr schwer für uns beide, sie drehte sich noch einmal um und winkte mir. Ich winkte zurück. Abschlussbetrachtung des Behandlungsverlaufs

In der Behandlung Cynthias war es wichtig, einen Spielraum zu finden. Diese Patientin ließ sich tief fallen und stellte eine verschmelzende Szene her. Wäh-

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rend dieses Prozesses entwickelte sie sich in der Außenwelt. Dies bewog mich zur Reduzierung der Behandlungsfrequenz. Dabei war ich vor allem von dem Gedanken geleitet, die Behandlung innerhalb des Regelkontingentes von 150 Stunden beenden zu können. Mit diesem veränderten Rahmen überging ich allerdings, unbewusst mit Cynthias überforderter Mutter identifiziert, die Bedürftigkeit der Patientin. Die Patientin kämpfte um ihren Entwicklungsspielraum in der Therapie und ließ sich nicht abspeisen. Es war sie, die dafür sorgte, dass auch ich zu einem inneren Spielraum zurückfand und den Rahmen neu überdenken konnte. Cynthia machte mir klar, dass mein veränderter Umgang mit dem Rahmen auf sie gewirkt hatte, als ob ich sie fallen lassen würde. Nachdem ich aufgehört hatte, an das Ende unserer Stunden zu denken, war sie es, die schließlich darüber nachdenken und ein Behandlungsende, wie sie es wollte und es ihrer Entwicklung, ihrem Spielraum entsprach, vorschlagen konnte. Erst das Aufgeben meines ursprünglichen Rahmens, dem Standardkontingent von 150 Stunden, gegen das die Patientin in einer regressiven Bewegung rebelliert hatte, schuf neuen Spielraum, auch für mich. Der Fall Cynthias ist ein weiteres Beispiel dafür, dass der Rahmen der Behandlung in der Beziehung zwischen Patient und Therapeut überdacht und entwickelt werden muss. Cynthias Mutter überließ mir die Patientin über eine große Strecke der Behandlung hinweg. Präokkupiert mit den Kleinkindern und ihrer neuen Lebenssituation war sie froh, dass ihre Tochter bei mir einen Ort gefunden hatte. Konkurrenz entstand erst am Ende der Behandlung und im Nachhinein war ich sicher, dass es diese gewesen war, die mich unbewusst dahin geführt hatte, die Frequenz der Behandlung reduzieren zu wollen. Unbewusste Konkurrenz verhindert Spielraum und engt die Fähigkeit der Wahrnehmung ein. Im Fall Cynthias führte sie zu meiner Flucht in den Rahmen, das Standardkontingent. Auf Seiten der Mutter führte die Konkurrenz fast dazu, Cynthia in einem Internat unterzubringen. Im Grunde war es die Möglichkeit, immer wieder die Adoptionsgeschichte der Mutter zu berühren, die mich und Cynthias Mutter einander nahebrachte und einen neuen Spielraum eröffnete. Hierzu gehörte, dass ich spontan nicht abstinent reagierte, indem ich den Artikel las, den sie über das Wiedersehen mit ihrer leiblichen Mutter geschrieben hatte. Im Nachhinein zeigt sich, dass es die von Anbeginn existierende verschmelzende Szene zwischen Cynthia und mir war, die die Mutter mit einer unbewussten Konkurrenz auflud. In der Krise der Behandlung fand sie zu dem inneren Spielraum zurück, der sich ihr eröffnet hatte, als sie mit ihrer kleinen Tochter im Arm den Weg zu ihrer leiblichen Mutter hatte finden können.

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Jenny

Jenny, 20 Jahre – Grund der Anmeldung: Schlafstörungen (220 Stunden, zweimal wöchentlich eine Stunde; 70 Stunden einmal wöchentlich) Darstellung des Behandlungsverlaufs

Als ich diese Patientin zum ersten Mal sah, hätte ich nicht ahnen können, wie nah sie mir einmal kommen würde. Jenny, ein vietnamesisches Mädchen, war mir so fremd, wie noch kein Patient mir gewesen war. Sie sprach hervorragend, in einer sehr gewählten Weise deutsch. Ihre Kleidung, ihre Haare, ihre Haltung, alles wirkte ungemein exquisit auf mich. Sie hielt mich mit allem, was ihr zur Verfügung stand, auf Abstand. Sie berichtete in einer intellektualisierenden, mich verunsichernden Weise von ihren Schlafstörungen. Ich konnte nicht aufhören zu denken: »Wie soll ich etwas begreifen von ihr, wie sie erreichen?« Jenny, so schien es mir, lebte nicht in der Welt, die ich kannte. Wie im Gegenzug, um die tief empfundenen Ferne unbewusst zu überbrücken, sagte ich mehrmals du statt Sie, und es kam mir vor, als geriete ich mehr und mehr in eine Verwirrung. »Entschuldigung«, sagte ich, »es tut mir wirklich leid, dass ich schon wieder du gesagt habe.« »Das irritiert mich«, erwiderte Jenny und kam mir sehr hart und kalt vor. Ich empfand einen tiefen Schrecken über mich selbst, aber auch Schuld. Ich konnte nicht begreifen, warum ich im Zeitraum einer halben Stunde sicherlich fünf Mal du statt Sie gesagt hatte. Eine heiße Scham überkam mich und ich dachte: »Das wirst du nie wieder tun. Du wirst dich jetzt zusammenreißen.« Da war ganz schnell ein Gefühl von tiefem Hass in der Gegenübertragung, ein Gefühl, dumm zu sein und nicht genügen zu können, auch den allereinfachsten Standards nicht. Dennoch kam es zu einer heftigen Berührung zwischen uns am Ende der ersten Stunde. Jenny berichtete in ihrer kühlen Weise, dass der Vater und die Großmutter sie zum Flughafen von Saigon (seit 1976 offiziell Ho-Chi-Minh-Stadt) gebracht hätten: »Ich habe das gar nicht verstanden, auch wenn ich schon sieben Jahre alt war. Sie haben gesagt, meine Mutter will mich sehen. Da bin ich mitgegangen. Dann haben sie plötzlich gesagt, dass ich nun allein weitergehen muss, sie könnten nicht mit bis ins Flugzeug kommen. Da habe ich angefangen zu schreien und bin weggelaufen. Mein Vater hat mich eingefangen, ich habe die ganze Zeit geschrien und getreten. Er hat mich bis zu meinem Platz im Flugzeug getragen. Er hat mich angeschnallt, dann ist er gegangen.« Ich: »Wie haben Sie das überlebt, den langen, langen Flug?« Sie sah mich wie erstarrt an, wir schwiegen eine geraume Zeit. Jenny: »Da saß ein Mann neben mir. Mein Kopf fiel auf seine Schulter, das

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habe ich noch gespürt. Dann bin ich eingeschlafen. Ich habe die ganze Zeit geschlafen. Ich bin erst aufgewacht, als wir in Frankfurt landeten.« Ich: »Sie waren gar nicht mehr da.« Sie: »Wenn ich nicht geschlafen hätte, ich wäre gestorben, so ein Gefühl hatte ich«. Es brach plötzlich aus ihr heraus: »Ich kann nicht mehr, bitte helfen Sie mir. Ich kann meine Augen nicht mehr schließen, ich habe eine furchtbare Angst.« »Als wollten Sie nie, nie mehr erleben, was Ihnen gleichsam im Schlaf widerfuhr, damals als Sie im Flugzeug saßen«, bemerkte ich leise. Jenny, dies verstand ich, hatte die gewaltsame Trennung von Vater und Großmutter, verbunden mit Todesangst, nach erschöpfendem Schreien und Kämpfen nur im Schlaf überstanden und ihr psychisches Überleben in diesem regressiven Zustand gesichert. Gleichzeitig, so erkannte ich, besiegelte und barg der rettende Schlaf einen Zustand von starker Hilflosigkeit. Jennys Odyssee begann, als sie zwei Jahre alt war, da ließ die Mutter sie in Vietnam zurück und ging nach Deutschland. Sie floh, so schien es, die unglückliche Beziehung zu Jennys Vater, der sich von ihr getrennt und eine andere Frau geheiratet hatte. Die Patientin entwickelte eine intensive Beziehung zur Mutter ihres Vaters. »Ich bin immer hinter ihr hergelaufen, ich habe mich an ihrem Rock festgehalten. Nachts habe ich neben ihr geschlafen.« Ich: »Als hätten Sie sich festgehalten an ihr.« Sie: »Ganz fest.« Wie ich erst spät verstand, war Jennys Transport nach Frankfurt auf Seiten des Vaters und der Großmutter als die Wiedergutmachung einer alten Schuld an Jennys Mutter zu lesen. Sie war ja kaum älter gewesen als ihre Tochter, die nun vor mir saß, als sie den Ort ihres Scheiterns geflohen und ganz allein aufgebrochen war in eine Welt, die ihr vollkommen fremd gewesen war. Ich ahnte, dass die Welt, in der sie angekommen war, ihr fremd geblieben war, dass sie mühsam überlebt hatte, und ich hatte die Phantasie, dass sie ohne Jenny schließlich nicht mehr hätte weiterleben können. Jenny: »Sie hat mich abgeholt. Sie hat geweint. Dann sind wir in einen Laden gefahren und haben eine Decke für mich gekauft.« Ich dachte sofort: »Die Mutter hatte bis zur letzten Sekunde gezweifelt, ob Jenny kommen würde. Sie war nicht in der Lage gewesen, sich vorzubereiten.« Die Mutter fand, kurz nach Jennys Einschulung in Deutschland, eine Nachhilfelehrerin für ihre Tochter. Frau Bertram und ihr Mann wurden zu wichtigen Personen in Jennys Leben. Sie besuchte sie häufig, wurde von ihnen unterstützt. Auch zu den Elternabenden gingen die beiden und nicht Jennys Mutter. Jenny: »Ich habe davon geträumt, sie werden mich adoptieren. Sie haben alles von mir verstanden. Meine Mutter, sie hat ja immer nur gearbeitet. Und sie war hart, sehr hart.« Sie sah mich mit schmerzverzerrtem Gesicht an. »Ich bin komisch, anders als andere Menschen«, fuhr sie fort und formulierte damit ihre

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Jenny

Einsamkeit, eine andrängende Depression, dass sie zwischen ihrer vietnamesischen Mutter und den Deutschen stehe, aber auch eine tiefe Bedürftigkeit, die Angst, plötzlich wieder ganz allein zu sein, nirgendwo hinzugehören, dass sie auf dem traumatischen Flug von Vietnam nach Deutschland, den sie in einem todesähnlichen Schlaf verbracht hatte, verloren gegangen sein könnte. Die Patientin lebte, als ich sie kennenlernte, in einer Wohngruppe. Sie hatte die vielen Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter nicht mehr ausgehalten und sich, vermittelt durch die Bertrams, an das Jugendamt gewandt. Jenny war jedoch sehr unglücklich in dieser Wohngruppe. Sie konnte nicht mehr schlafen. Bei der Mutter, so erfuhr ich, hatte sie mit dem zehnjährigen Bruder in einem Bett geschlafen. Es ging ihr so schlecht, dass sie heimlich am Abend zu ihrer Mutter ging, um dort die Nacht zu verbringen. Ich sagte, ich könne ihre Not sehen, wie sie gar nicht wisse, wie sie nun allein in einem Raum schlafen solle. Diese Bemerkung von mir teilte Jenny ihren Betreuern mit, die furchtbar wütend wurden und ankündigten, sie würden mich zur Rede stellen. Dies teilte mir Jenny sehr verängstigt und schuldbewusst mit. Die Betreuer empfahlen ihr eine Verhaltenstherapie und dass sie die kaum begonnene Behandlung bei mir abbreche. Nach nur kurzer Behandlungszeit befand sich Jenny in einem von ihr inszenierten Loyalitätskonflikt. Ich verstand: Sie kannte das. Im Grunde wiederholte sich die bereits lange andauernde Konstellation: vietnamesische Mutter – deutsche Mutter. Mir wurde allmählich klar, wie bedeutsam die Beziehung zu dem deutschen Ehepaar war. Jenny meinte, dorthin zu gehören, und brachte ihre Mutter damit immer wieder auf. Tatsächlich hatte Jennys Mutter schon seit Jahren den Kontakt mit dem deutschen Ehepaar abgebrochen. Ich dachte: »Sie hatte Angst, ihr Kind zu verlieren.« Jenny aber träumte noch immer davon, das Kind der Bertrams zu sein. »Ich habe auch Angst, sie könnten plötzlich sterben, dann wäre ich ganz allein, ich würde das nicht aushalten.« Jenny bestand ihre Abschlussprüfungen als Fremdsprachensekretärin in der Anfangsphase der Behandlung. »Manchmal denke ich, ich träume«, sagte sie, »aber es ist wirklich wahr.« Anschließend fuhr sie allein, sie freute sich unglaublich darauf, einige Tage zu einem alten Freund nach Berlin. Als sie zurückkam, sah ich sofort, wie schlecht es ihr ging. Sie begann auch gleich zu erzählen: »Fragen Sie nicht, wie es war. Berlin, alle denken, es war toll, es war furchtbar. Karl hat mich vom Bahnhof abgeholt, ich war so fremd, ich wusste nicht, worüber ich sprechen soll. Dann waren da seine Freunde, sie wollten, dass ich mitkomme in eine Bar, aber ich bin allein geblieben, habe nicht schlafen und am nächsten Tag habe ich die Wohnung nicht verlassen können. Ich war wie gelähmt, ich habe ferngesehen, die ganze Zeit.« Sie sah mich an und Tränen standen in ihren Augen. »So fremd«, sagte ich nachdenklich, »wie

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damals, als sie aus Vietnam gekommen sind.« Jenny begann untröstlich zu schluchzen. Sie war dann die restlichen Tage, so stellte sich heraus, bis Mitternacht allein durch Berlin geirrt, hatte in Parkanlagen gesessen und gelesen und gewartet, dass sie wieder zurückfahren konnte. »Die fanden mich komisch«, sagte sie, »ich bin komisch.« »Es war«, bemerkte ich, »die erste Reise allein seit damals.« Jenny nickte. »Dieses Mal aber fuhr ich freiwillig, und trotzdem …« Ich: »Irgendwie war es wie damals, die Einsamkeit, die Fremdheit, als kämen Sie noch einmal aus Vietnam.« »Ich habe mich tatsächlich in Berlin wie in einem fremden Land gefühlt – aber ich habe auch das gesamte Besichtigungsprogramm absolviert, ganz allein, ich konnte das, ich habe mich zurechtgefunden. Und ich habe gedacht, da ist etwas, das kann ich alleine.« Während der Behandlung zog Jenny zurück zu ihrer Mutter und ihrem Bruder. Sie hatte es in der betreuten Wohngemeinschaft nicht ausgehalten. Die Mutter nahm sie mit offenen Armen auf, was Jenny erstaunte. Sie war sehr nachdenklich, als sie davon erzählte. »Da gibt es schon etwas, wo Sie sich auf ihre Mutter verlassen können.« Jenny nickte. Ich konnte merken, wie verwirrt sie war, als ich das sagte, wie sehr sie darüber nachdenken musste. Wiederum auf Empfehlung der Bertrams besuchte Jenny im Anschluss an ihre Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin das Hessenkolleg, um dort ihr Abitur zu machen. Ich wurde zur Zeugin des Experimentes der schwer traumatisierten Patientin, Fuß zu fassen in der Realität, nicht unterzugehen. Es entspann sich im Laufe der Zeit eine ungemein dichte Beziehung. Die Patientin ließ sich tief fallen, kam an mit ihrer Not und Bedürftigkeit, begleitet von einer unglaublichen Scham. Jenny schämte sich für ihr ganzes Leben. Sie war immer das komische Mädchen gewesen, bei dem etwas nicht stimmte, angefangen bei der unglücklichen Beziehung ihrer Eltern. Jennys Mutter war von den Eltern ihres Mannes ausgesucht worden. Sie hatte sich sehr in ihren Mann verliebt, während dieser seiner Jugendliebe angehangen hatte, die er später auch geheiratet hatte. Da hatte die Odyssee von Jenny begonnen. Während unserer Stunden begriff ich, dass Jenny sich in einer dramatischen Weise der deutschen Frau, die ihr Deutschunterricht gegeben hatte, anvertraut hatte, in ihr ein schützendes Objekt gefunden hatte. »Aber Frau Langer«, sagte sie, »Frau Bertram hat mich nun zu Ihnen geschickt und ich ahne, sie will, dass ich selbstständig werde, sie will, dass ich gehen kann, und ich weiß auch, dass sie recht hat.« Es war in dieser Behandlung für mich ungemein wichtig, zu erkennen, wogegen ich mich innerlich lange sperrte: dass Frau Bertram und ihr Mann Jenny gerettet hatten. Die Patientin hatte, eingesperrt von der Mutter, die nachts oft hatte arbeiten müssen, schwer gelitten. Sie war häufig geschlagen worden, wenn sie nicht sofort verstanden hatte, was die Mutter von ihr erwartet hatte.

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Jenny

Der Raum, den das deutsche Ehepaar ihr zur Verfügung gestellt hatte, hatte ihr Leben gerettet. Sie hatte dort die Nachmittage verbracht und sich gewünscht, sie müsse nie wieder gehen. Es war Jennys geheimer Traum, von den Bertrams adoptiert zu werden. Sie weinte heftig, als sie darüber sprach, denn die Bertrams hatten eigene Kinder, ein eigenes Leben, sie wollten Jenny nicht adoptieren, aber sie waren für sie da. In diesem Behandlungsabschnitt ging es vor allem darum zu verstehen, wie die Bertrams für sie da waren, sie retteten, sie aber nicht annahmen als ihr Kind. Jenny kämpfte gegen eine heftige Aggression an. Sie verstand auch nicht, warum sie das Bild ihrer Großmutter, das sie lange Jahre bei sich getragen hatte, nun nicht mehr fand. Langsam tastete sie sich zu ihrer Wut auf die Großmutter vor, die sie ja nicht nur geschützt, sondern auch hatte gehen lassen. Der einzige Mensch, den sie mit heftiger Wut bedachte, war ihre Mutter. Ich wurde zur Zeugin eines heftigen Krieges zwischen den beiden. Die Mutter rastete wegen kleinster Dinge ständig aus, Jenny schrie zurück, verteidigte sich, oft kam es zu einem Handgemenge, das sich an der Grenze zu gefährlichen Verletzungen bewegte. Die Mutter forderte absoluten Gehorsam oder zog sich tagelang in ihr Zimmer zurück. Sie drohte Jenny immer wieder, sie umzubringen, sie habe kein Recht auf Leben. Wenn die Patientin merkte, dass mir der Atem stockte, ich nicht wusste, wie sie das alles aushielt, sagte sie: »Das war schon immer so, schon immer, meine Mutter kann sich nicht beherrschen. Ich versuche das jetzt, ich habe darüber nachgedacht, dass ich nicht mehr mit ihr kämpfen will. Ich widerspreche ihr nicht mehr, ich senke meinen Kopf, wenn sie mich beleidigt und erniedrigt.« Einige Male spielte Jenny mit dem Gedanken auszuziehen, den sie aber immer wieder verwarf. Sie sprach darüber, dass ihr zu wenig Geld zur Verfügung stehe und sie die Schule nicht schaffen könne, wenn sie zu viel arbeite. Es gab da aber auch noch etwas anderes: Jenny wollte sich nicht von ihrer Mutter trennen. Als ich das aussprach, begann sie zu weinen, plötzlich erinnerte sie sich an eine Szene, in der sie in Not gewesen und die Mutter gekommen war und sie bei ihrer Freundin abgeholt hatte, mitten in der Nacht. Manchmal war die Mutter ausgeglichen und freundlich. Dann kaufte sie Jenny die Tasche, die sie sich schon immer gewünscht hatte. Ich sagte zu Jenny, zwischen ihr und ihrer Mutter geschähen Dinge, die schwer zu begreifen seien, neben dem Hass gebe es die immer wieder enttäuschte Liebe. In diesen starken Gefühlen seien sie einander verbunden. Die Schwarz-Weiß-Malerei, die die innere Welt der Patientin beherrschte, in der es gute und böse, idealisierte und entwertete, aber keine ambivalenten Objekte gab, milderte sich. In einer Sitzung sagte Jenny unvermittelt: »Frau Langer, ich bin so froh, dass ich zu Ihnen kommen kann. Hier ist der einzige Ort, wo ich alles sagen kann –

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Sieben Behandlungen, in denen Rahmen und Spielraum einander ergänzen konnten

bei den Bertrams, ich will ihnen das nicht zumuten, sie denken jetzt, es läuft alles rund, sie sind inzwischen weit über 70 Jahre alt, nur hier kann ich sagen, wie schlecht es mir geht, wie ich Angst habe, unterzugehen und gar nichts zu schaffen. Ich sitze ja oft im Unterricht und bin gar nicht da, ich versinke in Träumen, sehr oft gehe ich nicht hin. Ist das nicht merkwürdig, ich will doch so gerne eine gute Schülerin sein und ich weiß auch, ich muss sehr gut sein, ich will kein schlechtes Abi haben.« Ich: »Ihre Ansprüche an sich selbst sind richtig hoch, fast unerreichbar. Wäre es nicht gut, es einfach zu schaffen?« Jenny: »Ich denke manchmal, ich ersticke mich selbst. Vielleicht ist das auch, weil ich Vietnamesin bin, mein Halbbruder, er studiert jetzt in Oxford, für ihn gibt es nichts anderes, was ihm wichtig ist. Warum kann ich nicht so sein?« Ich: »Sein Weg war ein anderer, irgendwie mehr geradeaus, er wurde nicht herausgerissen aus seinem Leben und musste neu beginnen. Er muss nicht so viel träumen von dem, was war, sein könnte, nicht war, sich nicht schämen.« Jenny: »Ich schäme mich unglaublich. Und wieder und wieder denke ich, ich will da raus, und manchmal, sehr selten, da kommt so eine Hoffnung über mich, als ob ich fliegen könnte. Dann sehe ich alles vor mir, ja ich weiß ja, ich träume zu viel.« Ich: »Vielleicht ist das auch wichtig, das Träumen. Es ist der Beginn von allem, ohne das Träumen gewinnt das Leben, die Zukunft keine Gestalt.« Jenny sah mich lange schweigend an, dann sagte sie: »Frau Langer, ich darf nicht zu viel träumen, ich muss aufpassen, ich will nicht wegfliegen.« Diese Patientin kämpfte stark um ihr Fortkommen, auch wenn ihr manchmal kaum noch Kraft zur Verfügung stand. Oft war ich erstaunt über ihre plötzliche Entwicklung. Sie hatte durch ihr Fehlen, Zuspätkommen und Sich-hinweg-Träumen in der Schule alles infrage gestellt. Es gelang ihr aber, Gespräche mit ihren Lehrern und der Schulleitung zu suchen, den Kopf nicht in den Sand zu stecken. Sie überwand ihre Scham, vertraute sich an und traf Vereinbarungen, die ihr einen weiteren Verbleib in der Schule ermöglichten. Auf einmal schien sie über sich hinauszuwachsen. Sie war erfolgreich mit einigen Referaten und Klausuren. Sie nahm plötzlich wahr, wie leicht ihr vieles fiel, dass sie Bestand hatte. In unseren Stunden war es immer wieder wichtig, auf das zurückzuschauen, was sie vermochte, wo sie hervorgetreten, sich nicht versteckt hatte, denn immer wieder bestand die Gefahr, dass all das, wozu sie in der Lage war, unterging. Sie vertraute sich in einem regressiven Prozess an, fand einen Raum für die sie bedrängende Not. Die Spaltung in gute und böse Objekte milderte sich (Großmutter, Mutter, Frau Bertram). Ich, die Therapeutin, von ihr zur Zeugin ihres Sich-Erinnerns und ihrer Not gemacht, blieb in der Übertragung jedoch das idealisierte Objekt ihrer Träume, diesen Anteil konzentrierte sie auf mich. Ich bin sicher, dass das zur Entwicklung einer inneren Ambivalenz mit den

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Objekten außerhalb des Therapieraumes führte. Ich vermute, diese schwer traumatisierte Patientin benötigte eine Zeugin ihres Erinnerns, ihrer Kämpfe in der Gegenwart, um eine Basis zu schaffen. Jenny verbrachte, nachdem sie lange damit gehadert hatte, ihre Sommerferien beim Vater in Vietnam. Sie kam wie aufgeblüht zurück. Ich bemerkte sofort, dass ihre Perfektion in der Beherrschung der deutschen Sprache nachgelassen hatte. »Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt weiß, dass ich ein Zuhause habe. Es war eine intensive Zeit. Es war auch schwer, es gab viele Probleme mit der Frau meines Vaters und mein Vater hat geweint und zu mir gehalten. Ich wusste nicht, wie wunderbar es ist, einen Vater zu haben. Am Schluss habe ich mich dann auch mit der Frau meines Vaters versöhnt. Ich glaube, sie war eifersüchtig, weil mein Vater sich so auf mich gefreut hat. Zum ersten Mal habe ich mit meinem Vater wirklich sprechen können, auch über damals, als ich weg musste. Er hat furchtbar geweint, als er darüber sprach.« Ich: »Das Vietnamesische ist stärker geworden, es durfte ja lange nicht sein.« Jenny, strahlend: »Es ist wunderbar, das Vietnamesische, mein Vater hat mir auch ein Fotoalbum mitgegeben mit Bildern von meiner Mutter und mir, als ich noch sehr klein war. Ich habe das mit meiner Mutter angeschaut, ich weiß nicht, warum, aber auch sie ist mir jetzt nahe, als ob mein Vater das gemacht hätte.« Ich: »Als ob er auch Sie und Ihre Mutter versöhnt hätte. Sie haben recht, es ist wunderbar, einen Vater zu haben.« Es ging ihr nun alles leicht von der Hand. Sie bewältigte die Schulanforderungen spielend. »Meinem Vater ist es so wichtig, dass ich eine gute Schulbildung habe«, betonte sie. Vater und Tochter telefonierten häufig. Ich nahm es zunächst gar nicht wahr, aber das Bild ihres Vaters und Vietnam begannen zu verblassen. Jennys alte Schwierigkeiten, kontinuierlich ein Ziel zu verfolgen, brachen sich erneut Bahn. Es ging alles, fast alles verloren, was sie sich in der Schule erarbeitet hatte. Sie machte ihre Entwicklung sozusagen rückgängig. Sie konnte am Morgen nicht mehr aufstehen, versäumte erneut viele Stunden. Sie erfand für sich den Modus, mit dem Taxi in die Schule zu fahren (sie arbeitete neben der Schule in einem asiatischen Restaurant, verdiente dort Geld), ich dachte: »Sie will getragen werden, das Taxi erfüllt die Funktion einer Sänfte.« Sie machte sich unendliche Selbstvorwürfe und betonte stets: »Das bin ich allein, die nicht genug lernt, ich darf mich nicht beschweren. Ich bin nicht wie meine Klassenkameraden, die die Lehrer anklagen.« Sie begann mir erstmals von Träumen zu berichten. »Ich habe geträumt, mir wachsen große, riesige Zähne und ich hatte eine panische Angst vor diesen Zähnen. Ich habe meine alten, verfaulten Zähne darauf gesetzt, dass die neuen nicht wachsen können.« Ich: »Man könnte schon beißen mit den neuen Zäh-

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nen.« Sie: »Nein, nein, ich will das nicht, es macht mir Angst, und es hat auch so schrecklich weh getan, als die Zähne wuchsen, bei kleinen Kindern tut das ja auch weh.« Ich: »Es tut irgendwie weh zu wachsen.« Sie: »Frau Langer, ich will nicht, ich will nicht erwachsen werden, ich kann es nicht und mir ist auch noch etwas eingefallen, ich muss es Ihnen erzählen, damals, als ich aus Vietnam zu meiner Mutter gekommen bin, ich hatte so seltsame Zustände, wie ein Traum. Ich habe dagesessen und auf die Wände gestarrt und dann habe ich nur noch Linien gesehen, ich bin fast verrückt geworden, ich bin dann rumgerannt in der Wohnung und meine Mutter sagt, sie hat mich festgehalten.« Ich: »Als hätten Sie nicht mehr gewusst, wo sie sind, in Vietnam, im alten Zimmer oder in Deutschland, dem fremden Land, bei Ihrer Mutter, die Sie gar nicht kannten, als wären Sie völlig verzweifelt gewesen in Ihrer Orientierungslosigkeit.« Jenny begann sofort zu weinen, nachdem ich gesprochen hatte. Es überwältigte mich, denn Jenny war das Mädchen, das nicht weinte. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich an einen unbewussten Ort begeben habe. Ich war mir aber auch darüber im Klaren, dass ich ihre Verwundungen sehen sollte. Ich schämte mich, denn es hatte ganz klar eine Tendenz bei mir gegeben, Jennys Entwicklung zu forcieren. Ich meinte zu verstehen: Sie wollte das nicht, ich sollte merken, dass sie meiner weiter bedurfte. Das Mädchen, dem alles zusammenbrach, das seine Termine in der Schule nur noch mittels eines Taxis einhalten konnte, versäumte keine einzige Stunde bei mir. Es ängstigte mich. Denn ich stand ja auch für die Realität, für den Rahmen, und wusste, dass uns nur eine begrenzte Anzahl von Stunden zur Verfügung stehen würde. Jenny aber gab mir zu verstehen, dass sie für immer kommen wollte: Sie drückte das alte Gebiss auf die stark wachsenden Zähne, sie wollte nicht, dass sie wuchsen. Gleichwohl entwickelte sich die Patientin unablässig, die neuen Zähne wuchsen. Jenny stabilisierte sich mehr und mehr und konnte den Anforderungen der Realität gerecht werden. Nach einer Reduzierung der Behandlungsfrequenz auf eine Stunde änderte sich dies nicht. Schon lange bevor ihre Stunden aufgebraucht waren, begann sie jedoch mit mir darüber zu sprechen, dass sie immer wieder darüber nachdenke, wie wichtig es für sie sei, zu mir kommen zu können, bis sie das Abitur habe: »Ich weiß ja, das ist noch lange, noch eineinhalb Jahre, länger als unsere Zeit – aber Frau Langer, ich halte mich fest an diesen Stunden und ich würde sie auch selbst bezahlen.« Ich hatte das Gefühl, dass Jenny genau wusste, was sie sagte, dass sie fühlte, was richtig für sie war. Um ihren Plan, den Rahmen, den sie sich für ihr Leben gesetzt hatte, zu erfüllen und sich zu entwickeln, bedurfte sie der Kontinuität des therapeutischen Raumes, den sie gefunden hatte und der ein wirklicher Spielraum geworden war. Die Basis hierfür hatte sie bei den Bertrams gefunden, deren Erbe ich gewissermaßen angetreten hatte.

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Jenny

Jenny konnte den Spielraum der Behandlung darüber hinaus dazu nutzen, sich ihren Eltern wieder anzunähern, die es aufgrund schicksalhafter Vorkommnisse nicht vermocht hatten, ihr einen stabilen Rahmen zur Verfügung zu stellen. Es überzeugte mich intuitiv, dass sie meine Begleitung bis zu den Abiturprüfungen wünschte. War es nicht so, dass sie mit dieser Entscheidung auch ihrer brüchigen Geschichte und Lebensbasis eine Bedeutung zusprach? Ich entschied mich daher, diese Patientin für ein geringes Behandlungshonorar bis zu dem von ihr gewünschten Zeitpunkt zu begleiten, und veränderte insofern den von mir ursprünglich gesetzten Rahmen. Dieser hatte beinhaltet, dass ich ihr eine Trennung im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung hatte zumuten wollen. Für diese traumatisierte Patientin war es jedoch wichtig, den Zeitpunkt der Trennung dieses Mal selbst zu bestimmen. Sie hatte ein Gefühl für sich selbst entwickelt und aufgehört, endlos zu wiederholen: »Ich habe es mir versprochen, ich schaffe es.« Sie hatte Abschied von der alten, Über-Ichhaften Beschwörungsformel genommen und die Augen für ihre innere Realität geöffnet, was beinhaltete, dass sie sich in einer aktiven Weise der Wirklichkeit gewachsen zeigen konnte. Mich um die Verlängerung ihrer Stunden zu bitten und deren Begleichung selbst in die Hand zu nehmen, und zwar genau so lange, wie es ihr wichtig schien, gehörte mit zu diesem Entwicklungsprozess. Abschlussbetrachtung des Behandlungsverlaufs

Es bedurfte einer langen Zeit, mich dieser traumatisierten Patientin in einer authentischen Weise zu nähern. Was mir zu Beginn als kulturelle Schwierigkeit erschien, erwies sich als die Angst meiner Patientin, sich noch einmal einem Objekt anzuvertrauen. Es verblüffte mich, wie tief sie sich schließlich fallen ließ. Die traumatischen Ereignisse ihres Lebens fanden einen Raum in der Behandlung, in dem sie lange zwischen einer regressiven und progressiven Entwicklung pendelte. Sie bedurfte immer wieder der regressiven Phasen und der mit ihnen verbundenen Sicherheit, aufgefangen zu werden, der Sicherheit, dass da jemand war, der verstand, wie brüchig ihr Weg war, den sie in kleinen Schritten unablässig fortsetzte. Es war sehr wichtig für diese Patientin, die Stütze des therapeutischen Raumes zu empfinden, er stellte eine Art von Gegenbewegung zu ihren archaischen Über-Ich-Anforderungen und Selbstanklagen dar. Jennys in der Behandlung gewonnener Spielraum ermöglichte ihr schließlich, die Frage an mich zu stellen, ob ich sie länger als kassenärztlich vorgegeben behandeln würde, und zwar bis zu ihrem Abitur, wenn sie die Stunden selbst bezahle. Mit dieser Frage erweiterte Jenny meinen eigenen inneren Spielraum bezüglich des Settings. Die von ihr selbst vorgeschlagene Veränderung des Rahmens stellte einen wichtigen Schritt in der Entwicklung der Patientin dar. Zuvor bereits hatte

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Sieben Behandlungen, in denen Rahmen und Spielraum einander ergänzen konnten

ich Jennys Behandlungsfrequenz auf eine Stunde wöchentlich reduziert. Mein Gedanke dabei war gewesen, die Entwicklung dieser traumatisierten Patientin noch eine Weile begleiten zu können. Schließlich war es dann Jenny selbst, die einen für sie angemessenen Rahmen fand, der nicht mit dem der kassenärztlichen Versorgung deckungsgleich war.

Michel, sieben Jahre – Grund der Anmeldung: Aggressive Durchbrüche (150 Stunden, zweimal wöchentlich eine Stunde) Darstellung des Behandlungsverlaufs

Michel, sieben Jahre alt, gerade in die Schule gekommen, kehrte mir in seiner ersten Behandlungsstunde den Rücken zu. Er ließ sich von seiner Mutter in meinen Raum bringen, sie schubste ihn hinein. Kaum war sie gegangen – sie ging schnell –, ließ er sich an der Tür, seine Vorderseite dieser zugewendet, zu Boden fallen, kauerte sich vor der geschlossenen Tür des Behandlungsraumes zusammen. Und nichts, was ich sagte, erreichte ihn. Ich versuchte einiges. »Michel, du wolltest nicht kommen«, sagte ich. »Du bist richtig wütend jetzt, du willst gar nicht hier sein, vielleicht denkst du, deine Mutter, sie soll kommen und dich holen.« Michel schwieg. Ich konnte sehen, wie er versank. »Du willst am liebsten weg sein von mir«, fuhr ich fort. »Es ist schrecklich für dich, dass du hier sein musst, du willst nicht.« Michel sprach kein Wort. Er igelte sich regelrecht ein. Ich existierte gar nicht mehr. Ich spürte, dass meine Hoffnung, ihn doch noch zu erreichen, nachließ. Er war gar nicht mehr da. Ich vernahm plötzlich ein leises Schnarchen. Ich verfiel nun meinerseits in einen Zustand, der autistisch auf mich wirkte. Ich saß da, sah Michel schlafen und dachte: »Er will vergessen, wo er ist, er will hier nicht sein. Ich weiß auch nicht mehr, wo ich bin und warum. Es ist furchtbar. Bitte, diese Stunde, sie soll vorübergehen.« Ich hörte das Schellen, es brach hinein in unseren Zustand des Nicht-Seins. »Das ist deine Mutter, Michel«, sagte ich. Ich bemerkte, dass er langsam aufwachte, stieg über ihn hinweg und öffnete der Mutter. Ich dachte: »Es ist schrecklich«, und sah, wie Michel langsam aufstand, sein Gesicht war wie zerknautscht, ich schämte mich, ihn in diesem Zustand seiner Mutter übergeben zu müssen. Michel ging durch die Tür, seine Augen schienen mir verschlossen zu sein. Lebte er noch? Hatte er ertragen können, was ihm geschah? Ich zweifelte. Er wankte seiner Mutter nach, als sei er in einem schrecklichen Traum befangen.

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Michel

Ein kleiner Junge hatte es geschafft, mich eine ganze Stunde zu vermeiden, zu vernichten und zu beschämen. Ich erinnerte mich an das, was die Eltern mir berichtet hatten: Als die Mutter mit Michel schwanger gewesen war, hatten sich die Eltern für den Zeitraum von einem Jahr aus beruflichen Gründen, der Vater hatte eine gute Stelle in einer anderen Stadt bekommen, trennen müssen und sich nur am Wochenende gesehen. Die Mutter war in dieser Zeit depressiv geworden und medikamentös behandelt worden. Michel war ein sehr ruhiges Kind gewesen, ganz im Gegensatz zu der zwei Jahre älteren Schwester, deren Schreiattacken erst aufgehört hatten, nachdem Michel geboren worden war. »Ohne Michel«, sagte die Mutter, »er war wie ein Engel – hätte ich es mit meiner Tochter nicht mehr ausgehalten.« Als Michel eineinhalb Jahre alt gewesen war, sein Bruder war gerade geboren worden, war er in eine Krippe gekommen. Er hatte stundenlang geschrien, jeden Tag, nachdem seine Mutter ihn abgegeben hatte. Auch in seiner Kindergartenzeit hatte er jeden Morgen gegen die anstehende Trennung angekämpft, sich an seine Mutter geklammert, seine Jacke nicht ablegen, die Schuhe nicht ausziehen wollen. Schon am Morgen, gleich nach dem Aufstehen, hatte er sich geweigert, seinen Schlafanzug auszuziehen. Die Mutter hatte ihn, oft halb angezogen, durch die Straßen gezerrt. Sie hatte mittlerweile eine Arbeit angetreten, der Vater, der seine Stelle aufgegeben hatte, begonnen, Michels kleinen Bruder zu betreuen. Über den Zeitraum vieler Jahre kämpfte Michel also bereits gegen die Trennung von seiner Mutter an. Er schrie, warf mit Gegenständen umher, schlug andere Kinder, zog sich meist vollkommen zurück. Ich dachte, dass er den Zustand der Trennung verleugne, sich einigle, genau wie vor der Tür meines Behandlungsraumes, als er schließlich eingeschlafen war. In diesem Zustand versuchte er den Schmerz über sein Ausgeliefertsein und die Antwortlosigkeit des Objekts zu überstehen. Er konnte nicht verstehen, warum er gehen musste, Tag für Tag. Seine Verweigerung schürte die Verzweiflung seiner Eltern, die mittlerweile fünf Kinder hatten. Michels kleine Schwester war geboren worden, als er drei Jahre alt gewesen war, auch sie wurde vom Vater betreut. Michel machte seiner Familie das Leben zur Hölle. Er war anders als seine Geschwister. Er verweigerte jegliche Anpassung, schrie bei der geringsten Versagung. Ein halbes Jahr bevor ich ihn kennenlernte, hatte Michel eine Woche bei seinen Großeltern verbracht, die er sehr mochte. Schon nach dem ersten Tag hatte er verlangt, zu seinen Eltern zurückzukehren. Die Eltern hatten ihn jedoch vertröstet. Am dritten Tag seines Aufenthaltes bei den Großeltern war Michel plötzlich verschwunden gewesen. Die Großeltern hatten ihn stundenlang gesucht, die Eltern waren angereist. Sie hatten ihn schließlich im Keller des Hauses gefun-

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den, eingeigelt, unansprechbar, mit blutenden Händen. Neben ihm hatte eine Glasscherbe gelegen. Er hatte sich die Hände aufgeritzt gehabt. Als Michels zweite Sitzung heranrückte, fürchtete ich mich vor deren Beginn. Ich dachte: »Wie soll ich noch einmal eine solche Stunde überleben? Wie er? Ich kann nicht – noch einmal eine solche Stunde, ich ertrage es nicht.« Ich war sicher, in diesem starken Gefühl etwas von meinem Patienten zu verstehen. Michel kam wieder mit der Mutter, sie schob ihn gleichsam die Treppe empor. Oben angekommen, klammerte er sich an ihren Arm. Ich schwieg, stand da wie ein Beobachter, fühlte mich schlecht. Sie mühte sich, ihn in den Raum zu bringen, Michel aber ließ sich auf den Boden des Flures fallen. Eine schreckliche Wut erwachte in mir, ich konnte kaum sprechen. Dieses Mal sprach ich gar nicht zu Michel, es war, als wäre er gar nicht da. Ich sprach zu der Mutter: »Sie können nun gehen, wir schaffen das.« Michel und seine Mutter starrten mich an, Michel ließ den Arm der Mutter vor Schreck los, so kam es mir vor. Die Mutter bewegte sich langsam in Richtung Eingangstür, sie stand noch offen. In einem wilden Sprung hielt Michel seine Mutter, die sich nur langsam bewegen konnte, auf. Er fasste erneut nach ihrem Arm. In einer ähnlich wilden Aktion fasste ich Michels Arm, hielt ihn fest, er starrte mich verblüfft an. Ich schlug die Tür zu, schleppte ihn in meinen Raum und verschloss auch diese Tür. Später dachte ich: »Die Hexe, sie wirft ihn in ihren Stall.« Michel warf rasend vor Wut einen neben der Tür stehenden Stuhl mit Karacho zu Boden. »Das geht gar nicht«, entfuhr es mir. Gleichzeitig begann ich zu denken: »Es ist jetzt so. Der Stuhl muss umgestürzt am Boden liegen.« Michel ließ sich gleich im Anschluss an seine wilde Aktion vor der Tür zu Boden fallen, wie beim letzten Mal. Er schien in sich zusammenzufallen, sein Körper verkrümmt wie ein Embryo, den Rücken mir zugekehrt. Wie in der vorhergegangenen Stunde begann ich nach langen Phasen des Schweigens immer wieder zu sprechen, und zwar vollkommen ungezielt, ich hatte keine Ahnung, was richtig wäre. Immer aber dachte ich: »Ich will nun nicht aufgeben, ihn zu erreichen.« So versuchte ich es weiter, sprach unter anderem darüber, wie es ihm nun wohl in der Schule gehe. Da begann er laut und heftig zu antworten, ich verstand ihn nicht und fragte nach. Eigentlich war ich unglaublich glücklich, dass Michel überhaupt etwas sagen wollte. Michel schwieg. »Michel«, sagte ich, »ich habe dich gar nicht verstanden, hast du gesagt [hier phantasierte ich, knüpfte an Berichte der Eltern an], du willst nicht in die Schule gehen?« Wieder murmelte Michel so heftig, dass ich kein Wort verstand. »Was hast du gesagt, Michel?«, fragte ich noch einmal nach. Michel schrie und dieses Mal verstand ich alles: »Ich habe ganz viele Freunde in meiner Schule.« Das war der Moment, in dem ich fühlen konnte, dass alles kippte, dass ich endlich etwas verstehen konnte. »Wunderbar«,

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Michel

sagte ich. Es war ein so kleines Wort, Michel aber hatte es gehört, er wandte seinen Blick, drehte sich um zu mir. Er wollte sehen, ob ich das wirklich verstanden hatte: Er hatte viele Freunde in seiner Schule, er war ein Junge, der Bestand hatte. Ich fühlte, dass er sich nach meinem bewundernden Blick sehnte. Ich sollte endlich sehen, dass er, Michel, ein Kind war, mit dem die anderen zusammen sein wollten, und nicht nur der Junge, der sich einigelte, seinen furchtbaren Hass auf diese Weise zu überstehen hoffte und sich in diesem Zustand einmal die Hand mit einer Glasscherbe zerritzt hatte. Er war Michel, ein Junge, der sich danach sehnte, mit seinen Freunden zu spielen und seine Höhle zu verlassen. Ich sah, wie sein Kopf sich erneut dem Boden zusenkte, er dabei war, mir wieder den Rücken zuzukehren, ich dachte: »Jetzt geht er zurück in seine Höhle, er tut sich weh, es tut weh dort in der Höhle. Er wird es nicht ertragen können, ohne erneut einzuschlafen.« »Michel«, sagte ich, ohne weiter nachzudenken, »vielleicht willst du mit mir spielen, ich habe da einige Playmobil-Figuren. Vielleicht willst du?« »Was hast du denn?«, fragte er langsam. Ich stand auf und holte die Spielfiguren. Wir saßen zusammen auf dem Teppich, Michel begutachtete, was ich ihm gebracht hatte und begann zu strahlen, als er die Ritter und Römer sah. Er schlug sofort vor, ich sei nun die Römer, er die Ritter mit dem Drachenturm und der Kanone. Wir würden gegeneinander kämpfen. Wir brachten unsere Leute in Stellung. Michel schoss meine Leute gnadenlos ab, ich wusste kaum, wie ich mich wehren sollte. In der nächsten Sitzung, dies wurde nun ein Ritual für viele folgende Stunden, brachte er einen Playmobil-Bison von zu Hause mit, er war riesig, rannte in meine Figuren hinein, übermannte sie, sie hatten keine Chance. Mit großer Wucht und Freude vollzog Michel stundenlang die Aktion mit seinem Bison, der mich komplett überwältigte, all meine Figuren fielen um. Michel wünschte aber: »Sie sollen wieder aufstehen, sie sind nicht tot, sie sollen kämpfen.« Dann begann alles erneut. Unser Spiel erinnerte mich an das Spiel von Kleinkindern, die es lieben Türme, die man ihnen aufschichtet, umzuwerfen, voller Freude, wieder und wieder und so strahlen wie Michel. Er liebte unser Spiel. Ein Spielraum entstand. Michel musste nicht mehr in dieser einen kleinen Jungen überfordernden Weise sitzen, stumm und gelähmt, den Rücken mir zugekehrt. Es hatte ihn, so vermutete ich, vollkommen traumatisiert, dass er nun zu mir kommen musste, zur Hexe, die ihn seiner Mutter entrissen und in ihren Raum geschleppt hatte. Knüpfte er mit seinem Spiel nicht an die Zeit an, als er sich von seiner Mutter hatte trennen müssen, im Alter von eineinhalb? Suchte er nach einer Möglichkeit, von ihn bedrängenden, wütenden und aggressiven Gefühlen zu berichten? Unser Spiel war nicht besonders variantenreich. Ich versuchte den Bison mit einem Lasso einzufangen und ihn zu zähmen. Michel aber schlug mir all meine

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Versuche aus der Hand. Er wollte nur eines: Der wilde Bison sollte mich überwältigen. »Du musst kämpfen«, sagte er oft. Er wollte mich niederwerfen, aber ich sollte nicht untergehen, nicht sterben, denn er wollte weiterspielen und es genießen, mich erneut zu besiegen. Der Patient brachte bald auch einen Königssohn auf einem weißen Pferd mit. Der kämpfte aber nicht, sondern wurde von Michel versteckt. »Der Königssohn, er muss in Sicherheit sein«, bemerkte ich, »das ist wichtig.« Michel begann plötzlich sehr leise zu sprechen, fast zu flüstern: »Ich will niemals groß werden, niemals.« »Warum, Michel?«, fragte ich. »Ich will nicht, dass meine Eltern alt werden und sterben«, erwiderte er, »ich will für immer bei ihnen bleiben.« Ich nickte, ich verstand, wie ernst ihm das war. Ich meinte auch zu begreifen, dass er nun einen Neben-, vielleicht sogar einen Hauptschauplatz eröffnete, den er schnell wieder untergehen lassen musste. Denn Michel, der wilde Bison, war auch der Königssohn auf dem weißen Pferd. Er musste geschützt werden, er sollte nicht kämpfen müssen. Michel tat mit dem Königssohn, was er sich so schrecklich wünschte, dass man es für ihn täte: ihn bewahren und schützen, verstecken und nicht ausliefern. Der Königssohn war Michel, der gar nicht hatte kämpfen wollen. Der Bison, das war Michel, der kämpfen musste. Dieser Patient hatte die frühe Trennung von seiner Mutter, die von der Geburt seines Bruders begleitet wurde, unbewusst als ein zutiefst verwirrendes Ausgesetztsein erlebt. In den eineinhalb Jahren, die er mit ihr und der eineinhalb Jahre älteren Schwester verbracht hatte, war er ein engelsgleiches Baby gewesen, das die überforderte, depressive Mutter sowohl über die schreiende Schwester als auch den abwesenden Vater zu trösten gesucht hatte. Er hatte nicht verstanden, warum er plötzlich hatte gehen müssen. Zwei weitere Geschwister waren in kurzen Abständen geboren worden. Vielleicht hatte er geträumt, er sei der Königssohn auf dem weißen Pferd, der die Mutter rette. In der Fremde, der Krippe, war Michel zum wilden Bison geworden. Er hatte um sich geschlagen, geschrien und getobt. Zum Schluss, vor gar nicht langer Zeit, hatte er in einem Kellerversteck im Hause seiner Großeltern, seine Hand geritzt, bis sie geblutet hatte, nachdem er von seinen Eltern nicht abgeholt, sondern vertröstet worden war. Im Akt des Ritzens seiner Hand mit einer Glasscherbe hatte sich die Wut des wilden Bisons gegen sich selbst gerichtet. Michel hatte, so die Eltern, auch bereits davon gesprochen, nicht mehr leben zu wollen, sich aus dem Fenster seines Zimmers hinauszustürzen. Michel benötigte, das verstanden die Eltern nun, sehr dringend einen Raum für die ihn bedrängenden aggressiven Gefühle. In unseren Stunden hatte der Patient früh in einer kreativen Weise die Bilder des wilden Bisons und des Königssohns auf seinem weißen Pferd gefunden. Ich erkannte, dass er sich zurück in die Zeit seiner Bedeutsamkeit sehnte,

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in die Zeit, als er seine Mutter hatte trösten können, ihr Königssohn geworden war, die Zeit, in der sie ihm angehangen, ihn zu schützen und wertzuschätzen getrachtet hatte, so gut sie es vermocht hatte, die Zeit, bevor er in die Krippe gekommen war. Die Zeit der Krippe war auch die Zeit gewesen, in der der Vater zurückgekommen war, plötzlich, unvermutet. Es war die Zeit gewesen, in der der Königssohn zum wilden Bison mutiert war. Ich dachte lange über diese beiden extremen Bilder nach, den wilden Bison, der sich in alles hineinstürzte und letztlich sterben wollte, und den Königssohn auf dem weißen Pferd, der nicht kämpfen wollte und geschützt werden sollte. Ich phantasierte, dass der Königssohn eine elegante Weise des Kampfes wählen, seines Sieges gewiss sein, schlau sein würde, so schlau wie Michel, der im Alter von sieben Jahren rechnen konnte wie ein zwölfjähriges Kind. Damit vermochte er alle zu verblüffen. Zwar fiel ihm das Schreiben und Lesen schwer, im Rechnen aber war er der Königssohn, der alle übertraf und erstaunte. Einige Stunden lang hatte er mir vorgerechnet, mich bezirzt, das war aber nicht das, worauf es ihm ankam. Michel kam als wilder Bison zu mir, er warf alles um, er vergaß, wie gut er rechnen konnte. In unseren Behandlungsstunden war also ein Spielraum entstanden. Michel sehnte sich danach zu spielen, es war das immer gleiche Spiel. Aber es war ein Spiel. Er kam aufgeregt zu seinen Stunden. Wir bauten langsam und behutsam unsere Figuren auf, erinnerten uns an die Szenen der letzten Stunde. Michel benötigte viel Zeit und Raum, bevor es losging. Ich war immer wieder erstaunt über den Kontrast zwischen unserem sorgfältigen Aufbauen und der abrupt sich immer wieder herstellenden Szene, in der der Bison in meine Figuren raste, alles schnell vorbei war und erneut begann. Wir gaben uns schreckliche Mühe, alles herzurichten für den wilden Bison, für den Moment, in dem er zu rasen begann. »Weißt du, was ein Einzelkind ist?«, fragte mich Michel am Ende einer unserer Stunden zögernd. Ich: »Ein Kind ohne Geschwister.« Michel nickte ernst. »Mein Freund ist ein Einzelkind.« Es wurde plötzlich still zwischen uns. Es war schon alles aufgeräumt. Michel starrte vor sich hin, ich zögerte, wusste nicht, was ich sagen sollte. »Einzelkind«, bemerkte ich schließlich ernst, »vielleicht hast du manchmal davon geträumt, eines zu sein.« Michel nickte, dabei senkte er seinen Kopf. Ich fühlte, ich war dabei, mich schuldig zu machen, identifiziert mit meinem Patienten. Plötzlich schoss es aus ihm heraus: »Ich würde dann jeden Tag mit meinem Papa und meiner Mama alleine spielen.« Nach dieser Stunde fiel mir ein, was die Mutter berichtet hatte. Einmal, auf der Straße, hatte sie Michel, der sich geweigert hatte, einen Schritt vor den anderen zu setzen – sie waren auf dem Weg in den Kindergarten gewesen –, geschlagen, sie hatte auf ihn eingedroschen und nicht aufhören können. Eine

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Menschenansammlung hatte sich gebildet, jemand hatte die Polizei gerufen. »Ich habe geweint, als sie kamen, aber ich war auch froh, ich dachte, es soll nun einmal jemand sehen, dass ich nicht mehr kann, und, Frau Langer, es hat mich so beruhigt, als Sie uns davon erzählten, wie schwer es mit Michel war, ich dachte, es beruhigt mich.« Ich empfand Michel nun oft als zart und sein Gesicht manchmal als engelsgleich. Seine Zartheit betörte mich, ich nahm wahr, wie er begann, mich zu beobachten, Rücksicht zu nehmen bei seinen Aktionen mit dem wilden Bison, es trieb mir die Tränen in die Augen. Ich dachte: »Macht er das jetzt für mich, muss er mich schonen?« Aber ich sah auch, dass er eine ganz neue Art von Lebendigkeit gewann, er wollte gewinnen, nach wie vor, aber er wollte mich, meine Figuren, nicht mehr zerstören, töten, sie sollten auch nicht immer wieder aufstehen, nachdem sie zerstört worden waren, manchmal wusste ich gar nicht, was er wollte. Die Eltern berichteten mir, Michel habe von einem Freund gesprochen (inzwischen hatte Michel tatsächlich einige Freunde in der Schule gefunden, sie luden ihn zum Übernachten ein), der habe schreckliche Wutanfälle, der müsse nun auch zu Frau Langer gehen. Die Eltern erzählten auch, dass Michel sich sehr verändert habe, er wüte nicht mehr und werfe keine Möbel um. Man könne nun mit ihm sprechen, einen Weg aushandeln, manchmal aber, das sei ganz neu, weine er auch plötzlich. Michel hatte zuvor nie geweint. Michel fand ein neues Spiel in meiner Praxis, Tipp-Kick. Er liebte Fußball und plante, bald in einen Verein einzutreten. »Später werde ich mal Fußballer«, sagte er. »Ich rechne aber auch gerne«, fuhr er fort »ich liebe es, das wird mein Hobby sein.« Ich dachte sofort: »Will er nun doch groß werden?« Tatsächlich griff sich Michel immer am Stundenende einen kleinen Taschenrechner, der sich unter meinen Spielsachen befand, und rechnete sehr ernst und konzentriert. Er stellte Rechenaktionen an und versuchte das Ergebnis mit den sich anschließenden Aktionen auf Null zu bringen, was er mir mehrmals vorführte. Im Rechnen war er ein Wunderkind. Er besaß eine Fähigkeit der Konzentration, aber auch eine Lust an diesen Vorgängen, die ganz erstaunlich war. Ich bemerkte, dass er nun auch die Uhr, mit der er sich zu Beginn unserer Stunden noch nicht ausgekannt hatte, beherrschte und eine exakte Vorstellung von Zeiträumen besaß. Er sagte oft: »Jetzt haben wir noch 20 Minuten«, oder Ähnliches. Im Tipp-Kick-Spielen war Michel gut, er besiegte mich einige Male, schrieb unsere Ergebnisse auf und verwahrte sie in seiner Mappe. Michel spielte dieses Spiel nach strengen Regeln, an die wir uns beide zu halten hatten. Dann kam es in einer Sitzung dazu, dass ich deutlich besser war, Michel lag drei Tore zurück. Das hatte es bisher noch nicht gegeben. Ich erkannte, dass ich mich getraut hatte,

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so gut zu spielen, wie ich spielen konnte, dass ich ihm das zugemutet hatte, und bemerkte, dass er schwer mit sich rang. Er begann schließlich das Spielfeld aus Stoff so zu knüllen, dass vor seinem Tor eine Bodenwelle entstand und ich nur sehr schwer noch ein Tor erzielen konnte. Ich sagte: »Oh je, wie soll ich da drüber schießen.« Michel lächelte. Und dann, unvermutet, erzielte ich ein weiteres Tor. Ich merkte sofort, dass es eines zu viel war. Tränen schossen in seine Augen, er begann bitterlich zu weinen. »Das war jetzt zu viel«, sagte ich sofort, »es ist zu schwer, verlieren ist so schrecklich schwer.« Michel nickte unter Tränen. Ich: »Weißt du, wir könnten das ja so machen, wir spielen nächstes Mal weiter, für heute hören wir auf.« Michel sah mich erleichtert an. Ich fühlte, wie das alles über seine Grenzen gegangen war. Tränen standen in meinen Augen, ich konnte mich nur schwer fassen. »Manchmal denke ich«, sagte ich langsam, »dass verlieren schwerer als gewinnen ist.« Ich dachte lange darüber nach, dass seine Tränen meine hervorgelockt hatten und ich es nicht hatte ertragen können, ihn verlieren zu lassen. Gleichzeitig war ich mir sicher, dass es gut gewesen war. Denn wir tasteten uns heran. Michels Tränen, die nun fließen durften, enthielten den Schmerz eines alleingelassenen, gerade eineinhalbjährigen Kindes und zeigten seine vollkommene Hilflosigkeit, etwas, was er immer gemieden hatte. In der Gegenübertragung erschienen sie mir unerträglich, ich suchte sie zu mildern, wurde in unseren Sitzungen die Mutter eines eineinhalbjährigen Kindes. Es war mir bewusst, dass wir uns in eine vergangene Zeit begaben, in der Verlieren den Verlust der Mutter bedeutet hatte, in der Michel nicht hatte weinen, sondern wüten müssen, als wilder Bison alles hatte zerstören wollen, auch die Mutter, die er liebte, als deren Königssohn er sich gewähnt hatte. In der Schule kam es wenig später zu einem Vorfall. Ein Kind entriss ihm ein aufgelesenes Stöckchen, worauf sich Michel wild auf dieses Kind stürzte. Eine Lehrerin versuchte zu vermitteln, Michel aber nahm die Entschuldigung des anderen Kindes nicht an. Er sank auf dem Pausenhof zusammen und war vollkommen unansprechbar, igelte sich ein, bis seine Eltern ihn abholen kamen. Die Einsamkeit Michels in der von ihm imaginierten Welt feindlicher Objekte, sein Ausgesetztsein darin, hatte immer wieder eine traumatische Qualität, die man nur verstehen kann, wenn man sich zurückerinnert an die Szenen seines frühen Ausgeliefertseins, der Anforderung, ohne die Mutter sein zu müssen, damals, in der Krippe, als sein Bruder gerade geboren worden war, damals, als der Vater zurückgekommen war und, vielleicht kann man das so verstehen, ihm sein Stöckchen entrissen, ihn entmachtet hatte. Im Verlauf meiner Arbeit mit Michel verstand ich, warum er den Zahlen anhing, warum er das Rechnen so liebte, auch die Uhrzeit verstand er ja schon

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in der ersten Klasse zu lesen. Er schuf sich einen berechenbaren Raum, in dem er sicher war, die Zeit und den Ort seines Bleibens kannte. Nichts wollte er dem Zufall überlassen, niemals wieder wollte er eine unendliche Zeit lang in der Krippe bleiben, verlassen von den von ihm geliebten Menschen. Es war schwer für ihn mit den Worten, die nicht den Zahlen glichen und unberechenbar waren. Selten erlaubte er es mir, mit ihm zu sprechen. Es war dann immer so, dass er wie eingefangen in den Worten wirkte, die ich zu ihm sprach. Er schaute mich lange an und ich konnte spüren, wie ich ein Lasso auszuwerfen wünschte, wie ich mich zu beherrschen versuchte. Manchmal war es wunderbar mit Michel. Er ließ sich tief fallen in das, was zwischen uns geschah, und es geschah viel: Michel weinte, wütete und fing sich selbst wieder ein. Es blieb schwierig wenn ich Worte dafür zu finden suchte. Michel hasste die Worte, sie ängstigten ihn, bedrohten seine Sicherheit, die er in den Zahlen gefunden hatte. Meine Worte stürzten ihn in dunkle Räume, die er zu verlassen gewünscht hatte, als er sich der Welt der Zahlen zugewandt hatte. Er wollte nie wieder zurück in die unberechenbare Zeit, in der er, nichts verstehend, die Mutter verloren hatte und in der Krippe hatte ausharren müssen, bedrängt von ihn überwältigenden Gefühlen der Ohnmacht und Verzweiflung. Er warf sich oft wild im Raum umher, wenn er den Ball unseres Tipp-KickSpieles zu fangen versuchte, sein Körper prallte hart auf, sehr hart, immer wieder. »Es tut mir gar nicht weh«, sagte er. »Damals, als wir uns kennenlernten, Michel«, sagte ich einmal, »damals hattest du dir die Hände blutig geschnitten mit einer Scherbe, bei deinen Großeltern, es muss sehr weh getan haben.« Er sah mich an, völlig fassungslos, als sei ich vom Himmel gefallen – wir schwiegen ungewöhnlich lange. »Ich habe alles vergessen«, sagte Michel schließlich zu mir, in einer Weise, die mich fühlen ließ, dass die Worte, die ich ausgesprochen hatte, ihm weh taten. »Ich habe gedacht«, sagte ich leise, »damals, du warst sehr, sehr allein, es war furchtbar, einfach nur furchtbar und ich weiß gar nicht, wie du das überstanden hast, ich weiß es nicht.« Michel: »Ich weiß es und ich weiß es nicht, es ist besser alles zu vergessen, es ist wirklich besser – Frau Langer, du musst jetzt weiter mit mir spielen.« Und Michel warf mir den Ball zu. So vieles hätte ich sagen wollen, nahm aber die Tragweite von Michels indirekter Botschaft: »Nichts darfst du nun weiter sagen!«, wahr. Denn ich war mir in diesem Moment sicher: Im darüber Sprechen empfand Michel noch einmal den Schmerz, und es war nicht der Schmerz der Glasscherbenwunden, es war ein viel schrecklicherer, namenloser Schmerz, der dem Ritzen vorangegangen war. Der physische Schmerz hatte ihn beruhigt, er war an die Stelle seiner unendlichen Verzweiflung über die Ferne seiner Eltern getreten, von denen er nicht sicher wusste: Würden sie ihn retten? Würden sie Rache üben, ihn für immer verstoßen? Würden sie

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Michel

ihn in seinem Verlies finden? Im Angesicht des bösen Objekts, so verstand ich Michel, existieren die Worte nicht, es haust in der wortlosen, nackten Zeit. In Michels innerer Welt gab es wenig Worte. Michel wollte nicht sprechen. Es war schon unglaublich, dass nun seine Tränen fließen durften und mussten. Sie flossen bitterlich und unaufhörlich hinaus, wenn er nicht gewinnen konnte. Die von ihm gefürchteten Worte, die seiner Verzweiflung eine neue Art von Ausdruck hätten geben können, schienen seine Tränen zu vertausendfachen. Immer wieder kam er zurück auf die einmal von mir gebrauchte Wendung: »Verlieren ist viel schwerer als gewinnen, man muss so schreckliche Gefühle aushalten dabei.« Dieser einmal von mir geäußerte Ausspruch schien für ihn eine den Zahlen ähnliche Bedeutung zu gewinnen, es war eine neue Art von Logik in ihm enthalten, die Michel beschäftigte. Manchmal nickte er, wenn er vor Wut stöhnend eines meiner Tore kassierte und murmelte: »Es ist wieder schwer, so schwer.« Er, der sich meine Art der Fernschüsse abgeschaut hatte, bemerkte allerdings mit Lust, wie mich das in Bedrängnis brachte und ich sozusagen mit den Zähnen knirschte. Es gefiel ihm, das sehen zu können. Der geplante Umzug der Familie in ein in Eigenarbeit umzubauendes Haus bedrohte Michels neu gewonnene innere Flexibilität im Umgang mit seinen Gefühlen. Die Eltern waren real schwer belastet mit dem Umbau des Hauses und es gab kaum noch einen Spielraum. Während sich die anderen Kinder gut einbinden ließen und Spaß an kleinen Arbeiten, dem Abreißen der Tapeten zum Beispiel, hatten, tigerte Michel wie verloren auf dem Grundstück umher und rastete mehrfach aus, weil niemand mit ihm spielen wollte. Seine Haut juckte von dem Baustaub und er entwickelte einen trockenen, stoßweisen Husten. »Michel, du kämpfst da mit deinem Atem, manchmal ist alles schwer für dich, du musst da etwas machen mit deinem Atmen.« Michel: »Was ist das, ich weiß nicht warum.« Ich: »Ich habe gedacht, da ist viel, viel Stress im Moment, deine Eltern haben wirklich wenig Zeit für dich. Das muss schwer sein, als ob du nun schwer atmetest, es macht dich wütend, dass sie keine Zeit mehr haben und an dem Haus bauen müssen.« Beschämt richtete Michel seinen Blick zu Boden und schwieg. »Es ist wirklich, wirklich schwer«, fuhr ich fort, »auch bei mir musst du oft warten. Es wird dich wütend machen, und ich habe gedacht, manchmal atmest du jetzt wie ein zorniger Bison.« Michel lächelte und mir wurde schlagartig bewusst, wie selten er lächelte, wie ernst sein Gesicht war. Ich hatte ihn weinen, ausrasten, sich einigeln, strahlen gesehen, aber wann hatte er jemals mit mir gelächelt? Michel entwickelte sich stark in dieser Zeit, er gewann eine neue Art von Flexibilität. Er tigerte nicht mehr verloren auf dem Grundstück des neuen

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Hauses herum. Er freundete sich mit einem Nachbarssohn an. Immer wieder kam er bei den Eltern auf den Grund seiner Sitzungen bei mir zurück und sagte: »Ich gehe zu Frau Langer, dass es besser wird mit meiner Wut.« Er genoss es unglaublich, dass die Eltern nun große Probleme mit dem ältesten Sohn hatten. Er hielt sich heraus und verhielt sich still und beobachtend. Es war unglaublich: Die Seiten begannen sich zu wenden. Nun, da alle anderen Kinder schwierig wurden, war er plötzlich das Kind, das ruhig sein konnte, wenn alle tobten. »Er geht nun zurück zum Anfang«, sagte ich einmal zu den Eltern, »er geht zurück in die Zeit, als er, so habe ich das für mich genannt, der Königssohn seiner Mutter war. Es gefällt ihm, sich beherrschen zu können. Manchmal habe ich Angst, nun will er Sie erneut trösten, wie damals, als die Schwester schrie. Aber es ist auch neu, er beginnt etwas zu verstehen, er denkt nach über seine Wut, er kann das fühlen, so will er nicht mehr sein, er sucht nach einem eigenen Weg.« Michel, der seine Mutter in einer vergangenen Zeit verloren hatte, als sie nicht mehr vermochte von ihm zu träumen, ihn, selbst verzweifelt, alleinlassen musste mit seiner Wut, seinem Schmerz, gewann Anschluss an eine noch länger zurückliegende Zeit. In den Behandlungsstunden fand er das lange vermisste Gefäß für die ihn überschwemmende Wildheit und Destruktivität, einen Spielraum. Er lernte, zu lächeln und zu weinen, manchmal sprach er. Die ihn bedrängenden Gefühle schnitten sich nicht mehr in sein Fleisch, manchmal hatte ich den Eindruck, dass es sehr wichtig sei, dass er bei mir ein Einzelkind sein konnte. Michel meinte in seiner klugen Art einmal fragend: »Frau Langer, ich glaube, du hast auch viele Geschwister?« Ich sah ihn erstaunt an, antwortete aber schnell: »Ja, Michel, vielleicht hast du das gemerkt, ich habe auch viele Geschwister.« Michel lächelte, sagte nichts weiter. Ich konnte aber merken, es gefiel ihm sehr, das erahnt zu haben. Ein anderes Mal sagte er: »Es ist gut, dass ich dich gefunden habe. Ich bin auch froh, dass meine Eltern zu dir kommen. Du sagst ihnen, wie das geht mit mir.« Es fiel mir auf, dass Michel in dieser Zeit der einzige kleine Junge war, den ich behandelte, er wurde tatsächlich so etwas wie mein Einzelkind für mich. Ich genoss die Stunden mit ihm und dachte viel über ihn nach. Vor wenigen Monaten hatte ich die Luft angehalten, wenn er kam, nun liebte ich es, meine Zeit mit ihm zu verbringen. Wir hatten uns herausgearbeitet aus der schrecklichen Zeit, in der es kaum einen Spielraum gegeben hatte. Es war jetzt oft still und langsam zwischen uns, es musste nicht mehr eins nach dem anderen passieren. Manchmal durfte ich sprechen, aber es war auch Michel, der sich inzwischen nach den Worten sehnte. Sein Dasein als Zahlenwunderkind genügte ihm nicht mehr, er bedurfte dieser Abwehr nicht mehr in der bisherigen, aus-

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Michel

schließlichen Weise. Er wagte sich hinein in die Welt der Worte, in die Beziehung zum Objekt, das nun eines war, das ihn manchmal enttäuschte, manchmal etwas Wichtiges von ihm verstand. Die Zustände des sich Einigelns, aber auch die des wilden, zerstörerischen Bisons, die Zustände, in denen mein Patient sich einem bösen, vernichtenden Objekt gegenüber empfunden hatte, verloren ihre Macht. In der Übertragung fand er Anschluss an ein altes, unbewusstes Sehnsuchtsbild (den Königssohn) und die Zeit, aus der es stammte. So gelang es ihm, sich aus der Zeit zu lösen, in der die Mutter ihm zur Hexe geworden war, ihn, ihren Königssohn, ausgesetzt hatte. Ich bin mir auch bewusst, dass das Objekt, das er schließlich fand, weder die Mutter des Königssohns noch die Hexenmutter war. Das war das eigentlich Schwere: sich einzulassen auf eine Entwicklung, in der es nicht mehr Schwarz und Weiß und auch nicht mehr nur eindeutige, berechenbare Zahlen gab. In seinem neuen Wohnort trat Michel dem Fußballverein bei. Er erzählte mir sehr zufrieden, dass er nun der Torwart seiner Mannschaft sei. Der Trainer habe ihn dazu ausgewählt, weil er ziemlich gut im Abwehren der Bälle sei. Ich schmunzelte, nicht über Michel, der mich mit seiner Nachricht verblüffte, nein über mich selbst, denn ich war mir bewusst, dass ich mir Michel immer als Stürmer, als voranstürmenden Bison, vorgestellt hatte. »Er ist mir vorausgeeilt«, dachte ich. Er fand nun Gefallen daran, das Tor für seine Mannschaft zu schützen. Ich stellte mir vor, wie er sich in die Bälle hineinwarf, mit einer Art von eleganter Wildheit, wie es ihm gefiel, der Einzige zu sein, der die feindlichen Bälle noch aufhalten konnte, und wie er dann auch manchmal der war, der damit scheiterte. Abschlussbetrachtung des Behandlungsverlaufs

Michel, der wilde Bison, der schwarze Panther, der Junge, der tobte, die Möbel umstieß, sich verweigerte, bis die Polizei kam und ihn einfing, war gefangen gewesen in der Welt des bösen Objekts, gegen das er ankämpfte, zu dem er für die ihm liebsten Menschen, vor allem für die Mutter, geworden war. Denn diese hatte ihn schwer enttäuscht. Sie hatte ihn aus den Tropen verbannt, ihn allein im Schnee gelassen. In der Krippe war er vom Königssohn seiner Mutter, von ihrem Engel zum wilden Tier geworden. In einer meiner Phantasien war ich mir sicher, dass er hatte sterben wollen, als er sich aus Einsamkeit und Verzweiflung in die Hand geritzt hatte. In der Behandlung fand er einen Ort für seine Bedürftigkeit, sein Verlorensein, einen Spielraum für sein Wüten als Bison, aber auch für seine Sehnsucht nach dem Königssohn. Michel, das wilde, eingeigelte Zahlenkind, näherte sich der Welt der Worte, suchte dem ihn enttäuschenden Objekt erneut zu begegnen.

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Es waren seine Tränen, die hatten fließen dürfen. Sie erlösten ihn, sie lösten einen alten Bann, in dem der wilde Bison, der ausgebrochene schwarze Panther, sich zu Tode zu hetzen schien, gepeinigt von namenloser Angst und Einsamkeit. Gleich in der zweiten Sitzung der Behandlung habe ich agiert, anstatt mich abstinent zu verhalten. Ich habe Michel am Arm gepackt und in meinen Raum geschleppt. In diesem Triebdurchbruch war ich mit meinem Patienten identifiziert gewesen. Intuitiv hatte ich damit verstanden, wie wild, verzweifelt und blind vor Wut er sich immer wieder fühlte, aber auch, wie im Anschluss an die Szene – als Michel vor der Tür kauerte – deutlich wurde, in welch starker Weise die Aggression ein depressives Verlorensein abwehrte. Vermutlich, so dachte ich im Nachhinein, war es genau diese Szene meines Agierens, die den Raum eröffnete, um meinen Patienten zu erreichen. Der Rahmen der Behandlung konnte nach der eruptiven Eingangsszene sowohl von dem Patienten als auch von seinen Eltern angenommen werden. Es fand kein Agieren um Stundenausfälle statt, vielmehr wurden die regelmäßig stattfindenden Stunden zur sicheren Basis eines fruchtbaren Prozesses.

