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German Pages 718 [716] Year 1988
Nietzsche • K S A 2 Menschliches, Allzumenschliches I und II
Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden
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1:
Die Geburt der Tragödie Unzeitgemäße Betrachtungen I - I V Nachgelassene Schriften 1870-1873 2: Menschliches, Allzumenschliches I und II 3 : Morgenröte Idyllen aus Messina Die fröhliche Wissenschaft 4: Also sprach Zarathustra 5 : Jenseits von Gut und Böse Zur Genealogie der Moral 6: Der Fall Wagner Götzen-Dämmerung Der Antichrist • Ecce homo Dionysos-Dithyramben • Nietzsche contra Wagner Nachgelassene Fragmente 1869-1874 7 8 Nachgelassene Fragmente 1875-1879 Nachgelassene Fragmente 1880-1882 9 Nachgelassene Fragmente 1882-1884 10 Nachgelassene Fragmente 1884-1885 11 Nachgelassene Fragmente 1885-1887 12 Nachgelassene Fragmente 1887-1889 13 Einführung in die K S A 14 Werk- und Siglenverzeichnis Kommentar zu den Bänden 1 - 1 3 : Chronik zu Nietzsches Leben !5 Konkordanz Verzeichnis sämtlicher Gedichte Gesamtregister
Friedrich Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches I und II Kritische Studienausgabe Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari
Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter
Band 2 der ,Kritischen Studienausgabe' (KSA) in 15 Bänden, die erstmals 1980 als Taschenbuchausgabe erschien und für die vorliegende Neuausgabe durchgesehen wurde. Sie enthält sämtliche Werke und unveröffentlichten Texte Friedrich Nietzsches nach den Originaldrucken und -manuskripten auf der Grundlage der ,Kritischen Gesamtausgabe', herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, erschienen im Verlag de Gruyter, Berlin/New York 1967 ff. Die Bände 14 (Kommentar) und 15 (Chronik und Gesamtregister) wurden eigens für die KSA erstellt. Ubersetzung des Nachworts von Ragni Maria Gschwend. K S A 15 enthält die Konkordanz zur ,Kritischen Gesamtausgabe'.
November 1988 Deutscher Taschenbuch Verlag G m b H Sc Co. K G , München Walter de Gruyter, Berlin/New York © 1967-77 und 1988 (2., durchgesehene Auflage) Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagsbuchhandlung - J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J . Trübner Veit & Comp., Berlin 30 Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Gesamtherstellung: C.H.Beck'sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany I S B N dtv 3-423-02222-1 I S B N WdeG 3 - 1 1 - 0 1 1 8 4 1 - 6
Inhalt Vorbemerkung Menschliches, Allzumenschliches I Menschliches, Allzumenschliches II Nachwort Inhaltsverzeichnis
7 9 367 705 717
Vorbemerkung Band 2 der Kritischen Studienausgabe enthält folgende, von Nietzsche selbst herausgegebene Werke: Menschliches, All^umenschliches. Ein Buch für freie Geister (1878) — Menschliche;. All^umenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band. Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede (1886). Vermischte Meinungen und Sprüche (1879) und Der Wanderer und sein Schatten (1880) = Menschliches, All^umenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band. Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede (1886). Diesem Band entsprechen folgende Bände und Seiten der Kritischen Gesamtausgabe: IV/2, S. 1-380 (Berlin 1967); IV/3, S. 1-342 (Berlin 1967). Am Schluß des Bandes werden die Nachworte übersetzt, die Giorgio Colli für die italienische Ausgabe von Menschliches, Allyumenschliches I und II schrieb (erschienen 1965 und 1967 im Adelphi Verlag, Mailand). Mazzino Montinari
An Stelle einer Vorrede. „ — eine Zeit lang erwog ich die verschiedenen Beschäftigungen, denen sich die Menschen in diesem „Leben überlassen und machte den Versuch, die beste „von ihnen auszuwählen. Aber es thut nicht noth, „hier zu erzählen, auf was für Gedanken ich dabei „kam: genug, dass für meinen Theil mir Nichts besser „erschien, als wenn ich streng bei meinem Vorhaben „verbliebe, das heisst: wenn ich die ganze Frist des „Lebens darauf verwendete, meine Vernunft auszub i l d e n und den Spuren der Wahrheit in der Art „und Weise, welche ich mir vorgesetzt hatte, nachzugehen. Denn die Früchte, welche ich auf diesem „Wege schon gekostet hatte, waren der Art, dass nach „meinem Urtheile in diesem Leben nichts Angenehmeres, nichts Unschuldigeres gefunden werden „kann; zudem Hess mich jeder Tag, seit ich jene Art „der Betrachtung zu Hülfe nahm, etwas Neues entdecken, das immer von einigem Gewichte und durcha u s nicht allgemein bekannt war. D a wurde endlich „meine Seele so voll von Freudigkeit, dass alle „übrigen Dinge ihr Nichts mehr anthun konnten." A u s dem Lateinischen des [Zur Erstausgabe 1878]
Cartesius.
Vorrede. i. Es ist mir oft genug und immer mit grossem Befremden ausgedrückt worden, dass es etwas Gemeinsames und Auszeichnendes an allen meinen Schriften gäbe, von der „Geburt der Tragödie" an bis zum letzthin veröffentlichten „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft": sie enthielten allesammt, hat man mir gesagt, Schlingen und Netze f ü r unvorsichtige Vögel und beinahe eine beständige unvermerkte Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthschätzungen und geschätzter Gewohnheiten. Wie? A l l e s nur — menschlich-allzumenschlich? Mit diesem Seufzer komme man aus meinen Schriften heraus, nicht ohne eine Art Scheu und Misstrauen selbst gegen die Moral, ja nicht übel versucht und ermuthigt, einmal den Fürsprecher der schlimmsten Dinge zu machen: wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien? Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit. In der That, ich selbst glaube nicht, dass jemals Jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat, und nicht nur als gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes; und wer etwas von den Folgen erräth, die in jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den Frösten und Aengsten der Vereinsamung, zu denen jede unbedingte V e r s c h i e d e n h e i t d e s B l i c k s den mit
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Menschliches, Allzumenschliches I
ihr Behafteten verurtheilt, wird auch verstehn, wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum zeitweiligen Selbstvergessen, irgendwo unterzutreten suchte — in irgend einer Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit oder Leichtfertigkeit oder Dummheit; brauchte,
auch warum
ich, wo
ich nicht
fand,
was
ich
es mir künstlich erzwingen, zurecht fälschen, zu-
recht dichten musste ( — und was haben Dichter je Anderes gethan? und wozu wäre alle Kunst in der Welt da?). Was ich aber immer wieder am nöthigsten brauchte, zu meiner K u r und SelbstWiederherstellung,
das war der Glaube,
einzeln zu sein, einzeln zu s e h n ,
nicht
dergestalt
— ein zauberhafter Arg-
wohn von Verwandtschaft und Gleichheit in Auge und Begierde, ein Ausruhen im Vertrauen der Freundschaft, eine Blindheit zu Zweien ohne Verdacht und Fragezeichen, ein Genuss an V o r dergründen, Oberflächen, Nahem, Nächstem, an Allem, was Farbe, H a u t und Scheinbarkeit hat. Vielleicht, dass man mir in diesem Betrachte mancherlei „ K u n s t " , mancherlei feinere Falschmünzerei vorrücken könnte: zum Beispiel, dass ich wissentlichwillentlich die Augen vor Schopenhauer's blindem Willen zur Moral zugemacht hätte, zu einer Zeit, wo ich über Moral schon hellsichtig genug w a r ; insgleichen dass ich mich über Richard Wagner's unheilbare R o m a n t i k betrogen hätte, wie als ob sie ein Anfang und nicht ein Ende sei; insgleichen über die Griechen, insgleichen über die Deutschen und ihre Zukunft — und es gäbe vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher Insgleichen? — gesetzt aber, dies Alles wäre wahr und mit gutem Grunde mir vorgerückt, was wisst i h r davon, was k ö n n t e t
ihr davon
wissen, wie viel List der Selbst-Erhaltung, wie viel Vernunft und höhere Obhut in solchem Selbst-Betruge enthalten ist, — und wie viel Falschheit mir noch n o t h mir immer wieder den Luxus m e i n e r
thut,
damit ich
Wahrhaftigkeit gestat-
ten darf? . . . Genug, ich lebe noch; und das Leben ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es w i l l lebt
Täuschung, es
von der T ä u s c h u n g . . . aber nicht wahr? da beginne ich
Vorrede 1—3
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bereits wieder und thue, was ich immer gethan habe, ich alter Immoralist und Vogelsteller — und rede unmoralisch, aussermoralisch, „jenseits von Gut und Böse" ? —
2.
— So habe ich denn einstmals, als ich es nöthig hatte, mir auch die „freien Geister" e r f u n d e n , denen dieses schwermüthig-muthige Buch mit dem Titel „Menschliches, Allzumenschliches" gewidmet ist: dergleichen „freie Geister" giebt es nicht, gab es nicht, — aber ich hatte sie damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nöthig, um guter Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, Acedia, Unthätigkeit): als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen man schwätzt und lacht, wenn man Lust hat zu schwätzen und zu lachen, und die man zum Teufel schickt, wenn sie langweilig werden, — als ein Schadenersatz für mangelnde Freunde. Dass es dergleichen freie Geister einmal geben k ö n n t e , dass unser Europa unter seinen Söhnen von Morgen und Uebermorgen solche muntere und verwegene Gesellen haben wird, leibhaft und handgreiflich und nicht nur, wie in meinem Falle, als Schemen und Einsiedler-Schattenspiel: daran möchte i c h am wenigsten zweifeln. Ich sehe sie bereits k o m m e n , langsam, langsam; und vielleicht thue ich etwas, um ihr Kommen zu beschleunigen, wenn ich zum Voraus beschreibe, unter welchen Schicksalen ich sie entstehn, auf welchen Wegen ich sie kommen sehe?
3Man darf vermuthen, dass ein Geist, in dem der Typus „freier Geist" einmal bis zur Vollkommenheit reif und süss werden soll, sein entscheidendes Ereigniss in einer g r o s s e n L o s l ö s u n g gehabt hat, und dass er vorher um so mehr ein
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gebundener Geist war und f ü r immer an seine Ecke und Säule gefesselt schien. Was bindet am festesten? welche Stricke sind beinahe unzerreissbar? Bei Menschen einer hohen und ausgesuchten Art werden es die Pflichten sein: jene Ehrfurcht, wie sie der Jugend eignet, jene Scheu und Zartheit vor allem Altverehrten und Würdigen, jene Dankbarkeit f ü r den Boden, aus dem sie wuchsen, f ü r die H a n d , die sie führte, für das Heiligthum, wo sie anbeten lernten, — ihre höchsten Augenblicke selbst werden sie am festesten binden, am dauerndsten verpflichten. Die grosse Loslösung kommt für solchermaassen Gebundene plötzlich, wie ein Erdstoss: die junge Seele wird mit Einem Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen, — sie selbst versteht nicht, was sich begiebt. Ein Antrieb und Andrang waltet und wird über sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch erwacht, fortzugehn, irgend wohin, um jeden Preis; eine heftige gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in allen ihren Sinnen. „Lieber sterben als h i e r leben" — so klingt die gebieterische Stimme und Verführung: und dies „hier", dies „zu Hause" ist Alles, was sie bis dahin geliebt hatte! Ein plötzlicher Schrecken und Argwohn gegen Das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen Das, was ihr „Pflicht" hiess, ein aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung, Vereisung, ein Hass auf die Liebe, vielleicht ein tempelschänderischer Griff und Blick r ü c k w ä r t s , dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte, vielleicht eine Gluth der Scham über Das, was sie eben that, und ein Frohlocken zugleich, d a s s sie es that, ein trunkenes inneres frohlockendes Schaudern, in dem sich ein Sieg verräth — ein Sieg? über was? über wen? ein räthselhafter fragenreicher fragwürdiger Sieg, aber der e r s t e Sieg immerhin: — dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehört zur Geschichte der grossen Loslösung. Sie ist eine Krankheit zugleich, die den Menschen zerstören kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestim-
Vorrede 3—4
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mung, Selbst-Werthsetzung, dieser Wille zum f r e i e n Willen: und wie viel Krankheit drückt sich an den wilden Versuchen und Seltsamkeiten aus, mit denen der Befreite, Losgelöste sich nunmehr seine Herrschaft über die Dinge zu beweisen sucht! Er schweift grausam umher, mit einer unbefriedigten Lüsternheit; was er erbeutet, muss die gefährliche Spannung seines Stolzes abbüssen; er zerreisst, was ihn reizt. Mit einem bösen Lachen dreht er um, was er verhüllt, durch irgend eine Scham geschont findet: er versucht, wie diese Dinge aussehn, w e n n man sie umkehrt. Es ist Willkür und Lust an der Willkür darin, wenn er vielleicht nun seine Gunst dem zuwendet, was bisher in schlechtem Rufe stand, — wenn er neugierig und versucherisch um das Verbotenste schleicht. Im Hintergrunde seines Treibens und Schweifens — denn er ist unruhig und ziellos unterwegs wie in einer Wüste — steht das Fragezeichen einer immer gefährlicheren Neugierde. „Kann man nicht a l l e Werthe umdrehn? und ist Gut vielleicht Böse? und Gott nur eine Erfindung und Feinheit des Teufels? Ist Alles vielleicht im letzten Grunde falsch? Und wenn wir Betrogene sind, sind wir nicht ebendadurch auch Betrüger? m ü s s e n wir nicht auch Betrüger sein?" — solche Gedanken führen und verführen ihn, immer weiter fort, immer weiter ab. Die Einsamkeit umringt und umringelt ihn, immer drohender, würgender, herzzuschnürender, jene furchtbare Göttin und mater saeva cupidinum — aber wer weiß es heute, was E i n s a m k e i t i s t ? . . .
4Von dieser krankhaften Vereinsamung, von der Wüste solcher Versuchs-Jahre ist der Weg noch weit bis zu jener ungeheuren überströmenden Sicherheit und Gesundheit, welche der Krankheit selbst nicht entrathen mag, als eines Mittels und Angelhakens der Erkenntniss, bis zu jener r e i f e n Freiheit des Geistes, welche ebensosehr Selbstbeherrschung und Zucht des
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Herzens ist und die Wege zu vielen und entgegengesetzten Denkweisen erlaubt —, bis zu jener inneren Umfänglichkeit und Verwöhnung des Ueberreichthums, welche die Gefahr ausschliesst, dass der Geist sich etwa selbst in die eignen Wege verlöre und verliebte und in irgend einem Winkel berauscht sitzen bliebe, bis zu jenem Ueberschuss an plastischen, ausheilenden, nachbildenden und wiederherstellenden Kräften, welcher eben das Zeichen der g r o s s e n Gesundheit ist, jener Ueberschuss, der dem freien Geiste das gefährliche Vorrecht giebt, a u f d e n V e r s u c h hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen: das Meisterschafts-Vorrecht des freien Geistes! Dazwischen mögen lange Jahre der Genesung liegen, Jahre voll vielfarbiger schmerzlich-zauberhafter Wandlungen, beherrscht und am Zügel geführt durch einen zähen W i l l e n z u r G e s u n d h e i t , der sich oft schon als Gesundheit zu kleiden und zu verkleiden wagt. Es giebt einen mittleren Zustand darin, dessen ein Mensch solchen Schicksals später nicht ohne Rührung eingedenk ist: ein blasses feines Licht und Sonnenglück ist ihm zu eigen, ein Gefühl von Vogel-Freiheit, Vogel-Umblick, VogelUebermuth, etwas Drittes, in dem sich Neugierde und zarte Verachtung gebunden haben. Ein „freier Geist" — dies kühle Wort thut in jenem Zustande wohl, es wärmt beinahe. Man lebt, nicht mehr in den Fesseln von Liebe und Hass, ohne Ja, ohne Nein, freiwillig nahe, freiwillig ferne, am liebsten entschlüpfend, ausweichend, fortflatternd, wieder weg, wieder empor fliegend; man ist verwöhnt, wie Jeder, der einmal ein ungeheures Vielerlei u n t e r sich gesehn hat, — und man ward zum Gegenstück Derer, welche sich um Dinge bekümmern, die sie nichts angehn. In der That, den freien Geist gehen nunmehr lauter Dinge an — und wie viele Dinge! — welche ihn nicht mehr b e k ü m m e r n . . .
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Ein Schritt weiter in der Genesung: und der freie Geist nähert sich wieder dem Leben, langsam freilich, fast widerspänstig, fast misstrauisch. Es wird wieder wärmer um ihn, gelber gleichsam; Gefühl und Mitgefühl bekommen Tiefe, Thauwinde aller Art gehen über ihn weg. Fast ist ihm zu Muthe, als ob ihm jetzt erst die Augen f ü r das N a h e aufgiengen. Er ist verwundert und sitzt stille: wo w a r er doch? Diese nahen und nächsten Dinge: wie scheinen sie ihm verwandelt! welchen Flaum und Zauber haben sie inzwischen bekommen! Er blickt dankbar zurück, — dankbar seiner Wanderschaft, seiner H ä r t e und Selbstentfremdung, seinen Fernblicken und Vogelflügen in kalte Höhen. Wie gut, dass er nicht wie ein zärtlicher dumpfer Eckensteher immer „zu Hause", immer „bei sich" geblieben ist! er war a u s s e r sich: es ist kein Zweifel. Jetzt erst sieht er sich selbst —, und welche Ueberraschungen findet er dabei! Welche unerprobten Schauder! Welches Glück noch in der Müdigkeit, der alten Krankheit, den Rückfällen des Genesenden! Wie es ihm gefällt, leidend stillzusitzen, Geduld zu spinnen, in der Sonne zu liegen! Wer versteht sich gleich ihm auf das Glück im Winter, auf die Sonnenflecke an der Mauer! Es sind die dankbarsten Thiere von der Welt, auch die bescheidensten, diese dem Leben wieder halb zugewendeten Genesenden und Eidechsen: — es giebt solche unter ihnen, die keinen Tag von sich lassen, ohne ihm ein kleines Loblied an den nachschleppenden Saum zu hängen. Und ernstlich geredet: es ist eine gründliche K u r gegen allen Pessimismus (den Krebsschaden alter Idealisten und Lügenbolde, wie bekannt —) auf die Art dieser freien Geister krank zu werden, eine gute Weile krank zu bleiben und dann, noch länger, noch länger, gesund, ich meine „gesünder" zu werden. Es ist Weisheit darin, Lebens-Weisheit, sich die Gesundheit selbst lange Zeit nur in kleinen Dosen zu verordnen.
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Um jene Zeit mag es endlich geschehn, unter den plötzlichen Lichtern einer noch ungestümen, noch wechselnden Gesundheit, dass dem freien, immer freieren Geiste sich das Räthsel jener grossen Loslösung zu entschleiern beginnt, welches bis dahin dunkel, fragwürdig, fast unberührbar in seinem Gedächtniss gewartet hatte. Wenn er sich lange kaum zu fragen wagte „warum so abseits? so allein? Allem entsagend, was ich verehrte? der Verehrung selbst entsagend? warum diese Härte, dieser Argwohn, dieser Hass auf die eigenen Tugenden?" — jetzt wagt und fragt er es laut und hört auch schon etwas wie Antwort darauf. „Du solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden. Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über dein Für und Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus- und wieder einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke. Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen — die Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und was Alles zum Perspektivischen gehört; auch das Stück Dummheit in Bezug auf entgegengesetzte Werthe und die ganze intellektuelle Einbusse, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht. Du solltest die n o t h w e n d i g e Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unablösbar vom Leben, das Leben selbst als b e d i n g t durch das Perspektivische und seine Ungerechtigkeit. Du solltest vor Allem mit Augen sehn, wo die Ungerechtigkeit immer am grössten ist: dort nämlich, wo das Leben am kleinsten, engsten, dürftigsten, anfänglichsten entwickelt ist und dennoch nicht umhin kann, s i c h als Zweck und Maass der Dinge zu nehmen und seiner Erhaltung zu Liebe das Höhere, Grössere, Reichere heimlich und kleinlich und unablässig anzubröckeln und in Frage zu stellen, — du solltest das Problem der R a n g o r d n u n g mit Augen sehn und wie Macht und Recht und Umfänglichkeit der Perspek-
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tive mit einander in die Höhe wachsen. Du solltest" — genug, der freie Geist w e i s s nunmehr, welchem „du sollst" er gehorcht hat, und auch, was er jetzt k a n n , was er jetzt erst — darf... 7Dergestalt giebt der freie Geist sich in Bezug auf jenes Räthsel von Loslösung Antwort und endet damit, indem er seinen Fall verallgemeinert, sich über sein Erlebniss also zu entscheiden. „Wie es mir ergieng, sagt er sich, muss es Jedem ergehn, in dem eine A u f g a b e leibhaft werden und „zur Welt kommen" will. Die heimliche Gewalt und Nothwendigkeit dieser Aufgabe wird unter und in seinen einzelnen Schicksalen walten gleich einer unbewussten Schwangerschaft, — lange, bevor er diese Aufgabe selbst in's Auge gefasst hat und ihren Namen weiss. Unsre Bestimmung verfügt über uns, auch wenn wir sie '5 noch nicht kennen; es ist die Zukunft, die unserm Heute die Regel giebt. Gesetzt, dass es d a s P r o b l e m d e r Rango r d n u n g ist, von dem wir sagen dürfen, dass es u n s e r Problem ist, wir freien Geister: jetzt, in dem Mittage unsres Lebens, verstehn wir es erst, was f ü r Vorbereitungen, Umwege, 10 Proben, Versuchungen, Verkleidungen das Problem nöthig hatte, ehe es vor uns aufsteigen d u r f t e , und wie wir erst die vielfachsten und widersprechendsten N o t h - und Glücksstände an Seele und Leib erfahren mussten, als Abenteurer und Weltumsegier jener inneren Welt, die „Mensch" heisst, als Aus2 S messer jedes „Höher" und „Uebereinander", das gleichfalls „Mensch" heisst — überallhin dringend, fast ohne Furcht, nichts verschmähend, nichts verlierend, alles auskostend, alles vom Zufälligen reinigend und gleichsam aussiebend — bis wir endlich sagen durften, wir freien Geister: „Hier — ein n e u e s Pro3° blem! Hier eine lange Leiter, auf deren Sprossen wir selbst gesessen und gestiegen sind, — die wir selbst irgend wann g e w e s e n sind! Hier ein Höher, ein Tiefer, ein Unter-uns, eine 5
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Menschliches, Allzumenschliches I
ungeheure lange Ordnung, eine Rangordnung, die wir s e h e n : hier — u n s e r Problem!"
8.
— Es wird keinem Psychologen und Zeichendeuter einen Augenblick verborgen bleiben, an welche Stelle der eben geschilderten Entwicklung das vorliegende Buch gehört (oder g e s t e l l t ist —). Aber w o giebt es heute Psychologen? In Frankreich, gewiss; vielleicht in Russland; sicherlich nicht in Deutschland. Es fehlt nicht an Gründen, weshalb sich dies die heutigen Deutschen sogar noch zur Ehre anrechnen könnten: schlimm genug für Einen, der in diesem Stücke undeutsch geartet und gerathen ist! Dies d e u t s c h e Buch, welches in einem weiten Umkreis von Ländern und Völkern seine Leser zu finden gewusst hat — es ist ungefähr zehn J a h r unterwegs — und sich auf irgend welche Musik und Flötenkunst verstehn muss, durch die auch spröde Ausländer-Ohren zum Horchen verführt werden, — gerade in Deutschland ist dies Buch am nachlässigsten gelesen, am schlechtesten g e h ö r t worden: woran liegt das? — „Es verlangt zu viel, hat man mir geantwortet, es wendet sich an Menschen ohne die Drangsal grober Pflichten, es will feine und verwöhnte Sinne, es hat Ueberfluss nöthig, Ueberfluss an Zeit, an Helligkeit des Himmels und Herzens, an otium im verwegensten Sinne: — lauter gute Dinge, die wir Deutschen von Heute nicht haben und also auch nicht geben können." — Nach einer so artigen Antwort räth mir meine Philosophie, zu schweigen und nicht mehr weiter zu fragen; zumal man in gewissen Fällen, wie das Sprüchwort andeutet, nur dadurch Philosoph b l e i b t , dass man — schweigt. N i z z a , im Frühling 1886.