Anna, 17 Jahre – Grund der Anmeldung: Bulimie (140 Stunden, zweimal wöchentlich eine Stunde) Darstellung des Behandlungsverlaufs

Die Erstgespräche mit Anna sind mir als dramatisch, aufgewühlt in Erinnerung. Sie spiegelten, so verstand ich später, die verzweifelte, ausweglose und lebensbedrohliche Situation, in der sie sich befand. Anna war ein äußerst zartes Mädchen, sehr blass, mit streng zusammengebundenen, hart gescheitelten, hellblonden Haaren. Die Haut ihres Gesichtes war faltig und wie aus Pergamentpapier. Es tat mir weh, sie anzuschauen. Kaum hatte sie Platz genommen, begann sie zu weinen. »Ich zerstöre meinen Körper, das macht mir Angst«, schluchzte sie, »ich erbreche mich viermal am Tag. Ich bin froh, wenn ich in der Schule bin, da geht das nicht.« Ich hatte das Gefühl, sie immerzu ansehen zu müssen, so weh es auch tat. »Im Sommer war ich mit meinem Freund verreist, da ist es auch nicht passiert, aber ich war schrecklich angespannt und habe mich danach gesehnt, wieder zu Hause zu sein. Da habe ich es dann sofort wieder getan, ich habe Unmengen von Essen gekauft, es war wie ein Fest, das ich lange vermisst hatte. Es kam so eine Ruhe über mich, ich

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Anna

habe gegessen und gegessen, ganz allein in meinem Zimmer, bis ich voll war, dann habe ich mich übergeben.« Mir fiel auf, dass ich spontan zwar gut nachvollziehen konnte, wie das fragile, zerknitterte Mädchen Ruhe in dem endlosen Essen fand, dass ich mich aber innerlich wand, als ich mir vorzustellen versuchte, wie sie im Anschluss alles wieder erbrach. Bereits nach unserem ersten Gespräch erhielt ich einen Anruf von Annas Mutter, die mich sehr kühl fragte, ob ich denn überhaupt auf Essstörungen spezialisiert sei. Ich erklärte ihr ruhig, dass ich ohne Annas Einverständnis nicht mit ihr sprechen könne. Kaum hatte ich den Hörer aufgelegt, überfiel mich eine maßlose Wut. Ich fühlte mich herabgewürdigt und manipuliert. Ich dachte aber auch: »Ich muss mit Anna über den Anruf ihrer Mutter sprechen.« Anna wirkte auf Anhieb vollkommen resigniert, als ich ihr vom Anruf der Mutter berichtete. »Ich weiß Bescheid«, sagte sie, dann brach es aus ihr heraus: »Ich hasse sie. Sie hasst mich. Ich weiß nicht, warum.« Sie begann verzweifelt zu weinen. »Sie beobachtet mich immerzu, sie sagt, ich muss essen, und wenn ich etwas nehme, dann sagt sie, es ist zu viel, ich weiß sowieso nicht mehr, was ein normaler Mensch isst.« Nach einem mir endlos erscheinenden Schweigen begann sie erneut zu sprechen: »Meine Mutter hat mir etwas anvertraut, nachdem sie mit Ihnen gesprochen hat. Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken. Sie hat vor meiner Geburt einen Liebhaber gehabt und wollte sich von meinem Vater trennen.« Anna sah mich fassungslos an und begann den Kopf hin und her zu schütteln, als könne sie nie mehr aufhören damit. Ich dachte: »Nun will sie diesen Gedanken herausschütteln aus ihrem Kopf.« Anna, so hatte ich erfahren, war im Alter von knapp vierzehn Jahren an Magersucht erkrankt und hatte aufgrund eines rapiden, lebensbedrohlichen Gewichtsverlustes einige Monate in einer Klinik verbracht, nachdem eine vorangegangene ambulante Therapie gescheitert war. Sie suchte die Therapeutin der Klinik auch nach ihrer Entlassung weiter einmal wöchentlich auf. Es gelang ihr, während der eineinhalb Jahre andauernden ambulanten Behandlung ihr Gewicht zu halten. Nach der Verabschiedung von der Therapeutin vor einem halben Jahr verfiel sie rasch in einen bulimischen Modus. »Sie haben sie vermisst«, bemerkte ich. Anna sah mich vollkommen verwirrt an: »Aber ich war froh, dass es fertig war. Ich habe dann manchmal am Abend die CD angehört, die sie mir zum Abschied geschenkt hat – ich habe Ihnen das noch gar nicht gesagt, sie gab ihren Beruf auf und ging dann nach Amerika, sie wollte nicht mehr als Psychotherapeutin arbeiten.« Ich: »Es war schwer ohne sie, Sie müssen auch wütend gewesen sein darüber, dass sie ging, darüber, dass Sie nicht zurückkommen konnten zu ihr.« Anna, langsam: »Ich habe nie so darüber nachgedacht, ich habe gedacht, dass ich froh bin.«

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Zu unserer nächsten Stunde kam die Patientin ernst: »Ich muss Ihnen noch etwas erzählen, was, glaube ich, wichtig ist. Damals, als alles anfing, da habe ich meine einzige gute Freundin verloren. Sie lebte in unserem Haus und wir haben alles zusammen gemacht. Dann zog sie mit ihren Eltern plötzlich weg, weit weg. Ich bin gar nicht mehr rausgegangen aus meinem Zimmer. Ich habe mich aufs Bett gelegt und Musik gehört. Ich habe nichts mehr essen können, Frau Langer, ich glaube, ich habe sie schrecklich vermisst.« Ich nickte und dachte, dass sie nun auch davon spreche, wie sie ihre Therapeutin vermisst habe, als sie deren CD am Abend gehört habe. Annas Behandlung hatte vor Weihnachten begonnen. Ich konnte förmlich dabei zusehen, wie sie an Gewicht verlor. Sie erbrach sich fünfmal am Tag und stopfte Unmengen von Essen in sich hinein, vorwiegend Süßigkeiten. In dieser Zeit hatte ich oft zwei brennende Kerzen am Fenster stehen. Anna schaute stets lange zum Fenster, wenn sie kam, ihre Augen glänzten, wenn sie die Kerzen sah. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass ich sie nur für sie anzünden würde. »Meine Großmutter hat immer Kerzen angezündet«, sagte die Patientin schließlich, »sie hatte einen großen Kasten voller Kerzen und ich durfte immer aussuchen, welche wir anzünden wollten. Ich bin jeden Tag zu meiner Oma mit dem Fahrrad gefahren. Sie hat mir meine Lieblingsgerichte gekocht. Sie hat mir den Rücken so wunderbar massiert. Ich vermisse sie ganz unglaublich. Ich habe irgendwie Angst gehabt, darüber zu sprechen, es war furchtbar, als sie vor drei Jahren starb. Ich dachte, ich werde verrückt. Sie hat alles verstanden von mir, und seit ich zu Ihnen komme, beginne ich zu ahnen, ich wusste nicht mehr, wie ich weiterleben sollte ohne sie. Es war die Mutter meines Vaters. Meine Großeltern mütterlicherseits hingegen, ich hasse sie, sie sind so kalt und meine Mutter, sie ist auch so. Gestern hat sie zu mir gesagt: ›Ich ertrage es nicht, dich zu sehen, ich kann dich nicht mehr anschauen.‹« Ich: »Als ob Sie damals zu Ihrer Großmutter geflohen wären.« Anna begann zu weinen. »Ich habe es nicht ausgehalten, mein Bruder war der Liebling, immer, auch der der Eltern meiner Mutter. Ich habe jeden Tag mein Fahrrad genommen und bin zu meiner Oma gefahren, auch als sie dann im Krankenhaus war. Sie hat nicht mehr viel verstanden, aber sie hat die Torte, die ich ihr mitbrachte, immer gegessen.« Ich: »Anna, Sie haben so viel verloren.« Sie weinte bitterlich. Es fiel ihr aber auch vieles wieder ein, sie ließ die Wohnung ihrer Oma wieder auferstehen: Sie war so klein und gemütlich gewesen. Da hatte es das Sofa gegeben, auf dem sie übernachtet hatte, die vielen Blumen und Pflanzen, den Kerzenkasten, den sie oft sortiert hatte. Wenn sie den Raum betrat, richtete Anna ihren Blick immer auf die Kerzen. Ich konnte stark empfinden, dass sie bei mir etwas von ihrer Oma wiederzufinden hoffte, dass sie den Raum dafür genoss. Ich hatte überhaupt das Gefühl,

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dass die Patientin begann, auf lange versperrte Gefühle aufmerksam zu werden, sie wichtig zu nehmen und zu bedenken. Zu Hause hielten die heftigen Auseinandersetzungen mit der Mutter an. »Sie schaut mich an, als sei ich ekelerregend. Mein Vater ist der einzige Mensch, den ich liebe«, sagte Anna, »ich wünschte, ich hätte seinen Namen und den meiner Oma. Ich hasse meinen Nachnamen, der der meiner Mutter ist und von dieser eiskalten Familie kommt – mein Opa ist ja ein berühmter Richter, man findet ihn ganz großartig, alle dienern vor ihm. Ich aber hasse seinen Namen, ich will ihn nicht mehr tragen. Ich glaube, er hat mich noch kein einziges Mal angeschaut. Für ihn gibt es nur meinen Bruder, der will ja auch Jura studieren. Er ist völlig verrückt, er setzt sich stundenlang aufs Klo und lässt niemanden rein. Wenn ich im Bad bin, schlägt er wild gegen die Tür. Und was sagt meine Mutter? Lass ihn! Sie will, dass ich in eine Klinik gehe.« Langsam begriff ich, dass der Bruder etwa zwei Jahre nach Annas anhaltender Erkrankung die zwanghafte Okkupation des Badezimmers entwickelt hatte. Er hatte Stunden benötigt, um seinen Stuhl zu verrichten. Er hatte sich dann einer halbjährigen psychotherapeutischen Behandlung unterzogen, der Zwang war abgeflaut, hatte nun aber wieder heftig zugenommen. Ich meinte zu verstehen, dass der Bruder auf seine Weise auf die die Familie präokkupierende, jahrelang anhaltende Krankheit seiner Schwester reagiert hatte. Als im Zuge der Verwandlung der Magersucht Annas in Bulimie eine Konkurrenz der Geschwister um das Badezimmer entstanden war, war der Zwang des Bruders erneut aufgetaucht. Inzwischen herrschte zwischen beiden ein gewalttätiger Kampf um das Badezimmer, einmal kam die Patientin mit einer Wunde an der Stirn zur Sitzung. Der Bruder hatte sie gegen die Kacheln geschleudert, als sie die Badezimmertür nicht schnell genug geöffnet hatte. Anna schien mir immer dünner zu werden, gleichsam zu verschwinden. Sie weigerte sich ihren Hausarzt aufzusuchen und sich dort wiegen zu lassen. »Ich werde mich nie wieder wiegen lassen«, sagte sie und begann verzweifelt zu weinen. »Ich muss da weg, ich kann da nicht mehr atmen, ich kann da nicht aufhören zu essen und mich zu erbrechen, ich kann es nicht, ich weiß es ganz genau. Ich muss da raus. Es kann nur gut werden, wenn ich ausziehe, wenn ich den Streit nicht mehr hören muss, jeden Tag. Meine Eltern werden es niemals erlauben, niemals. Sie können das nicht verstehen, dass ich sie dann besuchen würde, dass es nicht so ist, wie sie denken.« Ich: »Als ob sie gehen müssten, um sie wiederzufinden.« Sie: »Frau Langer, genauso ist es, ich kann nicht mehr, dabei liebe ich meinen Vater ja schrecklich und meine Mutter, ich würde wirklich viel dafür geben, wenn sie mich einmal in den Arm nehmen würde, und mein Bruder, ich habe ihn ja früher wirklich angehimmelt, eigentlich wollte ich

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ein Junge sein und mit ihm und seinen Freunden Fußball spielen. Das hat er mir dann irgendwann verboten.« Annas Schmerz rührte mich stark. Ich fragte sie, ob sie wünsche, dass ich mit den Eltern über ihre Situation sprechen würde. Sie sagte sofort: »Aber nur, wenn ich dabei sein kann.« Es fiel mir nicht leicht, mich auf die Situation, die ich intuitiv hergestellt hatte, einzustellen. Berührt von Annas Schmerz hatte ich den mir gewohnten Rahmen verändert, gemäß dem ich Patient und Eltern immer nur getrennt voneinander sah. Anna weinte während des gesamten Gespräches, das wir zu viert führten, heftig. Auch Annas Mutter begann verzweifelt zu weinen, kaum hatte sie Platz genommen. »Ich will nicht, dass sie geht«, schluchzte sie, »ich kann es nicht ertragen, dass sie sich so abwendet von uns, und ich sehe es vor mir, wie sie isst und sich erbricht in der von ihr gewünschten, neuen Wohnung.« »Es wäre dann, als ob Sie nicht hätten genügen können«, warf ich ein. Annas Mutter nickte langsam. Ich konnte körperlich fühlen, wie das Eis brach. Ich schaute sie an und fühlte ihren Schmerz. Sehr leise sagte sie plötzlich: »Manchmal will man gehen, aber man kann doch nicht einfach gehen.« Ich begriff sofort, dass sie nun an die Zeit dachte, als sie sich von ihrem Mann hatte trennen wollen, die Zeit vor Annas Geburt. Der Vater versuchte mit seiner vermittelnden und herzlichen Art das Schweigen zu überbrücken, das sich auszubreiten begann. Gleichzeitig war mir bewusst, dass da etwas Wichtiges zwischen Annas Mutter und mir geschah. Sie sah mich an, als wolle sie mich ergründen. »Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt«, sagte sie. »Plötzlich habe ich das Gefühl, dass es gut werden kann.« Ich: »Vielleicht geht es darum, Anna zu vertrauen. Sie will ja nicht ausziehen, um in Ruhe zu essen und zu erbrechen, sie will Sie, soweit ich das begreifen kann, auch nicht für immer verlassen.« Anna, unter Tränen: »Ich will das nicht, warum glaubt ihr mir nicht, weil ich davon weg will, muss ich ausziehen. Aber ich kann es auch nicht schaffen, wenn ich euch nicht besuchen kann, ich muss, warum könnt ihr das nicht verstehen?« Ich führte aus, dass es ein Experiment wäre und keine Garantie für das Funktionieren gebe, dass Anna ihre Eltern aber vielleicht neu sehen könnte, wenn sie fern von ihnen sei. Die Eltern hatten etwas verstanden. Am wichtigsten war vielleicht gewesen, dass ich mit der Mutter in einen Kontakt gekommen war. Ich hatte sie als einen Menschen kennenlernen können, der, gepeinigt von der Vergangenheit und den eigenen Ausbruchsversuchen, schwer litt und nicht mehr ein und aus wusste. Ich hatte mitbekommen, wie große Angst sie vor mir gehabt hatte. Sie fürchtete, Anna zu verlieren, hatte gespürt, dass es wieder so zu werden drohte, wie es mit der Großmutter gewesen war. In dieser Situation war es ein Glücksfall gewesen, dass wir einander spontan verstanden hatten und aufeinander zuge-

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gangen waren, dass es möglich gewesen war, dass sie über ihr Nicht-Genügen hatte weinen können, dass ich sie so hatte schätzen können. Die zerstörerische Konkurrenz, die wir beide gefürchtet hatten, hatte sich auflösen können. Anna hatte miterleben können, dass wir einander schätzten und respektierten. Ich glaube, dass Anna auch deshalb so furchtbar hatte weinen müssen. Auf eine unbewusste Weise hatte sie verstanden, dass ihr Hass auf die Mutter und ihre Konkurrenz um den Vater nicht alles zu zerstören vermocht hatten. Sie hatte ihre Mutter in der Szene mit mir als einen Menschen erkannt, der nie aufgehört hatte sie zu lieben und sich um sie zu sorgen. Nach dem Gespräch, das ich mit Anna und ihren Eltern geführt hatte, geschah ein Wunder, anders kann ich es nicht nennen. Die Eltern unterstützten Anna nun bei der Suche nach einer geeigneten Wohnung. Anna aß von heute auf morgen völlig normal und hörte auf, sich zu erbrechen. Ihr Bauch war noch einige Wochen schwer, gebläht von dem Essen, aber sie hielt alles aus. »Ich gehe jetzt durch die Straßen, das können Sie sich gar nicht vorstellen«, sagte sie zu mir, »ich bin so stolz, ich muss mich nicht mehr verstecken, ich muss nicht mehr in verschiedenen Supermärkten einkaufen, keiner schaut mich mehr komisch an, wenn ich Dünne so viele Esswaren auf das Band lege. Ich fühle mich, als könne mich nichts mehr umwerfen, niemals, niemals habe ich das glauben können, dass ich das schaffe.« Ich hielt insgeheim die Luft an, aber es war bald überdeutlich, dass Anna sich gerettet hatte. Ich dachte: »Die vielen Jahre, es ist gar nicht zu fassen, wie macht sie das?« Sie wurde zu einem sehr schönen Mädchen, nach dem die Jungen sich umdrehten. Sie hatte eine Art von umwerfender Lebendigkeit gewonnen. Sie kaufte sich neue Kleider, die erstmals keine Kinderkleider mehr waren. Ihr Gesicht, das faltig, wie zerknittert, gewesen war, spannte sich und sah nun aus wie das Gesicht eines verführerischen, jungen Mädchens. Anna besuchte ihre Eltern oft, sie schlief auch häufig bei ihnen. Sie gingen zusammen spazieren und unterhielten sich. »Zum ersten Mal in meinem Leben ist es gut mit meiner Mutter«, sagte Anna, »ich liebe es, mit ihr zusammen zu sein.« Die Beziehung zu ihrem Freund, der die lange Zeit der Krankheit miterlebt hatte, wurde hingegen schwierig. Sie ließ ihn hinter sich, begann tanzen zu gehen und zu flirten. Es verblüffte mich immer wieder, wenn ich darüber nachdachte, wie dieses sehr kranke Mädchen nach viereinhalb Jahren Magersucht und Bulimie sich nach kaum einem halben Jahr der Behandlung gerettet hatte. Dass sie Distanz zu ihrer Familie gefunden hatte, schien überlebenswichtig gewesen zu sein. Die schwer aufgeladene Atmosphäre der Konkurrenz zwischen den Geschwistern milderte sich. Manchmal war Anna, die es genoss, gegangen zu sein, gleichwohl traurig. Ich spürte, dass sie darüber nachdachte,

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dass sie, die kleine Schwester, hatte gehen müssen, um zu überleben. Es war aber auch so, dass sie nun gerne zurückging, die Wochenenden oft bei ihrer Familie verbrachte und ihre Besuche unverkennbar etwas ungemein Erwünschtes und Ersehntes für die Eltern waren. Die Liebe zwischen den Eltern und Anna kam durch das neue Arrangement zum Ausdruck. Dass ich nicht der Großmutter gleich zu einer Konkurrentin der Mutter hatte werden müssen, dass wir beide Bestand haben durften und in der Lage gewesen waren, uns spontan auszutauschen über Annas Not und darüber, dass es in der Tat Anna war, um die es ging, ebnete den Weg. Letztlich war es Annas eigene Konkurrenz mit der Mutter, die sich mildern durfte. Ich dachte: »Nun, da sie selbst gehen darf und darin verständnisvolle Unterstützung findet, verzeiht sie der Mutter ihren einstigen Wunsch zu gehen und deren frühe schuldhafte Verstrickung, in der Annas gesamte Existenz unbewusst eingebunden gewesen war.« Sie floh die Mutter nicht länger wie in den Zeiten, als sie täglich zur Großmutter gefahren war, sondern liebte es nun, die Mutter zu besuchen. Anna, die sich so schnell gerettet hatte, wünschte die Behandlung nach dem zweiten Behandlungsabschnitt (140 Stunden) zu beenden. »Ich glaube, ich kann das jetzt, alleine klar kommen, und vielleicht will ich jetzt auch einmal diejenige sein, die geht«, sagte sie nachdenklich. »Das kann ich wirklich gut verstehen«, entgegnete ich, »und trotzdem, es ging alles so schnell, ich komme manchmal gar nicht mit.« Sie: »Das geht mir auch so, aber es ist auch wunderbar.« Ich dachte jedoch darüber nach, dass es da etwas gab, für das ich keine Worte fand. Es betraf die Geschwindigkeit, in der alles, in der das, was ein Wunder schien, geschehen war. Das Wort »Flucht« schoss mir durch den Kopf. Aber ich wunderte mich auch über mein inneres Beharren. Als müsse ich meine Patientin festhalten, dachte ich. Anna kam nicht zur letzten, vereinbarten Sitzung. Sie kam zu einer anderen Stunde, einem alten, lange veränderten Termin. Ich war nicht da. Mein Mann berichtete mir, dass ein Mädchen, Anna, mich zu sprechen gewünscht habe. Ich schrieb ihr kurz und erklärte das Missverständnis. Ich bot ihr an, eine erneute letzte Stunde zu vereinbaren. Ich hörte nie wieder von ihr, machte mir aber klar, dass sie den schmerzlich und passiv erlittenen Verlust in einer aktiven Weise wiederholte, indem nun sie zur Verlasserin wurde. Als es darum gegangen war, ob sie einen dritten Behandlungsabschnitt wünsche, hatte sie mir erklärt, dass sie sich danach sehne, nun die zu sein, die gehe. Ich war zur Zeugin ihrer erstaunlichen Entwicklung geworden, hatte ihre Freude, lebendig zu sein, erstmals neue Freunde zu finden, miterlebt und mich mitgefreut. In unseren Sitzungen hatte sie immer wieder berichtet, wie unsicher sie sei, und sich gleichwohl herausgewagt. Sie hatte in ihrer neuen Wohnung

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Anna

schwer darunter gelitten, alles zwanghaft sauber haben zu müssen, und nur sehr langsam begonnen, einen Tag lang mal nicht zu putzen. Die Patientin hatte sich täglich mehr und mehr von den alten Ritualen befreit. Auch in der Schule war sie nicht mehr perfekt gewesen, sie hatte nicht mehr unablässig gelernt – und sie hatte mit der Therapie und deren Rahmen auf ihre Weise abgeschlossen. Ich konnte nur schwer akzeptieren, dass die letzte Sitzung nicht stattgefunden hatte. Mir fiel eine Szene ein, in der Anna mir zu Beginn der Behandlung geschildert hatte, wie sie sich ihre Nägel schichtweise zu lackieren versucht habe, was Stunden in Anspruch genommen habe. Die geringste Unkorrektheit des Lackes habe dazu geführt, dass sie von Neuem begonnen habe. Wie Anna beim Anbringen des Lacks auf ihren Nägeln erwartete ich Perfektion. Mit weniger konnte ich mich nicht zufrieden geben. Dass Anna das Ende unserer Stunden gesetzt und die letzte dieser versäumt hatte, verunsicherte mich. Es war wie die letzte Schicht auf dem Nagel, die nicht trocknete und unschöne Blasen warf. Anna war mir vorausgeeilt. Je länger ich über die Behandlung nachdachte, umso klarer wurde mir, wie schwer es für mich gewesen war, zurückzubleiben, hierin noch einmal der Mutter gleich. Abschlussbetrachtung des Behandlungsverlaufs

Annas seit ihrem 13. Lebensjahr anhaltende Essstörungen hatten schwere depressive Gefühle abgewehrt, ein inneres Loch zu stopfen gesucht. Der Verlust der Freundin, der Tod der Großmutter und die Trennung von ihrer vorherigen Therapeutin hatten schwere Krankheitsschübe ausgelöst, die in einem frühen Gefühl von Nicht-wahrgenommen-Werden durch die Mutter wurzelten. Nach der Trennung von ihrer ersten Therapeutin entwickelte die Patientin, die zuvor magersüchtig gewesen war, bulimisches Verhalten. Unbewusst wollte sie das gute Objekt, das sie verlassen hatte, wieder erbrechen (sozusagen auskotzen). Sie ging nicht zurück zu ihrem ursprünglichen Krankheitsbild, bei dem sie gar nichts mehr zu sich hatte nehmen wollen. Sie führte einen permanenten Kampf zwischen ihrem Wunsch, zu essen, lebendig zu sein, Beziehungen zu haben, und ihrer Enttäuschung über die Objekte, die sie nicht halten konnte und erbrechen musste. Während unserer Stunden war ich zur Zeugin ihres immer wieder scheiternden Versuches geworden, »es nicht zu tun«. Sie verachtete sich ganz unglaublich. Es entstand aber auch ein Spielraum. Anstelle des Versuches, die absolute Kontrolle über ihren Körper zu erlangen, der die Magersucht gekennzeichnet hatte, kämpfte sie darum, nur noch zweimal, einmal sich zu erbrechen. Ich glaube, sie kämpfte auf diese Weise darum, das gute Objekt, das sie in ihrer Therapeutin gefunden hatte, nicht völlig zu verlieren. Die vorherige Therapeutin war nicht nur

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Sieben Behandlungen, in denen Rahmen und Spielraum einander ergänzen konnten

nach Amerika gegangen, sie hatte auch ihren Beruf aufgegeben. Sie war damit zu einem absolut und niemals wieder erreichbaren Objekt geworden. Sie hatte zum einen den alten Wunsch der Mutter wahrgemacht, indem sie gegangen war, und war zum anderen an ihrer Rolle als Therapeutin (bzw. Mutter) verzweifelt, auch hier der Mutter gleich. Die Situation mit der sie verlassenden Therapeutin hatte somit frühe Anteile der Patientin mobilisiert: Sie hatte eine Mutter gehabt, die nicht hatte bleiben wollen und später dem Bruder angehangen hatte. Das hatte Anna vermutlich als etwas erlebt, was ein neues Leben verhindert hatte. Unbewusst kam sie nun zu mir, um der Erfahrung mit ihrer ersten Theraputin, in der sich die Erfahrung mit ihrer Mutter zu spiegeln schien, einen Ausdruck zu geben. Ihr Hass auf das Objekt war vollkommen verleugnet. Als ich mich darauf einließ, in Gegenwart Annas mit ihrer Mutter (ihren Eltern) zu sprechen, hatte ich wider meinen Rahmen, gemäß dem ich mit Patient und Eltern immer nur in getrennten Sitzungen sprach, agiert. Diese intuitive Entscheidung zog einen derart raschen Behandlungserfolg nach sich, dass ich selbst nicht mitkam und alles wie ein Wunder erlebte. Dass Anna hatte miterleben können, wie ihre Mutter und ich einander wertschätzten und wie ihre Mutter sich um sie sorgte, milderte die Konkurrenzsituation, die in der Familie herrschte, und veränderte deren Miteinander unversehens. Ein Spielraum entstand, die verhärteten Fronten zwischen Mutter und Tochter wichen einem neuen Versuch, einander nahe zu kommen. Mein Perfektionismus, der letztlich meinen eigenen mangelnden Spielraum offenbarte, führte in der Folge dazu, dass ich lange Zeit an dieser Behandlung und ihrem Erfolg zweifelte. Denn ich war nicht sogleich in der Lage, Annas Agieren wider den Rahmen am Ende der Behandlung anzuerkennen. Dass die letzte Stunde nicht stattgefunden hatte, wir nicht hatten Abschied nehmen können, überlagerte meinen Eindruck von der insgesamt beeindruckenden Entwicklung der Patientin in der Therapie. Erst im Nachhinein konnte ich mit dem Gedanken spielen, dass Anna die Behandlung genau so beendet hatte, wie es für sie richtig gewesen war. Dass sie einen alten, längst veränderten Termin wählte, um sich von mir zu verabschieden, dass die letzte Stunde gewissermaßen weder ausfiel noch stattfand, war genau der Raum und Rahmen, den sie benötigte, um zu gehen. Anna hatte anstelle der Mutter gehen müssen, um Atem holen zu können und zu leben. In ihrem Gehen hatte sie die Möglichkeit der Wiedergutmachung gefunden.

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Philip

Philip, 18 Jahre – Grund der Anmeldung: Panikattacken (68 Stunden, einmal wöchentlich eine Stunde) Darstellung des Behandlungsverlaufs

Es war Philips Mutter, die mich zunächst anrief. Ihr achtzehnjähriger Sohn habe Ängste und schwere Depressionen, er benötige dringend Hilfe, es werde immer schlimmer, teilte sie mir mit. Einen Tag später hatte Philip bei mir auf den Anrufbeantworter gesprochen. Seine Stimme mühte sich, wirkte angestrengt: Ich wisse ja Bescheid, seine Mutter habe mit mir gesprochen. Sie habe gesagt, er solle selber anrufen. Ich hörte, wie er tief Atem holte, bevor er den Hörer auflegte. Dann hörte ich eine Woche lang nichts von ihm. Ich hatte ihn schon aufgegeben, da rief er mich in meiner Sprechzeit an. Wir vereinbarten einen Termin. Er fragte noch nach Parkmöglichkeiten. Zum ersten Termin kam der Patient, ein sehr gut aussehender, junger Mann, die Treppe hochgerannt. Er begrüßte mich, gab mir die Hand, sah mich lächelnd an und wirkte ungemein charmant. Ich dachte spontan: »Was will er bei mir?« Kaum hatte Philip auf seinem Stuhl Platz genommen, zog er einen kleinen Zettel aus der Hosentasche. »Ich habe mir was aufgeschrieben«, sagte er, »ich vergesse es sonst zu sagen und man sieht es mir ja nicht an, das ist das Seltsame, man kann es nicht sehen. Ich bin morgens ganz schlecht drauf, ich habe Angst und Wut, manchmal fühle ich mich nur melancholisch, ich will nicht aufstehen, in die Schule gehen, ich«, er lachte hilflos, »ich fange plötzlich an zu weinen und kann nicht mehr aufhören damit. Tagsüber geht es besser, aber ich fühle mich sehr, sehr müde und kann mich nicht konzentrieren. Am Abend fühle ich dann eine seltsame Euphorie, als ob ich Bäume ausreißen könnte. Seit vier Monaten ist das jetzt so. Ich fühle mich wie erpresst, nach dem Motto: Sei glücklich oder stirb.« »Wie meinen Sie das?«, fragte ich verwirrt. »Ich weiß es selbst nicht, aber mein Vater, er lacht mich aus, ich weiß ja, er ist selber hilflos, aber er sagt mir, so darf ich nicht sein. Für den gilt das alles nicht.« Wir schwiegen. Philip: »Meine Mutter versteht es, mit ihr kann ich sprechen. Sie weiß, wie das ist, mit ihr kann ich über alles sprechen, sie hatte selbst solche Zustände. Ich weiß gar nicht, was ich ohne meine Mutter machen würde. Ich kann mich ja nach außen hin gut beherrschen, ein Bild meiner Person aufrechterhalten, aber innerlich bin ich extrem unruhig, wie auf der Bremse und dem Gaspedal zugleich, es ist ein Zombiegefühl.« Als er das sagte, entstand in mir sofort die Phantasie, er könne auf dem Weg zu mir mit seinem Auto zu Tode kommen. »Es ist kaum noch auszuhalten, dieser Zustand«, sagte ich unvermittelt, »vor

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vier Monaten, was da wohl war …« Philip: »Ich war in Rumänien im Herbst, mit meinen alten Freunden. Wir haben viel getrunken, ich habe mich gut gefühlt, aber als ich zurück war, da fing das an. Ich hatte diese Angst am Morgen, ich wollte nicht mehr in die Schule gehen.« Ich: »Ich überlege, wie es dort war, in Rumänien.« Philip schwieg eine Weile, dann sagte er: »Wenn ich länger darüber nachdenke, ich habe mich nicht gut gefühlt, ich weiß nicht, irgendwie unsicher, als ob ich nicht wie die anderen wäre, so schüchtern, so, als ob sie das merken. Ich bin ja schon mein ganzes Leben schüchtern und versuche es zu verbergen. Als ich zu Hause war, ich dachte, sie merken es doch, du bist komisch, und es war ja auch so, ich habe immerzu gedacht, wann ist es vorbei, ich will nach Hause, in mein Zimmer. Es war eigentlich sehr anstrengend.« Er sah mich unvermittelt an: »So ist das immer bei mir, ich merke erst hinterher, dass etwas schwer war.« In der zweiten Sitzung erzählte mir Philip von seinem Großvater, von dem er kurz nach der Rumänienfahrt geträumt hatte. »Mein Großvater fuhr mit seinem Rollstuhl auf mich zu und ich schrie und schrie laut. Ich hatte Todesangst.« Ich erfuhr, dass der Großvater vor einem Jahr verunglückt war, er war von einer Leiter gefallen und nun am ganzen Körper gelähmt, konnte nicht mehr sprechen. Er konnte eigentlich gar nichts mehr allein machen. Philip: »Wir sprechen nicht darüber in der Familie. Mein Großvater war immer so aktiv, und er lebt gar nicht mehr.« Ich: »Wie ein Zombie.« Philip nickte. »Ich kann es nicht ertragen, ihn zu sehen, ich kann es nicht, es ist schlimmer als der Tod.« Er fuhr langsam fort: »Ich kann auch nicht mehr lernen, seit letztem Sommer kann ich nicht mehr lernen, gerade jetzt, wo ich ja das Abi vor mir habe.« Der Traum meines Patienten berührte mich stark, ich empfand fast körperlich seine panische Angst, mitgenommen zu werden in ein seltsames Zwischenreich zwischen Leben und Tod. Nach dieser zweiten Sitzung mit dem Patienten sah ich den von ihm mitgebrachten, kärglich ausgefüllten Entwicklungsbogen ein. Ich erstarrte, als ich las: »Ich wurde ohne Wehen herausgedrückt, mit totem Zwillingsbruder.« Die Luft zum Atmen wurde mir eng, ich hatte plötzlich Angst. Die Wände des Raumes, in dem ich mich befand, beengten mich, schienen auf mich zuzuwandern. In unserer zweiten Sitzung, sie hatte kurz vor Weihnachten stattgefunden, hatte ich mit dem Patienten zwei Termine vereinbart, einen davon in meinen Ferien, etwas, was ich sehr selten mache. Ich hatte gedacht: »Er wird nicht so lange warten können, es geht ihm schlecht, ich muss mich zur Verfügung stellen, ich kann ihn jetzt nicht wochenlang alleinlassen.« Die erste der vereinbarten Sitzungen sagte der Patient kurz vorher ab, weil er kurzfristig nun schon vorher zu seinem Bruder nach Dresden fahre. Die zweite sagte der Patient ebenfalls kurzfristig ab, weil er am nächsten Tag eine wichtige Arbeit zu schreiben habe

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Philip

und dafür lernen müsse. Es ging mir wie nach der Vereinbarung der ersten Sitzung mit Philip. Ich dachte, nun sei es vorbei. Ich hatte mir sehr gewünscht, den Patienten wiederzusehen. Da war etwas, das wollte ich mit ihm verhandeln. Ich meinte, etwas verstanden zu haben. Eine Woche später rief mich Philip erneut an und wünschte einen Termin zu vereinbaren. Ich sagte: »Ein dritter Termin, nach den beiden abgesagten.« Er: »Irgendwann muss es einfach klappen.« Ich: »Versuchen wir es noch einmal, zum dritten Mal.« Zu dieser Sitzung kam Philip. Ich: »Es muss schwer gewesen sein, hierher zu kommen.« Er: »Sie meinen, weil ich zweimal abgesagt habe.« Ich nickte und sagte: »Es brach irgendwie ab zwischen uns, Sie wollten nicht mehr kommen.« Philip, sehr langsam: »Ich habe immer in der letzten Sekunde abgesagt, gedacht, vielleicht fahre ich doch.« Ich: »Ich habe mir vorgenommen, Ihnen heute zu sagen, dass ich mit Ihnen arbeiten möchte, wenn Sie es schaffen, Ihre Stunden wahrzunehmen.« Philip, sofort: »Ich will das und ich weiß auch, ich hätte nicht absagen müssen, es kam so plötzlich über mich.« Ich: »Ich schlage Ihnen vor, nun zunächst einmal wöchentlich zu kommen, bis zu den Sommerferien, und wenn Sie Ja sagen, müssen wir jede dieser Stunden wirklich haben. Vielleicht wird es später wichtig werden, dass Sie zweimal pro Woche zu mir kommen. Ich habe nachgedacht – eigentlich ist es für Sie eine wacklige Angelegenheit, diese Therapie, Sie wissen nicht, ob Sie das machen sollen, Sie stehen, wie Sie das einmal gesagt haben, auf der Bremse und dem Gas zugleich.« Philip lächelte, als ich das sagte. »Sie haben recht, ich will und ich will nicht. So ist mein ganzes Leben, alles, ich hasse diesen Zustand, ich will da raus, ich will das hier jetzt machen.« Ich dachte unvermittelt: »Nun will er noch einmal geboren werden, als stecke er fest, noch immer im Leib seiner Mutter.« Ich: »Sie haben mir ja in der letzten Stunde den ausgefüllten Fragebogen überreicht.« Philip nickte. Ich fuhr fort: »Da stand das über Ihre Geburt.« Er: »Mein toter Zwillingsbruder lag vor mir, ich kam erst nach ihm. Sie mussten mich gewaltsam herauspressen. Meine Mutter hatte keine Wehen mehr. Mehr weiß ich nicht.« Ich nickte, schwieg. Philip: »Wir sind oft auf den Friedhof gegangen, wo er lag.« Ich: »Was Sie wohl dachten?« Er: »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas dachte, es war halt so, es war ja auch schon so lange her.« Philip kam zu seinen folgenden Terminen. Ich dachte lange darüber nach, wie vehement ich unseren Rahmen gesetzt und mich gleichzeitig zurückgenommen, Abstand von einer mehrstündigen Frequenz genommen hatte. Auch ich hatte auf dem Gas und der Bremse gleichzeitig gestanden. Es war mir bewusst gewesen, ich hatte sehr viel gewollt, sehr viel sagen wollen, zu viel auf einmal. Die karge Aussage des Entwicklungsbogens hatte mich aufgeladen. Ich hatte mich danach gesehnt, darüber mit ihm in Kontakt zu kommen. Ich hatte so

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viel auf einmal gefühlt, als ich das las. Dass er mir diesen Bogen gegeben hatte, dann aber nicht mehr kam, zu zwei vereinbarten Terminen nicht, hatte mich über meine spontane Wut hinaus sehr nachdenklich und langsam gemacht. Ich hatte gedacht: »Wenn überhaupt, fangen wir ganz langsam an.« »Es ging mir sehr schlecht am Wochenende«, sagte Philip, als wir uns wiedersahen. »Ich war mit einem Freund in einem Club. Ich fand alles okay, aber als ich nach Hause kam, überfiel mich diese Scham. Ich sah mich da stehen. Ich habe gar nicht gesprochen. Es war furchtbar. Plötzlich wurde mir bewusst, wie einsam ich da gestanden habe, mich kaum gerührt habe. Ein Mädchen sprach mich an, ich habe nicht geantwortet. Ich habe da gestanden wie ein Zombie, aber ich habe es nicht gemerkt. Wenn die Dinge geschehen, kann ich nichts fühlen, als ob ich ein Roboter wäre.« Ich: »Sie haben erst im Nachhinein bemerkt, wie einsam und verloren, wie gelähmt Sie waren.« Philip: »Ich bin wirklich komisch, ich bin wie tot, wenn die Dinge geschehen. Ich denke manchmal, ich lebe gar nicht. Es war ja auch wieder so, dass mein Freund mich anrief, ich rufe nämlich niemals an, ich kann das nicht, und dann habe ich gesagt: ›Klar, ich komme mit.‹« Ich: »Als könnten nicht auch Sie einmal sagen: ›Ich will jetzt dies und das‹, als sei das unmöglich.« Philip: »Manchmal bin ich furchtbar, dann spreche ich plötzlich und möchte im Boden versinken. Ich war ja bei meinem Bruder in Dresden – mein Bruder ist anders, er sagt, was er denkt. Er steht irgendwie auf dem Gas. Es war komisch da, ich habe immer gedacht, ich will das schaffen, ich will nicht zusammenbrechen und weinen. Ich habe wenig gesprochen. Wir haben Ausflüge im Auto gemacht, seine Freundin war dabei. Ich saß neben meinem Bruder, sie hinten. Dann, plötzlich, hat sie sich nach vorne gesetzt und ich habe gesagt: ›Warum setzt du dich jetzt plötzlich nach vorne?‹ Sie haben mich merkwürdig angesehen, als ob ich etwas Verrücktes gesagt hätte, und ich habe mich auch schrecklich geschämt, so was macht doch keiner.« Ich: »Sie waren irritiert, Sie wollten weiter vorne sitzen, nicht nach hinten gehen.« Sofort, nachdem ich das ausgesprochen hatte, dachte ich: »Er will nicht der Zwilling sein, der hinten liegt, er will vorne sein.« Philip: »Aber das war so komisch, ich war komisch.« Ich: »Sie wollten weiter vorne sitzen, es gefiel Ihnen, Sie haben das dann ausgesprochen.« Philip: »Ich wünschte, ich hätte es nicht getan.« Ich, sehr schnell: »Als dürften Sie das nicht, als sei da eine alte Schuld, als dürften Sie nicht vorne sein und leben.« Da sagte Philip ganz überraschend: »Ich denke oft, wie hätte er ausgesehen, mein Bruder, der gestorben ist, wie wäre er gewesen. Mein Bruder in Dresden, er ähnelt mir nicht; wie der wohl gewesen wäre, mein Zwillingsbruder, wenn er nicht gestorben wäre?« Ich: »Ob er Sie wohl verstanden hätte?« Er: »Manchmal träume ich, er, er hätte alles verstanden, und dann will ich vergessen, dass er starb, dass es

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Philip

ihn gab, ich hasse mich.« Ich: »Als wären Sie das gewesen, der ihn tötete.« Philip sah mich einen Augenblick lang sehr hilflos an. »Aber vielleicht, vielleicht, war ich das, ich wollte leben und er musste sterben.« Ich nickte langsam und sagte: »Sie wollen leben und es ist, als sei Ihnen der Weg versperrt.« »Heute ist es wieder so, wie ich mal gesagt habe, mit Bremse und Gas gleichzeitig. Ich will irgendwie loslegen und kann es nicht, die ganze Zeit fühle ich mich so.« Ich: »Als ob es Ihnen verboten sei, lebendig zu sein.« Er: »Ich hatte wieder so einen Alptraum am Wochenende, gleich nach dem Einschlafen, so ist das oft, dann bleibe ich die ganze Nacht wach, vor Angst.« Er lachte hilflos. »Ich war bei meinem Freund, wir haben Bio gelernt. Seit Monaten habe ich mal wieder gelernt, ich bin richtig reingekommen, ich habe gedacht, dass ich das schaffen will, dann, ich war wirklich müde, kam sofort dieser Alptraum. Da war ein Mensch mit abgewandtem Gesicht. Plötzlich drehte er sich um und ich sah eine weiße Maske, bewegungslos, mit Kratzspuren überall. Es war wie ein schlimmer Horrorfilm.« Wir schweigen lange. Ich konnte mich nicht von dem Gedanken an seinen Zwilling lösen, der tot vor ihm lag, ihm den Weg versperrte, ihn abbremste auf seinem Weg ins Leben. Ich sagte schließlich, mich dabei sehr hilflos fühlend: »Ich muss wieder an die Szene ihrer Geburt denken, da war auch so ein Horror, ein Alptraum. Sie wollten raus, ihr toter Bruder lag vor Ihnen, es ist mir bewusst, Sie werden das seltsam finden, dass ich dem solche Bedeutung gebe, es liegt ja so lange zurück, in einer unerinnerbaren Zeit.« »Ich habe mich manchmal gefragt, ob das, was vor und während der Geburt geschieht, eine Bedeutung hat, eine Geburt, die Wehen, das wird ja von Hormonen gesteuert.« Ich merkte, wie ich ihn interessiert ansah, und dachte: »Er hat ja Bio-Leistungskurs gewählt, als wollte er etwas wissen.« Philip fuhr fort: »Mein Bruder war vermutlich schon seit Tagen tot. Er war ganz blau. Und meine Mutter hat mir erzählt, drei Tage vor der Geburt haben sie seine Herztöne gesucht und lange nicht gefunden, dann aber doch.« Ich: »Vielleicht waren das Ihre.« Er: »Das habe ich gedacht – vielleicht war es auch eine von mir ausgelöste Wehe. Ich weiß nicht, kann ein totes Kind eine Wehe auslösen? Er kam dann mit einer Wehe heraus, ich wurde herausgepresst von den Ärzten, meine Mutter hatte keine Wehen mehr.« Ich: »Sie wären fast gestorben, Ihr Weg ins Leben war verstellt von Ihrem toten Bruder, der vor Ihnen lag. Ihr Weg ins Leben war ausgebremst.« Philip schaute zu Boden, es ging ihm sehr schlecht. Ich dachte, dass er sich für seinen Wunsch, aufs Gaspedal zu treten, schäme, dass er ja über seinen toten Bruder hinweggegangen sei. Er: »Meine Mutter hat gesagt: ›Ich war gar nicht traurig, ich hatte ja dich‹, aber mein Vater, er hat wohl sehr geweint damals.« Ich: »Es ist auch so traurig, ein Kind, das tot geboren wird. Was gibt es Schlimmeres? Und ich kann das so gut verstehen. Ihre Mutter, sie wollte für Sie da sein, sie

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hatte keine Zeit zum Traurigsein, aber, trotzdem, etwas, was man nicht wirklich verstehen kann, geschah, schon am Anfang des Lebens stand der Tod, er wirft seine Schatten und bremst Sie aus, und Sie möchten so gerne losfahren.« Wieder schwiegen wir lange. Ich: »Sie kommen ja mit dem Auto zu mir. Ich habe überlegt, da war etwas, das ging, Sie wollten losfahren, Sie haben Ihren Führerschein gemacht.« Philip: »Irgendwie gut, dass Sie darauf zu sprechen kommen. Ich bin beim ersten Mal durchgefallen, die Theorie habe ich nur gerade so bestanden. Und dann, ich wusste gar nicht mehr, wie man ein Auto fährt, ich musste ganz von vorne anfangen, und meine zweite Prüfung, mein Fahrlehrer musste ein Wort für mich einlegen, denn ich war wieder falsch abgebogen.« Ich: »Als hätten Sie Angst gehabt, zu bestehen, als hätten Sie auf der Bremse gestanden, als Sie losfahren wollten.« Philip lächelte wieder und fragte mich: »Warum muss ich immer auf der Bremse stehen?« Wir standen immer wieder am Anfang, als hätten wir gerade erst unsere erste Sitzung gehabt. Er versuchte, sich mir anzupassen, er war ja ein Muttersohn. Er schien alles zu ahnen, was ich sagen wollte, er ging auf alles ein, aber er verstand mich nicht. Er war in Wirklichkeit oft gar nicht da, war in einer vollkommen einsamen Welt, er stand ganz allein vor dem Tod, den er fürchtete. Was bei seiner Geburt geschehen war, es kam selten in die Beziehung zwischen uns, er blieb allein mit seiner Angst. Die Mutter hatte nicht getrauert, sondern versucht ihn zu halten, und ich war immer wieder viel zu schnell. Es schien mir manchmal, als könne ich mich nicht beherrschen, als schieße es aus mir heraus, als wolle ich ihn mitreißen. In solchen Momenten dachte ich an den toten Zwilling, in dessen Strom er herausgezogen worden war. Philip aber saß immer wieder vor mir und sah mich verständnislos an, als wisse er nicht, was ich wolle, wovon ich spreche. Ich dachte dann: »Ich stehe auf dem Gas und er auf der Bremse«, aber auch: »Ich verstehe ihn nicht, ich weiß gar nichts, ich will das wegmachen. Ich spinne an meinen Gedanken, ich webe ein Netz, er aber fällt heraus.« Alles, was ich sagte, war falsch. Ich verwirrte mich in meinen gesponnenen Fäden. Sie fielen mir immer wieder aus der Hand. Dabei spürte ich, dass ich bereit wäre, über Leichen zu gehen, wenn sich nur ein Faden entspönne, den ich verfolgen könnte. Bedachte ich meine Reaktionen, wurde ich mir zunehmend bewusst, wie wenig Zeit ich meinem Patienten ließ, dass er mir auf diese Weise unmöglich folgen konnte. Außerdem wusste ich manchmal selbst nicht, wem oder was ich folgte. Ich sehnte mich zum einen nach einem Fokus für diese Behandlung, nach einer Sicherheit. Ich raste durch das Material, stellte Verbindungen her, ich war gut darin. Zum anderen rief alles, was dieser Patient mir schilderte, in mir die Szene seiner Geburt wach. Er stand ja kurz vor dem Abitur, konnte nicht lernen, verschloss sich in seinem Zimmer, stellte sein Handy aus, saß an seinem

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Philip

Schreibtisch. Dann starrte er stundenlang auf einen Satz und konnte ihn nicht überwinden. Er sagte: »Ich bin eigentlich sicher, plötzlich, ganz plötzlich wird es gehen, ich muss nur warten.« Ich: »Worauf warten Sie?« Er: »Es wird sich plötzlich alles lösen, dann trete ich auf das Gas«, er lächelte, sagte: »Sie wissen ja.« Ich nickte und bemerkte: »Es ist so schwer, so schwer, das Gaspedal zu finden, lebendig zu sein.« Philip: »Ich schäme mich so, immer wenn ich Gas geben will, schäme ich mich. Ich bin auch oft so zynisch, verletze andere, ich wünschte, ich täte das nicht. Es wäre leichter für mich, so nicht sein zu müssen, aber es geschieht mir immer wieder.« Ich: »Wie, als Sie sagten: ›Warum willst du jetzt vorne sitzen?‹, als sagten Sie: ›Hey, ich bin ja auch noch da.‹« Er: »Und genau das hasse ich, das bin ich nicht.« Ich: »Wer weiß, vielleicht sind Sie das.« Er: »Ich weiß, das bin ich, aber das will ich nicht sein, es beschämt mich.« Ich: »Philip, ist das nicht so, als ob Sie kein Recht hätten, auf dem Gas zu stehen, was Sie sich so sehr wünschen. Ich habe nachgedacht, ich weiß schon, Sie werden das wieder seltsam finden, aber Sie durften kein Gas geben, als Sie geboren wurden, Sie wurden herausgepresst aus dem Leib ihrer Mutter, und alles Gas, die Wehe, war schon verbraucht von Ihrem Bruder, der tot geboren worden war, im Zuge seiner Wehe wurden sie herausgepresst.« Philip: »Es war auch etwas nicht in Ordnung mit meinem Blut, ich benötigte Transfusionen, meine Mutter sah mich erst 24 Stunden nach meiner Geburt, und ich blieb dann auch noch eine Woche im Krankenhaus, zusammen mit meiner Mutter.« Ich dachte lange nach. Es verschlug mir den Atem. Ich: »Ihr Leben, es war in Gefahr, es war nicht sicher, ob Sie überleben würden.« Philip: »Ja, so habe ich das verstanden, es war nicht sicher, ob ich überleben würde.« Ich: »Und auch heute noch, Sie wissen nicht, ob Sie das wagen können, zu leben, lebendig zu sein, den Weg ins Leben zu finden.« Er: »Seit ich mich erinnern kann, schäme ich mich, immer, immer war das so, das ist bestimmt nicht normal.« Ich: »Und nun ist die Frage, werden Sie das Abitur bestehen, Ihr Leben leben können. Da ist eine unglaubliche Schuld und Scham, ich kann das fühlen, Sie möchten sich verstecken, gar nicht sein, als dürften Sie das nicht, als dürfte einer, der nach seinem toten Zwilling geboren wurde, nicht leben, den Weg ins Leben nicht machen.« Als ich mich von Philip nach dieser Stunde verabschiedete, ihm die Hand gab, als er an der Tür stand, wurde mir bewusst, was ich schon immer in den Momenten des Abschiedes von ihm empfunden hatte: Er war plötzlich gar nicht mehr da. Er verwandelte sich in einen Roboter. Sehr kalt bedankte er sich, ohne mich anzusehen, und ging in einer seltsam arroganten, aggressiven Attitüde fort. Er war gar nicht mehr der mich berührende, junge Mann, mit dem ich die Stunde verbracht hatte. Es war, als wäre gar nichts geschehen, als hätten wir nicht eine Stunde miteinander verbracht. Ich dachte: »Er hasst dich«, und

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fühlte meinen eigenen Hass darauf, dass er ging, als wäre nichts, gar nichts gewesen. »Er ist furchtbar, ganz furchtbar«, dachte ich, »ich könnte ihn die Treppe hinunterstoßen.« Zu seiner nächsten Stunde (der 15.) kam der Patient nicht. Das irritierte mich sehr, ich hatte mich ziemlich sicher gefühlt mit unserem Arbeitsbündnis, dem Rahmen der vereinbarten Stunden. Schon fünf Minuten nach der angebrochenen Stunde wusste ich, dass er, der immer pünktlich war, nicht mehr kommen würde, und fühlte Enttäuschung und Resignation in mir aufsteigen. Ich hörte auch nichts von ihm. Ich dachte sofort: »Er kommt gar nicht mehr, ich bin ihm zu nahe gekommen, es war alles zu viel, er will das nicht, dass ich immer wieder von seinem toten Zwilling spreche. Ich habe alles kaputt gemacht mit meinem Drängen.« Ich dachte aber auch: »Er hat das gefühlt, ich stieß ihn die Treppe hinab.« Zwei Tage später ging ich, ich war zufällig da, um die Mittagszeit ans Telefon. Ich hörte sekundenlang eine schluchzende Frau, die zwischendrin herauspresste, ich verstand es kaum: »Ich bin die Mutter von Philip.« Sofort hatte ich folgende Phantasie: »Er lebt nicht mehr. Philip hat sich umgebracht.« Ich hielt die Luft an und konnte kaum noch atmen. Da sagte Philips Mutter: »Es geht ihm sehr schlecht«, dann begann sie wieder bitterlich zu weinen. Mir war einen Moment, als ob ich Gott, an den ich gar nicht glaube, dafür danken wolle, dass Philip noch lebte. Die Mutter fasste sich langsam und begann zu berichten: »Philip sitzt in der Küche. Er hat Tag und Nacht für die Bio-Klausur morgen gelernt, nicht mehr geschlafen, er wollte Ihnen auch absagen, aber es ist irgendwie untergegangen. Er sagt dauernd: ›Und was ist jetzt, wenn ich es nicht schaffe?‹ Er hat alles, was auf dem Tisch stand, runtergefegt.« Ich: »Sie haben Angst.« Sie: »Ich habe meinen Mann angerufen, er ist jetzt auch da und er hatte die Idee, dass wir jetzt Sie anrufen sollen.« Ich: »Vielleicht wäre es gut, wenn Philip vorübergehend in eine Klinik geht, um ihn vor sich selbst zu schützen, er kann nicht mehr zur Ruhe kommen.« Sie: »Ich will ihn fragen, ob er mit Ihnen sprechen will.« Ich hörte, sie bemühte sich mehrfach. Philip sagte: »Nein, ich will das nicht.« Sie: »Er will nicht mit Ihnen sprechen.« Ich spürte, es ging alles zu schnell, meine verwirrten Gedanken ordneten sich nur langsam. Ich dachte: »Morgen, morgen ist die Prüfung, du kannst ihn jetzt nicht in die Klinik schicken, es muss eine andere Möglichkeit geben.« Ich sagte: »Es ist okay. Er will nicht. Aber Sie müssen nun mit Philips Hausarzt Kontakt aufnehmen. Sie müssen mit Philip dahin gehen und beschreiben, was passiert ist, auch dass Sie mit mir gesprochen haben und dass ich das empfehle. Philip muss zur Ruhe kommen, er benötigt ein Medikament, dass er schlafen kann, und bitte, sagen Sie ihm, ich grüße ihn und ich wünsche mir sehr, ihn am nächsten Dienstag zu sehen.« Sie begann

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Philip

erneut bitterlich zu weinen. »Frau Langer, ich danke Ihnen so sehr, ich werde alles so machen, wie Sie es gesagt haben.« Ich: »Ich stehe zur Verfügung für telefonische Gespräche mit Ihnen, mit Philip, bitte rufen Sie mich an, wenn es erforderlich ist.« »Danke, Frau Langer«, wiederholte die Mutter, »es hat mich beruhigt, mit Ihnen zu sprechen.« Ich dachte zurück und realisierte, dass es mit diesem Patienten immer um Leben oder Tod gegangen war, selbst in meinen Ferien hatte ich ihn bestellt, schon nach seiner ersten Stunde gefürchtet, er käme auf der Fahrt zu mir mit seinem Auto zu Tode. Der Anruf der Mutter hatte spontan die Phantasie des Selbstmordes Philips in mir ausgelöst. Ich hatte mich, vollkommen ungewöhnlich und sonst nicht meinem Rahmen entsprechend, für Telefongespräche zur Verfügung gestellt. Und ich hatte von der ersten Stunde an begonnen, die Begegnungen mit diesem Patienten festzuhalten, etwas, was ich sonst nicht zu tun pflege. Ich dachte plötzlich: »Du versuchst ihn am Leben zu halten mit deinem Schreiben über ihn, du hältst ihn fest.« Zu seiner nächsten Stunde kam Philip zehn Minuten zu früh. Ich brachte es nicht fertig, ihm das Warten zuzumuten. Ich sah sein übernächtigtes Gesicht und war einfach froh, dass er nun gekommen, am Leben war. Ich bemerkte auch, dass ich sofort auf eine Weise agierte, die es ihm leicht machen sollte; man könnte auch sagen: Ich ließ ihm keinen Raum. Sehr schnell, er hatte kaum Platz genommen, fragte ich nach der Bio-Klausur. Philip nickte bedächtig. »Ich habe die Klausur geschrieben, es ist vermutlich die kürzeste Klausur, die jemals in einer Abiturarbeit geschrieben wurde – aber, wenn ich Glück habe, es könnte reichen.« Wir sahen uns an und schwiegen. Ich dachte an alles, was gewesen war und was ich übersprungen hatte. Philip: »Ich hatte ja einen Zusammenbruch. Meine Mutter hat Sie angerufen, sie hatte Angst. Ich habe Sachen kaputt gemacht, alles, was auf dem Tisch stand, runtergeworfen, auch meine Lieblingstasse.« Er verzog schmerzlich sein Gesicht und fuhr fort: »Es war komisch, ich habe da gesessen und die Sachen auf den Boden geworfen, sonst habe ich nichts gemacht, einfach weiter da gesessen.« Ich: »Es muss wichtig gewesen sein. Sie konnten nicht mehr. Sie haben ja, so hat es Ihre Mutter mir berichtet, immerzu gesagt: ›Was ist, wenn ich es nicht schaffe?‹ Ich habe mir vorgestellt, da war ein ungeheurer Druck und es gab keine Fassade und keine Maske mehr und doch, Sie waren ja gleichzeitig so stumm am Tisch, an dem Sie sitzen blieben, als wären Sie das auch wieder nicht gewesen.« Philip: »Es war absolut merkwürdig.« Ich, plötzlich: »Bremse und Gas gleichzeitig.« Philip nickte in seiner langsamen Art und fuhr dann fort zu sprechen: »Kurz nachdem meine Mutter mit Ihnen gesprochen hat, habe ich mich in mein Zimmer zurückgezogen, aufs Bett gelegt. Ich habe plötzlich

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gedacht: ›Ich muss das nicht machen, nur wenn ich will, mache ich das. Es ist gar nicht wahr, dass ich das machen muss.‹ Es war gut, das so zu denken.« Ich: »Zu denken, dass es nicht um Leben und Tod geht.« Er: »Genau das hatte ich lange Zeit gedacht, aber es ist nicht so. Ich werde nicht sterben, wenn ich das nicht schaffe. Irgendwie wurde mir das klar und ich war dann ganz ruhig. Ich habe meinen Eltern gesagt, dass sie zur Arbeit gehen können. Erst wollten sie nicht, aber dann haben sie gemerkt, sie können gehen.« Ich: »Sie haben das alles mit sich allein ausgemacht. Sie sind nicht zum Arzt gegangen.« Philip lächelte: »Ich weiß auch nicht, warum ich so bin. Ich muss das so machen, ich lerne jetzt ja auch allein für Mathe. Ich denke, es soll mir keiner dazwischenfunken.« Ich: »Zu mir kamen Sie ja auch nicht in der letzten Woche – da ist ein sehr starker Wunsch in Ihnen, alles allein zu schaffen.« Philip: »Ich weiß. Warum das so ist, weiß ich nicht.« Mir fiel auf, dass ich in dieser Sitzung, in der ich einfach froh war, dass mein Patient noch am Leben war, auf der Bremse stand. Ich vermochte zum ersten Mal, im Agieren gegenüber Philip nicht auf dem Gas zu stehen. Das heißt: Ich stand zwar im Hinblick auf meine Gedanken, die sich im Hintergrund sehr schnell bewegten, auf dem Gas, aber im Zusammensein mit meinem Patienten stand ich auf der Bremse. Meine dahineilenden Gedanken sagten mir: »Nun will er geboren werden, allein, ganz allein, jenseits der Wehe des toten Bruders, er will nicht sterben, er will das ganz alleine schaffen, langsam herauskommen, nicht herausgedrückt werden. Er will auf dem Gas stehen und sagen: ›Ich darf leben.‹« Der Patient berichtete in der nächsten Stunde erneut von einem Traum: »Es war eigentlich kein Traum, es war eine starke Empfindung, sonst nichts. Ich dachte, ich sterbe. Mein Herz raste und raste, da war eine schreckliche Angst und Panik in mir.« Wir schwiegen eine Weile, dann fuhr Philip, deutlich bedrückt, fort: »Ich bin heute auch nicht allein gekommen, mein Bruder hat mich mitgenommen.« Ich: »Als ob Sie das nicht wirklich gewollt hätten.« Philip: »Doch, klar, warum denn nicht.« Wieder schwiegen wir längere Zeit. Philip, plötzlich: »Was hätte ich denn sagen sollen?« Ich: »Als ob Sie Nein hätten sagen wollen.« Er: »Das kann ich nicht, so will ich nicht sein.« Ich: »Es scheint, Sie wollten alleine fahren und fanden keinen Weg, das auszusprechen. Es schien Ihnen wie eine Aggression, auszusprechen, was Sie wünschten.« Während ich das sagte, dachte ich: »Er wollte alleine fahren, kein Zwilling gewesen sein. Die alte Schuld versperrte ihm den Mund, als müsse er nun für immer hinter dem toten Zwilling liegen, auf der Bremse stehen, während es ihn doch drängt, aufs Gas zu treten. Panik und die Angst zu sterben folgen seinem Wunsch, auf dem Gas zu stehen, als müsste dieser Wunsch bestraft werden. Und er war ja auch fast gestorben, wie tot gestellt hinter dem Bruder.« Wieder war es lange still im Raum. Ich dachte

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weiter: »Nun steht er auf der Kippe mit seinem Abi, bis zur allerletzten Sekunde. Es ist völlig unklar, ob er das darf: bestehen.« Ich schließlich: »Ich denke wieder an Ihren Traum, dieses starke Gefühl von Panik und Angst vor dem Tod, ja, ich denke an die Stunde Ihrer Geburt, an die Zeit zuvor, das Herzgeräusch Ihres Bruders verstummte plötzlich.« Er: »Das habe ich nicht gemerkt.« Ich, langsam: »Wer sagt, dass ein Säugling drei Tage vor seiner Geburt nicht wahrnehmen und empfinden kann?« Er: »Das ist schon verrückt, was Sie sagen, echt, das ist verrückt.« Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass der Patient wirklich lebendig war und wahrnahm, was ich sagte, darauf reagierte. Es war, als würde er zu mir dasselbe sagen wie in der Szene im Auto zur Freundin des Bruders: »Warum sitzt du jetzt vorne?« Er wagte es, sich mir gegenüber aggressiv zu verhalten. Ich: »Sie wollen mir sagen, das ist ziemlich komisch und abwegig, was ich denke.« Philip nickte, dann verfiel er erneut in Schweigen. Er, wieder plötzlich und wie erschöpft vom Denken: »Und trotzdem, da ist etwas eingespeichert in meinem Gehirn, das muss ich manchmal denken, eine alte Panik.« Die Behandlung von Philip führte dazu, dass ich mich erstmals mit der pränatalen Thematik auseinandersetzte. Ich hatte bisher noch kein einziges Buch zu diesem Thema gelesen. Alles schien logisch, wenn ich den Bildern des toten, vor ihm liegenden Zwillings Bedeutung gab, dessen abebbenden Herztönen, der Geburt, während der Philip fast gestorben wäre. Auch seine Zweifel beschäftigten mich stark. War ich wirklich seltsam? Ich vermutete ja nur und gewann aus meinen Vermutungen eine Art von innerer Gewissheit. Ich las dann die Studien Alessandra Piontellis (1996), die Zwillingsföten mit Ultraschall beobachtet und ihre Beobachtungen nach der Geburt bis zum vierten Lebensjahr fortgeführt hatte. Ich war sofort fasziniert von ihren Beschreibungen. Von der ersten Beobachtung an (in der 18. bzw. 20. Schwangerschaftswoche) waren die Föten bereits individuell, unverkennbar. Sie bewegten sich in der Blase der intrauterinen Welt. Die intrauterine Welt, so schien es, war eine Art von Vorwegnahme des extrauterinen Raumes, in dem die Geborenen sich bewegen würden. Viele Eigenarten behielten sie nach der Geburt bei: Freundlichkeit oder Feindlichkeit im Umgang miteinander im engen Raum, Schnelligkeit oder Langsamkeit, Dominanz oder eine abwartende, schüchterne Art, einen starken Wunsch nach Berührung oder eine Panik davor. Für mich war das Lesen wichtig. Es beruhigte mich. Ich fand einen Ort für meine mir oft unheimlich erscheinenden Phantasien. Zu Beginn der ersten Stunde nach den Osterferien rief Philip an und erklärte, dass er losgefahren sei und sein Auto plötzlich begonnen habe zu qualmen. Ich sagte »Ach …«, da warf er sehr schnell ein: »Ich würde sehr gerne in dieser Woche noch kommen. Hätten Sie einen Ersatztermin?« Wir vereinbarten einen späten Freitagstermin.

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Der Patient wirkte wie abgetötet (wie ein Zombie) auf mich. Ich kam mir vor, als würde ich ihn wiederbeleben. Seine Leblosigkeit ängstigte mich. Seltsam flach sprach er von der Woche in Holland mit den alten Freunden. Sie hätten Gras geraucht. Ich: »Wie war das für Sie, was haben Sie verspürt?« Er, sehr langsam, wie nachdenkend: »Ich weiß nicht, ich glaube, es hat mich beruhigt, ich war überhaupt so ruhig die ganze Zeit, als sei mir alles egal, wie ein Automat.« Ich: »Sie fühlen sich nicht lebendig, wie tot, wie ein Automat.« Er, plötzlich wie aufgehellt: »Genau, wie tot, es ist auch alles nicht mehr wichtig.« Ich sah ihn plötzlich vor mir, zu Hause, in seinem Zimmer, völlig verstummt. Mir fielen auch das qualmende Auto und die letzte Stunde vor den Ferien ein, in der er mit dem Bruder gekommen war, ohne dies wirklich gewollt zu haben. »Mein Bruder ist gestern gerade noch so abgeflogen«, bemerkte er abrupt, »der Flugverkehr wurde kurz danach aufgrund des isländischen Vulkanausbruchs komplett eingestellt.« Ich reagierte ebenso abrupt: »Vielleicht sind Sie froh, dass er weg ist.« Ich nahm war, wie er sich wand. Er: »Es ist auch schade, jetzt ist er sehr lange weg. Ich habe ihn auch kaum gesehen. Er hat mich genervt, er will immer alles erklären.« Philip schwieg. Ich, nach einer Weile: »Als hätte er Sie bedrängt.« Philip, plötzlich grinsend: »Er ist dann meistens einfach rausgelaufen am Schluss.« Ich: »Als hätten Sie ihn provoziert.« Philip, wieder grinsend: »Ich habe immer Nein gesagt, wenn er etwas meinte, erklären zu können.« Ich: »Da waren Sie schon lebendig, scheint mir, kein Automat.« Ich merkte, dass er gar nicht mehr aufhören konnte zu grinsen. Er: »Es hat mir schon Spaß gemacht, aber es ist auch schade, jetzt, wo er so lange weg ist.« Ich, wie tröstend: »Er wird wiederkommen und vielleicht war das wichtig, zu bestehen, sich nicht in die Tasche stecken zu lassen von ihm.« Er: »Schon komisch, wir wissen beide, dass wir kämpfen, aber keiner spricht es aus. Mein Vater, er ist ganz anders, wenn mein Bruder da ist. Er behandelt ihn mit so einer Art von Respekt, er schaut nicht auf ihn hinab. Ich habe aufgehört, mit meinem Vater zu kämpfen, ich gehe ihm aus dem Weg.« Wir schwiegen. Zum ersten Mal dachte ich lange über Philip und seinen Vater nach, wie er im Schatten des großen Bruders stand, wie er im Schatten seines Zwillings gelegen hatte. Philip: »Ich habe mir auch etwas vorgenommen. Ich weiß ja noch nicht, ob es klappt mit dem Abi, in die Nachprüfung in Mathe muss ich sicher, und ich habe auch noch gedacht, auch wenn ich wiederhole oder, das wäre ja eine Alternative, ein Praktikum für das Fachabi mache, ich werde jedenfalls im Sommer ganz allein verreisen, so zwei, drei Wochen. Ich habe das noch nie gemacht und ich glaube, ich mache es jetzt auf jeden Fall. Ich will alles ungeteilt erleben, für alles allein die Verantwortung übernehmen.« »Das klingt wunderbar«, sagte ich sofort und dachte dabei für mich: »Es ist eine wunderbare Idee,

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ganz allein. Er will wissen, wer er ist, er will ohne das Phantasma des Zwillings leben, sich freischaufeln, geteilt und einzeln sein.« Wie beiläufig erwähnte er in der nächsten Stunde, dass er wieder etwas vom Küchentisch geworfen habe. »Ich war allein in der Küche, mein Vater war nicht da. Meine Mutter hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen«, führte er aus und schwieg eine Weile. Abrupt fuhr er fort: »Ich habe ganz ruhig auf dem Stuhl gesessen, dann habe ich die Gabel genommen.« Ich: »Eine Gabel.« Er: »Es hat dann einen ziemlichen Schlag getan und geklirrt, meine Mutter ist gekommen und hat gefragt, was los sei, ich habe gesagt, es sei alles okay.« Ich: »Eine Gabel, das war so laut.« Er – ich meinte einen geheimen Triumph in seinen Augen zu sehen: »Ich habe die Gabel gegen das Fenster geschleudert. Ich habe mir dabei zugesehen, ich war ganz ruhig.« Ich: »Als wären das gar nicht Sie, der das macht, wie auf der Bremse und dem Gas gleichzeitig.« Er: »Ich wollte schon. Ich hatte eine solche Wut, ich habe wieder überlegt, was wird, wenn ich es nicht schaffe. Mein Mathelehrer hatte kurz zuvor bekannt gegeben, es gebe einen, der habe null Punkte in der Klausur, mehr wollte er nicht sagen.« Ich: »Als ob das er gewesen wäre, dem Sie die Gabel entgegenschleudern wollten.« Er, plötzlich grinsend: »Schon, auf jeden Fall, und da war noch was, am Tag zuvor, da hatte ich für uns Risotto gekocht. Der Topf stand auf dem Tisch. Da hat mein Vater wieder angefangen, mit mir so komisch zu sprechen, als hätte ich von nichts eine Ahnung. Ich kann mich nicht erinnern, um was es ging, aber ich weiß, ich habe meine Argumente vorgetragen und da hat er so verächtlich geguckt und etwas über meinen Bruder gesagt, den stellt er mir gerne als leuchtendes Vorbild hin. Da habe ich den Topf genommen und auf den Boden geworfen. Dann bin ich aufgestanden und in mein Zimmer gegangen.« Ich: »Sie scheinen eine Art von Gefallen daran zu finden, nicht mehr auf der Bremse zu stehen.« Er: »Aber ich schäme mich auch und denke: ›Das bin ich nicht.‹« Ich: »Ich habe schon den Eindruck, das sind Sie auch, und es fällt Ihnen schwer, das zu akzeptieren und Worte zu finden für Ihre Wut, die stürmt jetzt so ungebremst aus Ihnen heraus, als teilten Sie sich nun auf in den Philip, der auf der Bremse, und den, der auf dem Gas steht. Die beiden finden einfach nicht zusammen.« Als der Patient zu seiner nächsten Sitzung kam, meinte ich meinen Augen nicht zu trauen. Er sah unglaublich gut aus. Er lächelte. »Es ist komisch«, so begann er, »aber ich fühle mich plötzlich so klar. Ich weiß jetzt, wo ich dran bin, das hat mir das ganze Jahr über gefehlt. Plötzlich kann ich wieder lernen, es ist gar kein Problem. So wie ich jetzt bin, hätte ich schon früher sein müssen.« Ich: »In letzter Sekunde legen Sie los.« Er: »Ich fühle mich so ausgeglichen, wie vielleicht noch nie in meinem Leben. Wenn es sein muss, wiederhole ich das

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Jahr. Ich habe auch in Ethik nun 14 Punkte in der Arbeit bekommen, Erkenntnistheorie, darüber werde ich auch meine mündliche Prüfung machen, und in Bio habe ich zwölf Punkte.« Ich: »Als ob Sie jetzt wissen, wo Sie gut sind und Bestand haben.« Er: »Da war diese Nebelwand, ich war umgeben von einer undurchdringlichen Nebelwand, ich wusste gar nicht mehr, wer und wo ich war. Plötzlich kann ich sehen, was wichtig ist, ich sehe einen Weg.« Ich hielt die Luft an, als er das sagte. Ich dachte: »Nun musst du ihn gehen lassen, einfach gehen, er sieht ja nun klar. Du wirst nicht noch einmal anfangen, ihn zu verwirren. Auf seine Weise versteht er vieles. Du wirst nicht noch einmal davon sprechen, dass er nun geboren werden will.« Ich war mir plötzlich sehr sicher: Meine Phantasien hatten einen Weg eröffnet, aber sie waren auch immer dabei gewesen, Philip zu bedrängen, zu strangulieren, ihm den Atem zu nehmen. Ich war auch der tote Zwilling, der ihm den Weg verstellte. Nun, da die Nebelwand (des undurchdringlichen Uterus) sich lichtete, Philip geboren werden wollte, verstummte ich, dem Zwillingsbruder gleich. Es ging Philip schlecht, als ich ihn wiedersah. Offensichtlich war meine Euphorie zu früh gewesen. Ich war bereits mit allem fertig gewesen, Philip vorausgeeilt, hatte ihn zurückgelassen und damit das getan, was ich am wenigsten zu tun gewünscht hatte. Philip hatte nach seiner Zuversicht der letzten Sitzung nun stark damit zu kämpfen, dass seine Deutschklausur, mit der er sich sicher gefühlt hatte, nur mit einem Punkt bewertet worden war. Er erzählte: »Ich war wie erstarrt, als ich das Ergebnis hörte, ich konnte es nicht glauben. Es war ja sozusagen mein Wunschthema gewesen, mit dem ich mich auszukennen meinte: Etwas von Kafka. Und dann hat es wieder angefangen, es ist jetzt wieder so, ich kann nicht lernen. Ich habe nur gedacht, ich könnte es. Heute habe ich in allerletzter Sekunde meine Gliederung für die Präsentation abgegeben. Ich habe immer gedacht: Schreibst du nur Mist, weißt du überhaupt, was du da schreibst? Wird es sein wie in der Deutschklausur?« Er verfiel in ein langes Schweigen. Ich: »Das hat Sie zurückgeworfen.« Er: »Andererseits, nun ist alles klar, ich muss die Nachprüfung in Mathe machen und in der Präsentation brauche ich acht Punkte.« Er wirkte seltsam abgeschottet auf mich und als sage er etwas scheinbar Vernünftiges, das ihm aber völlig fremd sei. Ich merkte, wie ich nachzudenken begann: »Wie will er das eigentlich schaffen, so zurückgeworfen wie jetzt?« Natürlich dachte ich auch: »Ist es nicht erneut die Szene seiner Geburt?« Ich: »Ich bin mir plötzlich sicher, Sie werden sich keine Hilfe suchen, da ist so ein Stolz, als ob Sie es alleine schaffen müssten.« Philip nickte: »Sie haben recht, ich nehme es mir immer vor, aber ich werde es nicht tun. Ich kann nicht. Mein Stolz ist eigentlich falsch, er hindert mich. Ich denke ja auch immer, es soll mir keiner dazwischenfunken, völlig verrückt, ich bräuchte doch

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wirklich Hilfe.« Ich: »Sie wollen es alleine schaffen oder … ich weiß nicht, was ich sagen soll, was sonst, und ich weiß ja, das ist schwer für Sie, wenn ich das sage, es ist, als wollten Sie noch einmal allein geboren werden, keiner soll Ihnen dazwischenfunken und vor Ihnen liegen, die Wehe für sich gebrauchen.« Philip: »Es ist so ein falscher Stolz, und ich habe auch Angst, wenn ich mir helfen lasse und es trotzdem nicht schaffe, das könnte ich nicht aushalten.« Ich nickte: »Als ob Sie dann sterben müssten, wie Ihr Zwillingsbruder.« Ich bereute sofort, was ich gesagt hatte und dachte: »Kannst du nicht ein einziges Mal innehalten und warten?« Philip, sehr langsam: »Vielleicht, es wäre das Allerschlimmste, aber ich kann das auch so merken, ich stehe mir selbst im Weg mit meinem Stolz.« Ich: »Wie schwer das wohl für Sie sein mag, zu mir zu kommen?« Ich nahm wahr, wie er nahe daran war, aufzustöhnen. Nach dieser Stunde, Philip war mein letzter Patient an diesem Tag gewesen, überfiel mich eine tiefe Scham. Es wurde schon dunkel, Philip war lange gegangen, da saß ich noch immer in meiner Praxis. Ich fühlte mich sehr schwer, als ob ich gar nicht mehr aufstehen könnte. Ich dachte daran zurück, wie ich die Information des Entwicklungsbogens gelesen hatte, mir der Atem eng geworden war und die Wände des Zimmers auf mich zu gerückt waren. Auf einmal wusste ich: »Das bist du, du hast schreckliche Angst, du willst nicht der Zwilling sein, denn er war es, der sterben musste. Nun drängst du voran, als könntest du vergessen machen, dass der, der voraneilte, starb.« Der Grund für meine Obsession, das verstand ich plötzlich, war unbewusste Todesangst. In meinem Vorauseilen suchte ich dem Tod zu entgehen, kämpfte mit Philip, der in der Übertragung mein Zwilling war. Es war mir unheimlich, in dieser Weise nachzudenken. Ich hatte dabei auch folgende Phantasie: Der vorne liegende, sterbende Zwilling kämpfte panisch um sein Leben und drängte voran, während Philip, der hinten liegende Zwilling, sich in der Höhle des Uterus verkroch. Es war, als müsse der Täter, der vorandrängt, sterben. Philips immer wieder auftauchender Wunsch, vorne zu sitzen, aktiv zu werden, das Abi zu schaffen, stand im Schatten dieser Todesangst. Es war nicht nur die Überlebensschuld, die das bewirkte; es war die unbewusst verankerte Gewissheit, sterben zu müssen, sobald er seine Höhle, in die er sich zurückgezogen hatte, verlassen würde. Ich erinnerte mich der Szenen, in denen er das Geschirr vom Tisch gefegt, die Gabel gegen die Fensterscheibe geschleudert und dabei wie gelähmt am Tisch gesessen hatte. In diesen Szenen hatte er, so wie er es mir in seiner allerersten Stunde beschrieben hatte, auf dem Gas und der Bremse gleichzeitig gestanden. Er war gleichzeitig der Zwilling, der hinten lag, und der, der vorne lag. In unseren Sitzungen sprach er mir die Rolle des vorne liegenden, manisch aktiven Zwillings zu. Bereits in unserer ersten Stunde hatte ich die Phantasie, er könne mit seinem Auto auf dem Weg

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zu mir zu Tode kommen. Als die Mutter mich kontaktierte, dachte ich sofort, Philip habe sich umgebracht. Auch ging er mir zweimal verloren und ich rechnete nicht mehr damit, ihn wiederzusehen. Vielleicht hatte er nicht nur Angst, mir zu begegnen und Hilfe zu suchen (»Ich will nicht, dass mir jemand dazwischenfunkt«), vielleicht hatte er auch Angst davor, mich zu töten. Die Hilfe des vor ihm liegenden Zwillings, in dessen Wehe geboren zu werden, hatte er abgelehnt. Genau genommen hatte er gar nicht zur Welt kommen wollen, sie hatten ihn mit Gewalt herausgepresst. Als ich Philip zu seiner nächsten Stunde sah, verspürte ich den Wunsch, mich an das zu erinnern, worüber ich nachgedacht hatte. Es war aber wie ausgelöscht. Mein Kopf war vollkommen leer. Der Patient sah gut aus, obwohl er angab, immer weniger schlafen zu können. »Mir ist auch etwas eingefallen«, berichtete er, »diese merkwürdigen Träume, die gar keine Träume sind, ich hatte sie schon als kleines Kind [vom vierten bis zum achten Lebensjahr]. Auch damals war es, als läge ich wach auf meinem Bett, alles war dunkel und ich hörte seltsame Geräusche, manchmal einem Lachen, einem Schnarchen ähnlich, und ich hatte solche Angst, es war gar nicht auszuhalten. Ich habe geschrien. Meine Eltern haben mich dann in ihr Bett geholt, alleine hätte ich es nicht mehr ausgehalten. Und auch, als es dann aufhörte, ich hatte im Hinterkopf immer diese Angst, es könne wiederkommen, ich war nie ruhig und sicher, als hätte ich alles gewusst.« Ich: »Dass es wieder kommen würde, als ob da etwas andrängt in Ihnen, eine alte Angst, die ihr Recht verlangt. Ich denke und denke darüber nach und ich komme zu dem Schluss, es ist die Angst vor Ihrer eigenen Aggression, als dürfe sie nicht sein, als ängstige sie Sie zu Tode.« Philip: »Es wird mir bewusst, ich habe ja diesen Zynismus entwickelt, er rettet mich. Ich sage nie, was ich meine, ich mache einen riesigen Umweg.« Ich: »Ja, eine Art von umgeleiteter Aggression, das haben Sie für sich erfunden, es war sicher wichtig.« Er: »Es fehlt aber etwas. Es ist nicht direkt, als ob es nicht ernst wäre. Manchmal hasse ich das.« »Sie sehnen sich nach dem direkten Weg, sie fegten das Geschirr vom Tisch.« Er: »Das war dann komisch für mich, so kannte ich mich nicht.« Ich: »Als ob Sie nur auf diese extreme Weise erkennen konnten, da ist etwas, das gehört auch zu mir.« Er, sehr schnell: »Ich war ja immer so ein braves Kind, nie trotzig oder so, meine Mutter sagte, ich habe niemals geschrien, ich war immer ruhig, und wenn mein Bruder – er war sehr aggressiv – mich traktieren wollte, haben meine Eltern mich immer beschützt.« Ich: »Ich denke darüber nach und überlege, haben Sie, der kleine Bruder, den großen wohl provoziert und seine Bestrafung ersehnt?« Er, sofort: »Niemals. Ich habe nur Schutz gesucht.« Ich: »Ich versuche mir das vorzustellen, er stürzte sich vielleicht auf Sie, Sie mussten um Hilfe rufen, es wird Ihnen gefallen haben, wenn sie ihn bestraften. Ein Engel allein wäre frei von diesem Gefühl.« Er lachte in sich

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hinein und sagte schließlich: »Nein, ein Engel war ich nicht.« Ich dachte sofort über das Wort »Engel« nach, es bezeichnet ja einen Menschen, der so friedlich im Leben gewesen ist, dass er im Tod, dem Jenseits, zum Engel wird. Währenddessen herrschte zwischen uns ein tiefes, anhaltendes Schweigen. Philip: »Warum ist das so bei mir, dass ich nur Angst haben kann? Angst vor mir selbst? Dass ich so schlimm finde, was anderen Menschen selbstverständlich ist, dass ich so extrem werden muss, dass ich die Töpfe vom Tisch gefegt habe, warum ist das so?« Ich, sehr leise: »Als hätten Sie Angst vor sich selbst, Ihrer Lebendigkeit, als könne sie tödlich sein.« Er: »Aber warum, warum? Einmal hat meine Mutter gesagt, mein Bruder und ich, wir hätten uns in ihrem Bauch bekämpft.« Er machte mit Gesten sehr anschaulich klar, wie der Bauch hin und her wogte, getrieben von Kämpfen. Ich: »Es war ein Kampf um Leben und Tod, es war ein schicksalhafter Kampf mit unvorhersehbarem Ausgang.« Er: »Aber, existierte ich da schon? Es ist mir so unheimlich. War ich das, Frau Langer? Das will ich nicht gewesen sein.« Ich nickte. »Ich kann das fühlen, es ist richtig schwer und es muss immer wieder verloren gehen, dass Sie vielleicht kämpften, vorne sitzen wollten.« Ich spürte, wie angestrengt, wie aufgeladen ich war, als Philip ging, als hätte ich Mühlsteine gewälzt. Philip bestand die Nachprüfung in Mathematik, aber das gesamte Abitur nicht. Er bezog das ehemalige Dachzimmer seines Bruders und verließ sein Zimmer, das neben dem Schlafzimmer der Eltern gelegen hatte. Er verwirklichte seinen alten Plan und fuhr zwei Wochen allein nach Prag. »Ich habe nachgedacht«, sagte er zu mir, als wir unsere Sitzungen wieder aufnahmen, und ich verstand sofort an der Art, wie er sprach, dass er sich nun auch von mir abgrenzte, von meinen voraneilenden Gedanken. Er fuhr währenddessen fort: »Ich glaube, das alles ist, weil meine Mutter damals, nach dem Tod meines Bruders, versucht hat mich übermäßig zu schützen. Ich habe unter einer Glasglocke gesessen. Ich wollte, dass sie für mich spricht, ich will es irgendwie immer noch.« Ich kann gar nicht sagen, wie verblüfft ich war. Ich dachte sofort: »Er hat recht, es ist ganz unglaublich, Philip findet nun zu einer ganz eigenen Weise des Nachdenkens, nun liegt er mir voran.« »Im Hintergrund«, so Philip, »lauert weiter die Angst, das schreckliche Lachen, ich weiß nicht, ob ich es schaffen kann, auch wenn ich mich entschieden habe, das Schuljahr zu wiederholen.« Ich warf nun ein, dass auch zu entscheiden sei, ob er nach den Sommerferien weiter zu seinen Stunden kommen wolle, ich würde dann einen neuen Antrag stellen müssen. Philip, zögernd: »Ich bin ja gekommen wegen einer alten Geschichte, sie begleitet mein ganzes Leben.« Daraufhin verfiel er in ein langes Schweigen. »Jetzt soll ich für ihn sprechen«, dachte ich, »ich werde, ich will nicht.«

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Es war der Patient, der in seiner nächsten Sitzung auf das Thema seiner Stunden nach den Ferien zurückkam. Er sagte: »Ich will das weitermachen, die Therapie, ich habe es ja schon letztes Mal gesagt, ich brauche das, um meine Gedanken zu ordnen und zu verstehen, was in mir vorgeht.« Ich: »Sie haben es zwar angedeutet, ich wusste aber nicht, wie Sie sich entscheiden würden. Und ich bin froh, dass Sie das nun sind, der darauf zurückkommt, denn ich habe auch nachgedacht, ich will nicht für Sie sprechen.« Philip lächelte, langsam fuhr er fort: »Der Gedanke kommt immer wieder: Was soll ich machen, wenn es nicht klappt? Ich hatte Angst zu sterben, als ich versucht habe das Abi zu machen, gleichzeitig habe ich keine sogenannte Nachhilfe gewollt.« Ich: »Eine alte Panik, da war die gewaltsame Nachhilfe zum Zeitpunkt Ihrer Geburt. Fast wären Sie gestorben, Ihrem Bruder gleich. Als seien Sie zum Leben gezwungen worden.« Philip sah mich verwirrt an. Wir schwiegen, eine Stille, die ich als Totenstille empfand, breitete sich aus. Er: »Frau Langer, ich will es nicht haben, dass es so ist.« Ich nickte. Er: »Und doch, es ist so.« Ich: »Damals, als der Zusammenbruch war, Sie wurden überfallen von panischer Angst, und nun verstehe ich plötzlich, Sie müssen sich gefragt haben: ›Was soll ich machen, wie soll ich es schaffen, wenn ich mich von meiner Mutter nicht trennen, endlich einzeln und ungetrennt sein kann? Werde ich jemals alleine für mich sprechen können?‹« Philip nickte schwer, plötzlich sprudelte es aus ihm heraus: »Ich habe früher mit niemandem außer meiner Familie gesprochen und ich hatte richtig Angst, wenn die Lehrerin mich ansprach.« Zögernd fuhr er fort: »Gestern habe ich es geschafft, einen alten Freund anzurufen.« Ich, spontan: »Sie haben es geschafft.« Philip lächelte und sagte: »Manchmal schaffe ich jetzt was.« Es wurde mir in den darauf folgenden Sitzungen unmerklich bewusst, wie ich leiser, weniger aktiv wurde. Es war Philip gewesen, der das Thema des Ungetrenntseins von der Mutter formuliert hatte, seines fortgesetzten Zwillingsdaseins, so nannte ich das für mich. Ich merkte, dass er sich entwickelte. Das Thema unserer Stunden veränderte sich, wir bewegten uns von der Zeit, als er noch im Bauch seiner Mutter war, fort. Wir hatten die Zeit erreicht, in der seine Mutter ihn mit der Glasglocke abschirmte und beschützen wollte vor dem Leben, oder besser: vor dem Tod. Einmal sagte Philip: »Ich wäre auf das alles nicht gekommen, diese Erinnerungen, wie meine Mutter immer versucht hat, mich vor allem zu beschützen, mich nicht losließ und ich sie auch nicht, wenn Sie damals nicht damit angefangen hätten, über das alles vor und während meiner Geburt zu sprechen. Ich fand es richtig seltsam, verrückt, aber trotzdem, es war wichtig, als hätte ich sonst auf alles nicht kommen können, was danach geschah.« Intuitiv hatte ich Abstand genommen von meiner zu Beginn der Behandlung geäußerten Idee einer zweistündigen Frequenz. So wie sie begonnen hatte,

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Philip

in einstündiger Frequenz, entfaltete diese Behandlung eine Dichte und Schnelligkeit, die mir manchmal den Atem nahm. Über einen langen Zeitraum hinweg ging es, so schien es mir, um Leben und Tod, begleitet von einer starken Euphorie – eine gefährliche Fahrt, den Fuß immer auf dem Gas, als ob er doch noch geboren werden, nicht herausgepresst werden müsste. Wir aber mussten den langsamen Weg wählen. Als die Abiklausuren erneut anstanden, rief mich Philip, wiederum kurz vor einer unserer Sitzungen, an: »Ich kann jetzt eine Weile nicht mehr kommen. Ich hoffe, Sie können das verstehen.« Ich: »Ich denke sofort, Sie wollen das jetzt ganz alleine machen.« Er: »Frau Langer, ich muss. Ich werde Sie im April anrufen, ich wünsche mir sehr, dass das möglich ist.« Ich: »Rufen Sie mich an, das geht in Ordnung.« Ich verstand, dass nun die Zeichen auf zwölf Uhr mittags standen, dass Philip allein in sein Duell zog, dessen Ausgang ungewiss war, und die Glasglockenmutter, die ich in der Übertragung gewesen war, und damit auch die verhasste (Geburts-)Nachhilfe, zurückließ. Ich dachte noch einmal an das in Hinblick auf Philip schicksalhafte Thema von Leben und Tod, daran, dass nur einer der Zwillinge überleben konnte. Es war, als dürfte ich nicht übrig bleiben, als würde sich im Abbruch der Behandlung die Stunde seiner Geburt wiederholen. Gleichzeitig war es eine neue, andere Art von Geburt. Ich hörte nie wieder von Philip. Abschlussbetrachtung des Behandlungsverlaufs

Von Anfang an habe ich meinen sonst üblichen Rahmen in der Behandlung von Philip erweitert: gleich zu Behandlungsbeginn einen Ferientermin ausgemacht, Philip nicht im Wartezimmer warten lassen, mich für Telefongespräche zur Verfügung gestellt und von der ersten Stunde an die Begegnungen mit diesem Patienten festgehalten. Ich hatte ihn mit all dem am Leben zu halten versucht. Darüber hinaus habe ich nicht, wie ich zu Anfang der Behandlung im Sinn hatte, eine zweistündige Frequenz etabliert, sondern auf Dauer eine einstündige akzeptiert. Bereits in ihrer einstündigen Frequenz entwickelte die Behandlung eine extreme Dichte und Geschwindigkeit. Bald beherrschten mich in der Übertragung Phantasien zur Geburt Philips. All meinen gegenläufigen Bemühungen zum Trotz konnte ich mich in den Sitzungen nicht beherrschen, agierte übereifrig, drängte. Ich war in der Übertragung der Zwilling, der vorne gelegen hatte, meinem Patienten den Weg ins Leben verstellt und schließlich mitgerissen hatte. Philip suchte in seiner langsamen Weise jedoch einen eigenen Weg, seinen inneren Spielraum. Er wollte nicht mitgerissen werden. Trotz meiner Einsicht in diese Dynamik, kam ich immer wieder auf die Geburtssituation zurück, es war wie eine Obsession.