Erstes Hauptstück. Von den ersten und letzten Dingen. i. Chemie der Begriffe und E m p f i n d u n g e n . — Die philosophischen Probleme nehmen jetzt wieder fast in allen Stücken dieselbe Form der Frage an, wie vor zweitausend Jahren: wie kann Etwas aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern? Die metaphysische Philosophie half sich bisher über diese Schwierigkeit hinweg, insofern sie die Entstehung des Einen aus dem Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen Wunder-Ursprung annahm, unmittelbar aus dem Kern und Wesen des „Dinges an sich" heraus. Die historische Philosophie dagegen, welche gar nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken ist, die allerjüngste aller philosophischen Methoden, ermittelte in einzelnen Fällen (und vermuthlich wird diess in allen ihr Ergebniss sein), dass es keine Gegensätze sind, ausser in der gewohnten Übertreibung der populären oder metaphysischen Auffassung und dass ein Irrthum der Vernunft dieser Gegenüberstellung zu Grunde liegt: nach ihrer Erklärung giebt es, streng gefasst, weder ein unegoistisches Handeln, noch ein völlig interesseloses Anschauen, es sind beides nur Sublimirungen, bei denen das Grundelement fast verflüchtigt erscheint und nur noch für die feinste
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Mensdiliches, Allzumensdilidies I
Beobachtung sich als vorhanden erweist. — Alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwärtigen H ö h e der einzelnen
Wissenschaften
Chemie
uns
gegeben
werden
kann,
ist
eine
der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellun-
gen und Empfindungen, ebenso aller jener Regungen, welche wir im Gross- und Kleinverkehr der Cultur und Gesellschaft, j a in der Einsamkeit an uns erleben: wie, wenn diese Chemie mit dem Ergebniss abschlösse, dass auch auf diesem Gebiete die herrlichsten Farben aus niedrigen, j a verachteten Stoffen gewonnen sind? Werden Viele Lust haben, solchen Untersuchungen zu folgen? Die Menschheit liebt es, die Fragen über Herkunft und Anfänge sich aus dem Sinn zu schlagen: muss man nicht fast entmenscht sein, um den entgegengesetzten H a n g in sich zu spüren? —
2. Erbfehler
der
Philosophen.
—
Alle
Philoso-
phen haben den gemeinsamen Fehler an sich, dass sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch eine Analyse desselben an's Ziel zu kommen meinen. Unwillkürlich
schwebt
ihnen „der Mensch" als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maass der Dinge vor. Alles, was der Philosoph über den Menschen aussagt, ist aber im Grunde nicht mehr, als ein Zeugniss über den Menschen eines sehr
beschränkten
Zeitraumes. Mangel an historischem
Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen; manche sogar nehmen unversehens die allerjüngste Gestaltung des Menschen, wie eine solche unter dem Eindruck bestimmter Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse entstanden ist, als die feste Form, von der man ausgehen müsse. Sie wollen nicht lernen, dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen geworden ist; während Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem Erkenntnissvermögen sich herausspinnen lassen. — N u n
1. Von den ersten und letzten Dingen 1—3
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ist alles W e s e n t l i c h e der menschlichen Entwickelung in Urzeiten vor sich gegangen, lange vor jenen vier tausend J a h ren, die wir ungefähr kennen; in diesen mag sich der Mensch nicht viel mehr verändert haben. D a sieht aber der Philosoph „Instincte" am gegenwärtigen Menschen und nimmt an, dass diese zu den unveränderlichen Thatsachen des Menschen gehören und insofern einen Schüssel z u m Verständniss der Welt überhaupt abgeben können; die ganze Teleologie ist darauf gebaut, dass man vom Menschen der letzten vier Jahrtausende als von einem e w i g e n redet, zu welchem hin alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine natürliche Richtung haben. Alles aber ist geworden; es giebt k e i n e e w i g e n T h a t s a c h e n : sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. — Demnach ist das h i s t o r i s c h e P h i l o s o p h i r e n von jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung.
3Schätzung der unscheinbaren Wahrheit e n . — Es ist das Merkmal einer höhern Cultur, die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen, als die beglückenden und blendenden Irrthümer, welche metaphysischen und künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen. Zunächst hat man gegen erstere den H o h n auf den Lippen, als könne hier gar nichts Gleichberechtigtes gegen einander stehen: so bescheiden, schlicht, nüchtern, ja scheinbar entmuthigend stehen diese, so schön, prunkend, berauschend, ja vielleicht beseligend stehen jene da. Aber das mühsam Errungene, Gewisse, Dauernde und desshalb für jede weitere Erkenntniss noch Folgenreiche ist doch das Höhere, zu ihm sich zu halten ist männlich und zeigt T a p f e r keit, Schlichtheit, Enthaltsamkeit an. Allmählich wird nicht nur der Einzelne, sondern die gesammte Menschheit zu dieser Männlichkeit emporgehoben werden, wenn sie sich endlich an die
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Menschliches, Allzumenschliches I
höhere Schätzung der haltbaren, dauerhaften Erkenntnisse gewöhnt und allen Glauben an Inspiration und wundergleiche Mittheilung von Wahrheiten verloren hat. — Die Verehrer der F o r m e n freilich, mit ihrem Maassstabe des Schönen und Erhabenen, werden zunächst gute Gründe zu spotten haben, sobald die Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten und der wissenschaftliche Geist anfängt zur Herrschaft zu kommen: aber nur weil entweder ihr Auge sich noch nicht dem Reiz der schlichtesten Form erschlossen hat oder weil die in jenem Geiste erzogenen Menschen noch lange nicht völlig und innerlich von ihm durchdrungen sind, so dass sie immer noch gedankenlos alte Formen nachmachen (und diess schlecht genug, wie es J e m a n d thut, dem nicht mehr viel an einer Sache liegt). Ehemals war der Geist nicht durch strenges Denken in Anspruch genommen, da lag sein Ernst im Ausspinnen von Symbolen und Formen. D a s hat sich verändert; jener Ernst des Symbolischen ist zum Kennzeichen der niederen Gultur geworden; wie unsere Künste selber immer intellectualer, unsere Sinne geistiger werden, und wie man zum Beispiel jetzt ganz anders darüber urtheilt, was sinnlich wohltönend ist, als vor hundert Jahren: so werden auch die Formen unseres Lebens immer g e i s t i g e r , für das Auge älterer Zeiten vielleicht h ä s s l i c h e r , aber nur weil es nicht zu sehen vermag, wie das Reich der inneren, geistigen Schönheit sich fortwährend vertieft und erweitert und in wie fern uns Allen der geistreiche Blick jetzt mehr gelten darf, als der schönste Gliederbau und das erhabenste Bauwerk.
4A s t r o l o g i e u n d V e r w a n d t e s . — Es ist wahrscheinlich, dass die Objecte des religiösen, moralischen und ästhetischen Empfindens ebenfalls nur zur Oberfläche der Dinge gehören, während der Mensdb gerne glaubt, dass er hier wenig-
1. Von den ersten und letzten Dingen 4—6
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stens an das Herz der Welt rühre; er täuscht sich, weil jene Dinge ihn so tief beseligen und so tief unglücklich machen, und zeigt also hier denselben Stolz wie bei der Astrologie. Denn diese meint, der Sternenhimmel drehte sich um das Loos des Menschen; der moralische Mensch aber setzt voraus, Das, was ihm wesentlich am Herzen liege, müsse auch Wesen und Herz der Dinge sein.
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Missverständniss des Traumes. — Im Traume glaubte der Mensch in den Zeitaltern roher uranfänglicher Cultur eine z w e i t e r e a l e W e l t kennenzulernen; hier ist der Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum hätte man keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefunden. Auch die Zerlegung in Seele und Leib hängt mit der ältesten Auffassung des Traumes zusammen, ebenso die Annahme eines Seelenscheinleibes, also die Herkunft alles Geisterglaubens, und wahrscheinlich auch des Götterglaubens. „Der Todte lebt fort; d e n n er erscheint dem Lebenden im Traume": so schloss man ehedem, durch viele Jahrtausende hindurch.
6. Der Geist der Wissenschaft im Theil, n i c h t im Ganzen m ä c h t i g . — Die abgetrennten k l e i n s t e n Gebiete der Wissenschaft werden rein sachlich behandelt: die allgemeinen grossen Wissenschaften dagegen legen, als Ganzes betrachtet, die Frage — eine recht unsachliche Frage freilich — auf die Lippen: wozu? zu welchem Nutzen? Wegen dieser Rücksicht auf den Nutzen werden sie, als Ganzes, weniger unpersönlich, als in ihren Theilen behandelt. Bei der Philosophie nun gar, als bei der Spitze der gesammten Wissenspyramide, wird unwillkürlich die Frage nach dem Nutzen der
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Erkenntniss überhaupt aufgeworfen, und jede Philosophie hat unbewusst die Absicht, ihr den h ö c h s t e n Nutzen zuzuschreiben. Desshalb giebt es in allen Philosophien so viel hochfliegende Metaphysik und eine solche Scheu vor den unbedeutend erscheinenden Lösungen der Physik; denn die Bedeutsamkeit der Erkenntniss f ü r das Leben s o l l so gross als möglich erscheinen. Hier ist der Antagonismus zwischen den wissenschaftlichen Einzelgebieten und der Philosophie. Letztere will, was die Kunst will, dem Leben und Handeln möglichste Tiefe und Bedeutung geben; in ersteren sucht man Erkenntniss und Nichts weiter, — was dabei auch herauskomme. Es hat bis jetzt noch keinen Philosophen gegeben, unter dessen Händen die Philosophie nicht zu einer Apologie der Erkenntniss geworden wäre; in diesem Puncte wenigstens ist ein jeder Optimist, dass dieser die höchste Nützlichkeit zugesprochen werden müsse. Sie alle werden von der Logik tyrannisirt: und diese ist ihrem Wesen nach Optimismus.
7Der Störenfried in der Wissenschaft. — Die Philosophie schied sich von der Wissenschaft, als sie die Frage stellte: welches ist diejenige Erkenntniss der Welt und des Lebens, bei welcher der Mensch am glücklichsten lebt? Diess geschah in den sokratischen Schulen: durch den Gesichtspunct des G l ü c k s unterband man die Blutadern der wissenschaftlichen Forschung — und thut es heute noch.
8. P n e u m a t i s c h e E r k l ä r u n g d e r N a t u r . — Die Metaphysik erklärt die Schrift der N a t u r gleichsam p n e u m a t i s c h , wie die Kirche und ihre Gelehrten es ehemals mit der Bibel thaten. Es gehört sehr viel Verstand dazu, um auf die
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N a t u r die selbe Art der strengeren Erklärungskunst anzuwenden, wie jetzt die Philologen sie für alle Bücher geschaffen haben: mit der Absicht, schlicht zu verstehen, was die Schrift sagen will, aber nicht einen d o p p e l t e n Sinn zu wittern, ja vorauszusetzen. Wie aber selbst in Betreff der Bücher die schlechte Erklärungskunst keineswegs völlig überwunden ist und man in der besten gebildeten Gesellschaft noch fortwährend auf Ueberreste allegorischer und mystischer Ausdeutung stösst: so steht es auch in Betreff der N a t u r — ja noch viel schlimmer.
9M e t a p h y s i s c h e W e l t . — Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen. Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden; während doch die Frage übrig bleibt, was von der Welt noch da wäre, wenn man ihn doch abgeschnitten hätte. Diess ist ein rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet, den Menschen Sorgen zu machen; aber Alles, was ihnen bisher metaphysische Annahmen w e r t h v o l l , s c h r e c k e n v o l l , lustvoll gemacht, was sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug; die allerschlechtesten Methoden der Erkenntniss, nicht die allerbesten, haben daran glauben lehren. Wenn man diese Methoden, als das Fundament aller vorhandenen Religionen und Metaphysiken, aufgedeckt hat, hat man sie widerlegt. Dann bleibt immer noch jene Möglichkeit übrig; aber mit ihr kann man gar Nichts anfangen, geschweige denn, dass man Glück, Heil und Leben von den Spinnenfäden einer solchen Möglichkeit abhängen lassen dürfte. — Denn man könnte von der metaphysischen Welt gar Nichts aussagen, als ein Anderssein, ein uns unzugängliches, unbegreifliches Anderssein; es wäre ein Ding mit negativen Eigenschaften. — Wäre die Existenz einer solchen Welt noch so gut bewiesen, so stünde doch fest,
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dass die gleichgültigste aller Erkenntnisse eben ihre Erkenntniss wäre: noch gleichgültiger als dem Schiffer in Sturmesgefahr die Erkenntniss von der chemischen Analysis des Wassers sein muss.
10. H a r m l o s i g k e i t d e r M e t a p h y s i k in d e r Z u k u n f t . — Sobald die Religion, Kunst und Moral in ihrer Entstehung so beschrieben sind, dass man sie vollständig sich erklären kann, ohne zur Annahme m e t a p h y s i s c h e r Eing r i f f e am Beginn und im Verlaufe der Bahn seine Zuflucht zu nehmen, hört das stärkste Interesse an dem rein theoretischen Problem vom „Ding an sich" und der „Erscheinung" auf. Denn wie es hier auch stehe: mit Religion, Kunst und Moral rühren wir nicht an das „Wesen der Welt an sich"; wir sind im Bereiche der Vorstellung, keine „Ahnung" kann uns weitertragen. Mit voller Ruhe wird man die Frage, wie unser Weltbild so stark sich von dem erschlossenen Wesen der Welt unterscheiden könne, der Physiologie und der Entwickelungsgeschichte der Organismen und Begriffe überlassen.
11. Die Sprache als v e r m e i n t l i c h e Wissens c h a f t . — Die Bedeutung der Sprache für die Entwickelung der Cultur liegt darin, dass in ihr der Mensch eine eigene Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen er für so fest hielt, um von ihm aus die übrige Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herrn derselben zu machen. Insofern der Mensch an die Begriffe und Namen der Dinge als an a e t e r n a e v e r i t a t e s durch lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz angeeignet, mit dem er sich über das Thier erhob: er meinte wirklich in der Sprache die Erkenntniss der Welt zu haben. Der Sprachbildner war nicht so bescheiden, zu
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glauben, dass er den Dingen eben nur Bezeichnungen gebe, er drückte vielmehr, wie er wähnte, das höchste Wissen über die Dinge mit den Worten aus; in der That ist die Sprache die erste Stufe der Bemühung um die Wissenschaft. Der G l a u b e a n d i e g e f u n d e n e W a h r h e i t ist es auch hier, aus dem die mächtigsten Kraftquellen geflossen sind. Sehr nachträglich — jetzt erst — dämmert es den Menschen auf, dass sie einen ungeheuren Irrthum in ihrem Glauben an die Sprache propagirt haben. Glücklicherweise ist es zu spät, als dass es die Entwickelung der Vernunft, die auf jenem Glauben beruht, wieder rückgängig machen könnte. — Auch die L o g i k beruht auf Voraussetzungen, denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht, z.B. auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität des selben Dinges in verschiedenen Puncten der Zeit: aber jene Wissenschaft entstand durch den entgegengesetzten Glauben (dass es dergleichen in der wirklichen Welt allerdings gebe). Ebenso steht es mit der M a t h e m a t i k , welche gewiss nicht entstanden wäre, wenn man von Anfang an gewusst hätte, dass es in der N a t u r keine exact gerade Linie, keinen wirklichen Kreis, kein absolutes Grössenmaass gebe.
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T r a u m u n d C u l t u r . — Die Gehirnfunction, welche durch den Schlaf am meisten beeinträchtigt wird, ist das Gedächtniss: nicht dass es ganz pausirte, — aber es ist auf einen Zustand der Unvollkommenheit zurückgebracht, wie es in U r zeiten der Menschheit bei Jedermann am Tage und im Wachen gewesen sein mag. Willkürlich und verworren, wie es ist, verwechselt es fortwährend die Dinge auf Grund der flüchtigsten Aehnlichkeiten: aber mit der selben Willkür und Verworrenheit dichteten die Völker ihre Mythologien, und noch jetzt pflegen Reisende zu beobachten, wie sehr der Wilde zur Vergesslichkeit neigt, wie sein Geist nach kurzer Anspannung des Gedächtnisses
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hin und her zu taumeln beginnt und er, aus blosser Erschlaffung, Lügen und Unsinn hervorbringt. Aber wir Alle gleichen im Traume diesem Wilden; das schlechte Wiedererkennen und irrthümliche Gleichsetzen ist der Grund des schlechten Schliessens, dessen wir uns im Traume schuldig machen: so dass wir, bei deutlicher Vergegenwärtigung eines Traumes, vor uns erschrecken, weil wir so viel Narrheit in uns bergen. — Die vollkommene Deutlichkeit aller Traum-Vorstellungen, welche den unbedingten Glauben an ihre Realität zur Voraussetzung hat, erinnert uns wieder an Zustände früherer Menschheit, in der die Hallucination ausserordentlich häufig war und mitunter ganze Gemeinden, ganze Völker gleichzeitig ergriff. Also: im Schlaf und Traum machen wir das Pensum früheren Menschenthums noch einmal durch.
13L o g i k d e s T r a u m e s . — Im Schlafe ist fortwährend unser Nervensystem durch mannichfache innere Anlässe in Erregung, fast alle Organe secerniren und sind in Thätigkeit, das Blut macht seinen ungestümen Kreislauf, die Lage des Schlafenden drückt einzelne Glieder, seine Decken beeinflussen die Empfindung verschiedenartig, der Magen verdaut und beunruhigt mit seinen Bewegungen andere Organe, die Gedärme winden sich, die Stellung des Kopfes bringt ungewöhnliche Muskellagen mit sich, die Füsse, unbeschuht, nicht mit den Sohlen den Boden drückend, verursachen das Gefühl des Ungewöhnlichen ebenso wie die andersartige Bekleidung des ganzen Körpers, — alles diess nach seinem täglichen Wechsel und Grade erregt durch seine Aussergewöhnlichkeit das gesammte System bis in die Gehirnfunction hinein: und so giebt es hundert Anlässe für den Geist, um sich zu verwundern und nach G r ü n d e n dieser Erregung zu suchen: der Traum aber ist das S u c h e n u n d V o r s t e l l e n d e r U r s a c h e n f ü r jene erregten Empfindungen, das
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heisst der vermeintlichen Ursachen. Wer zum Beispiel seine Füsse mit zwei Riemen umgürtet, träumt wohl, dass zwei Schlangen seine Füsse umringein: diess ist zuerst eine Hypothese, sodann ein Glaube, mit einer begleitenden bildlichen Vorstellung und Ausdichtung: „diese Schlangen müssen die causa jener Empfindung sein, welche ich, der Schlafende, habe", — so urtheilt der Geist des Schlafenden. Die so erschlossene nächste Vergangenheit wird durch die erregte Phantasie ihm zur Gegenwart. So weiss Jeder aus Erfahrung, wie schnell der Träumende einen starken an ihn dringenden Ton, zum Beispiel Glockenläuten, Kanonenschüsse in seinen Traum verflicht, das heisst aus ihm h i n t e r d r e i n erklärt, so dass er zuerst die veranlassenden Umstände, dann jenen Ton zu erleben m e i n t . — Wie kommt es aber, dass der Geist des Träumenden immer so fehl greift, während der selbe Geist im Wachen so nüchtern, behutsam und in Bezug auf Hypothesen so skeptisch zu sein pflegt? so dass ihm die erste beste Hypothese zur Erklärung eines Gefühls genügt, um sofort an ihre Wahrheit zu glauben? (denn wir glauben im Traume an den Traum, als sei er Realität, das heisst wir halten unsre Hypothese für völlig erwiesen). — Ich meine: wie jetzt noch der Mensch im Traume schliesst, so schloss die Menschheit a u c h i m W a c h e n viele Jahrtausende hindurch: die erste causa, die dem Geiste einfiel, um irgend Etwas, das der Erklärung bedurfte, zu erklären, genügte ihm und galt als Wahrheit. (So verfahren nach den Erzählungen der Reisenden die Wilden heute noch.) Im Traum übt sich dieses uralte Stück Menschenthum in uns fort, denn es ist die Grundlage, auf der die höhere Vernunft sich entwickelte und in jedem Menschen sich noch entwickelt: der Traum bringt uns in ferne Zustände der menschlichen Cultur wieder zurück und giebt ein Mittel an die H a n d , sie besser zu verstehen. D a s Traumdenken wird uns jetzt so leicht, weil wir in ungeheuren Entwickelungsstrecken der Menschheit gerade auf diese Form des phantastischen und wohlfeilen Erklärens aus dem ersten beliebigen Einfalle heraus so gut
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eingedrillt worden sind. Insofern ist der Traum eine Erholung für das Gehirn, welches am Tage den strengeren Anforderungen an das Denken zu genügen hat, wie sie von der höheren Cultur gestellt werden. — Einen verwandten Vorgang können wir geradezu als Pforte und Vorhalle des Traumes noch bei wachem Verstände in Augenschein nehmen. Schliessen wir die Augen, so producirt das Gehirn eine Menge von Lichteindrücken und Farben, wahrscheinlich als eine Art Nachspiel und Echo aller jener Lichtwirkungen, welche am Tage auf dasselbe eindringen. Nun verarbeitet aber der Verstand (mit der Phantasie im Bunde) diese an sich formlosen Farbenspiele sofort zu bestimmten Figuren, Gestalten, Landschaften, belebten Gruppen. Der eigentliche Vorgang dabei ist wiederum eine Art Schluss von der Wirkung auf die Ursache; indem der Geist fragt: woher diese Lichteindrücke und Farben, supponirt er als Ursachen jene Figuren, Gestalten: sie gelten ihm als die Veranlassungen jener Farben und Lichter, weil er, am Tage, bei offenen Augen, gewohnt ist, zu jeder Farbe, jedem Lichteindrucke eine veranlassende Ursache zu finden. Hier also schiebt ihm die Phantasie fortwährend Bilder vor, indem sie an die Gesichtseindrücke des Tages sich in ihrer Production anlehnt, und gerade so macht es die Traumphantasie: — das heisst die vermeintliche Ursache wird aus der Wirkung erschlossen und n a c h der Wirkung vorgestellt: alles diess mit ausserordentlicher Schnelligkeit, so dass hier wie beim Taschenspieler eine Verwirrung des Urtheils entstehen und ein Nacheinander sich wie etwas Gleichzeitiges, selbst wie ein umgedrehtes Nacheinander ausnehmen kann. — Wir können aus diesen Vorgängen entnehmen, w i e s p ä t das schärfere logische Denken, das Strengnehmen von Ursache und Wirkung, entwickelt worden ist, wenn unsere Vernunft- und Verstandesfunctionen j e t z t n o c h unwillkürlich nach jenen primitiven Formen des Schliessens zurückgreifen und wir ziemlich die Hälfte unseres Lebens in diesem Zustande leben. — Auch der Dichter, der Künstler s c h i e b t seinen Stimmungen und Zu-
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ständen Ursachen u n t e r , welche durchaus nicht die wahren sind; er erinnert insofern an älteres Menschenthum und kann uns zum Verständnisse desselben verhelfen.
14.
M i t e r k l i n g e n . — Alle s t ä r k e r e n Stimmungen bringen ein Miterklingen verwandter Empfindungen und Stimmungen mit sich; sie wühlen gleichsam das Gedächtniss auf. Es erinnert sich bei ihnen Etwas in uns und wird sich ähnlicher Zustände und deren Herkunft bewusst. So bilden sich angewöhnte rasche Verbindungen von Gefühlen und Gedanken, welche zuletzt, wenn sie blitzschnell hinter einander erfolgen, nicht einmal mehr als Complexe, sondern als E i n h e i t e n empfunden werden. In diesem Sinne redet man vom moralischen Gefühle, vom religiösen Gefühle, wie als ob diess lauter Einheiten seien: in Wahrheit sind sie Ströme mit hundert Quellen und Zuflüssen. Auch hier, wie so oft, verbürgt die Einheit des Wortes Nichts f ü r die Einheit der Sache.