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Indem Philip immer wieder zu vergessen schien, was ich ihm in den Sitzungen gesagt hatte, begann er mehr und mehr zu leben und sich vom Trauma seiner Geburt zu befreien. Um mich zu bremsen, stellte er immer wieder eine Situation her, in der alles, was zwischen uns geschehen war, wieder verloren ging. Das bedeutete aber auch, dass er sich in Passivität fallen ließ und mir die aktive Rolle zudachte, diese Konstellation unbewusst inszenierte. Er nutzte schließlich meine Präsenz, meine Phantasien und dass ich nicht starb, wie sein Bruder, um zu bestehen und noch einmal geboren zu werden. So gelang es dem Patienten langsam, mir gegenüber einen Raum zu beanspruchen. Im Verlauf seiner Stunden hatte er einen wirklichen Spielraum für seine aggressiven Bestrebungen entwickelt. Hierzu gehörte, dass er den Rahmen unserer Behandlungsstunden öffnete und mich unvermutet zurückließ.

Sylvia, 17 Jahre – Grund der Anmeldung: Essstörung (280 Stunden, viermal wöchentlich eine Stunde) Darstellung des Behandlungsverlaufs

Nachdem Sylvia mich lächelnd mit einem forschen Handschlag begrüßt hatte, schwieg sie. Sie lächelte mich jedoch weiter an und suchte immer wieder den Blickkontakt zu mir. Ihr Lächeln hatte etwas Flehendes. Während wir so schweigend beieinander saßen, setzte sich die Zeile eines alten, von mir einmal geliebten Liedes von Franz Schubert in meinem Kopf fest und wiederholte sich endlos: »Leise flehen meine Lieder durch die Nacht zu dir.« Dabei versank ich in meinen Gedanken. Es war Sylvia, die schließlich zaghaft zu sprechen begann: »Meine Lehrerin hat gesagt, dass ich zu Ihnen kommen soll. Ich habe so weinen müssen nach der Stunde, als wir über Essstörungen gesprochen haben – ich kann nicht mehr aufhören zu essen, ich habe Angst.« Tränen sammelten sich in ihren Augen. Mir war, als sähe ich sie erst jetzt, nachdem sie gesprochen hatte, an. Sie war sehr dick, später erfuhr ich, dass sie 90 kg wog. Aber da war noch etwas, von dem ich fühlte, dass es mir verboten war, es zu sehen: Sylvia war ein afrikanisches Mädchen mit sehr dunkler Haut. Abrupt fuhr sie fort: »Ein Mädchen aus meiner Klasse hat versucht sich umzubringen.« Ich: »Als ob Sie mir nun auch etwas von sich selbst sagen wollten.« »Bitte, bitte, sagen Sie nicht Sie, bitte, bitte, das geht gar nicht mit mir.« Ich nickte: »Okay, es muss sehr wichtig sein.« Sylvia, laut aufatmend: »Sie haben recht. Ich habe auch schon daran gedacht. Aber ich habe Angst, dass es weh

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Sylvia

tut.« Ich, spontan: »Wie gut, dass du diese Angst hast.« Sie, irritiert: »Meinen Sie?« »Ich finde, das gibt uns eine Chance«, erwiderte ich. Sylvia begann plötzlich zu strahlen, ganz still vor sich hin, und ich dachte: Es hat ihr gefallen, was ich gesagt habe, es hat ihr gefallen, dass ich »uns« gesagt habe. Ich erfuhr, dass Sylvia eine Einser-Schülerin war, darauf war sie wirklich stolz. »Sie mögen mich aber nicht in meiner Stufe«, sagte sie, »keiner mag mich, ich bin fast immer allein. Da ist nur Naoko, mit ihr telefoniere ich ab und zu über die Hausaufgaben.« Sie begann dann stürmisch über die vielen Zwistigkeiten mit ihrer Mutter zu berichten. Als ich das Wort »Vater« aussprach, war es, als hätte ich ein Sakrileg begangen. »Mein Vater ist in Afrika«, sagte sie hart und schien zu versteinern. Ich: »Weit weg.« Sie: »Das ist mir egal, total. Er ist mir total gleichgültig.« Die Erstgespräche mit Sylvia erlebte ich als dramatisch. Mir war, als könne sie mich immerzu über eine hohe Mauer hinweg gerade so noch ansehen mit ihrem flehenden Blick. Ich konnte stark empfinden, eine wie schmerzliche und einsame Landschaft es war, aus der heraus sie zu mir gekommen war. Sie war wirklich hungrig, so schien es mir, und es gab kein Essen der Welt, das ihren Hunger stillen konnte. Vermutlich war dies der mir damals unbewusste Beweggrund, ihr eine hochfrequente Behandlung anzubieten. Ich spürte ihren Hunger und ihre Angst vor diesem Hunger, der auch ein Hunger nach dem Objekt war. »Ich habe ein Buch gelesen«, sagte sie, »da gibt es einen rätselhaften Mord an einer Psychoanalytikerin, die von vielen Menschen gebraucht wurde.« Ich, lächelnd: »Ist gar nicht so leicht, jemanden brauchen zu müssen.« Sie, sehr trocken: »Mhm.« Sylvia war das Kind einer deutschen Mutter und eines afrikanischen Vaters. Bereits als ihre Mutter mit ihr schwanger war, ging der Vater zurück nach Afrika, wo er eine große Familie gegründet hat. Bis vor vier Jahren kam er beruflich jedes Jahr zweimal nach Frankfurt, in die Stadt, in der Sylvia und ihre Mutter lebten. Mehrfach hatte er die Tochter nach Afrika eingeladen, was diese stets abgelehnt hatte. Vor einigen Jahren lebte ein afrikanischer Halbbruder Sylvias ein Jahr bei ihr und ihrer Mutter. Er studierte in Frankfurt. Sylvia kam mir vor wie ein Mädchen, das alles wollte, so viel, dass es ihr Angst machte. »Ich will nicht die Kontrolle verlieren«, war eine stehende Redewendung von ihr. Kaum hatte die Behandlung begonnen, entwickelte sie eine ungemein provozierende Art und Weise, mit mir zu kommunizieren. »Das wissen Sie noch gar nicht«, fuhr es patzig aus ihr heraus, »ich lutsche am Daumen. Ich habe auch so ein kleines Kissen, an das ich mich dabei schmiege. Meine Mutter bringt das zum Wahnsinn. Sie fängt an zu schreien, wenn ich das mache.« Ich: »Mhm.« Sie:

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»Ich will nicht erwachsen werden, ich will nicht. Niemals werde ich aufhören Daumen zu lutschen.« Ich: »Ob ich jetzt auch bald anfange zu schreien?« Sylvia, grinsend: »Nur zu. Es gibt da eine Geschichte, die mir meine Mutter wieder und wieder erzählt. Da war ich erst zwei Jahre alt und wir waren gerade vom Spielplatz nach Hause gekommen. Meine Mutter wollte mir ein Rührei machen. Ich wollte aber ein Spiegelei. Und ich habe geschrien und geschrien, bis meine Nase blutete und alles von Blut verschmiert war. Meine Mutter hatte Angst, es könne jemand kommen und das sehen.« »Du willst mir sagen, wie stark du kämpfen kannst. Ich soll schon aufpassen, dir nicht ein Rührei servieren, wenn du es gar nicht willst.« Sylvia, plötzlich traurig: »Warum hat sie es mir nicht gegeben, es wäre doch so einfach gewesen?« Ich: »Du hast ja recht. Als ob es um etwas ganz anderes gegangen wäre, gar nicht um das Essen, als hättet ihr an einem Schauplatz gekämpft, der nicht wichtig war.« Sie, sehr nachdenklich: »Frau Langer, worum es wohl ging?« »Sylvia, ich weiß es nicht, aber es war richtig ernst, so als ginge es ums Überleben, du hast ja auch geblutet.« Sylvia brach in ein verzweifeltes Schluchzen aus und konnte sich nicht trösten bis zum Ende unserer Sitzung. Auf dem Heimweg, so erzählte sie mir in unserer nächsten Sitzung, stürzte sie vom Rad und verletzte sich ihre rechte Hand. »Ich kann jetzt eine Weile nicht mehr Daumen lutschen, das muss erst heilen. Ich lutsche ja immer nur meinen rechten Daumen«, sagte sie mir ziemlich unaufgeregt, so als sei das gar keine große Sache. »Komisch«, erwiderte ich, » es kommt mir vor, als wolltest du etwas Neues ausprobieren.« Sylvia lächelte und schwieg. Meine Gefühle im Zusammensein mit Sylvia fluktuierten heftig. Manchmal wusste ich nicht, ob mir zum Lachen oder zum Weinen war. Meine Patientin konnte angeregt und mit viel Humor und Lebenslust über ihren Alltag berichten, dabei frech und provozierend werden, dann verschwand sie plötzlich in einer großen Hoffnungslosigkeit, als sei sie dem Tod geweiht. Sie kam stets zögernd in den Raum, mit ihrem innigen, flehenden Blick meine Augen suchend. Jedes Mal von Neuem hatte ich das Gefühl, ihr den Weg zu ihrem Platz weisen zu müssen, als könne sie ihn alleine nicht finden. Es begann eine Zeit, in der ihr, kaum hatte sie Platz genommen, furchtbar heiß war. Sie bat, das Fenster zu öffnen und zog ihren Pullover aus. Im Verlauf der Stunde wurde ihr kalt, häufig lutschte sie dann am Daumen. »Ich hatte einen verrückten Traum«, begann sie zu erzählen, »etwas, was es gar nicht gibt: Eine Schlittenfahrt im Sommer. Hinter mir saß eine ältere Person. Wir sind mit einer Riesengeschwindigkeit runtergerast. Plötzlich haben wir uns überschlagen. Da war ein Graben, in dem wir lagen. Da sind Würmer rumgekrochen.« Sie holte tief Luft und sah mich ernst an. Ich: »Sylvia, ich habe sofort gedacht, ob ich das wohl bin, auf deinem Schlitten, und ob du nicht Angst

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Sylvia

hast vor unseren Stunden, wohin die wohl führen werden, und dass du manchmal nicht weißt, ob dir heiß oder kalt ist.« Sie: »Es ist mein allererster Traum.« Ich, verblüfft: »Wie meinst du das, Sylvia?« Sie: »Ich träume sonst nicht. Es war richtig komisch, als ich aufwachte und da hatte ich das in meinem Kopf. Ich hatte schon Angst, es war unheimlich. Am besten war die Fahrt, ich hatte so ein Gefühl, als könnte ich fliegen, ich hätte immer weiter so fahren wollen.« Ich: »Schade, schade, dann kam der Graben, dann kamen die Würmer, als dürfe man so nicht rasen und Lust haben daran.« »Frau Langer, darf man?« Ich: »Es ist ein wunderbarer Traum und er erzählt, so verstehe ich das, von dem, was du dir manchmal wünschst.« Sylvia begann stark abzunehmen. »Es schmeckt mir nicht mehr so viel wie früher. Ich genieße es auch, dass ich jetzt so ein leichtes Gefühl habe.« »Wie auf dem Schlitten«, bemerkte ich spontan. Sie: »Ja, genauso, aber ich habe jetzt oft Kopfschmerzen. Das kannte ich gar nicht.« Meine Patientin beobachtete mich scharf in unseren Sitzungen, es entging ihr nichts. Sie bemerkte ein neues Kleidungsstück, den abblätternden Lack meiner Nägel, vor allem die Stimmung, in der ich war. Sie registrierte die kleinste meiner Unaufmerksamkeiten. Ich dachte: »Sie trinkt mich auf, bis zum letzten Tropfen trinkt sie mich auf.« »Als ich ein halbes Jahr alt war, war meine Mutter plötzlich blind«, bemerkte sie einmal abrupt. »Blind?«, fragte ich entsetzt. »Ja, blind, sie konnte monatelang nichts mehr sehen, ich war bei meiner Oma.« Wir saßen uns schweigend gegenüber. Ich dachte: »Die Mutter konnte ihrem schwarzen, dem Vater so ähnelnden Kind nicht mehr in die Augen sehen.« Ich meinte plötzlich etwas zu verstehen von Sylvias sich Anklammern an die Mutter, ihrem Wunsch, niemals erwachsen zu werden. Hatte sie nicht auf dem wunderbar rasenden Schlitten mit ihrer Mutter gesessen, damals, bevor er sich überschlug, und sie, so vermutete ich, sterben wollte? Ich dachte viel über ihre Mutter nach. Es fiel mir ein, dass ich Sylvias Hautfarbe zu Beginn eigentlich gar nicht hatte bemerken dürfen, dass ich auch nicht spontan wahrgenommen hatte, wie dick ihr Körper gewesen war. Allein ihre flehenden Augen hatte ich empfunden und war in meinen Gedanken versunken, in meine Erinnerung an ein altes, romantisches Lied. »War«, so überlegte ich, »es nicht das Lied der Mutter, in dem diese sich dem verlorenen Vater Sylvias, der sie verlassen hatte, verband? Wo war die Mutter wohl in Gedanken gewesen, als sie die kleine Sylvia in ihren Armen gehalten hat? War es nicht im Grunde so gewesen, dass es die Patientin gewesen war, die mich aus einer Art von träumerischem Zurückgezogensein hatte hervorholen müssen?« Heiß kam Sylvia zu unseren Stunden. Die Kälte, die sich dann entwickelte, schien mir ein Äqui-

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valent ihrer in der Übertragung immer wiederkehrenden Enttäuschung über unser Getrenntsein, unser Nicht-miteinander-verschmelzen-Können, über das sie sich mit Daumenlutschen hinwegzutrösten versuchte. Hierzu passten meine fluktuierenden Gefühle, in denen sich das Hin- und Hergerissensein meiner Patientin zwischen Lebenslust und Todessehnsucht spiegelte, »himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt«, fiel mir ein. Ich vermutete nun, dass es Sylvias Mutter war, die mit diesen sie zerreißenden Gefühlen zu kämpfen gehabt hatte, mit den Gedanken an ihre alte Liebe, deren Frucht Sylvia war, an den, der sie enttäuscht und mit dem Kind allein gelassen hatte. Hasste sie dieses schwarze Kind nicht an seiner statt? Sie erblindete und konnte es nicht mehr versorgen. Es beunruhigte mich, wie stark ich mich in die von mir phantasierte Szenerie von Sylvias früher Zeit, die heftige Liebe, heftiger Hass und schwere depressive Gefühle beherrschten, hineinwarf. Sylvia beobachtete mich weiterhin scharf. »Heute haben Sie mir die Hand wieder nur so leicht gegeben«, bemerkte sie böse. »Du willst mir sagen, ich heiße dich nicht wirklich willkommen.« »Sie haben auch das Licht im Treppenhaus heute nicht für mich angemacht«, fuhr sie mit grimmigem Lächeln fort. »Ich war nicht da für dich, so wie du es gebraucht hättest«, erwiderte ich. Sofort begann sie zu weinen, heftig und wild. Nach einer Weile steckte sie ihren Daumen in den Mund. Ich dachte für mich, dass sie das tröste. Mit einem heftigen Schnalzen zog sie den Daumen heraus und die Worte sprudelten aus ihr heraus: »Ich habe darüber nachgedacht, ob ich irgendwann nach Afrika reisen werde. Ich bekomme Lust dazu in der letzten Zeit. Ich will mir das mal anschauen, wie es da ist, ich will meine Halbgeschwister sehen. Mein Vater hat mich ja oft eingeladen. Wenn er es noch einmal macht, sage ich ja. Plötzlich will ich. Frau Langer, glauben Sie, das darf ich? Was wird meine Mutter sagen? Sie wird es gar nicht verstehen, wenn ich mich so um hundertachtzig Grad drehe.« Ich: »Du fragst dich, ob du das überhaupt darfst, von deinem Vater träumen, ihn einmal besuchen, ob du dir selbst das einmal erlauben darfst.« Sylvia starrte mich an und begann wieder an ihrem Daumen zu lutschen. Im Fortgang der Behandlung verwandelte sich Sylvias flehender Blick mehr und mehr in eine unermessliche Wut darüber, dass ich nicht so war, wie sie es wünschte. Ich machte immerzu Fehler. »Sie sagen nie, was Sie wirklich denken«, schrie sie, »Sie sind eigentlich gar nicht da für mich. Sie denken schon jetzt daran, wie Sie nach Hause gehen werden. Sie werden sich auf dem Heimweg eine Zigarette anzünden, das kann ich vor mir sehen, sie werden die Musik in ihrem Auto richtig laut stellen. Sie werden sich mit Ihrem Freund treffen, daran denken Sie schon jetzt, wenn Sie mit mir hier zusammen sind. Das ist so ungerecht, dass Sie das machen, ich ertrage es nicht.« Mit großer Verblüffung und

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Sylvia

Scham wurde mir bewusst, eine wie treffende Szenerie meine Patientin beschrieben hatte. In einem wesentlichen Punkt allerdings lag sie falsch: Auch wenn ich manchmal daran dachte, was wäre, wenn ich nach unserer Sitzung nach Hause gehen würde, und wie gut und treffend sie das auch auszumalen vermochte, ich war sehr gerne mit ihr zusammen, sie berührte mein Herz. Sie verstand nicht, wie wichtig sie mir war, egal was ich nach unserer Stunde tun würde. »Frau Langer, ich war wieder am Goetheturm. Ich fahre da ja immer vorbei, wenn ich zu Ihnen komme. Einmal werde ich hinaufgehen und mich hinabstürzen. Dann werden Sie denken: ›Ich habe etwas versäumt.‹ In der ganzen Stadt wird es bekannt werden, dass eine Ihrer Patientinnen sich zu Tode stürzte. Niemand wird mehr zu Ihnen kommen wollen. Frau Langer, was werden Sie dann machen? Sie werden Ihren Beruf nicht mehr ausüben können, niemand mehr wird Ihnen vertrauen.« »Sylvia, es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass das, was ich dir bieten kann, besser ist als der Tod. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich das hoffe. Und wie egal mir alles andere dabei manchmal ist.« Kurz darauf berichtete mir die Patientin einen Traum. »Ich habe bei Ihnen geschellt, dann bin ich ganz schnell weggelaufen. Ich habe sofort gemerkt, dass Sie hinter mir herlaufen. Sie haben mich eingeholt und in den Arm genommen. Da habe ich furchtbar weinen müssen.« Dicke Tränen sammelten sich in ihren Augen und sie fuhr weinend fort: »Ich weiß genau, dass ich Ihnen etwas sagen wollte, aber es fiel mir nicht ein.« Wir schwiegen. Ich hatte das Gefühl, dass wir jeder für sich mit unseren Gedanken beschäftigt waren. Ich dachte: »Sie will, dass ich nicht aufgebe.« »Frau Langer, ich habe nachgedacht«, fing sie schließlich erneut zu sprechen an, »ich wollte sagen: ›Es tut mir so leid‹«, dabei begann sie wieder bitterlich zu weinen. »Ach, Sylvia, ich weiß ja, das ist so schwer, manchmal gibt es nichts Schwereres auf der Welt.« Es begann die Zeit, in der Sylvia in den Sitzungen zu malen begann. Sie benutzte die weichen, leicht zu verwischenden Pastellkreiden. Als Erstes malte sie ein Auge mit schwarzer Kreide. Darunter schrieb sie: »Das Auge sprach: Hilf mir, ich möchte mich verschließen.« Sie schaute mich mit ihrem flehenden Blick an: »Sie sollen mir helfen, dass ich mich an gar nichts mehr erinnern muss.« In unserer nächsten Stunde gab sie an, nun mich in Farben malen zu wollen. »Die Farben sind sanft und verschwimmen, grau und rosa. Dabei sind Sie gar nicht langweilig grau. Es muss auch eine feste Kontur darum, denn verschwommen sind Sie nicht, eher ruhig und klar, mit einer Begrenzung.« Sylvia malte stundenlang, gedankenverloren. Sie fertigte einige Porträts von mir an. Ich hatte immer das Gefühl, sie nun nicht stören zu wollen. Dann, in einem Furor, malte sie einen riesigen Fuß, ganz in Schwarz, es war, man konnte das sehen, ein aufstampfender Fuß. Es war nicht zu übersehen, er wollte alles zer-

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trampeln. In einer sehr schnellen Bewegung riss Sylvia das Blatt vom Block und verbarg es zuunterst. Ich: »Oh je, jetzt will der Fuß alles kaputt machen. Er ist auch noch da.« Sie, ganz schnell: »Er soll nicht da sein.« Ich: »Aber er war ja da. Wer weiß, für was es gut ist.« Sylvia, mich böse anschauend: »Für was soll das schon gut sein?« Ich: »Da ist so vieles in dir, Liebe und Hass. Wer sagt, dass der Fuß kein Recht hat, da zu sein? Wer sagt das?« »Frau Langer, Sie sind echt komisch«, erwiderte sie langsam. »Ich glaube, ich kann das einfach fühlen, wie du manchmal sehr, sehr gerne bei mir bist, und dann, plötzlich ist das schwer für dich, dann willst du das alles nicht, es ist irgendwie zu viel.« »Woher wissen Sie das? Es ist wirklich wahr. Manchmal ist alles zu viel und ich weiß gar nicht mehr, was ich will.« Ich: »Beides?« Sylvia strahlte mich unvermittelt an. Wir schwiegen bis zum Ende unserer Stunde. Sylvia kam voller Wut in ihre Stunde. »Ich bin heute krank, ich konnte nicht in die Schule gehen.« Ich, zögernd: »Hierher bist du gekommen.« Sie: »So blöd bin ich halt. Es bringt doch nichts. Sie sind mir egal, vielleicht komm ich nächste Woche nicht mehr. Dann sitzen Sie hier.« Ich: »Mhm.« Sie: »Sie brauchen gar nichts zu sagen, das schaffe ich eh nicht, bescheuert wie ich bin.« Mit einer winzig kleinen Schrift schrieb sie auf ein Blatt: »Gift mit verzaubernder Wirkung«. Als wir uns verabschiedeten, strahlte sie plötzlich: »Ich hab die beste Mathearbeit geschrieben, das hab ich Ihnen noch gar nicht gesagt.« »Und übrigens«, so begann sie eine unserer nächsten Sitzungen, »ich habe über meinen Vater nachgedacht.« Ich hielt die Luft an, als sie das sagte. Es kam so plötzlich, nach einer langen Zeit, in der sie kein Wort mehr über ihn verloren hatte und auch ich ihn vergessen hatte, als hätte ich die Hoffnung aufgegeben, dass er jemals wieder in unseren Raum käme. Sylvia schwieg, nachdem sie ihre Botschaft ausgesprochen hatte. »Was hast du gedacht, Sylvia?«, fragte ich. »Ich habe gedacht, dass ich Ihnen das alles nicht richtig erzählt habe. Ich habe das auch lange selbst nicht gewollt, ich wollte das nicht wissen. Frau Langer, mein Vater ist schon klasse, manchmal bin ich stolz auf ihn. Er arbeitet beim Weltwährungsfond. Er ist ein richtig hohes Tier da. Vor kurzem hat er mal wieder angerufen. Ich habe mit ihm telefoniert. Er hat mich wieder eingeladen, nach dem Abi, ich weiß noch nicht, vielleicht fahre ich dahin. Ich bin auch noch immer sauer auf ihn. Warum ist er damals gegangen? Warum hat er meine Mutter und mich alleingelassen? Und trotzdem, es gefällt mir, dass er angerufen hat, dass er immer wieder anruft.« Ich: »Dass er dich sehen will.« »Ja, er will das wirklich. Ist das nicht seltsam?« Ich: »Es ist nicht leicht zu verstehen, obwohl er damals gegangen ist, er vergaß dich nie.« Sylvia: »Es ist wahnsinnig schwer zu verstehen, auch dass ich trotz allem stolz auf ihn bin, dass er mein Vater ist.«

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Sylvia

Sylvias Träumen über ihren Vater, dass es ihr möglich war, ihn erneut in unsere Stunden zu bringen, veränderte sie stark. Zum ersten Mal in ihrem Leben begann sie sich ganz konkret für einen Jungen zu interessieren. Sie machte sich schön für ihn. Sie flocht ihre Haare, lackierte ihre Nägel. Sie sprach nun auch nicht mehr von ihrer baldigen Beerdigung, einem ihrer Lieblingsthemen. Wohl hundertmal hatte sie mich gefragt, ob ich zu ihrer Beerdigung kommen würde, nun fragte sie mich: »Frau Langer, werden Sie zu meiner Hochzeit kommen?« Sie genoss meine Sprachlosigkeit. »Na ja«, fuhr sie fort und begann zu lachen, »irgendwann könnte es passieren.« »Der Gedanke gefällt mir sehr«, erwiderte ich. Am Ende unserer allerletzten Stunde, wir standen bereits an der geöffneten Tür, schloss mich Sylvia überraschend in ihre Arme. Obwohl es plötzlich für mich kam, war es eine langsame, behutsame Geste. Ich legte meine Hände spontan auf ihren Rücken und umschloss sie meinerseits. »Ich musste das einfach machen, Frau Langer«, sagte sie leise, »danke, ich danke Ihnen für alles.« Im Verlauf der folgenden Jahre erreichten mich einige Postkarten Sylvias. »Nun bereist sie die ganze Welt«, dachte ich. Denn angefangen bei Italien gingen ihre Reisen im Anschluss nach Indien, China, Australien und schließlich nach Afrika. Die letzte Karte erhielt ich aus dem afrikanischen Land, in dem ihr Vater lebte. Abschlussbetrachtung des Behandlungsverlaufs

Im Nachhinein war ich froh, dass ich Sylvia intuitiv vorgeschlagen hatte, viermal wöchentlich zu mir zu kommen. Aus dem Rahmen der vierstündigen Frequenz war eine intensive Zeit geworden, in der die Patientin sich langsam der Begrenztheit der Objekte angenähert hatte. In ihrer Verzweiflung über die Blindheit der Objekte gegenüber ihrer Not war ihr das Leben kaum lebenswert erschienen. Ihr großer Hunger nach dem Objekt war von ihrem dicken Körper symbolisiert worden. Dabei hatte ich von Beginn an sehr stark Sylvias Lust am Leben empfunden, die heftig, gleichsam verborgen hinter dem Wunsch andrängte, lieber zu sterben, als nicht alles zu bekommen, von dem sie träumte, dass es ihr zustünde. Sylvia wollte das Objekt mit Haut und Haar. Sie hasste die Begrenztheit und Eigenständigkeit des Objekts: Ihr Vater hatte sie verlassen (aber nicht vergessen), ihre Mutter war erblindet und hatte sie alleingelassen (sie aber weiter geliebt und sich um sie gesorgt). Ich hatte eine lange Zeit benötigt, Sylvia wirklich anzuschauen. Nur eines hatte ich sofort wahrgenommen: ihren flehenden Blick, der mich sogleich hatte ahnen lassen, dass es viel sei, wonach sie suche. Als sie in den Sitzungen zu malen begonnen hatte, hatte sie eine Art von Distanz gefunden, einen dritten Blick. Sie hatte ihre Gefühle in einer zarten Weise

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Sieben Behandlungen, in denen Rahmen und Spielraum einander ergänzen konnten

ausgedrückt, als sie mich gemalt hatte, und sich weit hervorgewagt, als sie mir gesagt hatte: »Sie sind nicht verschwommen, sie haben eine Kontur.« So hatte sie eine innere Flexibilität, eine Großzügigkeit und Einfühlungsfähigkeit gegenüber dem enttäuschenden Objekt zu entwickeln vermocht, eine Vorstellung von Kontur und Wirklichkeit, eine Möglichkeit, mit den Objekten zu leben. Hierfür war bedeutsam gewesen, dass sie in der Übertragung einen Spielraum zur Gestaltung ihrer Aggression gefunden hatte. Mit dem Rückzug in ihren dicken Körper und suizidalen Phantasien hatte sie die Konkurrenz mit dem mütterlichen Objekt vermieden und sich das Träumen über ihren Vater verboten. Sylvias Unsicherheit und Verwirrung gegenüber dem Objekt hatte eine nicht ausreichende Objektkonstanz beinhaltet, die sich einer Gegenbewegung gleich im vierstündigen Setting gespiegelt hatte, das auch ich benötigt hatte, um meine Patientin zu verstehen.

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Fünf Behandlungen mit zerbrechendem Rahmen und mangelndem Spielraum

In den hier geschilderten Behandlungen zerbrach der Rahmen. Der innere Spielraum der Jugendlichen und der Kinder und ihrer Eltern konnte sich nicht in einer ausreichenden Weise entwickeln. Wie deutlich werden wird, gelang es mir nicht, den zerbrechenden Rahmen zu halten und zu schützen. Erst im Nachhinein erkannte ich meinen eigenen Mangel an innerem Spielraum, der in unbewussten, konkurrenten Gefühlen wurzelte. Die Übermacht des bösen Objekts in der inneren Welt beinhaltet ein schier unüberwindliches Misstrauen gegenüber allen Begegnungen mit realen Objekten. Das Misstrauen wehrt eine tiefe Angst davor ab, vernichtet zu werden. Es ist ein Schutz, der die Betroffenen wie ein Panzer umhüllt. Die Idee eines guten und hilfreichen Objekts existiert hingegen nicht oder kaum mehr. Wer von der Übermacht des bösen Objekts innerlich beherrscht ist, kann die Wirklichkeit, ihre Zwischentöne und Ambivalenzen nicht mehr wahrnehmen. Die Wirklichkeit wird zu einem Konglomerat früher, phantasierter und widerfahrener Angst, einem Gefühl des schutzlosen Ausgeliefertseins. Wir können, da bin ich sicher, kaum ahnen, wie tief die Verletzungen der Menschen gewesen sein mögen, die sich dieses Mechanismus bedienen. Sie leben in einer inneren Hölle, vor der sie auch der erschaffene Panzer nicht bewahrt, und finden keinen Trost. Verängstigt, immer auf der Lauer, geladen wie eine Bombe verbringen sie ihr Leben und hassen es ebenso, wie sie alle Menschen hassen. Denn eine starke Phantasie der Menschen, die von der Übermacht des bösen Objekts beherrscht werden, ist, dass die anderen etwas bekommen haben, was ihnen nicht zugestanden hat, eine Leichtigkeit, Trostfähigkeit und Flexibilität. Emil, ein Patient, über dessen Behandlung ich in diesem Kapitel schreiben werde, hätte gesagt: »Ich verachte diese Menschen, am liebsten würde ich alle töten, sie sind so dumm, so dumm.« Emils Behandlung brach ab, scheiterte. Sie scheiterte jedoch letztlich nicht deshalb, weil die von meinem Patienten auf mich übertragenen Enttäuscherqualitäten in der Behandlung eine Übermacht gewannen. Emils Behandlung

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Fünf Behandlungen mit zerbrechendem Rahmen und mangelndem Spielraum

scheiterte genau in dem Moment, in dem er mich als einen Menschen zu sehen vermochte, der ihn nicht vernichten wollte. Ohne dass er und ich es vorhergesehen hatten, fand gegen Ende unserer Sitzungen, in denen wir uns wie Feinde belauert hatten, eine tiefe Berührung statt. Es war, als öffne sich eine sehr lange verschlossene Tür für einen Moment. Wir holten Atem und wussten nicht, wie uns geschah. Wir phantasierten eine kurze Zeit von allem, was möglich sein könnte, wenn die alte Panzertür, die meinen Patienten von der Welt trennte, die er zu seinem Schutz, zu seinem Überleben erschaffen hatte, sich nun weiter öffnen würde. Die Tür aber schlug wieder zu, sie fiel ganz fest in ihr altes Schloss. Das idealisierte Objekt ist eine Variante des bösen Objekts. Seine Übermacht in der inneren Welt verhindert Entwicklung und die Möglichkeit zu einer ambivalenten Sicht auf das Objekt. Seine Aufrechterhaltung verleugnet die Realität, die im schlimmsten Fall gar nicht mehr existiert. Seelisch schwer verwundete Menschen tendieren dazu, einem idealisierten Objekt anzuhängen. Sie sprechen ihm eine Guru-Existenz zu, etwas allein Selig-Machendes, setzen es gegen den Rest der Welt. Sie ersehnen Erlösung, wollen kein einziges Mal mehr enttäuscht werden. Ihre Idealisierung des Objekts beinhaltet, dass sie sämtliche Enttäuscherqualitäten des Objekts nicht wahrnehmen. Sie beißen sich fest an einer Idee. In einigen Fällen folgt der Idealisierung eine vollkommene Vernichtung des einstmals idealisierten Objekts. Denn das idealisierte Objekt, das nie böse sein darf, steht immer kurz vor dem Sturz. Es wird als Bollwerk erschaffen, um das böse Objekt abzuhalten. Es überführt den, der ihm anhängt, in eine psychotische Welt. Stürzt das Ideal, dann droht nichts von dem, der das Objekt idealisierte, übrig zu bleiben. Wer einem idealisierten, nicht ambivalenten Objekt anhängt, droht daher, dieses im nächsten und übernächsten Objekt erneut zu erschaffen – und erneut zu scheitern. In der Behandlung Sonias kämpfte ich mit großer Leidenschaft darum, von ihr gesehen zu werden. Immer wieder war ich sicher, es gäbe eine Möglichkeit, ihr zu vermitteln, dass ich da war und mit ihr sprechen wollte. Letztlich täuschte ich mich. Sonia lebte in der Welt ihres idealen Objekts. Dass dieses sie nicht sah und sie verließ, beirrte sie ebenso wenig, wie dass ich da sein wollte für sie. Sie hatte den Wunsch, sie zu erreichen, den ich so stark verspürte, auf mich übertragen und damit abgewehrt. Katrin wiederholte in der Beziehung zu mir, einer endlosen Schleife gleich, das Zerbrechen ihres Lebensrahmens noch einmal. Die Dichte und Konkretheit unserer Beziehung machte das Entstehen von Spielraum unmöglich. Martin und Noah stelle ich in diesem Kapitel vor, weil der Rahmen ihrer Behandlungen bereits in einem sehr frühen Stadium nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Martin war acht Jahre alt, als ich ihn kennenlernte. Die

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Emil

Wiederaufnahme des Kampfes um das Sorgerecht, mit der ich nicht gerechnet hatte, führte mir vor Augen, dass es für meinen Patienten weder einen Lebensnoch einen Behandlungsrahmen gab. Im Fall Noahs, sieben Jahre alt, werde ich davon berichten, wie ich selbst eine Behandlung abbrach, weil ich die Beziehung zu seinen Eltern nicht zu klären vermochte und mich in der Dynamik des Falls verstrickte.

Emil, zwölf Jahre – Grund der Anmeldung: Angst vor Menschen (35 Stunden, zweimal wöchentlich eine Stunde) Darstellung des Behandlungsverlaufs

Emil behandelte ich nur eine kurze Zeit. Seine Mutter meldete ihn bei mir an. »Emil hat Angst vor Menschen, vor allen fremden Menschen, wir brauchen dringend Hilfe, wir schaffen das nicht mehr. Ich bitte Sie ganz dringend uns zu helfen, wir wissen nicht mehr ein und aus.« Später erfuhr ich, dass sich Emil seit dem Übergang ins Gymnasium fürchtete, in die Schule zu gehen. Er rannte den Weg zur Schule und zurück und verbarg sich dann den Rest des Tages in seinem Zimmer. Die Eltern waren aus Kasachstan vor über elf Jahren nach Deutschland gekommen. Der Vater, ein auf Anhieb mir sehr schweigsam und depressiv vorkommender Mann, hatte eine gute Stelle in einer Kfz-Werkstatt gefunden. Die Mutter arbeitete bei einer städtischen Behörde halbtags. »Warum ist das so?«, fragte sie mich abrupt. »Es ist doch trotz allem gut gegangen. Emil war richtig gut in seiner Grundschule, er bekam eine Gymnasialempfehlung. Früher ist er auch immer mit seinen Mitschülern auf den Bolzplatz gegangen«, sie brach in Tränen aus. Den Vater erlebte ich wie eingeigelt, er sprach kaum ein Wort. Ich konnte stark fühlen, dass er mit seinem Schweigen einen Bann über mich sprach. Kaum vermochte ich etwas nachzufragen, tatsächlich war es so, dass ich den unablässigen Redestrom der Mutter gleichsam über mich ergehen ließ, wie abgepanzert. Dann sah ich Emil. Er kam mit seiner Mutter die Treppe hoch, ein merkwürdiges Paar, sie so zart, er ein Bulle. Er schnaufte und schwitzte. Sie übernahm alles für ihn. Sie begrüßte mich freundlich. Emil stapfte bullengleich in das Behandlungszimmer. Sie verabschiedete sich von mir und wirkte sehr hilflos dabei, warf einen langen Blick in das Behandlungszimmer, bevor sie schließlich ging. Emil saß sehr breit auf seinem Stuhl. Ich setzte mich und fühlte mich wie zusammengekauert. Er starrte mich unablässig an. Ich sah den Schweiß auf

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seiner Stirn. »Es ist nicht so einfach, hierherzukommen«, bemerkte ich. »Es ist, wie es ist«, erwiderte Emil mürrisch und starrte mich weiter an. Ich hatte plötzlich den Eindruck, ihn angegriffen zu haben mit meiner Bemerkung, und sagte: »Das gefällt dir nicht, was ich so sage.« »Es kommt immer darauf an, ob eine Logik dahinter steht, hinter allem, was man sagt«, sagte Emil. Er starrte mich weiter an, als ob er einen Kampf mit mir austragen wolle, wer länger hingucken könne, ohne zu blinzeln. »Heute haben sie mir wieder aufgelauert«, bemerkte er abrupt. »Wer?«, fragte ich. Emil: »Diese drei Jungens aus meiner Klasse. Ich habe mir das gleich gedacht und bin in eine andere Richtung gelaufen, dann standen sie aber trotzdem plötzlich vor mir. Sie haben gelacht.« »Was hast du gemacht?«, fragte ich. »Die haben mich so angeschaut und gelacht und miteinander gesprochen, da bin ich ganz schnell gerannt, ich bin bis nach Hause nur gerannt. Ich habe die ausgetrickst, damit haben die nicht gerechnet, dass ich so rennen kann.« »Was die wohl wollten?«, sagte ich. »Woher soll ich das wissen?« Emil starrte mich böse an. »Sie lassen mich nicht in Ruhe. Seit ich in der Schule bin, ist das so, von Anfang an war es so. Es war ein Fehler, dahin zu gehen.« Wir schwiegen lange. Emil: »Sie starren mich wieder so an.« Seine Bemerkung erwischte mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich wollte sagen: »Das bist du, der starrt, nicht ich«, hatte aber nicht den Mut. Ich hatte richtig Angst und wollte mich am liebsten verstecken. »Du hast Angst vor mir«, sagte ich leise. »Ich kenne Sie kaum, und ich weiß nicht, warum ich hier bin«, erwiderte Emil. »Du sagst mir, du weißt nicht, warum du hier bist«, wiederholte ich. Emil, heftig: »Warum wiederholen Sie, was ich sage?« Ich dachte: »Ich möchte ihm ins Gesicht schlagen, mitten in sein Gesicht.« Es war wieder still. Ich wagte nicht, auf die Uhr zu sehen. Es war merkwürdig, aber ich sehnte mich nach nichts, als diese Zeit mit ihm zu überleben. Ich hatte keine Idee, was ich noch sagen könnte. Ich meine mich zu erinnern, dass ich meine Augen schloss. Ich musste aber auch nachdenken, doch bewegten sich meine Gedanken in einem Kreis: »Warum ist das so, warum sind wir hier, warum habe ich Angst, warum will ich mich verstecken?« »Du willst nicht hier sein«, bemerkte ich schließlich. »Meine Mutter glaubt, dass es mir helfen kann, ich glaube das nicht«, antwortete Emil. »Sie sitzen da und starren mich an.« Ich: »Als ob ich dir Böses wollte, wie die Jungens, die dir auflauern.« Emil sah mich wieder böse an. Ich dachte: »Er wird mir auflauern. Irgendwann wird er mir auflauern, er wird an einer Ecke stehen, ganz plötzlich. Er wird mich töten«, und fühlte mich völlig verrückt dabei. Wir saßen weiter da, ich mit dem Gefühl, dass er mich belauere. »Das ist sehr schwer für dich, hier zu sein, bei mir, wo du es doch gar nicht willst«, sagte ich. »Ich wäre jetzt am liebsten zu Hause, in meinem Zimmer«, sagte er ganz ruhig und unvermit-

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telt, »am liebsten bin ich zu Hause, in meinem Zimmer. Ich liebe es, in meinem Zimmer zu sein.« Eine Schlussszene, in der eine Berührung stattfand. Ich hatte sehr große Angst vor den Stunden mit meinem Patienten, wusste nicht, warum er weiter zu mir kam. Es war wie ein schreckliches Schicksal, dem man nicht entgehen kann. In einer quälenden Zeremonie brachte die Mutter ihn zu seinen Stunden und verabschiedete sich zögerlich und umständlich. Emil machte mich in einer furchtbaren Weise klein, ich hatte gar keinen Bestand vor ihm. Er entwertete alles, was ich sagte, so dass ich mich wie ohnmächtig fühlte vor Hass. Dabei sagte er zumeist kaum ein Wort, er sandte seine stechenden Blicke aus und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Ich dachte: »Es ist eine Art von Folter, wir foltern einander.« Ich war sehr froh, als ich die Eltern nach mehreren aufgrund von Elternabend und Krankheiten abgesagten Terminen wiedersah. Eine Zeitlang hatte ich gedacht, sie würden gar nicht mehr kommen und mich mit Emil alleinlassen. Sie kamen schüchtern in meinen Raum, er ein Bulle wie Emil, sie die zarte Frau. »Ich kann das gar nicht mehr aushalten«, begann sie sofort, »Emils Angst wird immer größer. Ich verstehe das nicht. Am Wochenende hatten wir Besuch von Verwandten aus Kasachstan, die haben auch Kinder und Emil hat mit denen Fußball gespielt, es ging ihm richtig gut. Warum ist das so? Was ist da los in seiner neuen Schule?« »Er hat schreckliche Angst in dieser Schule«, sagte der Vater und starrte mich dabei an wie Emil in unseren Sitzungen. »Als ob es mit den Verwandten aus Kasachstan ginge, in der deutschen Schule aber nicht«, warf ich ein. »Aber es ging doch immer«, sagte die Mutter sofort, »es ging, plötzlich geht es nicht mehr.« »Das ist manchmal so, manchmal geht gar nichts mehr«, sagte der Vater und ich konnte seinen starren Blick bemerken. »Wie meinen Sie das?«, fragte ich nach. »Ich meine das so, dass manchmal gar nichts mehr geht.« Wir schwiegen eine Weile. »Was das wohl ist, warum etwas plötzlich nicht mehr geht«, sagte ich leise. »Sie wollen das nicht wirklich wissen«, erwiderte der Vater, »das will keiner wissen.« Er sank zusammen in seinem Stuhl und schloss die Augen. Sie begann zu sprechen, aber ich konnte sie nicht hören, ich war stark beschäftigt mit dem zusammengesunkenen Vater. Plötzlich war es ganz still. Ich hielt die Luft an. »Ich liebe es, wenn alles still ist«, bemerkte der Vater unvermittelt. Die Mutter begann zu weinen. Ich empfand etwas Gespenstisches, sagte aber nichts. Ich wusste gar nicht, was ich hätte sagen können. Es war, abgesehen vom Weinen der Mutter, so still im Raum, ich hielt es nicht mehr aus. »Sagen Sie mir das, was ich nicht wissen will«, rief ich aus. »Meine Familie, wir gehörten zu den Deutschen in Kasachstan, wir wurden verfolgt, wir sprachen deutsch, wir waren deutsch. Sie sagten, wir seien Nazis. Sie holten meine Eltern und alle meine Verwandten

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ab, ich war damals gerade zwölf Jahre alt. Ich kam auch in ein Lager in Sibirien, ich musste kochen für die Gefangenen. Ich konnte keinem trauen. Ich habe so getan, als verstünde ich alles, das war aber gar nicht so. Meine Eltern starben in diesem Lager. Ich konnte das überleben, sie bekamen mich nicht. Sie können sich das nicht vorstellen, wie das war.« »Emil kann das«, bemerkte ich. Der Vater sah mich lange an und bemerkte schließlich: »Vielleicht haben Sie da recht, ich habe ja nur diesen einen Sohn.« Nach einer Weile fuhr der Vater fort, sich zu erinnern: »Ich habe immer gelogen, immer, sie wollten mich fertigmachen. Ich habe Ja gesagt und Nein gemeint und Nein gesagt und Ja gemeint, ich wusste gar nicht mehr, was ich meine. Die haben mich gefoltert, die haben mich getreten und mit ihren Fäusten in meinen Bauch gehauen. Ich habe gesagt, dass ich kein Nazi bin wie meine Eltern. Ich habe alles, alles getan, um zu überleben.« »Sie konnten niemandem mehr vertrauen danach«, sagte ich, »und Emil kann das auch nicht.« »Meine Zeit in Sibirien«, sagte der Vater, »sie hat mich ausgelöscht, ich lebe gar nicht mehr, vielleicht betrifft das auch Emil, ich habe nie in dieser Weise darüber nachgedacht, aber es erscheint mir stimmig.« Er sank wieder in sich zusammen, starrte vor sich hin. Ich dachte: »Er hat mir etwas gesagt, was er mir nicht sagen wollte.« Es war so still im Raum – die Mutter weinte nicht mehr. »Ihre Eltern«, sagte ich zu dem Vater langsam und wusste plötzlich nicht, wie ich fortfahren sollte. »Wir haben sehr einsam und zurückgezogen gelebt, meine Eltern und ich. Es gab da niemanden in einem weiten Umkreis. Sehr selten haben wir Verwandte besucht, vielleicht fünfmal im Jahr. Wir haben mit den Tieren gelebt, ich bin viel ausgeritten mit meinem Vater. Es war alles so frei, manchmal träume ich von der Steppe, von den Pferden, von meinen Eltern.« »Im Lager«, sagte ich, »in Sibirien, da waren Sie ganz allein, ein Kind.« »Ich glaube nicht, dass man das, was ich da war, ein Kind nennen könnte«, erwiderte er hart. »Es war immer so schwer mit Emil«, sagte die Mutter plötzlich, »wir haben alles falsch gemacht. Wir wollten weg, wir wollten nach Deutschland. Wir haben Emil für einige Tage bei meiner Mutter gelassen damals, er war erst drei Monate alt. Wir brauchten Zeit, um alles zu organisieren. Das war falsch. Emil hat geschrien und geschrien, sie brachten ihn ins Krankenhaus, weil er nicht aufhörte zu schreien, er trank nicht mehr, gar nichts. Dann sind wir gekommen und haben ihn mitgenommen nach Deutschland. Er hat so schlimm geschrien, wir waren in einem Lager für Flüchtlinge. Ich wusste nicht, was ich machen, wie ich ihn trösten sollte. Dann haben wir nach vielen Monaten eine kleine Wohnung in Hamburg bezogen, es wurde irgendwie besser. Mein Mann bekam in Frankfurt eine gute Arbeit, ich arbeitete halbtags im Büro, meine Kollegen

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sind in Ordnung, Emil kam in die Schule. Wir dachten, alles ist gut.« Er: »Wie kannst du sagen, alles war gut, es war immer schwer hier, es war nicht, wie wir gedacht hatten, wir waren fremd, sehr fremd. Wir gehörten nicht dazu, man sah es uns an, woher wir gekommen waren. Ich mache meine Arbeit, ich habe das gelernt. Ja, ich mache meine Arbeit, dann gehe ich nach Hause. Aber Emil, es geht ihm schlecht, sehr schlecht.« Die Begegnung mit den Eltern, die ja ein Zusammentreffen mit mir lange Zeit gemieden hatten, lastete schwer auf mir. Hatte ich auch zum ersten Mal etwas verstehen können, ahnte ich bereits, dass das alles zu viel war. In einer seltsam unwirklichen, schnellen und unwiderruflichen Weise war ich dem Vater Emils in einer Zeit begegnet, die er nicht mehr wachzurufen wünschte, in der seine Eltern umgebracht worden waren und er, ganz allein, zu überleben getrachtet hatte, niemandem mehr hatte vertrauen können – eine Zeit, die seitdem stillstand und nicht vorüberging und in der Emil seinem Vater gleich lebte. »Ich weiß nicht, warum ich hier bin«, hatte Emil zu mir gesagt, und es war, so verstand ich das nun, als begegneten wir uns in dem Lager in Sibirien, in einer Zeit, in der der Vater zwölf Jahre alt gewesen war, das heißt, so alt wie Emil heute. Die Verfolger richteten sich erneut auf und lauerten dem Sohn auf, der nichts wünschte, als sich vor ihnen zu verkriechen, und waren es in Wirklichkeit auch nur einige Klassenkameraden. Ich begriff Emils Schweiß auf der Stirn, seinen starren Blick, meinen Wunsch, ihn zu schlagen, meinen Drang, mich zu verkriechen, mein andauerndes Gefühl, die Situation mit ihm überleben zu wollen. Der Patient kam nach diesem Gespräch mit den Eltern plötzlich allein die Treppe hoch, oft lächelte er nun flüchtig zur Begrüßung. Manchmal gab es etwas, was er mir erzählen wollte. Ich begann Hoffnung zu schöpfen, zum allerersten Mal. Manchmal gelang es mir, mich zu entspannen, wenn er mir gegenübersaß. Ich überlegte wieder und wieder: »Sehnt er sich nicht danach, mir zu vertrauen?« »Heute war was«, sagte er und schaute mich erwartungsvoll an. Ich musste lächeln. Emil: »Ich wurde in Mathe an die Tafel gerufen.« Er schaute mich wieder erwartungsvoll an. Ich: »Oh je.« Emil: »Es ging, eigentlich ging es. Ich bin vorgegangen, ich habe gerechnet, ich habe gehört, wie sie tuscheln, aber ich habe weitergerechnet, mir war so heiß, ich habe gedacht, ich werde knallrot, aber es war mir egal.« »Und?«, fragte ich atemlos. »Alles richtig«, bemerkte er ruhig. »Unglaublich«, sagte ich. »Warum unglaublich«, sagt er, »ich habe so was immer gekonnt, früher.« Nach einer Weile: »Ich war auch immer gut in Sport, ich war Fußballspielen auf dem Spielplatz um die Ecke, jeden Tag bin ich da hin. Die haben auf mich gewartet.« Ich: »Du knüpfst an, an früher, als du noch nicht so viel Angst hattest.« Emil nickte langsam. »Sie lauern mir auf, auf dem Spielplatz, ich kann da jetzt nicht mehr hin.«

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Wir schwiegen eine Weile. Emil sagte plötzlich: »Ich will mal gucken, was es hier so gibt«, und drehte sich um zu der Kommode, die hinter ihm stand. Er öffnete langsam eine Schublade. Ich hatte das Gefühl, die Luft anzuhalten. Ich dachte: »Ist das Emil, der das macht?« Er drehte mir den Rücken zu und begann den Inhalt der Schublade zu sichten, einige Kartenspiele, kleine Autos, Tierfiguren. Er nahm alles in die Hand und legte es dann zurück. Ich dachte für mich: »Ja, gut, du darfst dir das anschauen, es geht, das geht, es ist gut, es ist alles okay.« Ich sah, wie er die zweite Schublade zu öffnen und sichten begann, Spielzeugpistolen, einen Arztkoffer. Ich dachte sofort: »Oh weh, Pistolen, das ist nicht gut, dass ich das habe, das ist gar nicht gut.« Ich hatte plötzlich Angst. Emil fasste wieder alle Dinge der Schublade an und legte sie dann zurück, sehr langsam. »Sie starren mich wieder so an«, sagte er plötzlich und wandte sich um zu mir mit einem hasserfüllten Blick. »Du denkst, ich kann dir das nicht erlauben, dass du alles einfach anschaust, was ich hier habe«, sagte ich. »Sie haben Pistolen«, sagte Emil. »Ja«, sagte ich leise, »ich habe auch Spielzeugpistolen.« »Komisch«, erwiderte Emil, »komisch, dass Sie so was haben. Sie sind komisch, das habe ich von Anfang an gedacht.« Ich merkte, dass ich ihm das jetzt erklären müsste, warum ich die Spielzeugpistolen hätte und dass es keine echten seien. Ich fühlte mich aber mit diesem Anliegen wie vorgeführt vor Emil und verstummte, mich schuldig fühlend. »Warum habe ich so etwas?«, dachte ich, »Warum habe ich Pistolen? Es ist vielleicht wirklich gar nicht richtig.« Alle Sicherheit kam mir abhanden, als ob es wirkliche Pistolen wären. »Ich finde das gar nicht gut, dass Sie Pistolen haben«, sagte Emil schließlich und sah mich mit einem vernichtenden Blick an, dem ich nichts entgegensetzen konnte. Wir schwiegen wieder, und zwar in einer Weise, die ich als unheimlich empfand. »Du findest das gar nicht gut, dass ich hier Pistolen, Spielzeugpistolen habe«, sagte ich. »Sie wiederholen wieder, was ich schon sagte«, bemerkte Emil böse. »Vielleicht machen sie dir Angst, vielleicht denkst du, du kannst mir nicht trauen«, sagte ich langsam. »Es sind doch nur Spielzeugpistolen«, sagte Emil hämisch. »Ich kann nicht mehr, ich halte das nicht aus«, dachte ich, »Geh, bitte geh, ich kann das nicht, es geht gar nicht. Das Beste wäre, wenn alles vorbei wäre. Es soll einfach vorbei sein, dieser Hass, dieses Misstrauen. Ich kann nicht mehr.« Währenddessen schien Emil sich zu erholen, er räkelte sich genüsslich in seinem Stuhl und starrte mich an. »Sie haben jetzt Angst«, sagte er. »Wie du«, erwiderte ich ganz schnell, »manchmal ist da diese Angst und man weiß nicht mehr, ob es Spielzeugpistolen sind oder richtige Pistolen.« »Manchmal weiß man das nicht. Komisch, Sie sind komisch, manchmal verstehen Sie etwas.« Unsere Sitzung ging ihrem Ende entgegen. Wir schwiegen beide. Emil sah mich verstohlen, wie aus einem Hinterhalt heraus an. Ich konnte nicht aufhören

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zu denken, dass ich nun etwas sagen müsste. »Das ist richtig schwer für dich, zu mir kommen zu müssen«, sagte ich schließlich. Emil antwortete nicht, er sah mich an, als wolle er etwas ergründen, von dem ich nicht wusste, was es war. »Frau Langer«, bemerkte er langsam, zum ersten Mal sprach er meinen Namen aus, »ich wollte gar nicht zu Ihnen kommen, ich wollte nicht.« »Warum nicht, Emil?« »Ich sage Ihnen jetzt etwas, das habe ich noch niemandem gesagt: Ich will das alles nicht, dieses Leben, ich will gar nichts.« Ich fühlte, mein Atem ging schwer, er war so laut, dass ich versuchte ihn anzuhalten. »Da ist diese schreckliche Angst, dieses Misstrauen, als ob es keine Hoffnung gäbe«, sagte ich leise, »diese Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit zerstört den Mut zu leben, diese Frage, ob ich dir Böses will, ob ich da bin, dich zu quälen.« Emil nickte schwer mit seinem Kopf. »Frau Langer, Sie sind komisch, Sie verstehen, was andere nicht verstehen können.« Ich nickte und sagte: »Vielleicht ist das manchmal so, jemand versteht etwas von dir.« Er: »Nein, Frau Langer, Sie sind die Erste.« Er sprach plötzlich derart abrupt und stakkatoartig fremd, dass ich dachte: »Es wird nicht gut gehen, es war viel zu viel, alles, was wir versuchten. Es wird hier und in dieser Minute enden.« Wir saßen uns aber noch eine Weile gegenüber und schwiegen. Emils Kopf senkte sich dem Tisch zu. Es war in einer Weise still zwischen uns, die zugleich unheimlich und wohltuend ruhig auf mich wirkte. Ich dachte: »Nun will er schlafen, seinen Kopf ablegen auf dem Tisch, es wird ihm gut tun, Atem zu schöpfen.« Ich weckte Emil am Ende der Stunde: »Emil, nun ist unsere Stunde zu Ende.« Er, schlaftrunken: »Ich habe geträumt, Frau Langer, ich habe geträumt.« Es berührte mich stark, wie er nun immer wieder meinen Namen nannte. »Was hast du geträumt, Emil?« »Ich habe geträumt, ich könnte nicht mehr aufstehen«, erwiderte der Patient. Er räkelte sich in seinem Stuhl, stampfte mit seinen Füßen auf, als wolle er sich ihrer versichern, sein Blick war schlaftrunken. »Ich muss jetzt gehen«, sagte er, »Frau Langer, ich muss jetzt gehen.« »Auf Wiedersehen, Emil«, sagte ich leise, mir war, als sei es kaum hörbar. Emil schob seinen schweren Körper mühsam und langsam aus dem Raum hinaus, die Treppe hinunter. Ich schaute ihm nach. Nach dieser Stunde rief mich Emils Mutter an, um mir zu sagen, dass Emil nicht mehr zu mir kommen würde. Es sei zu schwer für ihn, sagte sie, er weigere sich, weiter zu mir zu kommen. Er habe Angst vor mir, sie könne ihn auch nicht mehr zwingen. Sie wolle sich nun verabschieden von mir. Ich sagte: »Ich würde mich sehr gerne von Emil verabschieden.« »Es geht nicht, er will nicht. Ich kann es nicht schaffen, es tut mir leid. Auf Wiedersehen«, sagte sie und legte auf. Ich wusste sofort: »Du hast zu viel über den Vater nachgedacht und dabei die Mutter verfehlt, die ihren Sohn zu verlieren fürchtet, die ihn nicht noch ein-

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mal zurücklassen will, wie damals, als sie die Ausreise nach Deutschland plante und Emil, drei Monate alt, nicht aufhörte zu schreien und nicht mehr trinken konnte.« Vermutlich aber ertrug sie es, dies war meine Phantasie, noch weniger, dass Emil nun ganz allein die Treppen zu mir hochkommen konnte, ihrer nicht mehr bedurfte, die Fremde vielleicht sogar suchte. Sie mochte das gespürt haben, Emils Tendenz – er war ja bei mir eingeschlafen und hatte geträumt, er könne nicht mehr aufstehen und gehen –, den Raum bei mir zu nutzen. Gleichwohl war mir bewusst, dass es auch Emil war, der sich fürchtete, weiter zu mir zu kommen. Da war eine Hoffnung entstanden, er war einem Menschen begegnet, der etwas von ihm verstehen konnte, aber es war wie in einem Traum geschehen. Realität und Phantasie hatten sich unwägbar vermischt. War ich die, die ich vorgab zu sein? Waren meine Pistolen wirklich nur Spielzeugpistolen? Auch ich hatte der Hoffnung nicht getraut, als wir uns plötzlich berührten, sondern gedacht: »Es ist zu viel, viel zu viel«, so, als wäre etwas passiert, was gar nicht hätte geschehen dürfen. Abschlussbetrachtung des Behandlungsverlaufs

Was wäre in dem Fall gewesen, wenn die Eltern die Behandlung hätten stützen können? Hätten Emil und ich eine Chance gehabt? Dies ist eine der Fragen, die mir im Zusammenhang mit dem Zerbrechen des Rahmens von Emils Behandlung wichtig erscheint. Hatten die Eltern Emil nicht schon von Beginn an alleingelassen mit mir? Mehrere Elterngespräche versäumt? Wir haben es im Fall Emil mit sehr starken unbewussten Projektionen des Vaters und daraus folgenden Identifizierungen mit dessen Vergangenheit zu tun. Emil hatte in einem Akt der changierenden projektiven Identifizierung sowohl den Verfolgten als auch den Verfolger in mir untergebracht. Hierin wiederholte sich die Situation des Vaters im Lager. Einerseits hatte dieser sich in die Eiseskälte der ihn folternden Peiniger hineinversetzt, um zu überleben – wobei ihm der Schweiß der Todesangst auf der Stirn gestanden hatte, andererseits war er der verfolgte, bedürftige zwölfjährige Junge gewesen, der Zeuge des Todes seiner Eltern geworden war und meinem Patienten gleich davon geträumt hatte, sterben zu können.Was Emil von seinem Vater unterschied war seine andrängende Panik. Er vermochte es nicht, sich zu vereisen. Der Teil des Vaters, der am liebsten gestorben wäre, seinen Eltern gleich, war sehr stark in Emil und verschaffte sich Ausdruck in unserer letzten Sitzung. Es war nicht allein die akute, panische Todesangst im Angesicht des Verfolgers, die der Vater auf den Sohn projiziert hatte, es war auch der innere Prozess, in dem er es nicht mehr ertragen und aufgegeben hatte. Der Vater hatte einem Toten gleich überlebt.

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Als Emil in seiner letzten Sitzung einschlief und träumte, hatte er vielleicht tatsächlich zum allerersten Mal einen Ort für seine eigene Bedürftigkeit gefunden, der ihm ja nicht nur durch die schicksalhaften Projektionen seines Vaters verwehrt gewesen war, sondern auch im Zuge der Umsiedelung und der damit verbundenen Abwesenheit seiner Eltern. Ein von Schuld getönter Versuch der Wiedergutmachung prägte die dichte Beziehung zu seiner Mutter. Dass er sich zuletzt derart in die Beziehung zu mir fallen lassen hatte wollen, die ich ja vieles war – die Fremde, die Verfolgerin, das Opfer, die Folterin, aber auch schließlich die, die etwas von ihm verstand –, muss ihn unglaublich geängstigt haben. Das wiederholte Aussprechen meines Namens scheint mir, einer Beschwörung gleich, seinen Wunsch zu unterstreichen, mich als konkretes, reales Objekt wahrzunehmen, das auch ihn als etwas Eigenes anerkennen könne. Es war der letztlich scheiternde Versuch, mich und sich von den Gespenstern der Vergangenheit zu unterscheiden, Realität und Phantasie zu trennen. Mir gelang in dieser sehr kurzen Behandlung ein spontaner Zugang zu Vater und Sohn, zugleich ignorierte ich die Mutter meines Patienten und ließ sie allein. Vermutlich wiederholte sich hier eine alte Konstellation. Es gab keinen Raum für sie. Es war sie, die letztlich verhungerte. Ich hatte mich in die von Emil reinszenierte Geschichte ihres Mannes hineingeworfen. Indem ich mich als Versteherin konturierte, drohte ich unbewusst, ihr Mann und Kind zu nehmen. Dabei bin ich sicher, dass sie es gewesen ist, die ihrem Mann und Emil ein Überleben ermöglicht hatte. Mein Rettungsversuch übersah sie jedoch. Ich überhörte das, was sie sagte, als der Vater sich mir anvertraute, weil ich unbewusst danach strebte, die alleinige Versteherin zu sein. So scheiterte die Behandlung letztendlich an meinem Unvermögen, die Mutter wahrzunehmen, zu würdigen und anzuerkennen, das heißt an meinem unbewussten Konkurrenzverhalten ihr gegenüber. Die abrupt entstehende Nähe zu Vater und Sohn und die mit dieser verbundene Konkurrenz zur Mutter hatten meinen inneren Spielraum vermindert und damit das Entstehen eines tragfähigen Rahmens für die Behandlung verhindert.

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Fünf Behandlungen mit zerbrechendem Rahmen und mangelndem Spielraum

Sonia, 17 Jahre – Grund der Anmeldung: Panikattacken (45 Stunden, zweimal wöchentlich eine Stunde) Darstellung des Behandlungsverlaufs

Sonia, 17 Jahre alt, bat mich mit nahezu versagender Stimme um einen Termin, den ich ihr relativ kurzfristig anbieten konnte. Eine ältere Frau (Sonias Oma) stapfte die Treppen empor und stand schon vor mir, als Sonia sich noch auf Höhe der halben Treppe befand. Sonia rang um Atem und taumelte. Aber sie hatte gehört, dass ich die Tür geöffnet hatte. Sie sah mich verwirrt an und schleppte sich mühsam, am Geländer sich ankrallend, empor. Die ältere Dame verabschiedete sich. Angekommen im Raum, auf ihrem Platz, wandte die Patientin sich von mir ab und schaute aus dem Fenster. Sonias Schönheit beeindruckte mich auf Anhieb, sehr zart, mit langen, braunen Haaren und großen, sprechenden Augen. Flüchtig warf sie immer wieder ihren Blick auf mich und begann schließlich leise zu erzählen, dabei wirkte sie sehr unwirklich und verloren auf mich. »Ich war in der Klinik. Es ist jetzt schon ein halbes Jahr her. Die Panikattacken haben fast aufgehört. Jetzt sind sie wieder da. Ich vermisse die Klinik so sehr, vor allem meine Therapeutin, Frau Gabriel. Sie wird bald aufhören dort zu arbeiten.« Tränen schossen in ihre Augen, es schienen mir Wasserfluten zu sein, die zu fließen begannen. »Als hätten Sie Ihr Zuhause verloren«, bemerkte ich. Sonia nickte: »Genauso ist es, ich habe mich so wohl gefühlt da und ich gehe ja auch noch zu Besuch hin zu Frau Gabriel. Ich hätte da für immer bleiben können. Das ist bestimmt komisch, wenn ich das so sage.« Sie sah mich fragend an. Ich: »Als hätten Sie einen Ort gefunden, an dem Sie leben konnten, aber es war nicht für immer.« Sonia: »Sie haben dann gesagt, ich soll in eine Wohngruppe ziehen, sie haben alles organisiert. Dann bin ich da hingegangen, da war eine Betreuerin, sie hat kurz mit mir gesprochen, dann ist sie in ihr Büro gegangen. Ich habe ganz allein dagesessen und da habe ich meine Oma angerufen, dass sie mich abholt. Ich lebe bei meinen Großeltern, seit ich vier Jahre alt bin. Meine Mutter, es war alles zu viel für sie, sie war drogenabhängig und ich auch im Mutterleib. Meine Mutter hat jetzt noch drei andere Kinder bekommen. Sie kommt sehr oft zu uns, sie will immer Geld. Ich habe ihr alles gegeben, was ich gespart habe. Es reicht aber nicht. Sie streitet mit meiner Oma und dann gehen sie zur Bank. Ich hasse das.« Sie schwieg, dann lächelte sie kurz und sagte: »Meine Mutter ist so.« Ich: »Keine Mutter für Sie.« Sie: »Ich habe mir immer vorgestellt, ich könnte bei Frau Gabriel, meiner Therapeutin, leben.« Ich: »Sie suchen eine neue Mutter.« Sie, wieder lächelnd: »Ich kann wirklich nicht sauer sein auf meine Mutter, sie

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Sonia

ist, wie sie ist, und meine Oma, die hat das auch gesagt, ich würde eine neue Mutter suchen, und sie hat gesagt, ich hätte eine.« Zu unserem zweiten Termin lief die Patientin die Treppe sehr schnell empor. Es sprudelte aus ihr heraus, wie die vergangene Woche gewesen sei, wie sie nicht habe schlafen können und darauf gewartet habe, mit mir darüber zu sprechen. Ich erfuhr nun auch, dass Sonia vor den Gesprächen bei mir einen Termin bei einer anderen niedergelassenen Therapeutin gehabt hatte, die ihr von der Klinik empfohlen worden war. »Ich wollte da nicht mehr hingehen«, sagte sie, »es war so fremd da.« Ich dachte: »Nun soll ich ihre neue Mutter sein.« Nach und nach erfuhr ich von der Realität der Patientin, die mir in einem Traum befangen zu leben schien. Ich hatte das Gefühl, mir ihre Geschichte zusammenbasteln zu müssen. Vor eineinhalb Jahren hatten plötzlich Panikattacken in öffentlichen Räumen begonnen: in Verkehrsmitteln, Geschäften etc. Sonia hatte dann keine Luft mehr bekommen und heftige Schwindelgefühle erlebt. Sowohl der geplante Besuch einer Realschule als auch die Aufnahme einer Ausbildung waren nacheinander jeweils nach kurzer Zeit gescheitert. Ein viermonatiger Klinikaufenthalt hatte die Symptomatik nur passager gemildert. Mit ihrer Symptomatik schien sie in eine Zeit der Todesangst zurückzugehen, die sie vielleicht zum ersten Mal empfunden haben mochte, als sie geboren worden war und an Entzugserscheinungen gelitten hatte, die lebensbedrohliche Krämpfe ausgelöst hatten. Im Alter von zwei, so erfuhr ich weiter, als der Vater, ein jordanischer Drogenhändler, des Landes verwiesen worden war und die Mutter ein weiteres Kind abgetrieben hatte, hatte sich Sonia zweimal verbrüht und war an einer lebensbedrohlichen Lungenentzündung erkrankt. Im Kindergarten, den sie im Alter von drei Jahren zu besuchen begonnen hatte, hatte sie kein Wort gesprochen. Ich hatte die Phantasie, dass sie verstummt war, weil sie nicht mehr hatte leben wollen und sich von der Mutter als ebenfalls abgetrieben erlebt hatte. Tatsächlich war sie dann im Alter von vier Jahren, die Mutter war erneut schwanger geworden, dieses Mal von einem neuen Mann, der Großmutter übergeben worden. Dort hatte sie sich über einen langen Zeitraum hinweg unauffällig entwickelt – bis vor eineinhalb Jahren die Panikattacken zum ersten Mal aufgetreten waren. Ich vermutete stark, dass damals erstmalig eine alte Wunde aufgebrochen war und viele alte Fragen aufgerissen hatte, vor allem aber eine: »Warum gab mich meine Mutter weg, warum ausgerechnet mich?« Unbewusst erlebte ich Sonja als ein Kind, das auf der Suche nach dem verlorenen, idealisierten mütterlichen Objekt war, dessen letzte Neuauflage die Therapeutin in der Kinderklinik gewesen war. Die Patientin hatte sich trösten lassen und sich bei ihren Großeltern (später in der Klinik) weiterentwickelt, denn ich war sicher, ihre

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Fünf Behandlungen mit zerbrechendem Rahmen und mangelndem Spielraum

Fähigkeiten, in Kontakt zu treten und differenziert zu verbalisieren, wurzelten in dieser Zeit, gleichzeitig war aber, zunächst unbemerkt, etwas Altes, scheinbar Vergangenes weiterhin aktiv, ein unwägbarer Schwindel, eine rätselhafte Panik, eine Todesangst. Die Sitzungen mit der Patientin erschienen mir von Anfang an als ungemein intensiv. Sie stürzte sich in sie hinein. Sonia: »Ich muss Ihnen unbedingt erzählen, was heute Nacht war. Ich konnte nicht schlafen, das ist ja oft so bei mir. Ich habe dann das Gefühl gehabt, mir wird schwindelig und am liebsten hätte ich sofort den Notarzt gerufen, wie immer. Ich weiß aber, ich weiß es wirklich, dass das nichts bringt. Ich habe plötzlich gedacht: ›Ich will das nicht mehr machen.‹ Es war schrecklich, ich habe gedacht …« Sie verstummte abrupt und sah mich entgeistert an. »Sie hatten Angst zu sterben«, sagte ich leise. Sonia begann sofort zu weinen. »Ich habe solche Angst zu sterben, solche Angst.« Ich nickte und sagte langsam, sie sei ja dem Tod auch tatsächlich nahe gewesen, damals, als sie ein Baby gewesen sei und um ihr Leben gekämpft habe. Sonia: »Ich kann es nicht mehr aushalten, und doch, es war seltsam, heute Nacht. Plötzlich wusste ich, ich kann.« Ich dachte für mich, dass sie vielleicht den Notarzt nicht habe rufen müssen, weil sie gewusst habe, dass sie am nächsten Tag zu ihrer Stunde würde kommen können. Niemals hätte ich diesen Gedanken jedoch aussprechen und mir damit diese Bedeutung für Sonia geben können. Ich hatte mit dieser Patientin immer das Gefühl, dass das, was zwischen uns geschah, heimlich und unausgesprochen zu bleiben hatte, ganz so, als dürfe es gar nicht sein. Sie: »Ich habe heute Nacht auch an die Zeit gedacht, als ich immer unter dem Tisch gesessen habe. Da war ich noch bei meiner Mutter und ihr Freund hat alles kurz und klein geschlagen. Das hat er oft gemacht.« Ich: »Es muss furchtbar, es muss unerträglich gewesen sein, da muss wieder diese schreckliche Angst gewesen sein.« Sie: »Ich weiß nicht. Eigentlich habe ich alles vergessen. Aber ich weiß, dass ich unter dem Tisch saß. Sonst weiß ich nichts.« Sonia kam zu jeder ihrer Stunden pünktlich. Ihre Symptomatik milderte sich stetig. Sie probierte viel aus und liebte es, mir davon zu berichten. »Heute bin ich mit dem Fahrrad gefahren. Ich bin seit ewigen Zeiten einmal wieder allein unterwegs gewesen, habe mich im Park auf eine Bank gesetzt. Es war wunderbar, die Sonne schien, viele Menschen waren unterwegs und das Verrückte daran: Auch ich war dabei.« Ich: »Sie lieben es, unter Menschen zu sein.« Sie: »Ich liebe es unglaublich, ich hasse die Einsamkeit in unserer Wohnung – aber, Frau Langer, es ist sicher da für mich.« Ich nickte: »Wirklich wunderbar, dass es Ihnen heute gelang hinauszugehen.« Sonia: »Ich habe noch was gemacht, etwas Verrücktes, glaube ich. Ich habe mich für einen Englischkurs bei der Volkshochschule angemeldet. Ich will das

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nicht verlernen, es hat mir immer Spaß gemacht.« Sie sah mich erwartungsvoll an. Ich dachte: »Wie ein sehr kleines Mädchen, dass die Rückversicherung für ihren unvermuteten Plan in den Augen ihrer Mutter sucht.« Ich: »Sie wollen jetzt einiges ausprobieren, sich den Dingen zuwenden, die Sie einmal geliebt haben.« Sonia berichtete mir leidenschaftlich von ihrem Versuch, den Englischkurs zu besuchen. Sie ging zu jeder Stunde hin, hielt es aber nie bis zum Schluss aus. »Heute bin ich wieder 20 Minuten früher gegangen. Ich konnte nicht mehr. Da kam diese Unruhe über mich und ich fühlte sofort: Ich muss jetzt zum Auto rennen, ich kann nicht mehr bleiben. Die Lehrerin, sie hat mir noch meine Hausaufgaben mitgegeben. Ich habe alles sofort erledigt, nachdem ich zu Hause war.« Ich: »Ich glaube, Sie versuchen, was Sie können, und es ist viel.« Sie: »Ich war auch mit meiner Oma in einem Schuhgeschäft, da war ich schon seit mindestens zwei Jahren nicht mehr. Ich habe viele Schuhe anprobiert, dann kam die Panik, ich musste weg. Aber wir haben ein Paar Schuhe mitgenommen.« Sie streckte ihre Beine aus, um mir die neuen, weißen Stiefel zu zeigen. »Es ist mir ja eigentlich ganz egal, die Schuhe.« Ich: »Sie sind sehr schön.« Ich dachte darüber nach, dass Sonia alle Sitzungen bei mir bis zum Ende aushielt. Das war tatsächlich von Anfang an gar keine Frage für mich gewesen, es war wie selbstverständlich. Nicht die kleinste Unsicherheit hatte ich diesbezüglich gefühlt. Und doch, war es nicht seltsam? Ich sah sie noch einmal vor mir, als sie zu unserer ersten Stunde die Treppe emporgetaumelt war. »Gestern bin ich mit dem Bus gefahren«, Sonia sah mich herausfordernd an. Ich: »Wie, mit dem Bus?« Sie, strahlend: »Ja, mit dem Bus, ganz allein, ich bin zum Sommerfest der Feuerwehr gefahren.« Ich: »Ganz unglaublich.« Sie: »Ich bin da durchgelaufen, habe mir ein Eis gekauft, dann habe ich lange am Autoscooter gestanden, da spielte so eine tolle Musik und«, sie senkte ihren Blick plötzlich zu Boden und verstummte. Ich, meine Neugier war geweckt: »Und …« Sie: »Das ist mir jetzt irgendwie peinlich, aber da haben mich zwei Jungens gefragt, ob ich mal mitfahren will.« Ich: »Irgendwie auch wunderbar.« Sie: »Schon, der eine war wirklich süß, aber ich habe sofort Nein gesagt.« Ich: »Mhm.« Sie: »Es hätte mir schon Spaß gemacht, ich habe mich einfach nicht getraut.« Ich: »Kann ich schon verstehen.« Sie: »Aber, als ich zu Hause war, da hatte ich bei Facebook endlich mal was zu erzählen.« Sie strahlte mich an. Ich: »Mir ja auch, mir haben Sie so einiges zu erzählen in den letzten Wochen.« Sonia: »Ich liebe das.« Ein ganz großes Thema unserer Stunden war das Nein, das Sonia so selten zu sprechen vermochte. Die Nachbarin brachte ihr regelmäßig die kleine Tochter zur Betreuung. Sonia liebte die Kleine, die gerade erst zwei Jahre alt war und oft zu ihrer Mama zurück wollte. Sonia ging dann mit ihr zur Mama, dann wieder

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auf den Spielplatz, dann hin zur Mama und wieder zurück auf den Spielplatz. »Marie braucht das, dass ich sie immer wieder zu ihrer Mutter bringe«, sagte sie. Es war aber deutlich, dass es Sonia oft zu viel war, die tägliche Betreuung Maries. Sie: »Ich bin froh, wenn ich zu Ihnen gehe, dann kann sie Marie nicht zu mir bringen.« Ich: »Es ist Ihnen zu viel.« Sie: »Das darf ich aber nicht sagen.« Ich: »Warum?« Sie: »Das geht nicht.« Ich: »Als dürften Sie nicht auch einmal Nein sagen.« Sie: »Nein will ich nicht sagen, ich vermeide es, ich will das nicht.« Ich: »Irgendwie auch unangenehm.« Sie, langsam: »Schon, ich weiß auch nicht, aber manchmal denke ich, alle sagen Nein und ich kann das nicht auch noch machen.« Ich: »Wie meinen Sie das?« Sonia: »Meine Großeltern zum Beispiel, sie streiten und schreien sich an, meine Oma kann schon schrecklich sein. Sie provoziert den Opa, bis er ausrastet. Ich kann das nicht aushalten, wenn sie so laut sind und schreien. Ich sage dann immer: ›Bitte, bitte, es ist so laut, bitte, bitte, streitet nicht.‹« Ich: »Wie damals, in der alten Zeit, als Sie bei Ihrer Mutter und ihrem Freund unter dem Tisch gesessen haben.« Sonia: »Ja und nein, damals habe ich mich versteckt, bei Oma und Opa gehe ich dazwischen und manchmal, ja manchmal schaffe ich es, sie aufzuhalten. Der Opa sagt dann: ›Sonia hat recht, wir sollen das nicht weiter machen, vor ihr streiten.‹« Ich: »Dann bedeutet Nein sagen also, dass es laut wird, zum Streit kommt.« Sonia: »Das haben Sie jetzt genau richtig verstanden, Frau Langer, und genau das will ich nicht.« Ich nickte und dachte: »Das Nein kommt einer Katastrophe gleich, einer androhenden Explosion, vor der man sich nur schützen kann, wenn man sich unter dem Sofa verkriecht und alles vergisst, was man selbst gerne sagen würde.« In einer der folgenden Stunden vermochte ich zu sagen: »Sonia, Sie haben eine sehr eigene Art erfunden, das Nein zu sprechen. Wenn Sie nicht mehr können und zum Auto rennen müssen, wenn Ihnen alles zu viel wird, wenn die Panik kommt – das ist Ihre Art von Nein.« Sie sah mich ungewöhnlich lange schweigend an, ich dachte: »Direkt in meine Augen hinein.« »Ich weiß nicht«, stammelte sie schließlich, »ich will das ja nicht.« »Ich weiß schon«, bemerkte ich, »und trotzdem, es kommt mir vor wie ein Nein.« »Ich weiß nicht«, wiederholte Sonia, »ich weiß es wirklich nicht.« Wir schwiegen lange, bis zum Ende der Sitzung. Einmal traf ich mich mit der Großmutter, die Sonia zu all ihren Terminen fuhr. Ich erfuhr so viel, dass ich den Eindruck hatte, mir platze der Kopf. Sonias Großmutter hatte acht Kinder, fünf davon lebten in Israel, bei ihrem Vater, den sie vor 40 Jahren in einem Nachtclub in München kennengelernt hatte, wo sie als Tänzerin gearbeitet hatte. Mehrmals hatte sie in den vergangenen Jahren zusammen mit Sonia ihre Söhne und ihren Exmann in Israel besucht. »Ich habe meine Eltern im Krieg verloren, mein Vater war Offizier, unser Haus in Ham-

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burg wurde zerbombt. Ich war gerade bei meiner Tante zu Besuch, deshalb lebe ich noch. Ich kam dann in ein Waisenhaus, ich bin aber immer wieder weggerannt, zu meiner Tante, die hatte eine Arbeit auf der Reeperbahn gefunden als Rollschuhartistin. Sie brachte mir alles bei und ich bin da auch aufgetreten, später in Nachtclubs. Es war schrecklich, ganz schrecklich, als mir mein Mann all meine Kinder genommen hat, er verschwand plötzlich mit ihnen und ich blieb ganz allein zurück. Ich habe dann einen neuen Mann kennengelernt, hatte mit ihm einen Sohn, dann habe ich meinen jetzigen Mann kennengelernt.« Sie zog ihr Portemonnaie hervor und zeigte mir sein Bild. »Ich bekam mit ihm zwei Töchter. Meine jüngste Tochter ist die Mutter von Sonia. Sie kam schon früh mit Drogen in Berührung, sie heiratete einen Ägypter. Sie war so ein schüchternes Mädchen, genau wie Sonia. Sie rief uns täglich an und beschwor uns, sie nach Hause zu holen. Wir sind dann dahin gereist, wir haben sie nach Hause geholt, aber irgendwie wurde es dann richtig schlimm. Sie lernte Sonias Vater kennen, einen jordanischen Drogenhändler. Er war schon richtig nett, kam aus gutem Hause, besaß einige Ländereien in seinem Land, aber, er hat sie ganz schlimm mit Heroin angefixt. Sie hat ihn eigentlich nur geheiratet, um an das Heroin zu kommen. Er wurde des Landes verwiesen, aber er ruft mich heute noch oft an und fragt nach Sonia. Er hat ihr ein goldenes Armband geschickt und einige wertvolle Ringe. Und meine Tochter, sie ist seit Jahren in einem Methadonprogramm. Sie kommt mehrfach in der Woche, sie braucht immer Geld, und ich kann ihr nicht Nein sagen, am Ende gehe ich immer mit ihr zur Bank, und, Frau Langer, wir sind ja nicht reich. Manchmal muss ich etwas von dem Sparbuch nehmen, das ich für Sonia angelegt habe, und Sonia, sie will ihrer Mutter immer alles geben, was sie hat. Sie sagt: ›Ich brauche gar nichts, sie kann alles haben, wenn es nur still ist und nicht laut.‹« Ich: »Es scheint, Sie können Ihrer Tochter nicht Nein sagen.« Sie: »Ich will ja, ich sage es auch, aber dann kommt immer derselbe Punkt, ich kann nicht mehr. Ich nehme es mir tausend Mal vor, aber dann kann ich nicht mehr, dann gehe ich mit ihr zur Bank. Ich weiß genau, das ist falsch, so falsch, und meinem Mann darf ich das gar nicht sagen. Aber sie, meine Tochter, sie kommt immer mit ihrem Auto und ihrem Freund angefahren und dann haben sie kein Benzin mehr, um zurückzufahren, und so viele Male ich auch fest entschlossen war, Nein zu sagen, das Geld für Sonia zu sparen, es klappt nicht, es klappt gar nicht. Ich schäme mich.« Sonia erzählte mir von der begonnenen Lehre als Rechtsanwaltsfachangestellte, deren Scheitern, so verstand ich langsam, zum Ausbruch der Panikattacken geführt hatte. Ihre Tante (Schwester der Mutter), selbst Rechtsanwaltsfachangestellte, hatte ihr die Ausbildung bei ihrem Chef vermittelt. Sonia begann die Ausbildung voller Freude. Sie liebte ihre Arbeit, aber auch den Besuch der

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Berufsschule, wo sie sich mit einigen Mädchen anfreundete. Sie schrieb einige gute Klassenarbeiten, auch ihr Chef war mit ihr zufrieden. In diese Situation hinein platzte die Mitteilung ihrer Tante: »Du kannst hier nicht bleiben. Dieser Beruf ist nichts für dich, du schaffst das nicht, du kannst das keinesfalls schaffen. Es ist besser, wenn du gehst.« Sonia brach daraufhin ihre Ausbildung sofort ab. Die Lehrer in der Berufsschule versuchten sie, eine gute Schülerin, zu halten und zu beraten. Sonia aber wollte nichts mehr hören, sie vergrub sich zu Hause, bei den Großeltern. Als sie kurz darauf, zusammen mit ihrer Großmutter, eine in eine andere Stadt gezogene Familie besuchen wollte, brach sie während der Fahrt im Zug in Panik aus. Die Fahrt musste abgebrochen werden. Sonia fühlte sich fortan nur noch in ihrer Wohnung oder aber im Auto der Großeltern sicher. Aus späteren Erzählungen schloss ich, die Tante, die Sonia eine Ausbildungsmöglichkeit eröffnet hatte, ertrug deren Erfolg nicht. Sonia stand sozusagen anstelle der verhassten Schwester, um die sich alles zu drehen hatte. Die Tante hasste ihre Schwester, Sonias Mutter, unerbittlich, verließ das Haus der Eltern, sobald diese anreiste. Sie brachte ihre Kinder oft zu den Großeltern und wünschte, dass diese dort betreut würden. Sie konkurrierte in dieser Weise stark mit ihrer Schwester, deren erstes Kind, Sonia, von den Großeltern aufgenommen worden war. Sonia: »Die sind ziemlich wild, meine Cousinen, sie sprechen wildfremde Leute auf der Straße an. Sie sagen dann auch Ausdrücke, manchmal schäme ich mich, aber ich muss auch immer lachen.« Ich: »Es gefällt Ihnen, die trauen sich so viel.« Sie, lachend: »Viel zu viel, aber ich muss das zugeben, es gefällt mir, es macht mir solchen Spaß.« Es verwirrte Sonia zutiefst, als sie in den Gesprächen mit mir die Rolle ihrer Tante und deren Konkurrenz mit ihrer Mutter erkannte, die Aggression insgesamt, die in der Familie herrschte. Gleichzeitig war ich mir sicher, dass sie alles längst gewusst hatte, in einem Winkel ihres Herzens, den sie auszulöschen versucht hatte und noch immer auslöschen wollte. Da lauerte ein tiefer Schmerz, eine ungeahnte Wut in ihr. Denn schließlich war sie es gewesen, die mich auf die Spur gebracht hatte. Sie begann mir in jeder Stunde von ihrer alten Therapeutin in der Klinik zu erzählen. »Heute, ich fuhr im Auto, da habe ich gedacht, ich bin an ihr vorbeigefahren, das ist schon ein paar Mal vorgekommen.« Ich: »Sie würden sie so gerne einmal wiedersehen.« Sie: »Ich habe auch überlegt, ob sie nicht in Wirklichkeit meine Mutter ist. Ich finde, sie sieht mir sehr ähnlich. Meine Oma lacht mich aus. Und es ist ganz sicher, ich werde sie einmal wiederfinden. Ich werde nicht aufhören sie zu suchen. Sie hat ja gesagt: ›Ich nehme jetzt eine Auszeit, später kannst du wiederkommen.‹« Ich: »Wie wollen Sie wissen, wo sie ist, in welcher Stadt?« Sonia: »Ich finde das raus.« Ich: »Sie sind auch gar nicht böse,

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dass sie sich so unerreichbar für Sie gemacht hat.« Sie: »Auf Frau Gabriel kann ich nicht böse sein. Ich muss sie halt finden.« Ich dachte sehr viel nach über Sonias Suche nach einem unerreichbaren Objekt. Ich überlegte, dass das unerreichbare Objekt ihrer Phantasien sie nicht würde enttäuschen, nicht würde wegrennen können. Das konkrete Objekt war hingegen ebenso wie ihre Mutter davongerannt. Was sie von ihm in sich aufbewahrte, war ein reines, gutes, erlösendes und ideales Objekt, befreit von all seinen realen Enttäuschereigenschaften. Meine Gedanken halfen mir jedoch nicht, die langsam ansteigende Wut zu löschen, für die ich mich zutiefst schämte. Ich fühlte mich von dieser Patientin entwertet. Ich dachte: »Du versuchst sie zu halten, du ermöglichst ihr einen realen Ort, den sie nutzt, um sich zu entwickeln, aber es ist, als bedeute das gar nichts. Es ist, als zähle die Realität einfach nicht.« Ich verstand nur schwerfällig, dass ich trotz der Dichte und Lebendigkeit unserer Sitzungen nichts weiter als ein unzureichender Ersatz war. Sonia: »Ich werde nach den Sommerferien in die Tagesklinik gehen. Meine Sozialarbeiterin im Jugendamt hat mir das empfohlen. Ich habe auch so eine Ahnung, dass ich Frau Gabriel da begegnen werde.« Ich, schnell über die schmerzhafte Enttäuschung hinwegspringend: »Dann hören unsere Stunden auf. Schade, da bricht etwas ab zwischen uns.« Sie: »Danach brauche ich wieder eine Therapeutin.« Wir schwiegen lange. Ich hatte mit einem starken Anfall von Hass zu kämpfen und dachte, dass ich sie nicht noch einmal würde nehmen wollen: »Soll sie doch dann zu Frau Gabriel gehen!« Dabei empfand ich mich als genussvoll-sadistisch. Das Gefühl der Wertlosigkeit, das Sonia mir vermittelte, schien mir nicht dazu zu passen, dass Sonia stets pünktlich und mit einem Strahlen im Gesicht zu mir kam. Im Gegensatz zu allen anderen Aktivitäten ihres Lebens hatten unsere Sitzungen Bestand. Sie rannte kein einziges Mal hinaus, sie blieb immer bis zum Ende. Ich war mir sicher, dass sie ihre Stunden bei mir liebte. Es gelang mir nicht, diese beiden Phänomene in Einklang miteinander zu bringen. Ich: »Sonia, nun liegen noch zwei Monate vor uns bis zu Ihrem Termin in der Tagesklinik. Ich habe mich gefragt, ob Sie bis dahin überhaupt noch zu mir kommen wollen.« Sie schaute mich wie erstarrt an und sprach dann schnell: »Ich will bis dahin kommen, auf jeden Fall.« Ich dachte sofort: »Jetzt bist du so ein schäbiger Rettungsanker.« Ich sehnte mich danach, Nein zu sagen, und begriff in diesem Moment: Ich war in der Welt meiner Patientin gefangen, die das Symptom ihrer Panikattacken, das Nein, das sie nicht aussprechen konnte, nun, da sie selbst begonnen hatte, Nein zu mir zu sagen, auf mich übertragen hatte. So verfing sich das Objekt (ich), dem sie, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, ein Nein entgegenhielt, in Rachegedanken.

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Sonia brachte in den letzten Stunden noch einmal viele Erinnerungen an ihren Klinikaufenthalt mit, Bilder, die sie gemalt, Musik, die sie erfunden hatte und viele Fotografien. Sie liebte es, wenn ich das Mitgebrachte anschaute, anhörte. Sie sah mich dann sehr ernst an und ich hatte immer das Gefühl, etwas sehr Wichtiges mit ihr zu teilen. Sie erzählte mir auch, dass sie nun wieder ganz normal am Tisch essen könne, zusammen mit ihren Großeltern. Sie könne kauen und schlucken und müsse sich nicht mehr zwingen. Es schmecke ihr, zum ersten Mal seit vielen Monaten wieder. Bis zur allerletzten Sekunde hoffte ich, sie würde weiter zu mir kommen. Denn trotz meines Aufgeladenseins mit Hass, spürte ich gleichzeitig, dass etwas Bedeutsames zwischen uns geschah, das nicht aufhören dürfe. Da war eine zarte Liebe zwischen uns, die ich empfand und die im Widerspruch zu meiner Erbitterung stand, eine tiefe Freude am Zusammensein, an ihrer Entwicklung. Zu ihrer allerletzten Stunde kam die Patientin nicht. Sie rief mich an. »Mir ist so schwindelig, ich kann nicht rausgehen, ich schaffe es nicht. Es tut mir so leid, es ist ja unsere letzte Stunde. Ich war heute Morgen in der Tagesklinik zum Kennenlernen. Es ist alles zu viel, ich kann nicht mehr. Es tut mir auch so leid, dass ich so kurzfristig anrufe, bis zum Schluss habe ich gedacht, ich kann zu meiner letzten Stunde kommen, aber ich kann nicht einmal aufstehen.« Dann entstand eine längere Stille in der Leitung. Sonia atmete schwer. Ich bemerkte, dass ich plötzlich sehr schnell und atemlos zu sprechen begann: »Wie schade, Sonia, dass wir unsere letzte Stunde nicht haben können«. Ich ließ mich dabei auf meinen Stuhl fallen und fuhr fort: »Ich wünsche Ihnen alles Gute.« »Danke, Frau Langer, vielen Dank«, sagte sie und es war mir, als weine sie, bevor sie den Hörer endgültig auflegte. Abschlussbetrachtung des Behandlungsverlaufs

Erst als Sonia schon lange gegangen war, fand ich den inneren Raum, über das Scheitern dieser Behandlung nachzudenken. Ich benötigte eine Distanz zu den mich überwältigenden Gefühlen von Hass, Wut und Hilflosigkeit. Erst sehr spät und ohne dass es meine ambivalenten Gefühle zu verändern vermocht hätte, hatte ich in der Behandlung den Gedanken zulassen können, dass es genau diese nicht zu ertragenden Gefühle waren, die meine Patientin in die Panikattacken zwangen. Im Nachhinein erschien es mir nun unvermeidlich, dass sie an einem erträumten, unerreichbaren Objekt hatte festhalten müssen. Denn in der Realität anzukommen und zu bleiben, hätte destruktive Gefühle wiederbelebt, wobei gar nicht sicher gewesen wäre, ob diese überhaupt überlebbar gewesen wären. In unseren Stunden hatten wir sie berührt, jedoch selbst dieses leise Berühren hatte Sonia in die Flucht geschlagen: War sie nicht in einer Art von unbewuss-

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ter Panik davongerannt und hatte sich nur mühsam in die Tagesklinik gerettet, um dort an ihren alten Traum von einem erlösenden Objekt anzuknüpfen? Die Wirklichkeit, für die ich stand, war meiner Patientin verhasst gewesen, denn sie hatte ihr außer Schrecken und Panik wenig zu bieten gehabt. Um diesen zu entgehen, hatte sie sich in ihrem Zimmer vergraben. Sehr vorsichtig war sie zunächst zu mir gekommen, schnell hatte sich diese Vorsicht jedoch in eine bedenkenlose Begeisterung verwandelt. Das musste sie erschreckt haben. Es war zu viel gewesen. Sie hatte sich nicht noch einmal einem Menschen anvertrauen wollen, um ihn dann zu verlieren. Unbewusst hatte sie entschieden, dass ich einer zu viel sei. Ihre Phantasien kann ich mir inzwischen, aus der Distanz, gut vergegenwärtigen: »Auch Frau Langer wird einmal gehen, darauf warten kann ich nicht.« So hatte sie sich lieber an ihr vorheriges idealisiertes Objekt, an Frau Gabriel, gehalten: »Vielleicht kann ich sie ja noch einmal finden, irgendwann einmal werde ich sie wiederfinden.« Was zwischen uns gewesen war, hatte keinen Bestand haben dürfen, weil es einen heftigen, alten Schmerz belebte. Sonia hatte mich verlassen müssen. Denn auf diese Weise hatte sie mich zu der Zurückbleibenden gemacht, die sie selbst gewesen war, als die Mutter sie verlassen hatte und neue Kinder bekommen hatte. Sonia hatte ihren Schmerz und Hass, ihr Gefühl vollkommener Wertlosigkeit auf mich übertragen. Unbewusst hatte sie mir gesagt: »Es zählt alles nicht. Was ist, zählt nicht. Ich suche die, die nicht da ist, von ihr muss ich träumen, sie will ich finden.« In der Übertragung war ich, der Großmutter gleich, ein hilfreiches, sie haltendes und ihre Entwicklung förderndes Objekt gewesen. Es war in unserer Beziehung nicht darum gegangen, das idealisierte, unerreichbare Objekt zu finden, dem Sonia nachjagte. Denn das Finden, da bin ich inzwischen sicher, hätte das erträumte Objekt zerstört. Gleich mir hatte die Patientin eine kurze Zeit lang vieles erhofft. Die Realität war kurzzeitig erschienen, so als sei doch möglich, was unmöglich war. Wir hatten, Don Quichotte und Sancho Panza gleich, mit den Windmühlenflügeln gekämpft, die Gespenster einer unbegreiflichen Realität waren, an der wir scheiterten. Für diese kumulativ traumatisierte Patientin, für die es von Beginn an keinen Lebensrahmen gegeben hatte, konnte auch der Behandlungsraum nicht zum Rahmen und Spielraum werden. In ihrer Angst vor Nähe und Beziehung, von denen sie nur Enttäuschung fürchtete, gestaltete sie eine von idealisierten Objekten bevölkerte Szenerie, die auch mich einschloss. Wie in allen scheiternden Behandlungen kam es auch in dieser zur unbewussten Gestaltung einer konkurrenten Konstellation, nämlich zu der zwischen der alten Therapeutin und mir. Erst im Nachhinein verstand ich, dass es diese Konstellation gewesen ist, die meinen inneren Spielraum verengte und manipulierte und an der der Rahmen zerbrach.

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Fünf Behandlungen mit zerbrechendem Rahmen und mangelndem Spielraum

Martin, zehn Jahre – Grund der Anmeldung: Ängste, Kopfschmerzen, nachlassende Schulleistungen (70 Stunden, zweimal wöchentlich eine Stunde) Darstellung des Behandlungsverlaufs

»Meinem Sohn geht es nicht gut, ich brauche dringend Hilfe«, so begann Martins Mutter unser Gespräch. »Ständig klagt er über Kopfschmerzen, seine Schulleistungen haben dramatisch nachgelassen. Es ist auch noch mehr, er hat Angst vor so vielem, was andere Kinder in seinem Alter lieben. Er fährt nicht Karussell, er steigt in kein Boot, Klettern ängstigt ihn und er kann noch immer nicht schwimmen, spontane Unternehmungen kommen gar nicht infrage. Es versetzt ihn regelrecht in Panik, wenn ich am Nachmittag vorschlage, eine Fahrradtour zu machen.« Ich nickte und erwiderte, dass Martin sein Leben nur in einem eingeschränkten Radius zu ertragen scheine, als könne er sich draußen nicht sicher fühlen. Sie: »Da ist auch die lange Geschichte mit seinem Vater, mit dem Gericht. Vor vier Jahren begann Martins Vater schwer zu trinken, es gab nichts, gar nichts, was ihn dabei hätte aufhalten können. Ich habe mich ein halbes Jahr später von ihm getrennt, er war vollkommen unansprechbar und gewalttätig gegen mich. Er hat dann unser Haus belagert, es kam zu einem polizeilichen Annäherungsverbot, und ich habe die Scheidung eingereicht. Kurz darauf hat er erfolgreich eine Entziehungskur gemacht, seither darf Martin ihn alle vierzehn Tage besuchen. Der Streit um das Sorgerecht hat zwei Jahre gedauert, Martin wurde wieder und wieder befragt, ein Gutachten wurde angefertigt, und seit nunmehr zwei Monaten habe ich das alleinige Sorgerecht. Ich habe immer gedacht, dass Martin Hilfe braucht, aber sein Vater hat das blockiert, wir konnten einfach nirgends landen.« »Wie es wohl früher war mit Martin?«, warf ich ein. Ich sah, sie senkte ihren Blick, Tränen schossen ihr in die Augen, und sie erholte sich nur langsam. »Ich war ziemlich erschöpft nach dem Kaiserschnitt. Martins Vater hat ihn gleich genommen.« Sie starrte vor sich hin. Ich: »Als hätte er ihn Ihnen weggenommen.« Sie, verzweifelt weinend: »Ich kam mir so überflüssig vor, es war ganz schrecklich, ich konnte Martin nicht beruhigen.« Ich dachte plötzlich: »Da ist dieses Steife an ihr, dieses Karge.« Sie, fortfahrend: »Ich bin auch fast erstickt. Martins Vater wollte nur mit mir und unserem Kind zusammen sein, er lehnte alle Außenkontakte ab. Ich konnte das nicht, wir haben uns den Erziehungsurlaub geteilt. Er hat es mir stark vorgeworfen, wenn ich rausgegangen bin, um mich mit Freunden oder Kollegen zu treffen. Martin hat es uns immer leicht gemacht, er war nie trotzig wie andere Kinder.«

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Martin

Martin, den ich wenig später sah, fegte wie ein Kobold durch meine Praxis, in einer rasanten Mischung von Kindlichkeit und erwachsenem Gestus. »Mein Anwalt hat gesagt, dass ich herkommen muss«, sagte er. Ich musste lächeln: »Dein Anwalt?« »Ja, ich muss ja immer vor Gericht und sagen, wo ich leben will, bei Papa oder bei Mama. Ich sage immer: ›Papa.‹ Ich bin aber trotzdem bei meiner Mama, und ich habe einen Anwalt.« Ich: »Eine schwere Entscheidung.« Martin: »Nein, ich sage immer dasselbe, ich will zu meinem Papa.« Er sei Streitschlichter seiner Klasse, erzählte er mir. Immer, wenn welche in seiner Klasse sich stritten, rede er mit denen und versuche, sie zu versöhnen, was ihm fast immer gelinge. Als ich einwarf, er habe da einige Erfahrung, seine Eltern hätten sich getrennt, und vielleicht habe er sich auch da gewünscht, den Streit zu schlichten, wurde er merklich bedrückt und verfiel in Schweigen. »Manchmal bin ich schon ganz wirr im Kopf«, äußerte er schließlich. »In viereinhalb Jahren, wenn ich vierzehn bin, werden sie mich wieder fragen.« »Vielleicht ist es gut so, wie es ist«, sagte ich, »gut, zur Ruhe zu kommen.« »Mein Vater will, dass ich zu ihm komme, und ich will das auch, aber ich will auch bei meiner Mutter bleiben«, äußerte er langsam. »Das muss wirklich schwer sein für dich«, sagte ich leise, »dass du diesen Streit nicht wirst schlichten können.« Ich sah, dass Tränen in seinen Augen standen, aber er erholte sich rasch und fing wieder an zu erzählen, von Judo, da könnten auch Kinder schon den schwarzen Gürtel machen. »Hm, Kinder«, sagte ich zweifelnd. Da fing er lustvoll an, mir einige Judokunststücke vorzuführen, und konnte gar nicht mehr aufhören damit. Ich musste lachen und merkte, wie ich Spaß an seinen Vorführungen hatte, die mich alles vergessen ließen, worüber wir gesprochen hatten, so, als sei alles gut. Martin, so schloss ich aus unserem ersten Gespräch, versuchte das ihn verunsichernde Erleben der Trennung seiner Eltern kontraphobisch zu beantworten: als Streitschlichter, als imaginierter Träger des schwarzen Gürtels. Gleichzeitig entwickelte er multiple Ängste: abzustürzen (beim Klettern), zu ertrinken (beim Bootfahren), etwas nicht mehr stoppen zu können (beim Karussellfahren). Unvorhersehbares stürzte ihn in Panik, wovor er sich mit einer extremen Ritualisierung seines Alltags zu schützen suchte. Es fiel mir auch auf, dass es eine frühe Schwierigkeit Martins gab, das Nein auszusprechen, Aggression in die Beziehung einzubringen – als habe er schon als Kleinkind aufpassen, die Eltern hellhörig zusammenhalten und versöhnen müssen. Seine Bedürftigkeit, aber auch seine Sehnsucht, wahrgenommen zu werden, hatten sich im Erstinterview in seinen konkreten Judovorführungen Ausdruck verschafft, von denen er sich sehr gewünscht hatte, dass ich ihm Beifall klatschen, mich an ihm erfreuen und alles außer ihn, der da war, vergessen würde.

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»Ich muss dir was erzählen«, begann er eine unserer ersten Behandlungsstunden, »der Jonas, der sich immer prügelt, der hat auch eine Therapeutin, und die hat ihm eine Bescheinigung ausgestellt, dass er zurückschlagen darf, wenn er dreimal geärgert wurde. Also, ich finde das nicht richtig, er darf nicht schlagen, er darf überhaupt nicht schlagen.« Wir schwiegen. Martins Augen begannen zu blitzen und er sagte, er wolle auch solche Bescheinigungen. Er begann hektisch aufzuschreiben: »Meine Mutter muss mir vorher sagen, wenn sie mit mir wohin fahren will. Sie soll nicht mit mir ins Ausland fahren. Andreas [der Freund der Mutter] soll nicht mehr so oft kommen. Meine Mutter soll nicht immer motzen und motzen.« Ich: »Es scheint irgendwie schwer zu sein mit deiner Mutter.« Martin: »Es ist schrecklich. Ich halte es nicht mehr aus. Meine Mutter ist schrecklich, sie macht, was sie will, immer sitzt sie an ihrem Schreibtisch.« Ich: »Als ob sie nie Zeit für dich hätte.« Martin: »Sie hasst mich. Ich hasse sie.« Sein Ausbruch irritierte mich, ich bemerkte, wie ich an die Mutter zu denken begann, eine mich berührende Frau, und seine Wahrnehmungen anzweifelte. Martin, als habe er meine Zweifel gespürt, sprang von seinem Stuhl auf und drosch mit beiden Armen wild um sich, dabei machte er gepresste Geräusche. Ich verstand, dass er mir vormachte, wie er auf seine Mutter einschlug, die ihn zerstören und auslöschen wollte. Er befand sich fast in einem Veitstanz, es war furchtbar, ihm zuzusehen. Vielleicht meinte er auch mich, die ich ihm nicht glauben konnte und allein ließ mit seiner Wahrnehmung. »Ich will zu meinem Vater«, schrie er plötzlich. »Zu deinem Vater«, wiederholte ich atemlos. »Ja, zu meinem Vater, er ist anders, er ist nicht wie meine Mutter.« Martin begann wieder, wie um zu veranschaulichen, wie seine Mutter ist, mit seinen Armen um sich herumzudreschen. Ich war völlig erledigt und dachte: »Das ist er, Martin, der auf mich eindrischt. Ich kann nicht mehr, ich weiß nicht mehr, was ich sagen will.« Dabei fühlte ich mich, als könne ich nichts richtig machen. Wir schwiegen. Ich: »Du wolltest diese Bescheinigungen von mir – als ob ich Stellung beziehen sollte zwischen Mutter und Vater.« Martin: »Du sollst ihr sagen, dass sie das nicht mit mir machen darf. Sie sagt: ›Los, ins Auto, wir fahren da und da hin.‹ Dann sage ich: ›Nein, ich will gar nicht, du machst alles so plötzlich.‹ Dann sagt sie: ›Hör auf, fang nicht wieder so an.‹« Ich: »Als ob sie alles falsch macht, wie ich, die ich keine Bescheinigungen ausstelle.« Martin: »Du musst mir gar keine Bescheinigung ausstellen, aber du sollst ihr das sagen, ich kann es nicht.« Ich, plötzlich völlig hilflos: »Was ist das eigentlich, was ich sagen soll?« Martin, ganz schnell: »Andreas soll nicht dauernd kommen.« Ich: »Du denkst, sie liebt ihn und dich nicht.« Martin: »Sie liebt mich gar nicht, sie sitzt an ihrem Schreibtisch oder sie ist unten mit Andreas.« Ich: »Sie soll auch mit Martin zusammensitzen.« Martin schrie wieder laut: »Ich hasse sie. Ich will

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Martin

weg. Ich will zu meinem Vater. Sie ist schlecht, an ihr ist alles schlecht. Jetzt will sie mit mir wegfahren an Ostern, ins Ausland, ich will das nicht, sie will immer ins Ausland.« Bevor er ging, ordnete Martin, wie in allen vorherigen Sitzungen, den Kasten mit den Playmobil-Figuren, der wie immer offen stand, weil er überfüllt war und außer Martin es niemand schaffte, diesen Kasten zu schließen. Nach dieser Stunde wurde mir bewusst, wie allein ich Martin in seinem Veitstanz gelassen hatte, den ich ausgelöst hatte, weil ich innerlich gegen seine Anklagen der Mutter angekämpft hatte. Es war mir nicht gelungen, ihm einen Raum zur Verfügung zu stellen für das, was ihn bewegte. Ich hatte nicht hören können, was er hatte sagen wollen. »Vermutlich geht es ihm immer so«, schoss es mir durch den Kopf, »zwischen den zerstrittenen Eltern gibt es keinen Platz für Martin, und er ist dabei zu verzweifeln.« In die kaum begonnene Behandlung (ca. 25 Stunden) platzte die Nachricht hinein, dass der Vater Martins eine erneute Verhandlung vor der nächsthöheren Instanz, dem Oberlandesgericht, in die Wege geleitet hatte. Die Mutter, die sich mit dem Sorgerechtsgutachten, das die Grundlage der vorherigen Gerichtsverhandlung gewesen war, ihr Martin zuzusprechen, sicher gefühlt hatte, fiel aus allen Wolken. Es ging nun alles sehr schnell: Die Richterin des Oberlandesgerichtes kam zu einer völlig neuen Sicht, verordnete ein gemeinsames Sorgerecht und sprach das Aufenthaltsbestimmungsrecht dem Vater zu. Auch ich war darauf nicht vorbereitet. Die Bedingungen, unter denen ich die Behandlung aufgenommen hatte, existierten nicht mehr. Ich erlebte die Mutter als extrem verunsichert. Zwar versuchte ich sie zu beraten, erklärte, wie sehr es auch mich überrasche, dass ein Sorgerechtsgutachten derart verleugnet worden sei. Es wurde mir aber schnell klar, dass sie resignierte, anstatt zu kämpfen. Sie ließ sich Martin ein weiteres Mal wegnehmen. Dann sah ich Martin. Er hatte ganz rote Backen, so hatte ich ihn noch nie gesehen. Als Erstes sagte er: »Jonas hatte wieder sein Böcklein. Schon nach der ersten Stunde musste er nach Hause. Er wird keine normale Schule besuchen können, das steht fest.« »Er ist ausgerastet«, bemerkte ich, »er hält es nicht mehr aus.« Martin zeichnete eine Figur, die Feuerpfeile schoss. Die Figur gehörte zu einem Internetspiel, das er über einen Freund kennengelernt hatte. Er redete wie atemlos, es entstand keine Pause. Ich fühlte eine tiefe Traurigkeit in mir hochsteigen. »Er redet um sein Leben«, dachte ich. »Er will nicht, dass ich etwas über die Gerichtsentscheidung sage.« Ich merkte, dass ich vor Angst am liebsten die Luft angehalten hätte. »Alles, was ich sagen werde, wird falsch sein«, dachte ich, »egal, ob ich darüber spreche oder nicht.« Ich schaute ihm zu, und das, was er

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sagte, floss an mir vorbei. Ich kam mir vor wie versunken und schämte mich deswegen. Ich war mir sicher: »Du kannst dieses getriebene Kind nicht beruhigen, du weißt nicht, was du machen sollst.« Martin malte der Figur Flügel. »Wie ein Engel«, sagte ich. Martin lächelte plötzlich und schaute mich intensiv an, als hätte ich etwas verstanden. »Wie ein Engel«, wiederholte er und führte aus: »Er kann so in den blauen Wolken sein und darin umherfliegen.« In dieser Sitzung schaute Martin nicht nach der Uhr. Sonst sah er immer schon zehn Minuten vor der Zeit nach, ob die Stunde nicht schon zu Ende sei. Er redete und redete. Heute war ich diejenige, die sagte, unsere Zeit sei vorbei. Mir schien, dass er hinaustaumelte, ich hörte, dass er auch im Treppenhaus noch weitersprach. Erst im Nachhinein fiel mir auf, dass er den Playmobil-Kasten heute gar nicht beachtet hatte. Martin zog nun zu seinem Vater. Gleichwohl sah er die Mutter nach wie vor häufig, übernachtete auch dort. Bald nach Martins Umzug hatte ich ein Gespräch mit dem Vater. Er hatte einen Block dabei und schrieb alles mit, was ich sagte; ich kam mir vor wie vor Gericht. Ich empfand ihn als extrem getrieben. Er sprach gleichwohl in gestelzten Worten zu mir. Ständig begann er einen Satz mit »meine Frau«, um sich dann zu korrigieren: »meine Exfrau«. Er teilte mir mit, dass er nicht wolle, dass Martin eine Therapie mache, denn dieser brauche seine Zeit, um für die Schule zu lernen. »Ich mache jetzt eine Mediation mit meiner Frau, Exfrau, die Richterin wollte das.« Ich: »Sie aber nicht.« Er: »Stimmt, ich wollte das nicht, und Martin, er braucht keine Therapie, das ist immer nur meine Frau, Exfrau. Sie kann nicht mit ihm umgehen, sie kann mit einem Kind überhaupt nicht umgehen. Sie hat ihn schon mehrmals zu Therapeuten geschleppt. Einmal spielte ich mit dem Gedanken, die Therapeutin vor Gericht zu bringen. Sie wusste gar nicht Bescheid mit Martin.« Ich: »Das denken Sie auch von mir.« Er, plötzlich, als wolle er mit mir flirten: »Es ist anders mit Ihnen.« Ich: »Martin kann Vater und Mutter nicht zusammenbringen, er weiß nicht, zu wem er halten soll, und das hat auch gar nichts zu tun mit der Entscheidung des Gerichts.« Er: »Er hat deutlich gesagt, dass er zu mir will.« Ich: »Ich weiß, aber ist es nicht egal, ob er bei Vater oder Mutter ist, er wird den jeweils anderen ersehnen. Er benötigt, das ist vielleicht das Wichtigste, Ihr Einverständnis, seine Mutter zu lieben.« Er: »Ich rede nicht schlecht über meine Frau, Exfrau, das mache ich nicht.« Ich: »Vielleicht ist es gar nicht das, was Sie sprechen, sondern das, was Sie denken.« Er: »Sie können sich nicht vorstellen, wie kalt sie ist.« Unsere Zeit näherte sich dem Ende. Mir war, als sammelte ich die Fäden des Gespräches, die mir aus der Hand gefallen waren, mühsam wieder auf, um

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Martin

zu sagen: »Ich muss nun zunächst mit Ihrer Frau sprechen, die Martin bei mir angemeldet hat. Das bin jetzt ich, die genau wie Martin, zwischen den zerstrittenen Parteien steht. Die Behandlung droht ein weiterer Kampfplatz zu werden, das kann Ihr Sohn gar nicht gebrauchen. Ich schlage vor, dass wir uns noch einmal sehen.« In seiner halb flirtenden Art, mit der er nur mühsam seine Wut auf mich – in der Übertragung die Exfrau – abzuwehren schien, sagte er, dass er gerne noch einmal komme. Martin holte in seiner nächsten Stunde sofort den Kasten und verschloss ihn ordentlich. Dann sah er, dass etwas herausgefallen war. Er öffnete den Kasten wieder und begann, ihn erneut zu schließen, was schwer war. Ich sagte: »Da braucht man so viel Geduld.« Martin öffnete plötzlich den Kasten, schüttete alles aus und begann ihn erneut einzusortieren. Ich: »Manchmal möchtest du gar nicht einsortieren, nur alles ausschütten, einfach nur hinschmeißen.« Martin strahlte, hatte aber auch was Böses im Gesicht: »Ja, ja«, schrie er fast und sagte dann: »Ich habe viel Geduld.« Ich nickte und sagte etwas, von dem ich nicht mehr weiß, was es war, erinnere mich aber daran, dass Martin nickte. Ich führte etwas, was ich ebenfalls vergessen habe, aus. Er nickte wieder: »Ja, ja!«, sagte er. »Du sagst Ja und Ja, Nein scheinst du nicht zu kennen«, fuhr es plötzlich aus mir heraus. »Ich kann nicht Nein sagen«, antwortete Martin, »ich bekomme dann Ärger. Früher habe ich Nein gesagt. Ich habe damit aufgehört.« »Dabei kann das Spaß machen«, meinte ich, »wie kannst du leben, ohne Nein zu sagen?« »Da siehst du mal, wie mein Leben ist«, sagte er trocken, »meine Mutter …« Er begann sie nachzuäffen, wieder veitstanzartig. Er sagte, sie wolle ihn töten, wenn er Nein sage. Ich: »Das ist auch ganz schwer. Du stehst ja, seit du denken kannst, zwischen Vater und Mutter. Wie soll man da Nein sagen? Oder ich will dies und jenes?« »Manchmal sage ich Nee, zum Beispiel zu meinem Freund.« Ich: »Das ist weniger hart.« Er: »Genau. Nein sage ich nicht.« Ich: »Doch, zu mir, zu unseren Stunden sagst du Nein.« Martin, wieder veitstanzartig: »Ich sage, ich sage das nicht, nein, ich sage das nicht.« Ich musste lächeln. Er auch. »Meine Mutter, diese Schlampe, ich werde sie töten«, rief er plötzlich. Er holte einen Plastikkäfer aus dem Korb und drosch mit dem Lineal auf ihn ein. »Das ist jetzt meine Mutter«, sagte er und drosch und drosch. Ich merkte, wie schwer ich das ertragen konnte. Ich wollte, dass es aufhörte. Martin: »Immer, immer wenn mein Vater weggegangen ist, findet sie einen Grund zu schreien mit mir, sie schreit und schreit, und irgendwann, da werde ich sie töten.« Er wirkte völlig verzweifelt auf mich. Zum ersten Mal dachte ich: »Er will dir wirklich etwas sagen, und du willst und willst ihn nicht hören. Er hasst seine Mutter, er möchte sie töten, er hält es kaum aus mit ihr. Warum muss ich das immer wegmachen und so tun, als sei es nicht wirklich, sondern gespielt?« Da war diese

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Mischung aus gespieltem und tödlichem Ernst – sie richtig einzuschätzen fiel mir offensichtlich schwer. »Dieser Hass«, sagte ich, »es ist kaum zu ertragen, wie sehr du sie hassen musst.« »Ihr ist alles, alles egal, sie hasst mich. Und ich muss immer noch zu ihr gehen. Ich will das nicht, ich will für immer und nur bei meinem Vater bleiben.« Wir schwiegen. »Ich habe ihn tausendmal gefragt«, sagte Martin leise, »aber ich weiß nicht.« »Ob er das will, das weißt du nicht«, sagte ich, »das ist schwer.« Er begann wieder, die Gestalt mit den Flügeln zu malen, die er so liebte. »Komisch«, sagte ich, »fliegen, davor hast du ja Angst, aber irgendwie, du scheinst es auch zu lieben.« Martin lächelte geheimnisvoll. »Ich will auch nicht in die Lateinklasse, sie zwingt mich. All meine Freunde werden in der Französischklasse sein. Sie sagt, mit LRS [Lese-RechtschreibSchwäche] müsse ich Latein nehmen. Sie wollte mich auch auf die Realschule schicken. Sie will immer nur das Schlechteste für mich, aber dann habe ich doch die Gymnasialempfehlung bekommen. Und ich weiß jetzt auch, was ich werden will.« Ich: »Du wolltest einmal Falkner werden, daran kann ich mich erinnern.« »Will ich nicht mehr, ich werde Anwalt. Da wird man reich und hat drei Häuser. Bei dem Anwalt meines Vaters ist das so. Und als guter Anwalt, da kann man auch mehr verdienen als ein Richter.« »Naja, du hast schon wirklich viel Erfahrung mit Anwälten und Richtern, und Streitschlichter warst du auch schon.« Martin holte wieder den Käfer und drosch auf ihn ein. Ich hatte Angst, dass er in meine Richtung fliegen könnte, und war froh, als die Stunde vorbei war. Martins anschwellender, leidenschaftlicher Hass auf die Mutter verstörte mich. Er hatte etwas Erbarmungsloses und schwand ja keineswegs, nun, da er dem maßlos idealisierten Vater zugesprochen worden war. Nur sehr selten durfte in den Sitzungen die Mutter mit leiser Liebe oder der Vater mit leiser Kritik bedacht werden, so dass für einen Augenblick ambivalente Objekte sichtbar wurden. Die Konstellation von bösem und idealisiertem Objekt erschien mir wie zementiert. Das Tragische von Martins Situation bestand in meinen Augen darin, dass weder Vater noch Mutter ihn ganz nehmen und haben wollten, dass es kein einziges Mal nur um ihn ging. Und jetzt plante auch ich das Ende der Behandlung, obwohl Martin gerade erst bei mir angekommen war. Zum nächsten Gespräch kam der Vater ohne Block. Er erklärte, dass seine Frau beim Mediator so irritiert davon gewesen sei, dass er es inzwischen lasse. Ich sagte, wir hätten ja nun dieses weitere Gespräch vereinbart, um darüber zu sprechen, wie es weitergehe bzw. aufhöre. Der Vater fing an, von den Mediationsgesprächen zu berichten und wie sie gefunden hätten, dass manches ja auch gut laufe, die Organisation zum Beispiel, da gebe es nie Probleme. Nur leider habe seine Frau, Exfrau, beim vierten Gespräch wieder über die Zeit vor vier Jahren

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Martin

sprechen wollen, und so habe es einen Rückschritt gegeben in der Verständigung mit Herrn Kestner, der die Sache sehr gut mache. Ich: »Es geht nun darum, über Martin zu sprechen, der zwischen seinen Eltern steht, und die Mutter ist die Böse, der Vater der Gute.« Er: »Martin spaltet, das hat schon so in dem Gutachten gestanden.« Ich: »Vielleicht bedarf er sehr dringend Ihrer Unterstützung, um seine Mutter lieben zu können.« Der Vater wirkte dieses Mal nachdenklich und sagte, er könne das nicht alles alleine bewirken, er sitze ja auch nicht zu Hause und erzähle Martin schlimme Geschichten über die Mutter, dazu habe er gar keine Zeit. Ich: »Auch wenn Sie das nicht machen, so ist da doch untergründig diese Wut und Enttäuschung gegenüber Ihrer Exfrau, und Martin spürt das und bezieht Partei.« Der Vater gab zu, dass ich recht habe. Doch genau an dem Punkt, meinte er, als es darum gegangen sei, zu benennen, was man vom anderen an Martin vererben wolle, habe seine Frau das Mediationsgespräch abgebrochen. »Ja, es geht darum, zu sehen, was am anderen gut ist, und es Martin zu vermitteln. Meine Frau ist nicht die schlechteste Mutter auf der Welt.« Er nickte bedächtig. »Martin und seine Mutter haben letzte Woche darüber gestritten, ob Martin nun Latein oder Französisch lernt, und ganz plötzlich hat sie dann gesagt, es sei ihr alles egal. Das geht nun auch nicht, erst alles durchboxen und dann nicht mehr die Böse sein wollen.« Ich: »Worum es geht, ist, dass immer einer der Böse sein muss, und Martin braucht Sie, Ihre Unterstützung, dass er seine Mutter lieben kann.« Er: »Martin beschwert sich in Worten, die ich gar nicht wiederholen kann, über die Mutter. Sie lasse ihn allein, verbringe alle Zeit mit Andreas.« »Glauben Sie das?«, fragte ich. Er, sehr langsam: »Ja, es war immer so, sie kann sich nicht mit Martin beschäftigen, ihn versorgen, ja, aber auch früher, es war so ritualisiert, und sie konnte nie lange mit ihm zusammen sein.« Ich: »Als ob Sie die Mutterrolle vertreten haben, vielleicht konnten Sie es besser, vielleicht war das gut, dass Sie in dieser Weise da sein konnten. Aber sie ist ja auch noch da.« Ich kam dann wieder auf meine Rolle zurück: »Ich stehe nun so wie Martin zwischen Ihnen und der Mutter, sie will die Therapie, Sie signalisieren Nein.« Er: »Martin muss nun den Legastheniekurs machen, die Mutter hat das seinerzeit abgebrochen, um der Therapie willen.« Ich erwiderte, dass ich nun sehen müsse, wie ich mich von Martin verabschiede, denn gegen ihn, den Vater, wolle und könne ich nicht anarbeiten. Er: »Ich habe schon Angst vor der nächsten Verhandlung, wenn sie dann sagen, Martin soll eine Therapie machen.« Tatsächlich waren noch einige Termine angesetzt worden, um die neue Regelung zu überprüfen. Ich: »Dazu müssen Sie dann schon stehen.« Es herrschte eine depressive Stimmung zwischen uns, als wir uns verabschiedeten. »Schade, schade«, sagte er. Ich hatte in diesem Moment das Gefühl, dass

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sein »schade« unbewusst Martins Mutter meinen würde, die er bekämpfte und von der er doch innerlich so wenig Abstand nehmen konnte. Beim Gespräch, das ich dann mit ihr führte, konnte ich fühlen, wie enttäuscht sie von mir war, und doch nahm sie alles hin, bedrängte mich nicht. »Es macht mir Angst, vielleicht ist es auch gut so, wie es gekommen ist. Ich kann mit Martin nicht umgehen. Er weiß so oft nichts mit sich anzufangen. Dann liegt er mit dem Rücken auf dem Boden und spielt mit Puppen und Fliegern, die er vor sich in die Luft hält. Ich kann das nicht aushalten, wie er dann daliegt, wie ein Kleinkind, so tonlos. Freiwillig übt er auch nicht Saxophon, und ich merke, ich mache alles falsch, ich will gar nicht, aber dann kehre ich die Lehrerin heraus und sage: ›Jetzt übst du mal 20 Minuten.‹ Martin beschwert sich dann, dass ich ihn immer zu etwas zwinge.« »Sie schildern mir, wie Sie unweigerlich zur Enttäuscherin, zur Neinsagerin werden. Ich denke jetzt wieder an die wundervollen Abendszenen, von denen Sie mir berichtet haben, die Zeit, in der sie sich regelmäßig finden, wie Sie da mit Martin spielen können, den Part der kleinen Robbe übernehmen, die weiß, wie schwer es Martin hat mit allem. Es ist so schade, dass das verloren geht.« Tränen stürzten in ihre Augen. »Frau Langer, ich bin furchtbar, manchmal bin ich furchtbar, so kalt, und dann denke ich, Martin ist bei seinem Vater besser aufgehoben. Gleichzeitig weiß ich genau, dass Martin mich braucht. Ich habe darüber nachgedacht, was Sie einmal gesagt haben, dass ich selbst eine Therapie machen sollte, und ich bin jetzt nahe dran.« »Ich bin sicher, dass das eine große Erleichterung für Sie wäre«, sagte ich. Sie: »Ich mache Martin immer schlecht, warum ist das so?« Ich: »Er genügt Ihren sehr hohen Ansprüchen nicht, manchmal scheinen Sie diese Ansprüche selbst als Last zu empfinden.« Sie: »Ich weiß, ich weiß, er spielt ja jetzt auch World of Warcraft bei seinem Vater, das ist ihm so herausgerutscht, und ich habe sofort gesagt: ›Du brauchst doch deine Zeit zum Lernen, und das Spiel ist auch erst ab zwölf.‹« Ich: »Da sind Sie sehr schnell wieder zur Neinsagerin geworden, denn WOW ist wirklich eine Herzensangelegenheit von Martin, er liebt dieses Spiel und die Kontakte, die er dabei findet.« Ich verstand ganz plötzlich Martins Angst, von der Mutter vernichtet zu werden, deren Ansprüche er nicht erfüllen, die er nicht erreichen konnte. In dieser Angst folgte er seinem Vater nach, der sich lange Zeit schwer betrunken hatte und nun eine Art von Veitstanz vor Gericht inszenierte. Ich hatte das alte Märchen von Rumpelstilzchen vor Augen, das sich in einem Veitstanz die Glieder ausriss, weil es ihm nicht gelang, Macht über die schöne Königstochter zu erlangen. Der Veitstanz, so las ich nach, ist ein Tanz bis zur Erschöpfung, sehr oft bis zum Tode. Die Pestkranken des Mittelalters tanzten diesen Tanz, Schaum quoll

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aus ihrem Mund. Veitstanz ist auch ein psychiatrisches Krankheitsbild, Chorea Huntington genannt. Selbstmordgedanken, Wahnvorstellungen (vor allem Eifersucht) und Aggressivität gegen Familienangehörige sowie begleitende Zwangshandlungen zeichnen es aus. Wie so viele psychiatrische Krankheitsbilder wird es auf genetische Ursachen zurückgeführt. In ihrem Veitstanz, so schien es mir, suchten Vater und Sohn die Mutter bzw. (Ex-)Frau. Den Pestkranken gleich, die das Leben suchten und den Tod vor Augen hatten, tanzten sie bis zur Erschöpfung. Es handelte sich um einen unaufhörlichen, vergeblichen Versuch, angenommen, geliebt zu werden, überleben zu können. Ich vermutete, dass es der Mutter nie gelungen war, die Es-Bedürfnisse ihres Kindes in einer ausreichenden Weise anzunehmen. Vermutlich ängstigten sie diese schwer und rührten etwas in ihr an, was sich in ihrer kargen Aura verbarg. Ich dachte jetzt auch, dass sie, neben ihrem Schmerz, unendlich erleichtert gewesen sein musste, Martin nach der Geburt dem Vater überlassen zu können, ganz genau so, wie es sich nun in der letzten Gerichtsverhandlung wiederholt hatte. Erst jetzt begriff ich den immer wieder geäußerten Ausruf meines Patienten: »Ich will zu meinem Vater!« Ich hatte immer so stark gefühlt, wie er die gehasste Mutter lieben musste, und dabei versäumt, darüber nachzudenken, wie er, dem Vater gleich, in der Liebe zu ihr verhungerte und Zuflucht nahm im Hass, dem Veitstanz. Hatte nicht auch ich mich Martin und seinem Vater anverwandelt in der vergeblichen Suche nach einer Antwort und erst sehr spät begriffen, wie vollkommen überfordert die Mutter, dieses ersehnte Objekt der Begierde, war? Sie hatte mich von der ersten Begegnung an tief angerührt und so vieles versprochen, was ihre Kräfte überstieg. Sehnte sie sich nicht selbst danach, einmal, ein einziges Mal zu hören, dass es gut war, was sie vermochte? »Ich wünsche mir so sehr«, sagte sie einmal, »dass Martin, seinem Freund gleich, sagt: ›Der Obstsalat, den du gemacht hast, er ist lecker.‹« Das Objekt, um den der Veitstanz sich drehte, war karg und unendlich bedürftig. Ich sprach mit Martin darüber, dass wir unsere Stunden nur noch eine kurze Zeit fortsetzen könnten, weil seine Eltern sich darüber nicht einig seien. Er, böse: »Da siehst du mal, wie’s mir geht!« Ich: »Du bist jetzt böse auf mich.« Martin nickte langsam und sagte, da sei ja auch der Prozess in zwei Wochen und er würde wieder stundenlang warten müssen und mit 14 gehe es weiter. Ich sagte: »Furchtbar, ganz furchtbar. Und, Martin, wenn du das willst, in einem Jahr, wenn die Gerichtsverfahren fürs Erste aufgehört und deine Eltern einen Weg gefunden haben, dann machen wir diese Stunden.« Worüber wir nicht sprachen, war, dass Martin sich unbewusst wünschte, von mir adoptiert zu werden. Ich spürte, er war dabei gewesen, mich zu einem idea-

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lisierten Objekt zu machen, dem Vater gleich, einem, das ihn nun ganz nehmen würde und eine Lösung für alles fände. Dabei scheiterte ich. Ich warf ihn zurück in das anhaltende Getriebe der Gerichtsverfahren. All meine Argumente für den Abbruch der Behandlung, die die unsichere Realität, die anhaltenden Gerichtsverfahren betrafen, erschienen mir schäbig und feige. Ich dachte: »Nun verlässt du das sinkende Schiff. Du willst nicht mit untergehen, du krallst dich fest an einem Rahmen, den es nie gegeben hat für Martin. Du klammerst dich an eine imaginäre Konstellation, ein ›wenn, dann‹«. Martin brachte zu unserer allerletzten Stunde sein Saxophon mit, das er sorgfältig auspackte und zusammenbaute. Dann legte er los. Er spielte mir drei kleine Stücke vor. Obgleich er Anfänger war und erst seit acht Wochen spielte, fand er einen Ton und eine Art, mit den Tönen zu spielen, sie zu modulieren, die mich überraschten. Er sah mich strahlend an, als er fertig war. »Martin, das ist ganz unglaublich, was du da hinbekommst.« Er: »Ich habe das für heute geübt, ich habe richtig viel geübt.« Ich: »Ich sollte schon noch mal sehen, was so alles in dir steckt. Danke, vielen Dank, dass du mir vorgespielt hast.« Er, grinsend: »Ganz schön laut, das Instrument, da werden deine Nachbarn mal aufgehorcht haben.« Ich musste lachen, dann wurde es still zwischen uns. Martin: »Du hast gesagt, ich kann in einem Jahr wiederkommen.« Ich: »Ja, genau so ist es.« Er: »Mal sehen, vielleicht will ich ja.« Ich, lächelnd: »Jetzt wird niemand mehr den Kasten verschließen. Es war ja auch so anstrengend, irgendwie war alles so anstrengend, und manchmal, da wolltest du nicht, ich konnte das so gut verstehen.« Martin nickte: »Stimmt«, sagte er, »trotzdem, ich werde dich vermissen«, und gab mir fest die Hand zum Abschied. Er hatte mir ein Kästchen Pralinen mitgebracht. Auch ich hatte, was sonst nicht meinem Rahmen entspricht, ein Geschenk für ihn. Dass ich ihm ein Geschenk machen musste, hing mit einem tiefen Gefühl von Schuld zusammen. Ich schenkte ihm ein Geduldsspiel, das dem ähnelte, das er in unseren Stunden in der Schublade der Kommode im Behandlungsraum entdeckt und immer wieder zu lösen gesucht hatte, was ihm einige Male gelungen war, viele Male auch nicht. Bei diesem Spiel geht es darum, ineinander verwobene Metallteile zu trennen und wieder zusammenzufügen. Martin hatte viel Geduld darauf verwandt, ohne jedoch sicher zu werden im Umgang mit diesem Spiel. Nun, da wir uns trennen mussten, schien mir das so oft gebrauchte Spiel für unser Scheitern, aber auch für unseren unaufhörlichen Versuch, etwas zu verstehen, zu stehen. Abschlussbetrachtung des Behandlungsverlaufs

Wenn ich länger darüber nachdenke, wird mir klar, dass ich versuchte, Martin mit dem Geschenk in der letzten Sitzung etwas zu geben, was ich ihm in der

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Behandlung bis zuletzt nicht hatte geben können, weil diese abbrach, bevor sie beendet gewesen und ihr Rahmen eingehalten worden wäre. Denn dieser Abbruch hatte nichts mit dem zu tun, was zwischen Martin und mir geschehen war, er betraf nicht allein unseren, sondern zuvorderst den von seinen Eltern umstrittenen Rahmen seiner Existenz insgesamt, mit den nicht enden wollenden Gerichtsverfahren. Ein Dreivierteljahr nach Martins Abschied teilte mir die Mutter mit, dass das Gericht nun doch ihr das alleinige Sorgerecht zuteilen werde, da der Vater erneut dem Alkohol verfallen sei. Sie bat mich, für das Gericht den Verlauf der Behandlung zu beschreiben. Martin, der Patient, der seine karge, schwer erreichbare Mutter hasste und dem immer wieder alkoholabhängigen Vater anhing, war noch lange präsent in mir, nachdem er gegangen war. Ich sah ihn vor mir in meinem Raum, wie er tobte, wie er den Kasten schloss, sich aufs Sofa warf und darauf einhieb, ich sah ihn so deutlich vor mir, als würde er am nächsten Tag zurück zu seinen Sitzungen kommen. Der mangelnde Spielraum der Eltern, ihre Unfähigkeit, Martin loszulassen und nicht für sich zu gebrauchen, fand einen Spiegel in dem von Beginn an bedrohten Rahmen der Behandlung. Innerhalb dieses bedrohten Rahmens entwickelte sich gleichwohl eine dichte Beziehung zwischen dem Patienten und mir, ein Spielraum, in dem er seine inneren Konflikte darzustellen vermochte. Letztlich war es aber so, dass der zerbrochene Rahmen seines Lebens mich in der Übertragung zu einem ersehnten, idealisierten Objekt formte, von dem er unbewusst adoptiert zu werden wünschte. So komme ich nun im Nachhinein zu dem Schluss, dass mein Spielraum in dieser Behandlung gerade darin bestand, sie nicht fortzuführen. Der Rahmen der Behandlung hatte sich als Illusion entpuppt, nachdem Martin – durch eine plötzliche Gerichtsentscheidung nur scheinbar über das böse mütterliche Objekt triumphierend – zum idealisierten Vater gezogen war. Der Spielraum für seine Phantasien war damit erloschen, und auch ich ahnte schnell, dass es nun nichts mehr zu deuten geben würde.

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Noah, sechs Jahre – Grund der Anmeldung: Missbrauch der Schwester durch einen Betreuer im Kindergarten (20 Stunden, zweimal wöchentlich eine Stunde) Darstellung des Behandlungsverlaufs

Der Vater meldete seinen sechsjährigen Sohn telefonisch bei mir an, weil Noah aufgrund des Missbrauchs seiner vierjährigen Schwester durch einen Betreuer im Kindergarten ziemlich durcheinander sei. Noah habe zum Zeitpunkt des Missbrauchs den gleichen Kindergarten wie die Schwester besucht. Die Schwester meines Patienten sei bereits in Behandlung, so viel erfuhr ich am Telefon. Die Szenerie meines ersten Gespräches mit den Eltern hatte etwas Alptraumhaftes. Die Mutter begrüßte mich kaum. Sie bedachte mich schon an der Tür mit einem hasserfüllten Blick. Der Vater war kaum zu bremsen in einer Art von manischem Berichten. »Wir waren mit unserer Tochter, gleich nachdem sie sich anvertraute, bei einem Gutachter. Ein Gerichtsverfahren ist eingeleitet. Meinem Sohn geht es nicht gut, wir brauchen all unsere Kraft, um unserer Tochter beizustehen und ihr Recht zu verschaffen. Ich fühle, dass er auch des Beistandes bedarf.« Wie beiläufig bemerkte er: »Seit nunmehr eineinhalb Jahren nehmen meine beiden Kinder Ritalin, auch ich habe angefangen, es zu nehmen. Es vermittelt mir eine ganz wunderbare, neue Erfahrung.« Die Mutter fiel ihm während seines Berichtens unablässig ins Wort und nahm sozusagen Korrekturen vor, brachte ihr wichtige, von ihrem Mann unerwähnte Details ein. Dabei benutzte sie mehrfach die Formulierung »meine Kinder«. Der Vater stürzte sich in jedem dieser Fälle gleichsam auf sie und forderte: »Sag ›unsere Kinder‹, nicht ›meine‹.« Es war aber so, als hörte sie gar nicht, was er sprach. Sie fuhr fort und mir schien es, als ob es ihr auf gar nichts anderes ankomme, als darauf, immer wieder genau dies auszusprechen: »meine Kinder.« Die Eltern griffen einander an, ließen einander nicht ausreden, kritisierten einander in all ihren Äußerungen. Eine unglaubliche Anspannung beherrschte alles, auch mich, ich wagte kaum zu atmen. Ich dachte: »Ich will da raus. Ich ertrage es nicht. Sie sollen gehen, sofort.« Gleichwohl versuchte ich mich zu beherrschen, um der Situation angemessen nachdenken zu können: »Da ist diese riesige Anspannung, diese Eltern sind mit dem Missbrauch ihrer kleinen Tochter beschäftigt, gibt es überhaupt etwas Furchtbareres?« »Die Betreuer im Kindergarten glauben unserer Tochter nicht«, sagte der Vater, »sie sagen, Nora habe schon oft Geschichten erzählt. Nun haben sie uns vor Gericht abgewiesen. Wir werden das Verfahren wieder aufnehmen.« Die Mutter: »Wir werden nicht aufgeben. Nora hat mir alles berichtet, sie kann

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nicht mehr schlafen, ich auch nicht.« Der Vater: »Sie werden es nicht schaffen, niemals werden sie es schaffen, uns abzuweisen.« Für mich unvermutet waren die Eltern sich plötzlich einig. Ich fühlte mich währenddessen aufgeladen und zugleich, als ob ich zurückbleiben würde. »Ich frage mich«, begann ich langsam zu sprechen, »gab es jemals in Ihrem Leben etwas vergleichbar Aufwühlendes und Schreckliches?« Die Mutter schrie auf, als ich das sagte. Ich hatte sofort das Gefühl, einen Alptraum berührt zu haben, den ich nicht hatte berühren wollen. »Da war das mit meinem Bruder«, flüsterte sie atemlos, »er hat sich umgebracht, obwohl er mir versprochen hat, es nicht zu tun. Ich habe dann jahrelang eine Therapie gemacht.« Sie sah mich wieder in ihrer feindlichen Weise an, die meine Gedanken vollkommen lähmte. Mich sehr hilflos fühlend, bemerkte ich: »Es muss furchtbar gewesen sein, in einer Weise so furchtbar wie das, was jetzt mit Ihrer Tochter passiert ist.« Sie schwieg, auch der Vater sagte kein Wort mehr. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie das Gespräch endete, weiß aber noch genau, dass ich den Rest des Tages starke Kopfschmerzen hatte. Ich hatte einen baldigen Termin für Noah vereinbart. Noah verblüffte mich auf Anhieb, er huschte schnell in meinen Raum und lächelte mich an. Ich fühlte mich ihm sofort sehr nah. Er hatte eine ungemein charmante Weise der Kontaktaufnahme, eine Art von Strahlen. »Ich bin froh, dass ich jetzt zu dir kommen kann«, äußerte er verschmitzt. »Warum wohl, Noah?«, fragte ich verwirrt. Er: »Meine Schwester hat auch eine Therapeutin.« Ich: »Und du, du willst das auch haben, was deine Schwester hat.« Noah nickte und lächelte mich wieder an: »Sie macht jetzt das therapeutische Reiten und ich habe gesagt, das will ich auch.« Ich: »Kann ich schon verstehen.« Er war ein wirklich hübscher, sehr zarter, blonder Junge. Sofort sprang mir der Gedanke in den Kopf: »Warum wohl geben sie ihm Ritalin?« Es fiel mir erst im Nachhinein auf, dass er sehr schlecht gesprochen hatte, wie ein Kleinkind, er hatte alle möglichen Buchstaben verwechselt und war manchmal kaum zu verstehen gewesen. Da wurde mir erst bewusst, dass ich mich vollkommen auf ihn eingestellt und mich eingehört hatte, als sei er ein Kleinkind. Noah begann sich langsam in meinem Raum umzusehen. Er entdeckte ein altes Vorhängeschloss im Puppenhaus, nahm es in die Hand. In einer liebevollen Weise sah er das Schloss an. »Kann ich das haben?«, fragte er in seiner charmanten Art. Ich: »Als ob du es brauchen könntest.« Noah: »So sehr. Ich hätte gerne so ein Schloss, dann könnte ich meine Tür abschließen und meine Schwester, sie käme nicht mehr hinein. Sie bringt immer alles durcheinander bei mir.« Wir schwiegen eine Weile. Noah: » Ich weiß aber nicht, wie ich das machen soll, wir haben keine Türen in unserem Haus.« Ich, verwirrt: »Keine Türen, gar keine Türen?« »Gar keine Türen«, erwiderte Noah und legte das alte

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Schloss vorsichtig zurück ins Puppenhaus. »Wie wirklich schade«, bemerkte ich, »da gibt es etwas, das könntest du so gut brauchen.« »Wenn ich den Kindern die Tabletten nicht in den Mund drücke«, sagte die Mutter im nächsten Elterngespräch, »kann ich sie nicht mit dem Kindermädchen allein lassen. Sie drehen völlig durch. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie Noah ausrasten kann.« Ich erlebte Noah wie ein Lämmchen und fragte die Eltern, ob sie nicht darauf verzichten könnten, Noah vor seinen Stunden bei mir die Tabletten zu geben. Ich würde ihn ja sonst gar nicht kennenlernen. Dazu erklärten sie sich sofort bereit, die Mutter führte jedoch aus: »In der Beziehung zu Ihnen wird das gar nichts ändern. Mit interessanten, gebildeten Menschen hat Noah schon immer zusammen sein können.« Beide Eltern lachten und sahen sich verstehend an. Der Vater sagte: »Noah liebt es, zu Ihnen zu kommen, aber nicht wegen der Therapie, sondern wegen Ihnen.« Ich, sehr irritiert: »Wie meinen Sie das?« Die Eltern sahen mich erstaunt an, und der Vater sagte: »Das ist etwas Besonderes für ihn.« Ich fühlte mich schlecht, schmutzig und manipuliert nach dieser Sitzung mit den Eltern, an deren Fortgang und Ende ich mich erneut nicht erinnern kann. Es gelang mir kaum, Distanz zu einem Gefühl von Scham, das mich bedrängte, zu finden. »Gestern war mein erster Schultag«, erzählte mir Noah seltsam leblos und sah mich wie verloren an. Ich: »Da war was – schwierig.« Er: »Ich habe meine Schultüte noch gar nicht angesehen. Wir mussten zum Gericht fahren danach, wegen der Sache mit Nora. Das ist jetzt halt wichtiger.« Ich: »Du wirst schon sauer sein.« Er: »Ein kleines bisschen.« Ich: »Das ist schwer für dich, die Sache mit Nora, als ob sich jetzt alles um sie drehen müsste.« Er: »Meine Oma, sie will mir schon so lange die Eisenbahn schenken, die bei ihr zu Hause steht. Aber jetzt sagen sie: ›Wir können das jetzt nicht machen, wir brauchen das Geld für den Prozess.‹« Ich: »Eine Eisenbahn?« Er: »Sie hat mal meinem Opa gehört, aber er ist schon tot, und jetzt können wir sie nicht holen, wir haben keine Zeit und kein Geld.« »Ach Noah«, entfuhr es mir, »es ist wirklich schwer für dich.« Noah sah mich ungläubig an, nachdem ich das gesagt hatte. »Ich werde heute basteln«, sagte er unvermutet, »ich brauche nur Papier und Tesafilm, mehr brauche ich nicht.« Ich schaute staunend zu, wie er mit den geringen Mitteln, die in meinem Therapieraum vorrätig waren, konzentriert und versunken zugleich, eine Rakete bastelte. Er war wirklich geschickt und kreativ. Das Endergebnis konnte sich sehen lassen. Es wirkte, so bemerkte ich sofort, gar nicht wie das Werk eines Kindes, es hatte etwas Professionelles, erwachsen Gestaltetes. »Noah«, sagte ich, »jetzt zeigst du mir, wie du mit wenig viel machen kannst.« Er: »Ich mache oft so was, wenn ich zu Hause bin und Mami keine Zeit

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hat.« Noah berichtete mir nun von seinen vielfältigen Nachmittagsaktivitäten: »Montags, bevor ich zu dir komme, habe ich Geigenunterricht. Am Dienstag ist der Judokurs, danach mein Malkurs. Meine Schwester hat Ballett. Mittwochs gehe ich zum Klavierunterricht und danach hat meine Schwester ihren Kunstkurs, da schaue ich zu. Donnerstags haben wir beide das therapeutische Reiten, meine Schwester auch noch Therapie. Freitags«, er lächelte mich schelmisch an, »komme ich wieder zu dir, vorher habe ich Leichtathletik, meine Schwester Turnen, nach dir hat Nora Therapie, ich gehe dann mit Mami essen.« »Das ist ganz schön anstrengend«, bemerkte ich, »du bist viel unterwegs.« »Ich bin nicht gerne zu Hause«, erwiderte er. Noah fuhr in unseren Stunden fort zu basteln, meist bastelte er mit großer Geschicklichkeit, Geduld und Weitsicht Flugobjekte. Es gefiel ihm, dass ich seine Werke zu schätzen wusste. Langsam bezog er mich auch ein, ich durfte etwas halten und bei den schwierigen Bastelarbeiten helfen. Ich bemerkte, dass ihm nun oft etwas auf den Boden fiel oder hin und wieder eine Klebearbeit misslang. »Frau Langer, gut, dass du da bist«, sagte er, »ohne dich kann ich es nicht schaffen.« Es gefiel mir, dass er mich brauchen konnte. Ich dachte, dass es ihn weniger allein mache: »Er kann das jetzt zeigen, dass ihn manches überfordert, was er scheinbar spielerisch zustande bringt.« Ich wurde mir dessen lange nicht bewusst, aber Noah sprach inzwischen klar und deutlich und verwechselte keine Buchstaben mehr. Er hatte die kleinkindhafte Art des Sprechens aufgegeben. Nora, die Schwester meines Patienten, kam oft mit hoch, weil sie aufs Klo musste: ein kleines Mädchen mit herabhängenden Haaren, das mir das schreckliche Gefühl vermittelte, es wolle sterben. Jedes Mal wollte sie gehen, ohne die Spülung zu betätigen. Ich: »Nora, du musst abspülen.« Sie sah mich verwirrt an, und ich spürte, dass sie weglaufen wollte. Ich: »Nora, das ist wirklich wichtig mit dem Abspülen.« Seltsam verloren ging sie dann erneut zur Toilette, um abzuspülen. Diese Szene wiederholte sich immer wieder. Noah sagte: »Nora spült nie ab, sie macht das nur hier.« Während meiner Stunden mit Noah vergaß ich die Eltern. Trotzdem war ich stark mit ihnen beschäftigt, fühlte mich von ihrer Art, miteinander und mit mir umzugehen, die mir verrückt vorkam, bedrängt. Sie blieben völlig unerreichbar für mich. Da war etwas, was ich nicht verstand und auch nicht verstehen wollte. Ich wollte heraus aus dem Ganzen, spürte, dass ich nicht bestehen konnte. Ich empfand zwar zugleich stark, dass es Noah war, den ich auf diese Weise opferte, war aber offensichtlich dennoch nicht bereit, einen Raum zu einem weiteren Verstehen zur Verfügung zu stellen, etwas, was die analytische Arbeit jedoch verlangt hätte. Intuitiv wusste ich nur eines: »Ich will und muss aussteigen!«

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Ich fühlte mich stark missbraucht und manipuliert, als sei ich diejenige, der die Tabletten in den Mund gedrückt würden. Während ich erneut mit den Eltern sprach, empfand ich, dass alles, was ich sagen konnte, falsch war. »Ich werde mit Ihrem Sohn bis Weihnachten arbeiten, das sind noch zehn Stunden«, sagte ich, »Sie haben ihn aufgrund des Missbrauchs seiner Schwester bei mir angemeldet, es ist aber so, über diese Dinge will Noah nicht sprechen, und das kann ich gut verstehen. Manchmal geht es ihm einfach schlecht, weil er das Gefühl hat, an Bedeutung zu verlieren, es dreht sich jetzt alles um Nora.« Der Vater erwiderte sofort: »Ich würde Noah an Ihrer Stelle sagen: ›Heute ist deine letzte Stunde‹, dann würde er aufhören sich zu beherrschen und zu verstecken, der Mund würde ihm offenstehen.« Heftig und laut entgegnete ich, im Gefühl, dass ich es sei, der der Mund offenstehe: »Sie können ganz sicher sein, dass ich das nicht machen werde. Vermutlich bin ich nicht die Richtige für Sie.« Unbeirrt fuhr der Vater fort: »Noah merkt das, dass Sie ihm das Feld überlassen.« Die Mutter fügte an: »Es geht Noah schlecht, er knirscht jede Nacht mit den Zähnen.« Als hätte ich bereits mit den Eltern abgeschlossen und alle Hoffnung aufgegeben, hatte ich kein Bedürfnis, meine Handlungsweise weiter zu erklären. Ich spürte den manipulativen Sog, der von den Eltern ausging, in dem sie mich auf- und abwerteten, manipulierten. Es war mehr als deutlich, beide Elternteile wünschten nicht, dass ich ausstieg. Ich dachte: »Es entspricht nicht ihrem Plan«, und überlegte, ob sie gehofft hatten, dass ich für das künftige Gerichtsverfahren nützlich sei. Gleichzeitig vermutete ich, dass sie den starken Wunsch hatten, dass ich Noah im Zuge der Missbrauchsangelegenheit seiner Schwester weiter behandelte, weil dieses Thema die Eltern lebendig hielt und zusammenband. Die Mutter erlebte ich in allem, was sie sagte, als hölzern, so auch in ihren Bemühungen, den Kindern zur Verfügung zu stehen, »Parental Attachment« nannte sie das. »Ich bin die Einzige in der Familie, die kein ADHS hat«, sagte sie wiederholte Male. Mir erschien sie als diejenige, die den anderen die Tablette hineindrückte. Sie konnte es mit den Kindern nicht aushalten. Am Wochenende übergab sie sie dem Vater. Meist holte der Vater Noah ab. Nachdem er geklingelt hatte, rannte er die Treppen zum dritten Stockwerk so schnell empor, dass er schon vor der Tür stand, wenn ich öffnete. Er streckte mir seine Hand in einer Weise entgegen, die ich als bedrängend empfand. Manchmal entwickelten sich zwischen Tür und Angel Dialoge zwischen Vater und Sohn, die mich befremdeten. Hier ein Beispiel: Noah: »Eine schöne Jacke hast du an, die kenne ich gar nicht.« Der Vater darauf: »Willst du sie haben?« Noah, lachend: »Nein.« Nach dem Elterngespräch, in dem ich den Rahmen von Noahs Therapie auf die Zeit bis Weihnachten begrenzt hatte, erreichte mich über meinen Spamfilter

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eine E-Mail des Vaters, betitelt: »Cappuccino et al.« Er habe wirklich Lust, mich zu treffen. Es sei nichts Bestimmtes, deshalb aber nicht unwichtig, bezüglich Ort und Zeit sei er flexibel. Die E-Mail, die ich am nächsten Tag einsah, war um 1.20 Uhr abgeschickt worden. Wie war er an meine E-Mail-Adresse gekommen? Ich wünschte mir, ich hätte die E-Mail nicht gelesen. Aber ich hatte sie gelesen und fühlte mich extrem schuldig und verantwortlich. Ich dachte darüber nach, inwiefern ich mich so verhalten hätte, dass eine solche E-Mail überhaupt möglich gewesen sei. Das beschäftigte mich sehr. Als ich am nächsten Tag in meine Praxis ging, erlebte ich mich wie jemanden, der verfolgt wird. Wenn es schellte, zuckte ich zusammen. Ich war sehr froh darüber, dass ich die kommende Freitagsstunde des Patienten bereits abgesagt hatte, weil ich verreisen musste. Ich konnte nicht mehr schlafen und an nichts anderes mehr als die E-Mail des Vaters denken. In der Stadt, in die ich reiste und die, was mir zusätzlich unheimlich erschien, die Heimatstadt der Familie Noahs gewesen war, lief ich verwirrt durch die Straßen. Immerzu dachte ich: »Ich hasse ihn, ich habe solche Angst, ich kann nicht mehr in meine Praxis gehen, er wird mir auflauern. Ich will nie mehr nach Frankfurt zurückkommen, nie mehr.« Ich erledigte meine Aufgaben in der fremden Stadt und kehrte zurück. Aber es war, als sei ich in einem Traum versunken und nicht mehr in der Realität zu Hause, die ich jedoch wiederzugewinnen versuchte. Ich besprach den Fall mit verschiedenen Kollegen. Ich solle, sagten sie alle, den Vater direkt konfrontieren und zwar am besten innerhalb des Rahmens, der dafür vorgesehen sei, das heißt innerhalb des Elterngespräches. Ich verstand, wie erzürnt meine Kollegen waren, wie sehr sie wünschten, dass ich mich abgrenzen und behaupten würde. Die Kollegen fragten mich, was ich angehabt habe, als ich mit den Eltern gesprochen habe. »Du musst darüber nachdenken, wie das wirkt, was du anhast«, sagten sie. Ich sei selbst schuld, wenn ich zum Cappuccino eingeladen werde, dachte ich daraufhin, mein Rock sei zu kurz gewesen, ich hätte mich wie eine Verführerin verhalten. Ich hatte meinen Kollegen jedoch eigentlich sagen wollen: »Da ist etwas, das handelt diese Familie mit mir ab, sozusagen an einem Nebenschauplatz.« Das war mir aber nicht gelungen. Ich blieb ganz allein mit meinen Phantasien, die den Vater zunehmend suchten und verstehen wollten. Da war inzwischen auch keine Wut mehr. Ich hatte vielmehr das Gefühl, mich nicht gegen den Vater, sondern gegen die Ansprüche meiner Kollegen zur Wehr setzen zu müssen. Ich verstand plötzlich eine Theorie, die mir bisher immer fremd geblieben war, weil sie die Täter verteidigt und die Gewalt in einen Akt der Zuwendung umdeutet. Meine Kollegen hatten mir gesagt: »Du darfst ihn nicht verstehen wollen. Du musst ihm einen Tritt verpassen.«

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Ich konnte wieder schlafen, aber nicht damit aufhören, über den Vater nachzudenken. Er war in meinen Raum eingebrochen und ich hatte mich nicht entziehen können, hatte seine E-Mail gelesen und mich schuldig gemacht. Ich sagte Noah, dass wir noch bis Weihnachten Zeit hätten. Er war völlig verstört, wie der Vater es in seiner Äußerung mir gegenüber vorweggenommen hatte, und sagte, er habe gedacht, er könne noch lange zu mir kommen. Ich dachte an den Neid des Vaters, der alles zwischen Noah und mir zerstört hatte. Er wollte das haben, was ich Noah geben wollte. Ich hasste mich, weil ich fühlte, dass nun auch ich Noah missbrauchte, so wie sein Vater ihn missbraucht hatte, um mich zu verführen und zu vereinnahmen – weil ich fühlte, dass Noah eigentlich ganz unwichtig war und keine Rolle spielte. Dennoch sagte ich mir immer wieder: »Ich will da raus, ich kann nicht mehr.« Ich dachte viel über mich und meine Reaktionen in dem Fall nach. Ich beobachtete mich selbst wie aus der Entfernung. Anscheinend hatte ich meiner inneren Vernichtung, die ich in der fremden Stadt so stark empfunden hatte, nur entfliehen können, indem ich mich mit dem Vater, meinem Angreifer, identifiziert hatte. Zugleich empfand ich einen lebendigen und echten Wunsch, etwas zu verstehen, wobei mich meine Scham jedoch blockierte. Noah begann direkt nach meiner Ankündigung des veränderten Rahmens, langsam und sorgfältig ein Freundebuch anzulegen. Obwohl er erst ein halbes Jahr die Schule besuchte, konnte er ausgezeichnet schreiben, lesen und rechnen. In das Freundebuch schrieb er nur mich und sich hinein. Er malte unsere Gesichter und schrieb unsere Adressen auf. Dann begann er mein Bild und meine Adresse langsam zu verschmieren und fast unkenntlich zu machen. Ich sagte: »Du bist richtig sauer auf mich, weil wir Weihnachten aufhören.« Einen Moment blitzten seine Augen, dann sagte er charmant: »Wir könnten doch wenigstens noch einen Monat machen.« Ich wusste nie, wer ihn brachte oder abholte. Ich hatte immer Angst, der Vater könne hochkommen. Tatsächlich kam er genau nach der Sitzung, in der Noah das Freundebuch angelegt hatte. Es schellte und ich wollte die Haustür durch Knopfdruck öffnen, aber er stand schon vor dem Praxisraum. Ich fuhr zurück und stieß einen Schrei aus. Er ging sofort einen Schritt zurück und entschuldigte sich. Er habe nicht gewusst, wie er es machen solle, ob er unten warten solle. Er war gar nicht fahrig und ungebremst in diesem Moment, in dem er sich entschuldigte. Ich begann zu rätseln: War das wirklich geschehen? Hatte er mir tatsächlich diese E-Mail geschickt? Ich hatte aber auch das Gefühl, dass ich dabei war, Noah und seinen Vater aus meiner Praxis herauszuschieben, dass sie gar nicht gehen wollten. Es blieb für mich ein beherrschendes Thema: Wer kommt hoch? Ich war immer aufs Neue verunsichert. Einmal drückte ich erst gar nicht, als es schellte,

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schickte Noah hinunter und fühlte mich danach schuldig. Ich fragte mich, ob ich meinen mangelnden Mut mit der Unmöglichkeit verdeckte, vor Noah den Vater auf seine E-Mail anzusprechen. Wie das abschließende Elterngespräch aussehen würde, konnte ich mir gar nicht vorstellen. Von Noah erfuhr ich en passant einiges über den Vater. Es interessierte mich, aber ich fragte mich auch, ob ich ihn zu bestimmten Äußerungen verführe, um an Informationen über den Vater zu kommen. Die Mutter des Vaters spielte eine große Rolle in Noahs Leben. Sie schickte oft Geschenke, brachte Noah, der es liebte zu basteln, immer Tesafilm mit. Er benötigte Unmengen davon. Der Vater des Vaters war kurz vor Noahs Geburt gestorben. Da der Vater ein Einzelkind war, der Bruder der Mutter sich umgebracht hatte und deren Eltern tot waren, gab es kaum Familie. Einmal gebrauchte ich das Wort »Tante«, da wollte Noah wissen, was das sei. Er kannte das nicht, hatte nur seine Eltern, seine Schwester und die Mutter des Vaters. Ich erinnerte mich daran, wie der Vater dafür gekämpft hatte, dass Noah auch eine Therapie bekomme, während die Mutter der Meinung gewesen war, letztlich gehe es um Nora. Nora, so dachte ich oft, hatte vielleicht nur mit ihren nervösen und überforderten Eltern überleben können, indem sie sie mit dem Missbrauchsverdacht aufgerüttelt hatte. Es gab plötzlich nichts anderes mehr. Alles drehte sich um Nora, während zuvor, das war klar, Noah der Prinz der Eltern gewesen war. Das kleine, unglückliche Mädchen mit den herabhängenden Haaren, das auf mich wirkte, als wolle es sterben, hatte zu einem letzten Mittel gegriffen. Sie wollte da sein, sie wollte angeschaut werden. Die Eltern waren die ganze Nacht, nachdem sie ihnen den Missbrauch geschildert hatte, mit ihr bei Ärzten gewesen, um Beweise zu sammeln. Ich begriff darüber hinaus, dass der Missbrauchsverdacht Noras das Einzige war, was die Eltern zusammenhielt und miteinander verband. Das Mädchen wurde benutzt, wie ich benutzt wurde. Die Eltern verbündeten sich in diesem Punkt, strengten einen Prozess und dessen Wiederaufnahme an. Ich dachte zurück an den Hass in den Augen der Mutter, als ich zum ersten Mal meine Tür geöffnet hatte. Sie musste geahnt haben, was geschehen würde. Auf der einen Seite standen die Mutter und Nora, die bei Noras Therapeutin einen Raum gefunden hatten, auf der anderen Seite standen Noah und sein Vater, die ich wegschicken musste, weil der Vater das Recht auf einen Raum bei mir verwirkt hatte. Trotz seiner schwerwiegenden Grenzüberschreitung rührte mich der Vater, wenn er Noah abholte. Er wirkte so hilflos und bedürftig, als hätte es die E-Mail niemals gegeben. Es war für mich unbefriedigend, die Behandlung auf diese Weise zu beenden. Ich wünschte mir sehr, im letzten Elterngespräch über die E-Mail sprechen zu

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können. Meine Kollegen hatten recht: Ich wollte unbedingt verstehen und das, was nicht zusammenzupassen schien, zusammenbringen. Ich würde, so überlegte ich mir, gerne sagen, dass es nicht gut sei, den Kindern Ritalin zu geben, dass die Kinder einen Raum für ihre Gefühle benötigen würden, vor allem für ihre aggressiven. Es könne so nicht weiter gehen. Ich hätte das Gefühl, sie, die Eltern, nicht wirklich erreichen und mit ihnen sprechen zu können, deshalb könne ich auch nicht weiter mit ihnen arbeiten. Der Missbrauch Noras, warum dürfe es daran keine Zweifel geben? Warum könne es nicht auch sein, dass sie etwas erfunden habe? Warum werde dieser Missbrauchsverdacht zum alles beherrschenden Thema gemacht? Egal, ob er geschehen sei oder nicht, alle müssten Ruhe finden, Nora insbesondere. Sie müssten ihrer Tochter sagen, dass das Leben jetzt weitergehe, egal, was gewesen sei. Es sei nicht gut, wenn sie noch einmal aussagen müsse, ich würde sehen, wie schlecht es ihr gehe, es sei gar nicht zu übersehen. Gleichzeitig fragte ich mich, ob ich mich mit derartigen Fragen nicht einmischen, Grenzen und meinen Rahmen überschreiten würde, vor allem mit meinen Überlegungen zur Schwester meines Patienten, die ihre eigene Therapeutin hatte. Dennoch stellte ich mir vor, wie ich den Eltern abschließend sagen würde, dass die ganze Missbrauchsgeschichte verdeutliche, dass Nora von ihnen gesehen werden wolle. Sie spüle nie ab, so als ob sie dadurch, dass sie nicht abspüle, zeigen wolle, dass da etwas von ihr sei. Der Missbrauch sei nicht das einzig Wichtige. Da gebe es ein tiefes Zerwürfnis zwischen ihnen, den Eltern, das gar nicht zu übersehen sei. Sie würden einander hassen und die Situation nur ertragen können, wenn ein schrecklicher, sie verfolgender Feind im Außen sichtbar werde, erst dann würden sie zusammenhalten und sich an ihre Liebe erinnern. Der Hass sei sehr groß. Das sei kein Spaß gewesen, als er, der Vater, mir eine E-Mail geschickt habe und mit mir allein habe sprechen wollen. Wir müssten herausfinden, was das sei, warum sie sich so hassen müssten, warum sie einander misstrauen würden. Ich würde das nicht verstehen. Habe Ihre Beziehung vielleicht die Kinder nicht verkraftet? Wie sei es vorher gewesen? Ich wisse, dass sie sich jetzt gegen mich verbünden würden, aber das helfe gar nichts. Vielleicht gebe es hier eine Chance, etwas herauszufinden. Alles sei schon aus dem Ruder gelaufen, bevor Nora über den Missbrauch berichtet habe. Vielleicht habe der Umzug eine wichtige Rolle gespielt. Ich wisse es nicht, könne aber spüren, wie sie sich hassen und sich misstrauen würden und dass dieser Prozess das nicht würde kitten können. Ich spürte, wie mein innerer Monolog mich sicherer zu machen begann. Ich hatte keine Angst mehr, wenn der Vater hochkam, um Noah abzuholen. Ich schob ihn auch nicht mehr hinaus. Ich fühlte mich nun sehr klar in meinem