ISK e i n I n n e n u n d A u s s e n i n d e r W e l t . — Wie Demokrit die Begriffe Oben und Unten auf den unendlichen Raum übertrug, wo sie keinen Sinn haben, so die Philosophen überhaupt den Begriff „Innen und Aussen" auf Wesen und Erscheinung der Welt; sie meinen, mit tiefen Gefühlen komme man tief in's Innere, nahe man sich dem Herzen der N a t u r . Aber diese Gefühle sind nur insofern tief, als mit ihnen, kaum bemerkbar, gewisse complicirte Gedankengruppen regelmässig erregt werden, welche wir tief nennen; ein Gefühl ist tief, weil wir den begleitenden Gedanken für tief halten. Aber der tiefe Gedanke kann dennoch der Wahrheit sehr fern sein, wie zum Beispiel jeder metaphysische; rechnet man vom tiefen Gefühle
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die beigemischten Gedankenelemente ab, so bleibt das s t a r k e Gefühl übrig, und dieses verbürgt Nichts für die Erkenntniss, als sich selbst, ebenso wie der starke Glaube nur seine Stärke, nicht die Wahrheit des Geglaubten beweist.
16.
Erscheinung und Ding an sich. — Die Philosophen pflegen sich vor das Leben und die Erfahrung — vor Das, was sie die Welt der Erscheinung nennen — wie vor ein Gemälde hinzustellen, das ein f ü r alle Mal entrollt ist und unveränderlich fest den selben Vorgang zeigt: diesen Vorgang, meinen sie, müsse man richtig ausdeuten, um damit einen Schluss auf das Wesen zu machen, welches das Gemälde hervorgebracht habe: also auf das Ding an sich, das immer als der zureichende Grund der Welt der Erscheinung angesehen zu werden pflegt. Dagegen haben strengere Logiker, nachdem sie den Begriff des Metaphysischen scharf als den des Unbedingten, folglich auch Unbedingenden festgestellt hatten, jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten (der metaphysischen Welt) und der uns bekannten Welt in Abrede gestellt: so dass in der Erscheinung eben durchaus n i c h t das Ding an sich erscheine, und von jener auf dieses jeder Schluss abzulehnen sei. Von beiden Seiten ist aber die Möglichkeit übersehen, dass jenes Gemälde — Das, was jetzt uns Menschen Leben und Erfahrung heisst — allmählich g e wo r d e n ist, ja noch völlig im W e r d e n ist und desshalb nicht als feste Grösse betrachtet werden soll, von welcher aus man einen Schluss über den Urheber (den zureichenden Grund) machen oder auch nur ablehnen dürfte. Dadurch, dass wir seit Jahrtausenden mit moralischen, ästhetischen, religiösen Ansprüchen, mit blinder Neigung, Leidenschaft oder Furcht in die Welt geblickt und uns in den Unarten des unlogischen Denkens recht ausgeschwelgt haben, ist diese Welt allmählich so wundersam bunt, schrecklich, bedeutungstief, seelenvoll g e -
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w o r d e n , sie hat Farbe bekommen, — aber wir sind die Coloristen gewesen: der menschliche Intellect hat die Erscheinung erscheinen lassen und seine irrthümlichen Grundauffassungen in die Dinge hineingetragen. Spät, sehr spät — besinnt er sich: und jetzt scheinen ihm die Welt der Erfahrung und das Ding an sich so ausserordentlich verschieden und getrennt, dass er den Schluss von jener auf dieses ablehnt — oder auf eine schauerlich geheimnissvolle Weise zum A u f g e b e n unsers Intellectes, unsers persönlichen Willens auffordert: um d a d u r c h zum Wesenhaften zu kommen, dass man w e s e n h a f t w e r d e . Wiederum haben Andere alle charakteristischen Züge unserer Welt der Erscheinung — das heisst der aus intellectuellen Irrthümern herausgesponnenen und uns angeerbten Vorstellung von der Welt — zusammengelesen und a n s t a t t d e n I n t e l l e c t a l s S c h u l d i g e n a n z u k l a g e n , das Wesen der Dinge als Ursache dieses thatsächlichen, sehr unheimlichen Weltcharakters angeschuldigt und die Erlösung vom Sein gepredigt. — Mit all diesen Auffassungen wird der stetige und mühsame Process der Wissenschaft, welcher zuletzt einmal in einer E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e d e s D e n k e n s seinen höchsten Triumph feiert, in entscheidender Weise fertig werden, dessen Resultat vielleicht auf diesen Satz hinauslaufen dürfte: Das, was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrthümern und Phantasien, welche in der gesammten E n t w i c k l u n g der organischen Wesen allmählich entstanden, in einander verwachsen (sind) und uns jetzt als aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden, — als Schatz: denn der W e r t h unseres Menschenthums ruht darauf. Von dieser Welt der Vorstellung vermag uns die strenge Wissenschaft thatsädilidh nur in geringem Maasse zu lösen — wie es auch gar nicht zu wünschen ist —, insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten der Empfindung nicht wesentlich zu brechen vermag: aber sie kann die Geschichte der Entstehung jener Welt als Vorstellung ganz allmählich und schrittweise auf-
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hellen — und uns wenigstens f ü r Augenblicke über den ganzen Vorgang hinausheben. Vielleicht erkennen wir dann, dass das Ding an sich eines homerischen Gelächters werth ist: dass es so viel, ja Alles s c h i e n und eigentlich leer, nämlich bedeutungsleer ist.
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7Metaphysische E r k l ä r u n g e n . — Der junge Mensch schätzt metaphysische Erklärungen, weil sie ihm in Dingen, welche er unangenehm oder verächtlich fand, etwas höchst Bedeutungsvolles aufweisen: und ist er mit sich unzufrieden, so erleichtert sich diess Gefühl, wenn er das innerste Welträthsel oder Weltelend in dem wiedererkennt, was er so sehr an sich missbilligt. Sich unverantwortlicher fühlen und die Dinge zugleich interessanter finden — das gilt ihm als die doppelte Wohlthat, welche er der Metaphysik verdankt. Später freilich bekommt er Misstrauen gegen die ganze metaphysische Erklärungsart, dann sieht er vielleicht ein, dass jene Wirkungen auf einem anderen Wege eben so gut und wissenschaftlicher zu erreichen sind: dass physische und historische Erklärungen mindestens ebenso sehr jenes Gefühl der Unverantwortlichkeit herbeiführen, und dass jenes Interesse am Leben und seinen Problemen vielleicht noch mehr dabei entflammt wird.
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G r u n d f r a g e n d e r M e t a p h y s i k . — Wenn einmal die Entstehungsgeschichte des Denkens geschrieben ist, so wird auch der folgende Satz eines ausgezeichneten Logikers von einem neuen Lichte erhellt dastehen: „Das ursprüngliche allgemeine Gesetz des erkennenden Subjects besteht in der inneren Nothwendigkeit, jeden Gegenstand an sich, in seinem eigenen Wesen als einen mit sich selbst identischen, also selbstexistiren-
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den und im Grunde stets gleichbleibenden und unwandelbaren, kurz als eine Substanz zu erkennen." Auch dieses Gesetz, welches hier „ursprünglich" genannt wird, ist geworden: es wird einmal gezeigt werden, wie allmählich, in den niederen Organismen, dieser Hang entsteht, wie die blöden Maulwurfsaugen dieser Organisationen zuerst Nichts als immer das Gleiche sehen, wie dann, wenn die verschiedenen Erregungen von Lust und Unlust bemerkbarer werden, allmählich verschiedene Substanzen unterschieden werden, aber jede mit Einem Attribut, das heisst einer einzigen Beziehung zu einem solchen Organismus. — Die erste Stufe des Logischen ist das Urtheil; dessen Wesen besteht, nach der Feststellung der besten Logiker, im Glauben. Allem Glauben zu Grunde liegt die E m p f i n d u n g d e s A n g e n e h m e n o d e r S c h m e r z h a f t e n in Bezug auf das empfindende Subject. Eine neue dritte Empfindung als Resultat zweier vorangegangenen einzelnen Empfindungen ist das Urtheil in seiner niedrigsten Form. — Uns organische Wesen interessirt ursprünglich Nichts an jedem Dinge, als seift Verhältniss zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz. Zwischen den Momenten, in welchen wir uns dieser Beziehung bewusst werden, den Zuständen des Empfindens, liegen solche der Ruhe, des Nichtempfindens: da ist die Welt und jedes Ding für uns interesselos, wir bemerken keine Veränderung an ihm (wie jetzt noch ein heftig Interessirter nicht merkt, dass Jemand an ihm vorbeigeht). Für die Pflanze sind gewöhnlich alle Dinge ruhig, ewig, jedes Ding sich selbst gleich. Aus der Periode der niederen Organismen her ist dem Menschen der Glaube vererbt, dass es g l e i c h e D i n g e giebt (erst die durch höchste Wissenschaft ausgebildete Erfahrung widerspricht diesem Satze). Der Urglaube alles Organischen von Anfang an ist vielleicht sogar, dass die ganze übrige Welt Eins und unbewegt ist. — Am fernsten liegt für jene Urstufe des Logischen der Gedanke an C a u s a 1 i t ä t : ja jetzt noch meinen wir im Grunde, alle Empfindungen und Handlungen seien Acte des freien Willens; wenn das füh-
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lende Individuum sich selbst betrachtet, so hält es jede Empfindung, jede Veränderung für etwas I s o 1 i r t e s, das heisst Unbedingtes, Zusammenhangloses: es taucht aus uns auf, ohne Verbindung mit Früherem oder Späterem. Wir haben Hunger, aber meinen ursprünglich nicht, dass der Organismus erhalten werden will, sondern jenes Gefühl scheint sich o h n e G r u n d u n d Z w e c k geltend zu machen, es isolirt sich und hält sich für w i l l k ü r l i c h . Also: der Glaube an die Freiheit des Willens ist ein ursprünglicher Irrthum alles Organischen, so alt, als die Regungen des Logisdien in ihm existiren; der Glaube an unbedingte Substanzen und an gleiche Dinge ist ebenfalls ein ursprünglicher, ebenso alter Irrthum alles Organischen. Insofern aber alle Metaphysik sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens abgegeben hat, so darf man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche von den Grundirrthümern des Menschen handelt, doch so, als wären es Grundwahrheiten.
19D i e Z a h l . — Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des ursprünglich schon herrschenden Irrthums gemacht, dass es mehrere gleiche Dinge gebe (aber thatsächlich giebt es nichts Gleiches), mindestens dass es Dinge gebe (aber es giebt kein „Ding"). Die Annahme der Vielheit setzt immer voraus, dass es E t w a s gebe, das vielfach vorkommt: aber gerade hier schon waltet der Irrthum, schon da fingiren wir Wesen, Einheiten, die es nicht giebt. — Unsere Empfindungen von Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen, consequent geprüft, auf logische Widersprüche. Bei allen wissenschaftlichen Feststellungen rechnen wir unvermeidlich immer mit einigen falschen Grössen: aber weil diese Grössen wenigstens c o n s t a n t sind, wie zum Beispiel unsere Zeit- und Raumempfindung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft doch eine vollkommene Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange mit einander; man kann
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auf ihnen fortbauen — bis an jenes letzte Ende, wo die irrthümliche Grundannahme, jene constanten Fehler, in Widerspruch mit den Resultaten treten, zum Beispiel in der Atomenlehre. Da fühlen wir uns immer noch zur Annahme eines „Dinges" oder 5 stofflichen „Substrats", das bewegt wird, gezwungen, während die ganze wissenschaftliche Procedur eben die Aufgabe verfolgt hat, alles Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen aufzulösen: wir scheiden auch hier noch mit unserer Empfindung Bewegendes und Bewegtes und kommen aus diesem Zirkel nicht heraus, weil der io Glaube an Dinge mit unserem Wesen von Alters her verknotet ist. — Wenn Kant sagt „der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor", so ist diess in Hinsicht auf den B e g r i f f d e r N a t u r völlig wahr, welchen wir genöthigt sind, mit ihr zu verbinden (Natur = Welt als VorStellung, das heisst als Irrthum), welcher aber die Aufsummirung einer Menge von Irrthümern des Verstandes ist. — Auf eine Welt, welche n i c h t unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahlen gänzlich unanwendbar: diese gelten allein in der Menschen-Welt.
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E i n i g e S p r o s s e n z u r ü c k . — Die eine, gewiss sehr hohe Stufe der Bildung ist erreicht, wenn der Mensch über abergläubische und religiöse Begriffe und Aengste hinauskommt und zum Beispiel nicht mehr an die lieben Englein oder die Erb25 sünde glaubt, auch vom Heil der Seelen zu reden verlernt hat: ist er auf dieser Stufe der Befreiung, so hat er auch noch mit höchster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik zu überwinden. D a n n aber ist eine r ü c k l ä u f i g e Bew e g u n g nöthig: er muss die historische Berechtigung, ebenso 3° die psychologische in solchen Vorstellungen begreifen, er muss erkennen, wie die grösste Förderung der Menschheit von dorther gekommen sei und wie man sich, ohne eine solche rückläufige
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Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben würde. — In Betreff der philosophischen Metaphysik sehe ich jetzt immer Mehrere, welche an das negative Ziel (dass jede positive Metaphysik Irrthum ist) gelangt sind, aber noch Wenige, welche einige Sprossen rückwärts steigen; man soll nämlich über die letzte Sprosse der Leiter wohl hinausschauen, aber nicht auf ihr stehen wollen. Die Aufgeklärtesten bringen es nur so weit, sich von der Metaphysik zu befreien und mit Ueberlegenheit auf sie zurückzusehen: während es doch auch hier, wie im Hippodrom, noth thut, um das Ende der Bahn herumzubiegen.
21. M u t h m a a s s l i c h e r S i e g d e r S k e p s i s . — Man lasse einmal den skeptischen Ausgangspunct gelten: gesetzt, es gäbe keine andere, metaphysische Welt und alle aus der Metaphysik genommenen Erklärungen der uns einzig bekannten Welt wären unbrauchbar für uns, mit welchem Blick würden wir dann auf Menschen und Dinge sehen? Diess kann man sich ausdenken, es ist nützlich, selbst wenn die Frage, ob etwas Metaphysisches wissenschaftlich durch Kant und Schopenhauer bewiesen sei, einmal abgelehnt würde. Denn es ist, nach historischer Wahrscheinlichkeit, sehr gut möglich, dass die Menschen einmal in dieser Beziehung im Ganzen und Allgemeinen s k e p t i s c h werden; da lautet also die Frage: wie wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluss einer solchen Gesinnung, gestalten? Vielleicht ist der w i s s e n s c h a f t l i c h e B e w e i s irgend einer metaphysischen Welt schon so s c h w i e r i g , dass die Menschheit ein Misstrauen gegen ihn nicht mehr los wird. Und wenn man gegen die Metaphysik Misstrauen hat, so giebt es im Ganzen und Grossen die selben Folgen, wie wenn sie direct widerlegt wäre und man nicht mehr an sie glauben d ü r f t e . Die historische Frage in Betreff einer unmetaphysi-
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sehen Gesinnung der Menschheit bleibt in beiden Fällen die selbe.
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U n g l a u b e an d a s „ m o n u m e n t u m a e r e p e r e n n i u s ". — Ein wesentlicher Nachtheil, welchen das Aufhören metaphysischer Ansichten mit sich bringt, liegt darin, dass das Individuum zu streng seine kurze Lebenszeit in's Auge fasst und keine stärkeren Antriebe empfängt, an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen; es will die Frucht selbst vom Baume pflücken, den es pflanzt, und desshalb mag es jene Bäume nicht mehr pflanzen, welche eine jahrhundertlange gleichmässige Pflege erfordern und welche lange Reihenfolgen von Geschlechtern zu überschatten bestimmt sind. Denn metaphysische Ansichten geben den Glauben, dass in ihnen das letzte endgültige Fundament gegeben sei, auf welchem sich nunmehr alle Zukunft der Menschheit niederzulassen und anzubauen genöthigt sei; der Einzelne fördert sein Heil, wenn er zum Beispiel eine Kirche, ein Kloster stiftet, es wird ihm, so meint er, im ewigen Fortleben der Seele angerechnet und vergolten, es ist Arbeit am ewigen Heil der Seele. — Kann die Wissenschaft auch solchen Glauben an ihre Resultate erwecken? In der That braucht sie den Zweifel und das Misstrauen als treuesten Bundesgenossen; trotzdem kann mit der Zeit die Summe der unantastbaren, das heisst alle Stürme der Skepsis, alle Zersetzungen überdauernden Wahrheiten so gross werden (zum Beispiel in der Diätetik der Gesundheit), dass man sich daraufhin entschliesst, „ewige" Werke zu gründen. Einstweilen wirkt der C o n t r a s t unseres aufgeregten Ephemeren-Daseins gegen die langathmige Ruhe metaphysischer Zeitalter noch zu stark, weil die beiden Zeiten nodi zu nahe gestellt sind; der einzelne Mensch selber durchläuft jetzt zu viele innere und äussere Entwickelungen, als dass er auch nur auf seine eigene
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Lebenszeit sich dauerhaft und ein für alle Mal einzurichten wagt. Ein ganz moderner Mensch, der sich zum Beispiel ein Haus bauen will, hat dabei ein Gefühl, als ob er bei lebendigem Leibe sich in ein Mausoleum vermauern wolle.
Z e i t a l t e r d e r V e r g l e i c h u n g . — J e weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so grösser wird die innere Bewegung der Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen. — Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich war, entsprechend der Gebundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit. Jetzt wird eine Vermehrung des ästhetischen Gefühls endgültig unter so vielen der Vergleichung sich darbietenden Formen entscheiden: sie wird die meisten, — nämlich alle, welche durch dasselbe abgewiesen werden, — absterben lassen. Ebenso findet jetzt ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit statt, deren Ziel kein anderes, als der Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeitlater der Vergleichung! Das ist sein Stolz, — aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen: so wird uns die Nachwelt darob segnen, — eine Nachwelt, die
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ebenso sich über die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als über die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als auf verehrungswürdige Alterthümer mit Dankbarkeit zurückblickt.
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M ö g l i c h k e i t d e s F o r t s c h r i t t s . — Wenn ein Gelehrter der alten Cultur es verschwört, nicht mehr mit Menschen umzugehen, welche an den Fortschritt glauben, so hat er Recht. Denn die alte Cultur hat ihre Grösse und Güte hinter sich und io die historische Bildung zwingt Einen, zuzugestehen, dass sie nie wieder frisch werden kann; es ist ein unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso unleidliche Schwärmerei nöthig, um diess zu leugnen. Aber die Menschen können mit B e w u s s t s e i n beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewusst und zufällig entwickelten: sie können jetzt bessere Bedingungen f ü r die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten, die K r ä f t e der Menschen überhaupt gegen einander abwägen und einsetzen. 20 Diese neue bewusste Cultur tödtet die alte, welche, als Ganzes angeschaut, ein unbewusstes Thier- und Pflanzenleben geführt hat; sie tödtet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt, — er ist m ö g l i c h . Ich will sagen: es ist voreilig und fast unsinnig, zu glauben, dass der Fortschritt n o t h w e n d i g er1 5 folgen müsse; aber wie könnte man leugnen, dass er möglich sei? Dagegen ist ein Fortschritt im Sinne und auf dem Wege der alten Cultur nidit einmal denkbar. Wenn romantische Phantastik immerhin auch das Wort „Fortschritt" von ihren Zielen (z.B. abgeschlossenen originalen Volks-Culturen) gebraucht: 3° jedenfalls entlehnt sie das Bild davon aus der Vergangenheit; ihr Denken und Vorstellen ist auf diesem Gebiete ohne jede Originalität.
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P r i v a t - u n d W e l t - M o r a l . — Seitdem der Glaube aufgehört hat, dass ein Gott die Schicksale der Welt im Grossen leite und, trotz aller anscheinenden Krümmungen im Pfade der Menschheit, sie doch herrlich hinausführe, müssen die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen. Die ältere Moral, namentlich die Kant's, verlangt vom Einzelnen Handlungen, welche man von allen Menschen wünscht: das war eine schöne naive Sache; als ob ein Jeder ohne Weiteres wüsste, bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswerth seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend, dass die allgemeine Harmonie sich nach eingeborenen Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben m ü s s e . Vielleicht lässt es ein zukünftiger Ueberblick über die Bedürfnisse der Menschheit durchaus nicht wünschenswerth erscheinen, dass alle Menschen gleich handeln, vielmehr dürften im Interesse ökumenischer Ziele für ganze Strecken der Menschheit specielle, vielleicht unter Umständen sogar böse Aufgaben zu stellen sein. — Jedenfalls muss, wenn die Menschheit sich nicht durch eine solche bewusste Gesammtregierung zu Grunde richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade übersteigende K e n n t n i s s d e r B e d i n g u n g e n d e r C u l t u r , als wissenschaftlicher Maassstab für ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der grossen Geister des nächsten Jahrhunderts.
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D i e R e a c t i o n a l s F o r t s c h r i t t . — Mitunter erscheinen schroffe, gewaltsame und fortreissende, aber trotzdem zurückgebliebene Geister, welche eine vergangene Phase der Menschheit noch einmal heraufbeschwören: sie dienen zum Beweis, dass die neuen Richtungen, welchen sie entgegenwirken, noch nicht kräftig genug sind, dass Etwas an ihnen fehlt: sonst
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würden sie jenen Beschwörern besseren Widerpart halten. So zeugt zum Beispiel Luther's Reformation dafür, dass in seinem Jahrhundert alle Regungen der Freiheit des Geistes noch unsicher, zart, jugendlich waren; die Wissenschaft konnte noch nicht ihr H a u p t erheben. Ja, die gesammte Renaissance erscheint wie ein erster Frühling, der fast wieder weggeschneit wird. Aber auch in unserem Jahrhundert bewies Schopenhauer's Metaphysik, dass auch jetzt der wissenschaftliche Geist noch nicht kräftig genug ist: so konnte die ganze mittelalterliche christliche Weltbetrachtung und Mensch-Empfindung noch einmal in Schopenhauer's Lehre, trotz der längst errungenen Vernichtung aller christlichen Dogmen, eine Auferstehung feiern. Viel Wissenschaft klingt in seine Lehre hinein, aber sie beherrscht dieselbe nicht, sondern das alte, wohlbekannte „metaphysische Bedürfniss". Es ist gewiss einer der grössten und ganz unschätzbaren Vortheile, welche wir aus Schopenhauer gewinnen, dass er unsere Empfindung zeitweilig in ältere, mächtige Betrachtungsarten der Welt und Menschen zurückzwingt, zu welchen sonst uns so leicht kein P f a d führen würde. Der Gewinn f ü r die Historie und die Gerechtigkeit ist sehr gross: ich glaube, dass es jetzt Niemandem so leicht gelingen möchte, ohne Schopenhauer's Beihülfe dem Christenthum und seinen asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: was namentlich vom Boden des noch vorhandenen Christenthums aus unmöglich ist. Erst nach diesem grossen E r f o l g e d e r Gerechtigk e i t , erst nachdem wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklärung mit sich brachte, in einem so wesentlichen Puncte corrigirt haben, dürfen wir die Fahne der Aufklärung — die Fahne mit den drei N a m e n : Petrarca, Erasmus, Voltaire — von Neuem weiter tragen. Wir haben aus der Reaction einen Fortschritt gemacht.
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' E r s a t z d e r R e l i g i o n . — Man glaubt einer Philosophie etwas Gutes nachzusagen, wenn man sie als Ersatz der Religion f ü r das Volk hinstellt. In der That bedarf es in der geistigen Oekonomie gelegentlich überleitender Gedankenkreise; so ist der Uebergang aus Religion in wissenschaftliche Betrachtung ein gewaltsamer, gefährlicher Sprung, Etwas, das zu widerrathen ist. Insofern hat man mit jener Anempfehlung Recht. Aber endlich sollte man doch auch lernen, dass die Bedürfnisse, welche die Religion befriedigt hat und nun die Philosophie befriedigen soll, nicht unwandelbar sind; diese selbst kann man s c h w ä c h e n und a u s r o t t e n . Man denke zum Beispiel an die christliche Seelennoth, das Seufzen über die innere Verderbtheit, die Sorge um das Heil, — alles Vorstellungen, welche nur aus Irrthümern der Vernunft herrühren und gar keine Befriedigung, sondern Vernichtung verdienen. Eine Philosophie kann entweder so nützen, dass sie jene Bedürfnisse auch b e f r i e d i g t oder dass sie dieselben beseitigt; denn es sind angelernte, zeitlich begränzte Bedürfnisse, welche auf Voraussetzungen beruhen, die denen der Wissenschaft widersprechen. Hier ist, um einen Uebergang zu machen, die K u n s t viel eher zu benutzen, um das mit Empfindungen überladene Gemüth zu erleichtern; denn durch sie werden jene Vorstellungen viel weniger unterhalten, als durch eine metaphysische Philosophie. Von der Kunst aus kann man dann leichter in eine wirklich befreiende philosophische Wissenschaft übergehen.
28. V e r r u f e n e W o r t e . — Weg mit den bis zum Ueberdruss verbrauchten Wörtern Optimismus und Pessimismus! Denn der Anlass, sie zu gebrauchen, fehlt von Tag zu Tage mehr: nur die Schwätzer haben sie jetzt noch so unumgänglich nöthig. Denn wesshalb in aller Welt sollte Jemand Optimist
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sein wollen, wenn er nicht einen Gott zu vertheidigen hat, welcher die beste der Welten geschaffen haben m u s s, falls er selber das Gute und Vollkommene ist, — welcher Denkende hat aber die Hypothese eines Gottes noch nöthig? — Es fehlt aber auch jeder Anlass zu einem pessimistischen Glaubensbekenntniss, wenn man nicht ein Interesse daran hat, den Advocaten Gottes, den Theologen oder den theologisirenden Philosophen ärgerlich zu werden und die Gegenbehauptung kräftig aufzustellen: dass das Böse regiere, dass die Unlust grösser sei, als die Lust, dass die Welt ein Machwerk, die Erscheinung eines bösen Willens zum Leben sei. Wer aber kümmert sich jetzt noch um die Theologen — ausser den Theologen? — Abgesehen von aller Theologie und ihrer Bekämpfung liegt es auf der Hand, dass die Welt nicht gut und nicht böse, geschweige denn die beste oder die schlechteste ist, und dass diese Begriffe „gut" und „böse" nur in Bezug auf Menschen Sinn haben, ja vielleicht selbst hier, in der Weise, wie sie gewöhnlich gebraucht werden, nicht berechtigt sind: der schimpfenden und verherrlichenden Weltbetrachtung müssen wir uns in jedem Falle entschlagen.
V o m D u f t e d e r B l ü t h e n b e r a u s c h t . — Das Schiff der Menschheit, meint man, hat einen immer stärkeren Tiefgang, je mehr es belastet wird; man glaubt, je tiefer der Mensch denkt, je zarter er fühlt, je höher er sich schätzt, je weiter seine Entfernung von den anderen Thieren wird, — je mehr er als das Genie unter den Thieren erscheint, — um so näher werde er dem wirklichen Wesen der Welt und deren Erkenntniss kommen: diess thut er auch wirklich durch die Wissenschaft, aber er m e i n t diess noch mehr durch seine Religionen und Künste zu thun. Diese sind zwar eine Blüthe der Welt, aber durchaus nicht d e r W u r z e l d e r W e l t n ä h e r , als der Stengel ist: man kann aus ihnen das Wesen der Dinge gerade
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gar nicht besser verstehen, obschon diess fast Jedermann glaubt. D e r I r r t h u m hat den Menschen so tief, zart, erfinderisch gemacht, eine solche Blüthe, wie Religionen und Künste, herauszutreiben. Das reine Erkennen wäre dazu ausser Stande gewesen. Wer uns das Wesen der Welt enthüllte, würde uns Allen die unangenehmste Enttäuschung machen. Nicht die Welt als Ding an sich, sondern die Welt als Vorstellung (als Irrthum) ist so bedeutungsreich, tief, wundervoll, Glück und Unglück im Schoosse tragend. Diess Resultat führt zu einer Philosophie der l o g i s c h e n W e l t v e r n e i n u n g : welche übrigens sich mit einer praktischen Weltbejahung ebensogut wie mit deren Gegentheile vereinigen lässt.
30. S c h l e c h t e G e w o h n h e i t e n im S c h l i e s s e n . — Die gewöhnlichsten Irrschlüsse der Menschen sind diese: eine Sache existirt, also hat sie ein Recht. Hier wird aus der Lebensfähigkeit auf die Zweckmässigkeit, aus der Zweckmässigkeit auf die Rechtmässigkeit geschlossen. Sodann: eine Meinung beglückt, also ist sie die wahre, ihre Wirkung ist gut, also ist sie selber gut und wahr. Hier legt man der Wirkung das Prädicat beglückend, gut, im Sinne des Nützlichen, bei und versieht nun die Ursache mit dem selben Prädicat gut, aber hier im Sinne des Logisch-Gültigen. Die Umkehrung der Sätze lautet: eine Sache kann sich nicht durchsetzen, erhalten, also ist sie unrecht; eine Meinung quält, regt auf, also ist sie falsch. Der Freigeist, der das Fehlerhafte dieser Art zu schliessen nur allzu häufig kennen lernt und an ihren Folgen zu leiden hat, unterliegt oft der Verführung, die entgegengesetzten Schlüsse zu machen, welche im Allgemeinen natürlich ebenso sehr Irrschlüsse sind: eine Sache kann sich nicht durchsetzen, also ist sie gut; eine Meinung macht Noth, beunruhigt, also ist sie wahr.
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31D a s U n l o g i s c h e n o t h w e n d i g . — Zu den Dingen, welche einen Denker in Verzweifelung bringen können, gehört die Erkenntniss, dass das Unlogische f ü r den Menschen nöthig ist, und dass aus dem Unlogischen vieles Gute entsteht. Es steckt so fest in den Leidenschaften, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion und überhaupt in Allem, was dem Leben Werth verleiht, dass man es nicht herausziehen kann, ohne damit diese schönen Dinge heillos zu beschädigen. Es sind nur die allzu naiven Menschen, welche glauben können, dass die N a t u r des Menschen in eine rein logische verwandelt werden könne; wenn es aber Grade der Annäherung an dieses Ziel geben sollte, •was würde da nicht Alles auf diesem Wege verloren gehen müssen! Audi der vernünftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der N a t u r , das heisst seiner u n l o g i s c h e n G r u n d s t e l l u n g zu a l l e n D i n g e n .
3*. U n g e r e c h t s e i n n o t h w e n d i g . — Alle Urtheile über den Werth des Lebens sind unlogisch entwickelt und desshalb ungerecht. Die Unreinheit des Urtheils liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, nämlich sehr unvollständig, zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird, und drittens darin, dass jedes einzelne Stüdk des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist und zwar diess mit voller Nothwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel über einen Menschen, stünde er uns auch noch so nah, kann vollständig sein, so dass wir ein logisches Recht zu einer Gesammtabschätzung desselben hätten; alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Endlich ist das Maass, womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche Grösse, wir haben Stimmungen und Schwankungen, und doch müssten wir uns selbst als ein festes Maass kennen, um das Verhältniss irgend einer Sache zu uns ge-
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recht abzuschätzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man gar nicht urtheilen sollte; wenn man aber nur l e b e n könnte, ohne abzuschätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! — denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusam5 men, ebenso alles Geneigtsein. Ein Trieb zu Etwas oder von Etwas weg, ohne ein Gefühl davon, dass man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Werth des Zieles, existirt beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein unlogische und io daher ungerechte Wesen, u n d k ö n n e n d i e s s erk e n n e n : diess ist eine der grössten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins.
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Der Irrthum über das Leben zum Leben i$ n o t h w e n d i g . — Jeder Glaube an Werth und Würdigkeit des Lebens beruht auf unreinem Denken; er ist allein dadurch möglich, dass das Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach im Individuum entwickelt ist. Auch die seltneren Menschen, welche überhaupt über sich hinaus denken, fassen nicht dieses allgemeine Leben, sondern abgegränzte Theile desselben in's Auge. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich auf Ausnahmen, ich meine auf die hohen Begabungen und die reinen Seelen zu richten, nimmt man deren Entstehung zum Ziel der ganzen Weltentwickelung und 2 5 erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den Werth des Lebens glauben, weil man nämlich die anderen Menschen dabei ü b e r s i e h t : also unrein denkt. Und ebenso, wenn man zwar alle Menschen in's Auge fasst, aber in ihnen nur eine Gattung von Trieben, die weniger egoistischen, gelten lässt und sie in Be3° treff der anderen Triebe entschuldigt: dann kann man wiederum von der Menschheit im Ganzen Etwas hoffen und insofern an den Werth des Lebens glauben: also auch in diesem Falle durch
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Unreinheit des Denkens. Mag man sich aber so oder so verhalten, man ist mit diesem Verhalten eine A u s n a h m e unter den Menschen. N u n ertragen aber gerade die allermeisten Menschen das Leben, ohne erheblich zu murren, und g l a u b e n 5 somit an den Werth des Daseins, aber gerade dadurch, dass sich Jeder allein will und behauptet, und nicht aus sich heraustritt wie jene Ausnahmen: alles Ausserpersönliche ist ihnen gar nicht oder höchstens als ein schwacher Schatten bemerkbar. Also darauf allein beruht der Werth des Lebens f ü r den gewöhnlichen, 10 alltäglichen Menschen, dass er sich wichtiger nimmt, als die Welt. Der grosse Mangel an Phantasie, an dem er leidet, macht, dass er sich nicht in andere Wesen hineinfühlen kann und daher so wenig als möglich an ihrem Loos und Leiden theilnimmt. W e r dagegen wirklich daran theilnehmen könnte, müsste am 1 J Werthe des Lebens verzweifeln; gelänge es ihm, das Gesammtbewusstsein der Menschheit in sich zu fassen und zu empfinden, er würde mit einem Fluche gegen das Dasein zusammenbrechen, — denn die Menschheit hat im Ganzen k e i n e Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Verlaufes, nicht 20 darin seinen Trost und H a l t finden, sondern seine Verzweifelung. Sieht er bei Allem, was er thut, auf die letzte Ziellosigkeit der Menschen, so bekommt sein eigenes Wirken in seinen Augen den Charakter der Vergeudung. Sich aber als Menschheit (und nicht nur als Individuum) ebenso v e r g e u d e t zu fühlen, wie 2 5 wir die einzelne Blüthe von der N a t u r vergeudet sehen, ist ein Gefühl über alle Gefühle. — Wer ist aber desselben fähig? Gewiss nur ein Dichter: und Dichter wissen sich immer zu trösten.
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Zur 3° nicht zur Besseren schweren
B e r u h i g u n g . — Aber wird so unsere Philosophie Tragödie? Wird die Wahrheit nicht dem Leben, dem feindlich? Eine Frage scheint uns die Zunge zu beund doch nicht laut werden zu wollen: ob man bewusst
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in der Unwahrheit bleiben k ö n n e ? oder, wenn man diess m ü s s e , ob da nicht der Tod vorzuziehen sei? Denn ein Sollen giebt es nicht mehr; die Moral, insofern sie ein Sollen war, ist ja durch unsere Betrachtungsart ebenso vernichtet wie die Religion. Die Erkenntniss kann als Motive nur Lust und Unlust, Nutzen und Schaden bestehen lassen: wie aber werden diese Motive sich mit dem Sinne für Wahrheit auseinandersetzen? Auch sie berühren sich ja mit Irrthümern (insofern, wie gesagt, Neigung und Abneigung und ihre sehr ungerechten Messungen unsere Lust und Unlust wesentlich bestimmen). Das ganze menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt; der Einzelne kann es nicht aus diesem Brunnen herausziehen, ohne dabei seiner Vergangenheit aus tiefstem Grunde gram zu werden, ohne seine gegenwärtigen Motive, wie die der Ehre, ungereimt zu finden und den Leidenschaften, welche zur Zukunft und zu einem Glück in derselben hindrängen, Hohn und Verachtung entgegenzustellen. Ist es wahr, bliebe einzig noch eine Denkweise übrig, welche als persönliches Ergebniss die Verzweifelung, als theoretisches eine Philosophie der Zerstörung nach sich zöge? — Ich glaube, die Entscheidung über die Nachwirkung der Erkenntniss wird durch das T e m p e r a m e n t eines Menschen gegeben: ich könnte mir eben so gut, wie jene geschilderte und bei einzelnen Naturen mögliche Nachwirkung, eine andere denken, vermöge deren ein viel einfacheres, von Affecten reineres Leben entstünde, als das jetzige ist: so dass zuerst zwar die alten Motive des heftigeren Begehrens noch Kraft hätten, aus alter vererbter Gewöhnung her, allmählich aber unter dem Einflüsse der reinigenden Erkenntniss schwächer würden. Man lebte zuletzt unter den Menschen und mit sich wie in der N a t u r , ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an Vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu fürchten hatte. Man wäre die Emphasis los und würde die Anstachelung des Gedankens, dass man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei, nicht weiter empfinden. Freilich gehörte hier-
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zu, wie gesagt, ein gutes Temperament, eine gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele, eine Stimmung, welche nicht vor Tücken und plötzlichen Ausbrüchen auf der H u t zu sein brauchte und in ihren Aeusserungen Nichts von dem knurrenden Tone und der Verbissenheit an sich trüge, — jenen bekannten lästigen Eigenschaften alter H u n d e und Menschen, die lange an der Kette gelegen haben. Vielmehr muss ein Mensch, von dem in solchem Maasse die gewöhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind, dass er nur deshalb weiter lebt, u m immer besser zu erkennen, auf Vieles, ja fast auf Alles, was bei den anderen Menschen Werth hat, ohne Neid und Verdruss verzichten können, ihm muss als der wünschenswertheste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge g e n ü g e n . Die Freude an diesem Zustande theilt er gerne mit und er h a t vielleicht nichts Anderes mitzutheilen, — worin freilich eine Entbehrung, eine Entsagung mehr liegt. Will man aber trotzdem mehr von ihm, so wird er mit wohlwollendem Kopfschütteln auf seinen Bruder hinweisen, den freien Menschen der That, und vielleicht ein Wenig Spott nicht verhehlen: denn mit dessen „Freiheit" hat es eine eigene Bewandtniss.
Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen.
35Vortheile der psychologischen Beobacht u n g . — Dass das Nachdenken über Menschliches, Allzumenschliches — oder wie der gelehrtere Ausdruck lautet: die psychologische Beobachtung — zu den Mitteln gehöre, vermöge deren man sich die Last des Lebens erleichtern könne, dass die Uebung in dieser Kunst Geistesgegenwart in schwierigen Lagen und Unterhaltung inmitten einer langweiligen Umgebung verleihe, ja dass man den dornenvollsten und unerfreulichsten Strichen des eigenen Lebens Sentenzen abpflücken und sich dabei ein Wenig wohler fühlen könne: das glaubte man, wusste man — in früheren Jahrhunderten. Warum vergass es dieses J a h r hundert, wo wenigstens in Deutschland, ja in Europa, die Armuth an psychologischer Beobachtung durch viele Zeichen sich zu erkennen giebt? Nicht gerade in Roman, Novelle und philosophischer Betrachtung, — diese sind das Werk von Ausnahmemenschen; schon mehr in der Beurtheilung öffentlicher Ereignisse und Persönlichkeiten: vor Allem aber fehlt die Kunst der psychologischen Zergliederung und Zusammenrechnung in der Gesellschaft aller Stände, in der man wohl viel über Menschen, aber gar nicht ü b e r d e n M e n s c h e n spricht. Warum doch lässt man sich den reichsten und harmlosesten Stoff der Unterhaltung entgehen? Warum liest man nicht einmal die grossen Meister der psychologischen Sentenz mehr? — denn,
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ohne jede Uebertreibung gesprochen: der Gebildete in Europa, der L a Rochefoucauld und seine Geistes- und Kunstverwandten gelesen hat, ist selten zu finden; und noch viel seltener Der, welcher sie kennt und sie nicht schmäht. Wahrscheinlich wird aber 5 auch dieser ungewöhnliche Leser viel weniger Freude an ihnen haben, als die Form jener Künstler ihm geben sollte; denn selbst der feinste Kopf ist nicht vermögend, die Kunst der SentenzenSchleiferei gebührend zu würdigen, wenn er nicht selber zu ihr erzogen ist, in ihr gewetteifert hat. Man nimmt, ohne solche practische Belehrung, dieses Schaffen und Formen für leichter als es ist, man fühlt das Gelungene und Reizvolle nicht scharf genug heraus. Desshalb haben die jetzigen Leser von Sentenzen ein verhältnissmässig unbedeutendes Vergnügen an ihnen, ja kaum einen Mund voll Annehmlichkeit, so dass es ihnen ebenso i j geht, wie den gewöhnlichen Betrachtern von Kameen: als welche loben, weil sie nicht lieben können und schnell bereit sind zu bewundern, schneller aber noch, fortzulaufen.
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E i n w a n d . — Oder sollte es gegen jenen Satz, dass die 20 psychologische Beobachtung zu den Reiz-, Heil- und Erleichterungsmitteln des Daseins gehöre, eine Gegenrechnung geben? Sollte man sich genug von den unangenehmen Folgen dieser Kunst überzeugt haben, um jetzt mit Absichtlichkeit den Blick der sich Bildenden von ihr abzulenken? In der That, ein gewis25 ser blinder Glaube an die Güte der menschlichen Natur, ein eingepflanzter Widerwille vor der Zerlegung menschlicher Handlungen, eine A r t Schamhaftigkeit in Hinsicht auf die Nacktheit der Seele mögen wirklich f ü r das gesammte Glück eines Menschen w ü n s c h e n s w e r t e r e Dinge sein, als jene, in einzelnen 3° Fällen hilfreiche Eigenschaft der psychologischen Scharfsichtigkeit; und vielleicht hat der Glaube an das Gute, an tugendhafte Menschen und Handlungen, an eine Fülle des unpersönlichen
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Wohlwollens in der Welt die Menschen besser gemacht, insofern er dieselben weniger misstrauisch machte. Wenn man die Helden Plutarch's mit Begeisterung nachahmt, und einen Abscheu davor empfindet, den Motiven ihres Handelns anzweifelnd nachzuspüren, so hat zwar nicht die Wahrheit, aber die Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft ihren Nutzen dabei: der psychologische. Irrthum und überhaupt die Dumpfheit auf diesem Gebiete hilft der Menschlichkeit vorwärts, während die Erkenntniss der Wahrheit vielleicht durch die anregende Kraft einer H y p o these mehr gewinnt, wie sie La Rochefoucauld der ersten Ausgabe seiner „Sentences et maximes morales" vorangestellt hat: „Ce que le monde nomme vertu n'est d'ordinaire qu'un fantôme formé par nos passions, à qui on donne un nom honnête pour faire impunément ce qu'on veut." La Rochefoucauld und jene anderen französischen Meister der Seelenprüfung (denen sich neuerdings auch ein Deutscher, der Verfasser der „Psychologischen Beobachtungen" zugesellt hat) gleichen scharf zielenden Schützen, welche immer und immer wieder in's Schwarze treffen, — aber in's Schwarze der menschlichen N a t u r . Ihr Geschick erregt Staunen, aber endlich verwünscht ein Zuschauer, der nicht vom Geiste der Wissenschaft, sondern der Menschenfreundlichkeit geleitet wird, eine Kunst, welche den Sinn der Verkleinerung und Verdächtigung in die Seelen der Menschen zu pflanzen scheint.
37T r o t z d e m . — Wie es sich nun mit Rechnung und Gegenrechnung verhalte: in dem gegenwärtigen Zustande einer bestimmten einzelnen Wissenschaft ist die Auferweckung der moralischen Beobachtung nöthig geworden, und der grausame Anblick des psychologischen Secirtisches und seiner Messer und Zangen kann der Menschheit nicht erspart bleiben. Denn hier gebietet jene Wissenschaft, welche nach Ursprung und Geschichte
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der sogenannten moralischen Empfindungen fragt und welche im Fortschreiten die verwickelten sociologischen Probleme aufzustellen und zu lösen hat: — die ältere Philosophie kennt die letzteren gar nicht und ist der Untersuchung von Ursprung und Geschichte der moralischen Empfindungen unter dürftigen Ausflüchten immer aus dem Wege gegangen. Mit welchen Folgen: das lässt sich jetzt sehr deutlich überschauen, nachdem an vielen Beispielen nachgewiesen ist, wie die Irrthümer der grössten Philosophen gewöhnlich ihren Ausgangspunct in einer falschen Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen haben, wie auf Grund einer irrthümlichen Analysis, zum Beispiel der sogenannten unegoistischen Handlungen, eine falsche Ethik sich aufbaut, dieser zu Gefallen dann wiederum Religion und mythologisches Unwesen zu H ü l f e genommen werden, und endlich die Schatten dieser trüben Geister auch in die Physik und die gesammte Weltbetrachtung hineinfallen. Steht es aber fest, dass die Oberflächlichkeit der psychologischen Beobachtung dem menschlichen Urtheilen und Schliessen die gefährlichsten Fallstricke gelegt hat und fortwährend von Neuem legt, so bedarf es jetzt jener Ausdauer der Arbeit, welche nicht müde wird, Steine auf Steine, Steinchen auf Steinchen zu häufen, so bedarf es der enthaltsamen Tapferkeit, um sich einer solchen bescheidenen Arbeit nicht zu schämen und jeder Missachtung derselben Trotz zu bieten. Es ist wahr: zahllose einzelne Bemerkungen über Menschliches und Allzumenschliches sind in Kreisen der Gesellschaft zuerst entdeckt und ausgesprochen worden, welche gewohnt waren, nicht der wissenschaftlichen Erkenntniss, sondern einer geistreichen Gefallsucht jede Art von Opfern darzubringen; und fast unlösbar hat sich der Duft jener alten Heimath der moralistischen Sentenz — ein sehr verführerischer Duft — der ganzen Gattung angehängt: so dass seinetwegen der wissenschaftliche Mensch unwillkürlich einiges Misstrauen gegen diese Gattung und ihre Ernsthaftigkeit merken lässt. Aber es genügt, auf die Folgen zu verweisen: denn
2. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen 37—38
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schon jetzt beginnt sich zu zeigen, welche Ergebnisse ernsthaftester Art auf dem Boden der psychologischen Beobachtung aufwachsen. Welches ist doch der Hauptsatz zu dem einer der kühnsten und kältesten Denker, der Verfasser des Buches „Ueber den Ursprung der moralischen Empfindungen" vermöge seiner einund durchschneidenden Analysen des menschlichen Handelns gelangt? „Der moralische Mensch, sagt er, steht der intelligiblen (metaphysischen) Welt nicht näher, als der physische Mensch." Dieser Satz, hart und schneidig geworden unter dem Hammerschlag der historischen Erkenntniss, kann vielleicht einmal, in irgendwelcher Zukunft, als die Axt dienen, welche dem „metaphysischen Bedürfniss" der Menschen an die Wurzel gelegt wird, — ob m e h r zum Segen, als zum Fluche der allgemeinen Wohlfahrt, wer wüsste das zu sagen? — aber jedenfalls als ein Satz der erheblichsten Folgen, fruchtbar und furchtbar zugleich, und mit jenem Doppelgesichte in die Welt sehend, welches alle grossen Erkenntnisse haben.