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Wunsch, zu verstehen und mich abzugrenzen. Vater und Sohn hielten sich immer eine Weile bei mir auf und tauschten etwas miteinander aus, bevor sie gingen. Noch immer hatte ich das Gefühl, dass sie zu bleiben wünschten. Ich konnte das nun aber zulassen, ohne mich als Verführerin zu fühlen. Ich konnte beobachten, wie der Vater mit einer Frau, der er eine zweideutige E-Mail geschrieben hatte, von der er vermuten konnte, dass sie sie gelesen habe, umging. Ich konfrontierte ihn nicht, aber ich grenzte mich deutlich ab. Ich hielt das für ausreichend. Den Vorschlag meiner Kollegen, ihn zu treten, konnte ich nicht umsetzen, aber, dank der Gespräche mit meinen Kollegen, konnte ich inzwischen in einer mir eigenen, neuen Weise mit dem Fall umgehen. Ich war sicher, mit meinem Gestus ein Nein auszusprechen, das unübersehbar war und deutlich zu erkennen gab, dass niemand mich manipulieren könne. Noah, der schon nach wenigen Stunden nicht mehr wie ein Kleinkind sprach, hatte sich einen Raum in den Sitzungen geschaffen, um allein zu sein, sozusagen als Gegenpol zum Umhergefahrenwerden. Er verlangte, dass ich mich umdrehte, wenn er etwas malte oder bastelte. Erst wenn er fertig war, durfte ich es ansehen. Er genoss es, in meiner Anwesenheit unbeobachtet malen und basteln zu können und mir dann sein Ergebnis zu präsentieren. Noah wurde von der Mutter oft lange vor der Stunde abgeliefert. Er saß dann allein im Treppenhaus und machte da seine Hausaufgaben. »Du Armer«, sagte ich einmal – es war Winter, »es ist doch so kalt auf den Stufen und es ist auch schon so spät.« Noah sagte, Hausaufgaben würden ihm Spaß machen, ich bemerkte aber, als er eine Hausaufgabe in der Stunde fertig machen wollte, dass er gar nicht begriff, was er machen sollte. Er sagte: »Das muss sein, meine Hausaufgaben muss ich machen und ich mache sie gerne.« Einmal bastelte er einen Panzer. Er hatte gesehen, dass ich einen Spielzeugpanzer besaß, und bastelte ihn nach. Er war ziemlich begeistert und schoss immer wieder mit Murmeln aus dem Panzerrohr. Als der Vater kam, sagte der: »Oh, ein Panzer, muss das sein?« Ich sagte spontan: »Ja, Noah hat hier einen Panzer gebastelt«, und dachte für mich: »Er hat Angst, dass ich auf ihn schieße, und er hat Angst vor Noahs vollkommen abgewehrter Aggressivität.« Es war schon viel, als Noah mir erzählte, wie viele große Kuscheltiere die Schwester besaß und wie viele er, nämlich genau die Hälfte. Ich: »Du willst auch so viele haben, manchmal macht dich das sauer.« Er schaute mich irritiert an und erwiderte: »Ich möchte auch so viele haben.« Gleichzeitig gab er an, sich gar nichts zu Weihnachten zu wünschen, er habe ja schon so viel. Noah sagte: »Jetzt komme ich nur noch zweimal, das ist dann unser letzter Montag, unser letzter Freitag. Wann kann ich dich dann wiedersehen?« Ich: »Es ist traurig, sich zu verabschieden. Ich habe viel darüber nachgedacht, dass deine

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Eltern dich zu mir gebracht haben, weil das mit Nora passiert ist. Sie dachten, auch du musst mit jemandem darüber sprechen. Es ist aber so, das kann ich fühlen, dass du das eben nicht willst, und du bist ja auch nicht Nora.« Noah schwieg eine Weile, dann sagte er: »Nora muss da noch viele Jahre hin. Das ist richtig lange. Ich werde dann immer bis 17 Uhr im Hort sein. Ich habe meine Hausaufgaben heute schon gemacht und heute war auch der Abschied von dem Malkurs und am Mittwoch ist der Abschied von dem Statuenkurs.« Ich sagte: »Das sind viele Abschiede auf einmal, das ist schwer.« Er lächelte schelmisch und sagte: »Und am Freitag kommt dann noch ein Abschied.« Ich: »Von mir, ich weiß, es ist sehr viel, es sind so viele Abschiede.« Ich schämte mich. Ich konnte meinem Patienten nicht wirklich begegnen, ich konnte ihm nicht sagen, wie stark ich fühlen konnte, dass er sehr lange bleiben wollte. Er machte es mir sehr leicht, ihn wegzuschicken, er kämpfte ja nicht. Noah wollte wie immer in der letzten Zeit, dass ich mich von ihm abwandte, während er etwas malte. Er genoss das, ich merkte aber, dass er es auch genoss, dass ich da war. »Ich muss jetzt aufs Klo«, sagte er, »würde es dir etwas ausmachen, wenn du noch eine Viertelstunde so sitzen müsstest?« Ich musste lachen und sagte: »Ich schaffe das schon, auf dich zu warten.« Er war blitzschnell zurück, es war, als hätte er keine Zeit zu verlieren. Gleichzeitig fragte er mehrfach, wie viel Zeit wir noch hätten. »Noah«, sagte ich und fühlte, wie schwer mein Herz dabei wurde, »die Zeit bei mir, sie ist so kurz.« »Lang-Langer«, sagte er ernst. Er rührte mich, ich war sehr traurig über unseren Abschied, empfand, wie falsch alles war, und dachte immerzu darüber nach, ob ich wohl in der Lage sein würde, im abschließenden Elterngespräch, das der Vater verschoben hatte, über die E-Mail zu sprechen, darüber, dass er Noah etwas weggenommen habe, was diesem zustehe. Bis zum Schluss wusste ich nicht, ob meine Scham über die von ihm empfangene E-Mail und mein Wunsch, diese offen anzusprechen, über meine Scham, ihn vor seiner Frau vorzuführen, siegen würden. Ich fragte mich, ob ich ihn nicht würde schützen wollen, obwohl er eigentlich keinen Schutz dafür verdient hatte, dass ich seinetwegen Nein zu Noah hatte sagen müssen, bevor Noah oder ich darüber zu einem Schluss hätten kommen können. Ich war mir aber sicher, dass ich, ob ich die E-Mail erwähnen würde oder nicht, einiges auf jeden Fall sagen würde. So würde ich über den Ritalin-Missbrauch sprechen. Ich wusste zwar, dass das vorgeschoben sein würde, aber da alles in diesem Fall um Missbrauch ging, dennoch etwas Wesentliches benennen würde: Die Eltern missbrauchten die Medikamente, um sich nicht wirklich mit ihren Kindern zu konfrontieren, die sie maßlos idealisierten. Diese Kinder hatten keinen Raum, genauso wenig wie ich selbst. Würde ich es wagen, aggressiv zu sein, zu konfrontieren? Mir wurden ja keine Tabletten in den Mund gedrückt, oder doch? Ich

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spürte, dass der Vater, der nach dem verschobenen ein erneutes Elterngespräch mit mir vereinbarte, Angst hatte. Ich rechnete mit allem. Vielleicht würden sie gar nicht zu einem abschließenden Gespräch kommen, einerseits wünschte ich das, andererseits aber auch wieder nicht. Der Vater gab mir nicht mehr die Hand, wenn er Noah abholte. Es wurde mir bewusst, dass er auf der Flucht war. Zum letzten Elterngespräch kam die Mutter allein die Treppe hoch. »Mein Mann hat noch keinen Parkplatz gefunden, ich stehe direkt vorm Haus«, sagte sie und lachte. Ich war zunächst unsicher, entschloss mich dann aber anzufangen. Die Mutter knüpfte an die Parkprobleme in der Frankfurter Innenstadt an, sie kenne das ja von Berlin, habe dort direkt in der Innenstadt gewohnt. »Das ist sehr schwer für mich, jetzt wieder auf dem Land zu wohnen. Ich war ja so froh gewesen, vom Land nach Berlin gekommen zu sein.« »Warum sind Sie eigentlich umgezogen?«, fragte ich. »Die IT-Branche hat sich aus Berlin zurückgezogen, zwei Firmen, bei denen ich gearbeitet habe, haben Pleite gemacht und auch mein Mann hatte Probleme. Wir mussten nach Frankfurt. Er hat hier einen guten Job gefunden und ich habe mich selbstständig gemacht. Ich frage mich, was ich überhaupt gemacht hätte, wenn ich nicht selbstständig wäre, als das mit Nora passierte. Ich hätte meine Arbeit aufgeben müssen.« Sie schwieg eine Weile und fuhr dann fort: »Monatelang hat sich Nora an mich gekrallt, sonst konnte sie nicht schlafen.« »Das war sehr schwer«, merkte ich an. »Ich dachte, ich drehe durch, ich kann das nicht. Es ist etwas besser geworden.« Abrupt sagte sie: »Noah ist sehr, sehr traurig, weil er sich von Ihnen verabschieden muss.« »Ja«, erwiderte ich hilflos und fügte, um mich zu schützen, etwas hinzu, von dem ich eigentlich wusste, dass es falsch war: »Ich habe aber das Gefühl, dass es gut für Noah ist, wenn er sich von mir verabschiedet. Er ist zu mir über seine Schwester gekommen, das ist gar nicht seines, warum er zu mir kam. Er sehnt sich unbewusst danach, davon abgekoppelt zu werden und er selbst zu sein. Für mich ist das sehr wichtig, ich wollte Sie fragen, ob sie Noah die Tabletten vor unseren Stunden gegeben haben.« »Nein, das habe ich nicht«, sagte die Mutter, »seit wir das besprochen haben, habe ich ihm die Tabletten vor der Therapiestunde nicht mehr gegeben.« »Ich habe gar keine Veränderung festgestellt«, sagte ich. »Aber das habe ich Ihnen doch gesagt, in Beziehungen, in denen er sich wohl fühlt, da fällt das gar nicht auf.« »Trotzdem«, beharrte ich, »ich habe hier einige sogenannte ADHS-Kinder gesehen, die sind über Tische und Stühle gegangen, das war ganz anders als mit Noah. So wie ich ihn kennengelernt habe, fällt mir kein einziges Kind ein, das weniger der ADHS-Behandlung bedarf als Noah, im Gegenteil, es fällt ihm eher schwer, einen Raum für seine aggressiven, chaotischen Regungen zu beanspruchen.« »Ich will nicht unhöflich sein«, sagte die Mutter und schaute mich an. »Sagen Sie mir, was Sie denken«,

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bemerkte ich. »Sie haben keine Ahnung davon«, sagte die Mutter, »wir haben einen kompetenten Kinderarzt und wir haben Noah in Berlin einem Psychiater vorgestellt, es ist alles abgeklärt. Ich habe nach dem letzten Elterngespräch noch einmal im Internet nachgelesen.« »Noah war so klein, als er das Medikament zu nehmen begann«, sagte ich, »erst vier Jahre alt. Das ist sehr, sehr früh, sein Körper wächst und das ist gar nicht einfach für so ein kleines Kind.« »Noah wird für immer Ritalin nehmen müssen«, sagte die Mutter, »ich habe das gelesen, diese Krankheit geht nicht einfach weg.« »Das ist wirklich schwierig«, sagte ich, »das ist auch ein Grund, warum ich Noah nicht weiter behandeln kann, ich habe das Gefühl, ihn nicht kennenzulernen, als sei er ruhiggestellt.« Die Mutter holte ihr Handy aus der Tasche und rief ihren Mann an, der noch immer nach einem Parkplatz zu suchen schien. »Es kann sein, dass er gar keinen findet«, sagte sie. »Dabei wollten Sie ihn zur Hilfe holen«, sagte ich. »Da ist ein Graben zwischen uns, wir können nicht wirklich miteinander sprechen.« »Nein«, schrie sie auf, »das ist alles nur, weil Sie nicht aufhören können. Ich sage ›stopp!‹ und Sie hören nicht auf, Sie hören einfach nicht auf. Ich habe da gar keinen Graben empfunden. Ich wollte, dass Noah zu Ihnen geht, ich habe gefühlt, wie gut es ihm bei Ihnen geht, welche Sehnsucht er nach den Stunden hat und wie traurig er ist, dass Sie aufhören. Sie haben ihm sehr geholfen, er kann jetzt schlafen, er hat diese Träume nicht mehr und er knirscht nicht mehr mit den Zähnen, Sie ahnen gar nicht, wie froh ich darüber bin. Aber Sie verstehen das einfach nicht, Sie haben da keine Kompetenz. Sie sind wie Noahs Großmutter, sie hat immer gesagt: ›Gebt dem armen Kind die Tabletten nicht‹, und dann war er einmal bei ihr und hatte zu wenige Tabletten dabei und sie hat es gar nicht ausgehalten mit ihm. Sie hat dann gesagt: ›Ihr habt recht.‹« Die Hälfte unserer Zeit war inzwischen vergangen, da schellte der Vater. Er kam in seiner nonchalanten Art hinein, nahm aber sofort wahr, dass etwas schwierig war. »Entschuldigung«, sagte er, »wahrscheinlich habe ich alles verpasst.« Ich dachte: »Das wolltest du so, genau so«, und sagte: »Ihre Frau hat Sie schon zur Hilfe gerufen.« »Wie?«, fragte er. »Dr. Langer hört nicht auf, auch wenn ich ›stopp!‹ sage«, schrie die Mutter, »sie spricht immer über ADHS, auch wenn ich es nicht will, sie hört nicht auf.« »Okay«, sagte der Vater sehr ruhig, »vielleicht denkt sie anders darüber, das muss möglich sein.« »Wir müssen da nicht weitermachen«, sagte ich und sah die Mutter an. »Ich habe mir gewünscht, einen Raum zu haben, um zu sagen, was ich darüber denke, ich habe ja auch eine Verantwortung, Sie haben Noah zu mir gebracht.« »Ich bin da ja selbst betroffen, das wissen Sie«, sagte der Vater, »ich habe sehr profitiert. Aber mich würde schon interessieren, warum Noah jetzt bei Ihnen aufhört.« Ich wiederholte mein Argument des Abkoppelns von der Schwester. »Es ist ja nicht für

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immer, der Abschied«, sagte der Vater. »Doch«, sagte ich, »es ist ein endgültiger Abschied.« »Na ja«, sagte er sehr leise, »man sieht sich im Leben immer zweimal.« Ich konnte fühlen, dass er wusste, was ich wusste. Er hatte mir diese E-Mail geschrieben, die zwischen uns stand. Ich fühlte mich plötzlich sehr mächtig. Ich hätte ihn völlig auffliegen lassen können, wenn ich das gewollt hätte. Ich fühlte eine sadistische Lust und spielte mit dem Gedanken. Er hatte richtig Angst vor mir. Ich sah ihn an, musterte ihn und bekräftigte es noch einmal: »Dieser Abschied ist ein Abschied.« Ich nahm wohl wahr, wie zurückhaltend er in allem, was er sagte, war, er war gar nicht mehr wiederzuerkennen. »Noah hat da etwas verstanden«, sagte ich. »Es ist seine Schwester, die in Therapie gehen wird. Er will auch nicht wirklich therapeutisch reiten, er will einfach nur reiten.« »Noah, ich merke das ja, wenn ich ihn abhole, er ist ganz anders als sonst, wenn er von Ihnen kommt. Er ist so lebendig, er erzählt und erzählt. Ich habe so gefühlt, wie gut ihm das tut. Ich habe immer den Eindruck, wie er bei Ihnen sein kann, das ist so ein Zustand, als könne er gesund sein, ohne Tabletten. Bei Ihnen ist er einfach gesund«, bemerkte der Vater sehr langsam. »Ich habe das auch so gesehen«, sagte die Mutter, »Noah ist so anders, wenn er von Ihnen kommt, so lebendig, aber gar nicht unruhig.« Ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich sagen sollte, angesichts dieser maßlosen Idealisierung meiner Beziehung zu Noah, die die Eltern teilten, in der sie sich verbündeten. Ich versuchte an Noah zu denken, aber er war wie verschüttet unter seinen Eltern, die etwas von mir wollten, was ich ihnen nicht zu geben vermochte und auch nicht geben wollte. Dass ihn auch meine Verleugnung der E-Mail seines Vaters unter sich begraben habe, konnte ich erst viel später denken. »Ich will Ihnen das noch einmal sagen«, sagte die Mutter, »Sie verstehen etwas nicht, Noah war nicht mehr zu bändigen. Schon im Alter von zwei Jahren hat er ein Fenster im dritten Stock geöffnet und wollte herunterspringen. Er ist vor Autos gelaufen und es ist ein Wunder, dass er noch lebt.« »Aber er war noch so klein«, sagte ich, »er konnte das noch nicht einschätzen.« »Er hat das Fenster geöffnet«, sagte die Mutter. »Warum konnte er das?« Ich begann an den Bruder der Mutter zu denken, der sich umgebracht hatte. Es gab aber keinen Raum mehr, das zu erwähnen, unsere Zeit war nahezu zu Ende. Es war aber nicht nur die Zeit, es war auch die Mutter. Es schien mir unmöglich, darüber zu sprechen, dass sie ihren Kindern die Tabletten gab, weil sie furchtbare Angst hatte, sie könnten sich umbringen wie ihr Bruder. Auch ihren Mann, das war ganz deutlich, fürchtete sie zu verlieren, wenn er die Tabletten nicht mehr nahm. Zu mir hatte sie gesagt: »Sie akzeptieren es nicht, wenn ich ›stopp!‹ sage.« Ich hatte das Gefühl gehabt, sie wolle auch mir die Tablette in den Mund drücken, weil sie mich in gleicher Weise nicht mehr ertragen konnte, wie ihre Kin-

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der und ihren Mann. Ihr Mann sehnte sich danach, ebenso wie Noah von mir angenommen zu werden und einfach gesund zu sein. Deshalb hatte er mir die fatale E-Mail geschrieben. Unsere Zeit ging zu Ende. Die Mutter starrte mich an und es war, als ob sie etwas sagen wolle. »Was ist?«, fragte der Vater, »Du willst noch etwas sagen.« Sie starrte vor sich hin. »Nein, nein«, murmelte sie. »Warum nicht?«, fragte ich. »Nein, nein, nein, ich kann nicht, ich kann nicht«, fast schrie sie, »ich kann nicht, ich kann nicht.« Sie wirkte wie zusammengebrochen auf mich. Ich sah, wie sie ihren hasserfüllten Blick auf mich richtete. Es war wie am Anfang. »Es geht nicht«, sagte sie zu ihrem Mann, »gar nichts geht.« Ich war froh, als sie gegangen waren. Eine Last fiel von mir. Nicht ich, die Mutter hatte sprechen wollen, dann wankte sie wie betäubt hinaus, der Vater ging voran, fliehend gleichsam, so kam es mir vor. Ich dachte wieder an Noah, den ich am nächsten Tag zum letzten Mal sehen würde. Ich holte, nachdem sie gegangen waren, seine Mappe heraus und legte sie auf seinen Platz. Ich wechselte den Tesafilm aus, der zu Ende gegangen war und den er immer benötigte. Ich holte das Flugzeug, das er gebastelt hatte, aus dem Schrank und legte es auf seinen Platz. Noah war der erste Patient, den ich am nächsten Tag erwartete. Als ich noch einmal über alles nachdachte, wurde mir sehr langsam etwas klar. Die Mutter hatte mir sagen wollen, was ich nicht auszusprechen vermocht hatte. Sie hatte mir sagen wollen: »Stoppen Sie, ich will nicht, dass Sie mir meinen Mann wegnehmen.« Sie war sehr krank und lebte in der ständigen Angst, andere Menschen nicht stoppen zu können. Die kardinale Szene in diesem Zusammenhang ist der Selbstmord des Bruders. Immer wieder hatte der Bruder ihr versprochen, sich niemals umzubringen. Dann hatte er es doch getan. Sie hatte ihn nicht stoppen können. Sie hatte diese Szene geschildert, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte und sie, verstört von dem Getriebensein der Eltern, gefragt hatte, ob sie schon einmal etwas vergleichbar Schreckliches wie den Missbrauch Noras erlebt hätten. Danach, hatte die Mutter gesagt, musste sie eine Therapie machen. Die Angst der Mutter, mich nicht stoppen zu können, hatte ich in der Übertragung erlebt. Ich selbst hatte meine Interventionen zwar als konfrontierend, aber gleichzeitig auch als haltend und verständnisvoll wahrgenommen. Es war ganz klar, dass die Mutter an ihre absolute Grenze mit mir geraten war und ihren Mann um Hilfe gerufen hatte. Sie hatte meine autonome und von ihr nicht manipulierbare Haltung bezüglich der ADHS-Problematik nicht ertragen können. Untergründig war es darum gegangen, dass der Vater mich zu verführen versucht hatte und ich nicht laut »stopp!« hatte rufen können. Ich hatte ihre wundeste Stelle getroffen. In meinem Schweigen über die E-Mail des Vaters,

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deren Unabwendbarkeit sie von Beginn an unbewusst mit ihren hasserfüllten Augen gefühlt haben mochte, wurde ich zu seiner Komplizin. Ich dachte wieder an meine Kollegen, wie recht sie gehabt hatten, daran, wie ich gescheitert war und die Mutter hatte hinauswanken lassen, wie ich nicht gesprochen, sondern geschwiegen hatte, wie ich die Situation mit meinem mangelnden Mut verstellt hatte, wie ich mich an einem Nebenschauplatz festgebissen hatte, der ADHS-Problematik, und ihn um keinen Preis hatte verlassen wollen, wie ich von Beginn an eigentlich nur hatte weglaufen wollen. Die Mutter, die alle stoppen wollte, hatte panische Angst, dass ihre Kinder oder ihr Mann sie ebenso verlassen könnten, wie ihr Bruder es getan hatte. Sie hatte mich angeschrien: »Sie wissen gar nichts. Noah war gerade zwei Jahre alt, da wollte er sich aus dem Fenster stürzen, er hat den Griff umgedreht, warum konnte er das?« »Es ist lebensgefährlich, was er gemacht hat«, sagte sie, »er wollte einfach auf die Straße laufen, als er kaum laufen gelernt hatte.« Sie hatte keinerlei Wahrnehmung dafür, dass ein so kleines Kind die Realität noch nicht begreifen kann und seine Mutter braucht, um es zu beschützen. »Ich habe mit einem Mann gesprochen, der viele Bücher über Missbrauch geschrieben hat, weil er selbst als Kind missbraucht wurde. Er denkt jeden Tag mehrfach daran, sich umzubringen, jeden Tag.« Die Mutter war besessen vom Tod und der Angst, verlassen zu werden. Alle triebhaften Regungen bewegten sich für sie in diese Richtung. Das Ritalin, das alle Familienmitglieder außer ihr einnahmen, vermittelte ihr Sicherheit. Es bedeutete für sie, dass sie sich nicht umbringen und sie verlassen würden. Auf diesem Hintergrund verstand ich auch, warum die Eltern einander verbal angriffen. Der Vater, der sich hatte ruhig stellen und dominieren lassen, kämpfte auf seine Weise um seine Lebendigkeit. Auch seine alle Grenzen verwischende E-Mail an mich verstand ich in diesem Zusammenhang. Er wollte ausbrechen, sich retten vor dem psychotischen System seiner Frau, dem er sich unterworfen hatte. Ich dachte auch an Noah, von dem ich gar nicht verstanden hatte, warum er so gerne zu mir kam. Er suchte einen Raum. In unserer letzten Sitzung wagte Noah es, mir eine nicht angepasste Seite von sich unverstellt zu zeigen. Er fand einen kleinen Plastikfrosch, den er unheimlich schön fand. Er begann, ihn im Raum hüpfen zu lassen, er steigerte sich in ein Umherwerfen des Frosches hinein. Der Frosch hüpfte und flog durch den Raum, fast traf er mich. Er war aber so leicht, dass ich gar keine Angst hatte. Ich stellte mir die Mutter bei dieser Szene vor. Sie hätte diese Form von Triebhaftigkeit und Aggressivität nicht ertragen. Sie hätte ihm eine Tablette in den Mund gedrückt. Noah nahm den Frosch, den er in einer Ecke des Behandlungsraumes gefunden hatte, in die Hand und sah ihn zärtlich an. »Weißt du, was ich gerade denke?«, fragte er. »Ja, du willst ihn haben«, sagte ich. »Bitte«, sagte Noah, »so

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gerne.« Ich schenkte Noah den kleinen Frosch. Wir sprachen darüber, dass der ganz schön wild sein konnte, dann auch wieder sehr lieb, dass er zwei Seiten habe. »Wie ich«, sagte Noah. »Wie du«, sagte ich, »wie alle Menschen, und ich weiß das schon, du bist auch sauer auf mich.« »Ich weiß nicht, weil ich gehen muss, ich weiß nicht«, erwiderte Noah. Er hatte zu dieser letzten Sitzung eine riesige Leinwand die Treppe hochgeschleppt. Er hatte mir zeigen wollen, was er mit dem Künstler gemacht hatte. Er vervollständigte das Bild in der Stunde und ich sehe ihn noch vor mir, wie er schwer beladen, ganz allein, die vielen Treppen hinunterging und sich immer wieder umdrehte und tschüss sagte. Als er außerhalb meiner Sichtweite war, hörte ich ihn wie ein sehr kleines Kind »Mama, Mama!« rufen. Er wirkte vollkommen überfordert auf mich. Abschlussbetrachtung des Behandlungsverlaufs

Der Vater, Noah und Nora kämpften auf ihre Weise um ihre Lebendigkeit und gegen das Wahnsystem der Mutter an. Der Vater griff die Mutter verbal an und schrieb die E-Mail, Nora inszenierte einen Missbrauchsverdacht, der unbewusst die Mutter betraf, Noah, der über seine Schwester zu mir gekommen war und nicht mehr gehen wollte, sehnte sich nach einem Raum. Mein unaufhaltsamer, ungewöhnlicher Wunsch, die Zeit mit ihnen zu beenden, korrespondierte mit ihrem Kampf gegen das Wahnsystem der Mutter. Dabei übersprang ich Noah, der einen Ort gefunden hatte bei mir. Wann hatte ich jemals eine Behandlung aufgegeben, in der ich mit meinem Patienten in Kontakt gekommen war? Den Eltern gegenüber hatte ich behauptet, dass es gut für Noah sei, wenn er sich von mir verabschiede. Im Nachhinein war ich bestürzt, als ich mir vor Augen führte, was ich gesagt hatte. Ich konnte noch einmal meine Angst fühlen und wie stark ich mich hatte schützen müssen. Ich dachte: »Wie gut du das kannst, wie schrecklich du bist.« Ich hatte um eine autonome Position gekämpft und war gescheitert. Ich fühlte mich am Behandlungsende noch einmal wie am Anfang, wie vernichtet vom Hass der Mutter. Ebenso wie der Vater, der sich mit nichts anderem mehr als dem wieder aufzunehmendem Gerichtsverfahren bezüglich des Missbrauchs beschäftigte, hätte auch ich gerne einen Prozess angestrengt. Ich sehnte mich nach einer Instanz, der ich meine Argumente hätte vortragen können. »Ich will da raus«, war von Anfang an alles gewesen, was ich zu denken vermocht hatte. Mit diesem Impuls hatte ich Noah, seine Schwester und den Vater, die alle raus wollten und doch gefangen blieben, unbewusst verstanden. Vor dem Vater hatte ich mich gefürchtet, wie dieser vor seiner Frau. Er hatte, so lese ich sein E-MailAgieren jetzt, nach einem Weg gesucht, aus dem Wahnsystem seiner Frau, das er

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sich zu eigen gemacht hatte, auszubrechen, sein Anliegen jedoch in einer unangemessenen Form vorgebracht. Ich verstehe inzwischen, warum ich nie anders gekonnt hatte, als ihn zu schützen, was mir lange Zeit als klassische Reaktion eines Missbrauchsopfers erschienen war, ohne dass ich die Zusammenhänge des Missbrauchssystems begriffen hätte. Ich hatte mich selbst gerettet, mehr war mir nicht möglich gewesen. Gefangen zwischen Vater und Mutter, war ich mit meinen Wünschen, etwas zu klären, aufgrund meiner Opferhaltung und wegen mangelnden Mutes gescheitert. Schon früh stellte ich Noahs Einnahme von Ritalin infrage. Dadurch, dass alle das Medikament nahmen, die Mutter aber nicht, war sie nicht nur diejenige, die den Verlust ihr nah stehender Menschen fürchtete und stoppen wollte, sie war auch diejenige, die vergiftete und tötete. Man kann vermuten, dass die Beziehung zu dem Bruder höchst ambivalent gewesen war. Unbewusst hatte sie ihn vielleicht gar nicht stoppen wollen. Indem sie in ihrer Angst vor der Autonomie der Objekte die Vitalität der Kinder und des Mannes stoppte, ihnen ihre Lebendigkeit nahm, tötete sie zugleich. Der Vater versuchte sich über die Missbrauchsgeschichte seiner Tochter, seine Bemühungen um die Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens, aber auch über die Therapie seines Sohnes wieder zu verlebendigen. Auf diesem Hintergrund kann ich heute ein Gegenübertragungsphänomen verstehen, das mir große Scham bereitet hat. Unbewusst benutzte und missbrauchte der Vater mich, die Therapeutin seines Sohnes. In einem unbewussten Akt der projektiven, agierten Identifizierung brachte er mich zum Fliehen. Ich floh für ihn. Nach einer weiteren E-Mail, ein halbes Jahr nach Beendigung der Behandlung, die ich wiederum nicht beantwortete, wurde ich zur Zeugin mehrerer E-Mails, die unter vielen anderen auch an mich gesandt wurden. Der Vater teilte zunächst den Wechsel seiner E-Mail-Adresse, seines Festnetzanschlusses und seiner Handynummer mit, dann den Wechsel seiner postalischen Adresse. In seiner letzten E-Mail schrieb er, dass er die Ehewohnung mit seiner Frau aufgegeben habe, da er um die Sicherheit seines Lebens habe fürchten müssen. Es ist für mich sehr schwer, Sie hier zum Zeugen eines intimen Prozesses zu machen, der mich mit meinem Patienten und dessen Vater in einer Weise verwickelte, die Grenzen überschreitet. Ja, es ging um einen Fall von Missbrauch, es ging per se um Grenzüberschreitung, es ging um Distanzlosigkeit, um Strukturmangel, die Abwesenheit von Abwehrprozessen. Ich habe darum gekämpft meine analytische Haltung, meine Abstinenz nicht aufzugeben. Es war mir aber eine Lust, mit diesem Gedanken zu spielen, und da war eine Verzweiflung, der ich nicht entrinnen konnte. Es ist auch nicht wahr, wenn ich davon spreche,

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dass ich mit dem Gedanken spielte – von Spielen konnte gar keine Rede sein. Ich müsste eher sagen: Ich wurde getrieben von der Phantasie der Grenzüberschreitung, ich verzweifelte daran und hatte manchmal sehr wenig entgegenzusetzen. Tatsächlich hatte ich ja sämtliche E-Mails, nicht nur die erste, des Vaters gelesen und mich schuldig gemacht, mich in die Position eines Voyeurs bringen lassen. Und, ja, ich hatte auch darüber nachgedacht, zu antworten, real zu werden, mich zu erklären … Wie in einer Gegenbewegung zu meiner frühen Flucht, dem Abbruch der Behandlung, nahm ich in einer heimlichen, unheimlichen Weise Anteil an den weiteren Geschicken der Familie. Damit überschritt ich Grenzen und sah mich wie aus einer Entfernung, wie eine Fremde, das war gar nicht ich … Der Vater hatte mich in einer Weise verwickelt, die Grenzen überschritten hat. Er hatte mich kompromittiert und durch seine Distanzlosigkeit Rahmen und Struktur der Behandlung missachtet, missbraucht und außer Kraft gesetzt. Ich hatte darum kämpfen müssen, meine analytische Haltung, meine Abstinenz nicht aufzugeben. Ich musste nicht nur erleben, wie ich seinen Annäherungen ausgeliefert war, sondern dass ich ihnen insofern wenig Abwehr entgegenzusetzen hatte, indem ich nicht nur die erste E-Mail des Vaters, sondern alle weiteren auch gelesen und mich in die Position eines Voyeurs begeben habe. Ich habe erfahren müssen, wie schwer es fällt, nicht zu antworten und sich damit real zu erklären, wie schwer es ist, auf eine derartige Grenzverletzung angemessen zu reagieren. Wie in einer Gegenbewegung zu meiner frühen Flucht, dem Abbruch der Behandlung, nahm ich Anteil an den weiteren Geschicken der Familie. Damit überschritt ich die Grenzen des Rahmens und der Abstinenz auf eine Weise, die mir nicht entspricht. Ich wurde mir selbst zu einer Fremden. Ich schließe daraus, dass ich es in diesem Fall in der Gegenübertragung mit massiven, sich an der Grenze zur Phantasie bewegenden missbräuchlichen Grenzüberschreitungen zu tun hatte. Ich befand mich in der Situation des kleinen Mädchens der Familie, um das sich plötzlich alles drehen musste. Dass ich nicht begrenzender und mutiger habe sein können, mich im Abstinenzkonflikt nicht hinreichend habe abgrenzen können, zeigt, wie stark die Kräfte waren, die in der Übertragung auf mich einwirkten: Hatte ich mich, unbewusst identifiziert mit dem Vater, gewehrt gegen das Stoppen der Mutter? Hatte ich nur in der Phantasie der Grenzüberschreitung überleben können, wie er? Hatte Nora die Geschichte ihres phantasierten oder realen Missbrauchs erzählen müssen, weil sie unbewusst das Stoppschild der Mutter zu missachten trachtete und eine Möglichkeit suchte, lebendig zu sein? Realität und Phantasie waren nicht mehr zu trennen. Ich denke an das todtraurige Mädchen mit den herabhängenden Haaren und kann fühlen, dass alle Erregung der Abwehr einer

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lähmenden Depression diente und gegen diese ankämpfte. Ich war zur Zeugin eines zerstörerischen, vielleicht auch befreienden Prozesses geworden, innerhalb dessen die Familie zerbrach. Vielleicht hatten sie mich, diesen Nebenschauplatz, unbewusst gesucht und benötigt, um sich schließlich zu trennen. Es war mir niemals gelungen über das zu sprechen, worüber ich hatte sprechen wollen. Ich hatte über Ritalin geredet und meinen eigenen Missbrauch, die mitternächtliche E-Mail des Vaters, gemeint. Meine Scham war so groß gewesen, dass ich sie verbergen musste. Niemals hatte ich gewagt, die Not und Einsamkeit dieser Eltern und ihrer Kinder zu teilen und zu verstehen. Meine von Anfang an andrängende Fluchttendenz offenbarte meinen inneren Mangel an Spielraum. Dieser Mangel an innerem Spielraum war es, der verhinderte, dass ich Worte fand, um über das, was geschah, in Kommunikation zu treten. In meiner Fluchttendenz formierte sich meine innere Abwehr, die in einer diffusen Angst vor Grenzüberschreitung gründete. Der für mich unsicher gewordene Rahmen der Behandlung verhinderte die Möglichkeit, zu spielen und Distanz zum Übertragungsgeschehen zu gewinnen. Gleichwohl gelang es mir, mich meinem Patienten für eine begrenzte Zeit zuzuwenden. Wenn ich mit ihm zusammen war, fiel alles von mir ab, all meine Zweifel und Ängste bezüglich des brüchigen Rahmens dieser Behandlung. Ich war einfach nur da.

Katrin, 17 Jahre – Grund der Anmeldung: Schlafstörungen, Antriebslosigkeit (180 Stunden, zweimal wöchentlich eine Stunde; 15 Stunden, einmal wöchentlich eine Stunde) Darstellung des Behandlungsverlaufs

Katrin, ein sorgfältig geschminktes Mädchen, das ich für gut 20 gehalten hätte, lächelte mich während unserer ersten Sitzung unentwegt an. Sie begann sehr eloquent von ihren vielen Abbrüchen zu erzählen, wie sie nichts, aber auch gar nichts durchhalten könne, was sie angefangen habe. Sowohl der Besuch der Realschule als auch die auf diesen folgende Fachschule für Erzieherinnen scheiterten. »Ich bin nicht mehr hingegangen«, sagte sie und strahlte mich dabei wie um Verständnis flehend an. »Es ging mir schlecht dort. Ich hatte das Gefühl, sie starren mich an, ich wollte mich nur noch verstecken. Ich hatte damals eine starke Akne, ich sah ganz furchtbar aus, ich habe mich so geschämt.« Ich, lang-

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sam, nachdenkend: »Es ging Ihnen so schlecht, Sie schämten sich so sehr, dass Sie die Schule nicht mehr besuchen konnten.« Katrin nickte und senkte ihre Augen, ich sah, es glitzerten Tränen darin. Wir schwiegen eine Weile. Ich bemerkte, wie es der Patientin gelang, über den schmerzlichen Moment zwischen uns hinwegzuhuschen. Sie begann in einer manischen Weise zu erzählen, weiterhin das flehende Lächeln auf ihrem Gesicht: »Auf meine Mutter kann ich mich gar nicht verlassen. Sie vergisst alles, was sie mir versprochen hat. Ich fange jeden Tag von Neuem an mit ihr zu sprechen, als sei sie eine fremde Person. Zum Glück habe ich dann eine Einzelfallhelferin bekommen. Das haben sie mir in der Psychiatrie empfohlen, wohin meine Mutter mich gebracht hatte, als ich nur noch zu Hause bleiben wollte.« Katrin berichtete so viel, dass ich mich kaum noch an etwas erinnern kann. Ich saß ihr gegenüber und dachte: »In ihrem Redestrom macht sie alles, was sie mir sagen will, bedeutungslos.« Gleichzeitig signalisierte sie mir auf einer nichtsprachlichen Ebene ihre schwere Verunsicherung, ihren fast körperlichen Wunsch, von mir aufgehalten und in Sicherheit gebracht zu werden. »Ich habe solche Angst«, brach es plötzlich aus ihr heraus, »dass Sie mich nicht verstehen können. Wer kann das schon verstehen, ich fange Dinge an und breche sie ab, ich fasse gute Vorsätze und sie haben keinen Bestand.« »Ich verstehe, Sie kämpfen schwer«, sagte ich, »da ist etwas in Ihnen, das tut weh.« Katrin begann sofort hemmungslos zu weinen und stammelte dabei: »Ich schäme mich so, seit mein Vater plötzlich gestorben ist, schäme ich mich.« Ich, erschrocken: »Ihr Vater starb.« Sie: »Da war ich vier Jahre alt, es ist so lange her, aber ich sehe ihn vor mir, immer noch, und manchmal denke ich, damals bin ich auch gestorben. Wir sind ja dann dauernd umgezogen, meine Mutter und ich, sie hatte immer neue Freunde, ich habe so viele neue Schulen besucht, dass ich mich gar nicht daran erinnern kann, und ich hatte immer nur Angst. Schon damals wollte ich nicht mehr in den Kindergarten. Mein Vater hatte mich immer hingebracht. Meine Mutter hat mich dann tagsüber zu meiner Oma gebracht, weil ich so furchtbar geweint habe im Kindergarten.« Katrin, atemlos und ohne Übergang, sprach weiter: »Da war der Autounfall, da war ich vierzehn. Der Junge hatte gerade erst seinen Führerschein, wir sind alle bei ihm eingestiegen, das Auto war völlig überfüllt. Auf der Autobahn kam der Wagen ins Schleudern, wir haben uns gedreht und sind gegen die Leitplanke gekracht. Ich habe gedacht, dass ich sterben muss. Es ist aber nichts wirklich Schlimmes passiert. Es ging mir trotzdem sehr schlecht, ich habe an nichts anderes denken können, ich konnte nicht mehr aus dem Haus gehen.« Ich: »Wie damals, nach dem Tod ihres Vaters, als Sie nicht mehr in den Kindergarten gegangen sind.« Heftig nickend fuhr sie fort: »Ich bin dann sehr

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Katrin

krank geworden, ich hatte Fieber und musste ins Krankenhaus, da war ich drei Monate.« Ich: »Es war alles zu viel.« Katrin, abrupt: »Warum ist das so, dass Menschen sterben müssen?« Ich, sehr langsam: »Man kann es nicht begreifen.« Sie: »Genau das denke ich. Und ich bin komisch, ich wollte nicht sterben, aber leben wollte ich auch nicht mehr. Es wurde schlimmer und schlimmer mit mir, ich habe nur noch im Bett gelegen.« Die Lebensabbrüche, die Katrin mit ihren Assoziationen überbrückte und die durch diese Bedeutung gewannen, stiegen schroff vor meinem inneren Auge auf, zerklüfteten Felsen gleich. Da war das kleine Mädchen, das ohne seinen Vater, der plötzlich starb, nicht mehr in den Kindergarten gehen konnte. Dann war da, zehn Jahre später, das vierzehnjährige Mädchen, bedrängt von Todesangst in einem schleudernden Wagen. Ich war sicher, sie erlebte den tief verunsichernden, sie umherschleudernden Tod ihres Vaters ein weiteres Mal. Dieses Mal versagte all ihre Kraft, sie wurde schwer krank und fieberte über Monate hinweg. Auch als sie wieder gesund wurde, fand sie keinen Weg zurück ins Leben. In der Zeit zwischen dem Tod des Vaters und der schrecklichen Autofahrt hatte Katrin die Schule besucht, ihren Hauptschulabschluss gemacht. Es fiel mir schwer, das festzuhalten. Es hatte eine einigermaßen ruhige Zeit gegeben, in der Katrin sich entwickelt hatte und die in dem, was Katrin »meine Abbrüche« nannte, untergegangen war. Die manische Fröhlichkeit, das Dauerlächeln der Patientin, schwand schneller, als ich es begreifen konnte. Sie schien den Tränen immer nah und beobachtete sich grausam und seziererisch. »Frau Langer, ich hasse mich«, sagte sie immer wieder, »es wäre doch so leicht, ein einziges Mal hinzugehen und dann wieder und wieder hinzugehen, sich nicht ins Bett zu legen und alles zu vergessen, was wichtig ist.« Ich: »Woran du wohl denkst, wenn du im Bett liegst?« Sie: »Ich denke nicht, ich zwinge mich hinein und hinein in den Schlaf, ich will nichts anderes.« Ich verstand erst mit Aufnahme der Behandlung, in welchem Ausmaße die Patientin fern der Wirklichkeit lebte. Ich erfuhr, dass sie das Haus kaum jemals verließ, außer um zu unseren Sitzungen zu kommen. Sie sah unablässig fern und lag dabei in ihrem Bett. Ihre Einzelfallbetreuerin besuchte sie regelmäßig. Katrin liebte diese Betreuerin. Sie sagte: »Sie sieht mir irgendwie ähnlich. Sie hat so schwarze Haare wie ich. Als ich sie zum ersten Mal sah, wusste ich sofort, dass sie richtig für mich wäre.« Unversehens hatte ich die Behandlung Katrins schon begonnen, bevor der Konsiliarbericht vorlag. In jeder Stunde sprachen wir darüber. Katrin sagte: »Der Arzt ist direkt gegenüber von unserem Haus. Ich traue mich nicht. Ich weiß, dass ich das tun muss. Ich schaffe es aber nicht, Frau Deters [die Einzelfallhel-

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ferin] ist verreist, sie kann nicht mitkommen.« »Wir können das nicht machen, wenn Sie das nicht schaffen«, sagte ich, »ich kann wirklich merken, wie schwer das für Sie ist.« Ich war daher erstaunt, als Katrin mir plötzlich den Konsiliarbericht brachte. Sie strahlte. »Ich habe das einfach gemacht, es ging mir gut an diesem Tag und ich will das hier wirklich machen.« Über einen langen Zeitraum, mehrere Monate, hinweg war ich nie sicher, ob die Patientin zu ihren Sitzungen kommen würde. Meistens kam sie sehr spät und wenn ich schon nicht mehr mit ihr rechnete. Manchmal kam sie für zehn Minuten. Sie sah mich dann verzweifelt an und sagte: »Jetzt bin ich wieder gekommen, um zu gehen.« In der Gegenübertragung empfand ich eine unermessliche Wut und Vergeblichkeit, die nicht in den Kontakt mit der Patientin kamen. Es war merkwürdig, aber ich war letztlich froh, sie überhaupt noch sehen zu können. Ich konnte ihre Verzweiflung spüren, ihr Nicht-bestehen-Können. Ich nahm ebenso wahr, dass wir uns auf einer Ebene bewegten, die keinen Bestand haben würde. Alles war so fragil und brüchig, wir kamen gar nicht ins Arbeiten. »Katrin, vielleicht geht das gar nicht, was wir uns vorgenommen haben«, sagte ich, »unsere Stunden sind immer so kurz, sie können gar nicht wirklich stattfinden.« »Ich werde das schaffen, dieses eine Mal werde ich es schaffen«, sagte Katrin, »bitte, Frau Langer, schicken Sie mich nicht weg.« Es begann eine Phase ungemein intensiver Sitzungen, von denen keine einzige ausfiel. Katrin berichtete mir von ihrer besten Freundin. »Ich bezahle ihr den Eintritt und die Getränke, wenn wir manchmal abends ausgehen. Sie hat nie Geld und ich, ich gehe ohne sie nirgendwohin. Ohne Etzki kann ich nicht ausgehen.« Sie spürte meinen fragenden Blick und fuhr fort: »Ich weiß, es ist komisch, aber wenn ich mit ihr zusammen bin, fühle ich mich so sicher, als ob mir nichts Schlimmes geschehen könnte.« Die Intensität der Stunden mit Katrin verstärkte sich immer mehr, sie versäumte keine und rückte mir sehr nahe in dieser Zeit. Ich hatte das Gefühl, zum Anker ihres Lebens zu werden, zu Etzki, ohne die sie nicht lebendig sein konnte, zu Frau Deters, ihrer Einzelfallhelferin, ohne die sie völlig versackte, zu ihrer Mutter, ohne die sie sich, trotz aller Zerwürfnisse, ein Leben nicht vorstellen konnte. Diese Patientin hatte eine ungemein intensive Art, sich in dyadische Beziehungen zu stürzen. Ihr mangelte jeder dritte Blick, jeder Realitätssinn, jeder Selbstschutz. Sie stürzte sich in Beziehungen zu Menschen, die sie gerade erst kennengelernt hatte, hinein, wie sie sich in die Beziehung zu mir hineinstürzte. Ich wurde zur Zeugin ihrer Enttäuschungen. Sobald ihre Schulbesuche abbrachen, verebbten die Beziehungen sehr schnell. Etzki war plötzlich verschwunden, unerreichbar. Katrin erzählte viel von ihrem Vater, der sie als Kleinkind betreut, ihr vorgelesen, mit ihr gespielt, den Tag mit ihr verbracht hatte. Sie schilderte, wie alles,

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Katrin

ihr ganzes Leben, zusammenstürzte, als er starb, wie sie Angst gehabt hatte, in den Kindergarten zu gehen. »Ich wollte immer bei meiner Mutter sein«, sagte sie. »Dann sind wir umgezogen, hin und her. Meine Mutter hatte, als ich in die Schule kam, einen reichen Freund. Da sollte ich immer in mein Zimmer gehen. Einmal habe ich seinen Wagen heimlich mit Steinen zerkratzt. Ich war in so vielen Schulen, aber ich bin mehr nicht da gewesen als da, ich habe mich versteckt.« Katrin, so erkannte ich, hielt sich an der Mutter wie eine Ertrinkende fest, sie fürchtete, sie zu verlieren, wie ihren Vater. »Jetzt bin ich wieder gekommen, um zu gehen, haben Sie einmal zu mir gesagt«, bemerkte ich in einer Sitzung. Katrin begann zu weinen. »So ist das bei mir. Ich breche immer ab, ich mache alles halb, in der letzten Schule, der Erzieherinnenschule, da war es wieder so. Ich dachte: ›Sie beobachten mich. Sie mögen mich nicht, sie reden über mich.‹ Ich kann auch meinen Führerschein nicht weitermachen, weil in den Theoriestunden welche aufgetaucht sind, die in meiner alten Schule waren. Ich habe Angst, ich habe solche Angst, was die über mich denken. Immer habe ich diese Angst, auch bei meiner Mutter. Ich spüre, sie denkt schlecht von mir, sie verachtet mich, weil ich nichts hinbekomme. Nur bei Frau Deters und Ihnen ist das anders. Ich denke immer, Sie können das verstehen, dass ich will, so sehr, und nicht kann, dass ich nicht schlecht bin, dass ich das nicht absichtlich mache.« »Ich muss an Ihren Vater denken, jedes Mal, wenn Sie für eine sehr kurze Zeit kommen, um zu gehen. Da ist etwas abgebrochen – als ob es nicht aufhören kann, als ob es für immer weitergehen muss, als ob Sie Ihr Vater wären, der nur für eine zu kurze Zeit da sein konnte.« Katrin musste schrecklich weinen, als ich das sagte. »Sie wissen gar nicht, wie recht Sie haben«, sagte sie. In dieser Zeit begann Katrin einen Realschulabschlusskurs in der Stadt. Sie hatte die Aufnahmeprüfung mit sehr gutem Erfolg geschafft und arbeitete viel. Frau Deters nahm kurz darauf ihren dreiwöchigen Urlaub. Alles brach zusammen. Katrin ging kein einziges Mal mehr in die Schule. Von der Abwesenheit ihrer Betreuerin berichtete sie mir beiläufig. Sie begann furchtbar zu weinen, als ich sagte: »Jetzt, wo Frau Deters weg ist, geht gar nichts mehr.« »Sie haben wirklich recht«, sagte Katrin, »ich habe das so gebraucht, dass sie mit mir lernt, und sie wird so enttäuscht sein, dass ich das allein nicht schaffe.« »Als ob Sie, wie ein kleines Mädchen, jemanden benötigten, der Sie an der Hand hält.« »Wie meinen Vater«, erwiderte Katrin schnell, »ich bin immer an seiner Hand gelaufen.« Ich hatte zu diesem Zeitpunkt das Gefühl, etwas mit der Patientin gemeinsam verstanden zu haben: Sie konnte keinerlei Projekte verfolgen, ohne dabei an der Hand genommen zu werden. Sie benötigte diese reale Hand, die ihr früh abhanden gekommen war. Ohne diese Hand fürchtete sie, nicht bestehen zu können. Sie war ein sehr kluges Mädchen, konnte viel, auch lernen, aber nicht allein.

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Katrin sagte: »Ich weiß, dass das so ist, dass ich ohne Frau Deters nicht weitermachen konnte, aber ich will nicht, dass sie das weiß. Ich könnte es ihr niemals sagen, niemals.« Da mir deutlich war, dass Katrin einen Mittler benötigte, schlug ich ihr vor, an ihrer Stelle mit Frau Deters zu sprechen. Da sei etwas, was wir hier gemeinsam verstanden hätten, nämlich dass sie die Hand Frau Deters benötige, um zu lernen. Ich sagte, ich würde Frau Deters das gerne sagen, weil es sehr wichtig für diese sei, das zu wissen. Katrin sagte: »Ich bin froh, wenn Sie ihr das sagen können, weil ich das nämlich nicht kann, weil ich Angst habe. Ich habe solche Angst, sie zu verlieren.« Ich sah sie an, Katrin brach in Tränen aus und sagte: »Ich weiß, was Sie denken, Sie denken an meinen Vater.« Frau Deters rief mich auf Katrins Initiative hin sehr bald an und ich verabredete mich mit ihr, einer jungen Frau, die Katrin in der Tat mit ihren schwarzen Haaren ähnelte. Frau Deters verstand auf Anhieb, was ich ihr sagen wollte, und war froh, ihre eigene Wahrnehmung mit mir teilen zu können: »Katrin benötigt, das habe ich auch so gedacht, jemanden, der sie an die Hand nimmt, weil sie diese Hand so früh verloren hat. Sie kann überhaupt nichts machen, wenn sie diese Hand nicht hat. Ich weiß nicht, wie ich das einrichten kann, aber ich gewinne jetzt eine Klarheit darüber, wie es gehen kann. Ich werde darüber nachdenken, eine zweite Person mit einzubeziehen, die mich vertreten kann. Bisher hat das bei Katrin nie geklappt, aber das lag auch daran, dass sie die Vertreter nie vorher kennenlernen konnte. Das Problem ist, dass ich schon sehr bald eine dreiwöchige Fortbildung besuchen muss. Ich hoffe, die Situation mit Kollegen klären zu können.« Die Einzelfallhelferin gab mir auch einen Einblick in die Bedingungen, unter denen die Patientin lebte. »Katrins Mutter ist irgendwie nicht in der Realität zu Hause, kaum ansprechbar. Ich glaube, sie ist depressiv und stark auf ihre Tochter angewiesen. Die Rollen erscheinen mir wie vertauscht. Das kleine Reihenhaus ist schwer heruntergekommen, die Mutter schläft in ihrem Mantel auf der Couch im Wohnzimmer, weil sie ihren Schlafraum untervermietet hat und auch Katrins Zimmer wird zu Messezeiten vermietet. Abends ruft die Mutter Katrin und will, dass sie sie zudeckt. Ich kann es eigentlich nicht verstehen, wie Katrin das alles schafft, ohne verrückt zu werden.« Unbewusst, dies wurde mir deutlich, übernahm die Patientin eine sie überfordernde Rolle: Sie, das Mädchen, das die Hand seines Vaters verloren hatte, versuchte, die Hand ihrer Mutter zu halten. Katrin, die in ihren Abbrüchen endlos wiederholte, was sie erlebt hatte, war in ihrem Nicht-Bestehen den Eltern stark verbunden. Frau Deters fand in der Kürze der Zeit nur eine einzige Kollegin, die sie vertreten konnte, und alles ging noch einmal schief. Katrin war nicht ausreichend

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Katrin

vorbereitet auf die Situation und hasste es, mit dieser Kollegin Termine zu haben. Sie besuchte in dieser Zeit eine Stelle, die ihr für ein Freiwilliges Soziales Jahr angeboten worden war, und ging nur zweimal dorthin. Sie vergrub sich erneut vor ihrem Fernseher. In unseren Stunden, die sie wahrnahm, weinte sie heftig. Sie sagte: »Ich weiß gar nicht warum, aber es geht alles von vorne los.« Ich sagte: »Frau Deters ist wieder weg.« Katrin weinte und weinte. Ich erkannte die Patientin kaum wieder, als sie nach der Rückkehr Frau Deters zu mir kam. Sie strahlte. Sie hatte wieder Pläne. Wir hatten in der Abwesenheit Frau Deters viel darüber gesprochen, dass Katrin sich sehr wünschte, den im neuen Jahr beginnenden Kurs der Volkshochschule zum Erreichen des Realschulabschlusses wahrzunehmen. Nun war sie mit Frau Deters dabei, alles zu klären, auch die Frage einer Ersatzperson, die schon bald hinzugezogen würde. »Es gibt da eine Kollegin von Frau Deters, die ich schon kennengelernt habe. Ich habe plötzlich Hoffnung.« Katrin begann sich stark mit ihrer Zukunft zu beschäftigen. Sie plante ihren Auszug aus der mütterlichen Wohnung. »Ich muss neu anfangen«, sagte sie, »ich kann nicht bei meiner Mutter bleiben für immer.« Sie führte einige Gespräche, erst mit dem Jugendamt, dann mit dem Wohnungsamt, und zwar allein. Als sie in ihrer Stunde davon erzählte, merkte sie, wie erstaunt ich darüber war: »Ich versuche jetzt manches allein zu machen, manchmal geht es, komisch, ich hätte das selbst nicht gedacht. Ich weiß ja auch, dass Frau Deters nicht immer für mich da sein wird.« Ich sah sie an und nickte, da musste sie wieder weinen. Unter Tränen sagte sie: »Ich bin froh, dass Sie das verstehen können, wie schwer das für mich ist, und Sie, Sie werden auch nicht für immer da sein.« »Sie haben recht«, sagte ich, »es wird nicht für immer sein«. Katrin war nachdenklicher geworden, distanzierter, aber auch realistischer. Sie hatte, so dachte ich, etwas von ihrem immer wieder scheiternden Versuch, mit den ihr helfenden Objekten zu verschmelzen, verstanden. Sie war jetzt selbst präsenter. Einmal sagte sie zu mir: »Es könnte ja auch sein, dass Frau Deters ihre Stelle wechselt. Ich muss mich darauf vorbereiten. Dieses Mal werde ich es schaffen, ich werde diesen Kurs bei der Volkshochschule machen. Ich habe auch das Gefühl, es ist meine allerletzte Chance. Ich werde auch nicht aufhören mit meinen Auszugsplänen, ich bin aber auch froh, dass ich weiter zu Ihnen kommen kann. Das hilft mir.« Es war für mich in dieser Behandlung schwer zu definieren, welche Bedeutung ich für die Patientin hatte. Der Rahmen der Behandlung stellte eine hohe Anforderung für sie dar. Um ihn zu erfüllen, benötigte sie über einen langen Zeitraum Frau Deters, die sie an der Hand hielt. Gleichzeitig schien die Behandlung wichtig, um die Rolle von Frau Deters zu bezeugen und zu begreifen. Ich

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hatte den Eindruck, dass Frau Deters und ich zusammen eine Art Elternfunktion wahrnehmen durften. Es kam zu einer Veränderung der Beziehung Katrins zu ihrer Einzelfallhelferin. Frau Deters erkrankte mehrfach über den Zeitraum vieler Wochen. Sie kündigte an, ihre Stelle wechseln zu wollen, was bedeutete, dass sie Katrin vermutlich nicht weiter würde betreuen können. Sie veränderte, wie ich aus den Gesprächen mit Katrin schloss, ihr Betreuungskonzept vollkommen. Sie zog sich aus der realen Unterstützung der Patientin im Umgang mit Ämtern etc. vollkommen zurück und verlangte von Katrin, selbst initiativ zu werden, vermutlich aus dem Gedanken heraus, nun nicht mehr lange zur Verfügung stehen zu können. Von Seiten der Patientin setzte eine Gegenbewegung ein, wie ich sie schon einmal erlebt hatte. Sie zog sich zurück und alle angestrebten Projekte, die Wohnung, der Schulbesuch, stagnierten oder brachen ab. In dieser Zeit fielen auch zwei unserer Sitzungen nacheinander aus. Sie begann sofort zu weinen, als sie wieder auf ihrem Stuhl saß und sagte: »Ich hatte Angst, dass ich nicht mehr kommen darf.« Ich: »Vielleicht waren Sie auch wütend auf Frau Deters, die Sie alleingelassen hat, auf mich, weil ich Sie nicht unterstütze in den vielen realen Problemen.« Katrin schwieg eine Weile. »Das kann ich nicht erwarten. Aber es stimmt schon, manchmal denke ich, es ist komisch, dass ich so allein mit allem bin. Eigentlich habe ich nur diese Stunden, aber ich konnte und konnte nicht kommen, ich hatte keine Hoffnung mehr.« »Es ist richtig schwer«, erwiderte ich, »es ist zu viel. Es ist ein weiter Weg.« Katrin: »Manchmal ist es weit, aber ich muss das schaffen und ich will und muss zu Ihnen kommen.« Es veränderte sich einiges in Katrins Leben. Sie verliebte sich in einen zwölf Jahre älteren, afrikanischen Mann, zog bei ihrer Mutter aus und bei ihm ein. Sie besorgte sich einen Job in einem kleinen Geschenkwarenladen, der um die Ecke des alten Ladens ihres Vaters lag. »Ich habe alles wiedererkannt, die Straßen, und ich habe auch den alten Laden meines Vaters gefunden, der da um die Ecke liegt«, sagte sie strahlend. »Als ob Sie die Nähe ihres Vaters auf diese Weise gesucht hätten«, bemerkte ich. Katrin sah mich erstaunt an: »Daran habe ich noch gar nicht gedacht, aber ja, ich denke jetzt wieder oft an früher.« Ich verstand erst spät, wie stark sie auch in der Wahl ihres Freundes der Vergangenheit, ihrem Vater, verhaftet war. Ahmed war krank, er litt an der Bluterkrankheit, darüber hinaus an gravierenden, diffusen Magenproblemen, die mit Kortison behandelt werden mussten. Katrin verbrachte einige Zeit mit ihm in der Notfallsprechstunde und besuchte ihn über den Zeitraum von zwei Wochen hinweg täglich im Krankenhaus. Sie fürchtete um sein Leben. Es war klar, dass sie große Angst hatte, er könne plötzlich sterben wie ihr Vater. »Ich brauche ihn so sehr«, sagte sie, »obwohl ich merke, das ist er, der mich braucht. Er hat mit

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Katrin

dem Kiffen aufgehört, und ich will nicht, dass er wieder damit anfängt. Und Frau Langer, Sie werden es nicht glauben: Ich rauche nicht mehr.« Ich war wirklich erstaunt. Katrin hatte quasi Kette geraucht und immer gehustet. »Das hat schon mit Ahmed zu tun«, bemerkte ich. »Ja, ja, ich trinke auch nicht mehr, gar nicht, wir gehen ja nicht aus, und ich mache jetzt alles mit dem Fahrrad. Ich fahre die zehn Kilometer zum Laden und auch zu Ihnen komme ich jetzt nur noch mit dem Fahrrad.« Mir fiel auf, dass wir nie mehr über ihre Mutter sprachen. Einmal fragte ich nach ihr. Ich merkte, wie sie blass wurde. »Meine Mutter – ich sehe sie kaum noch. Sie will mich auch nicht mehr unterstützen. Sie sagt, ich sei jetzt erwachsen und sie brauche ihr Geld selbst.« »Ob sie nicht auch verwirrt ist darüber, dass Sie auszogen?« »Vielleicht«, antwortete Katrin, »ich kann es ja kaum verstehen, wie sie jetzt ist. Ich habe gedacht, sie wird es nicht ertragen, wenn ich gehe. Aber sie kommt gut zurecht, sie will ihre Ruhe haben.« »Es ist traurig«, meinte ich. Wir schwiegen lange. »Ich schäme mich, aber manchmal hasse ich sie«, sagte Katrin leise. Ich wurde zur Zeugin von Katrins Versuch, zu überleben, mit Ahmed, ohne die Mutter, ohne Frau Deters. Als ich mit meiner Praxis umzog, die sich in einem kleinen Appartement befunden hatte, träumte ich in der Nacht davon, dass ich Katrin dieses Appartement vermitteln würde. Ich fühlte mich sehr ungenügend und anspruchsvoll mit meinem Setting für diese Patientin. Plötzlich schien ich alles zu sein, was noch übrig geblieben war. Ahmed klammerte sich an Katrin wie an sein Leben. Er ließ sich völlig fallen, ging keiner Arbeit mehr nach. Es war nun Katrin, die mit ihrer Arbeit im Laden die Realität im Auge behielt. Sie hatte nur noch mich und Ahmed, für den sie sorgen musste – dieser trat in seiner Krankheit und Bedürftigkeit an die Stelle sowohl des Vaters als auch der Mutter. Plötzlich begann sie das lange aufgegebene Wohnungsprojekt wieder aufzugreifen. Sie wollte nicht in Ahmeds heruntergekommener Wohnung bleiben. Dieses Mal blieb sie richtig dran. Sie ließ sich nicht mehr abwimmeln. Sie stand schon früh am Morgen bei den Ämtern Schlange und schließlich bekam sie genau die Wohnung, die sie vor einem Jahr abgelehnt hatte, weil sie sie als zu klein befunden hatte. »Ich war da ziemlich verrückt«, sagte Katrin, »so eine schöne Wohnung. Jetzt habe ich sie.« »Sie haben so viel geschafft in der letzten Zeit«, erwiderte ich. »Es ist wunderbar. Damals – Sie wollten nicht wirklich, Sie wollten bei Ihrer Mutter bleiben.« »Ich habe nicht gekonnt. Ich wollte, aber vorstellen konnte ich mir das nicht. Und übrigens, ich habe mich für nach den Sommerferien wieder für die Schule angemeldet und ich habe meine Aufnahmeprüfung bestanden!« »Das erfahre ich so nebenbei«, sagte ich lächelnd, »als ob das sehr wichtig war, dass Sie das ganz alleine gemacht

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haben.« Katrin strahlte: »Ich dachte, ich überrasche Sie mal.« Ich: »Es ist großartig. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Katrin glühte vor Stolz: »Ich habe mir das gedacht, wie erstaunt Sie sein werden.« Ich: »Als hätte ich nicht mehr daran glauben können.« »Das war ja ich, die nichts mehr glauben konnte. Ehrlich, ich weiß auch nicht, wie ich das geschafft habe, die Wohnung, die Schule. Aber es wird schwer, sehr schwer, es wird schwer mit Ahmed werden. Er will nicht, dass ich bei ihm ausziehe. Und dann denkt er, er zieht einfach mit um in meine Wohnung.« Sie verstummte und sank in sich zusammen. »Sie wollen das nicht, dass er mitzieht«, stellte ich fest. »Ich weiß nicht, wie ich ihm das sagen soll. Ich brauche ihn ja, er steht mir nahe, aber über so was kann man mit ihm nicht sprechen, er versteht das nicht.« Ich: »Ob Sie wohl trotz allem einen Weg finden können, ihm zu sagen, was für Sie wichtig ist?« »Frau Langer, helfen Sie mir, ich weiß und weiß nicht, was ich sagen soll.« Wir schwiegen, ich dachte lange nach. Ich erkannte, dass ich mich in einem Grenzbereich bewegte. Durfte ich aussprechen, was in mir andrängte? Drohte ich nicht, wie so oft in dieser Behandlung, meine analytische Abstinenz aufzugeben und real zu werden? »Ich habe überlegt«, sagte ich schließlich, »es ist, als wäre es vollkommen unmöglich zu sagen, was Sie wünschen, als wäre es vollkommen unmöglich für Ahmed zu hören, was Sie denken.« Katrin nickte und sagte langsam: »Ja, genau so ist es. Er wird denken, ich will weg von ihm.« »Aber Sie wollen nicht und manchmal doch«, meinte ich. »Manchmal will ich weg von allem«, sagte Katrin und atmete laut ein und aus. »Ich denke, es ist sehr, sehr wichtig, dass Sie zu denken wagen, was Sie wirklich wünschen«, sagte ich. »Ich will diese Wohnung alleine haben und ich will, dass Ahmed mich besucht, aber ich will nicht, dass er da wohnt.« »Ich verstehe das jetzt so, dass Sie eine Distanz herstellen wollen und trotzdem mit Ahmed zusammenbleiben, weil Sie ihn brauchen und lieben.« »Das ist gut, vielleicht kann ich es so sagen, ich bin gar nicht darauf gekommen. Ich möchte ihm sagen, dass ich mit ihm zusammenbleiben will und dass wir uns besuchen können. Ich schaffe das ja sonst gar nicht mit der Schule, wenn er immer da ist und ich schäme mich so, dass ich so viel für mich alleine will.« Ich begriff noch einmal, wie stark die Patientin sich schuldig fühlte und schämte für ihre Wünsche, für ihre gesamte Existenz, als dürfe sie nicht selbst etwas wollen und leben, stolz auf sich sein. Ich dachte darüber nach, wie es ihr gefallen hatte, mich mit der Wohnung und der Schule zu überraschen, und wie ich vielleicht in diesem Moment ein gutes, haltendes Objekt für sie gewesen war. Ein Objekt, von dem sie sicher sein konnte, dass es sich über sie freuen und stolz auf sie sein würde, dem Vater gleich. Ich war mir sicher, dass alles nun wieder abzubrechen drohte, wenn es Katrin nicht gelang, sich mit Ahmed auseinan-

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Katrin

derzusetzen. »Sie haben so viel geschafft in der letzten Zeit. Sie waren schon stolz auf sich und es hat Ihnen gefallen, mich damit zu überraschen«, sagte ich. »Es ist so traurig, wenn alles wieder umsonst gewesen sein sollte, als sei da ein Teil von Ihnen, der kann das nicht erlauben, dass Sie Wünsche haben, etwas ganz für sich alleine wollen.« »Ich habe diesen Teil und er ist stark in mir«, sagte Katrin unter Tränen. »Und das Schreckliche ist, dass ich so viele Wünsche und Träume habe.« »Gott sei Dank«, rief ich aus, »gibt es auch diesen Teil von Ihnen, der die Wünsche hat, und er kämpft und kämpft und irgendwie ist noch nicht entschieden, welcher Teil sich durchsetzen wird, ob Sie leben wollen oder scheitern müssen.« »Ich schäme mich, weil ich denken muss, dass ich mit meinen Wünschen Ahmed weh tue, und das will ich doch gar nicht, das kann ich nicht.« Wir schwiegen. Ich: »Ich dachte gerade, es ist, als ob er sterben müsste, wenn Sie leben wollen.« »Und wenn es so wäre?«, fragte sie mich und wandte den Blick nicht von mir. Ich spürte, wie ich unsicher wurde. Ja, war es nicht so, war nicht alles möglich, war Ahmed nicht unendlich fragil und unberechenbar? Ich benötigte eine Weile, um mich zurückzuholen aus dieser Hoffnungslosigkeit, dieser Untergangsstimmung, in der ich plötzlich identifiziert war mit der Patientin. »Ich glaube«, sagte ich schließlich, »dass Sie manchmal mit Ahmed untergehen möchten, als hätten Sie kein Recht, als sei alles schon beschlossen, bevor Ahmed selbst überhaupt ein Wort gesprochen hat. Manchmal muss ich an Ihren Vater denken, er ist so lange schon tot und trotzdem will er nicht, dass sie leben.« Katrin sah mich irritiert an, wir schwiegen wieder lange. »Ich habe darüber nie nachgedacht, aber ich bin sicher, er wollte, dass ich leben kann. Das bin ich, ich will manchmal und immer wieder nicht, und ich weiß nicht, ob Sie das gemeint haben, aber manchmal wäre ich lieber tot als lebendig, aber«, Katrin begann in einer verzweifelten Weise zu weinen, »es tut mir gut, dass Sie mir das gesagt haben. Mein Vater, er wollte, dass ich leben kann.« Als ich die Patientin vor der Sommerpause verabschiedete, war sie dabei, ihre neue Wohnung zu streichen und einzurichten. Ahmed half ihr dabei. Sie wirkte wieder lebendig auf mich. Sie sagte: »Ich habe Ahmed gesagt, wie sehr ich ihn mag, dass ich aber diese Wohnung für mich allein brauche, wenn ich meine Schule schaffen will. Ich habe gemerkt, wie traurig er ist, es tut mir weh. Ich wünsche mir so sehr, dass er mich wirklich verstehen kann.« In Katrins Behandlung wurde ich zur Zeugin ihrer abbrechenden Versuche, aber auch ihrer langsam ansteigenden Fähigkeit, sich selbst zu beobachten und ihr Leben in die Hand zu nehmen, eng verbunden mit der Tatsache, in der dichten Übertragungsbeziehung zu mir ein haltendes Objekt etabliert zu haben, dessen Begrenztheit ihr mehr und mehr bewusst wurde. In der Übertragung

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Fünf Behandlungen mit zerbrechendem Rahmen und mangelndem Spielraum

wurde ich zum früh verlorenen, schützenden Vater. Die Endlichkeit unserer Beziehung drohte den frühen Verlust erneut zu beleben. Es war für die Patientin sehr schwer, die Begrenztheit unserer Beziehung zu akzeptieren, gleichwohl hatte ich das Gefühl, dass sie wirklich ins Arbeiten kam, sich nicht länger nur anklammern wollte. Die Frage war: Gab es eine Chance für die Patientin, den Abschied von ihrem Vater in der Übertragung zu bewältigen? Sie wünschte dringend eine Fortführung der Behandlung. Ich schlug ihr vor, den letzten Behandlungsabschnitt in einstündiger Frequenz durchzuführen und konnte deutlich merken: Auf diese Idee wäre sie niemals gekommen. Mein Vorschlag bestürzte sie. Sie begann aber auch nachzudenken. »Es ist wirklich gut, wenn ich noch Zeit habe mit Ihnen. Es ist mir wichtig, dass ich nicht allein bin mit allem, jetzt, der Schule, die bald anfängt, mit Ahmed, meiner eigenen Wohnung. Sie wissen schon, es beruhigt mich, dass ich noch eine Weile kommen kann. Wenn es nur einmal in der Woche ist – es ist nicht, was ich wirklich will. Aber ich weiß ja und manchmal denke ich, ich kann das jetzt, Kompromisse machen.« Katrin hörte plötzlich auf zu kommen. Ich ahnte, dass sie den Kompromiss hasste. Einige Sitzungen lang wartete ich auf sie und vermied es, ihren Termin erneut zu besetzen. Schließlich schrieb ich ihr einen Brief, in dem ich ausführte, dass unsere Zeit schneller vorbei sei, als ich gedacht hätte, und dass ich ihr alles Gute wünsche. Einige Monate später sah ich sie plötzlich vor dem Supermarkt bei mir um die Ecke. Ich stand schon dicht vor ihr, als ich sie erkannte, und blieb unwillkürlich stehen. Sie band gerade ihr Fahrrad an. »Hallo Katrin«, sagte ich, »wie geht es Ihnen?« »Frau Langer«, schrie sie auf, »ich habe gerade an Sie gedacht.« Sie fasste in einer heftig emotionalen Geste meine Hand und hielt sie eine Weile in der ihren. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft ich an Sie denke«, sagte sie. »Es ist wirklich ein großes Glück für mich, Sie noch einmal sehen zu können.« Ich nickte. Sie: »Es geht mir nicht gut, Ahmed hat sich von mir getrennt.« Ich: »Wie haben Sie das ertragen können?« Tränen stürzten in ihre Augen. »Ich weiß es selbst nicht. Frau Langer, ich bin ja nicht mehr zu meinen Stunden gekommen. Ich hatte schreckliche Angst, mich von Ihnen zu verabschieden. Ich wollte das nicht. Immer wieder habe ich darüber nachgedacht, Ihnen zu schreiben, Sie anzurufen, aber …« Sie verstummte und sah mich flehentlich an. »Es ist ein wunderbares Zusammentreffen hier«, sagte ich. »Ich freue mich auch, Sie noch einmal sehen zu können, so zufällig, das ist etwas Besonderes für mich.« »Danke, Frau Langer«, sagte Katrin und erfasste noch einmal meine Hand, »ich danke Ihnen sehr für alles.« »Alles Gute, Katrin, für Sie«, sagte ich und drückte ihre Hand zum Abschied. »Auf Wiedersehen, Frau Langer«, rief sie mir nach.

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Katrin

Abschlussbetrachtung des Behandlungsverlaufs

In der Behandlung dieser Patientin entstand nicht wirklich ein Spielraum für Neues. Ein inneres haltendes Objekt existierte nur in einer nicht ausreichenden Weise. Eine haltende, schützende und strukturierende Hand erfuhr die Patientin in ihrer frühen Geschichte nur in einer brüchigen, nicht ausreichenden Weise. Alles, worauf diese Patientin bauen konnte, war die idealisierte Zeit mit ihrem Vater, der verstarb, als die Patientin vier Jahre alt war. Ich bin der Meinung, dass es die Erinnerung an die einmal dagewesene, schützende Hand des Vaters war, die meine Patientin überleben ließ, allein mit der Mutter und die Rolle übernehmend, diese zu trösten. Das Festhalten an ihrem toten Vater bewirkte, dass sie, identifiziert mit ihm, in einer Welt lebte, die nicht die wirkliche war. Die Brüchigkeit ihres Lebensrahmens wiederholte sich in einer schier endlosen Spirale. Ich selbst war in der Übertragung gefangen in diesem Zirkel von Neuanfang und Abbruch. Mein Umzug, der den letztlichen Abbruch der Behandlung vorwegnahm, war nur ein Symptom in dieser Kette. Katrin war im Ausdruck ihrer aggressiven Bestrebungen schwer gehemmt. Nur im Agieren konnte sich die unbewusste Aggression Ausdruck verschaffen, indem sie unregelmäßig, zu spät und schließlich gar nicht mehr zu ihren Sitzungen kam. Ihre Angst vor Objektverlust führte zu einer ständigen Anpassung an dieses, wobei die unbewusst andrängenden, aggressiven Tendenzen nicht in die Verhandlung mit dem Objekt kamen. Auf diese Weise versuchte sie ihre schwere Verlustangst, die im Tod ihres Vater und einer unsicheren Objektkonstanz wurzelte, unter Kontrolle zu halten. Dies wiederholte sich auch angesichts meines Kompromissvorschlages, die Stundenfrequenz zu reduzieren und damit den Rahmen zu verändern. Mein Vorschlag machte mich unbewusst zu einem bösen Enttäuscherobjekt. Das Leben der Patientin, das in immer neuen Abbrüchen verlief, wiederholte sich in den Szenen der Behandlung. Dass in der Behandlung kein neuer Spielraum entstand, lag sicher auch daran, dass ich selbst zu wenig Distanz zu Katrin finden konnte und durchweg mit dem Gefühl zu kämpfen hatte, dass ich ihr konkret etwas geben wollte, zum Beispiel eine Wohnung. Dabei konkurrierte ich mit der Einzelfallhelferin. Ich bewegte mich nach Möglichkeit auf einem Terrain, in dem ich für diese Patientin nicht zum bösen Objekt werden konnte. Dies wiederholte sich auch in der letzten Szene unserer Begegnung, die bezeichnenderweise jenseits des Rahmens der Behandlung stattfand und in der unser Händedruck mich an die haltende Hand des Vaters erinnerte. Während der gesamten Behandlung war ich mit dem Gefühl des Ungenügens meines Rahmens beschäftigt. Es gelang mir nicht, eine dritte, abstinente Position einzunehmen. Ich identifizierte mich immer wieder mit der endlosen Spirale des Neubeginns der Patientin. Die dichte und innige

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Fünf Behandlungen mit zerbrechendem Rahmen und mangelndem Spielraum

Beziehung, die zu Katrin entstanden war, führte nicht dazu, ihren Spielraum in einer ausreichenden Weise zu erweitern, sondern verstellte vielmehr immer wieder den Blick auf die Realität, aber auch auf die Welt ihrer bösen inneren Objekte. Der Abbruch der Behandlung spiegelte noch einmal den Grund ihrer Anmeldung: ständige Abbrüche.

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Fünf Behandlungen wiederkommender Patienten, in denen neuer Spielraum entstand

In diesem Kapitel beschäftige ich mich mit Patienten, die die Behandlung nach einem Jahr oder auch nach vielen Jahren wieder aufnahmen. Im Fall der wiederkommenden Patienten haben wir es mit einem besonderen Rahmenkonstrukt zu tun. Die erste und scheinbar letzte Stunde fanden bereits statt. Der ursprünglich vorgesehene Rahmen genügte nicht. Therapeut und Patient teilen eine Erfahrung, an die sie mit der Wiederaufnahme der Stunden anknüpfen. Die Patienten, deren Behandlung ich in diesem Kapitel schildern werde, befanden sich allesamt in einem Zustand tiefer Verzweiflung, als sie mich erneut kontaktierten. Jeder Einzelne von ihnen wusste nicht mehr weiter und fühlte sich bedrängt von den alten Themen seines Lebens. Sie sehnten sich danach, an etwas anzuknüpfen, was sie mit mir geteilt hatten. Diese Patienten kamen zum Auftanken zurück. Ich beziehe mich mit dieser Vokabel auf Margaret Mahler (1961). Sie beschrieb das Kleinkind, das gerade laufen gelernt hat, voller Übermut in die Welt hinausrennt und dabei die Präsenz der Mutter benötigt, die als sicherer Hafen zum Zurückrennen, zum Auftanken bereitsteht. Meine wiedergekommenen Patienten hatten von den ersten Behandlungen profitiert. Es war jedoch erforderlich, wiederzukommen, das Gewesene zu überprüfen, um vorangehen zu können. Bis auf eine Patientin, die ich erst nach fünf Jahren wiedersah, meldeten sich die Kinder und Jugendlichen, deren Behandlungsverläufe ich in diesem Kapitel beschreiben werde, bereits ein Jahr nach der Beendigung der ersten Behandlung wieder bei mir. Die Trennung war für diese Patienten, trotz erheblicher Entwicklungsfortschritte, zu früh gekommen. Mariam brachte es einmal auf den Punkt, als sie sagte: »Alle denken immer, ich kann alles und trauen mir so viel zu, das macht mich furchtbar wütend, denn es stimmt gar nicht. Ich bin langsam, sehr langsam und manchmal kann ich nichts, gar nichts, auch das nicht, was ich einmal konnte, dann habe ich alles verlernt und muss noch einmal von vorne anfangen.« Auch bei Merve, die ich erst nach fünf Jahren wiedersah, war es so, dass sie direkt im Anschluss an ihren unfreiwil-

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ligen Internatsaufenthalt, der in den ersten Behandlungszeitraum hineingeplatzt war, anknüpfen musste an die alte Zeit, an die abrupt abgebrochenen Themen. Die wiedergekommenen Patienten erlebte ich als psychisch begabte Kinder und Jugendliche, was meint, dass es Kinder und Jugendliche waren, die eine Art von Selbstbeobachtung besaßen, die sie zum Teil ihren ersten Behandlungen verdankten. Sie knüpften mit dieser Fähigkeit nicht nur an die erste Behandlungszeit an, sondern auch an eine frühe Zeit, derer sie sich in der ersten Therapie vergewissert hatten. Dass sie dies in der Beziehung zur Therapeutin gekonnt hatten, befähigte sie dazu, wiederzukommen. Sie hatten sich fest in der Beziehung zum Objekt verwurzelt. Auch die Enttäuschung über das Ungenügen dieser Beziehung, das Wiederauftauchen ihres Leidens, hielt sie nicht davon ab, einen neuen Versuch zu wagen. Indem sie auf ihre erste Behandlung rekurrierten, bezogen sie sich auf ein gutes inneres Objekt, das in ihnen gewachsen war. Sie hatten die innere Gewissheit gewonnen, dass sie wiederkommen konnten und durften.

Mariam, 14 Jahre – Grund der Anmeldung: Seh- und Gehstörungen (1. Behandlungszeitraum: 220 Stunden, zweimal wöchentlich eine Stunde; 2. Behandlungszeitraum, ein Jahr später: 70 Stunden, zweimal wöchentlich eine Stunde, 20 Stunden, einmal wöchentlich eine Stunde; 310 Stunden insgesamt) Nach 220 Stunden analytischer Psychotherapie hatte ich Mariam verabschiedet. Ziemlich genau ein Jahr danach meldete sie sich erneut. Darstellung des ersten Behandlungszeitraumes

Ich lernte diese Patientin im Alter von 14 Jahren kennen. Sie hatte monatelang unter Geh-und Sehstörungen gelitten und fürchtete sich »vor dem, was mein Körper mit mir macht«. Sie beeindruckte mich mit ihrer Eloquenz, begann aber schmerzlich zu weinen, als ich sagte, da sei etwas, das wolle ihr Körper ausdrücken, für das es vielleicht keine Worte gebe. »Da sind diese Träume«, sagte sie, »ich falle in endlose Räume, ich bin ganz allein, und immer wieder kehrt dieser eine Traum zurück: Ich bin ein Baby. Ein Mann reißt mich aus den Armen meiner Mutter. Meine Mutter schreit. In dem Traum weiß ich genau, was sie schreit. Ich kenne diese Worte. Wenn ich aufwache, kann ich sie nicht erinnern.« Alles, so verstand ich, hatte begonnen mit einer Klassenfahrt, ein Jahr vor der Aufnahme der ersten Behandlung. Bis dahin war Mariam der Sonnenschein ihrer Familie gewesen. Damals, in England, war sie verloren gegangen, hatte den

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abfahrenden Bus versäumt und war stundenlang durch die Straßen von London geirrt, hatte verzweifelt auf einer Parkbank gesessen, es war schon dunkel. Da hatte ein jugendlicher Mann sie angesprochen und zur Busstation gebracht, von der aus sie zurückfuhr zu ihrer Gruppe. Ihr Verlassensein in den dunklen Straßen, in der Fremde, brachte ich in Verbindung mit ihrem wiederkehrenden Traum, in dem sie als Säugling aus den Armen ihrer Mutter gerissen wurde. Im Traum hatte sie deren Stimme gehört und ihre Worte verstanden, der Faden aber riss beim Erwachen ab, sie konnte die Worte nicht halten und fiel in endlose, dunkle Räume, in denen sie nicht mehr sehen und sich nicht bewegen konnte. Die verzweifelten Adoptiveltern Mariams waren nach London gereist und dort fiel sie ihnen in die Arme. In dieser Szene wiederholte sich die Ankunft der Patientin am Frankfurter Flughafen. Damals war sie zwei Jahre alt gewesen und der Adoptivmutter, die sie erwartete, völlig übermüdet in die Arme gefallen. Dann hatte sie 24 Stunden am Stück durchgeschlafen, aber danach lange Zeit kaum noch alleine schlafen können. Sie war umhergetragen worden, denn sie hatte geschrien, sobald die Adoptivmutter sie aus ihren Armen gelassen hatte. Im Alter von sechs Jahren konnte Mariam schließlich alleine schlafen. Mariam, so erfuhr ich, war auf den Stufen eines äthiopischen Krankenhauses abgelegt worden, eingewickelt in Zeitungspapier, sie war damals knapp sechs Monate alt gewesen. Sie kam kurz darauf in ein Waisenhaus. Dort sah sie ein deutscher Entwicklungshelfer, sie war inzwischen fast zwei Jahre alt. Sie war das jüngste und abgemagertste Kind des Waisenhauses, in dem die Kinder um ihr Essen kämpfen mussten. Mariam entwickelte sich bei ihren Adoptiveltern rasant. Sie war ein kluges, beziehungsfähiges Mädchen und niemals hätten die Adoptiveltern mit dem Zusammenbruch Mariams nach der Klassenfahrt nach England, nach ihrem Verlorengehen im Alter von 13 Jahren, gerechnet. Sie konnte im Anschluss nicht mehr gehen und sah später nur noch schemenhaft. Als die Behandlung begann, stürzte sie sich in die Beziehung zu mir hinein, als ob sie am Ertrinken wäre. Sie ignorierte den weiten Weg, den sie zu machen hatte. Sie machte die Behandlungsstunden zum Mittelpunkt ihres Lebens und liebte es, sehr lange mit dem Bus zu mir zu fahren. Sie sagte: »Frau Langer, ich denke nach, wann sonst kann ich nachdenken? Und es ist so schön, der Weg hierher, wenn ich aus dem Bus aussteige, ich laufe durch diese grüne Landschaft, es gefällt mir und ich bin auch froh, dass alles so weit weg ist, dass ich so lange fahren muss. Es ist genau richtig für mich.« Ich war mir bewusst, wie die Patientin die Beziehung zu mir idealisierte, und manchmal dachte ich, dass es sei, als ob sie zurück nach Äthiopien führe, wenn sie zu mir komme, zurück zu ihrer Mutter, die sie abgelegt hatte auf den Stufen des Krankenhauses.