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I n w i e f e r n n ü t z l i c h . — Also: ob die psychologische Beobachtung mehr Nutzen oder Nachtheil über die Menschen bringe, das bleibe immerhin unentschieden; aber fest steht, dass sie nothwendig ist, weil die Wissenschaft ihrer nicht entrathen kann. Die Wissenschaft aber kennt keine Rücksichten auf letzte Zwecke, ebenso wenig als die N a t u r sie kennt: sondern wie diese gelegentlich Dinge von der höchsten Zweckmässigkeit zu Stande bringt, ohne sie gewollt zu haben, so wird auch die ächte Wissenschaft, a l s d i e N a c h a h m u n g d e r N a t u r i n B e g r i f f e n , den Nutzen und die Wohlfahrt der Menschen gelegentlich, ja vielfach, fördern und das Zweckmässige erreichen, — aber ebenfalls o h n e e s g e w o l l t z u h a b e n . Wem es aber bei dem Anhauche einer solchen Betrachtungsart gar zu winterlich zu Muthe wird, der hat vielleicht nur zu
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wenig Feuer in sich: er möge sich indessen umsehen und er wird Krankheiten wahrnehmen, in denen Eisumschläge noth thun, und Menschen, welche so aus Gluth und Geist „zusammengeknetet" sind, dass sie kaum irgendwo die Luft kalt und schneidend genug für sich finden. Ueberdiess: wie allzu ernste Einzelne und Völker ein Bedürfniss nach Leichtfertigkeiten haben, wie andere allzu Erregbare und Bewegliche zeitweilig schwere niederdrückende Lasten zu ihrer Gesundheit nöthig haben: sollten wir, die g e i s t i g e r e n Menschen eines Zeitalters, welches ersichtlich immer mehr in Brand geräth, nicht nach allen löschenden und kühlenden Mitteln, die es giebt, greifen müssen, damit wir wenigstens so stetig, harmlos und massig bleiben, als wir es noch sind, und so vielleicht einmal dazu brauchbar werden, diesem Zeitalter als Spiegel und Selbstbesinnung über sich zu dienen? —
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FreiDie Fabel von d e r i n t e 11 i g i b e 1 e n h e i t . — Die Geschichte der Empfindungen, vermöge deren wir Jemanden verantwortlich machen, also der sogenannten moralischen Empfindungen verläuft in folgenden Hauptphasen. Zuerst nennt man einzelne Handlungen gut oder böse ohne alle Rücksicht auf deren Motive, sondern allein der nützlichen oder schädlichen Folgen wegen. Bald aber vergisst man die Herkunft dieser Bezeichnungen und wähnt, dass den Handlungen an sich, ohne Rücksicht auf deren Folgen, die Eigenschaft „ g u t " oder „böse" innewohne: mit demselben Irrthume, nach welchem die Sprache den Stein selber als hart, den B a u m selber als grün bezeichnet — also dadurch, dass man, was Wirkung ist, als U r sache fasst. Sodann legt man das Gut- oder Böse-sein in die Motive hinein und betrachtet die Thaten an sich als moralisch zweideutig. Man geht weiter und giebt das Prädicat gut oder böse nicht mehr dem einzelnen Motive, sondern dem ganzen
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Wesen eines Menschen, aus dem das Motiv, wie die Pflanze aus dem Erdreich, herauswächst. So macht man der Reihe nach den Menschen für seine Wirkungen, dann für seine Handlungen, dann für seine Motive und endlich für sein Wesen verantwortlieh. Nun entdeckt man schliesslich, dass auch dieses Wesen nidht verantwortlich sein kann, insofern es ganz und gar nothwendige Folge ist und aus den Elementen und Einflüssen vergangener und gegenwärtiger Dinge concrescirt: also dass der Mensch für Nichts verantwortlich zu machen ist, weder für sein Wesen, noch seine Motive, noch seine Handlungen, noch seine Wirkungen. Damit ist man zur Erkenntniss gelangt, dass die Geschichte der moralischen Empfindungen die Geschichte eines Irrthums, des Irrthums von der Verantwortlichkeit ist: als welcher auf dem Irrthum von der Freiheit des Willens ruht. — Schopenhauer schloss dagegen so: weil gewisse Handlungen Unmuth („Schuldbewusstsein") nach sich ziehen, so muss es eine Verantwortlichkeit geben; denn zu diesem Unmuth wäre k e i n G r u n d vorhanden, wenn nicht nur alles Handeln des Menschen mit Nothwendigkeit verliefe — wie es thatsächlich, und auch nach der Einsicht dieses Philosophen, verläuft —, sondern der Mensch selber mit der selben Nothwendigkeit sein ganzes W e s e n erlangte, — was Schopenhauer leugnet. Aus der Thatsache jenes Unmuthes glaubt Schopenhauer eine Freiheit beweisen zu können, welche der Mensch irgendwie gehabt haben müsse, zwar nicht in Bezug auf die Handlungen, aber in Bezug auf das Wesen: Freiheit also, so oder so zu s e i n , nicht so oder so zu h a n d e l n . Aus dem esse, der Sphäre der Freiheit und Verantwortlichkeit, folgt nach seiner Meinung das operari, die Sphäre der strengen Causalität, Nothwendigkeit und Unverantwortlichkeit. Jener Unmuth beziehe sich zwar scheinbar auf das operari — insofern sei er irrthümlich —, in Wahrheit aber auf das esse, welches die That eines freien Willens, die Grundursache der Existenz eines Individuums, sei; der Mensch werde Das, was er werden w o l l e , sein Wollen sei früher, als seine Existenz.
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— Hier wird der Fehlschluss gemacht, dass aus der Thatsache des Unmuthes die Berechtigung, die vernünftige Z u l ä s s i g k e i t dieses Unmuthes geschlossen wird; und von jenem Fehlschluss aus kommt Schopenhauer zu seiner phantastischen 5 Consequenz der sogenannten intelligibelen Freiheit. Aber der Unmuth nach der That braucht gar nicht vernünftig zu sein: ja er ist es gewiss nicht, denn er ruht auf der irrthümlichen Voraussetzung, dass die That eben n i c h t nothwendig hätte erfolgen müssen. Also: weil sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und Gewissensbisse. — Ueberdiess ist dieser Unmuth Etwas, das man sich abgewöhnen kann, bei vielen Menschen ist er in Bezug auf Handlungen gar nicht vorhanden, bei welchen viele andere Menschen ihn empfinden. Er ist eine sehr wandelbare, an die Entwickelung der 15 Sitte und Cultur geknüpfte Sache und vielleicht nur in einer verhältnissmässig kurzen Zeit der Weltgeschichte vorhanden. — Niemand ist für seine Thaten verantwortlich, Niemand für sein Wesen; richten ist soviel als ungerecht sein. Diess gilt auch, wenn das Individuum über sich selbst richtet. Der Satz ist so hell wie 20 Sonnenlicht, und doch geht hier Jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit zurück: aus Furcht vor den Folgen.
40. D a s U e b e r - T h i e r . — Die Bestie in uns will belogen werden; Moral ist Nothlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen 25 werden. Ohne die Irrthümer, welche in den Annahmen der Moral liegen, wäre der Mensch Thier geblieben. So aber hat er sich als etwas Höheres genommen und sich strengere Gesetze auferlegt. Er hat desshalb einen Hass gegen die der Thierheit näher gebliebenen Stufen: woraus die ehemalige Missachtung des 3 ° Sclaven, als eines Nicht-Menschen, als einer Sache zu erklären ist.
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41. Der unveränderliche Charakter. — Dass der Charakter unveränderlich sei, ist nicht im strengen Sinne wahr; vielmehr heisst dieser beliebte Satz nur so viel, dass während der kurzen Lebensdauer eines Menschen die einwirkenden Motive gewöhnlich nicht tief genug ritzen können, um die aufgeprägten Schriftzüge vieler Jahrtausende zu zerstören. Dächte man sich aber einen Menschen von achtzigtausend Jahren, so hätte man an ihm sogar einen absolut veränderlichen Charakter: so dass eine Fülle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte. Die Kürze des menschlichen Lebens verleitet zu manchen irrthümlichen Behauptungen über die Eigenschaften des Menschen.
42. Die O r d n u n g der G ü t e r und die Moral. — Die einmal angenommene Rangordnung der Güter, je nachdem ein niedriger, höherer, höchster Egoismus das Eine oder das Andere will, entscheidet jetzt über das Moralisch-sein oder Unmoralisch-sein. Ein niedriges Gut (zum Beispiel Sinnengenuss) einem höher geschätzten (zum Beispiel Gesundheit) vorziehen, gilt als unmoralisch, ebenso Wohlleben der Freiheit vorziehen. Die Rangordnung der Güter ist aber keine zu allen Zeiten feste und gleiche; wenn Jemand Rache der Gerechtigkeit vorzieht, so ist er nach dem Maassstabe einer früheren Cultur moralisch, nach dem der jetzigen unmoralisch. „Unmoralisch" bezeichnet also, dass Einer die höheren, feineren, geistigeren Motive, welche die jeweilen neue Cultur hinzugebracht hat, noch nicht oder noch nicht stark genug empfindet: es bezeichnet einen Zurückgebliebenen, aber immer nur dem Gradunterschied nach. — Die Rangordnung der Güter selber wird nicht nach moralischen Gesichtspuncten auf- und umgestellt; wohl aber wird nach ihrer
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jedesmaligen Festsetzung darüber entschieden, ob eine Handlung moralisch oder unmoralisch sei.
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G r a u s a m e Menschen als zurückgeblieben.— Die Menschen, welche jetzt grausam sind, müssen uns als Stufen f r ü h e r e r C u l t u r e n gelten, welche übrig geblieben sind: das Gebirge der Menschheit zeigt hier einmal die tieferen Formationen, welche sonst versteckt liegen, offen. Es sind zurückgebliebene Menschen, deren Gehirn, durch alle möglichen Zufälle im Verlaufe der Vererbung, nicht so zart und vielseitig fortgebildet worden ist. Sie zeigen uns, was wir Alle w a r e n , und machen uns erschrecken: aber sie selber sind so wenig verantwortlich, wie ein Stück Granit dafür, dass es Granit ist. In unserm Gehirne müssen sich auch Rinnen und Windungen finden, welche jener Gesinnung entsprechen, wie sich in der Form einzelner menschlicher Organe Erinnerungen an Fischzustände finden sollen. Aber diese Rinnen und Windungen sind nicht mehr das Bett, in welchem sich jetzt der Strom unserer Empfindung wälzt.
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D a n k b a r k e i t u n d R a c h e . — Der Grund, wesshalb der Mächtige dankbar ist, ist dieser. Sein Wohlthäter hat sich durch seine Wohlthat an der Sphäre des Mächtigen gleichsam vergriffen und sich in sie eingedrängt: nun vergreift er sich zur Vergeltung wieder an der Sphäre des Wohlthäters durch den Act der Dankbarkeit. Es ist eine mildere Form der Rache. Ohne die Genugthuung der Dankbarkeit zu haben, würde der Mächtige sich unmächtig gezeigt haben und fürderhin dafür gelten. Desshalb stellt jede Gesellschaft der Guten, das heisst ursprünglich der Mächtigen, die Dankbarkeit unter die ersten Pflichten.
2. Zur Gesdiidite der moralischen Empfindungen 42—45
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— Swift hat den Satz hingeworfen, dass Menschen in dem selben Verhältniss dankbar sind, wie sie Rache hegen.
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Doppelte Vorgeschichte von Gut und B ö s e . — Der Begriff gut und böse hat eine doppelte Vorgeschichte: nämlich e i n m a l in der Seele der herrschenden Stämme und Kasten. Wer die Macht zu vergelten hat, Gutes mit Gutem, Böses mit Bösem, und auch wirklich Vergeltung übt, also dankbar und rachsüchtig ist, der wird gut genannt; wer unmächtig ist und nicht vergelten kann, gilt als schlecht. Man gehört als Guter zu den „Guten", einer Gemeinde, welche Gemeingefühl hat, weil alle Einzelnen durch den Sinn der Vergeltung mit einander verflochten sind. Man gehört als Schlechter zu den „Schlechten", zu einem Haufen unterworfener, ohnmächtiger Menschen, welche kein Gemeingefühl haben. Die Guten sind eine Kaste, die Schlechten eine Masse wie Staub. Gut und schlecht ist eine Zeit lang so viel wie vornehm und niedrig, Herr und Sclave. Dagegen sieht man den Feind nicht als böse an: er kann vergelten. Der Troer und der Grieche sind bei Homer beide gut. Nicht Der, welcher uns Schädliches zufügt, sondern Der, weldier verächtlich ist, gilt als schlecht. In der Gemeinde der Guten vererbt sich das Gute; es ist unmöglich, dass ein Schlechter aus so gutem Erdreiche hervorwachse. Thut trotzdem Einer der Guten Etwas, das der Guten unwürdig ist, so verfällt man auf Ausflüchte; man schiebt zum Beispiel einem Gott die Schuld zu, indem man sagt: er habe den Guten mit Verblendung und Wahnsinn geschlagen. — S o d a n n in der Seele der Unterdrückten, Machtlosen. Hier gilt jeder a n d e r e Mensch als feindlich, rücksichtslos, ausbeutend, grausam, listig, sei er vornehm oder niedrig; böse ist das Charakterwort für Mensch, ja für jedes lebende Wesen, welches man voraussetzt, zum Beispiel für einen Gott; menschlich, göttlich gilt so viel wie teuf-
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lisch, böse. Die Zeichen der Güte, Hülfebereitschaft, Mitleid, werden angstvoll als Tücke, Vorspiel eines schrecklichen Ausgangs, Betäubung und Ueberlistung aufgenommen, kurz als verfeinerte Bosheit. Bei einer solchen Gesinnung des Einzelnen kann kaum ein Gemeinwesen entstehen, höchstens die roheste Form desselben: so dass überall, wo diese Auffassung von gut und böse herrscht, der Untergang der Einzelnen, ihrer Stämme und Rassen nahe ist. — Unsere jetzige Sittlichkeit ist auf dem Boden der h e r r s c h e n d e n Stämme und Kasten aufgewachsen.
46. M i t l e i d e n s t ä r k e r a l s L e i d e n . — Es giebt Fälle, wo das Mitleiden stärker ist, als das eigentliche Leiden. Wir empfinden es zum Beispiel schmerzlicher, wenn einer unserer Freunde sich etwas Schmähliches zu Schulden kommen lässt, als wenn wir selbst es thun. Einmal nämlich glauben wir mehr an die Reinheit seines Charakters, als er; sodann ist unsere Liebe zu ihm, wahrscheinlich eben dieses Glaubens wegen, stärker, als seine Liebe zu sich selbst. Wenn auch wirklich sein Egoismus mehr dabei leidet, als unser Egoismus, insofern er die übelen Folgen seines Vergehens stärker zu tragen hat, so wird das Unegoistische in uns — dieses Wort ist nie streng zu verstehen, sondern nur eine Erleichterung des Ausdrucks — doch stärker durch seine Schuld betroffen, als das Unegoistische in ihm.
47H y p o c h o n d r i e . — Es giebt Menschen, welche aus Mitgefühl und Sorge f ü r eine andere Person hypochondrisch werden; die dabei entstehende Art des Mitleidens ist nichts Anderes, als eine Krankheit. So giebt es auch eine christliche H y p o -
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chondrie, welche jene einsamen, religiös bewegten Leute befällt, die sich das Leiden und Sterben Christi fortwährend vor Augen stellen.
48.
O e k o n o m i e d e r G ü t e . — Die Güte und Liebe als die heilsamsten Kräuter und Kräfte im Verkehre der Menschen sind so kostbare Funde, dass man wohl wünschen möchte, es werde in der Verwendung dieser balsamischen Mittel so ökonomisch wie möglich verfahren: doch ist diess unmöglich. Die Oekonomie der Güte ist der Traum der verwegensten Utopisten.
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W o h l w o l l e n . — Unter die kleinen, aber zahllos häufigen und desshalb sehr wirkungsvollen Dinge, auf welche die Wissenschaft mehr Acht zu geben hat, als auf die grossen seltenen Dinge, ist auch das Wohlwollen zu rechnen; ich meine jene Aeusserungen freundlicher Gesinnung im Verkehr, jenes Lächeln des Auges, jene Händedrücke, jenes Behagen, von welchem für gewöhnlich fast alles menschliche Thun umsponnen ist. Jeder Lehrer, jeder Beamte bringt diese Zuthat zu dem, was für ihn Pflicht ist, hinzu; es ist die fortwährende Bethätigung der Menschlichkeit, gleichsam die Wellen ihres Lichtes, in denen Alles wächst; namentlich im engsten Kreise, innerhalb der Familie, grünt und blüht das Leben nur durch jenes Wohlwollen. Die Gutmüthigkeit, die Freundlichkeit, die Höflichkeit des Herzens sind immerquellende Ausflüsse des unegoistischen Triebes und haben viel mächtiger an der Cultur gebaut, als jene viel berühmteren Aeusserungen desselben, die man Mitleiden, Barmherzigkeit und Aufopferung nennt. Aber man pflegt sie geringzuschätzen, und in der That: es ist nicht gerade viel Unegoistisches daran. Die S u m m e dieser geringen Dosen ist trotzdem gewaltig,
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ihre gesarhmte K r a f t gehört zu den stärksten Kräften. — Ebenso findet man viel mehr Glück in der Welt, als trübe Augen sehen: wenn man nämlich richtig rechnet, und nur alle jene Momente des Behagens, an welchen jeder Tag in jedem, auch dem bedrängtesten Menschenleben reich ist, nicht vergisst.
50. M i t l e i d e n e r r e g e n w o l l e n . — L a Rochefoucauld trifft in der bemerkenswerthesten Stelle seines Selbst-Portraits (zuerst gedruckt 1658) gewiss das Rechte, wenn er alle Die, welche Vernunft haben, vor dem Mitleiden warnt, wenn er räth, dasselbe den Leuten aus dem Volke zu überlassen, die der Leidenschaften bedürfen (weil sie nicht durch Vernunft bestimmt werden), um so weit gebracht zu werden, dem Leidenden zu helfen und bei einem Unglück kräftig einzugreifen; während das Mitleiden, nach seinem (und Plato's) Urtheil, die Seele entkräfte. Freilich solle man Mitleiden b e z e u g e n , aber sich hüten, es zu h a b e n : denn die Unglücklichen seien nun einmal so d u m m , dass bei ihnen das Bezeugen von Mitleid das grösste Gut von der Welt ausmache. — Vielleicht kann man noch stärker vor diesem Mitleid-haben warnen, wenn man jenes Bedürfniss der Unglücklichen nicht gerade als Dummheit und intellectuellen Mangel, als eine A r t Geistesstörung fasst, welche das Unglück mit sich bringt (und so scheint es ja L a Rochefoucauld zu fassen), sondern als etwas ganz Anderes und Bedenklicheres versteht. Vielmehr beobachte man Kinder, welche weinen und schreien, d a m i t sie bemitleidet werden, und desshalb den Augenblick abwarten, w o ihr Zustand in die Augen fallen kann; man lebe im Verkehr mit Kranken und GeistigGedrückten und frage sich, ob nicht das beredte Klagen und Wimmern, das Zur-Schau-tragen des Unglücks im Grunde das Ziel verfolgt, den Anwesenden w e h z u t h u n : d a s Mitleiden, welches Jene dann äussern, ist insofern eine Tröstung
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für die Schwachen und Leidenden, als sie daran erkennen, doch wenigstens noch Eine M a c h t zu h a b e n , trotz aller ihrer Schwäche: die M a c h t , w e h e z u t h u n . Der Unglückliche gewinnt eine Art von Lust in diesem Gefühl der Ueberlegenheit, welches das Bezeugen des Mitleides ihm zum Bewusstsein bringt; seine Einbildung erhebt sich, er ist immer noch wichtig genug, um der Welt Schmerzen zu machen. Somit ist der Durst nach Mitleid ein Durst nach Selbstgenuss, und zwar auf Unkosten der Mitmenschen; es zeigt den Menschen in der ganzen Rücksichtslosigkeit seines eigensten lieben Selbst: nicht aber gerade in seiner „Dummheit", wie La Rochefoucauld meint. — Im Zwiegespräche der Gesellschaft werden Dreiviertel aller Fragen gestellt, aller Antworten gegeben, um dem Unterredner ein klein Wenig weh zu thun; desshalb dürsten viele Menschen so nach Gesellschaft: sie giebt ihnen das Gefühl ihrer Kraft. In solchen unzähligen, aber sehr kleinen Dosen, in welchen die Bosheit sich geltend macht, ist sie ein mächtiges Reizmittel des Lebens: ebenso wie das Wohlwollen, in gleicher Form durch die Menschenwelt hin verbreitet, das allezeit bereite Heilmittel ist. — Aber wird es viele Ehrliche geben, welche zugestehen, dass es Vergnügen macht, wehe zu thun? dass man sich nicht selten damit unterhält — und gut unterhält —, anderen Menschen wenigstens in Gedanken Kränkungen zuzufügen und die Schrotkörner der kleinen Bosheit nach ihnen zu schiessen? Die Meisten sind zu unehrlich und ein paar Menschen sind zu gut, um von diesem Pudendum Etwas zu wissen; diese mögen somit immerhin leugnen, dass Prosper Mérimée Recht habe, wenn er sagt: „Sachez aussi qu'il n'y a rien de plus commun que de faire le mal pour le plaisir de le faire."
JiW i e d e r S c h e i n z u m S e i n w i r d . — Der Schauspieler kann zuletzt auch beim tiefsten Schmerz nicht auf-
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hören, an den Eindruck seiner Person und den gesammten scenischen Effect zu denken, zum Beispiel selbst beim Begräbniss seines Kindes; er wird über seinen eignen Schmerz und dessen Aeusserungen weinen, als sein eigener Zuschauer. Der Heuchler, welcher immer ein und die selbe Rolle spielt, hört zuletzt auf, Heuchler zu sein; zum Beispiel Priester, welche als junge Männer gewöhnlich bewusst oder unbewusst Heuchler sind, werden zuletzt natürlich und sind dann wirklich, ohne alle Affectation, eben Priester; oder wenn es der Vater nicht so weit bringt, dann vielleicht der Sohn, der des Vaters Vorsprung benutzt, seine Gewöhnung erbt. Wenn Einer sehr lange und hartnäckig Etwas s c h e i n e n will, so wird es ihm zuletzt schwer, etwas Anderes zu s e i n . Der Beruf fast jedes Menschen, sogar des Künstlers, beginnt mit Heuchelei, mit einem Nachmachen von Aussen her, mit einem Copiren des Wirkungsvollen. Der, welcher immer die Maske freundlicher Mienen trägt, muss zuletzt eine Gewalt über wohlwollende Stimmungen bekommen, ohne welche der Ausdruck der Freundlichkeit nicht zu erzwingen ist, — und zuletzt wieder bekommen diese über ihn Gewalt, er i s t wohlwollend.
J2Der Punct der Ehrlichkeit beim Bet r ü g e . — Bei allen grossen Betrügern ist ein Vorgang bemerkenswerth, dem sie ihre Macht verdanken. Im eigentlichen Acte des Betruges unter all den Vorbereitungen, dem Schauerlichen in Stimme, Ausdruck, Gebärden, inmitten der wirkungsvollen Scenerie, überkommt sie der G l a u b e a n s i c h s e l b s t : dieser ist es, der dann so wundergleich und bezwingend zu den Umgebenden spricht. Die Religionsstifter unterscheiden sich dadurch von jenen grossen Betrügern, dass sie aus diesem Zustande der Selbsttäuschung nicht herauskommen: oder sie haben ganz selten einmal jene helleren Momente, wo der Zweifel sie überwältigt; gewöhnlich trösten sie sich aber, diese helleren Momente
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dem bösen Widersacher zuschiebend. Selbstbetrug muss da sein, damit Diese und Jene grossartig w i r k e n . Denn die Menschen glauben an die Wahrheit dessen, was ersichtlich stark geglaubt wird.