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Als meine Praxiskollegen Mariam mitteilten, dass ich an einer plötzlichen Blinddarmentzündung erkrankt sei, kam es zu einem Bruch. In der ersten Sitzung nach meiner Erkrankung, vierzehn Tage später, fiel Mariam im Wartezimmer meiner Praxis in Ohnmacht. Sie lag am Boden, als sei sie tot, war heruntergeglitten von ihrem Stuhl. Ich rief den Notarzt, der Mariam wiederbelebte. Als sie mit dem Krankenwagen davonfuhr, stand ich am Fenster. Zu ihrer nächsten Stunde kam sie pünktlich und erzählte mir lachend, wie sie schon im Krankenwagen begonnen habe mit den Sanitätern zu streiten, es sei ihr sehr schnell wieder richtig gut gegangen. »Es war aber so«, sagte ich, »ich war nicht da, als du zu mir kommen wolltest.« »Ja«, erwiderte sie langsam, »es war komisch, es war so fremd.« Es begann nun eine Serie von Ohnmachtsanfällen der Patientin. Sie konnte die Schule nicht mehr besuchen, zu mir wurde sie von ihren Eltern gefahren. Mariam fiel bald auf, dass es die Tage unserer Stunden waren, an denen sie regelmäßig in Ohnmacht fiel. »Es war sehr, sehr enttäuschend für dich, damals, als ich nicht da war«, sagte ich, »du warst sehr wütend, so denke ich manchmal.« Sie sah mich an, als verstünde sie nicht. Mariam fiel über den Zeitraum vieler Monate hinweg in Ohnmacht. Es war, als sage sie mir in einer unbewussten Weise: »Ich kann nicht mehr. Ich kann gar nichts mehr und du musst mich nun nehmen und darfst mich nie wieder verlassen.« Als ich mit meiner Praxis umzog, kam sie plötzlich nicht mehr. Einige Male war sie da gewesen, hatte viel darüber gesprochen, dass sie mich ja nun viel leichter erreichen könne, der Weg angenehmer sei, dann kam sie plötzlich nicht mehr. Ich rief sie schließlich an, um sie zu fragen, was nun mit ihren Stunden sei, die ich lange für sie freigehalten hatte. »Ich will meine Stunden wiederhaben«, sagte sie hektisch, »bitte, bitte, ich komme am Dienstag.« Sie begann zu weinen, als ich sie wiedersah. »Es war plötzlich alles so fremd. Es ist schön hier, ja, und praktisch für mich, aber ich habe an die alten Zeiten gedacht, daran, wo wir früher waren.« »Als ob etwas abgebrochen wäre«, erwiderte ich. »Der Fluss unserer Stunden brach ab und ich habe darüber nachgedacht, ob es für dich auch so war, als wäre ich weggegangen, an einen Ort, an dem du mich nicht mehr erreichen kannst.« »Aber das ist doch komisch«, sagte sie, »ich wusste ja, wo Sie sind, und trotzdem, ich konnte nicht kommen. Und danke, dass Sie mich angerufen haben.« Mariam kam wieder zu ihren Stunden, ihre Ohnmachtsanfälle begannen abzuebben. Dann kam es zu folgendem Vorfall: Am Ende einer Behandlungsstunde vergaß ich, in der Regel vergaß ich so etwas nie, zu erwähnen, dass unsere nächste Stunde aufgrund eines Feiertages ausfallen würde. Später erfuhr ich, Mariam war, kurz nachdem sie gegangen war, weil ich nicht geöffnet hatte, in

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der Innenstadt in Ohnmacht gefallen und von einem herbeigerufenen Notarzt ins Krankenhaus gefahren worden. Zu Hause schlief sie dann zwölf Stunden am Stück und fiel beim Packen ihrer Schultasche erneut in Ohnmacht. Sie erzählte mir das alles sehr munter, genoss aber sichtlich meine Bestürzung und Sorge. Wieder dachte ich an ihre Ankunft aus Äthiopien, bei der sie in den Arm der Adoptivmutter gefallen und zwei Tage geschlafen hatte. Es war, so überlegte ich, als ginge sie in gewisser Weise zum Anfang zurück, der Zäsur zwischen Äthiopien und Deutschland, die sie damals mit ihrem Schlafen gesetzt hatte und nun erneut mit ihrer Ohnmacht setzte. Ich erkannte darüber hinaus, dass der Ohnmachtsanfall in Beziehung zum gefürchteten Verlust der Therapeutin stand, die gedankenverloren den ausfallenden Termin vergessen und sie vermutlich, so verstand das die Patientin unbewusst, nicht halten, sondern fallen lassen würde. »Ich habe meine Mutter gebeten, mich heute zu begleiten«, sagte sie langsam, als ich sie wiedersah. Ich sah sie an und mir wurde so kalt, dass ich fror. »Es ist etwas Furchtbares passiert«, sagte sie, »und ich weiß nicht, ob ich es sagen kann. Ich habe es noch niemandem gesagt.« Ich erwiderte sofort: »Es ist vielleicht gut, wenn du es hier aussprechen kannst.« »Ich habe mir«, sagte Mariam ernst, »in der Nacht die Haare abgeschnitten, ohne es zu merken, ich bin schlafgewandelt.« »Wie, die Haare abgeschnitten?«, fragte ich entsetzt. »Ich habe«, antwortete Mariam, »die Schere genommen und mir die Haare ganz kurz geschnitten. Am Morgen lagen die Haare auf dem Boden und ich habe mein Kopftuch aufgesetzt, dass es keiner merkt.« Tatsächlich hatte sie, wie meistens, ein Kopftuch auf. Ich sagte: »Ich kann es nicht glauben.« Mariam schaute auf die Uhr und sagte: »Die Zeit reicht gerade, ich werde es Ihnen zeigen.« Sie nahm das kunstvoll festgesteckte Tuch ab und ich sah ihren geschorenen Kopf. Sie sah sehr traurig aus. »Du hast dir in der Nacht, ohne es zu wollen, die Haare abgeschnitten«, wiederholte ich, wie für mich selbst. »Ich finde eigentlich schlimm«, sagte Mariam, »dass keiner es gemerkt hat, das Tuch war doch sonst viel höher von meinen vielen Haaren.« »Keiner merkt, was da Schreckliches passiert ist. Auch ich habe es nicht gesehen«, sagte ich. »Ich bin froh, dass ich es Ihnen gezeigt habe«, sagte Mariam, »ich fühle mich so unheimlich, ich habe solche Angst.« »Du hast Angst, verrückt zu sein«, sagte ich. »Ja«, sagte Mariam, »ich habe Angst. Und ich kann das meiner Mutter nicht zeigen, ich schäme mich so und sie wird es niemals verstehen.« »So kannst du nicht leben«, sagte ich. Mariam kam zu ihrer nächsten Stunde ohne Tuch. Sie hatte die Haare gleichmäßig geschnitten und sich sorgfältig geschminkt. Sie sah sehr schön und traurig aus. »Nun haben es alle gesehen«, sagte sie. »Deine schönen Haare«, sagte ich und stellte mir dabei vor, ich hätte mir unwillentlich meine Haare abgeschnitten und sie seien nun so kurz wie die Mariams. »Sie hat sich verstüm-

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melt«, dachte ich und sagte: »Es ist nicht mehr nur die Ohnmacht, es ist, als ob etwas in dir sprechen will.« Sie sah furchtbar aus, als ich sie wiedersah, ungeschminkt und so bleich, als falle sie jeden Moment in Ohnmacht. »Es ist wieder etwas Schreckliches passiert. Ich habe mir in der Nacht nach unserer Stunde den Leib, die Arme, die Beine mit Edding vollgeschrieben: ›Help, Hilfe‹ stand überall.« Sie hatte einen Fotoapparat dabei und zeigte mir ihren beschriebenen Körper, den die Mutter auf ihren Wunsch hin fotografiert hatte. »Du dachtest, ich glaube dir nicht«, sagte ich. »Nein«, sagte sie, »ich glaube es sonst selbst nicht.« Meine Reaktion auf Mariams Bericht war sehr körperlich. Ich musste fast weinen, konnte mich kaum kontrollieren und hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Die Situation spitzte sich zu. Mariam wurde an jedem Morgen ohnmächtig. »Ich kann nicht mehr schlafen«, sagte sie, »ich träume so wirklich, ich kann meine Träume nicht mehr von der Wirklichkeit unterscheiden. Ich denke jetzt auch, alles hat mit Äthiopien zu tun. Ich bin nicht mehr zu Hause in der Gegenwart. Wenn ich bedenke, wie oft man mich nun schon zum Krankenhaus gefahren hat.« »Vor ein Krankenhaus hat dich deine Mutter damals gelegt«, sagte ich, »als ob du zum Anfang zurückgingst.« »Wie Sie das sehen, ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagte sie. Ich begann über eine Überweisung in die psychiatrische Klinik nachzudenken. Die schwere, vermutlich durch die Behandlung ausgelöste Regression und Retraumatisierung schwächte die Ich-Kräfte der Patientin. Ich hatte ein Gespräch mit Mariams Adoptivmutter, in dem wir darüber sprachen, auch mit Mariam sprach ich darüber. Sie nahm die Sache recht unaufgeregt: »Ich glaube gar nicht, dass das etwas bringt, und ich werde niemals Medikamente nehmen, aber ich füge mich. Ich weiß ja auch nichts Besseres und irgendwie habe ich gedacht, vielleicht muss ich da jetzt wirklich noch einmal hin, ins Krankenhaus. Darüber haben wir ja letzte Stunde gesprochen.« Ich verstand plötzlich, was sie meinte, ich hatte gar nicht mehr daran gedacht. Zur nächsten Stunde kam sie voller Wut. »Ich bin so sauer auf Sie, Sie haben von Krankenhaus gesprochen und Psychiatrie gemeint.« Sie begann zu schreien: »Meine Mutter hat es beiläufig erwähnt, da bin ich ausgerastet. Wieder und wieder geschehen Dinge, und ich werde nicht gefragt, und dieses Mal sind Sie auch beteiligt.« Ich konnte mir kaum Gehör verschaffen. Ich sagte: »Ich bin davon ausgegangen …« Sie: »Immer gehen alle von etwas aus, aber es vor mir aussprechen, davor hütet man sich, ich bin doch nicht blöd.« Ich: »Es tut mir leid, dass du nun denken musst …« Mariam unterbrach mich sofort: »Alles ist egal, aber man hätte es mir sagen müssen. Wie hätte ich denn darauf kommen können?« Ich dachte plötzlich: »Sie fühlt sich verfolgt.« Ich versuchte etwas zu sagen, aber

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es funktionierte nicht. Ich spürte auch, dass ich mich fortwährend verteidigte. Mariam sagte: »Jetzt ist es so weit. Sie können mich auch nicht mehr verstehen.« Ich fühlte mich sehr traurig und vollkommen verwirrt, wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Sie war auf einmal ganz still. Als ich wieder klar denken konnte, sagte ich: »Was ich verstehe, ist, dass es für dich so sein muss wie damals am Flughafen, etwas geschieht und keiner hat dich gefragt und wehren konntest du dich auch nicht.« Sie erwiderte: »Nicht nur am Flughafen, dass sie mich vors Krankenhaus gelegt haben und dann kam ich ins Waisenhaus und dann kam Knut, der Entwicklungshelfer.« »Und alles«, sagte ich, »ohne dass du dich wehren konntest, wie du es jetzt gerade machst.« Mariam begann zu weinen, zum ersten Mal seit unserer ersten Stunde, dicke Tränen liefen über ihr Gesicht. Ich verstand plötzlich, warum sie so schreien musste, warum da für sonst gar nichts Raum war. Ich bemerkte: »Das ist gut, dass du dich jetzt wehren kannst.« Sie nickte und weinte. »Ich habe solche Angst, Frau Langer, ich brauche Zeit, viel Zeit.« Ich nickte und sagte: »Es ist eine furchtbare Vorstellung, ja, ich meine, das zu verstehen. Manchmal habe ich große Sorgen, wenn ich zusehe, wie du leidest, und ja, ich habe mit deiner Mutter gesprochen. Und ich verstehe, du hast Angst, sie würde einwilligen, wenn ich sagen würde: ›Mariam muss in die Klinik‹, eine schlimme Vorstellung, wir würden dich noch einmal verpflanzen, gegen deinen Willen.« Mariam weinte und sagte noch einmal: »Frau Langer, ich brauche Zeit.« In der Folge verstärkte sich Mariams Redefluss, immer wieder warf sie ein: »Verstehen Sie, was ich meine?« Sie versuchte immerzu mir anhand von Beispielen klar zu machen, was sie meinte. Sie erschöpfte sich in unzähligen Erklärungen. Mir fiel nun auf, dass sie schwer zusammenfassen, Wesentliches nicht von Unwesentlichem trennen konnte. Ihre Symbolisierungsfähigkeit erschien mir nun fassadenhaft. Ich dachte: »Sie lebt in einer konkreten, sie überflutenden Welt, in der das eine nicht für das andere stehen kann.« Sie litt stark darunter, mit ihren Erklärungen, die Versatzstücken des Symbolischen glichen, etwas nicht fassen und dem anderen nicht vermitteln zu können. Sie nahm aber auch wahr, wie sie dieser Erklärungszwang erschöpfte. Einmal sagte sie: »Ich sehne mich danach, nicht sprechen zu müssen.« Das war viel. Sie fühlte, wie falsch alle Erklärungen und Worte manchmal waren. Mariam war ein Mädchen, das sehr früh ohne Schutz leben musste. Ich sah sie oft vor mir: als Kleinkind im Waisenhaus um ihr Essen kämpfend. Sie war eine Kämpferin, die in Ohnmacht fiel. Die Gestaltung ihres Verlassenseins verwies mit ihren Symptomen der Seh- und Gehstörung und den im Laufe der Behandlung auftretenden Ohnmachtsanfällen auf einen brüchigen Untergrund, geprägt von früher Trennung und Desorientierung und einer Tendenz zum

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Zusammenbruch des Ich, der sich in den nächtlichen Aktionen des Haareabschneidens und Körperbeschriftens Ausdruck verschaffte sowie in dem Gefühl der Patientin, nicht mehr in der Realität zu leben. In der Behandlung hatte sie sich in schmerzhafter Weise dem vergangenen Verlassensein angenähert, es in der Beziehung zu mir gleichsam noch einmal erlebt. Sie fiel in Ohnmacht, als ich, plötzlich erkrankt, nicht da war, sie konnte nicht mehr kommen, nachdem ich umgezogen war, sie sozusagen verlassen hatte, sie fiel erneut in Ohnmacht, als ich vergaß eine ausfallende Stunde anzukündigen. Sie schnitt sich die Haare ab und beschriftete ihren Körper, getrieben von Zuständen nächtlichen Verlassenseins. Als ich mit dem Gedanken spielte, sie in die psychiatrische Klinik einweisen zu lassen, begann sie zu kämpfen und bedachte mich erstmals mit aggressiven Gefühlen. Sie kämpfte darum, nicht noch einmal auf den Stufen des Krankenhauses abgelegt zu werden, nicht noch einmal verloren zu gehen in den Straßen von London. Aber auch der Wirklichkeit vermochte sie sich im Zuge dieser Entwicklung wieder anzunähern, sie tauchte auf, die Ohnmachtsanfälle verebbten, sie hatte Bestand in ihrer neuen Schule. Ohne den Halt, den ihr ihre Adoptiveltern boten, wäre es ihr nicht möglich gewesen, sich in die Behandlung fallen zu lassen. Schon lange bevor sie anstand, dachte ich an Mariams Verabschiedung. Die Patientin war mir sehr nahe gekommen in ihrer Not. Ich hatte manchmal das Gefühl, so etwas wie ihre Mutter geworden zu sein und dachte mit Schrecken daran, mich zu trennen. In unseren letzten Stunden realisierte ich, als hätte ich nie zuvor davon gehört, dass Mariam in nichts als Zeitungspapier eingepackt auf den Stufen des Krankenhauses abgelegt worden war. Es gab nichts, was ihre Eltern ihr hätten mitgeben können, außer diesem Zeitungspapier. Ich konnte nicht aufhören an ihren alten Traum zu denken, von dem sie nie mehr sprach: »Ich bin ein Baby. Ein Mann reißt mich aus den Armen meiner Mutter. Meine Mutter schreit. In dem Traum weiß ich genau, was sie schreit. Ich kenne diese Worte. Wenn ich aufwache, kann ich sie nicht erinnern.« Immer dachte ich: »Ich will, ich muss sie jetzt fragen, ob sie sich erinnert.« Der Gedanke ging mir aber in der Behandlung wieder und wieder verloren, ich konnte ihn nicht umsetzen. Was blieb, war meine diffuse Angst, beim Abschied von dieser Patientin in Tränen auszubrechen. Ich bemerkte, dass Mariam das Kopftuch, das sie lange getragen hatte, nicht mehr trug. Sie hatte zuletzt jedes Mal eine andere Frisur. Unsere letzten Sitzungen waren sehr leise. Wenn Mariam kam, schauten wir uns lange an. Es gab nicht mehr so viele Worte, sie versiegten. Als sie zu unserer letzten Stunde kam, konnte ich ihre Düsternis empfinden. »Es geht«, sagte sie langsam, »es geht. Ich habe ja zwischendrin aufhören wollen, ich wollte das nicht, mit der Vergan-

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genheit, dann war ich doch froh, dass Sie darüber gesprochen haben. Deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen. Ich habe auch Angst, was werden wird, wenn ich nicht mehr zu Ihnen kommen und sprechen kann. Ich wollte Ihnen auch Danke sagen für alles.« Als wir uns die Hand zum Abschied reichten, fühlte ich mich einen Moment lang verwirrt. Mariam ging schnell die Treppe hinunter. »Jetzt würdest du sie gerne rufen«, dachte ich, aber sie war schon davongeeilt. Ich dachte noch einmal über meine andrängenden Tränen nach. Ich fühlte mich sehr unwirklich mit dieser Angst, in Tränen auszubrechen, kalt und gelähmt. In unserem Abschied war etwas von ihrem alten, wiederkehrenden Traum enthalten, dem die Worte fehlten. Darstellung des zweiten Behandlungszeitraumes

Ein Jahr später rief mich Mariam an, sie klang verzweifelt: »Ich muss wiederkommen«, sagte sie. »Ich kann nicht mehr in die Schule gehen, ich habe solche Kreislaufbeschwerden, und gestern, da bin ich wieder in Ohnmacht gefallen.« Ich dachte sofort: »Sie will zurück und wählt diese alte Form, um zu mir in Beziehung zu treten.« Während der drei ersten Gespräche, die ich mit ihr führte, verschlimmerte sich ihr Zustand. Sie konnte die Schule gar nicht mehr besuchen. Es war, als wolle sie mir sagen: »Sie müssen mich einfach wieder nehmen.« Ich hatte die Phantasie, dass sie als dieses Baby zurückkäme, geschützt von nichts als Zeitungspapier. Und war es nicht so, lag sie nicht gleichsam wieder auf den Stufen des Krankenhauses? Denn sie teilte mir ihre panische Angst, die ich schon einmal mit ihr geteilt hatte, mit, in die Psychiatrie, ins Krankenhaus eingewiesen zu werden. »Ich werde da nicht hingehen«, sagte sie und sah mich lange starr an, dann brach sie in Tränen aus. »Ich weiß ja«, sagte ich, »aber es ist, als müssten wir doch noch einmal dahin zurück, zu den Stufen des Krankenhauses, auf denen du einmal lagst.« »Ich weiß nur eines«, sagte Mariam, »ich muss meine Therapie wieder machen. Meine Mutter wusste nicht, ob das überhaupt geht, ob ich jetzt nicht zu alt bin, aber ich habe gesagt, ich will nirgendwo anders hingehen, ich habe doch schon eine Therapeutin.« Sie wirkte nun ungemein afrikanisch auf mich. Ihre ganze Art, sich zu kleiden und die Haare zu tragen, hatte etwas ausgesprochen Uneuropäisches. Ich erfuhr, dass sie kurz nach der Beendigung der Behandlung vor einem Jahr ihren jetzigen Freund kennengelernt oder besser wiedergefunden hatte. Es handelte sich nämlich um den ehemaligen Nachbarsjungen, mit dem sie, als sie aus Afrika gekommen war, oft im Garten gespielt hatte. »Wir sind uns so vertraut«, sagte sie, »wissen Sie, Sie werden das verstehen, ich habe solche Angst. Ich denke, es ist für immer. Aber gibt es das, für immer? Werde ich wirklich bis zum Ende meines Lebens mit ihm zusammen sein? Das ist ja noch sehr, sehr lange.«

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Als ich Mariam anbot, einmal pro Woche zu mir zu kommen, um zu versuchen zu verstehen, was geschehen war, warum sie so dringend hatte wiederkommen müssen, begann sie panisch zu weinen: »Das reicht nicht, es reicht nicht, ich muss ganz sicher zweimal pro Woche kommen. Ich will das ganz sicher.« Ich: »Du willst dahin zurück, wo wir einmal waren.« Sie: »Meine Mutter, sie sagt, ich will nicht erwachsen werden. Ich will ja, aber ich kann nicht, so kann ich nicht, ich muss zurück, ich muss irgendwie zurückgehen. Vielleicht hat sie auch recht und ich will nicht, aber irgendwie will ich doch und ich muss ja. Ich bin auch wirklich gut in der Schule, meine Lehrer haben mir versichert, dass ich versetzt werde. Ich freue mich darüber, klar, aber sie erwarten auch so viel, immer heißt es, Mariam schafft alles sowieso, aber das stimmt eben nicht. Vielleicht kann ich gar nichts schaffen. Ich bin nicht so, wie die denken, alles fällt mir schwer, wenn ich auch«, sie begann plötzlich zu strahlen, »jetzt in Mathe richtig gut bin.« Ich: »Wie, in Mathe?« »Ja, wirklich, ich verstehe jetzt alles, ich bin überall gut. Aber dann habe ich diese Angst: Ich habe so viel gefehlt und der Stoff wird mir fehlen.« Sie schilderte mir den Ohnmachtsanfall in der Schule, kurz bevor sie mich wieder kontaktiert hatte. Eine Notärztin hatte ihr ins Gesicht geschlagen und war insgesamt sehr grob mit ihr umgegangen. Mariam schilderte mir eine Situation, in der sie quasi am Boden gelegen hatte, völlig hilflos, gleichzeitig hatte sie begonnen, die Notärztin anzuschreien und mit ihr zu kämpfen, sie anzuklagen. Es wirkte, als habe sie mit ihr um ihr Leben gekämpft. »Woher du diese Kraft nehmen magst«, sagte ich, »du liegst am Boden, gerade aus einer Ohnmacht erwacht …« »Aber ich kann das ja, kämpfen, und ich muss, es macht doch sonst keiner für mich, und ja, Sie sagen das genau richtig, es war, als müsse ich um mein Leben kämpfen.« »Ich denke an das Waisenhaus«, erwiderte ich leise. »Ich auch, ich auch«, murmelte sie. Wir vereinbarten, uns bis zum Herbst zweimal wöchentlich zu sehen, und dann erneut über die Frequenz der Behandlung zu sprechen. Der Leidensdruck der Patientin war unübersehbar. Trotz der erstaunlichen Entwicklung Mariams im bisherigen Behandlungsverlauf war etwas nicht ausreichend bearbeitet und verstanden worden. Obwohl sie sich in einem regressiven Prozess anvertraut hatte, hatte ich in der Szene des Abschieds gespürt, dass da noch immer etwas war, weswegen ich sie gerne noch einmal zurückgerufen hätte. Es hatte sich in dem für mich bedrängenden Bild des in Zeitungspapier eingewickelten Säuglings ausgedrückt, aber auch in dem Gefühl, den Traum der Patientin, in dem sie aus den Armen ihrer Mutter gerissen wurde und der am Anfang der Behandlung gestanden hatte, noch einmal ansprechen zu müssen. Ich dachte darüber nach, ob dies unbewusst für die Patientin bedeutete, dass

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auch ich sie – in der Übertragung – ungeschützt zurückgelassen hatte. Vermutlich hatte auch ich, wie alle, die mit Mariam in Kontakt kamen, ihr zu viel zugetraut, sie zu früh alleingelassen. Wenn ich über sie nachdachte, konnte ich gleichwohl nicht umhin, Freude darüber zu empfinden, dass sie, die in Mathe nie etwas verstanden hatte, nun auch da mithalten konnte. Das, was wir in der Behandlung herausgefunden hatten, war nicht vergeblich gewesen. Da waren die kleinen Schritte, die die Patientin machen konnte, weg von mir. Folgende Frage beschäftigte mich sehr: Wie kann ein Mädchen, das einmal eingewickelt in Zeitungspapier auf den Stufen eines Krankenhauses abgelegt worden war, irgendwann sagen: »Es ist genug, auch ich kann leben und mich entwickeln, meinen Weg machen«? Als unsere Stunden erneut begannen, hatte ich das Gefühl, dass Mariam sich sofort tief fallen lasse. Sie schien direkt an die letzte Stunde der ersten Behandlung anzuknüpfen. Mariam: »Seit langer Zeit war da wieder dieser Traum, Sie wissen schon, ich werde aus den Armen meiner Mutter gerissen …« Ich, plötzlich begreifend: »Es ist, als wäre es wirklich gewesen.« Sie: »Immer habe ich das gedacht. Es war, als erinnerte ich mich, und komisch, ich liebte diesen Traum, er war immer lang, sehr lang.« Ich: »Es war der Traum, in dem du deine Mutter wiederfandest, erinnertest.« Sie: »Ich habe auch mit niemandem außer mit Ihnen darüber gesprochen, als ob mir das ganz allein gehörte.« Ich: »Wie ein Trost, ein Schatz.« Sie, weinend: »Wenn es mir schlecht ging, gerade dann. Ich habe diesen Traum geliebt. Er kam immer dann, wenn ich nicht mehr aus und ein wusste.« Ich: »Dann hast du deine Mutter gesucht, dich zu trösten.« Sie: »Aber wenn es mir gut geht, ich will das nicht, ich will nichts davon wissen. Denn was weiß ich schon, es gibt keine Fakten, niemandem könnte ich sagen, was ich fühlen kann, ich könnte es nicht erklären.« Ich: »Auf mich wirkt es, als ob es gar nichts zu erklären gäbe.« Sie lächelte und sagte: »Wirklich, Sie haben recht, gar nichts. Ich kann das einfach fühlen, und dieses eine Mal bin ich sicher. Ich bin ja so eine große Skeptikerin, und Sie wissen das ja, es ist mir so wichtig, alles erklären zu können.« Ich nickte. Mariam: »Ich habe auch weitergedacht, ohne Fakten.« Ich: »Du hast weitergeträumt.« Sie: »Ich habe nachgedacht. Der Mann, der mich aus den Armen meiner Mutter riss, er war böse, ich bin ganz sicher, vielleicht wollte er mich töten. Ich weiß auch nicht, ob es mein Vater oder wer auch immer es war.« Ich dachte und fühlte mich der Patientin dabei sehr nahe: »Sie will nun aufhören zu erklären, sie schaut diese alten Bilder an, vertraut sich einem sehr alten Erleben an.« Mariam: »In den Zeiten, in denen ich diesen Traum habe – es ist dann immer so, dass dieser Traum wieder- und wiederkommt, jede Nacht –, träume ich auch einen anderen Traum: Ich falle in einen Brunnen. Der Brunnen steht in Äthio-

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pien. Das Schlimmste daran ist das Fallen selbst. Die Mitte meines Körpers krampft sich zusammen. Es dauert nur zwei Sekunden, dann wache ich auf und mein Bauch ist ganz hart. Es tut schrecklich weh. Seit den Zeiten meiner Ohnmacht, als ich damals bei Ihnen war, habe ich diese Träume nicht mehr gehabt. Es sind gar keine Träume, ich war immer sicher, dass es so gewesen ist. Wenn es mir schlecht geht, liebe ich diese Träume, wenn es mir gut geht, will ich alles vergessen. Denn, ich will nicht, dass es so war, dass sie mich töten wollten.« Ich bemerkte, wie nahe sie den Tränen war. Sie fuhr aber fort: »Ich weiß nicht die Uhrzeit, zu der ich geboren bin, mein Geburtstag ist erfunden. Ginge meine äthiopische Mutter auf der Straße an mir vorbei, ich hasse es, das sagen zu müssen, ich würde sie nicht erkennen. Und wissen Sie, in Äthiopien hat man die neugeborenen Mädchen auf die Müllkippe geschmissen. Ich muss immer denken, meine Mutter wollte das nicht, sie behielt mich sechs Monate, dann rissen sie mich aus ihren Armen, und ja, auf der Müllkippe landete ich nicht. Sie wollten, dass ich leben darf, sie legten mich auf die Stufen des Krankenhauses.« Ich dachte sofort: »Ihre Mutter, sie schrie: ›Lasst mir mein Kind, nehmt es mir nicht weg.‹« Zum allerersten Mal in der Behandlung meiner Patientin begann ich zu phantasieren, wie es damals gewesen sein mochte. Ich stellte mir den Brunnen vor, wie dunkel es darin war, wie schmerzhaft das Fallen. Ich malte mir aus, wie Mariam im Kampf des Mannes mit ihrer Mutter auf den Boden fiel. Ihr Körper schwebte, wurde erschüttert und prallte dann hart auf. Mariam ging inzwischen wieder in die Schule, es ging ihr ausgezeichnet dort. Von Ohnmachtsanfällen war in den Sitzungen nicht mehr die Rede, auch ihre wiederkehrenden Kopfschmerzen gingen zurück. Mariam vergaß im Oktober eine Behandlungsstunde, während sie einer Mitschülerin Deutsch beibrachte. Sie entschuldigte sich mehrmals, so etwas sei ihr noch nie passiert. Ich sagte, dass es schon einmal passieren dürfe, dass etwas anderes wichtiger sei. Sie erschrak und erklärte, dass die Stunden aber so wichtig für sie seien. Ich entgegnete: »Ja, aber dieses eine Mal«, dachte aber auch daran, dass sie Angst habe, dass ich ihr verloren gehe, wenn sie nicht komme, und wies sie darauf hin, dass wir die anstehenden Herbstferien als Termin gesetzt hätten, um über die Therapie zu sprechen, ob wir sie einmal oder zweimal wöchentlich fortsetzen sollten. Ihr Wegbleiben habe mich nun daran erinnert. Mariam: »Ich sage sofort zweimal, das wollte ich ja immer.« Ich: »So, wie es immer war.« Mir fiel in dem Moment noch einmal auf, dass sie auch die gleichen Wochentage wie früher ausgewählt hatte. Ich nickte und sagte, dass ich jetzt auch noch weiter denken würde, an das neue Jahr. Sie erwiderte: »Sie wissen ja, wie das bei mir ist. Es ist schrecklich, wenn sich etwas ändert, es macht mir Angst. Ich habe auch gedacht, da kommen die Prüfungen. Wir haben das noch nie gehabt, einmal, es war immer

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dienstags und donnerstags.« Ich bekam Angst und hatte das Gefühl, etwas falsch zu machen. Natürlich hatte ich auch daran gedacht, dass uns keine unbegrenzte Anzahl von Stunden mehr zur Verfügung stehen würde. Ich hielt mir nun aber vor: »Ich darf und darf sie nicht drängen. Warum machst du das? Kann es nicht einmal sie sein, die sagt, wann es genug ist?« Nach ihrem Wiederkommen war gleich zu Beginn die Konstellation entstanden, dass sie mehr wollte, als ich ihr zu geben bereit war. In unserem Gespräch über den Fortgang der Therapie drohte sich diese Konstellation zu wiederholen. Zwischen den Sitzungen überfiel mich der Gedanke: »Sie will nun für immer zweimal kommen, es geht aber nicht. Wie soll ich jemals Worte finden für die Endlichkeit unseres Zusammenseins?« Wie gebannt dachte ich an ihren Traum und an die von mir phantasierten Worte ihrer Mutter: »Lasst mir mein Kind!« Ich war gefangen in diesem Traum meiner Patientin, konnte nicht über das Ende der Behandlung sprechen, die Realität schien mir verstellt. »Man weiß nicht, wohin man kommt«, bemerkte Mariam einmal. »Ich bin schon froh, dass meine Mama das Fernsehen nicht wollte, sie haben sie ja damals bedrängt und wollten das filmen, als ich aus Äthiopien kam.« Ich: »Sie wollte wirklich ein Kind, um das sie sich kümmern kann. Sie wollte nicht groß rauskommen damit, sie wollte mit dir zusammen sein.« Ich war überzeugt, dass genau das der Grund war, warum Mariam sich in ihrer besonderen Weise entwickeln durfte. Ihre Adoptivmutter empfing sie wie ein lange ersehntes Kind. Sie wollte sie kennenlernen. Sie bedurfte keiner narzisstischen Bestätigung, sie verlangte Intimität. Sie war bereit, sehr viel zu geben, um dieses Kind kennenzulernen. Mariam sagte: »Ich muss immer denken, ich habe ihnen so viel zugemutet. Wenn wir Streit hatten, habe ich gesagt: ›Warum bin ich nur zu euch gekommen, warum habt ihr mich nicht gelassen? Niemals wollte ich euch.‹« Ich: »Sie haben das ausgehalten.« Sie: »Ich war schon gemein. So ein Kind, das wäre schwer für mich.« Ich: »Sie haben das geschafft, Eltern schaffen so was. Sie ahnen vieles, wie schwer es ist für das Kind.« Da gab es noch etwas anderes, das mich stark beschäftigte. Einige Wochen, nachdem sie zu mir zurückgekommen war, begann es mit ihrem Freund schwer zu werden, den sie gefunden hatte, nachdem unsere Sitzungen damals aufgehört hatten. Sie hatte ja davon geträumt, für immer mit ihm zusammen zu sein. Und war es nicht ähnlich mit uns? Vor jeder Stunde nahm ich mir vor, mit ihr über unser Setting zu sprechen, das ich vorgeschlagen hatte: Einstündig ab dem neuen Jahr. Ich schaffte es nicht. Die Bedrängnis, in der sie sich befand, bedroht vom Verlassenwerden ihres Freundes, verschnürte mir den Mund. Ich ahnte, sie agierte ihr Verlassensein von mir (in der Übertragung die Mutter), denn als solches empfand sie unbewusst die von mir vorgeschlagene Stundenreduzierung, in

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der Beziehung zu ihrem Freund. Wir würden nicht für immer zusammenbleiben können, wie sie es mit ihrem Freund erträumte. Unsere Trennung war vorprogrammiert. Ihre Verzweiflung war unglaublich. Sie fühlte, wie André sich von ihr abwandte und begann gegen eine große Leere anzukämpfen. »Ich bin ja eine Kämpferin, und anders kann ich nicht sein. Aber da ist auch so eine schreckliche Last auf mir, und ich dachte heute Morgen, meine Tasche, ich packe so viel hinein, dass ich sie kaum noch tragen kann. Aber ich will auch nichts hinaustun, wer weiß, denke ich dann, vielleicht brauche ich es noch.« Ich: »Das Kämpfen, die Leere, es lastet auf dir, und ich habe nachgedacht: Alles ist so, weil es das Schlimmste wäre, wenn alles aufhörte.« Mariam begann sofort laut zu weinen. »Mariam, kann es sein, es geht gar nicht nur um André, es geht um etwas, was viel tiefer sitzt, etwas nicht wieder gutzumachendes. Es tut mir weh, das auszusprechen: Aber ist es nicht so, ich denke an deinen Traum, du wurdest herausgerissen aus den Armen deiner Mutter und nie mehr wirst du zurückkehren können zu ihr – die Last deines Schmerzes. Ja, du bist eine Kämpferin, immer hast du gegen diesen Schmerz angekämpft und wolltest leben, im Waisenhaus, und dann fandest du deine Adoptiveltern, die dir alles gaben, was sie hatten. Ja, und auch mich fandest du, und ich suche dir zu geben, was ich kann. Aber, ist es nicht so, manchmal genügt es alles nicht? Und André, ich meine zu ahnen, auch er, er gab dir viel, sehr viel. Und ja, wir alle, sind nicht das, was du suchst, suchen musst. Denn da ist etwas, mit dem bist du ganz allein.« »Ja«, sagte Mariam und ich merkte gleich, dass sie weit weg war, versucht hatte, mich nicht zu hören. Sie begann klug darüber zu sprechen, wie man Liebe und Verlassensein erlebt, entwickelte einen unglaublichen Redefluss. »Es fällt mir auf, du sprichst so allgemein«, warf ich ein. Sie stoppte sofort und begann verwirrt zu lachen. Ich fühlte, dass sie alles verstanden hatte, was ich ihr hatte sagen wollen. Sie wandte sich mir zu und sah mich mit Tränen in den Augen an. Dann schrie sie fast: »Es ist so ungerecht, so ungerecht, dass ich das nie, nie loswerden kann! Es verfolgt mich, dass alles so war, wie es war, es verfolgt mich. Warum kann ich nicht ohne das alles sein?« »Die Vergangenheit, ohne die Vergangenheit«, sagte ich. Wir schwiegen lange. Plötzlich fuhr sie aus ihrem Versunkensein auf: »Ich sehe in der letzten Zeit immer wieder das Bild meiner Mutter, es sind nicht die alten Träume, es ist nur ihr Bild, und ich kann es auch gar nicht erkennen. Wie ein Blitz taucht es auf. Und es tröstet mich auch nicht, wie früher der Traum. Ich will sagen: ›Geh weg!‹ Ich will dieses Bild, das ich nicht erkennen kann, nicht aufblitzen sehen vor mir. Es ist furchtbar, ich halte es nicht mehr aus.« Ich: »Es verfolgt dich.« Mariam, weinend: »Ja, ja, es ist, als ob sie mich verfolge und ich kann nicht mehr Atem holen. Frau Langer, ich will manchmal neu anfangen und alles vergessen.« »Das kann ich wirklich gut verstehen«, erwiderte ich.

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Als wir uns zu unserer nächsten Stunde sahen – der Himmel strahlte, obwohl es tiefster Herbst war – sagte Mariam: »Ich weiß nicht warum, die Last ist weg. Ich habe auch heute Morgen meine Tasche entpackt, sie ist jetzt so leicht, und André, er hat mich gefragt, ob er mich heute von der Therapie abholen soll und dann wolle er mit mir in mein Lieblingsbuchgeschäft in Frankfurt gehen und er schlug auch vor, bei mir zu übernachten. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber plötzlich habe ich Hoffnung und kann atmen.« Ich erkannte, wie wichtig es gewesen war, dass das aufblitzende Bild ihrer Mutter einen Raum zwischen uns gewonnen hatte. Es hatte seine tröstliche Qualität verloren, verfolgte die Patientin, nahm ihr das Recht auf Leben. Ich spürte, dass es dabei war, sie erneut in eine Ohnmacht zu treiben. Es war das Bild einer Mutter, die in den Träumen meiner Patientin ihr Recht einzufordern schien. Es sprach: »Vergiss mich nicht!« In diesem Bild wurde Mariam zu derjenigen, die die Mutter verließ. Mariam war auf der Suche nach einem eigenen Leben, einem Leben mit André, und wurde von Schuld dem alten Bild ihrer Mutter gegenüber geplagt, in der Übertragung also mir gegenüber. Mariam wollte gehen, fort vom Bild ihrer Mutter, das sie so lange getröstet hatte: Ihre Beine schmerzten nicht mehr, sie konnte sehen und in Ohnmacht fiel sie auch nicht mehr. »Ich habe auch noch mal die Bilder von früher angeschaut«, berichtete die Patientin. »Da stehe ich in meinem Bett, im Waisenhaus, das Bett ist schmutzig. Ich habe da reingemacht, das war da so. Aber als ich zu meiner Mutter kam, war ich tagsüber schon sauber. Wir hatten keine Windeln, und ich habe überlegt, dass ich so früh sauber geworden bin, weil ich nicht in dem Schmutz liegen wollte. Und ohne Windeln, ich glaube, da fühlt man auch besser, was der Körper macht.« Während sie erzählte, dachte ich: »Ich würde so gerne diese Bilder sehen!« Ich hatte gar nicht gewusst, dass es welche gab. Gleichzeitig dachte ich: »Es ist ein Wunder, dass sie überlebt hat, in ihrem schmutzigen Bett.« Als nähme sie teil am Fluss meiner Gedanken, sagte Mariam: »Mein Bauch war unglaublich dick, eine Kugel mit dürren Armen und Beinen. Auch als ich zu meinen Eltern kam, hatte ich diesen Bauch. Es dauerte lange, ich konnte kaum noch essen, das hat mir meine Mutter gesagt.« »Du wärst fast gestorben«, sage ich atemlos. Mariam sah mich lange an, Tränen in ihren Augen: »Ja, ich habe doch da um mein Essen kämpfen müssen mit den großen Kindern, und mein Bauch, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, er hat sich selbst angegriffen.« Sie merkte, dass ich nicht verstand, und begann mir zu erklären, wie ein Bauch zum Hungerbauch wird, sich aufbläht, um ein Gefülltsein zu simulieren, wie aber dann die Magensäure, die die Verdauungsprozesse begleitet, nun, da nichts in dem Bauch ist, diesen selbst zu zersetzen beginnt, die Magenwand angreift.

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Mariams Entwicklung, das Lernen betreffend, hörte nicht auf mich zu überraschen. Sie, die nie gewusst hatte, was Lernen war, die brilliert hatte in vielen Dingen, die ihr zufielen, begann ihren Unterrichtsstoff ernst zu nehmen und zu lernen, was ihr nicht zuflog. Sie erfand für sich den Modus, auf den Fahrten nach Frankfurt zu lernen, manchmal ging sie auch zu Starbucks, um ihre Hausaufgaben zu machen. Ich dachte immer wieder: »Sie ist wirklich groß geworden, erwachsen, sie will so vieles schaffen.« Sie schob auch gar nichts mehr auf, es war ihr wichtig, ihre Sache gut zu machen. Einmal fühlte sie mein Erstaunen und begann zu erzählen: »Ich weiß, früher, ich konnte nicht lernen, ich habe mich gequält und alles aufgeschoben und plötzlich, ganz plötzlich, wusste ich, wie es geht. Es war wie damals, mit dem Fahrradfahren. Mein Vater hielt mich, aber ich hatte richtig Angst zu stürzen, wenn er mich losließe. Und da habe ich mir bei einer Familienfeier, ich sehe das noch vor mir, das Rad eines anderen Kindes genommen und dann, ich habe richtig geübt, bin ich plötzlich losgefahren. Ich fuhr an meiner Mutter vorbei, sie stieß einen Schrei aus, sie wollte es nicht glauben.« Ich: »Du musstest das ganz alleine für dich herausfinden, ganz allein, ob es geht und wann es geht. Du hattest solche Angst zu fallen.« Sie nickte heftig. Mariam erkrankte an einem schweren grippalen Infekt, ich sah sie eine Woche lang nicht. Ich träumte in der Nacht von ihr – dass ich von Patienten träume, geschieht fast nie. Ich erinnerte mich am Morgen nur undeutlich an den Traum. Da war dieser eindrückliche Traum, aber ich vergaß ihn. Und dann, viel später, sah ich alles plötzlich wieder vor mir: Mariam fiel mir in die Arme, nachdem ich gedacht hatte, sie käme nie wieder. Ich drückte sie ganz fest an mich und sagte: »Es wird alles gut, ich hatte solche Angst, dich nie wieder zu sehen.« Mir wurde bewusst, wie stark ich diese Patientin, die ich eine Woche nicht gesehen hatte, vermisste, wie ich fürchtete, sie könne mir verloren gehen (aus meinen Armen gerissen werden). Ich erkannte: »Das bist du! Du willst sie für immer sehen, zweimal pro Woche, du kannst sie nicht gehen lassen.« Es war so dicht geworden zwischen uns, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen konnte, dass es Mariams Sitzungen einmal nicht mehr gäbe. Die Vorstellung, ihre Termine mit anderen Patienten zu besetzen, konnte ich nur schwer ertragen. Als sie nach einer Woche wiederkam, stellte sie nach der Begrüßung sofort folgende Frage: »Glauben sie an Self-fulfilling Prophecies?« Dann berichtete sie mir von einem Traum, den sie in der vergangenen Woche jede Nacht geträumt hatte: »Ich falle die Treppe in unserm Haus hinunter und komme auf meinem Steißbein auf. Als ich aufwachte, tat die Stelle sehr weh, so als wäre etwas geschwollen. Beim Aufstehen verschwand der Schmerz. Und heute Morgen bin ich wirklich diese Treppe hinuntergefallen, es tat schrecklich weh, und ja, es ist auch geschwollen und schmerzt immer noch.« Sie sah mich erwartungsvoll

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an: »Frau Langer, bitte sagen Sie mir, was Sie denken.« Ich: »Mir fiel sofort der äthiopische Brunnen ein.« Sie, sehr ernst: »Ich habe auch sofort daran gedacht, an das Fallen. Aber ich bin ja nicht wirklich in einen Brunnen gefallen, trotzdem, ich weiß nicht.« Erst im Nachhinein war es mir möglich, ihren erwartungsvollen Blick zu deuten: »Das ist neu, sie rationalisiert nicht, sondern sehnt sich, mir in ihren Phantasien zu begegnen, und hat Angst, damit allein zu bleiben, sie nicht teilen zu können.« In der Sitzung selbst erzählte ich Mariam von dem, was ich selbst inzwischen imaginiert hatte: »Ich habe nachgedacht. Ich habe gedacht, damals, als ein Mann dich aus den Armen deiner Mutter riss, es gab einen Kampf, du fielst zu Boden, es tat sehr weh.« Mariam: »Ich bin froh, dass Sie das sagen, ich habe dasselbe gedacht, immer wieder habe ich mir das so vorgestellt.« Wir schwiegen. Mir ging durch den Kopf, dass sie am Morgen gestürzt war und mich gefragt hatte, ob ich an Self-fulfilling Prophecies glaube. Ich fragte mich, ob sie mit ihren realen Schmerzen wirklich machen würde, was sie geträumt hatte. War das ihre Art, sich der Vergangenheit zu nähern, die unwirklich und bedrängend war? Ich phantasierte außerdem blitzlichtartig, dass sie ihr damals die Haare geschoren hätten. Es verunsicherte mich, in wie starker Weise Mariam mich zu ihrem Sprachrohr machte. Sie bedurfte in einer dringenden Weise meiner Phantasien, um an ihren festzuhalten. Was mich dabei ängstigte, war die Frage: Waren es überhaupt ihre oder riss ich die Patientin mit meinen Phantasien mit? Ich nahm die Tränen in ihren Augen wahr. Mariam: »Die Blitzlichter sind auch wiedergekommen.« Ich: »Das Bild deiner Mutter.« Sie: »Es ist, als hätte ich Tinnitus und gewöhnte mich an dieses Geräusch. Es ist ständig da.« Ich: »Es verfolgt dich, es tröstet nicht, wie der alte Traum.« Sie, plötzlich schluchzend: »Ich will sagen: ›Geh weg, geh weg, die Luft bleibt mir weg!‹« Ich: »Sie stört dich. Du kannst nicht mehr atmen.« Mariam: »Ich will das nicht. Und ich merke, langsam kann ich das, atmen. Es ist schwer. In der Schule haben sie wieder das gesagt, was ich hasse: ›Mariam schafft es sowieso.‹ Ich habe angefangen zu schreien: ›So bin ich nicht. Ich kann nicht alles schaffen, ich kann nicht. Warum denkt ihr, dass ich immer alles können muss?‹« Wir schwiegen lange. Mariam: »Es wird jetzt ruhiger. Auch mit André. Ich denke nicht mehr: für immer. Ich warte. Ich habe festgestellt, dass ich gut im Warten bin. Wir nähern uns einander, er kommt auf mich zu. Ich denke, ich liebe es, aber ich will jetzt warten. Ich trage den alten Ring nicht mehr, aber ich bin trotzdem gelassen, so ruhig. Und als ich krank war, ich habe auch darüber nachgedacht, was aus unseren Stunden im neuen Jahr wird, einmal oder zweimal, und ich habe gedacht, ich will das jetzt ausprobieren: einmal.« »Es ist mir wichtig zu hören, was du

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darüber denkst, ich habe so lange hin und her überlegt, einmal, zweimal, und ich dachte, das sollst du sein, die etwas dazu sagt«, erwiderte ich. »Danke, dass Sie das sagen. Sie wissen gar nicht, wie ich das schätzen kann«, dabei sah sie mich an, als wolle sie mich trösten. »Ich weiß auch«, fuhr sie fort, »es wird wenig sein, aber zweimal – ich habe immer gedacht: ›Was reicht schon für mich?‹ Manchmal ist alles zu wenig und ich möchte sprechen und sprechen, ohne aufzuhören.« In dem Moment, in dem sie sagte, sie wolle nun nur noch einmal kommen, ging so vieles in mir vor: Enttäuschung, Erleichterung, alles gemischt. Ich spürte sofort, wie ich innerlich einen Schritt zurückzutreten versuchte, um mich zu fassen. Denn da war einerseits mein Traum, in dem ich diese Patientin für immer behalten wollte, und andererseits Mariam, die nach einem Weg suchte, der Blitzlichtmutter zu entrinnen, die, davon zeugte mein Traum, in der Übertragung ich war. Ein Ausspruch der Adoptivmutter meiner Patientin fiel mir ein: »Du bist so ein tapferes Mädchen.« Ich erkannte, wie sehr ich diesem Ausspruch in Bezug auf die Behandlung zustimmen würde: Mariam hatte sich in dieser wieder aufgenommenen Behandlung in den äthiopischen Brunnen ihrer Vergangenheit hineingestürzt, fiel die Treppe hinab, es tat weh. Saß sie nun nicht mit schmerzenden Knochen auf ihrem Stuhl? Es schien mir, als wollte sie mir mit ihrem tröstenden Blick zu verstehen geben: »Es ist alles zu wenig, und nun muss ich meinen Weg trotz allem finden, denn manchmal ist auch alles zu viel, und ich will einfach gehen, muss nach einem Weg suchen, das Leben zu leben. Bitte, lass mich! Ich werde gehen müssen, Abschied nehmen von diesem Bild, in dem meine Mutter mich nicht gehen lassen wollte. Ich muss mich nun begrenzen, in Trauer üben und einmal statt zweimal sagen. Ich muss und will mich begnügen. André, mit dem ich geträumt hatte, für immer zusammen zu sein, ich weiß nicht, so sehr ich mich nach diesem ›für immer‹ sehne, vielleicht gibt es das gar nicht, und ich will mich nicht festhalten an diesem Ring.« Abschlussbetrachtung des Behandlungsverlaufs insgesamt

Diese Patientin gewann in der zweiten Behandlung, in der sie sich, so nannte ich das immer für mich, in den äthiopischen Brunnen stürzte, einen depressiven Umgang mit ihrer Geschichte und der Wirklichkeit. Sie begann darüber zu trauern, dass es ein »für immer« nicht gab und nicht geben würde. Sie wurde erwachsen. Wovor sie sich immer gefürchtet hatte, dass gelang ihr, nachdem sie nicht mehr sagen musste: »für immer«. Sie hatte verstanden, dass sie damit ihre Mutter finden wollte, die sie zwar halten, aber auch nicht leben lassen würde. Sie wollte aber leben. Für diese innere Entwicklung der Patientin war zum einen wichtig, dass sie wiederkommen konnte, zum anderen, dass sie mich unbewusst zu der machen

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konnte, die nicht loslassen wollte, dass sie fühlen konnte, wie viel sie mir bedeutete und wie sich eine frühe Konstellation wiederholte: Ein Baby wird aus den Armen seiner Mutter gerissen. In der Wiederaufnahme der Behandlung knüpfte Mariam an das verlorene Wort der Mutter an und kämpfte darum, sich selbst aus den Armen der Mutter zu reißen. In ihren Träumen, dessen Wurzeln möglicherweise in einer realen Szene lagen, erschuf sie sich unbewusst die Geschichte des Beginns ihres Lebens. Fehlen die Zeugen der frühesten Lebenszeit der Patienten, besteht meiner Erfahrung nach eine starke Tendenz, das, was nicht auffindbar ist, zu erfinden. Die Kreation der eigenen Vergangenheit stellt einen Versuch dar, zu überleben, sich zu orientieren und zu trösten. Die Erfindung beinhaltet die Anwesenheit und die Antwort des Objekts, das die Patienten verlassen hat. Die Tatsache, dass dieses Objekt nicht real werden kann, ist eine Quelle starken Schmerzes. In einem psychotisch anmutenden Vorgang führen die Patienten unablässig den Dialog mit dem Objekt, das, was auch immer sie anstrengen mögen, ein erträumtes bleibt und im Übrigen auch bleiben soll. Die realen Objekte haben gegen das erfundene keine Chance. Denn sie sollen die Wirklichkeit des Erfundenen nicht schmälern. Menschen mit diesem Schicksal ist die Wirklichkeit verstellt, weil die erfundene Vergangenheit nur dann Bestand hat, wenn die realen Objekte, die gleichzeitig ersehnt und gefürchtet werden, die Schöpfung und Phantasie nicht gefährden. Erst in der zweiten Behandlung gelang es Mariam, ihren alten Traum mit mir zu verhandeln. Sie brachte mich zu einer unbewussten Antwort auf ihren Traum, der zu etwas wurde, was zwischen uns geschah, sich weiterentwickelte und sich auf die Verhandlung des Rahmens auswirkte. Das erträumte, alte und verlorene Objekt vermischte sich mit dem gegenwärtigen, neuen. Entscheidend war meine spontane Anerkennung des alten, die Patientin am Leben haltenden Traumes, meine intuitive Ahnung einer darin enthaltenen Wirklichkeit und dass die Patientin den Spielraum hatte, über die Frequenz und das Ende der Behandlung nachzudenken und sich von sich aus für eine Reduzierung auszusprechen. Die Beibehaltung des alten, von der ersten Behandlung her gewohnten Rahmens, gemäß dem die Patientin auch in der zweiten Behandlung wider mein einstündiges Angebot zunächst in zweistündiger Frequenz immer dienstags und donnerstags kam, intonierte ihre Not, ihr erneutes Verlorensein und die damit verbundene Angst vor dem Verlust des wiedergefundenen Objekts in der Übertragung. Erst nachdem sie sich, nach ihrem Wiederkommen, erneut Sicherheit erobert hatte, wünschte sie selbst, den Rahmen zu verändern, ihre Stundenfrequenz zu mindern. Ein innerer Spielraum entstand bei dieser Patientin, als sie es vermochte, die Realität der Begrenztheit unserer Beziehung anzuerkennen.

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Fünf Behandlungen wiederkommender Patienten, in denen neuer Spielraum entstand

Merve, 13 Jahre – Grund der Anmeldung: Desorientierung, Konflikte mit der Mutter (1. Behandlungszeitraum: 25 Stunden; 2. Behandlungszeitraum, fünf Jahre später: 90 Stunden; 115 Stunden insgesamt, einmal wöchentlich eine Stunde) Nach nur 25 Stunden analytischer Psychotherapie hatte sich Merve auf die Entscheidung ihrer Mutter hin, die die Behandlung ursprünglich gewünscht hatte, vorzeitig verabschiedet. Fünf Jahre später meldete sie sich im Alter von 18 Jahren auf eigenen Wunsch erneut an. Darstellung des ersten Behandlungszeitraumes

Merve lernte ich im Alter von knapp 13 Jahren kennen. Sie wurde von ihrer Mutter angemeldet, die schwer beunruhigt war über die »plötzliche Veränderung« ihrer Tochter. »Bis vor kurzem war noch alles gut, jetzt entgleitet sie mir. Sie ist in der Schule abgerutscht, sie geht oft gar nicht hin und sie macht überhaupt, was sie will, Regeln existieren nicht mehr für sie. Sie kommt erst mitten in der Nacht nach Hause, an Hausaufgaben ist gar nicht zu denken. Ich habe sie schon zweimal von der Polizei suchen lassen. Sie will auch keine Therapie, ich weiß gar nicht, ob sie kommen wird. Ich werde einen Weg finden, ich werde es schaffen, dass sie kommt.« Vor meinem inneren Auge entstand das Bild von Merve, die mit Handschellen zu mir abgeführt wird. »Wie wollen Sie das schaffen?«, fragte ich die Mutter, die extrem verzweifelt auf mich wirkte. Sie: »Ich werde ihr etwas versprechen, ich werde ihr etwas kaufen. Sie will ja immer so viel. Ich werde ihr ein Handy versprechen, das wünscht sie sich schon lange.« Ich: »Sie werden Sie erpressen.« Die Mutter brach sofort in Tränen aus, als ich das sagte. »Frau Langer, ich flehe Sie an, bitte, bitte versuchen Sie es ein einziges Mal. Sie sind meine allerletzte Hoffnung; man hat Sie mir empfohlen.« Ich spürte deutlich, dass ich mich ebenso wie Merve erpresst fühlte und wie unangenehm mir der Erpressungsversuch war. Gleichwohl hörte ich mich wie von weitem entgegnen: »Wir werden einen Termin für Merve vereinbaren und alles Weitere abwarten.« Dann sah ich Merve. Sie kam pünktlich, ein schönes Mädchen mit langen, schwarzen Haaren und dunklen Augen, das exquisit modisch gekleidet war und wie eine Prinzessin auf mich wirkte. »Ich komme nur, weil meine Mutter das will«, sagte sie sofort und sah mich herausfordernd an. »Ich bekomme jetzt endlich mein Handy.« Ich nahm ihre Worte jedoch kaum wahr, weil mich die Aura von sehr großer Anstrengung und Verzweiflung beschäftigte, die die Patientin umgab. »Ob es wohl genügt, das Handy, ob es dich glücklich machen wird«, bemerkte ich langsam. Merve begann sofort zu weinen und konnte gar

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Merve

nicht mehr aufhören. »Ich hasse mein Leben«, sagte sie schließlich. »Du rennst davon«, bemerkte ich. Merve nickte ernst: »Ich muss da weg, ich kann nicht mehr. Ich will das Handy auch nicht. Doch, ich will es, aber ich will es auch nicht.« Ich: »Es gefällt dir nicht, dass es an Bedingungen geknüpft zu sein scheint.« Sie: »Meine Mutter erpresst mich, ich hasse sie, aber ich liebe sie auch, ich bin völlig verrückt.« Ich: »Ich glaube nicht, dass das verrückt ist, jemanden gleichzeitig zu lieben und zu hassen.« Merve sah mich erstaunt an: »Sie denken also, das geht, ich weiß nicht, ob das geht.« Merve entschied sich, es mit der Therapie, einer 25-stündigen Kurzzeitbehandlung, zu probieren. »Immerhin bekomme ich dann das Handy«, äußerte sie mit einem diabolischen Grinsen. Sie kam stets pünktlich zu ihren Stunden, die sie in einer spontanen Weise zu nutzen begann. »Am Wochenende war ich wieder bei meinem Vater. Ich habe aufgeräumt und gekocht für uns«, begann sie eine Stunde. Ich, erstaunt: »Da scheint es eine Merve zu geben, die ich noch gar nicht kenne.« Sie: »Bei meinem Vater ist alles anders. Er lässt mich nicht weg, er ist ziemlich streng. Ich muss ihm auch helfen, er hat ja nur mich. Er ist ganz allein in Deutschland.« Ich nickte, und wir waren für eine Weile still. »Mein Vater hasst meine Mutter«, warf sie plötzlich in den Raum. Ich: »Schwer, sehr schwer für dich.« Sie: »Ich bin es gewohnt. Es war schon immer so. Er ruft auch dauernd an und dann spricht er auf unseren Anrufbeantworter. Er sagt sehr, sehr böse Worte über sie, ich will sie nicht wiederholen.« Ich: »Was du dann wohl denkst?« »Frau Langer, ich denke nichts, da kann man nichts machen und denken. Sie haben das doch gesagt, dass man jemanden gleichzeitig lieben und hassen kann, und genauso ist es bei mir.« Merves Eltern hatten sich in einem Türkeiurlaub der Mutter kennengelernt und verliebt. Der Vater, ein Türke, kam bald darauf nach Deutschland. Merve wurde geboren. Die Beziehung der Eltern entwickelte sich aufgrund der ausgeprägten Eifersucht des Vaters schwierig. Die Mutter trennte sich von ihm, als die Patientin zwei Jahre alt war. Seither verfolgte er die Mutter mit beleidigenden Anrufen. Merve sah ihren Vater regelmäßig zweimal pro Woche. Ich erlebte die Patientin als hin- und hergerissen zwischen ihren zerstrittenen Eltern. Ich wurde während der Stunden zur Zeugin ihrer schweren Überforderung, die sie spontan abzuwerfen schien, wenn sie mit Jugendlichen durch die Straßen zog. Ich verstand, dass sie eigentlich nie Kind hatte sein können und von Beginn an die Mediatorin der zerstrittenen Eltern gewesen war. Sie führte sozusagen ein Doppelleben. Dem Vater suchte sie eine gehorsame Tochter zu sein und wurde dabei in einer sie überfordernden Weise sehr erwachsen mit allem, was sie für ihn bedeutete. Der Mutter lief sie davon. Gar nichts konnte sie davon abhalten, nachts aus dem Fenster zu steigen und durch die Straßen

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Fünf Behandlungen wiederkommender Patienten, in denen neuer Spielraum entstand

zu ziehen. Während der Behandlung verliebte sie sich in einen älteren Jungen, der bereits eine Gefängnisstrafe verbüßt hatte. Er interessierte sich nur mäßig für sie. Auf den Spuren ihres Vaters, so schien es mir, verfolgte sie diesen Jungen. Je geringer die Aussicht erschien, ihn zu erreichen, umso mehr verstärkte sie ihr hoffnungsloses Unterfangen. »Ich liebe ihn. Ich denke Tag und Nacht an ihn«, sagte Merve. »Ich weiß manchmal wirklich nicht, was er über mich denkt, denn oft ist er gar nicht da, wenn wir uns verabredet haben.« Ich: »Das muss enttäuschend sein.« Sie: »Ja, ja, aber ich gebe nicht auf.« Ich: »Als ob du ohne ihn nicht mehr leben könntest.« Tränen schossen in ihre Augen. Es deutete sich schnell an, dass die Mutter mit dem Tempo der Behandlung nicht einverstanden war. Sie hatte sich mehr erhofft und beschloss schließlich, Merve in einem Internat unterzubringen. Die Patientin und ich hatten 25 Stunden miteinander verbracht. Merve weinte bitterlich, als wir uns verabschiedeten. Sie sagte: »Ich glaube es nicht, ich kann und will es nicht glauben, dass ich gehen muss, dass es wirklich geschieht. Frau Langer, ich halte mich fest an dem Gedanken, dass ich nächste Woche wiederkommen werde, hierher, zu Ihnen.« »Ach, Merve«, erwiderte ich, »ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Es geht so schnell und es ist wirklich traurig, aber es ist jetzt, wie es ist. Deine Mutter hat ihre Entscheidung getroffen und wir müssen uns verabschieden.« Ich kam mir dumm und hilflos vor, als ich das sagte. Merve: »Frau Langer, wir werden uns wiedersehen.« Darstellung des zweiten Behandlungszeitraumes

Nahezu fünf Jahre später rief mich die Patientin an. Sie war inzwischen fast 18 Jahre alt und vor einem halben Jahr aus dem Internat zurückgekehrt, in dem die Mutter sie untergebracht hatte, als unsere erste Begegnung vorzeitig endete. »Hier ist Merve, ich weiß gar nicht, ob Sie sich an mich erinnern, ich war schon mal bei Ihnen.« »Ja, ich weiß schon, Merve, ich erinnere mich gut«, erwiderte ich. Sie: »Das ist gut, das ist sehr gut, ich muss nämlich noch einmal kommen. Ich kann nicht mehr.« Wir vereinbarten einen baldigen Termin. Seit sie im Sommer vor einem Jahr aus dem Internat zurückgekommen war, fühlte sich die Patientin, so erfuhr ich dann in der ersten Sitzung, extrem verunsichert, häufig von depressiven Gefühlen geplagt. In der Schule hatte sie große Leistungsrückstände und fühlte sich zumeist dumm und von den Mitschülern argwöhnisch beäugt, insgesamt in einem Zustand permanenter Überforderung. Die Beziehung zur Mutter war bis zum Äußersten gespannt, es gab unablässig Streit um Geld und Pflichten. Ich erkannte Merve sofort wieder, als sie die Treppe hochkam. Sie sah betörend schön aus und ich erinnerte mich, dass ich bereits vor fünf Jahren oft empfunden hatte, dass da eine Schönheit heranwuchs.

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Merve

»Ich bin so froh, dass ich Sie gefunden habe«, sagte die Patientin, »Sie sind ja nicht mehr da, wo wir damals waren«, und begann bitterlich zu weinen. Sie weinte die ganze Stunde durch und verbrauchte mehrere Packungen von Taschentüchern, die ich ihr reichte. Ich dachte für mich: »Als knüpfe sie unmittelbar an unsere letzte Stunde an.« Unter Tränen berichtete sie mir: »Ich bin ja damals sofort ins Internat gekommen, ich habe es bis zum Schluss nicht glauben können, es war ganz furchtbar, wie einsam ich war und meine Mutter verflucht habe. Aber es ging dann, langsam ging es. Dort war irgendwie eine ganz andere Welt. Wir haben mit unserem Lehrer zusammengelebt und Du zu ihm gesagt. Ehrlich gesagt, gelernt habe ich nicht, aber ich war immer gut im Unterricht und hatte Spitzennoten und wenn ich etwas nicht wusste, konnte ich meinen Lehrer jederzeit ansprechen.« Ich: »Du vermisst das Internat.« Sie: »Nein, nein, ich habe immer nur darauf gewartet, dass ich zurückkann, ich habe mich die ganze lange Zeit über zurückgesehnt. Da ist auch noch was. Ich habe, kurz nachdem ich dort war, angefangen zu kiffen, ich habe immer mehr gekifft, manchmal habe ich nichts anderes gemacht. Das war da so. Alle haben es gemacht.« Ich: »Vielleicht fühlte man sich dann nicht mehr so einsam.« Merve nickte ernst und sagte, sie sei eigentlich jahrelang betäubt gewesen. Sie starrte mich lange schweigend an. Ich: »Du hast deine Mutter vermisst. Du hast nicht verstanden, warum du gehen musstest.« Sie: »Ich musste sie auch überreden, dass ich die Elf jetzt zu Hause machen kann. Frau Langer, es geht mir schlecht. Ich lache und weine gleichzeitig, ich weiß gar nicht, wer und wo ich bin, und ich habe Angst, ich fange wieder an zu kiffen. Ich halte es nicht aus, das ganze Leben, ich halte es nicht aus.« Merves Verzweiflung berührte mich stark. Es war, als sei die Zeit stillgestanden, als hätte ich sie erst gestern verabschiedet. Merve war der Mittelpunkt, der Augenstern ihrer sich bekämpfenden Eltern gewesen. Darüber dachte ich noch einmal nach. Für beide Elternteile hatte sich alles um sie gedreht, um den Kampf um sie. Schon früh war die schwer überforderte Patientin zur scheiternden Mediatorin ihrer Eltern geworden. Bis zum zwölften Lebensjahr hatte es keinerlei Auseinandersetzungen mit der Mutter gegeben. Dem Vater hatte die Patientin die Partnerin zu ersetzen, ihn in seiner Einsamkeit im fremden Land zu trösten versucht. Sie war über ihre gesamte Kindheit hinweg der einzige Mensch gewesen, der ihm etwas bedeutet hatte. Im Alter von 13 hatte die Patientin herumzustreunen begonnen. Sie hatte gegen sämtliche Gesetze ihrer Mutter aufbegehrt, die Schule oft nicht besucht. In dieser Zeit hatte ich sie kennengelernt. Sie hatte auf mich wie ein Mensch gewirkt, der voller Leidenschaft alles von sich werfen und davonlaufen will, gleichzeitig jedoch unendlich bedürftig ist. Sie hatte damals ganz sicher nach

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einem Weg gesucht, der Last der sie umklammernden Eltern zu entkommen. Es hatte mich beeindruckt, wie unverstellt und offen sie den therapeutischen Raum, das Dritte hatte nutzen können, sie hatte sich in die Therapie gestürzt, als sei sie am Ertrinken. Als ich die Patientin nach fast fünf Jahren wiedersah, kam es mir vor, als sei die Zeit stehengeblieben, während sie die erzwungene Trennung von ihrer Mutter, die auch eine Trennung von mir gewesen war, im Internat in einem Zustand des Betäubtseins überlebt hatte. Kaum zurückgekommen flammten die alten Konflikte mit der Mutter auf. Manchmal kam es zu körperlichen Auseinandersetzungen und insgesamt zu einer kaum zu ertragenden Verzweiflung in der Beziehung zwischen Mutter und Tochter. Der Kontakt zum Vater war inzwischen eingestellt, nachdem Merve sich nach ihrer Rückkehr aus dem Internat geweigert hatte, ihre alte Rolle einzunehmen. Es hatte einige Anläufe gegeben, die allesamt gescheitert waren. Die frühe Überforderung der Patientin hatte zu einem Zusammenbruch ihres Ich geführt, der sich in Leistungsschwierigkeiten, tiefer Verunsicherung der Realität gegenüber und dem Gefühl, das Leben nicht mehr meistern zu können, äußerte. Wie schon vor fünf Jahren war es schwer, eine langfristige Perspektive mit der Patientin zu planen, schien diese doch unbewusst die gefürchtete Separation abzuwehren. So war es zunächst nötig, mich erneut mit wenig zu begnügen und alles Weitere dem Behandlungsverlauf zu überlassen. Wie schon einmal, beantragte ich 25 Stunden für sie. Es begann eine Phase von Stunden, in denen die Patientin, kaum hatte sie Platz genommen, zu weinen begann, heftig und bitterlich. Ich hatte das Gefühl, dass etwas Wichtiges geschah, das wenig mit Worten zu tun hatte. Merve suchte einen Raum für ihre Tränen, ihre Überforderung, ihr Scheitern. Täglich stritt sie mit der Mutter um Geld, das ihr nie genug war. Hinzu kam, dass die Mutter, dem altbekannten Modus folgend, Merve mit Geschenken manipulierte und erpresste. Merve: »Ich nehme alles, was ich kriegen kann. Ich verspreche alles, was ich nicht halten kann. Sie hält mich so kurz.« Ich: »Als ob sie dich verhungern ließe.« Merve: »Ich muss mich verbiegen, bis ich mich ekle vor mir selbst, und ich hasse mich und sie dafür. Aber mir ist alles egal, ich nehme alles, was ich kriegen kann.« Ich: »Wie damals das Handy.« »Welches Handy?« Sie sah mich ratlos an, dann schrie sie auf: »Das Handy! Sie hat mich damit erpresst, zu Ihnen zu kommen«, und brach in verzweifelte Tränen aus. Mehrfach rief mich die Mutter in dieser Zeit an, selbst völlig überfordert. Ich erklärte ihr jeweils geduldig, dass ich nicht mit ihr sprechen könne ohne Merves Einverständnis. Dieses aber gab die Patientin nicht. »Ich mache das dieses

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Mal allein«, äußerte sie unvermittelt. Nachdem sie mit Mühe und Not in die zwölfte Klasse versetzt worden war, brach sie gleichsam zusammen. »Ich kann das nicht, ich schaffe das nicht, die Zwölf schaffe ich nicht. Ich weiß es schon jetzt, ich kann mich nicht mehr konzentrieren, ich komme immer zu spät und, Frau Langer, ich muss Ihnen etwas Schreckliches sagen, ich kiffe wieder. In den Sommerferien habe ich wieder damit angefangen.« Ich: »Als hätte ich dich in den Ferien ins Internat geschickt.« Merve nickte: »Die Stunden haben mir gefehlt, es war auch so lange, sechs Wochen.« Ich wurde zur Zeugin ihres Zusammenbrechens. Sie ging oft nicht in die Schule, vor allem dann nicht, wenn Arbeiten geschrieben wurden. Sie hatte einen Jungen kennengelernt, mit dem sie so oft kiffte, dass sie am Morgen nicht mehr aufstehen konnte. »Merve, ich kann das merken, du bist am Ertrinken, du gehst unter, du bist gar nicht mehr da, du schleppst dich betäubt durchs Leben, als wärst du noch im Internat.« »Aber ich schaffe das nicht, ich schaffe das nicht. Ich ahne, sie werden mich rausschmeißen in der Schule«, begann sie zu schluchzen. Sehr ernst sagte ich und gab mir erst später Rechenschaft über meine spontane Intervention, in der ich, so sah ich das im Nachhinein, das väterliche Element einzuführen suchte: »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Das bist jetzt du, du musst hingehen, das Kiffen reduzieren. Ich sehe, wie du untergehst.« Merve, weinend: »Aber ich will ja, und dann plötzlich vergesse ich meine Nachhilfe und dass wir eine Arbeit schreiben. Morgen schreiben wir Englisch, da bin ich eigentlich gut, aber ich bin nicht vorbereitet und mein Freund will mich heute noch sehen, da kann ich nicht Nein sagen.« Ich: »Warum nicht?« Sie: »Er tut alles für mich, das kann ich ihm nicht antun.« Ich: »Merve, du willst ertrinken und untergehen, du willst deinem Freund nicht sagen: ›Heute ist es wichtig für mich zu lernen.‹« Sie: »Ich habe auch Angst, er verlässt mich.« Ich: »Du bist dabei, dich selbst zu verlassen, als ob du dir gar nichts mehr wert wärst. Das ist ganz sicher nicht er, der dich verlassen will, so viel habe ich inzwischen verstanden.« Nach dieser Stunde begann die Patientin zu kämpfen. Sie war oft völlig verzweifelt darüber, kaum noch etwas anderes machen zu können, als zu lernen, denn es war wirklich viel, was sich angestaut hatte. In jeder Stunde berichtete sie mir von ihren Erfolgen, die die Misserfolge zu überwiegen begannen. Ich hatte das Gefühl, es kostete sie eine unglaubliche Kraft, aber sie tauchte langsam auf, konnte ihr Gesicht nun über Wasser halten. »Das ist unglaublich schwer für dich«, bemerkte ich oft, »aber es ist auch wunderbar, als ob du wieder leben und dich retten willst.« Merve: »Zum Kiffen komme ich gar nicht mehr, manchmal am späten Abend, selten, sehr selten.« Der Lehrer von Merve hatte mich kurz zuvor angeschrieben, er wünsche sich einen Rat, wie er mit seiner Schülerin, die oft im Unterricht weine und viele Stun-

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den versäumt habe, umgehen solle. Er fragte mich, ob eine Beurlaubung nicht sinnvoll sei. Ich schrieb ihm, dass Merve dabei sei, sich zu strukturieren, und dass sie dazu des Schulbesuches dringend bedürfe, des Rahmens ihrer Schule, auch dann, wenn sie ihn nicht immer einhalten könne. Ich führte aus, dass es gerade jetzt wichtig sei, Merve einen strukturierenden Ort zur Verfügung zu stellen und sie keinesfalls zu beurlauben. Und sollte sie das zwölfte Schuljahr nicht schaffen, so sei es umso wichtiger, ihr die Möglichkeit zu geben, dieses zu wiederholen. In dieser Zeit verlängerte ich die Behandlung der Patientin. Merve: »Ich muss weiter zu Ihnen kommen, unsere Stunden sind gut für mich, das kann ich merken.« Ich dachte für mich: »Nun trifft sie eine Entscheidung. Sie macht sich auf den Weg.« Es begann eine Zeit der Wellenbewegung. Merve drohte unterzugehen und kämpfte darum, wieder aufzutauchen. Sie wurde täglich aus der Bahn geworfen und fing sich wieder ein. Sie schrie und tobte, wenn sie sich nicht verstanden fühlte von Mutter und Freund, warf mit Gegenständen umher. Einmal bemerkte ich, als sie mir von ihrer Raserei berichtete: »Merve, du machst dich zur Verrückten. Ich verstehe, du fühlst dich oft nicht anerkannt und verstanden, das ist ein wirklich altes Thema, in dem du immer wieder zu ertrinken drohst. Die Wellen schlagen zusammen über dir, du willst, dass man dir etwas gibt, dass man dir endlich alles, alles gibt, als ob du sonst ertrinken wolltest.« Sie, verzweifelt: »Frau Langer, Sie glauben nicht, wie ich mich mühe und mühe. Manchmal kann ich nicht, dann kann ich wieder. Ich versuche, mich aufrechtzuerhalten, nicht unterzugehen in meiner Wut, dann wieder will ich ertrinken.« Eine erstaunliche Entwicklung begann. Ich sah sie nicht vorher. Der Freund der Patientin, der ihr immer beigestanden hatte, sie zu trösten, zu halten gesucht hatte, kam aufgrund von heftigem Drogenkonsum in große Schwierigkeiten in seiner Schule und brach förmlich zusammen. Es war Merve, die für ihn da zu sein begann. Sie hörte auf, das irre, ausflippende Mädchen zu sein. Sie genoss es, dass sie es jetzt war, die ihre schulischen Aufgaben bewältigen konnte und ihrem Freund half, seine Pflichten zu erledigen. »Er hat jetzt auch aufgehört mit dem Gras«, berichtete sie mir strahlend. Sie benötigte die Taschentücher in unseren Stunden nicht mehr, die sie lange vollgeweint hatte. Die Zeichen hatten sich umgekehrt. Merve, die Ertrinkende, zog ihren Freund aus den Wellen, die über ihm zusammenzuschlagen drohten, holte ihn in die Welt zurück, hing der Realität an. Sie sah plötzlich richtig gesund aus, die Augenringe schwanden. Ihre Gesichtszüge schienen sich zu klären. Damit einhergehend gewann sie eine neue Fähigkeit der Wahrnehmung und Analyse. Sie war unglaublich stolz darauf, mir berichten zu können, dass ihre Lehrer nun nicht mehr davon sprachen, dass sie die zwölfte Klasse würde wiederholen müssen, und sie stattdessen ermunterten, ihre neuen Fähigkeiten auszubauen.