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A n g e b l i c h e S t u f e n d e r W a h r h e i t . — Einer der gewöhnlichen Fehlschlüsse ist der: weil Jemand wahr und aufrichtig gegen uns ist, so sagt er die Wahrheit. So glaubt das Kind an die Urtheile der Eltern, der Christ an die Behauptungen des Stifters der Kirche. Ebenso will man nicht zugeben, dass alles Jenes, was die Menschen mit Opfern an Glück und Leben in früheren Jahrhunderten vertheidigt haben, Nichts als Irrthümer waren: vielleicht sagt man, es seien Stufen der Wahrheit gewesen. Aber im Grunde meint man, wenn Jemand ehrlich an Etwas geglaubt und für seinen Glauben gekämpft hat und gestorben ist, wäre es doch gar zu u n b i l l i g , wenn eigentlich nur ein Irrthum ihn beseelt habe. So ein Vorgang scheint der ewigen Gerechtigkeit zu widersprechen; desshalb decretirt das Herz empfindender Menschen immer wieder gegen ihren Kopf den Satz: zwischen moralischen Handlungen und intellectuellen Einsichten muss durchaus ein nothwendiges Band sein. Es ist leider anders; denn es giebt keine ewige Gerechtigkeit.
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D i e L ü g e . — Wesshalb sagen zu allermeist die Menschen im alltäglichen Leben die Wahrheit? — Gewiss nicht, weil ein Gott das Lügen verboten hat. Sondern erstens: weil es bequemer ist; denn die Lüge erfordert Erfindung, Verstellung und Gedächtniss. (Wesshalb Swift sagt: wer eine Lüge berichtet, merkt selten die schwere Last, die er übernimmt; er muss nämlich, um eine Lüge zu behaupten, zwanzig andere erfinden.) Sodann: weil
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es in schlichten Verhältnissen vortheilhaft ist, direct zu sagen: ich will diess, ich habe diess gethan, und dergleichen; also weil der Weg des Zwangs und der Autorität sicherer ist, als der der List. — Ist aber einmal ein K i n d in verwickelten häuslichen Verhältnissen aufgezogen worden, so handhabt es ebenso natürlich die Lüge und sagt unwillkürlich immer Das, was seinem Interesse entspricht; ein Sinn für Wahrheit, ein Widerwille gegen die Lüge an sich ist ihm ganz fremd und unzugänglich, und so lügt es in aller Unschuld.
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Des Glaubens wegen die Moral verdächt i g e n . — Keine Macht lässt sich behaupten, wenn lauter Heuchler sie vertreten; die katholische Kirche m a g noch so viele „weltliche" Elemente besitzen, ihre K r a f t beruht auf jenen auch jetzt noch zahlreichen priesterlichen Naturen, welche sich das Leben schwer und bedeutungstief machen, und deren Blick und abgehärmter Leib von Nachtwachen, Hungern, glühendem Gebete, vielleicht selbst von Geisseihieben redet; Diese erschüttern die Menschen und machen ihnen Angst: wie, wenn es n ö t h i g wäre, so zu leben? — diess ist die schauderhafte Frage, welche ihr Anblick auf die Zunge legt. Indem sie diesen Zweifel verbreiten, gründen sie immer von Neuem wieder einen Pfeiler ihrer Macht; selbst die Freigesinnten wagen es nicht, dem derartig Selbstlosen mit hartem Wahrheitssinn zu widerstehen und zu sagen: „Betrogner du, betrüge nicht!" — N u r die Differenz der Einsichten trennt sie von ihm, durchaus keine Differenz der Güte oder Schlechtigkeit; aber was man nicht mag, pflegt man gewöhnlich auch ungerecht zu behandeln. So spricht man von der Schlauheit und der verruchten Kunst der Jesuiten, aber übersieht, welche Selbstüberwindung jeder einzelne Jesuit sich auferlegt und wie die erleichterte Lebenspraxis, welche die jesuitischen Lehrbücher predigen, durchaus nicht ihnen, sondern dem
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Laienstande zu Gute kommen soll. Ja man darf fragen, ob wir Aufgeklärten bei ganz gleicher Taktik und Organisation eben so gute Werkzeuge, ebenso bewundernswürdig durch Selbstbesiegung, Unermüdlichkeit, Hingebung sein würden.
Sieg der E r k e n n t n i s s über das radicale B ö s e . — Es trägt Dem, der weise werden will, einen reichlichen Gewinn ein, eine Zeit lang einmal die Vorstellung vom gründlich bösen und verderbten Menschen gehabt zu haben: sie ist falsch, wie die entgegengesetzte; aber ganze Zeitstrecken hindurch besass sie die Herrschaft und ihre Wurzeln haben sich bis in uns und unsere Welt hinein verästet. U m uns zu begreifen, müssen wir s i e begreifen; um aber dann höher zu steigen, müssen wir über sie hinwegsteigen. Wir erkennen dann, dass es keine Sünden im metaphysischen Sinne giebt; aber, im gleichen Sinne, auch keine Tugenden; dass dieses ganze Bereich sittlicher Vorstellungen fortwährend im Schwanken ist, dass es höhere und tiefere Begriffe von gut und böse, sittlich und unsittlich giebt. Wer nicht viel mehr von den Dingen begehrt, als Erkenntniss derselben, kommt leicht mit seiner Seele zur Ruhe und wird höchstens aus Unwissenheit, aber schwerlich aus Begehrlichkeit fehlgreifen (oder sündigen, wie die Welt es heisst). Er wird die Begierden nicht mehr verketzern und ausrotten wollen; aber sein einziges ihn völlig beherrschendes Ziel, zu aller Zeit so gut wie möglich zu e r k e n n e n , wird ihn kühl machen und alle Wildheit in seiner Anlage besänftigen. Ueberdiess ist er einer Menge quälender Vorstellungen losgeworden, er empfindet Nichts mehr bei dem Worte Höllenstrafen, Sündhaftigkeit, Unfähigkeit zum Guten: er erkennt darin nur die verschwebenden Schattenbilder falscher Welt- und Lebensbetrachtungen.
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Moral als Selbstzertheilung des Mens c h e n . — Ein guter Autor, der wirklich das Herz für seine Sache hat, wünscht, dass Jemand komme und ihn selber dadurch vernichte, dass er dieselbe Sache deutlicher darstelle und die in ihr enthaltenen Fragen ohne Rest beantworte. Das liebende Mädchen wünscht, dass sie die hingebende Treue ihrer Liebe an der Untreue des Geliebten bewähren könne. Der Soldat wünscht, dass er f ü r sein siegreiches Vaterland auf dem Schlachtfeld falle: denn in dem Siege seines Vaterlandes siegt sein höchstes Wünschen mit. Die Mutter giebt dem Kinde, was sie sich selber entzieht, Schlaf, die beste Speise, unter Umständen ihre Gesundheit, ihr Vermögen. — Sind das Alles aber unegoistische Zustände? Sind diese Thaten der Moralität W u n d e r , weil sie, nach dem Ausdrucke Schopenhauer's, „unmöglich und doch wirklich " sind? Ist es nicht deutlich, dass in all diesen Fällen der Mensch E t w a s v o n s i c h , einen Gedanken, ein Verlangen, ein Erzeugniss mehr liebt, als e t w a s Ander e s v o n s i c h , dass er also sein Wesen z e r t h e i 11 und dem einen Theil den anderen zum O p f e r bringt? Ist es etwas w e s e n t l i c h Verschiedenes, wenn ein Trotzkopf sagt: „ich will lieber über den H a u f e n geschossen werden, als diesem Menschen da einen Schritt aus dem Wege gehn?" — Die N e i g u n g z u E t w a s (Wunsch, Trieb, Verlangen) ist in allen genannten Fällen vorhanden; ihr nachzugeben, mit allen Folgen, ist jedenfalls nicht „unegoistisch". — In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum.
j8. W a s m a n v e r s p r e c h e n k a n n . — Man kann Handlungen versprechen, aber keine Empfindungen; denn diese sind unwillkürlich. Wer Jemandem verspricht, ihn immer zu lieben oder immer zu hassen oder ihm immer treu zu sein, ver-
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spricht Etwas, das nicht in seiner Macht steht; wohl aber kann er solche Handlungen versprechen, welche zwar gewöhnlich die Folgen der Liebe, des Hasses, der Treue sind, aber auch aus anderen Motiven entspringen können: denn zu einer Handlung 5 führen mehrere Wege und Motive. Das Versprechen, Jemanden immer zu lieben, heisst also: so lange ich dich liebe, werde ich dir die Handlungen der Liebe erweisen; liebe ich dich nicht mehr, so wirst du doch die selben Handlungen, wenn auch aus anderen Motiven, immerfort von mir empfangen: so dass der Schein in 10 den Köpfen der Mitmenschen bestehen bleibt, dass die Liebe unverändert und immer noch die selbe sei. — Man verspricht also die Andauer des Anscheines der Liebe, wenn man ohne Selbstverblendung Jemandem immerwährende Liebe gelobt.
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Intellect und Moral. — Man muss ein gutes Gedächtniss haben, um gegebene Versprechen halten zu können. Man muss eine starke Kraft der Einbildung haben, um Mitleid haben zu können. So eng ist die Moral an die Güte des Intel20 lects gebunden.
6o. Sich rächen wollen und sich rächen. — Einen Rachegedanken haben und ausführen heisst einen heftigen Fieberanfall bekommen, der aber vorübergeht: einen 25 Rachegedanken aber haben, ohne Kraft und Muth, ihn auszuführen, heisst ein chronisches Leiden, eine Vergiftung an Leib und Seele mit sich herumtragen. Die Moral, welche nur auf die Absichten sieht, taxirt beide Fälle gleich; für gewöhnlich taxirt man den ersten Fall als den schlimmeren (wegen der bösen 3° Folgen, welche die That der Rache vielleicht nach sich zieht). Beide Schätzungen sind kurzsichtig.
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61. Warten-können. — Das Warten-können ist so schwer, dass die grössten Dichter es nicht verschmäht haben, das Nicht-warten-können zum Motiv ihrer Dichtungen zu machen. So Shakespeare im Othello, Sophokles im Ajax: dessen Selbstmord ihm, wenn er nur einen Tag noch seine Empfindung hätte abkühlen lassen, nicht mehr nöthig geschienen hätte, wie der Orakelspruch andeutet; wahrscheinlich würde er den schrecklichen Einflüsterungen der verletzten Eitelkeit ein Schnippchen geschlagen und zu sich gesprochen haben: wer hat denn nicht schon, in meinem Falle, ein Schaf f ü r einen Helden angesehen? ist es denn so etwas Ungeheures? Im Gegentheil, es ist nur etwas allgemein Menschliches: Ajax durfte sich dergestalt Trost zusprechen. Die Leidenschaft will nicht warten; das Tragische im Leben grosser Männer liegt häufig nicht in ihrem Conflicte mit der Zeit und der Niedrigkeit ihrer Mitmenschen, sondern in ihrer Unfähigkeit, ein Jahr, zwei Jahre ihr Werk zu verschieben; sie können nicht warten. — Bei allen Duellen haben die zurathenden Freunde das Eine festzustellen, ob die betheiligten Personen noch warten können: ist diess nicht der Fall, so ist ein Duell vernünftig, insofern Jeder von Beiden sich sagt: „entweder lebe ich weiter, dann muss Jener augenblicklich sterben, oder umgekehrt." Warten hiesse in solchem Falle an jener furchtbaren Marter der verletzten Ehre angesichts ihres Verletzers noch länger leiden; und diess kann eben mehr Leiden sein, als das Leben überhaupt werth ist.
6 2. S c h w e l g e r e i d e r R a c h e . — Grobe Menschen, welche sich beleidigt fühlen, pflegen den Grad der Beleidigung so hoch als möglich zu nehmen und erzählen die Ursache mit stark übertreibenden Worten, um nur in dem einmal erweckten Hass- und Rachegefühl sich recht ausschwelgen zu können.
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63. Werth der Verkleinerung. — Nicht wenige, vielleicht die allermeisten Menschen haben, um ihre Selbstachtung und eine gewisse Tüchtigkeit im Handeln bei sich aufrecht zu erhalten, durchaus nöthig, alle ihnen bekannten Menschen in ihrer Vorstellung herabzusetzen und zu verkleinern. D a aber die geringen N a t u r e n in der Ueberzahl sind und es sehr viel daran liegt, ob sie jene Tüchtigkeit haben oder verlieren, so —
64. D e r A u f b r a u s e n d e . — Vor Einem, der gegen uns aufbraust, soll man sich in Acht nehmen, wie vor Einem, der uns einmal nach dem Leben getrachtet hat: denn d a s s wir noch leben, das liegt an der Abwesenheit der Macht zu tödten; genügten Blicke, so wäre es längst um uns geschehen. Es ist ein Stück roher Cultur, durch Sichtbarwerdenlassen der physischen Wildheit, durch Furchterregen Jemanden zum Schweigen zu bringen. — Ebenso ist jener kalte Blick, welchen Vornehme gegen ihre Bedienten haben, ein Ueberrest jener kastenmässigen Abgränzungen zwischen Mensch und Mensch, ein Stück rohen Alterthums; die Frauen, die Bewahrerinnen des Alten, haben auch dieses Survival treuer bewahrt.
65. Wohin die Ehrlichkeit führen kann. — J e m a n d hatte die üble Angewohnheit, sich über die Motive, aus denen er handelte und die so gut und so schlecht waren wie die Motive aller Menschen, gelegentlich ganz ehrlich auszusprechen. Er erregte erst Anstoss, dann Verdacht, wurde allmählich geradezu verfehmt und in die Acht der Gesellschaft erklärt, bis endlich die Justiz sich eines so verworfenen Wesens erinnerte, bei Gelegenheiten, wo sie sonst kein Auge hatte, oder dasselbe
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zudrückte. Der Mangel an Schweigsamkeit über das allgemeine Geheimniss und der unverantwortliche Hang, zu sehen, was Keiner sehen will — sich selber — brachten ihn zu Gefängniss und frühzeitigem Tod.
66. S t r ä f l i c h , n i e g e s t r a f t . — Unser Verbrechen gegen Verbrecher besteht darin, dass wir sie wie Schufte behandeln.
67. S a n c t a s i m p l i c i t a s d e r T u g e n d . — Jede Tugend hat Vorrechte: zum Beispiel diess, zu dem Scheiterhaufen eines Verurtheilten ihr eigenes Bündchen Holz zu liefern.
68. Moralität und Erfolg. — Nicht nur die Zuschauer einer That bemessen häufig das Moralische oder Unmoralische an derselben nach dem Erfolge: nein, der Thäter selbst thut diess. Denn die Motive und Absichten sind selten deutlich und einfach genug, und mitunter scheint selbst das Gedächtniss durch den Erfolg der That getrübt, so dass man seiner That selber falsche Motive unterschiebt oder die unwesentlichen Motive als wesentliche behandelt. Der Erfolg giebt oft einer That den vollen ehrlichen Glanz des guten Gewissens, ein Misserfolg legt den Schatten von Gewissensbissen über die achtungswürdigste Handlung. Daraus ergiebt sich die bekannte Praxis des Politikers, welcher denkt: „gebt mir nur den Erfolg: mit ihm habe ich auch alle ehrlichen Seelen auf meine Seite gebracht — und mich vor mir selber ehrlich gemacht." — Auf ähnliche Weise soll der Erfolg die bessere Begründung ersetzen. Noch jetzt meinen viele Gebildete, der Sieg des Christenthums über die grie-
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chische Philosophie sei ein Beweis für die grössere Wahrheit des ersteren, — obwohl in diesem Falle nur das Gröbere und Gewaltsamere über das Geistigere und Zarte gesiegt hat. Wie es mit der grösseren Wahrheit steht, ist daraus zu ersehen, dass die erwachenden Wissenschaften Punct um Punct an Epikur's Philosophie angeknüpft, das Christenthum aber Punct um Punct zurückgewiesen haben.
69. Liebe und G e r e c h t i g k e i t . — Warum überschätzt man die Liebe zu Ungunsten der Gerechtigkeit und sagt die schönsten Dinge von ihr, als ob sie ein viel höheres Wesen als jene sei? Ist sie denn nicht ersichtlich dümmer als jene? — Gewiss, aber gerade desshalb um so viel a n g e n e h m e r für Alle. Sie ist dumm und besitzt ein reiches Füllhorn; aus ihm theilt sie ihre Gaben aus, an Jedermann, auch wenn er sie nicht verdient, ja ihr nicht einmal dafür dankt. Sie ist unparteiisch wie der Regen, welcher, nach der Bibel und der Erfahrung, nicht nur den Ungerechten, sondern unter Umständen auch den Gerechten bis auf die Haut nass macht.
70. H i n r i c h t u n g . — Wie kommt es, dass jede Hinrichtung uns mehr beleidigt, als ein Mord? Es ist die Kälte der Richter, die peinliche Vorbereitung, die Einsicht, dass hier ein Mensch als Mittel benutzt wird, um andere abzuschrecken. Denn die Schuld wird nicht bestraft, selbst wenn es eine gäbe: diese liegt in Erziehern, Eltern, Umgebungen, in uns, nicht im Mörder, — ich meine die veranlassenden Umstände.
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71D i e H o f f n u n g . — Pandora brachte das Fass mit den Uebeln und öffnete es. Es war das Geschenk der Götter an die Menschen, von Aussen ein schönes verführerisches Geschenk und „Glücksfass" zubenannt. D a flogen all die Uebel, lebendige beschwingte Wesen heraus: von da an schweifen sie nun herum und thun den Menschen Schaden bei Tag und Nacht. Ein einziges Uebel war noch nicht aus dem Fass herausgeschlüpft: da schlug Pandora nach Zeus' Willen den Deckel zu und so blieb es darin. Für immer hat der Mensch nun das Glücksfass im Hause und meint Wunder was für einen Schatz er in ihm habe; es steht ihm zu Diensten, er greift darnach: wenn es ihn gelüstet; denn er weiss nicht, dass jenes Fass, welches Pandora brachte, das Fass der Uebel war, und hält das zurückgebliebene Uebel für das grösste Glücksgut, — es ist die Hoffnung. — Zeus wollte nämlich, dass der Mensch, auch noch so sehr durch die anderen Uebel gequält, doch das Leben nicht wegwerfe, sondern fortfahre, sich immer von Neuem quälen zu lassen. Dazu giebt er dem Menschen die Hoffnung: sie ist in Wahrheit das übelste der Uebel, weil sie die Q u a l der Menschen verlängert.
72G r a d der m o r a l i s c h e n E r h i t z b a r k e i t unb e k a n n t . — Daran, dass man gewisse erschütternde Anblicke und Eindrücke gehabt oder nicht gehabt hat, zum Beispiel eines unrecht gerichteten, getödteten oder gemarterten Vaters, einer untreuen Frau, eines grausamen feindlichen Ueberfalls, hängt es ab, ob unsere Leidenschaften zur Glühhitze kommen und das ganze Leben lenken oder nicht. Keiner weiss, wozu ihn die Umstände, das Mitleid, die Entrüstung treiben können, er kennt den Grad seiner Erhitzbarkeit nicht. Erbärmliche kleine Verhältnisse machen erbärmlich; es ist gewöhnlich nicht die Qualität der Erlebnisse, sondern ihre Quantität, von
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welcher der niedere und höhere Mensch abhängt, im Guten und Bösen.
73D e r M ä r t y r e r w i d e r W i l l e n . — In einer Par5 tei gab es einen Menschen, der zu ängstlich und feige war, um je seinen Kameraden zu widersprechen: man brauchte ihn zu jedem Dienst, man erlangte von ihm Alles, weil er sich vor der schlechten Meinung bei seinen Gesellen mehr als vor dem Tode fürchtete; es war eine erbärmliche schwache Seele. Sie erio kannten diess und machten auf Grund der erwähnten Eigenschaften aus ihm einen Heros und zuletzt gar einen Märtyrer. Obwohl der feige Mensch innerlich immer Nein sagte, sprach er mit den Lippen immer J a , selbst noch auf dem Schaffot, als er für die Ansichten seiner Partei starb: neben ihm nämlich stand 1J einer seiner alten Genossen, der ihn durch Wort und Blick so tyrannisirte, dass er wirklich auf die anständigste Weise den Tod erlitt und seitdem als Märtyrer und grosser Charakter gefeiert wird.
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74A l l t a g s - M a a s s s t a b . — Man wird selten irren, wenn man extreme Handlungen auf Eitelkeit, mittelmässige auf Gewöhnung und kleinliche auf Furcht zurückführt.
7JMissverständniss ü b e r d i e T u g e n d . — Wer die Untugend in Verbindung mit der Lust kennen gelernt hat, wie Der, welcher eine genusssüchtige Jugend hinter sich hat, bildet sich ein, dass die Tugend mit der Unlust verbunden sein müsse. Wer dagegen von seinen Leidenschaften und Lastern sehr
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geplagt worden ist, ersehnt in der Tugend die Ruhe und das Glück der Seele. Daher ist es möglich, dass zwei Tugendhafte einander gar nicht verstehen.
Der Noth.
76. A s k e t . — Der Asket macht aus der Tugend eine
77Die Ehre von der P e r s o n auf die Sache ü b e r t r a g e n . — Man ehrt allgemein die Handlungen der Liebe und Aufopferung zu Gunsten des Nächsten, wo sie sich auch immer zeigen. Dadurch vermehrt man die S c h ä t z u n g d e r D i n g e , welche in jener Art geliebt werden oder f ü r welche man sich aufopfert: obwohl sie vielleicht an sich nicht viel werth sind. Ein tapferes Heer überzeugt von der Sache, für welche es kämpft. 78. Ehrgeiz ein Surrogat des moralischen G e f ü h l s . — Das moralische Gefühl darf in solchen Naturen nicht fehlen, welche keinen Ehrgeiz haben. Die Ehrgeizigen behelfen sich auch ohne dasselbe, mit fast gleichem Erfolge. — Desshalb werden Söhne aus bescheidenen, dem Ehrgeiz abgewandten Familien, wenn sie einmal das moralische Gefühl verlieren, gewöhnlich in schneller Steigerung zu vollkommenen Lumpen.
79Eitelkeit bereichert. — Wie arm wäre der menschliche Geist ohne die Eitelkeit! So aber gleicht er einem
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wohlgefüllten und immer neu sich füllenden Waarenmagazin, welches Käufer jeder Art anlockt: Alles fast können sie finden, Alles haben, vorausgesetzt, dass sie die gültige Münzsorte (Bewunderung) mit sich bringen. 5
8o. G r e i s u n d T o d . — Abgesehen von den Forderungen, welche die Religion stellt, darf man wohl fragen: warum sollte es für einen alt gewordenen Mann, welcher die Abnahme seiner Kräfte spürt, rühmlicher sein, seine langsame Erschöpfung und 10 Auflösung abzuwarten, als sich mit vollem Bewusstsein ein Ziel zu setzen? Die Selbsttödtung ist in diesem Falle eine ganz natürliche naheliegende Handlung, welche als ein Sieg der Vernunft billigerweise Ehrfurcht erwecken sollte: und auch erweckt hat, in jenen Zeiten als die Häupter der griechischen Philosophie und 1 5 die wackersten römischen Patrioten durch Selbsttödtung zu sterben pflegten. Die Sucht dagegen, sich mit ängstlicher Berathung von Aerzten und peinlichster Lebensart von Tag zu Tage fortzufristen, ohne Kraft, dem eigentlichen Lebensziel noch näher zu kommen, ist viel weniger achtbar. — Die Religionen sind reich an Ausflüchten vor der Forderung der Selbsttödtung: dadurch schmeicheln sie sich bei Denen ein, welche in das Leben verliebt sind. 8i.
ThäI r r t h ü m e r des L e i d e n d e n und des 2 5 t e r s . — Wenn der Reiche dem Armen ein Besitzthum nimmt (zum Beispiel ein Fürst dem Plebejer die Geliebte), so entsteht in dem Armen ein Irrthum; er meint, Jener müsse ganz verrucht sein, um ihm das Wenige, was er habe, zu nehmen. Aber jener empfindet den Werth eines e i n z e l n e n Besitzthums gar 3° nicht so tief, weil er gewöhnt ist, viele zu haben: so kann er sich nicht in die Seele des Armen versetzen und thut lange nicht
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so sehr Unrecht, als dieser glaubt. Beide haben von einander eine falsche Vorstellung. D a s Unrecht des Mächtigen, welches am meisten in der Geschichte empört, ist lange nicht so gross, wie es scheint. Schon die angeerbte Empfindung, ein höheres Wesen mit höheren Ansprüchen zu sein, macht ziemlich kalt und lässt das Gewissen ruhig: wir Alle sogar empfinden, wenn der Unterschied zwischen uns und einem andern Wesen sehr gross ist, gar Nichts mehr von Unrecht und tödten eine Mücke zum Beispiel ohne jeden Gewissensbiss. So ist es kein Zeichen von Schlechtigkeit bei Xerxes (den selbst alle Griechen als hervorragend edel schildern), wenn er dem Vater seinen Sohn nimmt und ihn zerstückeln lässt, weil dieser ein ängstliches, ominöses Misstrauen gegen den ganzen Heerzug geäussert hatte: der Einzelne wird in diesem Falle wie ein unangenehmes Insect beseitigt, er steht zu niedrig, um länger quälende Empfindungen bei einem Weltherrscher erregen zu dürfen. J a , jeder Grausame ist nicht in d e m Maasse grausam, als es der Misshandelte glaubt; die Vorstellung des Schmerzes ist nicht das Selbe wie das Leiden desselben. Ebenso steht es mit dem ungerechten Richter, mit dem Journalisten, welcher mit kleinen Unredlichkeiten die öffentliche Meinung irre führt. Ursache und Wirkung sind in allen diesen Fällen von ganz verschiedenen Empfindungs- und Gedankengruppen umgeben; während man unwillkürlich voraussetzt, dass Thäter und Leidender gleich denken und empfinden, und gemäss dieser Voraussetzung die Schuld des Einen nach dem Schmerz des Andern misst.
82. H a u t d e r S e e l e . — Wie die Knochen, Fleischstücke, Eingeweide und Blutgefässe mit einer H a u t umschlossen sind, die den Anblick des Menschen erträglich macht, so werden die Regungen und Leidenschaften der Seele durch die Eitelkeit umhüllt: sie ist die H a u t der Seele.
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83. Schlaf der Tugend. — fen hat, wird sie frischer aufstehen.
Wenn die Tugend geschla-
84. F e i n h e i t d e r S c h a m . — Die Menschen schämen sich nicht, etwas Schmutziges zu denken, aber wohl, wenn sie sich vorstellen, dass man ihnen diese schmutzigen Gedanken zutraue.
8j. B o s h e i t i s t s e l t e n . — Die meisten Menschen sind viel zu sehr mit sich beschäftigt, um boshaft zu sein.
86. D a s Z ü n g l e i n a n d e r W a g e . — Man lobt oder tadelt, je nachdem das Eine oder das Andere mehr Gelegenheit giebt, unsere Urtheilskraft leuchten zu lassen.
87. L u c a s 1 8 , 1 4 v e r b e s s e r t . — Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet werden.
88.
Verhinderung d e s S e l b s t m o r d e s . — Es giebt ein Recht, wonach wir einem Menschen das Leben nehmen, aber keines, wonach wir ihm das Sterben nehmen: diess ist nur Grausamkeit.
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89. E i t e l k e i t . — Uns liegt an der guten Meinung der Menschen, einmal weil sie uns nützlich ist, sodann weil wir ihnen Freude machen wollen (Kinder den Eltern, Schüler den Lehrern und wohlwollende Menschen überhaupt allen übrigen Menschen). N u r wo Jemandem die gute Meinung der Menschen wichtig ist, abgesehen vom Vortheil oder von seinem Wunsche, Freude zu machen, reden wir von Eitelkeit. In diesem Falle will sich der Mensch selber eine Freude machen, aber auf Unkosten seiner Mitmenschen, indem er diese entweder zu einer falschen Meinung über sich verführt oder es gar auf einen Grad der „guten Meinung" absieht, wo diese allen Anderen peinlich werden muss (durch Erregung von Neid). Der Einzelne will gewöhnlich durch die Meinung Anderer die Meinung, die er von sich hat, beglaubigen und vor sich selber bekräftigen; aber die mächtige Gewöhnung an Autorität — eine Gewöhnung, die so alt als der Mensch ist — bringt Viele auch dazu, ihren eigenen Glauben an sich auf Autorität zu stützen, also erst aus der H a n d Anderer anzunehmen: sie trauen der Urtheilskraft Anderer mehr, als der eigenen. — Das Interesse an sich selbst, der Wunsch, sich zu vergnügen, erreicht bei dem Eitelen eine solche Höhe, dass er die Anderen zu einer falschen, allzu hohen Taxation seiner selbst verführt und dann doch sich an die Autorität der Anderen hält: also den Irrthum herbeiführt und doch ihm Glauben schenkt. — Man muss sich also eingestehen, dass die eitelen Menschen nicht sowohl Anderen gefallen wollen, als sich selbst, und dass sie so weit gehen, ihren Vortheil dabei zu vernachlässigen; denn es liegt ihnen oft daran, ihre Mitmenschen ungünstig, feindlich, neidisch, also schädlich gegen sich zu stimmen, nur um die Freude an sich selber, den Selbstgenuss, zu haben.
2. Zur Geschidne der moralischen Empfindungen 89—92
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90. G r ä n z e d e r M e n s c h e n l i e b e . — Jeder, welcher sich dafür erklärt hat, dass der Andere ein Dummkopf, ein schlechter Geselle sei, ärgert sich, wenn Jener schliesslich zeigt, dass er es nicht ist.
M o r a l i t é l a r m o y a n t e . — Wie viel Vergnügen macht die Moralität! Man denke nur, was für ein Meer angenehmer Thränen schon bei Erzählungen edler, grossmüthiger Handlungen geflossen ist! — Dieser Reiz des Lebens würde schwinden, wenn der Glaube an die völlige Unverantwortlichkeit überhand nähme.
92U r s p r u n g d e r G e r e c h t i g k e i t . — Die Gerechtigkeit (Billigkeit) nimmt ihren Ursprung unter ungefähr g l e i c h M ä c h t i g e n , wie diess Thukydides (in dem furchtbaren Gespräche der athenischen und melischen Gesandten) richtig begriffen hat; wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt giebt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schädigen würde, da entsteht der Gedanke sich zu verständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln: der Charakter des T a u s c h e s ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder stellt den Andern zufrieden, indem Jeder bekommt, was er mehr schätzt als der Andere. Man giebt Jedem, was er haben will als das nunmehr Seinige, und empfängt dagegen das Gewünschte. Gerechtigkeit ist also Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen Machtstellung: so gehört ursprünglich die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch. Ebenso die Dankbarkeit. — Gerechtigkeit geht natürlich auf den Gesichtspunct einer einsichtigen Selbst-
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erhaltung zurück, also auf den Egoismus jener Ueberlegung: „wozu sollte ich mich nutzlos schädigen und mein Ziel vielleicht doch nicht erreichen?" — Soviel vom U r s p r u n g der Gerechtigkeit. Dadurch, dass die Menschen, ihrer intellectuellen Gewohnheit gemäss, den ursprünglichen Zweck sogenannter gerechter, billiger Handlungen v e r g e s s e n haben und namentlich weil durch Jahrtausende hindurch die Kinder angelernt worden sind, solche Handlungen zu bewundern und nachzuahmen, ist allmählich der Ansdiein entstanden, als sei eine gerechte Handlung eine unegoistische: auf diesem Anschein aber beruht die hohe Schätzung derselben, welche überdiess, wie alle Schätzungen, fortwährend noch im Wachsen ist: denn etwas Hochgeschätztes wird mit Aufopferung erstrebt, nachgeahmt, vervielfältigt und wächst dadurch, dass der Werth der aufgewandten Mühe und Beeiferung von jedem Einzelnen noch zum Werthe des geschätzten Dinges hinzugeschlagen wird. — Wie wenig moralisch sähe die Welt ohne die Vergesslichkeit aus! Ein Dichter könnte sagen, dass Gott die Vergesslichkeit als Thürhüterin an die Tempelschwelle der Menschenwürde hingelagert habe.
93V o m R e c h t e d e s S c h w ä c h e r e n . — Wenn sich Jemand unter Bedingungen einem Mächtigeren unterwirft, zum Beispiel eine belagerte Stadt, so ist die Gegenbedingung die, dass man sich vernichten, die Stadt verbrennen und so dem Mächtigen eine grosse Einbusse machen kann. Desshalb entsteht hier eine Art G l e i c h s t e l l u n g , auf Grund welcher Rechte festgesetzt werden können. Der Feind hat seinen Vortheil an der Erhaltung. — Insofern giebt es auch Rechte zwischen Sclaven und Herren, das heisst genau in dem Maasse, in welchem der Besitz des Sclaven seinem Herrn nützlich und wichtig ist. Das R e c h t geht ursprünglich s o w e i t , als Einer dem Andern werth-
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voll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar und dergleichen e r s c h e i n t . In dieser Hinsicht hat auch der Schwächere noch Rechte, aber geringere. Daher das berühmte unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet (oder genauer: quantum 5 potentia valere creditur).
94Die drei Phasen der bisherigen Moralität. — Es ist das erste Zeichen, dass das Thier Mensch geworden ist, wenn sein Handeln nicht mehr auf das augenblickliche Wohlbefinden, sondern auf das dauernde sich bezieht, dass der Mensch also n ü t z l i c h , z w e c k m ä s s i g wird: da bricht zuerst die freie Herrschaft der Vernunft heraus. Eine noch höhere Stufe ist erreicht, wenn er nach dem Princip der E h r e handelt; vermöge desselben ordnet er sich ein, unterwirft sich gemeinsamen Empfindungen, und das erhebt ihn hoch über die Phase, in der nur die persönlich verstandene Nützlichkeit ihn leitete: er achtet und will geachtet werden, das heisst: er begreift den Nutzen als abhängig von dem, was er über Andere, was Andere über ihn meinen. Endlich handelt er, auf der höchsten Stufe der 20 b i s h e r i g e n Moralität nach s e i n e m Maassstab über die Dinge und Menschen, er selber bestimmt für sich und Andere, was ehrenvoll, was nützlich ist; er ist zum Gesetzgeber der Meinungen geworden, gemäss dem immer höher entwickelten Begriff des Nützlichen und Ehrenhaften. Die Erkenntnis befähigt ihn, 2 5 das Nützlichste, das heisst den allgemeinen dauernden Nutzen dem persönlichen, die ehrende Anerkennung von allgemeiner dauernder Geltung der momentanen voranzustellen; er lebt und handelt als Collectiv-Individuum.
3°
95M o r a l d e s r e i f e n I n d i v i d u u m s . — M a n hat bis-
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her als das eigentliche Kennzeichen der moralischen H a n d l u n g das Unpersönliche angesehen; und es ist nachgewiesen, dass zu A n f a n g die Rücksicht auf den allgemeinen Nutzen es war, derentwegen man alle unpersönlichen Handlungen lobte und auszeichnete. Sollte nicht eine bedeutende Umwandelung dieser Ansichten bevorstehen, jetzt wo immer besser eingesehen wird, dass gerade in der möglichst p e r s ö n l i c h e n Rücksicht auch der N u t z e n für das Allgemeine am grössten ist: so dass gerade das streng persönliche Handeln dem jetzigen Begriff der Moralität (als einer allgemeinen Nützlichkeit) entspricht? Aus sich eine ganze P e r s o n machen und in Allem, was man thut, deren h ö c h s t e s W o h l in's Auge fassen — das bringt weiter, als jene mitleidigen Regungen und Handlungen zu Gunsten Anderer. Wir Alle leiden freilich noch immer an der allzugeringen Beachtung des Persönlichen an uns, es ist schlecht ausgebildet, — gestehen wir es uns ein: man hat vielmehr unsern Sinn gewaltsam von ihm abgezogen und dem Staate, der Wissenschaft, dem Hülfebedürftigen zum O p f e r angeboten, wie als ob es das Schlechte wäre, das geopfert werden müsste. Auch jetzt wollen wir für unsere Mitmenschen arbeiten, aber nur so weit, als wir unsern eigenen höchsten Vortheil in dieser Arbeit finden, nicht mehr, nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was man als s e i n e n V o r t h e i l versteht; gerade das unreife, unentwickelte, rohe Individuum wird ihn auch am rohesten verstehen.
96. S i t t e u n d s i t t l i c h . — Moralisch, sittlich, ethisch sein heisst Gehorsam gegen ein altbegründetes Gesetz oder Herkommen haben. O b man mit Mühe oder gern sich ihm unterwirft, ist dabei gleichgültig, genug, dass man es thut. „ G u t " nennt man Den, welcher wie von N a t u r , nach langer Vererbung, also leicht und gern das Sittliche thut, je nachdem diess ist (zum Beispiel Rache übt, wenn Rache-üben, wie bei den älteren Grie-
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chen, zur guten Sitte gehört). Er wird gut genannt, weil er „wozu" gut ist; da aber Wohlwollen, Mitleiden und dergleichen in dem Wechsel der Sitten immer als „gut wozu", als nützlich empfunden wurde, so nennt man jetzt vornehmlich den Wohlwollenden, Hülfreichen „gut". Böse ist „nicht sittlich" (unsittlich) sein, Unsitte üben, dem Herkommen widerstreben, wie vernünftig oder dumm dasselbe auch sei; das Schädigen des Nächsten ist aber in allen den Sittengesetzen der verschiedenen Zeiten vornehmlich als schädlich empfunden worden, so dass wir jetzt namentlich bei dem Wort „böse" an die freiwillige Schädigung des Nächsten denken. Nicht das „Egoistische" und das „Unegoistische" ist der Grundgegensatz, welcher die Menschen zur Unterscheidung von sittlich und unsittlich, gut und böse gebracht hat, sondern: Gebundensein an ein Herkommen, Gesetz, und Lösung davon. Wie das Herkommen e n t s t a n d e n ist, das ist dabei gleichgültig, jedenfalls ohne Rücksicht auf gut und böse oder irgend einen immanenten kategorischen Imperativ, sondern vor Allem zum Zweck der Erhaltung einer G e m e i n d e , eines Volkes; jeder abergläubische Brauch, der auf Grund eines falsch gedeuteten Zufalls entstanden ist, erzwingt ein Herkommen, welchem zu folgen sittlich ist; sich von ihm lösen ist nämlich gefährlich, f ü r die G e m e i n s c h a f t noch mehr schädlich als für den Einzelnen (weil die Gottheit den Frevel und jede Verletzung ihrer Vorrechte an der Gemeinde und nur insofern auch am Individuum straft). N u n wird jedes Herkommen fortwährend ehrwürdiger, je weiter der Ursprung abliegt, je mehr dieser vergessen ist; die ihm gezollte Verehrung häuft sich von Generation zu Generation auf, das Herkommen wird zuletzt heilig und erweckt Ehrfurcht; und so ist jedenfalls die Moral der Pietät eine viel ältere Moral, als die, welche unegoistische Handlungen verlangt.
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97D i e L u s t i n d e r S i t t e . — Eine wichtige Gattung der Lust und damit der Quelle der Moralität entsteht aus der Gewohnheit. Man thut das Gewohnte leichter, besser, also lieber, man empfindet dabei eine Lust, und weiss aus der Erfahrung, dass das Gewohnte sich bewährt hat, also nützlich ist; eine Sitte, mit der sich leben lässt, ist als heilsam, förderlich bewiesen, im Gegensatz zu allen neuen, noch nicht bewährten Versuchen. Die Sitte ist demnach die Vereinigung des Angenehmen und des Nützlichen, überdiess macht sie kein Nachdenken nöthig. Sobald der Mensch Zwang ausüben kann, übt er ihn aus, um seine S i t t e n durchzusetzen und einzuführen, denn für ihn sind sie die bewährte Lebensweisheit. Ebenso zwingt eine Gemeinschaft von Individuen jedes einzelne zur selben Sitte. Hier ist der Fehlschluss: weil man sich mit einer Sitte wohl fühlt oder wenigstens weil man vermittelst derselben seine Existenz durchsetzt, so ist diese Sitte nothwendig, denn sie gilt als die e i n z i g e Möglichkeit, unter der man sich wohl fühlen kann; das Wohlgefühl des Lebens scheint allein aus ihr hervorzuwachsen. Diese Auffassung des Gewohnten als einer Bedingung des Daseins wird bis auf die kleinsten Einzelheiten der Sitte durchgeführt: da die Einsicht in die wirkliche Causalität bei den niedrig stehenden Völkern und Culturen sehr gering ist, so sieht man mit abergläubischer Furcht darauf, dass Alles seinen gleichen Gang gehe; selbst wo die Sitte schwer, hart, lästig ist, wird sie ihrer scheinbar höchsten Nützlichkeit wegen bewahrt. Man weiss nicht, dass der selbe Grad von Wohlbefinden auch bei anderen Sitten bestehen kann und dass selbst höhere Grade sich erreichen lassen. Wohl aber nimmt man wahr, dass alle Sitten, auch die härtesten, mit der Zeit angenehmer und milder werden, und dass auch die strengste Lebensweise zur Gewohnheit und damit zur Lust werden kann.
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L u s t u n d s o c i a l e r I n s t i n c t . — Aus seinen Beziehungen zu andern Menschen gewinnt der Mensch eine neue Gattung von L u s t zu jenen Lustempfindungen hinzu, welche er aus sich selber nimmt; wodurch er das Reich der Lustempfindung überhaupt bedeutend umfänglicher macht. Vielleicht hat er mancherlei, das hieher gehört, schon von den Thieren her übernommen, welche ersichtlich Lust empfinden, wenn sie mit einander spielen, namentlich die Mütter mit den Jungen. Sodann gedenke man der geschlechtlichen Beziehungen, welche jedem Männchen ungefähr jedes Weibchen interessant in Ansehung der Lust erscheinen lassen, und umgekehrt. D i e Lustempfindung auf Grund menschlicher Beziehungen macht im Allgemeinen den Menschen besser; die gemeinsame Freude, die Lust mitsammen genossen, erhöht dieselbe, sie giebt dem Einzelnen Sicherheit, macht ihn gutmüthiger, löst das Misstrauen, den N e i d : denn man fühlt sich selber wohl und sieht den Andern in gleicher Weise sich wohl fühlen. Die g l e i c h a r t i g e n A e u s s e r u n g e n d e r L u s t erwecken die Phantasie der Mitempfindung, das Gefühl etwas Gleiches zu sein: das Selbe thun auch die gemeinsamen Leiden, die selben Unwetter, Gefahren, Feinde. D a r a u f baut sidi dann wohl das älteste Bündniss a u f : dessen Sinn die gemeinsame Beseitigung und Abwehr einer drohenden Unlust zum Nutzen jedes Einzelnen ist. U n d so wächst der sociale Instinct aus der Lust heraus.
99Das Unschuldige an den sogenannten b ö s e n H a n d l u n g e n . — Alle „bösen" Handlungen sind motivirt durch den Trieb der Erhaltung oder, noch genauer, durch die Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust des Individuums; als solchermaassen motivirt, aber nicht böse. „Schmerz bereiten an sich" e x i s t i r t n i c h t , ausser im Ge-
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hirn der Philosophen, ebensowenig „Lust bereiten an sich" (Mitleid im Schopenhauerischen Sinne). In dem Zustand v o r dem Staate tödten wir das Wesen, sei es Affe oder Mensch, welches uns eine Frucht des Baumes vorwegnehmen will, wenn wir gerade Hunger haben und auf den Baum zulaufen: wie wir es noch jetzt bei Wanderungen in unwirthlichen Gegenden mit dem Thiere thun würden. — Die bösen Handlungen, welche uns jetzt am meisten empören, beruhen auf dem Irrthume, dass der Andere, welcher sie uns zufügt, freien Willen habe, also dass es in seinem B e l i e b e n gelegen habe, uns diess Schlimme nicht anzuthun. Dieser Glaube an das Belieben erregt den Hass, die Rachlust, die Tücke, die ganze Verschlechterung der Phantasie, während wir einem Thiere viel weniger zürnen, weil wir diess als unverantwortlich betrachten. Leid thun nicht aus Erhaltungstrieb, sondern zur Vergeltung — ist Folge eines falschen Urtheils und desshalb ebenfalls unschuldig. Der Einzelne kann im Zustande, welcher vor dem Staate liegt, zur A b s c h r e c k u n g andere Wesen hart und grausam behandeln: um seine Existenz durch solche abschreckende Proben seiner Macht sicher zu stellen. So handelt der Gewaltthätige, Mächtige, der ursprüngliche Staatengründer, welcher sich die Schwächeren unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich nimmt; oder vielmehr: es giebt kein Recht, welches diess hindern kann. Es kann erst dann der Boden für alle Moralität zurecht gemacht werden, wenn ein grösseres Individuum oder ein Collectiv-Individuum, zum Beispiel die Gesellschaft, der Staat, die Einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen Verband einordnet. Der Moralität geht der Z w a n g voraus, ja sie selber ist noch eine Zeit lang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung der Unlust, fügt. Später wird sie Sitte, noch später freier Gehorsam, endlich beinahe Instinct: dann ist sie wie alles lang Gewöhnte und Natürliche mit Lust verknüpft — und heisst nun T u g e n d .
2. Zur Gesdiichte der moralischen Empfindungen 99—101
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100. S c h a m . — Die Scham existirt überall, wo es ein „Mysterium" giebt; diess aber ist ein religiöser Begriff, welcher in der älteren Zeit der menschlichen Cultur einen grossen Umfang hatte. Ueberall gab es umgränzte Gebiete, zu welchen das göttliche Recht den Zutritt versagte, ausser unter bestimmten Bedingungen: zu allererst ganz räumlich, insofern gewisse Stätten vom Fusse der Uneingeweihten nicht zu betreten waren und in deren Nähe Diese Schauder und Angst empfanden. Diess Gefühl wurde vielfach auf andere Verhältnisse übertragen, zum Beispiel auf die geschlechtlichen Verhältnisse, welche als ein Vorrecht und Adyton des reiferen Alters den Blicken der Jugend, zu deren Vortheil, entzogen werden sollten: Verhältnisse, zu deren Schutz und Heilighaltung viele Götter thätig und im ehelichen Gemache als Wächter aufgestellt gedacht wurden. (Im Türkischen heisst desshalb diess Gemach Harem „Heiligthum", wird also mit demselben Worte bezeichnet, welches für die Vorhöfe der Moscheen üblich ist.) So ist das Königthum als ein Centrum, von wo Macht und Glanz ausstrahlt, dem Unterworfenen ein Mysterium voller Heimlichkeit und Scham: wovon viele Nachwirkungen noch jetzt, unter Völkern, die sonst keineswegs zu den verschämten gehören, zu fühlen sind. Ebenso ist die ganze Welt innerer Zustände, die sogenannte „Seele", auch jetzt noch für alle Nicht-Philosophen ein Mysterium, nachdem diese, endlose Zeit hindurch, als göttlichen Ursprungs, als göttlichen Verkehrs würdig geglaubt wurde: sie ist demnach ein Adyton und erweckt Scham.