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»Ich habe viel nachgedacht«, äußerte sie, »komisch, zu welchen Schlüssen ich komme. Ich will die Geschenke meiner Mutter nicht mehr. Ich komme plötzlich mit meinem Geld aus, ich habe immer etwas übrig. Letzte Woche gab es einen großen Konflikt mit meiner Mutter. Sie hat mit meiner Freundin über mich gesprochen, wie schwer es mit mir ist, dass ich so viel Zeit mit Matheo verbringe. Ich war so wütend, ich habe kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Sie überschreitet ihre Grenzen, das geht sie gar nichts an. Dann hat sie mir plötzlich angeboten, mit ihr einkaufen zu gehen, und ich habe Nein gesagt. Frau Langer, ich brauche das gar nicht mehr, ich habe genug. Was ich mir aber wünsche, ist, dass meine Mutter mich begreift, dass sie sehen kann, dass ich gar nicht so viel brauche, aber dass sie mich versteht, dass sie versteht, dass sie oft nicht da war für mich, dass sie immer so beschäftigt war mit ihrer Arbeit, dass sie mich gar nicht sehen konnte.« Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Ich erkannte: »Nun steigt sie aus dem perversen, zerstörerischen Erpresser-Modus aus.« Merve aber fuhr fort: »Ich bin manchmal so verzweifelt darüber, dass sie das nicht begreifen kann. Ich brauche ihre Geschenke nicht und habe sie nie gebraucht. Ich habe auch das Gefühl, ich kann ihr das nicht wirklich vermitteln, und ich habe darüber nachgedacht, ob Sie mit ihr sprechen könnten und etwas sagen, was ich nicht sagen kann, was sie von mir nicht versteht.« Ich: »Du denkst darüber nach, ob ich nun doch mit deiner Mutter sprechen soll.« Sie: »Ich werde meiner Mutter sagen, dass sie nun mit Ihnen sprechen kann.« Es kam aber anders. Merve berichtete mir in ihrer nächsten Stunde, sie selbst habe mit der Mutter sprechen können, und zum allerersten Mal habe sie das Gefühl, etwas ausgesprochen zu haben. »Ich weiß nicht, ob es reicht«, fuhr sie fort, »aber es ist ein Anfang und ich will es selbst versuchen. Komisch, ich traue mir plötzlich so viel zu. Sie wissen das ja, manchmal weiß ich nicht, ob ich meine Mutter liebe oder hasse, und ich erinnere mich noch daran, dass Sie vor vielen Jahren gesagt haben, das geht, einen Menschen gleichzeitig lieben und hassen.« »Merve, du wirst wirklich erwachsen, ich komme gar nicht mehr mit«, bemerkte ich lächelnd. »Frau Langer, ich will das jetzt«, sagte Merve, und ich sah, sie weinte und lachte zugleich. »Meine Mutter«, fuhr sie fort, »ich werde nicht aufhören können sie zu lieben, auch wenn sie manchmal komisch ist.« Wie ein Blitz schoss es durch meinen Kopf: »Was wird aus deinem Vater, Merve? Existiert er noch? Ist das der Preis, ist er nun ausgelöscht?« Merve, in ihrer neuen, ruhigen Art, sprach weiter, als nähme sie an meinen Gedanken teil: »Ich denke in der letzten Zeit wieder oft an meinen Vater und ich bin sicher, ich werde ihn wiedersehen. Ich weiß nicht, wann das sein wird. Sie wissen ja, mein Vater ist schrecklich, aber da sind auch so viele gute Erinnerungen. Manchmal war er ein wunderbarer Vater.« Ich: »Ich kann das verstehen, manchmal sehnst du dich nach ihm.« Sie:

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»Sehr, sehr, aber ich habe auch Angst. Ich weiß nicht, ich bin noch nicht stark genug. Es wird noch dauern, und trotzdem bin ich sicher, wir werden uns wiedersehen.« Ich dachte in dem Moment: »Sie hat recht. Merve wird es schaffen. Sie ist richtig gut im Halten der inneren Bilder. Ist sie nicht nach vielen Jahren unvermutet zu mir zurückgekommen? Hat sie nicht angeknüpft an die alte Zeit?« »Warum ist das eigentlich so, Frau Langer«, fragte sie mich einmal, »dass ich früher, als ich noch klein war, als alles richtig schlimm war, als mein Vater täglich ausgerastet ist, weil er meine Mutter hasste, so ruhig sein konnte und alles für selbstverständlich nahm? Warum bin ich erst viel später so verrückt geworden, eine wirklich Irre manchmal, die alles kaputt schlagen will?« Ich: »Du hast recht, da ist etwas, was damals nicht sein durfte, es gab einfach keinen Raum dafür, und du hast alles geschafft, bis du es nicht mehr aushalten konntest, damals, als ich dich kennenlernte und du nur noch weglaufen wolltest. Und auch dann, als du zurückkamst zu mir, ich dachte: ›Nun explodiert es erneut und Merve erwacht aus einer langen, schrecklichen Betäubung und Einsamkeit im Internat.‹« Merve: »Es ist besser, es ist viel besser geworden. Ich merke es, ich kann mich anhalten in meiner Wut. Ich bin nicht mehr so verrückt. Und trotzdem, ist es nicht merkwürdig, mit was ich mich quäle nach dieser langen Zeit?« Ich: »Da ist etwas, es darf jetzt sein, was niemals sein durfte. Es gehört in die alte Zeit deiner Verzweiflung und Überforderung, als könntest du jetzt erst etwas fühlen davon, wie bedürftig und hilflos du warst.« Merve sah mich lange an und bemerkte schließlich: »So habe ich noch nicht darüber nachgedacht.« Manchmal dachte ich, dass sie nun von ihrem Augenstern-Dasein profitiere, dass sie das könne. Da war etwas gewesen, was ihre zerstrittenen Eltern ihr jeweils für sich trotz ihrer Merve bedrängenden, über sie hinwegfahrenden Weise hatten geben können. Merve hatte zu halten vermocht, was ihr gegeben worden war. Sie filterte, sich ihrer wachsenden analytischen Fähigkeiten bedienend, nun die sie bereichernde Liebe ihrer Eltern, die ihr zuteil geworden war, aus dem zerstörerischen Hass heraus, der alles vergiftet hatte. Merve machte wirklich viel aus ihrem Schicksal. Nachdem wir uns verabschiedet hatten, wenn alles still war, hörte ich sie sprechen: »Frau Langer, Sie hatten recht, man kann das, ich kann das, meinen Vater und meine Mutter gleichzeitig lieben und hassen.« Abschlussbetrachtung des Behandlungsverlaufs insgesamt

In all ihrer Verlorenheit zwischen den früh zerstrittenen Eltern besaß diese Patientin eine Fähigkeit zu lieben, die stärker war als ihr Wunsch, unterzugehen in Hass und Wut. Es war nicht, wie es hätte sein sollen. Von Anfang an war es nicht so gewesen. Merve übertraf ihre Eltern in der Fähigkeit, das Gute zu

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halten, bei weitem und war einer Überforderungssituation stets nahe. Fast wäre sie ertrunken. Sie hatte sich festgehalten an einem alten Satz von mir, der sie in der ersten Sitzung der ersten Behandlung überrascht hatte und eine Bedeutung enthielt, nach der sie sich gesehnt haben mochte. Der Satz: »Man kann einen Menschen gleichzeitig lieben und hassen«, besaß eine Perspektive, die Merve in den wiederkehrenden Zuständen ihrer Verwirrtheit aufgreifen konnte. Er wurde zu einem Band, das es ihr ermöglichte, mich erneut aufzusuchen. In der wiederaufgenommenen Behandlung entwickelte sie sich an diesem Satz entlang. Merve, das verlorene, sich betäubende Mädchen fand eine Art von eigener Gestaltung der depressiven Position. Sie nutzte den Rahmen, den ich ihr bieten konnte, leidenschaftlich, mobilisierte, und das war wirklich schwer, all ihre Kraft, all ihre Ressourcen, um zu bestehen, sich zu strukturieren, und machte mich zur Zeugin dieses beeindruckenden Vorgangs. In dieser Behandlung war ich zum allergrößten Teil Zeugin gewesen. Es gab eine einzige Szene in der Mitte der zweiten Behandlung, als Merve nach einer langen Ferientrennung von sechs Wochen am Ertrinken war, als ich sie, so verstand sie das unbewusst, ins Internat geschickt hatte, da schoss es aus ihr direkt in der Übertragung zu mir heraus, dass sie zu ihrem Freund gesagt habe, nun habe sie heute wieder einen Termin bei der »Tussi«. Sie versuchte es rückgängig zu machen, aber ich hatte es gehört. »Frau Langer, Entschuldigung, ich rede halt manchmal so drauf los. Entschuldigung, Entschuldigung.« Ich: »Du warst schon sauer. Ich habe diese langen Ferien gemacht, dich alleingelassen, eine Tussi, die nichts weiß von dir und ihr eigenes Ding macht.« Sie: »Aber ich weiß doch, dass das gar nicht stimmt, Sie glauben gar nicht, wie wichtig mir unsere Stunden sind.« Ich: »Ach Merve, das weiß ich schon, und trotzdem, manchmal ist das so, es ist nicht genug und vielleicht war es wichtig, sehr wichtig, dass du auch auf mich einmal schwer sauer sein und alles infrage stellen konntest.« Merve, in ihrer hellen und klugen Weise, sagte unter Tränen: »Sie haben recht, auch wenn ich es nicht haben will, manchmal denke ich böse über Sie. Manchmal will ich alles kaputt machen und sagen: ›Lass mich in Ruhe, ich kann und will nicht mehr.‹« Ich: »Wäre es nicht auch sonderbar, wäre ich nicht eine Heilige, die ich nicht bin, wenn du das nicht auch über mich denken könntest?« Merve: »Eine Heilige, komisch, manchmal waren Sie das für mich, lange, lange, dann auch wieder nicht, und komisch, es ist gut, dass Sie einfach so sind, wie Sie sind.« Der Rahmen der ersten Behandlung Merves war geprägt gewesen von der Manipulation der Mutter, die die Tochter erst erpresste, eine Therapie zu machen, und sie dann nach 25 Stunden zwang, diese zu beenden. In meinen Gesprächen mit der Mutter entstand kein Spielraum. Sie erschien mir wie gefangen in dem Wunsch, die Tochter, die sie unbewusst zu verlieren fürchtete, zu kontrollieren.

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Insofern ist es kein Zufall, dass Merve erst so viele Jahre später wieder zu mir kam, als sie, fast erwachsen, den Rahmen der Behandlung allein setzen konnte. Dass sie zunächst, genau wie in der ersten Therapie, nur 25 Stunden wünschte, sich dann aber tiefer einlassen konnte und die Behandlung verlängerte, verdankte sich dem Anwachsen ihrer autonomen Bestrebungen, aber auch ihrem inneren Spielraum insgesamt.

Sandro, sieben Jahre – Grund der Anmeldung: Unfähigkeit, sich zu wehren (1. Behandlungszeitraum: 180 Stunden, zweimal wöchentlich eine Stunde; 2. Behandlungszeitraum, ein Jahr später: 70 Stunden, zweimal wöchentlich eine Stunde, 20 Stunden, einmal wöchentlich eine Stunde; 270 Stunden insgesamt) Nach den Erstgesprächen hörte ich zunächst eineinhalb Jahre lang nichts mehr von Sandros Mutter und Sandro. Dann meldete die Mutter sich wieder bei mir und Sandro kam zu mir in die Behandlung. Nach 180 Stunden analytischer Psychotherapie verabschiedete sich der inzwischen fast 13-Jährige von mir. Ein Jahr später meldete Sandros Mutter Sandro, der gerade erst 14 Jahre alt geworden war, erneut an. Darstellung des ersten Behandlungszeitraumes

Ich sah Sandro zum ersten Mal, als er sieben Jahre alt war. Die Szene steht mir noch deutlich vor Augen: Er malte, kaum hineingekommen in meinen Raum, ein Bild von Pflanzen und Bäumen, die nahezu vertrocknet waren, ganz dünn und gelb. Seine Begabung zur Gestaltung war wirklich groß. Mir stockte der Atem, es war furchtbar für mich, diese vertrocknete Welt. Aber ich schwieg, es fiel mir kein einziges Wort ein. Dann bemerkte ich erst, dass Sandro weitermalte. Ich atmete auf. Er malte eine große Gestalt mit einer Gießkanne, sie wässerte die Pflanzen und Bäume. Ich dachte sofort: »Das bist jetzt du, du sollst ihm Wasser geben, er dürstet, er kann und kann nicht mehr.« Dann begann er von einem Film zu erzählen, »Nemo«, von einem Fisch, der seinen Vater verlor und ihn schließlich wiederfand. Ich hatte diesen Film selbst gesehen und erinnerte mich an die dramatische, niemals aufgebende Suche des Vaterfisches nach Nemo. Sandro war in desolate Verhältnisse hineingeboren worden. Seine Mutter hatte vier Kinder von drei verschiedenen Vätern, von denen sie allesamt

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Sandro

geschlagen worden war. Sandro war das jüngste ihrer Kinder. Er hatte seinen Vater nie kennengelernt, die Mutter hatte sich, als sie schwanger war, von ihm getrennt. Der Patient wuchs mit der Mutter und deren neuem Lebensgefährten auf, der stark trank und die Mutter wie alle vorhergegangenen Männer körperlich bedrohte. Sandros Geschwister waren früh ausgezogen. Sandros Mutter war bis zu ihrem fünften Lebensjahr in einem Heim aufgewachsen und dann adoptiert worden. Als ich sie zum ersten Mal sah – der siebenjährige Sandro wurde in seiner Grundschulklasse geschlagen –, berührte sie mich in einer sehr eigenen Weise. Sie hatte sich mit ihren drei älteren Kindern (Sohn, 20 Jahre alt; Sohn, 19 Jahre alt; Tochter, 18 Jahre alt) vollkommen überworfen. Diese Kinder hassten sie und die Mutter hasste diese Kinder. Darüber war gar nicht mit ihr zu sprechen. Gleichzeitig öffnete sie sich in der ihr eigenen, mich beeindruckenden Weise, als sie über ihre furchtbaren Erfahrungen im Waisenhaus, wo sie geschlagen worden war, sprach. Sie hatte eingenässt und man hatte ihr die nassen Laken ins Gesicht geschlagen. Es waren immer Menschen ins Waisenhaus gekommen, die ein Kind gesucht hatten. Sie schilderte, wie sie versucht hatte, brav zu sein und wie sie sich danach gesehnt hatte, mitgenommen zu werden. »Ich habe gedacht, ich will nicht sterben hier, ich will hier raus, ich betete zu Gott, dass er mir jemanden schicken würde, der mich mitnähme. Und ja, ich fand meine Mutter, meinen Vater, noch heute danke ich Gott dafür. Mein Vater ist schon lange tot, aber meine Mutter, sie ist immer, immer für mich da. Und ich weiß ja, ich habe es ihr schwer gemacht. Ich wurde böse, ich wollte nur noch mein Ding machen und es erstaunt mich noch heute, meine Mutter, sie hielt immer, immer zu mir. Und Frau Langer, ich sorge mich um mein Kind, um Sandro. Ich weiß, ich war oft nicht richtig da für ihn, es ging mir oft schlecht, er schrie und ich konnte ihn nicht aufnehmen, aber es zerriss mir das Herz. Bitte, bitte helfen Sie mir, ich will versuchen, ihm eine gute Mutter zu werden.« Ich empfahl der Mutter die Beantragung einer Familienhilfe. Ich empfand stark, dass sie konkrete Hilfe benötigte, um Sandro einen Entwicklungsraum zur Verfügung zu stellen. Ich sagte, dass diese Hilfe mir helfen werde, Sandro zu behandeln. Die Mutter beantragte die Hilfe. Das Jugendamt schrieb mich an und ich gab Auskunft über den Handlungsbedarf. Nach den Erstgesprächen hörte ich eineinhalb Jahre lang gar nichts mehr. Als Sandro die dritte Grundschulklasse besuchte, er war inzwischen knapp neun Jahre alt, rief mich die Mutter erneut an. Folgendes war geschehen: Die älteren Geschwister Sandros hatten in einem geheimen Rachefeldzug dem Jugendamt gemeldet, dass die Mutter alkoholkrank sei und sich von ihrem Lebensgefährten schlagen lasse. Das Jugendamt hatte Sandro in einer Nacht-

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und Nebelaktion aus der Schule geholt und in ein Heim gebracht, in dem er drei Monate zugebracht hatte. In dieser Zeit hatte die Mutter, einer Löwenmutter gleich, um ihren Sohn und gegen ihre älteren Kinder gekämpft. Sie hatte einen Anwalt eingeschaltet, der von ihrer Adoptivmutter bezahlt worden war und ihren jüngsten Sohn aus dem Heim heraus und wieder zu sich bekommen. Im Anschluss war sie umgezogen und hatte den Ort ihres Aufenthaltes verborgen, alles mit Hilfe ihrer Adoptivmutter, und nun bat sie mich, Sandro erneut zu sehen. Es gehe ihm schlecht, sehr schlecht und mit dem Jugendamt wolle sie nun niemals wieder zu tun haben, sie hätten ihr ihren Sohn genommen, aber, sie könne das fühlen, nun brauche er Hilfe, und da sei nur ich, der sie sich anvertrauen wolle. Ich fühlte mich sofort sehr schuldig. Das Jugendamt, das ich empfohlen hatte, hatte ihr das Kind genommen. Es verwirrte mich, dass sie mich auszunehmen schien von den Verfolgern und zu mir kam. Darüber dachte ich lange nach. Ich stellte mir noch einmal unsere erste Begegnung vor, wie ich sie nicht hatte erreichen können in ihrem Hass auf die älteren Kinder, aber dennoch intuitiv etwas von ihr verstanden hatte. Es hatte mir gefallen, wie sie sich für Sandro eingesetzt hatte. Ich hatte die Löwenmutter geahnt, die ihn zurückholte, den Verfolgern entriss. Ich hatte verstanden, dass sie ihrem jüngsten Sohn etwas geben wollte, was ihr erst spät zuteil geworden war: die Hilfe ihrer Adoptiveltern. Sie hatte mich stark in ihrem Hass und ihrer Liebe berührt. Sie war in ihrem Unglück sehr präsent gewesen. Sandro kam dann zu mir in die Behandlung. Er war sehr leise, bewegte sich kaum, sprach nicht. Manchmal schaute er mich an, verloren in seinen Gedanken. Ich war mir sicher, dass er mich wiedererkannte. Manchmal sprachen wir von früher, von Nemo. Es dauerte einige Monate, bis er bereit war, mir vom Heim zu erzählen: »Sie haben mich in der Schule abgeholt und in das Heim gebracht. Ich habe kein Wort gesprochen, ich habe überhaupt nicht gesprochen.« »Es muss furchtbar gewesen sein, du musst darüber nachgedacht haben, ob du deine Mutter jemals wiedersiehst«, sagte ich atemlos. Sandro: »Ich habe das nicht gewusst, ich dachte, ich muss da für immer bleiben. Ich habe auch geweint, am Abend, aber das haben sie nicht gesehen. Dann kam meine Mutter, sie hat gesagt, sie wird mich holen, ich kann mich darauf verlassen. Ich habe da auch einmal, zum allerersten Mal meinen Vater gesehen, sie hatten ihn bestellt, ich war im ersten Stock. Ich habe die Treppe hinuntergeschaut. Sie haben ihn gefragt und er hat gesagt, er habe keine Ahnung, warum ich nun hier sei, dann ging er.« Ich: »Sandro, du hast ihm nachgeschaut.« Sandro: »Ich dachte, komisch, dass er jetzt kommt. Ja, ich habe ihm nachgeschaut, aber ich weiß gar nicht mehr, wie er aussieht, ich habe ihn nur von oben gesehen.«

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Wir schwiegen. Sandro: »Wir sind jetzt auch umgezogen, niemand kennt unsere Adresse, außer der Oma. Ich bin zurückgekommen und dann waren wir in der neuen Wohnung. Meine Mutter hat mein altes Skateboard weggeschmissen, andere Sachen auch. Ich gehe ja auch in eine neue Schule.« Ich: »Ziemlich viel Neues.« Er: »Meine Geschwister haben mir Geschenke gebracht ins Heim.« Ich: »Was du wohl denken magst?« Sandro: »Sie haben meine Mutter angezeigt. Sie hat jetzt Angst, ich auch. Ich weiß gar nicht, warum sie das gemacht haben. Sie waren sehr nett zu mir, auch Noah, mein ältester Bruder, er hat mir eine PlayStation geschenkt.« Ich: »Das ist wirklich verwirrend, die Geschenke. Es wird schwer für dich sein, zu wem du halten sollst, nun.« Sandro: »Keine Ahnung, ich bin aber froh, dass ich jetzt wieder zu Hause bin.« Sandro entwickelte sich in seiner neuen Grundschule gut. Er hatte eine Lehrerin, die ihn mochte, seine Bedürftigkeit spüren konnte und auf ihn aufpasste. Einige Male schützte sie ihn vor Angriffen seiner Mitschüler. Sandro blühte auf, es war, als erholte er sich langsam. Er lernte gerne, hatte gute Noten, bekam eine Realschulempfehlung. Dann wurde alles schwer. Ich hatte es geahnt. Man sah es ihm an, dass er ohne die alte Grundschullehrerin die Schule als einen feindlichen Ort erlebte, als habe man ihn noch einmal in ein Heim gebracht. Ungelenk und eingeschüchtert, wie ein Alien bewegte er sich und fürchtete die Pausen. Mit der Mutter hatte ich darüber nicht sprechen können. Ich hatte gesagt: »Sandro ist in einer Gesamtschule besser aufgehoben, da gibt es Möglichkeiten, ihn aufzufangen, wenn etwas nicht klappt. In einer Realschule herrscht eine eisige Luft, die Erwartungen sind hoch.« Das hatte die Mutter nicht hören wollen. Sie sehnte sich danach, Sandro in einer Realschule zu sehen. Er war begabt in Mathematik, versagte aber in Englisch und Deutsch. Die Mutter, die in dieser Zeit als Putzfrau arbeitete, begriff, als wir darüber sprachen, dass Sandro sehr dringend Unterstützung benötige. Sie bezahlte ihm eine Nachhilfe in diesen Fächern. Sandro blühte noch einmal auf, er ging mit wehenden Fahnen in seinen Nachhilfeunterricht, lernte Englisch und Deutsch und bestand. Es gefiel ihm, er war wirklich gut, er nutzte die ihm angebotenen Möglichkeiten. Aber da waren auch die Ungelenkheit seiner Gestalt, ein Abgehacktsein der Bewegung, eine Aura des sich Verstecken-Wollens, seine Stummheit. Die anderen Kinder mobbten, schubsten ihn. Die Pausen zwischen den Stunden waren eine Qual für Sandro. Ich war mir darüber klar, dass es nicht nur der traumatisierende Heimaufenthalt gewesen war, auf den das alles zurückzuführen sei. Sandro war ja schon eineinhalb Jahre zuvor bei mir angemeldet worden, weil er sich in der Schule nicht zu wehren verstand. Vielmehr war es so, dass der traumatisierende Heimaufenthalt die Identifikation mit dem Heimkind-Dasein seiner Mutter verstärkt

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hatte, der man die nassen Bettlaken ins Gesicht geschlagen hatte. Seiner Mutter, dem Waisenkind, gleich, das durch die Hölle gegangen war, schien er aus allen Rastern zu fallen und nirgendwo hinzugehören. »Sandro, ich habe so oft gedacht, du kannst niemandem mehr vertrauen, seit sie dich damals in der Nacht- und Nebelaktion ins Heim gebracht haben, und auch vorher schon, als wir uns kennengelernt haben, es war auch damals schon schwer genug für dich. Es ist so schwer, einen eigenen Weg zu finden und sich nicht zu verstecken.« Er, ungewöhnlich spontan: »Ich muss das so machen, ich verstecke mich.« Im Anschluss an diese Stunde gingen mir noch einmal die vertrocknenden Pflanzen der allerersten Stunde durch den Kopf und ich erinnerte mich an die Verzweiflung der Mutter, die davon berichtet hatte, dass sie oft nicht in der Lage gewesen war, den kleinen Sandro aufzunehmen und zu trösten. Sandro kam einige Wochen später auf unser Gespräch zurück, er sagte: »Ich habe einen Weg gefunden, ich bin jetzt der Clown. Ich bringe sie zum Lachen, sie mögen das, sie mögen mich, ich kann das machen, dass sie lachen. Und ich bin jetzt auch gut, besser als viele. Ich werfe manchmal etwas hinein in den Unterricht, dann lachen sie. Sie haben aufgehört, mich zu verfolgen. Sie verfolgen jetzt Felix, der weiß nicht, wie das geht.« »Aber Sandro, das muss auch anstrengend sein für dich, als ob du immer aufpassen müsstest«, sagte ich. Sandro sah mich lange an, bevor er sprach, er sagte: »Ich will und muss das machen, sonst geht das nicht, Frau Lang-Langer, ich weiß jetzt, wie das geht, und sonst ist mir alles egal.« Unsere Stunden waren oft sehr still. Sandro zeichnete vor sich hin, manchmal begann er zu sprechen, mir etwas zu erzählen. Ich fühlte, wie er die Stille, den Raum um sich herum benötigte, mein Warten-Können, wie der Therapieraum für ihn ein Gegenpol zum Klassenraum war, in dem es laut war und Sandro um sein Überleben kämpfte. Sandro, der vaterlose Sohn eines Waisenkindes, hatte sich stark an den Lebensgefährten der Mutter angeschlossen, der auf Drängen der Mutter hin einen Entzug gemacht hatte. Er hatte nun eine regelmäßige Arbeit, kaufte sich ein Auto und Sandro liebte es, mit ihm unterwegs zu sein. Der Pei (Sandro nannte ihn, der aus Portugal stammte, in dessen Sprache Vater) nahm ihn auch mit in ein Tierheim, wo er in seiner Freizeit zusätzlich arbeitete. Er schenkte Sandro eine herrenlose Katze und zwei ausgesetzte Hamster. Sandro hatte außerdem einen Freund gefunden, mit dem er sich regelmäßig traf, auch die Eltern der Kinder freundeten sich an. In der Realschule hielt er leistungsmäßig Schritt. Es bereitete ihm große Freude, ein guter Schüler zu sein. Und doch empfand ich stark, wie anstrengend es für ihn in der Schule war. Ich spürte noch immer eine

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innere Einsamkeit, ein nur schwer Bestehen-Können, eine Angst, eine Fremdheit, einen Mangel an Vertrauen gegenüber dem Objekt. Außer seiner Mutter, deren Lebensgefährten, seiner Oma und der Grundschullehrerin war ich der einzige Mensch, dem Sandro Vertrauen entgegenbrachte. Ich war in dieser Behandlung die erst spät, als alles andere längst gemalt war, hinzugemalte Gestalt mit der Gießkanne, die seinen Durst zu stillen suchte. Zum Abschied brachte Sandro mir ein selbstgemaltes Bild mit. Darauf saßen wir beide einander gegenüber am runden Tisch. Über uns brannte die Lampe mit den vielen Birnen. Es war ein wirklich friedliches Bild. Wir hatten 180 Stunden zusammen verbracht, einige vertrocknete Pflanzen hatten sich aufgerichtet. Einige, im Zuge der Heimunterbringung zertrampelte, lagen danieder. Als wir uns voneinander verabschiedeten, nachdem Sandro mir sein Bild überreicht hatte, kam mir der Gedanke, dass wir noch ewig unter dem mannigfachen Licht der Lampe am runden Tisch sitzen könnten. Ich überlegte, dass es ein Wunder gewesen war, dass seine mit der Welt zerstrittene Mutter ihm diesen Platz hatte gestatten können. Sie hatte in der Begegnung mit mir unbewusst an die Zeit mit einem guten Objekt, das die Adoptivmutter für sie gewesen war, anknüpfen können. Darstellung des zweiten Behandlungszeitraumes

Ein Jahr nach der Beendigung der ersten Behandlung rief mich Sandros Mutter erneut an. »Frau Langer, bitte, Sandro muss noch einmal zu Ihnen kommen, es geht ihm unglaublich schlecht, und ich habe außer Ihnen wirklich niemanden, an den ich mich wenden kann. Ich habe mich nun von meinem Lebensgefährten getrennt. Ich weiß, er bedeutete Sandro viel, sehr viel. Er vermisst ihn ganz unglaublich. Es war aber so, er hat wieder begonnen, mich zu demütigen, und noch einmal, das kann ich nicht ertragen. Da ist noch etwas, ich möchte es Ihnen so gerne erzählen: Ich habe wieder Kontakt mit meinen großen Kindern, außer Noah, dem Ältesten.« Ich: »Frau Oberfeld, das freut mich ganz unglaublich, wer hätte das vor Jahren noch denken können?« Sie: »Frau Langer, Sie sind die Einzige, die das begreifen kann, was es für mich bedeutet.« Als ich Sandro ein Jahr nach unserer Verabschiedung wiedersah, er war nun gerade 14 Jahre alt geworden, hatte sein Körper alles Kindliche verloren. Grob, sehr kräftig, ungestalt, nicht zu Hause in sich, dem riesigen Körper, wirkte er auf mich. Er berichtete von der Reise nach Portugal. »Wir sind mit dem Pei dahin gefahren. Als wir bei seiner Familie angekommen waren, hat er uns alleingelassen. Er war eigentlich die ganze Zeit über betrunken. Meine Mutter und ich haben gefroren und die ganze Zeit über ferngesehen, auch wenn wir die Spra-

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che gar nicht verstanden haben. Wir waren unglaublich froh, als wir wieder zu Hause waren. Da haben sie dann gestritten und der Pei hat den Computer, den er mir letztes Jahr geschenkt hat, eingepackt und ist verschwunden.« Ich: »Ich kann mir vorstellen, du fühlst dich beraubt, und Sandro, du hast ja recht, als hätte er dich vergessen und alles, was zwischen euch gewesen war.« Sandro: »Ich habe es nicht verstanden, aber es ist so, es ist alles aus.« Ich sah den Patienten zweimal, bevor ich entschied, einen erneuten Antrag auf Langzeittherapie für ihn zu stellen. Auf den Beginn der Behandlung musste er zweieinhalb Monate warten, da ich dann Stunden zur Verfügung stellen konnte. Die Mutter erzählte mir später, Sandro habe mehrfach nachgefragt, wann er denn wieder zu mir gehen könne. In der Zeit seines Wartens auf die Behandlung kam es zu folgendem Vorfall: Nachdem er ein Mädchen, das ihn geärgert hatte, schubste, stellte ihn die Lehrerin vor der Klasse zur Rede. Einige Klassenkameraden riefen laut: »Sandro raus!« Im anschließenden Gespräch, das er mit der Lehrerin allein führte, schwieg Sandro und äußerte schließlich abrupt nur einen einzigen Satz: »Vielleicht laufe ich ja Amok.« Seine Lehrerin, die von der Mutter meine Telefonnummer bekommen hatte, rief mich an. Die Schule, so erfuhr ich – es war die Zeit kurz nach dem Amoklauf Tim K.s –, plante Sandros Einweisung in eine psychiatrische Klinik und wollte mein Votum dazu. Ich spürte sofort, dass ich um Sandro zu kämpfen begann, unbewusst identifiziert mit seiner Löwenmutter. Ich führte aus, dass eine erneute Fremdunterbringung nicht infrage komme. Auch Sandro sei nur begrenzt leidensfähig und ich sei sicher, dass er sich in diesem Fall unwiderruflich von der Welt zurückziehe. Er sei ja auch zur Behandlung bei mir angemeldet, die in der nächsten Woche beginne und ich übernähme die Verantwortung. Dabei blieb es. Erst viel später, als Sandro die Behandlung schon lange aufgenommen hatte, begann ich an meinem leidenschaftlichen, spontanen Votum zu zweifeln; die Verantwortung, die ich so ausschließlich und schnell übernommen hatte, stellte eine schwere Herausforderung für mich dar. Sandros Mutter fasste nach dem Vorfall in Sandros Realschule einen Entschluss. »Es ist jetzt mein Bauchgefühl allein, das spricht«, sagte sie zu mir, »Sandro kann in dieser Schule nicht bleiben. Ich habe mir so lange gewünscht, er hätte dort Bestand, aber es ist vorbei. Ich weiß ja, seine Leistungen reichen aus, aber sie erkennen ihn da nicht an. Ich habe mit dem Direktor der Hauptschule in unserem Stadtteil gesprochen, er wird Sandro nehmen. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als er das sagte. Ich weiß ja, Sie haben das schon lange empfohlen, Frau Langer, aber jetzt bin ich auch so weit.« Die erste Behandlungsstunde fand fast nicht statt. Sandro hatte sich verirrt. Er stand vor meiner alten Praxis (ich war inzwischen umgezogen, hatte die neue

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Adresse aber mitgeteilt) und rief die Mutter an, die wiederum mich anrief. Ich beschrieb ihr den Weg (er war nicht weit), den sie Sandro weiterberichtete, ich konnte alles hören. Sandro aber verirrte sich erneut. Ich hörte, er stand nun vor einem großen Supermarkt und wusste nicht, in welche Richtung er weiterlaufen sollte. Ich sagte, ganz kurz entschlossen, der Mutter: »Er soll da stehen bleiben, ich hole ihn ab.« Ich warf mir den Mantel über und rannte los (es war praktisch um die Ecke). Ich sah Sandro sofort, er mich auch. Er kam auf mich zu, wir begrüßten uns und gingen gemeinsam in die neue Praxis. Es war ein wirklich ungewöhnlicher Beginn. Aber diese neue Behandlung insgesamt war außergewöhnlich. Ich spürte, dass Sandro sich danach gesehnt hatte, wieder zu mir kommen zu können, aber da war auch seine Wut über das Warten gewesen, fast hätte er mich verfehlt. Da war es ganz wichtig gewesen, dass ich aktiv geworden, ihn holen gekommen war. Es hatte eine kleine Möglichkeit eröffnet. Ich merkte sofort, dass Sandro sich so klein wie ein Wurm machte, er war kaum anwesend. Ich begab mich auf eine Gratwanderung. Ich sprach ihn an, äußerte, was mir in den Sinn kam – in gewisser Weise war alles vertraut, wir kannten uns ja schon so lange. Dann schwieg ich, manchmal sagte Sandro dann etwas, manchmal schwieg er weiter. Dann startete ich einen neuen Versuch. Ich war sehr vorsichtig, mir immer bewusst, dass alles an einem seidenen Faden hing. Ich bin mir auch im Nachhinein noch immer ganz sicher: Hätte ich diesen Patienten nicht schon sein halbes Leben lang gekannt, der Faden wäre zerrissen. Sandro erschien mir wie ein Mensch, der sich in einen sehr tiefen Schacht zurückgezogen hatte. Er wollte gar nichts mehr. Seine Stimme erschien mir wie eingerostet, heiser. Er sprach ja auch nicht mehr, das hatte die Mutter mir berichtet. In seiner neuen Schule saß er zusammengekauert auf seinem Platz und gab kein Lebenszeichen von sich. Zu Hause verkroch er sich in sein Zimmer, er aß auch kaum noch. Sandro war sehr schlank geworden. Das Grobe, Ungehobelte an seinem Körper war verschwunden. Er wirkte konturierter auf mich. In unseren Stunden begann er sich langsam auf die Möglichkeit des Sprechens zu besinnen. Ich dachte in dieser Zeit immer: »Es ist alles egal, wenn er nur spricht.« Sandro begann mir von einigen Computerspielen zu berichten, die er liebte. Er spielte fast die ganze Nacht, sah dann noch fern und ging schließlich müde in die Schule, wo er einige Male einschlief. Sandro war sehr stolz darauf, die ganze Nacht zu spielen und fernzusehen. »Das ist cool«, sagte er oft. Ich überlegte, dass es ihm sehr wichtig zu sein schien, das besorgte, mütterliche Objekt zurückzuweisen. Sandro liebte es, mir von seinen Spielen zu berichten, er brachte auch eine Computerzeitung mit, die ich mir ansehen sollte: Da waren die Spiele beschrieben, ihr Schweregrad, die Altersbegrenzung (ab 16). Sandro genoss es, wenn ich vorsichtig in Erwägung zog, dass er Spiele ab 16 spiele, aber erst 14 sei.

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Es gefiel ihm ungemein, mir zu entgegnen, dass er nun alles spiele. Ich nahm wahr, wie er mich dann erwartungsvoll ansah: Würde ich etwas zu entgegnen haben? Er liebte es, mich mit seinen zerstörerischen Gedanken zu konfrontieren, damit, dass ihm alles egal sei, dass er einmal Penner werden wolle, niemals einen Schulabschluss machen würde. Tatsächlich war es aber so, dass er in der neuen Schule seinen Mitschülern weit voraus war, man versetzte ihn vorzeitig in die nächste Klasse. »Ist mir egal«, behauptete er. Ich dachte aber: »Er platzt vor Stolz.« Lange sprach er von einem Buch, das sie in der Schule lasen: »Rolltreppe abwärts«. Ich dachte: »Wie für ihn gemacht«, denn es handelte von einem Jungen, der in ein Heim eingewiesen wurde. Sandro las das Buch nicht, hörte aber zu, wenn sie im Unterricht darüber sprachen. Er sagte: »Ich kann nicht lesen, ich kann das nicht.« Ich: »Aber früher, ich weiß noch, da hast du gelesen, das Buch über Richard Löwenherz.« Sandro: »Ich kann mich nicht auf die Buchstaben konzentrieren, mein Kopf ist kaputt und da wird so viel beschrieben und es dauert so lange, bis es dann kommt, es dauert mir zu lange.« Ich holte spontan ein Buch, wir schauten zusammen hinein, lasen, und ich begriff sofort, was er meinte. Ich hatte dieser Konkretion bedurft. Es stimmte: In Büchern kündigten sich Ereignisse langfristig an, man wusste noch gar nicht, was kommen würde, man musste warten, das aushalten. Ich sagte: »Das ist wirklich schwer, ich verstehe jetzt, was du meinst.« Ich glaube, Sandro hatte das gefallen, dass ich so konkret bemerkt hatte, was ihm schwer fiel. Er las nun das ganze Buch und schrieb die beste Arbeit seiner Klasse in Deutsch, davon erfuhr ich allerdings erst Monate später. Ich nehme an, dass es ihm peinlich war. Mit Sandro war es sehr wichtig, einfach anzuhören, was er berichten wollte. Er erzählte von leerstehenden Gebäuden, in die er mit einem Klassenkameraden und dessen Bruder ging. Dort hausten Penner, es wurde gesprayt. Für Sandro war alles neu. Der Klassenkamerad und dessen Bruder eröffneten ihm eine neue Welt. Er lief mit den beiden durch die Stadt, die er gar nicht gekannt hatte. Sie gingen zum Main, fuhren mit der U-Bahn in den Norden der Stadt, trafen sich mit den Freunden seiner neuen Freunde. Ich ahnte, dass das alles gefährlich und unwägbar war, aber da war auch eine Freude in mir: Sandro, dieses vor seiner PlayStation eingekellerte Kind, ging hinaus, traf andere Jugendliche. Er war ja immer ein Kaspar-Hauser-Kind gewesen, war nie hinausgegangen. Sie beeindruckten ihn schwer. Sie unterhielten sich, einer wollte später zum Militär. »Ich auch«, sagte Sandro zu mir, »jetzt weiß ich, was ich machen werde, ich gehe zur Army, da lernt man schießen, das ist cool.« »Zur Army«, wiederholte ich langsam, »da denke ich jetzt an Afghanistan, den Krieg.« Er: »Ich gehe dahin.« Ich: »Hast du keine Angst? Da kann man sterben.« Sandro, sehr sicher: »Ich habe gar keine

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Angst vor dem Tod. Tod ist cool.« Ich: »Als ob du nichts zu verlieren hättest.« Er: »Habe ich auch nicht.« Ich: »Als ob du den Tod ersehntest, als ob das Leben dir reicht.« Sandro: »Es reicht mir.« Ich: »Ich denke jetzt gerade an die Selbstmordattentäter.« Sandro: »Die machen das wegen den tausend Jungfrauen.« Er lachte. Ich: »Und du, warum du?« »Ich glaube, dass gar nichts kommt, der Tod ist der Tod und sonst nichts, aber er ist cool.« Ich: »Weil das bescheuerte Leben aufhört?« Sandro: »Es kann von mir aus aufhören. Tod ist cool.« Da war immer etwas an Sandro, das war anders als das, was er sprach. Ich hätte es sonst nicht ausgehalten mit ihm. Manchmal sagte ich mir: »Es ist unglaublich, er nimmt alle Termine pünktlich wahr.« Er brachte auch sein Halbjahreszeugnis mit in die Stunde. Es war sehr gut. Er sagte sofort, dass ihm das egal sei. Ich sagte: »Trotzdem, erstaunlich, wie gut du bist, der manchmal nichts will, als schlecht sein und sterben.« Diese Bemerkung überging Sandro. Er rollte sein Zeugnis wieder ein, verstaute es in seiner Jacke. Nach einer Weile erfuhr ich, dass er sich inzwischen am Unterricht beteiligte. Nach einem Dreivierteljahr begann er, sich im Unterricht zu melden. Die Lehrer hatten tausend Gespräche mit ihm geführt, er hatte immer geschwiegen. »Ich höre gar nicht zu, keine Ahnung, was die gesagt haben«, erklärte er mir. Ich: »Du wolltest lange Zeit gar nichts mehr, zu viel ist schief gelaufen. Der Pei ist gegangen. Ich war nicht schnell genug da, als du mich gebraucht hättest. Und dann hast du das mit dem Amoklauf zu deiner Lehrerin gesagt.« Er: »Ich habe sie alle so furchtbar gehasst, als sie ›Sandro raus!‹ gerufen haben, ich hätte sie töten können.« Ich: »Du hättest vielleicht auch gerne geschrien. Auch mich hättest du gerne angeschrien und gesagt, dass es nicht okay war, dich so lange warten zu lassen.« »Keine Ahnung, vielleicht«, bemerkte Sandro. »Sebastian, der hat vor gar nichts Angst«, bemerkte er einmal abrupt. »Viele Menschen haben Angst vor der Dunkelheit«, fuhr er nach einer Weile fort, »die Menschen sind so.« Ich erkannte sofort, dass er mir etwas über seine Einsamkeit, die Dunkelheit, in der er sich immer wieder gefangen fühlte, sagen wollte. Es war wie ein Geschenk und ich wusste ganz sicher, ich musste es einfach annehmen und schweigen. Ich kam mir seltsam vor in den Stunden mit Sandro. Ich ließ mich in einer unausweichlichen Weise auf ihn ein. Sandro lebte ganz sicher auf einem anderen Stern, trotzdem hatte ich manchmal das Gefühl, dass dieser Stern auch meiner sei. Ich hatte aber auch Angst und dachte: »Du versäumst etwas. Es wird böse enden, alles wird böse enden.« Ich war mir sicher: Ich konnte einen Kontakt mit diesem Patienten nur halten, wenn ich ihn erzählen und erzählen ließ. Was er erzählte, war jedoch grenzwertig. Ich spürte das Ausmaß seiner Aggression. Manchmal sah ich seine Hände an und überlegte, dass er ganz sicher einen Men-

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schen erwürgen könnte. Einmal brachte er eine alte Schreibmaschine mit, die er auf dem Sperrmüll gefunden hatte, und es war ganz klar, dass er sie mitgenommen hatte, um sie gewaltsam zu zerstören. Er hieb schrecklich in die Tasten und zerrte an den Bändern des Gerätes. In meiner Intervention, die ihn bremste, kam ich mir vor, als täte ich etwas Falsches. Sandro begann etwas auf ein Blatt Papier zu schreiben, ich las heimlich mit: »Alles, nichts, oder aber, was eigentlich.« Dann zog er sein Handy aus der Hosentasche und stellte es vor mir auf. Er begann zu lachen und sagte: »Frau Langer, Sie müssen das sehen, ich habe Ihnen ja schon früher davon erzählt. Es ist aus dieser Sendung ›Little Britain‹.« Sandro hielt das Handy mit seiner Hand, so dass ich alles sehen konnte, was mich ungemein rührte, ich hätte weinen können. Er spielte mir einige Szenen vor. Sandro sagte, außer ihm kenne eigentlich niemand diese Sendung, und er lachte und lachte. Da war in der ersten Szene ein Mädchen mit seinem Lehrer. Der Lehrer sprach normal und wollte etwas wissen. Das Mädchen war völlig irre. Es sagte immerzu: »Ich hab keine Ahnung, warum auch, scheißegal. König sowieso, er herrschte über die Welt, warum weiß ich nicht, alles scheißegal.« Dabei sprach der Lehrer des Mädchens immer weiter vernünftig und es war ganz klar, dass die beiden nicht auf demselben Stern lebten. Ich merkte, wie ich zu lachen begann, ganz laut. Sandro, der das Handy zu mir hinhielt, kannte alles auswendig und lachte und lachte. »Und warten Sie, ich zeige Ihnen noch was«, sagte er hektisch. Ich sah einen behinderten Jungen im Rollstuhl mit seinem Betreuer. Der sprach vernünftig, der Junge aber fasste ein Stromkabel an und lachte irre. Ich: »Wie wir manchmal, nicht vom selben Stern«, sagte ich. Sandro begann seltsam verloren zu lächeln. »Sandro«, sagte ich, »das ist total verrückt, ›Little Britain‹. Aber du, du lebst da nicht.« Er, ernst: »Erst halb.« Er kam mit einer sogenannten Sturmkappe zu seiner nächsten Stunde: Sie schütze ihn vor den Abgasen und dem Rauch in der Wohnung. Seine Mutter rauchte stark, erinnerte ich mich. In dieser Zeit wünschte die Mutter ein Gespräch zu dritt, was Sandro verweigerte. Er aß kaum noch, außer Brot mit Salz aß er gar nichts mehr. Er sprach auch nicht mit der Mutter und wurde schnell aggressiv, wenn sie etwas von ihm verlangte, schlug die Türen laut, beschimpfte sie mit bösen Worten. Er machte gar nichts mehr für die Schule. »Ich denke noch einmal darüber nach, ob ich mich an das Jugendamt wenden soll. Ich weiß nicht weiter, es gibt da ja Familienhelfer und gleichzeitig …«, sagte sie. Ich nickte, verstand alles, bevor sie es aussprach. Ich fühlte ihre Angst, Sandro könne ihr noch einmal genommen werden. Ich: »Es ist so unerträglich, was sie mit Sandro aushalten müssen.« Sie: »Das ist es nicht, ich kann viel, sehr viel aushalten, aber ich habe Angst um Sandro. Ich habe auch einen Termin beim Arzt für ihn gemacht. Er ist so schrecklich dünn.«

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Sandro

Sandros Mutter ging mit ihm zum Arzt, der ein langes Gespräch mit den beiden über Ernährung führte. Sandro war davon sichtlich beeindruckt, er sagte: »Das viele Salz ist sehr ungesund.« Ich dachte, ich höre nicht recht, seit wann kümmere es ihn, was gesund sei. Aber es war ganz deutlich: Die Aktion seiner Mutter, die noch einmal einen hilfreichen Dritten eingeschaltet hatte, fruchtete. Sie war wirklich eine Löwenmutter. Als Sandro aus seiner Praktikumsstelle flog, weil er sich mit einem anderen Praktikanten prügelte, war es die Mutter, die zu seinem Chef ging und für ihn sprach. Sandro beendete sein Praktikum, das ihm viel Spaß zu machen begann. Er wollte an der geplanten Klassenfahrt nicht teilnehmen. Die Mutter suchte den Kontakt zu seiner Klassenlehrerin, die schließlich am Abend anrief, um mit Sandro zu sprechen. Sie nahm ihm das Versprechen ab, mitzukommen zur Klassenfahrt. Sandro fuhr mit. Er fühlte sich ziemlich einsam und rief seine Mutter einige Male an, um ihr Vorwürfe zu machen. Es gab ein Gespräch der Schulpsychologin mit Sandro und seiner Mutter. Sandro gab an: »Ich habe gar nichts gesagt. Sie hat mit meiner Mutter gesprochen, ich habe nicht zugehört. Die Psychologin hat gesagt, dass es gut ist, dass ich zu Ihnen gehe.« Es faszinierte mich, in welcher Weise es die Mutter verstand, in einer unermüdlichen Weise den Dritten auf den Plan zu rufen. Von ihrem Plan, das Jugendamt erneut zu kontaktieren, nahm sie allerdings Abstand. »Frau Langer, ich habe mich wochenlang damit getragen, aber es geht nicht. Ich kann das nicht, lieber halte ich alles aus, ich habe furchtbare Angst, dass noch einmal etwas Schlimmes passiert.« Ich nickte und sagte: »Ich habe mir das gedacht, es geht nicht, es geht gar nicht für Sie.« Sie brach spontan in Tränen aus und sagte stockend: »Frau Langer, ich bin so froh, dass Sie das verstehen können, ich bin dann weniger allein mit Sandro, es ist so wichtig für mich.« Sandros Mutter verblüffte mich oft mit ihrer Art von intuitiver Einfühlungsfähigkeit. So hatte sie gesagt: »Ich verstehe das gut, dass Sandro nicht mit auf Klassenfahrt will. Es ist für ihn, so habe ich gedacht, als brächten sie ihn noch einmal ins Heim. Und trotzdem, ich glaube nicht, dass es gut ist, wenn ich ihn entschuldige und lüge.« Sandro seinerseits gab an: »Sie will mich nicht loslassen, sie klammert sich an mir fest. Ich will das nicht.« Ich nickte und erwiderte: »Es ist schwer mit dir und deiner Mutter, sehr schwer. Du willst das nicht, dass sie dich beschützt, du suchst nach einem eigenen Weg. Manchmal aber, so scheint es mir, bist du das, du rufst sie auf den Plan.« Ich sah, dass er lächeln musste. Sandros großes Thema in dieser Zeit war: »Ich bin Vegetarier geworden, am liebsten wäre ich vegan, aber das ist zu teuer. Ich habe ein paar Filme angeguckt, wie sie die Tiere halten und quälen. Die können sich ja nicht wehren. Ich kenne keinen einzigen anderen Menschen, der Vegetarier ist. Alle finden das komisch,

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das ist mir aber egal.« Ich merkte, wie ich ihn erstaunt anschaute und ganz neu wahrnahm. Ich dachte: »Jetzt ist er auf der Suche nach einem eigenen Weg, er will sich nicht mehr verstecken.« Es war mir auch bewusst, dass er, identifiziert mit den stummen Tieren, von stumm erfahrener Gewalt und Verzweiflung sprach (dem Thema seines Lebens: dass er sich nicht wehren konnte), die ihn in die Androhung eines Amoklaufes ausbrechen lassen hatte. Ich: »Es ist ganz furchtbar, wie die Tiere leben, um geschlachtet zu werden, und sich nicht wehren können. Ich finde es ganz wunderbar, wie du das wahrnehmen kannst, als wüsstest du mehr davon als andere.« Sandro, bedächtig und langsam: »Es ist so, da kenne ich mich aus. Mit Tieren kenne ich mich aus.« Ich: »Der Pei, er hat sich auch um die Tiere gekümmert.« Sandro: »Da hat er einmal etwas Gutes gemacht.« Ich war davon überzeugt, dass Sandros erwachtes Interesse für die Tiere, die geschundene Kreatur, auch eine Reminiszenz an den verlorenen Pei war. Völlig unerwartet für mich sagte Sandro in einer unserer Sitzungen dieser Zeit: »Ich werde übrigens eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann machen.« Er lächelte, als er meinen verblüfften Blick sah, und fuhr fort: »Ich habe mich mit dem Chef vom Gameshop unterhalten und ich könnte da eine Ausbildung machen.« Ich: »Du kennst dich ja auch wirklich aus mit den Spielen, du könntest die Kunden beraten.« Sandro: »Ich glaube, das könnte ich, ich weiß ziemlich viel über diese Dinge.« In die nächste Sitzung brachte er einige Ausdrucke über Scientology mit, worüber er ein Referat halten wollte. Ich fand das ganz unglaublich. Ich folgte Sandro nun sehr langsam. Ich war in der Zeit, in der nichts Bedeutung hatte haben dürfen, zurückgeblieben und er war mir vorausgeeilt. Ich entnahm dem, was er erzählte, dass er inzwischen regelmäßig in ein Jugendzentrum ging, wo man kostenlos Internet und Computer benutzen konnte. Er berichtete mir von den im nächsten Jahr anstehenden Hauptschulprüfungen und davon, dass er ein weiteres Jahr die Schule würde besuchen müssen, um den Realschulabschluss zu machen, weil er sonst im Gameshop keinen Ausbildungsplatz bekäme. Sandro sah auf einmal gut aus, er zog die Kapuze nicht mehr ins Gesicht, lachte oft und strahlte, wenn er von der Zukunft sprach. Seine stumpf gewordenen Augen bekamen eine koboldartige Lebendigkeit. Er sah mich nun oft an, es kam Charme in seine Art zu sprechen, eine ganz neue Art von Humor, eine Lässigkeit. Auch andere bemerkten das, begriffen es schneller als ich. Eine Nachbarin sprach mich an: »Dem jungen Mann, der immer freitags und mittwochs kommt, scheint es richtig gut zu gehen. Er wünscht mir plötzlich einen guten Abend, früher hat er es gar nicht gemerkt, wenn ich ›Hallo‹ zu ihm gesagt habe, er hat immer so zusammengesunken auf der Treppe gesessen und vor sich hin gestarrt.«

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Sandro

Ich hatte mich oft gefragt, ob das tatsächlich eine Therapie sei, was ich mit Sandro mache, so befremdlich war es mir vorgekommen. Es erinnerte mich an »Little Britain«: »Was du da machst, es wird keiner nachvollziehen können, es ist irgendwie verrückt und vielleicht wird alles böse enden. Du triffst dich mit einem Jungen, der nichts, gar nichts mehr will. Seine Lehrer wollten ihn in die Psychiatrie überweisen, er hatte einen Amoklauf angekündigt, du aber hast dir angemaßt zu versprechen: ›Sandro wird es nicht noch einmal überleben, von seiner Mutter weggebracht zu werden. Ich übernehme die Verantwortung.‹« Dieses spontan ausgesprochene Votum hatte mich im Fortgang stark geängstigt. Mir war erst allmählich klar geworden, dass ich mich in eine ungemein gefährliche, unberechenbare Situation mit meinem Patienten begeben hatte. Genauso schwer fiel es mir nun zu begreifen, dass Sandro sich entwickelte. Die hoffnungslose Zeit klebte an mir. Wir hatten derart lange schweigend beieinander gesessen, als seien wir schon gestorben, hatten hindurchgemusst durch diese Zeit. In der Arbeit mit diesem Patienten entsprach der Schnelligkeit meines anfänglichen Votums, mit dem ich ihn zur zweiten Behandlung annahm, in einer konterkarierenden Weise meine Langsamkeit im Erkennen seiner Entwicklung im Verlauf der Behandlung. Er hatte eine tiefe Hoffnungslosigkeit und Angst vor dem Scheitern in mir untergebracht, nachdem er endlich angekommen war. Wieder war es in der Zeit vor Weihnachten, als wir uns verabschiedeten. Sandro stand mitten in seinen Abschlussprüfungen. Schon im Herbst hatte ich ihn gefragt: »Was denkst du, willst du im neuen Jahr weiter kommen oder ist es jetzt so, dass es reicht? Das musst jetzt du entscheiden. Wenn du das willst, ich arbeite gerne weiter mit dir zusammen.« Sandro erbat sich Bedenkzeit und zwei Wochen später sagte er: »Ich will aufhören an Weihnachten, ich glaube, es reicht. Wer weiß, irgendwie denke ich, ich komme noch mal, aber ich will es jetzt probieren.« Ich: »Das ist in Ordnung für mich, Sandro«, erwiderte ich, »das bist jetzt du, der entscheidet.« In unserer letzten Stunde zog er unvermittelt ein Päckchen aus seinem Rucksack und übergab es mir. Darin befand sich ein kleiner Kasten mit Marzipanherzen. Ich hätte fast geweint. Ich schenkte Sandro wider den üblichen Rahmen in unserer letzten Stunde ein Buch, das gerade neu erschienen war und dessen Titel mich immer wieder an ihn hatte denken lassen: »Tiere essen«. Sandro begann sofort interessiert in dem Buch zu blättern und äußerte: »Dieses Buch werde ich vom Anfang bis zum Ende lesen, das steht fest.«

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Fünf Behandlungen wiederkommender Patienten, in denen neuer Spielraum entstand

Abschlussbetrachtung des Behandlungsverlaufs insgesamt

Mein Ideal von einem Rahmen und von der Abstinenz des Therapeuten sieht nicht vor, dass ich den Patienten zum Abschied ein Geschenk mache. Und doch scheint es mir noch immer folgerichtig, dass Sandro und ich einander nach der Gratwanderung, die wir vollbracht hatten, beschenkten und damit bekräftigten: »Wir wissen noch immer nicht, ob es genügt, aber es war eine gute Zeit.« Mein Patient, der bereits im Alter von sieben Jahren bei mit angemeldet worden war, weil er sich nicht wehren konnte, entwickelte eine Möglichkeit, in der Wirklichkeit zu bestehen. Dass er zum Vegetarier wurde, begann, die geschundenen Tiere wahrzunehmen, war einerseits eine Reminiszenz an den verlorenen Pei und damit an den alten, verlorenen Vater-Fisch – hatte er mir nicht gleich in der ersten Sitzung vom Film »Nemo« erzählt? –, aber andererseits auch der Versuch, sich selbst zu begreifen und aufzutauchen aus dem Schweigen, eine neue Art zu kämpfen und mit der Wirklichkeit umzugehen. Indem Sandro trotz des Verlustes des Vaters an eine alte Identifizierung mit diesem anknüpfte, fand er zu einem Jenseits in Bezug auf die Löwenmutter und damit zu einem eigenen Weg. In der frühen Identifizierung mit der wehrlosen Waisenkindmutter, die von ihren Männern geschlagen wurde und ihn oft nicht trösten konnte, war Sandro über einen langen Zeitraum hinweg wie erstarrt gewesen. Als die Mutter sich gerade auch dadurch zu entwickeln begann, dass er sie zur Löwenmutter machte, war er es, der weiterhin dem Status des wehrlosen, desorientierten Waisenkindes anhing. Fremd und verängstigt erlebte er die ihn umgebende Welt. Eine unermessliche, bodenlose Wut wuchs in ihm an. Sie brach aus dem verstummten Jungen heraus, als er in der Stunde seiner tiefsten Demütigung, verlassen vom Pei und mir ausstieß: »Vielleicht laufe ich ja Amok.« Die lange Zeit der Demütigung drückte sich in diesen zerstörerischen Worten aus, Sandro gab zu verstehen: »Ich kann es nicht mehr ertragen, ich will nicht mehr leben, so will ich nicht und ich möchte euch alle töten, ich hasse euch.« Sein triebhaft, aggressiver Versuch, sich zu wehren, war auch ein neuer Beginn. Gleich seiner Mutter, lockte Sandro auch in mir die Löwenmutter hervor. Hätte ich Sandro nicht schon lange gekannt und zu verstehen gesucht, wäre die Behandlung jedoch gescheitert. Ich hätte ihn nicht so kennenlernen und halten können, wie ich es tat. Ich hätte nichts von seiner vertrockneten Welt und seiner Sehnsucht nach Wasser gewusst, wäre der zweiten Behandlungszeit nicht die erste vorausgegangen. Es erwies sich als ein für den Behandlungserfolg entscheidender Vorteil, dass wir uns auf eine gemeinsame Geschichte beziehen konnten. Wie wäre sonst die unbewusst spontane Geste des Vertrauens und Schützens möglich gewesen, die ich ihm entgegenbrachte und dann fürchtete? Ich hätte ihm nicht entgegenlaufen und derart »unabstinent« agieren können, als er sich

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Maximilian

in seiner Wut verirrte. Ich hätte ihn somit nicht abholen können zu seiner ersten Behandlungsstunde nach der Androhung des Amoklaufes. Ich hätte die Zeit des Schweigens und die Todesstimmung nicht ertragen und aushalten können. Es blieb trotz unseres gemeinsamen Hintergrundes eine Gratwanderung, immer nahe am Scheitern, bis mir Sandro die Welt von »Little Britain« vorstellte – diese verrückte Welt, die mir viel weniger fremd war, als ich vermutet hatte – und wir beide zusammen laut über diese Welt lachen konnten. Der Rahmen stellte sich in Sandros Behandlung nur langsam her und bedurfte des Wiederkommens, eines zweiten Behandlungszeitraumes, und der langen Behandlungszeit von insgesamt 270 Stunden über vier Jahre hinweg, um Bestand zu haben. Erst am Ende der zweiten Behandlung wechselte die zweistündige in eine einstündige Frequenz. Sandro selbst legte das Ende der zweiten Behandlung fest. Der Rahmen spiegelte die Brüchigkeit seines Lebensrahmens. Der innere Spielraum des Patienten war schon zu Beginn der Behandlung gering gewesen und durch den ihn traumatisierenden Heimaufenthalt nahezu erloschen. Im Verlauf der Therapie Sandros wurde ich zur Zeugin seiner zum Ausbruch drängenden, heftigen Aggression. Ich spielte zwischenzeitlich mit dem Gedanken, die Behandlung abzubrechen und den Patienten, wie seine Lehrerin vorgeschlagen hatte, in die Psychiatrie zu überweisen. Sein innerer Spielraum entwickelte sich einer Gegenbewegung gleich zu meinem Gedankenspiel. Sandro und ich hatten lange Zeit in »Little Britain«, einer absolut einsamen Welt verbracht, in der es aber gar nichts mehr zu lachen gegeben hatte, in der alles tödlich ernst gewesen war. Als er sich aus dieser Welt fortbewegte und entwickelte, vermochte ich ihm nur schwer zu folgen, war ich es, die zurückblieb. Letztlich war er es, der entschied, dass er sich der Welt der Objekte trotz ihrer Begrenztheit wieder anvertrauen und sich entwickeln wollte.

Maximilian, sieben Jahre – Grund der Anmeldung: Unruhe, Aggressivität (1. Behandlungszeitraum: 150 Stunden, zweimal wöchentlich eine Stunde; 2. Behandlungszeitraum, ein Jahr später: 70 Stunden, einmal wöchentlich eine Stunde; 220 Stunden insgesamt) Nach 150 Stunden analytischer Psychotherapie endete die Therapie, weil Maximilians Familie, bestehend aus Mutter, Stiefvater und gerade erst geborenem Stiefbruder, umzog. Eineinhalb Jahre später meldeten die Eltern Maximilian, der inzwischen zehneinhalb Jahre alt war, erneut an.

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Fünf Behandlungen wiederkommender Patienten, in denen neuer Spielraum entstand

Darstellung des ersten Behandlungszeitraumes

Als ich Maximilian und seine Familie kennenlernte, lebten sie seit einem halben Jahr in der Stadt. Die Mutter und ihr Lebensgefährte, beide Mitte 20, waren aus ihrer Heimatstadt fortgezogen, um einen Neuanfang zu machen. »Wir haben beide in Frankfurt Ausbildungsplätze gefunden, das ist eine große Chance für uns«, sagte die Mutter. »Ich will nicht im Alter von 24 schon Sozialhilfe beziehen. Aber wir haben auch gemerkt, dass wir viel aufgegeben haben, unsere gesamte Familie, sie haben uns in Berlin viel geholfen, und für Maximilian ist es besonders schwer, er kann sich nicht einleben in Frankfurt. Seit wir hier sind, geht gar nichts mehr. Wir mussten ihn von seiner Grundschule nehmen, weil er nur noch ausgerastet ist, und weggerannt, nach Hause. Sie haben uns dann angerufen, wir waren ja arbeiten, und einer von uns ist dann nach Hause gefahren.« Die Mutter brach plötzlich in Tränen aus. Ihr Lebensgefährte begann ihre Hand zu streicheln. »Wir wissen auch zu Hause nicht mehr ein und aus mit Maximilian«, bemerkte er, »wir schaffen es nicht, ihn zu beruhigen. Er ist gar nicht wiederzuerkennen. In Berlin ist er gerne in die Schule gegangen, es gab ein Auskommen mit ihm.« Die Mutter schrie fast: »Nun hat gerade heute das Kindermädchen gekündigt. Wir hatten sie engagiert, weil Maximilian aus dem Hort ständig weggelaufen ist. Sie hat geweint und gesagt, Maximilian bringe sie an ihre absolute Grenze und sie schaffe es nicht. Wir haben ja diese neue Schule für ihn gefunden, wie lange das gut geht, ich weiß es nicht. Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr.« Der Lebensgefährte fuhr fort die Hand der Mutter zu streicheln. Er sagte: »Wir werden das schaffen, wir legen unsere Arbeitszeiten so, dass immer einer von uns nach Maximilian schauen kann.« Sie: »Wir haben auch schon zwei Therapieanläufe in Frankfurt gemacht. In Frankfurt scheitert alles, alles. Die eine Therapeutin hat Maximilian auf die Straße geschickt, weil sie es nicht mehr aushielt mit ihm.« Sie begann erneut verzweifelt zu weinen. »Ich muss Ihnen das jetzt alles erzählen. Ich habe mich von Maximilians Vater getrennt, als er zwei Jahre alt war. Er war so fern für mich, er hat sein Ding gemacht, er war auch viel älter und schrieb damals an seiner Dissertation. Ich habe meinen Sohn mit in die Schule genommen, sie haben mir das erlaubt, ich stand kurz vor dem Abitur. Zweimal haben sie mich in die Psychiatrie eingeliefert, ich war völlig überfordert, wie gelähmt, ich habe nur noch geweint. Zum Glück hat sich Maximilians Patentante um ihn gekümmert. Dann habe ich Stefan kennengelernt«. Sie sah ihren Lebensgefährten an, während sie weitersprach: »Ich weiß nicht, wo ich wäre, ohne dich.« Er nickte. Ich bemerkte, wie er nicht damit aufhörte, ihre Hand zu streicheln. »Maximilian hat seinen Vater in Berlin alle zwei Wochen gesehen. Er war auch schon einige Male in Frank-

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furt«, berichtete die Mutter. »Ich glaube auch, Maximilian vermisst ihn hier, er vermisst auch meine Mutter und die Patentante. Ich weiß gar nicht, ob Sie meinen Sohn sehen möchten«, brach sie abrupt ab, erneut in Tränen ausbrechend. Ich dachte: »Oh je, ob ich das wohl will?«, erwiderte aber: »Ich will das versuchen. Ich merke, es ist alles schwer für ihn, er findet sich nicht mehr zurecht, er scheint völlig verwirrt.« »Danke«, erwiderte die Mutter weinend, »ich danke Ihnen sehr, dass Sie es mit Maximilian versuchen wollen. Er ist ein wunderbares Kind, ich liebe ihn, er hat alles, er hat das Beste verdient.« Maximilian, ein hübscher, blonder Junge stürzte so schnell in meinen Raum und leerte einen Korb mit Spielzeug aus, dass ich nicht einmal ausatmen konnte. Dabei rief er laut: »Du bist aber nett«, und drehte sich kurz zu mir um. Die Mutter war vollkommen hilflos. Sie sagte: »Nicht so schnell, zieh erst mal deine Jacke aus.« Maximilian warf seine Jacke aufs Sofa und wühlte weiter in den Spielsachen. Die Mutter verabschiedete sich. Da rief er panisch: »Aber du holst mich ab!« Mit mir allein sprach er ohne Punkt und Komma, so schnell, dass ich kaum etwas verstand, nur: Er sei nun hier, weil er mit mir sprechen wolle. Gleichzeitig rannte er im Raum umher, schnappte sich Pfeile, und sie trafen alle die Wand, die Zielscheibe nicht. Ich fühlte mich atemlos und hatte immerzu das Gefühl, ihn eingrenzen und überwachen zu müssen, um Schäden in meinem Behandlungsraum zu verhindern. Schließlich nahm ich wahr, wie er sich langsam beruhigte. Er begann mit einem kleinen Hai auf dem Fußboden zu spielen. Er kam mit dem Hai zu meinem Stuhl, der Hai fauchte und fauchte. »Du hast Angst vor mir«, bemerkte ich. Maximilian schrie: »Ich habe vor nichts auf der Welt Angst.« Ich: »Ich habe überlegt, da ist eine Angst in dir, deine Mama könne nicht wiederkommen und dich abholen.« Maximilian wurde vollkommen still. »Das hast du also gemerkt«, sagte er nach einer Weile. Der Umzug und der damit verbundene Schulwechsel, so überlegte ich, hatten eine frühe Verunsicherung bei meinem Patienten mobilisiert. Die Trennung vom Vater und die anschließenden Zusammenbrüche der Mutter, die zeitweise Trennung der Mutter vom zweieinhalbjährigen Maximilian, als sie in der Klinik war, diese traumatisch anmutenden Vorkommnisse, waren angesichts der Verunsicherung durch den Ortswechsel aufgebrochen. Hinzu kam, dass auch die Mutter und ihr Lebensgefährte Mühe hatten, sich in der neuen Umgebung zu organisieren. Beide absolvierten zu einem relativ späten Lebenszeitpunkt eine Ausbildung und waren stark absorbiert. Maximilian, der zum Zeitpunkt der frühen traumatischen Ereignisse wenig Reaktion gezeigt hatte, schien nun geradezu überschwemmt zu werden von Überforderung. Die Brüchigkeit seiner scheinbar ausreichend guten Entwicklung wurde deutlich. Er verweigerte

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sich allen Regeln und schlug um sich. Er hatte keine Möglichkeit mehr, sich den ihn umgebenden Bedingungen anzupassen. Nachdem ich ihn in seiner ungehaltenen Weise zum ersten Mal gesehen hatte, dachte ich, dass mein Kopf platze. Vermutlich fühlte er sich genauso. Er wusste nicht mehr ein und aus, schwere Aggressionen schossen aus ihm heraus und gleichzeitig fühlte er sich so klein und allein und hatte große Angst, seine Mutter wieder zu verlieren. Dieser Gegensatz von kontraphobischer Stärke und tiefer Überforderung und Einsamkeit zerriss ihn nahezu, er konnte nichts mehr zusammenbringen. Das ihn und seine Mutter haltende Umfeld in Berlin, Freunde und Verwandte, existierte nicht mehr, Maximilian war auf die Mutter und deren Lebensgefährten angewiesen, die selbst damit beschäftigt waren, sich neu zu orientieren. Mit seiner Verweigerung und seinen Ausbrüchen, die alle ihn umgebenden Menschen, die Lehrer, die Eltern und seine Nachmittagsbetreuerin überforderten, schrie er, so folgerte ich, nach einem Raum für seine eigene frühe Überforderung und Unsicherheit. Vor dem Beginn der Behandlung gab es ein dramatisches Elterngespräch. Die Mutter war nach einer schrecklichen Auseinandersetzung mit Maximilian ins Krankenhaus eingeliefert worden, weil sie keine Luft mehr bekam. Der leibliche Vater war aus Berlin angereist und kam überraschend mit zum Gespräch. Die Mutter weinte und schrie in diesem Gespräch. Sie sagte, sie schaffe es nicht, irgendwie sei sie immer allein. Gleichzeitig war es für die Mutter schwer, ihre Überforderung zu bekennen. Sie schrie laut auf, als ich sagte, dass es vielleicht kaum noch möglich sei, Maximilian zu Hause zu halten. Der Lebensgefährte hielt ihre Hand und der Vater Maximilians versprach alle mögliche Hilfe, vom Finanziellen bis zur Übernahme von Maximilian, wenn dies erforderlich sei. Ich sagte zur Mutter: »Ganz allein sind Sie nicht, ich sehe hier zwei Väter, die sie unterstützen wollen.« Sie weinte bitterlich und erklärte: »Immer denke ich, letztlich bin ich ganz allein mit Maximilian und kann es nicht schaffen.« Ich erinnere mich noch gut daran, wie depressiv der Vater auf mich wirkte, wie einsam und hilflos. Im Grunde war dieses Gespräch eine Szene, in der ich alle drei wie sehr verwirrte, hilflose Kinder erlebte, die mich anflehten, sie nicht allein zu lassen mit Maximilian. Zu unseren Stunden begann der Patient ziemlich große, schwere Plastiktiere mitzubringen, Dinosaurier und Haie. Aus meinen Spielzeugen suchte er einige aus, mit denen ich spielen sollte. Meine Tiere waren viel kleiner, so große besaß ich gar nicht. Die Tiere sollten einander bekämpfen. Maximilian hieb seine Riesenfiguren auf den Tisch und auf meine Figuren so heftig ein, dass ich zunächst nur damit beschäftigt war, meine Finger, die die Tiere hielten, zu schützen. Langsam, nachdem ich darauf bestanden hatte, dass Maximilian seine Schläge nur

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Maximilian

andeutete, entwickelte sich ein wirkliches Spiel. Eines meiner Tiere, ein kleiner Dinosaurier, den ich auf Maximilians Frage, wie er heißen solle, spontan Konrad genannt hatte und in der Folge oft mit dem Namen meines Patienten verwechselte, wagte sich immer nah an die großen Tiere heran. Meine Namensverwechslung erfreute meinen Patienten. Es war, als habe ich mit dieser etwas Wichtiges erkannt. Er sagte: »Konrad will dahin, zu den großen Tieren, du musst dahin gehen.« Er erfand einen großen See, eine Silberflut, die giftig war und alles verschlang, dahinter lauerten seine Tiere. Der kleine Konrad stahl sich immer wieder dahin, während seine Eltern schliefen. Er wollte in der Silberflut baden. Maximilians große Tiere schalteten die Silberflut aus, weil Konrad darin gestorben wäre. Sie zeigten ihm aber nicht, wo der Knopf war, mit dem man die Silberflut einschalten konnte. Diesen Knopf malte Maximilian groß auf ein Blatt Papier. Ein großer Dinosaurier des Patienten beschützte Konrad und zeigte ihm, wie man die giftige Silberflut ungiftig machen könnte. Man musste erst an einer bestimmten Stelle Wasser aus dem See trinken, dann konnte man ungefährdet in der Silberflut baden. Maximilian liebte es, wenn Konrad immer wieder in der Nacht aufstand und weg von seinen Eltern zur gefährlichen Silberflut ging. Zu mir sagte er: »Ich freue mich immer schon darauf herzukommen, dass wir das mit der Silberflut spielen können.« Außer meiner Verwechslung der Namen war es nur sehr wenig möglich, mit Maximilian darüber zu sprechen, dass er das war, der immer wieder gefährliche Situationen suchte und sich in Gefahr brachte. Der Patient konnte es kaum ertragen, wenn ich eine Distanz zum Spiel suchte, manchmal schrie er dann ganz laut, dass wir endlich weiterspielen sollten. Es beeindruckte mich aber, wie Maximilian in einer rührenden Weise immer wieder dafür sorgte, dass meinem Konrad nichts Böses geschah, wie liebevoll seine bösen Tiere sein konnten. Es war ganz klar: Da war die Silberflut und Konrad wollte dahin, und er wäre ertrunken in ihr ohne den Schutz der bösen und mächtigen Tiere des Patienten. Dass überhaupt ein Spiel, ein Spielraum entstanden war, verblüffte mich. Es war, als zeige mir der Patient, den ich nur wie ein böses, destruktives Tier erlebt hatte, dass es darum ginge, Konrad zu schützen und überleben zu lassen. Er sollte nicht in der Silberflut, die er ersehnte, ertrinken. Ich dachte viel über das Wort »Silberflut« nach. Mir fiel die ausgewählte Kleidung des Patienten ein, die große Bedeutung, die er für seine Mutter, seinen Vater und den Lebensgefährten der Mutter hatte. Ich überlegte mir, wie besonders alles sein sollte, es gab keinen Fernseher in der Familie, man las, Maximilian durfte keine Spielzeugwaffen haben. Er aber sehnte sich danach, in der Silberflut zu baden. Es fiel mir auf, dass ich inzwischen keine Angst mehr vor dem Patienten hatte, vielmehr freute ich mich darauf, mit ihm weiterzuspielen. Er hatte mich mit seiner Fähigkeit, einen Spielraum zu gestalten, wirklich überrascht.

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Dass der Patient den Raum, den die Behandlung für seine aggressiven Anteile herstellte, nutzen konnte, hatte sich herausgestellt. Er besuchte die Schule ohne besondere Vorkommnisse und die Mutter und der Lebensgefährte schilderten mir, dass es nun möglich werde, mit Maximilian zu leben, mit ihm zu sprechen. Sie waren unglaublich dankbar, dass ich Maximilian behalten wollte und idealisierten meine Beziehung zu ihm. Es war mir deutlich, dass da etwas war, was ich noch nicht verstehen und mir erklären konnte, dass ich vieles noch nicht einzuordnen vermochte. Was ich spürte, war, dass die Mutter, der Lebensgefährte der Mutter und der Vater von Maximilian mich in einer Weise zu brauchen schienen, die mich an verwirrte Kinder erinnerte. Nicht nur Maximilian schien davon bedroht, in der Silberflut zu ertrinken. Ich hatte allerdings den Eindruck, dass sich alle drei Erwachsenen im Laufe der Elterngespräche langsam strukturierten. Es erstaunte mich, wie gut sie es annehmen konnten, als ich sagte, dass es sehr schwer für Maximilian sei, wenn er nie fernsehen und mit seinen Klassenkameraden darüber sprechen könne, und dass es auch schwer für ihn sei, nicht mit Pistolen spielen zu dürfen, dass es vielleicht gerade für ihn wichtig sei, mit Pistolen zu spielen. Maximilian entdeckte in einer Sitzung die Ritter in meiner Spielzeugkiste. Er baute sie auf, teilte mir welche zu und wurde dabei hektisch und sehr bestimmend, trieb mich an, fuchtelte mit den Waffen herum und griff mich schließlich an, obwohl ich noch nicht fertig war. Ich musste meine Hand wegziehen. Ich sage: »Oh, das erinnert mich an was, die Silberflut kommt wieder.« Er strahlte und nickte. Ich überlegte, ob er das verstehe, und war verblüfft. Ich hatte einen Ritter mit Löwenkopf und nannte ihn Richard Löwenherz und wir redeten darüber, dass der wirklich gelebt hatte. Der Patient sagte: »Maximilian war ein Kaiser, nach dem hat mich meine Mutter genannt.« Wir spielten weiter, attackierten einander spielerisch bis zu meiner Ankündigung des Endes der Sitzung in fünf Minuten. Maximilian rastete aus und schlug alles auf einen Haufen zusammen und drosch mit der Hand darauf ein: »Ich bin noch nicht fertig!« Plötzlich, mich böse ansehend, sagte er: »Am Freitag komme ich aber.« Ich: »Am Feiertag?« Er: »Du fährst bald drei Wochen weg, da komme ich am Freitag, ist mir egal, ob es ein Feiertag ist.« Ich: »Wir sehen uns so lange nicht, jetzt denkst du, ich will dich nicht sehen.« Er wurde plötzlich ganz ruhig, holte sich ein Buch aus dem Korb und fing an zu lesen. Ich begann aufzuräumen und sagte, dass unsere Zeit zu Ende sei. Er hörte mich nicht, las weiter. Ich: »Das ist sehr, sehr schwer mit dem Abschied, das gut hinzukriegen, so, dass man auch denken kann, dass man wiederkommt.« Er schaute kurz auf und mich an. Das Telefon schellte. Er fing langsam an, sich anzuziehen. Ich meinte zum allerersten Mal zu spüren, wie schwer es für ihn war, sich zu trennen, wie er klammern musste. Er wies mich

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an, dass ich an der Tür warten solle, dass er erst sehen wolle, ob der Papa unten stehe. »Okay«, rief er dann, »tschüss.« Trotz einiger Vorfälle ging Maximilian gerne in seine neue Klasse. Es war insgesamt auch zu Hause ruhiger geworden. Die Ankündigung der Mutter, dass sie ein Baby erwarte und im Sommer ihren Lebensgefährten heiraten werde, platzte in eine Stabilisierung hinein, die erst in geringem Maße entstanden war. Maximilian begann in der Folge eine schwere Verstopfung und eine fiebrige Grippe zu entwickeln. Die Eltern brachten ihn gleichwohl immer zu seinen Sitzungen, was ich manchmal erlebte, als wollten sie ihn loswerden. Ich konnte die körperliche Spannung fühlen, unter der er stand, seine Panik und sein Gefühl, in Stücke auseinanderzufallen. Wenn er schellte, klopfte mein Herz wild und ich wusste, er würde mich wieder angreifen. Maximilian kam nur noch auf mein Rufen hin in den Raum, er versteckte sich im Hausflur und wartete, bis ich ihn rief. Ich verstand, wie wenig erwünscht er sich bei mir fühlte, ganz so, als erwarte auch ich nun ein weiteres Kind. Er sprach unecht, wie ein Erwachsener zu mir, wenn er hereinkam, um bald darauf ein Angriffsszenario vorzubereiten. Einmal brachte er Zahnstocher mit, die er auf mich abschoss, ungeachtet meines Protestes. Es kam dann einige Male dazu, dass ich ihn körperlich anfassen musste, um ihn zu stoppen. Er rastete völlig aus, begann Kampfgesten mit Händen und Füßen auszuführen, die immer knapp davor waren, mich zu treffen. Sehr beeindruckend fand ich es, als er mich einmal mitten im Kampfgetümmel plötzlich ansah und sagte: »Du denkst, ich bin richtig schlimm, du kennst mich gar nicht.« Darauf kam ich oft zurück, wir begannen uns an die verschiedenen Szenen des Kampfes zwischen uns zu erinnern, darüber zu sprechen. »Ein bisschen kenne ich dich jetzt, Maximilian, es ist richtig schwer für dich, dass so viele Veränderungen anstehen.« Er, bedrückt: »Du meinst, weil sie jetzt heiraten und meine Mama schwanger ist.« Ich nickte. Maximilian entwickelte eine neue Art, mit seiner Wut umzugehen. Wenn wir wieder voreinander standen, in einem unserer unvermeidlichen Kämpfe, die er provozierte, sagte er plötzlich: »Ich muss jetzt unbedingt in dem Comic lesen.« Er zog sich dann zurück. Das Schwerste war, die Sitzung zu beenden. Maximilian wollte niemals gehen und brachte mich zur Verzweiflung damit. Gefangen in unseren Kämpfen, die in der Übertragung die Kämpfe mit der Mutter spiegelten, brauchte ich sehr lange, um zu begreifen, dass es für ihn jedes Mal so war, als ob ich ihn wegschicke und bestrafe, als ob ich ihn nicht haben wolle. Das Verlassen der Stunde war immer wieder ein sehr schmerzlicher Akt für den Patienten. Ganz abgesehen von der aktuell ihn überwältigenden Situation führte ich das darauf zurück, dass er schon früh in der Krippe untergebracht worden war und seine

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Fünf Behandlungen wiederkommender Patienten, in denen neuer Spielraum entstand

Mutter, die ihren Schulabschluss hatte machen wollen, wenig Nerven für ihn übrig gehabt hatte. Er klammerte sich an mir – in der Übertragung die Mutter – regelrecht fest. Obgleich sich die Situation in unseren Stunden immer wieder entspannte, war ich auf der Hut. Manchmal dachte ich: »Du bist verrückt, du kannst ihn wirklich nicht als dieses bedürftige Kind sehen, das er ist, du siehst ihn als Usurpator.« Es beschäftigte mich, wie schwer es mir inzwischen fiel, Maximilian direkt vor seiner Stunde zu erwarten. Ich wollte ihn nicht. Manchmal konnte ich zwar auch vor der Stunde etwas von ihm erkennen, das jenseits meiner Ablehnung war, doch hielt diese von Stunde zu Stunde an. Ich befand mich in der Situation der sehr jungen und überforderten Mutter, die Maximilian als etwas erlebt hatte, was sie in allem, was sie sich gewünscht hatte, gehindert hatte. Dreimal hatte sie eine Lehre abgebrochen, weil ihr Sohn sie mit seinen Krankheiten beschäftigt hatte. Daran dachte ich, wenn ich mir kurz vor jeder Sitzung wünschte, die Stunde meines Patienten fiele wenigstens einmal nur aus und ich könnte Atem holen. Zugleich fühlte ich deutlich, dass in all meiner Ablehnung ein enges Band zu wachsen begann. War er erst einmal da, rührte er mich mehr und mehr und ich konnte etwas verstehen von seinen Kämpfen, mit denen er mich herausforderte, um zu erfahren, ob ich sie bestehen würde. Er kam ausgesprochen gern zu unseren Stunden, was mich beschämte. Ich bemerkte, dass ich oft in einer liebevollen Art an ihn dachte, wenn er nicht da war. Doch sobald ich ihn erwartete, sein Schellen, war ich in Abwehrhaltung und benötigte zu Beginn der Sitzungen immer wieder Zeit, um mich daran zu gewöhnen, dass er nicht gekommen war, mich zu zerstören. Eine schwere Zeit begann. Die Mutter meines Patienten musste Monate im Krankenhaus verbringen, um ihr zweites Kind nicht zu verlieren. Manchmal dachte ich: »Sie kann dieses neue Kind nur empfangen, wenn sie sich den Anforderungen Maximilians entzieht.« Der verbrachte die Zeit mit dem Stiefvater, besuchte die Mutter aber täglich. Maximilians Stiefbruder, Sebastian, wurde sieben Wochen zu früh geboren und verbrachte einige Zeit im Krankenhaus, wo die Mutter ihn besuchte. Maximilian befand sich in einem Zustand tiefer Besorgnis um die Mutter. »Meiner Mama geht es schlecht«, sagte er häufig. Es war viel, dass er seine Besorgnis äußern konnte. Danach verschanzte er sich in rituellen Spielen. Es gelang mir in unseren Stunden immer besser, Maximilian als den kleinen, überforderten Jungen zu erkennen, der er war. Manchmal kam es mir vor, als ließen wir uns treiben. Ich dachte: »Wir sind, wir spielen dieses oder jenes Spiel, und wir spielen einfach, um zu sein, wir haben viel Spaß miteinander.« Ich wollte über einen langen Zeitraum hinweg nichts mehr deuten, ich konnte fühlen, wie wichtig es war, zu sein. Ich dachte an Sebastian und an

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Maximilian

Maximilians Mutter und wusste, ohne mir darüber Rechenschaft abzulegen, wie real schwer es für meinen Patienten war, zu existieren, Bestand zu haben. Als Sebastian nach Hause kam, war Maximilian ungemein zart, so erfuhr ich von seiner Mutter. Sebastian lächelte und lauschte Maximilians Stimme, er schien sie zu lieben. Die Umzugspläne der Familie, die Suche nach einem Haus im Grünen, beschäftigten meinen Patienten. Er fragte mich nach Weihnachten, ob er mich dann nicht mehr sehen könne, und erschrak, als ich sagte, wir könnten das noch nicht wissen, wie weit weg er nun ziehen werde, wir hätten jedenfalls noch Zeit bis zum Sommer. »So wenig Zeit, so wenig«, sagte Maximilian. Ich sagte: »Das ist bestimmt schwer für dich, schon wieder ein Umzug.« »Ich will und will nicht«, antwortete er, »ich finde Frankfurt jetzt auch gut, ich würde bleiben, ich weiß nicht, ich habe auch immer gedacht, dass ich noch lange zu dir kommen kann.« Tatsächlich war es so, dass der Patient nun allein zu seinen Stunden kam. Er hatte sich in einer Situation dafür entschieden, als die Mutter den kleinen Bruder stillen musste. Er hatte gesagt: »Ich will nicht zu spät kommen zu meiner Stunde.« Das Band zwischen uns hatte sich durch die Geburt des Bruders und die präokkupierte Mutter verstärkt. Gleichzeitig begann der Patient im Zuge des geplanten Ortswechsels die Begrenztheit unserer Beziehung zu realisieren. Ich dachte über den Stand seiner Entwicklung nach. Es war ein Innenraum, ein innerer Spielraum, beim Patienten entstanden, in dem sich über die zeitliche Begrenztheit unserer Beziehung nachdenken ließ. Gleichzeitig nahm ich wahr, wie stark sich der Patient anzupassen versuchte, wie unaufrichtig er oft war, wie er seine Bedürftigkeit archaischen Über-Ich-Anforderungen unterordnete. Ich konnte fühlen, ein wie großer Sprengstoff in seinem Versuch, ein großer Bruder und der Mutter ein braver Sohn zu sein, enthalten war. Mein eigener Umzug in dieser Zeit eröffnete einen neuen Raum für den Patienten, mit seiner Bedürftigkeit umzugehen, etwas von sich zu zeigen. Er kam zur ersten Stunde in der neuen Praxis und sagte sofort: »Das ist so dunkel hier, so groß, kannst du nicht wieder zurückziehen?« Hinzu kam, dass bei unserem Tipp-Kick-Spiel ein Ball in einer Kuhle des Parketts verschwand. Maximilian nannte die Stelle das Bermuda-Dreieck. Er kam zur nächsten Stunde mit seiner Mutter, von der er verlangte, meine neue Praxis zu begutachten. Sie war schon seit einigen Monaten nicht mehr mitgekommen, Sebastian, der kleine Bruder, war auch dabei. Maximilian sagte: »Nächstes Mal komme ich wieder allein.« Ich sagte: »Das war schon wichtig, dass deine Mutter mit dir kam heute, du hast dich geängstigt vor meinem neuen Raum, du fandest ihn so groß und dunkel, du wolltest das nicht, mit mir umziehen. Ich habe überlegt, wie das war, als du von Berlin nach Frankfurt kamst.« Er: »Es war genauso, ich hatte Angst, es war

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komisch, ich wollte zurück.« Ich: »Man kann nicht sicher sein, wenn so viel Neues passiert, als ob alles voller Bermudadreiecke wäre.« »Ich hasse Umzüge«, sagte Maximilian. Das Bermudadreieck wurde eine stehende Redewendung in unseren Sitzungen, es stand für die auftauchenden Gefühle von Unsicherheit, die der Patient nicht mehr verleugnen musste. Eine Art von Innenraum, die Fähigkeit, zu symbolisieren, begann sich zu entwickeln. Der Kontakt zur Mutter wurde in diesem letzten Behandlungsabschnitt dicht. Die Geburt Sebastians belebte die Erinnerung an die frühe Zeit mit Maximilian. Sie musste oft weinen, wenn sie darüber sprach, wie ihr damals alles zu viel gewesen war, wie Maximilian sich an sie geklammert und geschrien und geschrien hatte, wie es einfach keine Ruhe gab, keinen Frieden mit ihm. »Alles, was ich Sebastian jetzt geben kann, der ein wirklich sonniges und friedliches Kind ist, hat Maximilian nicht bekommen. Ich war gar nicht bereit gewesen für ein Kind, damals, ich habe ihn ja auch kaum gestillt. Ich kann das jetzt plötzlich besser verstehen, warum er immer so getrieben war. Ich glaube, er fängt erst jetzt langsam an, etwas zu entdecken, was der kleine Sebastian schon kennt.« Es war sehr wichtig, mit der Mutter immer wieder über ihre plötzlich ausbrechende Rigidität Maximilian gegenüber zu sprechen. Manchmal behandelte sie ihn wie einen Hund, den sie dressieren wollte, und es kam dann zu heftigen Szenen, die stets vom Stiefvater beruhigt wurden. Ich hatte den Eindruck, dass die Mutter langsam einen Raum gewann, Maximilian in einer neuen Weise zu sehen. Der leibliche Vater kam nach wie vor zu häufigen Besuchen. Maximilian schien sich zunehmend mit ihm zu identifizieren und träumte davon, später auch Physiker zu werden. An die letzte Stunde mit meinem Patienten kann ich mich nicht erinnern. Fast könnte man sagen, es war, als habe sie gar nicht stattgefunden. Darstellung des zweiten Behandlungszeitraumes

Maximilian wurde eineinhalb Jahre später von seinen Eltern erneut angemeldet, weil er aufgrund seines Verweigerungsverhaltens und massiver aggressiver Durchbrüche dabei war, von seiner Schule zu fliegen. Die Familie war in eine 60 Kilometer entfernte Stadt gezogen, ein drittes Kind war vor wenigen Monaten geboren worden. Die Mutter sagte: »Maximilian hat uns gefragt, ob er wieder zu Ihnen kommen darf. Frau Langer hat mir damals auch geholfen, hat er gesagt. Und er hat ja recht, es ging ihm damals so gut.« Der Anmeldegrund zur ersten Behandlung sowie die Begleitumstände ähnelten der jetzigen, erneuten Anmeldung. Damals war Maximilian vollkommen desorientiert vom Umzug von Berlin nach Frankfurt gewesen, kurz darauf wurde sein erster Bruder geboren. Er hatte nur noch um sich geschlagen.

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Maximilian

Wie damals mobilisierten nun Umzug und Schulwechsel sowie die Geburt eines weiteren Bruders frühe Verunsicherung. Maximilian schellte Sturm und raste die Treppen empor, dann stand er plötzlich still vor mir und sah mich an. Da war etwas so Verzweifeltes in seinen Augen, dass ich ihn fast spontan in den Arm genommen hätte, mich gerade noch beherrschte. »Endlich«, stieß er atemlos aus, »es hat so lange gedauert. Jetzt wird alles gut. Ich habe Angst gehabt, dass es nicht klappt.« Nach diesem Moment des Innehaltens stürmte er in den alten Raum, untersuchte alles, stellte fest, was noch wie früher war, was sich verändert hatte. Dann suchte er das alte Tipp-Kick-Spiel, wir begannen zu spielen, er mit seinem gewohnten Kicker. Er spielte leidenschaftlich und wild, im Grunde fiel im das Spielen schwer. Ich dachte: »Er hat kaum noch einen Spielraum.« Es war auch richtig schwer für mich, ihn anzusprechen. »Maximilian, vielleicht kannst du mir sagen, was passiert ist, ich habe so eine Ahnung, es geht dir sehr schlecht?«, begann ich hilflos und fühlte mich dabei überfordert. Sofort breitete sich eine ungeheuerliche Traurigkeit und Resignation in Maximilians Gesicht aus. »Ich darf seit gestern nicht in die Schule. Ich weiß nicht, wie lange, ich glaube eine Woche. Es ist wie früher, du weißt ja, wie ich bin. Sie ärgern mich und dann halte ich es nicht aus und werde richtig gemein im Schlagen. Und ich habe auch Angst, ich weiß ja nicht, ob ich wieder richtig zu dir kommen darf.« Ich, sofort: »Ich glaube, es ist wichtig, dass du wieder kommst. Es ist so viel passiert, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben, du bist umgezogen, du hast die Schule gewechselt, du hast einen zweiten Bruder bekommen, es ist irgendwie viel zu viel passiert.« Maximilian: »Ich wünschte, wir wären in Frankfurt geblieben. Am Anfang war es ja auch in Frankfurt schwer und ich wollte zurück nach Berlin, aber dann habe ich dich kennengelernt und Frankfurt wurde zu meiner Lieblingsstadt.« Ich nahm sofort wahr, wie verzweifelt er war. In Konfliktsituationen erlebte er sich innerlich als fern einem schützenden Objekt, in einer feindlichen Welt, einsam und verzweifelt. Seine Bedürftigkeit und Angst kehrte er in einem kontraphobischen Akt in omnipotente Wut um. Seine wiederkehrende Inszenierung des Monsterkindes, mit dem niemand zu tun haben will, hing der alten Szene mit seinen überforderten Eltern an. Seine Beruhigung nach dem ersten Behandlungszeitraum war auf eine schwere Probe gestellt worden. Wieder war er mit seinen Eltern umgezogen, hatte die Schule wechseln müssen, in der er sich gerade eingefunden hatte, ein weiteres Mal wurde ein kleiner Bruder geboren, nachdem er sich an den ersten gerade gewöhnt hatte. Wieder waren die Eltern präokkupiert und hatten aufgrund der real anstrengenden Lebensverhältnisse wenig Raum für Maximilian übrig. Es erschien mir fast als folgerichtig, dass er erneut zu wüten begann. Hinzu kam, dass auch wir uns hatten

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trennen müssen. Die weite Entfernung schien damals, zusammengenommen mit allen anderen Belastungen der Familie, an eine Fortsetzung der Therapie nicht denken zu lassen. Tatsächlich nahm ich jetzt wahr, wie groß die Belastung durch die sehr langen Fahrtwege war, gleichwohl überzeugten mich der Wunsch und die feste Überzeugung seiner Eltern, dass Maximilian noch einmal zurückkommen müsse zu mir. »Ich habe das jetzt endlich verstanden, wir müssen uns erden, wir werden bleiben, wo wir sind«, sagte die Mutter, »und Maximilian, er hat schwer gelitten unter unserem erneuten Umzug. Wir dachten, es wird alles gut, aber wir waren naiv. Wir planen auch keine weiteren Kinder und wir hoffen sehr stark, dass Maximilian – er sehnt sich ja so zurückzukommen zu Ihnen – anknüpfen kann an eine Erfahrung, die ihm gut getan hat.« Ich erlebte die Mutter und ihren neuen Mann als verantwortungsvolles Paar. Beim Bringen und Abholen kam die Mutter mit der Babywippe in der einen, Sebastian an der anderen Hand die Treppe hoch, Maximilian stürmte voran. Der Säugling Benjamin war auch während der Elterngespräche mit dabei. Einen größeren Gegensatz als zum getriebenen, unglücklichen Maximilian kann man sich nicht vorstellen. Es waren zufriedene Kinder, die von ihren Eltern gehalten wurden. Maximilian verkörperte gleichsam eine alte Überforderung. Ich hatte es mit einem sehr kranken Kind zu tun, dies verstand ich nach der Neuaufnahme unserer Stunden. Er konnte sich nicht mehr fühlen. Alles, was wir erarbeitet hatten, war geschwunden. Er war in einer dramatischen Weise verzweifelt und einsam. Seine Bewegungen wirkten wie abgehackt, während er mit einer Hand Figuren führte, strich er sich unablässig mit der anderen Hand über Beine und Geschlecht. Dabei war er andauernd damit beschäftigt, mir zu sagen, wie gerne er wiederkomme zu mir, fast so, als erwarte er jeden Moment, von mir hinausgeworfen zu werden. Er war absolut unansprechbar. Manchmal erzählte ich etwas von früher und begriff, dass er sich erinnerte, aber er konnte bei gar nichts bleiben und warf sich verzweifelt in unser Spiel hinein. »Zu Hause spiele ich das allein«, äußerte er. Ich: »Vielleicht langweilig.« Er: »Nein, nein, gar nicht.« Er sah jedes Mal aus, als wäre er gerade erst aufgewacht und völlig verwirrt, verströmte Schweißgeruch. Einmal, die Mutter schellte unvermutet in die Stunde hinein – Maximilian: »Wir haben doch noch Zeit?« –, um die Versichertenkarte abzugeben, berührte er meinen Laptop, der auf dem Schreibtisch stand, und ich sagte ganz schnell: »Schätzchen, mach das nicht.« Ich schämte mich sofort, hatte ich doch zu ihm in einer intimen Weise gesprochen, die mir nicht zustand, fast so, als sei er mein Sohn. Er fing sich sofort ein. Ich dachte: »Wessen Schatz ist er denn auch? Befindet er sich nicht in Wartestellung, um wieder beschult zu werden?« Ich

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Maximilian

schämte mich sehr, denn ich liebte die neu aufgenommenen Stunden nicht, sie versetzten mich in eine Habt-Acht-Stellung, eine Art von Versteinerung. Dennoch war meine spontan geäußerte Anrede absolut echt und wollte ihn hinwegtrösten über die unvermittelte Unterbrechung unserer Stunde, die er nur schwer ertragen konnte, wie ich fühlte. Gleichzeitig war es jedoch falsch, ihn mit »Schätzchen« anzureden, ein falscher Trost. Ich konnte etwas nicht zusammenbringen. Da war meine Versteinerung vor den Stunden, da war aber auch etwas, was aus mir herausbrach, als ich plötzlich »Schätzchen« sagte. Ich meinte es und ich meinte es nicht. Ich sah ihn oft an, wenn wir mit unseren Figuren miteinander kämpften. Eine andrängende Traurigkeit überfiel mich, ich konnte kaum noch sprechen. Ich wünschte mir, ihn immerzu nur noch anzusehen, denn ich empfand seine Verzweiflung tief. Ich sah seine abgehackten Bewegungen, wie er nicht aufhören konnte, seine Beine und sein Geschlecht zu berühren, wie er kämpfte und kämpfte, weil er nicht ertrinken wollte. Er schlug die Mutter-Figur, die ich spielte, mehrfach schwer. Ich ahnte, dass ihm nicht bewusst war, was er tat. Er wollte nicht wissen, wie stark er die Kinder gebärende Mutter, die ich in der Übertragung verkörperte, hasste. Nach einigen Stunden bei mir hängte Maximilian seine Jacke an einen verborgenen Haken an einem Bücherregal, das in meinem Flur stand, und vergaß sie mitzunehmen. Ich sah sie sofort, nachdem er gegangen war, und nahm mir vor, ihn in der nächsten Stunde daran zu erinnern. Stunde für Stunde aber vergaß ich mein Anliegen. Erst als ich die Eltern sah, fiel mir die Jacke wieder ein. Ich war schon dabei, ihnen die Jacke mitzugeben, da überfiel mich der Gedanke: »Das ist Maximilians Jacke, er hat sie hier hängenlassen und das ist er ganz allein, dem du sie mitgeben kannst.« Dazu kam es aber nicht. Die Sommerferien über hing Maximilians Jacke in meinem Flur. Manchmal fiel mein Blick darauf und ich musste lächeln. Ich meinte zu verstehen: Es musste so sein, wie es war. Maximilian war irgendwie da, auch wenn er nicht da war. Es war sehr wichtig, dass seine Jacke nun in meinem Flur hing, dass er sie vergessen und dass auch ich mich nicht an sie erinnert hatte, wenn er bei mir gewesen war. Ich hatte das Gefühl, dass er diesen Raum für seine Jacke bei mir sehr stark benötigte. Sie setzte einen Kontrapunkt zu seinen immerwährenden Versicherungen: »Seit ich wieder zu dir kommen darf, ist alles, alles gut. Schon wenn ich gehe, denke ich daran, dass ich wiederkomme«, die auf mich wie eine magische Formel gegen seine Unsicherheit wirkten. Und auf eine ähnlich magische Weise fühlte ich jetzt, dass die Jacke hängen musste, wo sie nun einmal hing. Seit die Jacke bei mir hing (als besäße sie wirklich eine Art magische Kraft), fasste Maximilian nicht mehr nach seinem Geschlecht, er wirkte auch entschie-

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den weniger getrieben. Manchmal kam es vor, dass wir, ohne miteinander zu kämpfen, uns einfach austauschten über dieses und jenes. Maximilian erzählte mir von seinen »Was ist was?«-Büchern und wünschte sich, dass ich ihm Fragen stellte. »Frau Langer, du kannst mich zu allem fragen, alles was du willst.« »Bermudadreieck«, erwiderte ich spontan. »Gerade darüber habe ich viel nachgelesen, das hat mich interessiert. Ich wollte wissen, was das eigentlich ist und warum man es so nennt. Das ist eine Stelle nahe Südafrika. Immer wieder gingen dort Schiffe unter und tauchten nie wieder auf. Es wird vermutet, dass es da einen geheimen Strudel gibt, der mit der Verschiebung der Erdplatten an dieser Stelle zusammenhängt, aber auch mit dem Ausbruch von Vulkanen. Wirklich hat das bisher noch keiner klären können.« Ich merkte, dass ich ihn eine Weile nur verblüfft anschaute. Maximilian: »Das wundert dich jetzt, dass ich darüber Bescheid weiß.« Ich: »Schon, und wie du das wiedergeben kannst. Ich frage mich auch, was du wohl denkst über diesen schrecklichen Strudel.« Er: »Die einzige Möglichkeit, dass das aufhört, ist, es zu erforschen.« Wir schwiegen einen Moment. Ich nickte: »Vielleicht denkst du …« Maximilian unterbrach mich sofort: »Genau das denke ich.« Ich: »Du würdest gerne wissen, warum.« Maximilian strahlte mich an, als ich das sagte. Ich dachte weiter nach: »Er will das wissen, in welchem schlimmen Strudel er immer wieder unterzugehen droht und warum das so ist. Er hat mich zu der gemacht, die den Strudel bannt, die Erdplatten vom Verschieben und die Vulkane vom Ausbruch abhält. Er hat seine Jacke in meinen Flur gehängt und ist sich sicher, dass ich meine schützende Hand über ihn halte, solange die Jacke in meinem Flur hängt, er seine Stunden haben kann.« In meinen dahineilenden Phantasien stellte ich mir vor, dass Maximilian ein Physiker würde, seinem Vater gleich. Während er sich mit Phänomenen der Natur befassen würde, würde er in einer verschobenen Weise seine eigene innere Not, die einer Naturkatastrophe in nichts nachstand, in Schach halten. »Frag mich noch was, Frau Langer«, hörte ich Maximilian in meine Gedanken hineinsprechen. »Jetzt muss ich mal überlegen, warte, Sintflut.« Maximilian lächelte und bemerkte trocken: »Du nimmst immer was Spezielles. Du denkst jetzt an die Silberflut.« »Ja, stimmt, genau daran habe ich gedacht, Maximilian.« Er: »Gott schickte die Sintflut über die Welt, um die Menschen zu bestrafen, weil sie seine Gebote nicht einhielten. Noah aber baute ein Schiff und es gelang ihm, alle Arten, die auf der Welt lebten, zu retten.« Wieder empfand ich dieses tiefe Erstaunen über Maximilian und wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Ich war wirklich verwirrt. »Maximilian, das ist wirklich wunderbar, was du alles weißt, wie hätte ich das ahnen können?« Maximilian, sehr stolz: »Da siehst du mal, Frau Langer.« Ich: »Stimmt, ich sehe immer mehr von dir, so vieles, was du verborgen hast, mir

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Maximilian

niemals zeigtest, ich weiß nicht, warum.« Maximilian: »Ich habe nicht gewusst, dass du das wunderbar finden würdest.« Ich: »Doch, schon. Und gerade wenn ich an unsere alte Zeit und die Silberflut denke, da fällt mir noch einmal ein, wie du den kleinen Konrad schützen wolltest. Die böse Flut sollte ihn nicht kriegen.« Ich überlegte mir, dass der kleine Konrad auch für den Penis des Patienten, den er nach der Wiederaufnahme der Behandlung ständig berührte, gestanden hatte. Seine Potenz und Unversehrtheit, aber auch seine Kleinheit zu schützen, ihn den kastrierenden großen Tieren nicht auszuliefern, einen Spielraum für ihn zu finden, war überlebenswichtig gewesen. »Ich weiß, dass ich nicht für immer kommen kann«, sagte er einige Zeit später, »ich hab das kapiert. Wie lange haben wir eigentlich noch?« »Das klingt, als ob du dir das jetzt vorstellen kannst«, bemerkte ich. »Ich muss es mir vorstellen, aber ich will es auch, ich bin jetzt richtig gut geworden in der Schule. Du weißt schon, was ich meine. Ach ja, und dann«, ein Grinsen überzog sein Gesicht, »dann nehme ich auch meine Jacke mit, ich weiß ja, wo sie hängt.« Ich nickte und lächelte meinerseits. Maximilians Jacke hatte ein Jahr in meinem Flur gehangen, als er sie in unserer letzten Stunde vom Haken nahm. Das war fast der ganze Zeitraum seiner zweiten Behandlung gewesen, die einstündig stattgefunden hatte. Der zweistündige Anfahrtsweg und die Belastung der Eltern mit den kleinen Kindern hatte eine höhere Frequenz unmöglich gemacht. Abschlussbetrachtung des Behandlungsverlaufs insgesamt

Der brüchige Rahmen des Lebens meines Patienten spiegelte sich im Rahmen der Behandlung. Zu Beginn war es ihm kaum möglich gewesen, das Ende der Stunden zu ertragen. Am Ende der Therapie kämpfte er schwer darum, einen Weg zu finden, sich zu verabschieden. Der Mangel an Halt, den er als Sohn einer sehr jungen, depressiven und alleinerziehenden Mutter früh erfuhr, lebte in den späteren Szenen seines Lebens immer wieder auf. Da waren die Umzüge, da waren die dicht aufeinanderfolgenden Geburten seiner Geschwister, die er als zutiefst verunsichernd erlebte. Eigentlich war es so, als müsse er seinen inneren Rahmen gemäß sich stetig verändernden äußeren Gegebenheiten gestalten. Er empfand dies in einer unbewussten Weise so, als ginge es nie um ihn. Tatsächlich konnte ja auch die zweite Behandlung aufgrund des weiten Weges und der Belastungen der Familie insgesamt nur einstündig stattfinden. Der innere Spielraum dieses Patienten hatte sich in der ersten Behandlung deutlich vergrößert. Hierbei war wichtig gewesen, dass er mich mit seiner Wildheit und Aggressivität bis an meine innere Grenze treiben konnte, ohne dass unsere Beziehung abbrach. Es war diese Erfahrung, die sein Wiederkommen ermöglichte.

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Aus dem, was möglich gewesen war, hatte der Patient viel gemacht. Er hatte sich auf seine Weise der Beschränktheit des Objekts, das nicht immer zur Verfügung steht, genähert und daraus seinen Spielraum gemacht. Dafür stand seine Jacke, mit der er in einer wirklich kreativen Weise von etwas gesprochen hatte, was ihm gar nicht bewusst gewesen war. Ich selbst reagierte in einer ähnlich unbewussten Weise. Ohne mir darüber Rechenschaft geben zu können, hatte ich das Gefühl gehabt, dass es wichtig und unumgänglich war.

Sören, zehn Jahre – Grund der Anmeldung: Hyperaktivität (1. Behandlungszeitraum: 150 Stunden, dreimal wöchentlich eine Stunde; 30 Stunden zweimal wöchentlich eine Stunde; 2. Behandlungszeitraum, eineinhalb Jahr später: 25 Stunden, einmal wöchentlich eine Stunde; 3. Behandlungszeitraum, ein Jahr später: 50 Stunden, zweimal wöchentlich eine Stunde; 4. Behandlungszeitraum, ein Jahr später: 75 Stunden, zweimal wöchentlich eine Stunde; 300 Stunden insgesamt) Nach 180 Stunden analytischer Psychotherapie endete die Therapie, zu der die Eltern den damals zehnjährigen Sören angemeldet hatten. Eineinhalb Jahre nach Beendigung der ersten Behandlung rief der inzwischen dreizehneinhalbjährige Sören an und meldete sich erneut, und zwar selber, für ein halbes Jahr an. Ein Jahr nach dem zweiten Behandlungszeitraum kam es zu einer dritten Anmeldung von Sören selber, der inzwischen 16 Jahre alt war. Eine weitere, vierte und letzte Anmeldung, erneut durch den Patienten selber, inzwischen mit 18 Jahren ein junger, erwachsener Mann, erfolgte ein Jahr nach der dritten Anmeldung und endete nach einem Jahr. Darstellung des ersten Behandlungszeitraumes

Ein ausgesprochen elegantes Paar erwartete mich im Flur. »Wir wissen nicht mehr weiter«, entfuhr es der Mutter, kaum hatte sie Platz genommen. Der Vater nickte: »Wir wissen es wirklich nicht, wie es weitergehen soll. Unser Sohn ist jetzt seit einem Dreivierteljahr in einem Internat, gleich nach der Grundschule kam er dahin, er war auch einverstanden und hat sich sehr darauf gefreut. Sie wollen ihn aber nicht behalten. Er stört und kaspert herum, er ist so verdammt unruhig, wir haben es ja selbst kaum noch mit ihm ausgehalten, und wenn ich ehrlich sein soll, wir waren froh und zutiefst erleichtert, nachdem Sören im Internat war. Wir wussten gar nicht mehr, was das ist, mal ruhig zu Hause sein.« »Wir waren mit den Nerven fertig«, fuhr die Mutter fort. »Sören hat uns

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Sören

gefordert und gefordert. Niemand von unseren Bekannten konnte sich vorstellen, was wir aushalten mussten, und auch seine Lehrerin nicht. Er wirkt auf Außenstehende sehr charmant und beziehungsvoll. Kürzlich, ein alltägliches Beispiel, ich hatte den Tisch schon gedeckt und aufgetragen, da hat er sich eine Wurst rausgefischt und runtergeschlungen. Wir haben ihm gesagt, dass er nun keine weitere bekommt. Er saß dann auf seinem Platz, hat am Tisch gewackelt und andauernd gesagt: ›Ich will meine Wurst.‹ Um in Ruhe essen zu können, haben wir ihn im Hobbyraum eingesperrt. Kaum ließen wir ihn heraus, ging es von Neuem los: ›Ich will meine Wurst‹, hat er geschrien und nach uns getreten. Ich habe Angst, was werden soll, wenn er zurückkommt. Wir haben ja auch vor einem Monat bei einem weiteren Internat vorgesprochen und sie haben Sören als zu schwierig abgelehnt und uns Ihre Adresse empfohlen.« »Eigentlich wurde es dann noch schwieriger«, bemerkte der Vater, »die erneute Ablehnung hat Sören extrem mitgenommen. Er ist absolut unglücklich. Er ruft uns seither mehrfach am Tag an und fragt, wann er nach Hause kann.« Ich merkte, dass es mir schwer fiel, aktiv zu werden, das Wort zu ergreifen. Ich fühlte mich so schwer und niedergedrückt. »Ich begreife, wie schlecht es Ihnen und Ihrem Sohn geht«, begann ich langsam, »es ist, als gäbe es keinen Ort für ihn, als sei er ein Monsterkind.« »Genau das habe ich wieder und wieder gedacht, Sören ist ein Monsterkind, genau dieses Wort habe ich gedacht«, sprudelte es aus der Mutter heraus, »ich bin so froh, dass Sie da etwas verstehen können, ich habe mich immer so geschämt für meine Gedanken und ich weiß ja auch nicht, warum alles so ist, wie es ist. Er war so ein wunderbar ruhiges Baby, gar nicht wie seine ältere Schwester, die viel geschrien hat.« »Da ist noch etwas«, warf der Vater ein, »was ich nicht verstehen kann. Sören ist Messdiener mit Leidenschaft. Ohne Probleme kann er zwei Stunden stillstehend die Messe begleiten.« »Es ist schwer zu begreifen, was in Sören vorgeht, warum er ist, wie er ist. Ich würde ihn gerne kennenlernen, um mir selbst einen Eindruck zu verschaffen«, sagte ich. Wir vereinbarten einen Termin, spätnachmittags am Freitag, wenn er vom Internat zu Besuch zu seinen Eltern kommen würde. Sören, ein hübscher, blonder Junge kam grinsend, leicht zögernd die Treppe hoch. Beim Betreten des Therapieraumes drehte er blitzschnell das »Bitte nicht stören«-Schild um. Ich war ihm noch kaum in den Raum gefolgt, da hatte er schon seinen Stuhl umgeworfen. »So, was jetzt?«, fragte er mich, als wir uns am Tisch gegenübersaßen. Ich sah, dass er zwei Armbanduhren trug, eine am rechten, eine am linken Handgelenk. Sören bemerkte meinen Blick sofort. »Die eine habe ich zur Kommunion bekommen, die andere hat mein Vater mir gegeben. Ich habe Angst, dass eine ausfällt, dann hätte ich noch die andere, das hoffe ich jedenfalls.« »Auch zwei Armbanduhren können dich nicht sicher machen«,

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bemerkte ich leise. »Meine Klassenkameraden haben eine Liste gemacht, sie wollen, dass ich bleibe«, entfuhr es ihm. Es war einen Moment lang ganz still im Raum. Ich schaute ihn an und traute meinen Augen nicht. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er begann bitterlich zu weinen. »Es geht dir schlecht«, flüsterte ich. Sören nickte ernst und beruhigte sich langsam. »Ich habe solches Heimweh, obwohl ich gerne im Internat bin, ich halte es nicht mehr aus. Ich rufe sie dauernd an, ich muss ihre Stimmen hören, sonst denke ich, sie sind tot, meine Eltern, meine Schwester, die Großtante.« Er brach erneut in Tränen aus und murmelte dabei: »Wenn ich nur immer ihre Stimmen hören könnte und wüsste, dass sie leben.« Sein Blick fiel auf ein kleines Spielzeugtelefon. »Darf ich das mal haben?«, fragte er und begann auf mein Nicken hin sofort die Wählscheibe zu betätigen. »Du möchtest deine Mutter jetzt anrufen«, sagte ich. Er: »Sie kommt ja gleich. Das hoffe ich wenigstens.« Er begann mir alle kommenden Tage aufzuzählen, an denen er seine Eltern würde sehen können, und die, an denen er sie nicht würde sehen können. Als es schellte, ging ein Strahlen über sein Gesicht. Er rannte ihr entgegen, sprang sie regelrecht an, steckte dann seinen Daumen in den Mund und begann an ihren Haaren zu ziehen. »Sören, das tut weh«, sagte die Mutter. »Das hoffe ich jedenfalls«, diese Redewendung hatte Sören zweimal gebraucht, sie ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich verstand, dass er über nichts auf der Welt mehr richtig sicher sein konnte. Sein Schmerz hatte mich tief bewegt. Die Szene, als die Mutter schellte und sein Gesicht zu strahlen begann und er sich in ein Kleinkind verwandelte, ließ mich nicht mehr los. Ich verstand, wie klein und überfordert er innerlich war, wie groß seine Angst war, alleingelassen zu werden. Ich überlegte mir auch, dass er Angst habe zu sterben in dieser Welt der unsicheren Objekte. Ich vereinbarte mit den Eltern und Sören eine dreistündige Frequenz der Behandlung, die beginnen würde, sobald er in zwei Monaten wieder zu Hause wäre. »Er muss einmal so richtig da sein«, hatte ich sofort gedacht und dass ich es mit ihm nicht würde aufnehmen können, wenn die Pausen zu groß werden würden. Ich fühlte seine Angst zu sterben, die er in die Objekte hineingab. Die Eltern meldeten Sören, der zwar viel herumkasperte, aber ansonsten ein ausgesprochen guter Schüler war, weil ihm alles zuflog, bei einem Gymnasium an ihrem Ort an. Zur ersten Behandlungsstunde kam der Patient strahlend. »Ich komme jetzt immer am Montag, Dienstag und Freitag zu Ihnen«, war das Erste, was er sagte. Rasend schnell fuhr er fort: »Mein Opa war erst 72, als er starb, dann könnte mein Vater ja schon in 22 Jahren sterben, ich wäre dann erst 32.« Ich, verwirrt: »Du sagst das, als ob es schon morgen wäre.« »Aber es ist doch gar nicht lange«,

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Sören

erwiderte er ernst. »Es gibt eigentlich nur eine Sache, die ich machen will, ich werde mal Architekt, das will ich unbedingt. Ich will so ein Haus bauen wie den Messeturm. Ich will wissen, wie man das macht, dass der nicht umfällt.« »Ein Haus, das sicher steht«, erwiderte ich langsam, er fuhr mir wild ins Wort: »Ich werde es nicht schaffen, ich kann es gar nicht schaffen.« »Warum nicht, Sören?«, entgegnete ich. »Sie kennen mich nicht. Ich kann so was nicht. Ich bin richtig schlimm, ich mache böse Sachen, ich mache alles kaputt. Im letzten Winter bin ich eine Abfahrt runtergerast, die war schlimmer als schwarz, ich habe mir ein Bein gebrochen. Ich bin einfach losgefahren, sie haben alle geschrien.« Ich: »Sie wollten dich aufhalten.« Er: »Ich weiß es nicht, sie haben jedenfalls geschrien.« Ich: »Du zweifelst.« Er: »Immer.« Ich, sehr leise: »Als ob du manchmal denkst, …« Er, mich unterbrechend: »Genau das denke ich, genau das.« Ich wagte es nicht auszusprechen, wovon wir zu sprechen schienen: Sören hatte Angst, sie wünschten seinen Tod. Schon nach einer ausgesprochen kurzen Behandlungszeit entstand in mir das Gefühl einer absoluten Vergeblichkeit. »Sören hinterlässt keine Spuren in mir, verschwindet, löscht die Stunden aus«, dachte ich wieder und wieder. Als arbeitete er genau dagegen an, zerkratzte er sich vor meinen Augen seine Haut, verbrannte sich fast mit einem Feuerzeug, verletzte sich fast mit einem Lineal. Dies alles, von mir gerade so verhindert, ließ mich hochfahren und aufschreien, erschreckte mich, einmal fast zu Tränen. Dennoch wirkte der Patient, als ob er nicht glauben könne, dass ich überhaupt etwas im Zusammenhang mit ihm fühlen könne. »Sie tun das für Geld«, sagte er oft, »Sie müssen es für Geld mit mir aushalten. Sie nehmen das Geld und schauen doch eiskalt zu, wie ich mich zerstöre.« Seine Ankunft kündigte er stets mit heftigem Schellen am Gartentor an, bevor er wie alle anderen, die zu meiner Praxis kamen, die Klingel am Hauseingang betätigte. Kaum hatte er den Raum betreten, fiel ihm etwas ein, was mich in einen Alarmzustand versetzte. Einmal – er hatte gerade der Deckenlampe einen heftigen Hieb versetzt, sie schwankte hin und her und ich hielt die Luft an – schoss es böse aus mir heraus: »Ich soll schon was aushalten für mein Geld.« Sören starrte mich betroffen an. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass nicht alles stimmt, was ich manchmal sage. Aber dann denke ich auch wieder, doch, es stimmt und außer dem Geld bedeutet Ihnen alles nichts.« Ich: »Manchmal scheinst du zu zweifeln.« Er: »Manchmal.« Leise begann er zu singen, die Zeile eines Liedes, das damals gerade in den Charts war: »I’m a loser baby, why don’t you kill me?« Ich: »Ein Loser verdient den Tod?« Sören: »Er muss mit allem rechnen.« Ich: »Das bist du, der denkt, dass er ein Loser ist.« Er: »Das denke ich nicht nur.« Ich: »Mhm.« Sören: »Was

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denken Sie?« »Dass du dich manchmal zu einem machen willst, irgendwie aus Rache.« »Nach meinem Opa haben sie eine Straße benannt.« Ich verstand plötzlich, Sören wollte über seine Familie im Auf-der-Straße-Liegen triumphieren. Seit er aus dem Internat zurückgekehrt war, war seine Angstsymptomatik verschwunden, hingegen waren seine schulischen Leistungen in den Keller gegangen. Ich dachte an das teure Auto, mit dem die Eltern bei mir vorfuhren, an ihre elegante Erscheinung, die mir sogleich aufgefallen war, an all ihre unausgesprochenen Erwartungen an mich. Ich schämte mich von Anfang an vor den Eltern Sörens. Immer wieder dachte ich: »Du hast so wenig zu bieten. Du verstehst auch gar nichts wirklich und endgültig. Sie werden dich komisch finden und irgendwann plötzlich sagen, es reicht. Wir schicken unseren Sohn dreimal wöchentlich zu Ihnen, wir selbst kommen alle vierzehn Tage. Die Stunden sind teuer. Frau Langer, Sie bringen es nicht, Sie sind eine Loserin.« Ich konnte keine Erfolge aufweisen. Sören, den die Eltern zu mir geschickt hatten, um es mit ihm auszuhalten, wenn er aus dem Internat käme, versagte nun zu allem anderen auch noch in dem, was er zuvor stets gekonnt hatte: Er schrieb auch in Mathematik, seinem Lieblingsfach, nur noch Fünfen. Dabei war es so, dass es in den Stunden mit Sören immer wieder zu tiefen Berührungen kam. Er kämpfte stark darum, wahrgenommen zu werden von mir. Er kämpfte gegen sein Gefühl an, ich sei, wie alle Menschen, eine Maschine. Er kam mit einem Luftballon in die Stunde. Auf diesem stand: »Rudi Rüssel. Rennschwein. Er kam, sah und quiekte.« Auf die Rückseite des Ballons schrieb Sören, kaum hatte er Platz genommen: »Er kam und wurde gehasst.« Ich: »Du willst wissen, ob ich dich hasse.« Er: »Sie – Sie nicht, das weiß ich. Sie sind der einzige Mensch auf der Welt, der mich nicht hasst. Doch, meine Eltern lieben mich, aber meine Mutter ist eine Maschine, meine Mutter ist eine Liebesmaschine. Erst war sie eine Hassmaschine, jetzt liebt sie plötzlich nur noch.« Ich erschrak heftig. Sören: »Hass ist stärker als Liebe.« Ich: »Das glaubst du.« Er: »Ich sage das und Sie müssen es mir glauben. Das ist meine Therapie hier.« Langsam begann er mit dem Ballon quietschende Geräusche zu machen. Ich schaute zu. Er guckte mich unablässig an. Seine Augen über dem Ballon, den er in den Händen hielt, hafteten wie festgesaugt an mir. »Ich darf meinen Blick nicht wenden«, dachte ich, »sonst fällt er.« In seiner nächsten Stunde begann er den Grind eines gerade verheilenden Mückenstiches aufzukratzen. Voller Entsetzen sah ich, wie er den Grind in seinen Mund führte und zerkaute. »Sören, hör sofort auf, bitte, bitte«, entfuhr es mir hilflos. Dabei dachte ich: »Ich kann das nicht ertragen, es geht nicht, es überschreitet meine Grenzen. Ich will das nicht sehen.« Sörens Blick fiel ernst

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und dunkel auf mich. »Es ist okay, ich höre auf. Ich weiß auch nicht, warum ich so was mache. Sie wissen ja, wie ich bin, ich wollte irgendwie wissen, was Sie machen, wenn ich richtig eklig bin. Es geht mir ja schon viel besser, seit ich zu Ihnen komme, aber ich denke auch: ›Was ist, wenn Sie plötzlich abschalten und eine Maschine werden?‹ Frau Langer, das könnte ich nicht überleben.« »Danke, Sören«, erwiderte ich, »es war richtig gut, dass du das stoppen konntest, es war irgendwie zu viel. Und wäre ich nicht eine Maschine, wenn ich das anschauen hätte können, weiter und weiter?« Sören: »Ich weiß es nicht.« Inmitten des ständigen Wechsels von Nähe und Provokation, der unsere Stunden beherrschte, bildete das von Sören immer wieder initiierte Sprechen über unsere Geschichte – wie und wann wir uns zum ersten Mal gesehen hatten, was dann und später geschehen war – einen wichtigen Kontrapunkt. Denn auch ich fand nun eine Möglichkeit, seine Spur zu halten. Er, den ich immer wieder verloren hatte, begann sich mir in einer unauslöschlichen Weise einzuprägen. Plötzlich gab es etwas zwischen uns, was neu war: Bedeutung. »Könnte ich nur immer die Stimmen meiner Eltern hören, es wäre nicht so schlimm«, hatte er mir mitgeteilt, als er mich kennengelernt hatte, noch im Internat gewesen war und täglich mehrfach zu Hause hatte anrufen müssen, weil er solche Angst gehabt hatte, die Eltern seien tot für ihn. Er hatte sich in der Position eines Menschen befunden, für den es ein Echo kaum noch gegeben hatte, es sei denn, er hatte es ausgelöst, indem er sich zum Monsterkind gemacht hatte. Aus einer langen Ferientrennung kam Sören tief ernst zurück. Abgewandt von mir begann er Totenschädel von Tieren zu kneten. Es war, als würde ich gar nicht für ihn existieren, als habe er mich ausgelöscht, als säße ich gar nicht vor ihm und sei lebendig. Es beeindruckte mich aber auch, wie stumm und ernst er war. Er überraschte mich mit diesem depressiven Gestus, so hatte ich ihn noch nie gesehen. »Wir haben uns so lange nicht gesehen, Sören, es war irgendwie zu lange«, bemerkte ich. Sören sah mich unvermittelt an und ich war ganz sicher, dass er sich wunderte, dass ich da war und zu ihm sprach. »Ich habe ein Radrennen gesehen in den Ferien«, gab er langsam an, »da fuhr einer sehr weit voraus, dann brach er zusammen.« Ich: »Schrecklich.« Sören: »Er wollte nur ins Fernsehen.« Ich: »Ich weiß nicht. Was ist auch eigentlich so schlecht daran, wenn man gesehen werden will, wie man sich anstrengt und anstrengt, und manchmal reicht alles nicht?« Sören lächelte mich plötzlich an: »Das ist jetzt echt cool, was Sie sagen, Sie verstehen da etwas.« »Von dir vielleicht.« Er: »Vielleicht.« Das von mir als manisch empfundene Herumturnen, das einen großen Teil unserer Stunden gekennzeichnet hatte, hörte ganz auf. Er erinnerte mich jetzt manchmal an ein Latenzkind. Ich erlebte ihn als entfernter und unabhängiger von mir. Gleichzeitig begann er die Anzeichen meiner Anteilnahme an seinem

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Leben bewusst und mit einem Gefühl von Dankbarkeit zu bemerken. Versagungen meinerseits trafen ihn nicht mehr wie mörderische Attacken und schienen sich einzubetten in den Kontext unserer gemeinsamen Erfahrungen. »Ich bin jetzt richtig gut geworden in der Schule«, bemerkte Sören, »und überhaupt, es geht mir gut. Das ist, weil ich zu Ihnen komme und ich will auch noch weiter kommen. Mit Ihnen kann ich mich gut ärgern.« Ich verstand, dass es für ihn immer wieder wichtig war, sich meiner zu vergewissern, meines Echos, meines Daseins. Als ich erfuhr, dass Sören zum Klassensprecher gewählt worden war, freute ich mich sehr. Auf seinen Wunsch hin reduzierten wir nach fast zwei Jahren die Behandlungsfrequenz auf zwei Stunden die Woche und strebten eine Beendigung der Behandlung in einem halben Jahr an. Daraufhin stürzte alles ein. Es war, als stünden wir erneut am Anfang. In der Schule drohte er hinausgeworfen zu werden. Die alten Provokationen kehrten in unsere Stunden zurück, nur über sie schien er noch Beziehung stiften, nicht einsam sein zu können. Die Reduzierung unserer Stundenfrequenz empfand er, obwohl sie von ihm gekommen war, als hätte ich ihn rausgeworfen, wie einen Verlust des guten Objekts. Ich konnte deutlich spüren, wie er einen unausgesprochenen Zusammenhang zwischen seinem Absturz und unserer Reduzierung der Stundenfrequenz sowie der Vereinbarung eines Endes der Behandlung herstellte. Es kränkte ihn schwer, dass er so abhängig von mir zu sein schien. »Ich habe beschlossen, dass ich Ihnen jetzt nichts mehr von mir erzählen werde«, kündigte er an, »ich warte eigentlich nur noch darauf, dass es zu Ende ist, ich warte auf Ostern. Dann muss ich nicht mehr kommen. Ich habe sowieso keine Zeit.« Es kam mir vor, als ob er auf alles, was ich zu sagen versuchte, antworte: »Du hast keine Ahnung. Früher war das anders. Jetzt will ich nur noch weg.« Vier Wochen vor Ostern versprühte Sören Tränengas in seinem Klassenraum. Alle mussten evakuiert werden und es war ganz unsicher, was nun mit meinem Patienten geschehen würde. Voll Wut schritt er im Behandlungsraum auf und ab, als er mir das erzählte, mich beschimpfend, alles in einer zerstörerischen Weise anfassend, von vielem gerade noch abgehalten von mir. »Sören, es ist zu früh, wir können uns nicht verabschieden. Du bist so böse auf mich, als hätte ich dich hinausgeworfen. Sören, das warst du, der einmal beschloss, dass er nur noch dreimal kommen will und an Ostern gehen. Das war ich nicht. Und doch, ich kann das fühlen, du bist schrecklich enttäuscht von mir. Ich habe da etwas nicht verstanden, du bist schrecklich enttäuscht von mir, ich habe dich nicht aufgehalten. Ich habe mitgespielt. Ich habe nicht Nein gesagt. Ich hätte Nein sagen sollen.« »Gut, dass Sie das endlich verstehen können. Frau Langer, ich halte es nicht mehr aus. Manchmal möchte ich die ganze Welt in die Luft sprengen. Ich

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will auch gar nicht aufhören mit der Therapie, ich wollte. Ich weiß es gar nicht.« »Du meinst, ob ich das merken kann?«, fragte ich. »Frau Langer, Sie haben es nur langsam gemerkt.« Ich: »Es war fast schon zu spät, alle in deiner Klasse mussten evakuiert werden, dass ich es endlich merken kann.« Sören starrte mich, das Gesicht eine höhnische Grimasse, an und sagte schließlich langsam: »Ich habe auch nicht damit gerechnet, dass Sie es noch merken.« »Und dann, was wäre dann gewesen?«, fragte ich atemlos. »Woher soll ich das wissen?«, erwiderte er. Ich: »Du hättest kein einziges Wort gesagt, als könnte ich dich nur verstehen, wenn du schreckliche Dinge machst.« Sören: »Manchmal denke ich das.« Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Ich will bis Weihnachten weiterkommen, zweimal die Woche, geht das?« Ich: »Das geht.« Sören brachte Jonglierbälle mit in unsere Sitzungen und übte endlos. Er war richtig gut, es gelang ihm schließlich, mit fünf Bällen zu jonglieren. »Wissen Sie das eigentlich, ich bin im Moment richtig gut in der Schule«, berichtete er mir, »keine Ahnung, es klappt irgendwie im Moment und José, der ist ein echter Kumpel geworden, wir telefonieren jeden Tag.« Es war leicht mit Sören geworden. Ich musste gar nicht mehr aufpassen. Er jonglierte alles selbst aus. Manchmal veranstaltete er Wettbewerbe im Kopfrechnen. Ich strengte mich richtig an. Es machte Spaß, mit Sören zu konkurrieren, ohne ihn hätte ich kaum gemerkt, wie gut und schnell ich im Kopfrechnen war. Ich merkte, dass ich, egal ob ich verlor oder gewann, das Gefühl hatte, mich wirklich mit Sören messen zu können, der ein Rechengenie war. Unsere Rollen hatten sich umgedreht: Ich, die früher in Mathe versagt hatte, hielt plötzlich mit und empfand Freude dabei. Sören musste lachen, als ich das erwähnte. Es gefiel ihm und es war, als verstünde er dadurch auch etwas von seiner imaginierten Loserexistenz, die er hinter sich zu lassen begonnen hatte. Als wir uns an Weihnachten verabschiedeten, brachte er Cola mit. »Ich dachte, wir können mal anstoßen«, bemerkte er grinsend, »und dann machen wir noch einen kleinen Mathewettbewerb.« Ich nickte und sagte: »Eine gute Idee, heute stoßen wir an auf die Zeit, die kommt.« Er, mich fixierend: »Es könnte sein, dass ich wiederkommen muss. Ich weiß nicht, es geht mir gut, aber ich habe so ein Gefühl, es könnte nötig sein.« Ich, nachdenklich: »Das denkst du? Es ist in Ordnung für mich.« Ich war überrascht von der Idee meines Patienten, dass er sie aussprechen konnte, gefiel mir. Sie beinhaltete ein Wissen über seinen inneren Kampf. Darstellung des zweiten Behandlungszeitraumes

Sören meldete sich eineinhalb Jahre später wieder bei mir. Er drohte erneut von der Schule zu fliegen, seine Leistungen waren nach einem guten und ruhigen Jahr dramatisch abgesunken »Ich muss zurückkommen, Frau Langer«, sagte er,

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»aber ich will nicht lange kommen, es ist nicht mehr wie früher. Ich möchte ein halbes Jahr kommen, das reicht mir.« Wir nahmen die alten Mathe-Spiele auf und ich spürte sehr stark, wie wichtig es für Sören war, mir wieder in die Augen zu sehen und mich zu beobachten, wenn ich mit ihm kämpfte und keine Loserin sein wollte. »Frau Langer«, sagte er einmal, »Sie werden immer besser. Das ist echt cool, wie Sie sich anstrengen.« »Es macht mir richtig Spaß, Sören«, erwiderte ich, »und manchmal denke ich, ich überlege so, ob du nicht wissen willst, ob ich inzwischen eine Maschine geworden bin.« »Sie kommen auf die verrücktesten Sachen«, bemerkte Sören langsam, »aber es ist wahr, es war sehr wichtig für mich, dass ich noch einmal kommen konnte.« Nach einem halben Jahr verabschiedeten wir uns erneut. Dieses Mal brachte er mir einen Stein mit, in den er seinen Namen eingraviert hatte. »Danke«, sagte ich, »ein wunderbares Geschenk.« Noch während ich sprach, begann ich darüber nachzudenken, eine wie schwere Arbeit es gewesen sein mochte, diese Gravur in den Stein zu schneiden. Sören erwähnte es nicht, aber ich wusste, dass er darüber nachdachte, ob ich ihn daran erinnern würde, dass es sein könne, dass er noch einmal würde kommen müssen. Ich fühlte, dass ich ruhig sein musste, ihn nicht mit Vorschlägen über eine Verlängerung der Behandlung bedrängen durfte, dass ich es nehmen musste, wie es war, dass es Sören war, der dabei war zu experimentieren. Ich ahnte, wie viele Fragen er sich stellte, wusste aber, dass er das jetzt alleine war, der entschied, was er vom Objekt wollte. Ich spürte deutlich, dass er nach einem eigenen Weg suchte. Er wollte nicht mehr lange kommen, im Grunde wollte er weg. Aber da war diese immer wieder auftauchende Unsicherheit, er sehnte sich danach, etwas in Stein zu meißeln. Der in Stein gemeißelte Name war der Kontrapunkt zu seinem Wunsch, sich loszureißen. Darstellung des dritten Behandlungszeitraumes

Ein Jahr später kam Sören zurück. »Mein Vater war sauer auf mich, weil ich nicht aufräume, da habe ich den Baseball-Schläger genommen und ihn in die Ecke gedrängt. Ich war schrecklich, wie früher. Ich war dann bei einem Psychiater, er hat gesagt, es ist zu gefährlich mit mir ambulant, ich muss in die Klinik und Medikamente nehmen.« Sören wirkte vollkommen depressiv auf mich, nicht so, als hätte er geschlagen, sondern, als sei er geschlagen worden. »Ich kann nicht mehr«, stöhnte er und weinte stundenlang wie ein sehr kleines Kind. In einer metaphorischen Weise hatte ich das Gefühl, er fiele in meine Arme. Und es war auch so, er beruhigte sich während der erneuten Behandlung langsam. Ich dachte viel darüber nach, wie er als Monster zurückgekommen war zu mir und dann nur noch weinen konnte. Die Gravur in Stein, sie hatte keinen

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Bestand gehabt. In Stein, so überlegte ich mir, das war so kalt und hart, der nach seinem Großvater benannten Straße gleich, Sören aber bedurfte des Auftankens bei einem realen Objekt. »Steinerweichend«, dachte ich, als er weinte und weinte. Und in einer nicht realen Weise hielt ich ihn im Arm, als er weinte. Ich ahnte auch, dass ich aufgrund unserer mittlerweile sechs Jahre langen Geschichte ein Mensch für ihn geworden war, dem er vertraute. Ich heilte ihn jedoch nicht. Alles, was mir möglich war, war, dass er immer wieder zu mir zurückkommen, mich anschauen und ein Stück weiter gehen konnte. Der dritte Behandlungszeitraum umfasste 50 Stunden und endete erneut nach einem halben Jahr. Darstellung des vierten Behandlungszeitraumes

Sören kam ein weiteres Mal, ein viertes Mal zurück. Sein Scheitern verband sich meinem. Weder er noch ich vermochten es, Bestand zu haben, die steinerne Straße, sie trug unsere Namen nicht. Inzwischen war Sören ein junger Mann von 18 Jahren geworden. Er fuhr mit seinem Auto vor meiner Praxis vor. Ich sagte dieses Mal sofort: »Ich will dich nicht noch einmal ein halbes Jahr sehen. Es reicht nicht. Das ist keine Option mehr für mich. Wenn du wiederkommen willst, dieses Mal brauchen wir mehr Zeit.« Sören sah mich lange an, irgendwie von Kopf bis Fuß. »Frau Langer, es ist komisch, ich denke nie an Sie, aber wenn es mir richtig schlecht geht, und das ist jetzt wieder so, dann träume ich von Ihnen. Ich weiß nicht, warum das so ist, doch, vielleicht, weil Sie mich schon so lange kennen und weil ich das weiß, Sie sind keine Maschine. Vielleicht sind Sie der einzige Mensch auf der Welt, der keine Maschine ist.« Sören besuchte die Schule, mittlerweile war er in der 13. Klasse, nicht mehr. Er lebte zurückgezogen in seinem Zimmer, einem vollkommen uneingerichteten Raum, in den er vor einiger Zeit innerhalb des Hauses umgezogen war. »Überall stehen Kisten. Ich kann sie nicht auspacken. Ich habe keine Kraft. Ich liege meistens auf meinem Bett. Ich kann nicht in die Schule gehen, ich habe es immer wieder versucht, es geht nicht. Ich kann es nicht mehr ertragen. Sie mögen mich alle nicht. Es ist sowieso alles sinnlos. Ich weiß gar nicht, warum ich lebe.« Sören musste dann zwei Monate warten, bevor ich ihm einen Therapieplatz anbieten konnte. Wir vereinbarten eine zweistündige Frequenz. Auf der Ebene der Antragstellung wiederholte sich dieses Warten noch einmal: Ich stellte erneut einen Antrag auf Langzeittherapie. Sehr lange erhielt ich keine Antwort und rief schließlich bei der Krankenkasse an, die mir mitteilte, mein Antrag sei nicht eingegangen. Ich schickte den Antrag erneut los, wieder wartete ich umsonst, rief erneut an und kämpfte mich zu einem Zuständigen vor, dem ich schilderte, dass mein Patient (längst hatte ich die Behandlung begonnen) nun

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nicht weiter warten könne. »Ich frage mich auch, wo meine wirklich vertraulichen Anträge, die ich nun zweimal abgeschickt habe, gelandet sein mögen, das beunruhigt mich.« Dann geschah etwas, was ich noch nie erlebt hatte. Der Zuständige, zu dem ich mich vorgekämpft hatte, bewilligte mir ohne jegliches Gutachterverfahren 150 Stunden. Als ich Sören nach der Pause wiedersah, hatte er begonnen, die Schule wieder zu besuchen. Er erklärte: »Die Zeit war endlos lang. Es war schwer für mich, so lange warten zu müssen.« Ich bemerkte sofort, dass es ihm sehr schlecht ging. Gleichwohl beeindruckte es mich, dass mein Patient nun nicht mehr zu mir kam, weil er etwa mit einem Baseballschläger zugeschlagen oder Tränengas versprüht hatte. Er kam, weil er die Schule nicht mehr besuchen konnte und kraftlos die Tage auf seinem Bett zubrachte. Er konturierte sich sehr schnell, nachdem unsere Stunden wieder begonnen hatten, und wachte auf. Er beobachtete mich in einer neuen, sexualisierten Weise. Er bemerkte und kommentierte alles, was ich trug, die Kleider, die Schuhe. Manches gefiel ihm, manches nicht. Einer Rakete gleich schoss er empor und wurde zu einem guten Schüler. Nach allerkürzester Zeit hatte er plötzlich eine Freundin, von der er mir viel berichtete. Sie war magersüchtig und rauchte ziemlich viel Gras. Sören begann ebenfalls Gras zu rauchen. Ohne das Gras konnte er nicht mehr einschlafen und aufwachen. »Ich merke das, ich mache meinen Kopf kaputt«, bemerkte er wieder und wieder. Er entwickelte aber auch eine weitere Leidenschaft, das Theaterspielen. Er besuchte einen Schauspiel-Leistungskurs seiner Schule und bekam in der Folge einige Auftritte als Statist an den Städtischen Bühnen. Ich konnte ihn kaum noch erreichen. Ich hatte den Verdacht, dass er zugedröhnt war, wenn er zu seinen Sitzungen bei mir vorfuhr. Ich begann unsere Stunden zu hassen und fühlte mich in ihnen völlig hilflos. Ich dachte: »Nun wird er für alle Ewigkeit kiffen und alles, was ich sage, es ist vollkommen egal.« »Sören, ich kann nicht mehr mit dir arbeiten, so zugedröhnt, wie du bist«, sagte ich mehrfach. »Frau Langer, ich höre damit auf«, erwiderte er wieder und wieder, »ich kann es selbst nicht mehr ertragen, ich vergesse alles, ich weiß gar nicht mehr, wo ich bin.« Mein Hass auf die Stunden mit ihm wuchs. Es dauerte dennoch sehr lange, viele Monate, bis ich wusste, dass ich es nicht mehr würde ertragen können, und erkannte, dass ich nicht mehr das Objekt war, bei dem der Patient auftanken wollte. Ich war das Objekt, das er nicht mehr ertragen konnte, dem er anhing wie einem Rausch, von dem er sich zu befreien suchte, von dem er einen Entzug benötigte. Da er nicht in der Lage war, zu sagen: »Frau Langer, es war zu lange, es war zu viel, nun muss ich gehen«, musste ich den Schlusspunkt setzen: »Sören, wir müssen uns trennen. Eigentlich bist du gar nicht mehr da,

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eigentlich bist du schon gegangen.« Er sah mich irritiert an. Seine Augen füllten sich abrupt mit Tränen. »Ich weiß nicht, ob das geht«, sagte er leise. »Komisch, aber ich denke, das bist du, der gehen will, du gibst die Worte in mich hinein.« Er: »Vielleicht, vielleicht.« Mein klares Nein, das in der vierten Behandlung über einen langen Zeitraum von vielen Monaten gewachsen war, überraschte mich. Mit ihm hatte nicht nur ich eine neue Freiheit gewonnen, auch mein Patient tauchte wie aus einem Nebel auf. »Ich habe mich erkundigt. Ich war in einer Drogenberatung und man hat mir eine Klinik empfohlen. Da könnte ich in den Ferien hin«, berichtete er mir ernst. Die Szenerie unseres Abschiedes hat für mich im Nachhinein eine gewisse Ironie: Mein Patient wechselte von der jahrelangen, immer wieder aufgenommenen Therapie in eine Entzugsklinik. Aber, was wirklich wichtig war, das war er, dass er aufwachte, als ich Nein sagte. Als wir uns verabschiedeten, ein Vierteljahr nach meiner Ankündigung, stand der Termin für die Klinik fest. »Ich mache das«, sagte Sören, »ich gehe da drei Wochen hin, ich habe schon unterschrieben. Dann kommen die mündlichen Prüfungen. Ich bin auch ziemlich sicher, dass ich gar nicht so schlecht geschrieben habe.« Er lächelte mich plötzlich schelmisch an: »Das habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt, ich habe nicht gekifft vor den schriftlichen AbiPrüfungen.« »Das war wichtig«, bemerkte ich, »dass du nicht gekifft hast und vermutlich auch, dass du es mir gar nicht gesagt hast.« »Frau Langer, ich will jetzt wirklich aufhören mit dem Kiffen. Auf den Gedanken, mit der Therapie aufzuhören, wäre ich nicht gekommen, das waren Sie.« »Ich glaube, ich habe gedacht, der Sören kifft so schlimm, das meine ich jetzt wirklich ernst, weil er es gar nicht mehr ertragen kann, immer weiter zu mir zu kommen.« Sören nickte bedächtig und verfiel in ein langes Schweigen. »Ich wollte und ich wollte nicht«, äußerte er schließlich, »manchmal hätte ich für immer kommen wollen, dann wieder fand ich mich echt behindert. Ich habe auch darüber nachgedacht, wie es sein wird, wenn wir uns verabschieden. Ich habe gedacht, ich schaffe das nicht. Es ist plötzlich so wie für immer. Das macht mir Angst.« Ich nickte: »Das kann ich so gut verstehen, Sören.« »Ich werde Sie nicht vergessen, Frau Langer.« »Ich dich auch nicht, Sören, ich glaube, das weißt du«, sagte ich leise. »Schon«, murmelte er. Wir gaben uns richtig fest die Hand, als müssten wir uns von dieser langen Zeit, in der wir eine Spur geschaffen hatten, losreißen. Abschlussbetrachtung des Behandlungsverlaufs insgesamt

Für die erste Behandlung vereinbarte ich den Rahmen einer dreistündigen Frequenz, da mir aufgrund der Erstgespräche klar war, dass die Pausen nicht zu groß sein durften, dass der Patient erst einmal bei mir ankommen müsse. In

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Fünf Behandlungen wiederkommender Patienten, in denen neuer Spielraum entstand

der ersten Behandlung wurde mir erst spät bewusst, wie stark ich in meinem Gefühl, den Ansprüchen der Eltern gegenüber zu versagen, mit meinem Patienten identifiziert war. In kaum einer Behandlung war es mir so ergangen, dass ich auch nach 100 Stunden noch das Gefühl hatte, im Dunkeln zu tappen. Diese spät erkannte Identifikation mit der Loserexistenz Sörens fand ihren Spielraum im Wettkampf des Kopfrechnens. Die Reduzierung unserer Stundenfrequenz während des ersten Behandlungszeitraumes, und war sie auch von ihm selbst angestrebt worden, empfand Sören, als hätte ich ihn rausgeworfen, wie einen Verlust des guten Objekts. Wie sich zeigte, musste Sören den Rahmen der Behandlung immer wieder erneuern und sich dabei wieder und wieder des guten Objekts versichern. So meldete er sich nach Ende der ersten Behandlung dreimal erneut zu einer Behandlungsfortsetzung an, die ersten beiden Male jeweils nur für ein halbes Jahr, sodass ich bei seiner vierten Anmeldung darauf bestand, dieses Mal eine Langzeittherapie zu beantragen. Im vierten Behandlungszeitraum konnte Sören die Sitzungen nur noch ertragen, wenn er bekifft war. Ich frage mich, ob die jahrelange Therapie meinen Patienten in einen Dämmerschlaf versetzte, in eine Abhängigkeit von mir, die ihn daran hinderte, sein Leben allein zu führen. War die immer wieder aufgenommene Therapie nicht mit seinen täglichen Anrufen bei den Eltern gleichzusetzen, damals, als ich ihn kennengelernt hatte und er noch im Internat gewesen war? Ich war es, die ihn am Ende der Therapie ins Internat schickte, in die Entzugsklinik. Begann in dem Moment alles erneut, als wären nicht viele Jahre vergangen? War es so, wie ich, identifiziert mit meinem Patienten, gefürchtet hatte? Nichts hatte Bestand und ich war eine Loserin? Ich musste mich sehr stark zusammenreißen, um nicht zu vergessen, was alles bereits geschehen war, was wir bereits erreicht hatten, als ich das Ende der Behandlung ankündigte und er sich daraufhin in einer Entzugsklinik anmeldete. Sören hatte wieder und wieder zu mir kommen müssen, um eine Spur zu legen, die ich nun im Nachhinein zu verfolgen versuche. Denn die Spur, sie drohte sich immer wieder zu verflüchtigen. Er war es, der sie immer wieder aufnahm. Im Nicht-Aufgeben war er stark. Dreimal hintereinander erneuerte er den Behandlungsrahmen. Im Nachhinein bin ich mir sicher, dass mein Nein ein erlösendes Wort war. Es schützte uns vor der ewig wiederkehrenden Schleife, die unsere Beziehung und damit auch den Rahmen der Behandlung ad absurdum zu führen und auszulöschen drohte. Doch auch das war wichtig gewesen. Aus dem lange Zeit notwendigen Auftanken, dem Spielraum, den der Behandlungsrahmen bot, war eine Abhängigkeit wie von Drogen geworden, eine Abhängigkeit, die einen Entzug

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nötig machte. Mit dem Rauchen von Gras hatte der Patient dieser Abhängigkeit zu entgehen gesucht. Seinem alten und vertrauten Modus gleich hatte er jenseits der Worte gesprochen und mich zu derjenigen gemacht, die den endgültigen Abschied aussprach. Die vielen Jahre hatten ihn nicht befähigt, in Worten auszudrücken, was er wollte, immer noch hatte er, wie zu Beginn unserer Behandlung das Gefühl, ein Objekt zu wollen und nicht zu wollen. Manchmal überlege ich mir, dass mein Patient in meinem Nein etwas habe finden können, nach dem er lange gesucht hatte. Und genau das, so ahne ich – ich werde es nie erfahren –, war wirklich befreiend für Sören.

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Resümee und historischer Exkurs

Der wichtigste Schluss, den ich aus meiner theoretischen und praktischen Beschäftigung mit Spielraum und Rahmen ziehe, ist die Tatsache, dass bei genauer Betrachtung der mangelnde Spielraum meiner Patienten ein Pendant fand in dem meinen. Umgekehrt könnte man auch sagen, dass der vorhandene und sich erweiternde innere Spielraum meiner Patienten häufig dem meinen entsprach. Meine unbewusste Antwort auf die unbewussten, nicht in Worte zu fassenden Fragen prägte den Behandlungsverlauf und damit auch deren Rahmen und Spielraum. Es waren stets abgewehrte Gefühle auf Seiten des Therapeuten, die den Spielraum verengten und in der Folge den Rahmen brüchig werden ließen und Entwicklung verhinderten. Es waren Spontanität und Intuition, die alles voranbrachten, das Arbeiten gegen den Strich, die Infragestellung von Rahmen und Über-Ich-Regeln. Die größte Gefahr bei der psychoanalytischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen ist das eigene Über-Ich, man könnte auch sagen: der Mangel an Spielraum. In meinen Fallgeschichten habe ich aufgezeigt, dass eine Behandlung nur gelingen kann, wenn es dem Therapeuten möglich ist, dem Kind einen Entwicklungsspielraum zur Verfügung zu stellen. Der vorhandene innere Spielraum des Therapeuten ist hierfür eine wichtige Voraussetzung. Er ermöglicht die unvermeidbare Gratwanderung zwischen Abstinenz und Agieren, ein sich Einlassen auf die Übertragungsbeziehung zum Patienten und befähigt den Therapeuten, sich als nichtwissend zu erleben und seinen unbewussten Möglichkeiten zu vertrauen. Erst im Kontakt mit jedem einzelnen Kind wird sich herausstellen, ob eine fruchtbare Beziehung entstehen kann. Bei abbrechenden, scheiternden Behandlungen wurde der Raum häufig durch Rationalisierung und den unbewussten Wunsch, die Beziehung zu kontrollieren, verstellt. Die Überlegungen zu Spielraum und Rahmen sind der Geschichte der Kinderanalyse implizit inhärent. Wie in einer Wellenbewegung tauchen im Verlauf dieser Geschichte Rahmen und Spielraum betreffende Aspekte auf, treten in den Hintergrund und gewinnen schließlich erneut Relevanz. Die Diskussion um

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Abstinenz, pädagogische Interventionen, das Agieren des Therapeuten sowie die Frage eines kindspezifischen Settings bilden das Mosaik der Suche nach einem angemessenen Rahmen für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Anna Freud und Melanie Klein sind die Pionierinnen der analytischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Sie verkörpern zwei frühe, wichtige Pole, innerhalb derer eine weite Spannbreite von Techniken entstand, die uns noch heute beschäftigt. Während Anna Freud die Besonderheit des Kindes in der analytischen Behandlung erforschte, seine Unterschiedlichkeit von einem erwachsenen Patienten, gab es für Melanie Klein in der psychoanalytischen Behandlung den Unterschied von Kind und Erwachsenem nur im Hinblick auf die Bedeutung des Spielens bei Kindern. Sie variierte daher bei Kindern ihre Technik, indem die Deutung des Spiels an die Stelle der freien Assoziation in der Erwachsenenanalyse trat. Melanie Klein deutete die negative Übertragung bereits bei Kindern im Alter von zwei oder drei Jahren und war fest davon überzeugt, dass auch diese eine Übertragungsneurose herstellen könnten: »Das Kind drückt von Anfang an seine Phantasien und Ängste im Spiel aus« (Melanie Klein, 1962, S. 14). Sie ging davon aus, dass von Beginn an Objektbeziehungen existieren, um deren Bearbeitung es geht. Sie verwarf jeglichen erzieherischen Ansatz. Während Anna Freud sich mit mannigfachen Abwehrmechanismen beschäftigte und diese erforschte, suchte Melanie Klein den direkten, spontanen Kontakt zum Unbewussten ihrer kindlichen Patienten, deren Abwehr sie übersprang. Anna Freud interessierte sich für den Punkt der Entwicklung, an dem das Kind stand. Sie entwarf eine analytische Entwicklungspsychologie des Kindes. Ihr Rahmen war, verglichen mit dem von Melanie Klein, eher pädagogisch ausgerichtet. Wolffheim schreibt: »Sie [Anna Freud] hat, wie sie mir freundlicherweise 1950 auf Anfrage mitteilte, nie wirklich ›Spielanalysen‹ gemacht […] Sie hat Spielzeug verwendet, aber nicht in derselben Weise zur Deutung benutzt […] sie habe nie die Spielassoziationen als technische Maßnahme der freien Assoziation gleichgesetzt […] Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich Anna Freud als eine der Hauptschöpferinnen der psychoanalytisch orientierten Pädagogik bezeichne« (Wolffheim, 1966, S. 177). In den Anfängen der psychoanalytischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen war der Rahmen oft pädagogisch geprägt. Hug-Helmuth etwa, die 1913 in Wien eine erste spezielle Technik der Kinderbehandlung entwickelte, »befürwortete Kinderanalysen nur vom sechsten Jahre an und wollte es vermeiden, in die Tiefe zu gehen, um die verdrängten Neigungen und Impulse nicht zu sehr aufzurühren […] Sie suchte das analytische Verfahren mit erzieherischem Einfluß zu verbinden, aber alles in allem meinte sie, dass man sich in der Kinderanalyse mit Teilerfolgen zufriedengeben müsse« (Wolffheim, 1966, S. 175).

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Resümee und historischer Exkurs

1926 weist Sigmund Freud in »Die Frage der Laienanalyse« darauf hin, »dass eine besondere Technik der Kinderanalyse noch der Ausgestaltung bedürfe, dass jedoch die Verbindung der therapeutischen Behandlung mit erzieherischen Maßnahmen nötig wäre […] Er hebt auch hervor, dass die Kinderanalyse wohl die Domäne weiblicher Analytiker bleiben würde« (Wolffheim, 1966, S. 174). Herta Fuchs, eine weitere Pionierin der psychoanalytischen Kinderbehandlung, setzte sich 1932 mit der Begrenztheit pädagogischer Interventionen auseinander: »Ich habe zur Begegnung von Konflikten mit Kindern zwei Möglichkeiten gefunden. Der erste Weg war, dass ich das Kind durch eine zweckmäßige pädagogische Maßnahme auf eine beliebte Tätigkeit abgelenkt habe […] Die Erfahrung hat mir aber oft bewiesen, daß der zweite Weg, der viel mühsamer [ist,] […] doch der ökonomische ist. Ich habe das Kind nicht abgelenkt, sondern versucht, die Beweggründe seiner Schlimmheit seinem Bewusstsein nahezubringen […] Der Erfolg dieser Deutung ist gewöhnlich ein Nachlassen des Zwanghaften in der Ausdrucksweise des Kindes« (zit. nach Meng, 1973, S. 153). Zulliger und Aichhorn holten ihre Patienten, zu denen auch verwahrloste Jugendliche gehörten, da ab, wo sie waren, weil sie spürten, dass sie sie sonst versäumen würden. Sie gingen mit ihnen spazieren, tranken zusammen Tee und holten sie von der Schule ab. Zulliger schreibt: »Auf jeden Fall darf sich das Kind – auch das ältere – nicht langweilen; sonst wird es sich weigern, wieder zu kommen. Mit zwölf und mehr Jahre alten Unerwachsenen empfiehlt es sich, einen Teil der Zeit für Spaziergänge zu benutzen oder zu Basteleien, zum Aufgabenmachen usw.: zu etwas, das ihnen Lust bereitet und sie dafür entschädigt, dass sie nachher eine Weile ruhigliegen und assoziieren müssen« (1952, S. 86). Hinsichtlich der Technik des Spielens und der Technik der Deutung führt er aus: »Es liegt mir jedoch die Absicht fern, einseitig für die reine ›Spieltechnik‹ zu plädieren […] Umgekehrt wollen wir mit Deutungen lange zurückhalten, die Deutungstechnik wirklich nur dann benutzen, wenn dies unumgänglich ist, und im Prinzip wollen wir einem Kind nichts deuten. Es handelt sich darum, dass das Kind etwas erlebe, und nicht in erster Linie darum, dass es wissen lerne« (S. 80). Allgemein lässt sich sagen, dass die Arbeit mit Übertragung und Gegenübertragung in der frühen Zeit nicht relevant war und erst später an Bedeutung gewann. Das Spielen fand außerhalb dieser Übertragung und Gegenübertragung statt und diente der Befreiung des Kindes von Über-Ich-Druck. Anna Freud schreibt 1927 in ihrer »Einführung in die Geschichte der Kinderanalyse«: »Sie haben zu oft erlebt, dass ihre aggressiven Impulse als ›böse‹ bezeichnet, eingeschränkt oder unterdrückt wurden […] Deshalb braucht es einige Zeit, bis sie sich damit hervorwagen […] Oft wollen Kinder in einer bestimmten Phase der Behandlung auch Gegenstände aus dem Spielzimmer zerstören […] Der The-

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rapeut wird diesen Wunsch des Kindes zunächst zwar aufnehmen und Gegenstände, die es zerstören kann, bereitstellen […] Doch wird er das Kind darin unterstützen, seinen destruktiven Impulsen nach und nach Grenzen zu setzen« (1987, S. 57). Nach einigen Jahrzehnten der pädagogischen Prägung der analytischen Kinderbehandlung fand in den 1960er Jahren eine deutliche Hinwendung zu den abstinenten Prinzipien der Erwachsenenanalyse statt, die man auch als eine Entwicklung zum Rahmen hin bezeichnen könnte. Die Zeit war geprägt von der wachsenden Entdeckung der Bedeutung von Übertragung und Gegenübertragung. Es fand in diesem Zuge eine weitere Gegenbewegung statt. Es schwand das Übergewicht der Deutung des inneren Konfliktes, an dessen Stelle häufig die von Ann Hurry (1998) formulierte Bedeutung des Kinderanalytikers als Entwicklungsobjekt trat. Eine Rolle hierbei spielte, dass zunehmend erkannt wurde, dass kaum ein Kind an einer rein neurotischen Störung litt, dass es sich eher um Entwicklungsstörungen mit mehr oder minder neurotischer oder auch traumatischer Prägung handelte. Neuer Spielraum entstand, der Rahmen öffnete sich. Vor allem das Agieren des Therapeuten wurde nun als oft notwendige Antwort auf sonst verstellte unbewusste Anteile des Kindes verstanden. Die Begriffe Spielraum, Rahmen, Abstinenz und Agieren unterliegen im Verlauf der Geschichte verschiedenen, mitunter wiederkehrenden Bewertungen, die man letztlich als Suchbewegung beschreiben könnte. Sie ähnelt der individuellen Suchbewegung der einzelnen Kinderanalytiker. Die Suchbewegung selbst eröffnet den Spielraum. Dabei geht es um das Nicht-ein-für-alle-Mal-Wissen, um das Zulassen von Ambivalenz und Entwicklung. Die Frage, wie weit der Spielraum, wie fest der Rahmen zu sein habe, beschäftigte von Anfang an alle, die Kinder und Jugendliche behandelten. Sie beinhaltet die verschiedensten Facetten und ist ganz sicher niemals endgültig zu beantworten. Meiner Ansicht nach ist die Suche nach der Antwort, die Möglichkeit, immer wieder neu zu suchen und Fragen zu stellen, das einzig Entscheidende. Ist es überhaupt oder in welchem Maße erforderlich, sich auf den Entwicklungsstand des Kindes zu fokussieren? Engt ein abstinenter Rahmen ein oder schafft er Möglichkeiten? Wann grenze ich ein Kind ein? Wann mache ich Ausnahmen? Inwieweit arbeite ich mit der negativen Übertragung? Was ist möglich? Was nicht? Wie bewege ich mich auf dem Grat von Agieren und Abstinenz? In den Darstellungen der Behandlungsverläufe habe ich die Möglichkeit, immer wieder neu nach einer Antwort zu suchen, konkretisiert, indem ich berichtet habe, wie ich in jeder einzelnen der vorgestellten Behandlungen mit den oben gestellten Fragen umgegangen bin, wann ich Ausnahmen gemacht, inwieweit ich mit der negativen Übertragung gearbeitet habe, was mir möglich war, was

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nicht, wie ich mich auf dem Grat von Agieren und Abstinenz bewegt habe, wie sich der Rahmen und der Spielraum in jedem der Fälle konkret entwickelt haben, wie sie sich bewährten oder scheiterten. Ich bin sicher, dass sich jeder Kinderanalytiker während seines Berufslebens kontinuierlich mit diesen Fragen beschäftigen sollte. Denn sie können niemals ein für alle Mal beantwortet sein und so wird es in den verschiedenen Phasen seiner Berufspraxis variierende Antworten geben. Es ist in der kinderanalytischen Behandlung nämlich auch entscheidend, dass der Therapeut sich im Verlauf der Arbeit mit seinen Patienten entwickelt. Meine Falldarstellungen haben gezeigt, wie stark der Umgang mit Rahmen und Spielraum sowie die Fragen und Antworten, die sich in Bezug auf ihn ergeben haben, von meiner Persönlichkeit und meinem Spielraum abhingen. Ich schließe daraus, dass die Antworten auf die von mir gestellten Fragen stark von der Persönlichkeit und dem Spielraum des jeweiligen Therapeuten geprägt sein werden. Meine Berichte über konkrete Behandlungsverläufe erzählen von dem Versuch von Therapeut und Patient, miteinander in Beziehung zu treten. Dies gilt für die scheiternden Behandlungen ebenso wie für die gelingenden. Der Rahmen entwickelte und veränderte sich im Verlauf der Zeit analog dem sich entfaltenden inneren Spielraum von Therapeut und Patient. Mit den Behandlungsberichten hoffe ich zu zeigen, wie wichtig es für den Therapeuten ist, einen intuitiven, spontanen und persönlichen Weg zu seinen Patienten zu finden. Der Zugang zu unbewussten Themen stellt sich nur in einer authentischen und lebendigen Beziehung her, und genau darauf sind die Kinder und Jugendlichen angewiesen, um ihr Entwicklungspotenzial zu nutzen. Der Rahmen der psychoanalytischen Behandlung ist ein variables Instrumentarium, innerhalb dessen der Weg zwischen Abstinenz und Agieren in jedem einzelnen Fall neu gefunden werden muss.

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Literatur

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Notwendig und hilfreich – pädagogische Möglichkeiten der Traumabearbeitung

Silke Gahleitner / Thomas Hensel / Martin Baierl / Martin Kühn / Marc Schmid (Hg.) Traumapädagogik in psychosozialen Handlungsfeldern Ein Handbuch für Jugendhilfe, Schule und Klinik 2014. Ca. 256 Seiten, mit 11 Abb. und 6 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-40240-5 eBook: ISBN 978-3-647-40240-6

Wie begegnet man traumatisierten Kindern und Jugendlichen, welche Interventionsmöglichkeiten gibt es? Dieser Band füllt traumapädagogische Konzepte und Methoden mit Leben. Plötzlich erstarren, verstummen, um sich schlagen, panisch werden: Traumatisierte Kinder und Jugendliche fallen auf. Psychosoziale Fachkräfte in ambulanten und stationären Betreuungssettings, in der Schule oder im Kindergarten fühlen sich oft überfordert. Enttäuschungen und Verletzungen auf beiden Seiten sind die Folge. Dieses Buch sensibilisiert für Traumata und deren Auswirkungen und berücksichtigt dabei verschiedene psychosoziale Handlungsfelder und unterschiedliche Zielgruppen. Es vermittelt psychotraumatologisches Wissen für den pädagogischen Alltag, damit Fachkräfte kompetent handeln und Heranwachsende traumatische Lebensereignisse besser bewältigen können.

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Das Beste aus Kinder- und Familientherapie!

Bernd Reiners Kinderorientierte Familientherapie Mit Beiträgen von Jörn de Haen, Hartmut Epple und Irene Hau-Belschner. 2013. 272 Seiten, mit 11 Abb. und 3 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-46268-3 eBook: ISBN 978-3-647-46268-4

Jüngere Kinder geraten in der Familien- oder systemischen Therapie leicht aus dem Blick. Die Kinderorientierte Familientherapie bezieht Kinder wie kein zweites Verfahren ein: durch dasgemeinsame Spiel! Wie integriert man Kinder im Vorschul- und Grundschulalter unbeschwert und mit Gewinn in die Familien- oder systemische Therapie? Die Kinderorientierte Familientherapie (KOF), entwickelt vom norwegischen Psychologen Martin Soltvedt, zeigt, wie das geht. Durch das gemeinsame Spiel wird neben den familiären Beziehungsmustern die innere Welt des Kindes sichtbar gemacht und ins therapeutische Gespräch gebracht. Bernd Reiners stellt die neue schulenübergreifende Methode, die Elemente klassischer Spieltherapie und systemischer Familientherapie vereint, verständlich und praxisbezogen vor. Pressestimmen:

»Das Buch ist durchzogen von der Begeisterung, die der Autor für die Methode zeigt. Es ist zu wünschen, dass sich viele Leser(innen) hiervon anstecken lassen und den Schritt wagen, Spiel in ihre Arbeit einzubeziehen und die Tür des kindertherapeutischen Settings für Eltern zu öffnen. Jüngere Kinder, die sich in Sprache nur begrenzt ausdrücken können, würden dies dankbar aufnehmen.« Kontext (Wiltrud Brächter) »Beim Lesen glaubt man selbst dabei zu sein, so anschaulich sind die Spiel- und Gesprächssequenzen.« Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie (Armin Nilles)

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Zum Weiterlesen empfohlen Marianne Leuzinger-Bohleber / Robert N. Emde / Rolf Pfeifer (Hg.) Embodiment – ein innovatives Konzept für Entwicklungsforschung und Psychoanalyse Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 17. 2013. 413 Seiten, mit 14 Abb. und 9 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45130-4 eBook: ISBN 978-3-647-45130-5

Das völlig neue Verständnis von Wahrnehmung, Affekt, Problemlösen, Erinnern als »embodied« Prozesse, also sensomotorische Koordinationen im Hier und Jetzt, beeinflusst auch die Theoriebildung und Praxis der Psychoanalyse, wie dieser hochkarätige Band zeigt. Das Embodiment-Konzept stellt die bisherige Diskussion in der Psychoanalyse gemäß dem Leitsatz »Die Seele im Körper entdecken« auf den Kopf: Es geht nicht mehr nur um das Entschlüsseln der Körpersprache, sondern um die Einsicht, dass der Körper an allen seelischen Prozessen kausal beteiligt ist. Embodiment ist zu einem innovativen Konzept geworden in der Grundlagenforschung wie auch in Anwendungsfeldern. Einen Schwerpunkt bilden frühe Elternschaft und Prävention von Entwicklungsstörungen. Die Beiträge stammen von international namhaften Forscher wie u. a. Rolf Pfeifer, Vittorio Gallese, Linda Mayes, Daniel Schechter, Henri Parens.

Hermann Staats Feinfühlig arbeiten mit Kindern Psychoanalytische Konzepte für die Praxis in Kita und Grundschule 2014. 156 Seiten, mit 4 Grafiken, kartoniert ISBN 978-3-525-70167-6 eBook: ISBN 978-3-647-70167-7

Die Fähigkeit, Beziehungen zu Kindern gut zu gestalten, steht in der Ausbildung von ErzieherInnen und PädagogInnen an zentraler Stelle.Sie ist in der pädagogischen Arbeit zentral und doch oft unzureichend umgesetzt. Ein Verstehen von subjektivem Sinn und spielerischer Interaktion fördert Kinder in ihren Beziehungskompetenzen, ihrer sinnlichen Wahrnehmung, der Selbstregulation ihres Verhaltens und im nachhaltigen Erwerben kognitiver Leistungen. Hermann Staats beschreibt, wie Beziehungen zu Kindern in Krippe, Kita, Hort und Schule umfassender verstanden und entwicklungsfördernd gestaltet werden können. Es trägt dazu bei, eine verstehens- und beziehungsorientierte professionelle Haltung zu entwickeln und im beruflichen Alltag aufrechtzuerhalten. Theorien werden mit ihren Widersprüchen beschrieben, sodass sie zum Weiterdenken anregen. Wissen zum Einfluss sozialer und biografischer Faktoren sowie körperlicher und seelischer Entwicklungsprozesse ist an vielen Stellen integriert.

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