101. R i c h t e t n i c h t . — Man muss sich hüten, bei der Betrachtung früherer Perioden nicht in ein ungerechtes Schimpfen zu gerathen. Die Ungerechtigkeit in der Sclaverei, die Grausamkeit in der Unterwerfung von Personen und Völkern ist nicht
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mit unserem Maasse zu messen. Denn damals war der Instinct der Gerechtigkeit noch nicht so weit gebildet. Wer darf dem Genfer Calvin die Verbrennung des Arztes Servet vorwerfen? Es war eine consequente aus seinen Ueberzeugungen fliessende Handlung, und ebenso hatte die Inquisition ein gutes Recht; nur waren die herrschenden Ansichten falsch und ergaben eine Consequenz, welche uns hart erscheint, weil uns jene Ansichten fremd geworden sind. Was ist übrigens Verbrennen eines Einzelnen im Vergleich mit ewigen Höllenstrafen für fast Alle! Und doch beherrschte diese Vorstellung damals alle Welt, ohne mit ihrer viel grösseren Schrecklichkeit der Vorstellung von einem Gotte wesentlich Schaden zu thun. Auch bei uns werden politische Sectirer hart und grausam behandelt, aber weil man an die Nothwendigkeit des Staates zu glauben gelernt hat, so empfindet man hier die Grausamkeit nicht so sehr wie dort, wo wir die Anschauungen verwerfen. Die Grausamkeit gegen Thiere bei Kindern und Italiänern geht auf Unverständniss zurück; das Thier ist namentlich durch die Interessen der kirchlichen Lehre zu weit hinter den Menschen zurückgesetzt worden. — Auch mildert sich vieles Schreckliche und Unmenschliche in der Geschichte, an welches man kaum glauben möchte, durch die Betrachtung, dass der Befehlende und der Ausführende andere Personen sind: ersterer hat den Anblick nicht und daher nicht den starken Phantasie-Eindruck, letzterer gehorcht einem Vorgesetzten und fühlt sich unverantwortlich. Die meisten Fürsten und Militärchefs erscheinen, aus Mangel an Phantasie, leicht grausam und hart, ohne es zu sein. — D e r E g o i s m u s i s t n i c h t b ö s e , weil die Vorstellung vom „Nächsten" — das Wort ist christlichen Ursprungs und entspricht der Wahrheit nicht — in uns sehr schwach ist; und wir uns gegen ihn beinahe wie gegen Pflanze und Stein frei und unverantwortlich fühlen. Dass der Andere leidet, ist zu l e r n e n : und völlig kann es nie gelernt werden.
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102. „ D e r M e n s c h h a n d e l t i m m e r g u t . " — Wir klagen die Natur nicht als unmoralisch an, wenn sie uns ein Donnerwetter schickt und uns nass macht: warum nennen wir 5 den schädigenden Menschen unmoralisch? Weil wir hier einen willkürlich waltenden, freien Willen, dort Nothwendigkeit annehmen. Aber diese Unterscheidung ist ein Irrthum. Sodann: selbt das absichtliche Schädigen nennen wir nicht unter allen Umständen unmoralisch; man tödtet z.B. eine Mücke unio bedenklich mit Absicht, blos weil uns ihr Singen missfällt, man straft den Verbrecher absichtlich und thut ihm Leid an, um uns und die Gesellschaft zu schützen. Im ersten Falle ist es das Individuum, welches, um sich zu erhalten oder selbst um sich keine Unlust zu machen, absichtlich Leid thut; im zweiten der Staat. r 5 Alle Moral lässt absichtliches Schadenthun gelten bei N o t h w e h r : das heisst wenn es sich um die S e l b s t e r h a l t u n g handelt! Aber diese beiden Gesichtspuncte g e n ü g e n , um alle bösen Handlungen gegen Menschen, von Menschen ausgeübt, zu erklären: man will für sich Lust oder will Unlust ab20 wehren; in irgend einem Sinne handelt es sich immer um Selbsterhaltung. Sokrates und Plato haben Recht: was auch der Mensch thue, er thut immer das Gute, das heisst: Das, was ihm gut (nützlich) scheint, je nach dem Grade seines Intellectes, dem jedesmaligen Maasse seiner Vernünftigkeit. 103. D a s H a r m l o s e a n d e r B o s h e i t . — Die Bosheit hat nicht das Leid des Andern an sich zum Ziele, sondern unsern eigenen Genuss, zum Beispiel als Rachegefühl oder als stärkere Nervenaufregung. Schon jede Neckerei zeigt, wie es Vergnügen 3° macht, am Andern unsere Macht auszulassen und es zum lustvollen Gefühle des Uebergewichts zu bringen. Ist nun das U n m o r a l i s c h e daran, L u s t a u f G r u n d d e r U n l u s t
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A n d e r e r zu haben? Ist Schadenfreude teuflisch, wie Schopenhauer sagt? N u n machen wir uns in der N a t u r Lust durch Zerbrechen von Zweigen, Ablösen von Steinen, Kampf mit wilden Thieren und zwar, um unserer Kraft dabei bewusst zu werden. Das W i s s e n darum, dass ein Anderer durch uns leidet, soll hier die selbe Sache, in Bezug auf welche wir uns sonst unverantwortlich fühlen, unmoralisch machen? Aber wüsste man diess nicht, so hätte man die Lust an seiner eigenen Ueberlegenheit auch nicht dabei, diese kann eben sich nur im Leide des Anderen z u e r k e n n e n g e b e n , zum Beispiel bei der Neckerei. Alle Lust an sich selber ist weder gut noch böse; woher sollte die Bestimmung kommen, dass man, um Lust an sich selber zu haben, keine Unlust Anderer erregen dürfe? Allein vom Gesichtspuncte des Nutzens her, das heisst aus Rücksicht auf die F o l g e n , auf eventuelle Unlust, wenn der Geschädigte oder der stellvertretende Staat Ahndung und Rache erwarten lässt: nur Diess kann ursprünglich den Grund abgegeben haben, solche H a n d l u n gen sich zu versagen. — Das Mitleid hat ebensowenig die Lust des Andern zum Ziele, als, wie gesagt, die Bosheit den Schmerz des Andern an sich. Denn es birgt mindestens zwei (vielleicht viel mehr) Elemente einer persönlichen Lust in sich und ist dergestalt Selbstgenuss: einmal als Lust der Emotion, welcher Art das Mitleid in der Tragödie ist, und dann, wenn es zur That treibt, als Lust der Befriedigung in der Ausübung der Macht. Steht uns überdiess eine leidende Person sehr nahe, so nehmen wir durch Ausübung mitleidvoller Handlungen uns selbst ein Leid ab. — Abgesehen von einigen Philosophen, so haben die Menschen das Mitleid, in der Rangfolge moralischer Empfindungen, immer ziemlich tief gestellt: mit Recht.
104. N o t h w e h r . — Wenn man überhaupt die Nothwehr als moralisch gelten lässt, so muss man fast alle Aeusserungen des so-
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genannten unmoralischen Egoismus' auch gelten lassen: man thut Leid an, raubt oder tödtet, um sich zu erhalten oder um sich zu schützen, dem persönlichen Unheil vorzubeugen; man lügt, wo List und Verstellung das richtige Mittel der Selbsterhaltung sind. A b s i c h t l i c h s c h ä d i g e n , wenn es sich um unsere Existenz oder Sicherheit (Erhaltung unseres Wohlbefindens) handelt, wird als moralisch concedirt; der Staat schädigt selber unter diesem Gesichtspunct, wenn er Strafen verhängt. Im unabsichtlichen Schädigen kann natürlich das Unmoralische nicht liegen, da regiert der Zufall. Giebt es denn eine Art des absichtlichen Schädigens, wo es sich n i c h t um unsere Existenz, um die Erhaltung unseres Wohlbefindens handelt? Giebt es ein Schädigen aus reiner B o s h e i t , zum Beispiel bei der Grausamkeit? Wenn man nicht weiss, wie weh eine Handlung thut, so ist sie keine Handlung der Bosheit; so ist das Kind gegen das Thier nicht boshaft, nicht böse: es untersucht und zerstört dasselbe wie sein Spielzeug. W e i s s man aber je völlig, wie weh eine Handlung einem Andern thut? So weit unser Nervensystem reicht, hüten wir uns vor Schmerz: reichte es weiter, nämlich bis in die Mitmenschen hinein, so würden wir Niemandem ein Leides thun (ausser in solchen Fällen, wo wir es uns selbst thun, also wo wir uns der Heilung halber schneiden, der Gesundheit halber uns mühen und anstrengen). Wir s c h l i e s s e n aus Analogie, dass Etwas Jemandem weh thut, und durch die Erinnerung und die Stärke der Phantasie kann es uns dabei selber übel werden. Aber welcher Unterschied bleibt immer zwischen dem Zahnschmerz und dem Schmerze (Mitleiden), welchen der Anblick des Zahnschmerzes hervorruft? Also: bei dem Schädigen aus sogenannter Bosheit ist der G r a d des erzeugten Schmerzes uns jedenfalls unbekannt; insofern aber eine L u s t bei der Handlung ist (Gefühl der eignen Macht, der eignen starken Erregung), geschieht die Handlung, um das Wohlbefinden des Individuums zu erhalten und fällt somit unter einen ähnlichen Gesichtspunct wie die Nothwehr, die Nothlüge. Ohne Lust kein Leben; der
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Kampf um die Lust ist der Kampf um das Leben. Ob der Einzelne diesen Kampf so kämpft, dass die Menschen ihn g u t , oder so, dass sie ihn b ö s e nennen, darüber entscheidet das Maass und die Beschaffenheit seines I n t e l l e c t s .
IOJ. D i e b e l o h n e n d e G e r e c h t i g k e i t . — Wer vollständig die Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit begriffen hat, der kann die sogenannte strafende und belohnende Gerechtigkeit gar nicht mehr unter den Begriff der Gerechtigkeit unterbringen: falls diese darin besteht, dass man Jedem das Seine giebt. Denn Der, welcher gestraft wird, verdient die Strafe nicht: er wird nur als Mittel benutzt, um fürderhin von gewissen Handlungen abzuschrecken; ebenso verdient Der, welchen man belohnt, diesen Lohn nicht: er konnte ja nicht anders handeln, als er gehandelt hat. Also hat der Lohn nur den Sinn einer Aufmunterung für ihn und Andere, um also zu späteren Handlungen ein Motiv abzugeben; das Lob wird dem Laufenden in der Rennbahn zugerufen, nicht Dem, welcher am Ziele ist. Weder Strafe noch Lohn sind Etwas, das Einem als das S e i n e zukommt; sie werden ihm aus Nützlichkeitsgründen gegeben, ohne dass er mit Gerechtigkeit Anspruch auf sie zu erheben hätte. Man muss ebenso sagen „der Weise belohnt nicht, weil gut gehandelt worden ist", als man gesagt hat „der Weise straft nicht, weil schlecht gehandelt worden ist, sondern damit nicht schlecht gehandelt werde". Wenn Strafe und Lohn fortfielen, so fielen die kräftigsten Motive, welche von gewissen Handlungen weg, zu gewissen Handlungen hin treiben, fort; der Nutzen der Menschen erheischt ihre Fortdauer; und insofern Strafe und Lohn, Tadel und Lob am empfindlichsten auf die Eitelkeit wirken, so erheischt der selbe Nutzen auch die Fortdauer der Eitelkeit.
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10 6. A m W a s s e r f a l l . — Beim Anblick eines Wasserfalles meinen wir in den zahllosen Biegungen, Schlängelungen, Brechungen der Wellen Freiheit des Willens und Belieben zu sehen; 5 aber Alles ist nothwendig, jede Bewegung mathematisch auszurechnen. So ist es auch bei den menschlichen Handlungen; man müsste jede einzelne Handlung vorher ausrechnen können, wenn man allwissend wäre, ebenso jeden Fortschritt der Erkenntniss, jeden Irrthum, jede Bosheit. Der Handelnde selbst 10 steckt freilich in der Illusion der Willkür; wenn in einem Augenblick das R a d der Welt still stände und ein allwissender, rechnender Verstand da wäre, um diese Pausen zu benützen, so könnte er bis in die fernsten Zeiten die Zukunft jedes Wesens weitererzählen und jede Spur bezeichnen, auf der jenes R a d noch roli j len wird. Die Täuschung des Handelnden über sich, die Annahme des freien Willens, gehört mit hinein in diesen auszurechnenden Mechanismus.
107. Unverantwortlichkeit und Unschuld. — Die völlige Unverantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln und sein Wesen ist der bitterste Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muss, wenn er gewohnt war, in der Verantwortlichkeit und der Pflicht den Adelsbrief seines Menschenthums zu sehen. Alle seine Schätzungen, Auszeichnungen, Abneigungen sind dadurch entwerthet und falsch geworden: sein tiefstes Gefühl, das er dem Dulder, dem Helden entgegenbrachte, hat einem Irrthume gegolten; er darf nicht mehr loben, nicht tadeln, denn es ist ungereimt, die Natur und die N o t wendigkeit zu loben und zu tadeln. So wie er das gute Kunstwerk 3° liebt, aber nicht lobt, weil es Nichts für sich selber kann, wie er vor der Pflanze steht, so muss er vor den Handlungen der Menschen, vor seinen eignen stehen. Er kann Kraft, Schönheit, Fülle
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an ihnen bewundern, aber darf keine Verdienste darin finden: der chemische Process und der Streit der Elemente, die Qual des Kranken, der nach Genesung lechzt, sind ebensowenig Verdienste, als jene Seelenkämpfe und Nothzustände, bei denen man durch verschiedene Motive hin- und hergerissen wird, bis man sich endlich für das mächtigste entscheidet — wie man sagt (in Wahrheit aber, bis das mächtigste Motiv über uns entscheidet). Alle diese Motive aber, so hohe Namen wir ihnen geben, sind aus den selben Wurzeln gewachsen, in denen wir die bösen Gifte wohnend glauben; zwischen guten und bösen Handlungen giebt es keinen Unterschied der Gattung, sondern höchstens des Grades. Gute Handlungen sind sublimirte böse; böse Handlungen sind vergröberte, verdummte gute. Das einzige Verlangen des Individuums nach Selbstgenuss (sammt der Furcht, desselben verlustig zu gehen) befriedigt sich unter allen Umständen, der Mensch mag handeln, wie er kann, das heisst wie er muss: sei es in Thaten der Eitelkeit, Rache, Lust, Nützlichkeit, Bosheit, List, sei es in Thaten der Aufopferung, des Mitleids, der Erkenntniss. Die Grade der Urtheilsfähigkeit entscheiden, wohin Jemand sich durch diess Verlangen hinziehen lässt; fortwährend ist jeder Gesellschaft, jedem Einzelnen eine Rangordnung der Güter gegenwärtig, wonach er seine Handlungen bestimmt und die der Anderen beurtheilt. Aber dieser Maassstab wandelt sich fortwährend, viele Handlungen werden böse genannt und sind nur dumm, weil der Grad der Intelligenz, welcher sich für sie entschied, sehr niedrig war. Ja, in einem bestimmten Sinne sind auch jetzt noch a l l e Handlungen dumm, denn der höchste Grad von menschlicher Intelligenz, der jetzt erreicht werden kann, wird sicherlich noch überboten werden: und dann wird, bei einem Rückblick, all u n s e r Handeln und Urtheilen so beschränkt und übereilt erscheinen, wie uns jetzt das Handeln und Urtheilen zurückgebliebener wilder Völkerschaften beschränkt und übereilt vorkommt. — Diess Alles einzusehen, kann tiefe Schmerzen machen, aber darnach giebt es einen Trost: solche
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Schmerzen sind Geburtswehen. Der Schmetterling will seine Hülle durchbrechen, er zerrt an ihr, er zerreisst sie: da blendet und verwirrt ihn das unbekannte Licht, das Reich der Freiheit. In solchen Menschen, welche jener Traurigkeit f ä h i g sind — wie wenige werden es sein! — wird der erste Versuch gemacht, ob die Menschheit aus einer m o r a l i s c h e n sich in eine weise Menschheit umwandeln könne. Die Sonne eines neuen Evangeliums wirft ihren ersten Strahl auf die höchsten Gipfel in der Seele jener Einzelnen: da ballen sich die Nebel dichter, als je, und neben einander lagert der hellste Schein und die trübste Dämmerung. Alles ist Nothwendigkeit, — so sagt die neue Erkenntniss: und diese Erkenntniss selber ist Nothwendigkeit. Alles ist Unschuld: und die Erkenntniss ist der Weg zur Einsicht in diese Unschuld. Sind Lust, Egoismus, Eitelkeit n o t h w e n d i g zur Erzeugung der moralischen Phänomene und ihrer höchsten Blüthe, des Sinnes für Wahrheit und Gerechtigkeit der Erkenntniss, war der Irrthum und die Verirrung der Phantasie das einzige Mittel, durch welches die Menschheit sich allmählich zu diesem Grade von Selbsterleuchtung und Selbsterlösung zu erheben vermochte — wer dürfte jene Mittel geringschätzen? Wer dürfte traurig sein, wenn er das Ziel, zu dem jene Wege führen, gewahr wird? Alles auf dem Gebiete der Moral ist geworden, wandelbar, schwankend, Alles ist im Flusse, es ist wahr: — aber A l l e s i s t a u c h i m S t r o m e : nach Einem Ziele hin. Mag in uns die vererbte Gewohnheit des irrthümlichen Schätzens, Liebens, Hassens immerhin fortwalten, aber unter dem Einfluss der wachsenden Erkenntniss wird sie schwächer werden: eine neue Gewohnheit, die des Begreifens, Nicht-Liebens, Nicht-Hassens, Ueberschauens, pflanzt sich allmählich in uns auf dem selben Boden an und wird in Tausenden von Jahren vielleicht mächtig genug sein, um der Menschheit die Kraft zu geben, den weisen, unschuldigen (unschuld-bewussten) Menschen ebenso regelmässig hervorzubringen, wie sie jetzt den unweisen, unbilligen, schuldbewussten
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Menschen — d a s h e i s s t d i e n o t h w e n d i g e V o r s t u f e , n i c h t d e n G e g e n s a t z v o n j e n e m — hervorbringt.
Drittes Hauptstück. Das religiöse Leben.
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Der d o p p e l t e Kampf gegen das Uebel. — Wenn uns ein Uebel trifft, so kann man entweder so über dasselbe hinwegkommen, dass man seine Ursache hebt, oder so, dass man die Wirkung, welche es auf unsere Empfindung macht, verändert: also durch ein Umdeuten des Uebels in ein Gut, dessen Nutzen vielleicht erst später ersichtlich sein wird. Religion und Kunst (auch die metaphysische Philosophie) bemühen sich, auf die Aenderung der Empfindung zu wirken, theils durch Aenderung unseres Urtheils über die Erlebnisse (zum Beispiel mit Hülfe des Satzes: „wen Gott lieb hat, den züchtigt er"), theils durch Erweckung einer Lust am Schmerz, an der Emotion überhaupt (woher die Kunst des Tragischen ihren Ausgangspunct nimmt). Je mehr Einer dazu neigt, umzudeuten und zurechtzulegen, um so weniger wird er die Ursachen des Uebels in's Auge fassen und beseitigen; die augenblickliche Milderung undNarkotisirung, wie sie zum Beispiel bei Zahnschmerz gebräuchlich ist, genügt ihm auch in ernsteren Leiden. Je mehr die Herrschaft der Religionen und aller Kunst der Narkose abnimmt, um so strenger fassen die Menschen die wirkliche Beseitigung der Uebel in's Auge, was freilich schlimm für die Tragödiendichter ausfällt — denn zur Tragödie findet sich immer weniger Stoff, weil das Reich des unerbittlichen, unbezwinglichen Schicksals immer enger wird —, noch schlimmer aber für die Priester: denn diese lebten bisher von der Narkotisirung menschlicher Uebel.
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109. G r a m i s t E r k e n n t n i s s . — Wie gern möchte man die falschen Behauptungen der Priester, es gebe einen Gott, der das Gute von uns verlangte, Wächter und Zeuge jeder Handlung, 5 jedes Augenblickes, jedes Gedankens sei, der uns liebe, in allem Unglück unser Bestes wolle, — wie gern möchte man diese mit Wahrheiten vertauschen, welche ebenso heilsam, beruhigend und wohlthuend wären, wie jene Irrthümer! Doch solche Wahrheiten giebt es nicht; die Philosophie kann ihnen höchstens wieder10 um metaphysische Scheinbarkeiten (im Grunde ebenfalls Unwahrheiten) entgegensetzen. N u n ist aber die Tragödie die, dass man jene Dogmen der Religion und Metaphysik nicht g l a u b e n kann, wenn man die strenge Methode der Wahrheit im Herzen und Kopfe hat, andererseits durch die Entwickelung der IS Menschheit so zart, reizbar, leidend geworden ist, um Heil- und Trostmittel der höchsten Art nöthig zu haben; woraus also die Gefahr entsteht, dass der Mensch sich an der erkannten Wahrheit verblute. Diess drückt Byron in unsterblichen Versen aus: Sorrow is knowledge: they who know the most 20 must mourn the deepst o'er the fatal truth, the tree of knowledge is not that of life. Gegen solche Sorgen hilft kein Mittel besser, als den feierlichen Leichtsinn Horazens, wenigstens für die schlimmsten Stunden und Sonnenfinsternisse der Seele, heraufzubeschwören und mit 2 5 ihm zu sich selber zu sagen: quid aeternis minorem consiliis animum fatigas? cur non sub alta vel platano vel hac pinu jacentes — 3° Sicherlich aber ist Leichtsinn oder Schwermuth jeden Grades besser, als eine romantische Rückkehr und Fahnenflucht, eine Annäherung an das Christenthum in irgend einer Form: denn mit ihm kann man sich, nadi dem gegenwärtigen Stande der Er-
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kenntniss, schlechterdings nicht mehr einlassen, ohne sein i n t e l l e c t u a l e s G e w i s s e n heillos zu beschmutzen und vor sich und Anderen preiszugeben. Jene Schmerzen mögen peinlich genug sein: aber man kann ohne Schmerzen nicht zu einem Führer und Erzieher der Menschheit werden; und wehe Dem, welcher diess versuchen möchte und jenes reine Gewissen nicht mehr hätte!
HO. Die W a h r h e i t i n d e r R e l i g i o n . — In der Periode der Aufklärung war man der Bedeutung der Religion nicht gerecht geworden, daran ist nicht zu zweifeln: aber ebenso steht fest, dass man, in dem darauffolgenden Widerspiel der Aufklärung, wiederum um ein gutes Stück über die Gerechtigkeit hinausgieng, indem man die Religionen mit Liebe, selbst mit Verliebtheit behandelte und ihnen zum Beispiel ein tieferes, ja das allertiefste Verständniss der Welt zuerkannte; welches die Wissenschaft des dogmatischen Gewandes zu entkleiden habe, um dann in unmythischer Form die „Wahrheit" zu besitzen. Religionen sollen also — diess war die Behauptung aller Gegner der Aufklärung — sensu allegorico, mit Rücksicht auf das Verstehen der Menge, jene uralte Weisheit aussprechen, welche die Weisheit an sich sei, insofern alle wahre Wissenschaft der neueren Zeit immer zu ihr hin, anstatt von ihr weg, geführt habe: so dass zwischen den ältesten Weisen der Menschheit und allen späteren Harmonie, ja Gleichheit der Einsichten walte und ein Fortschritt der Erkenntnisse — falls man von einem solchen reden wolle — sich nicht auf das Wesen, sondern die Mittheilung desselben beziehe. Diese ganze Auffassung von Religion und Wissenschaft ist durch und durch irrthümlich; und Niemand würde jetzt noch zu ihr sich zu bekennen wagen, wenn nicht Schopenhauers Beredtsamkeit sie in Schutz genommen hätte: diese laut tönende und doch erst nach einem Menschenalter ihre Hörer er-
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reichende Beredtsamkeit. So gewiss man aus Schopenhauer's religiös-moralischer Menschen- und Weltdeutung sehr viel für das Verständniss des Christenthums und anderer Religionen gewinnen kann, so gewiss ist es auch, dass er über den W e r t h d e r R e l i g i o n f ü r d i e E r k e n n t n i s s sich geirrt hat. Er selbst war darin ein nur zu folgsamer Schüler der wissenschaftlichen Lehrer seiner Zeit, welche allesammt der Romantik huldigten und dem Geiste der Aufklärung abgeschworen hatten; in unsere jetzige Zeit hineingeboren, würde er unmöglich vom sensus allegoricus der Religion haben reden können; er würde vielmehr der Wahrheit die Ehre gegeben haben, wie er es pflegte, mit den Worten: n o c h n i e h a t e i n e Religion, weder mittelbar, noch unmittelbar, weder als Dogma, noch als Gleichniss, eine W a h r h e i t e n t h a l t e n . Denn aus der Angst und dem Bedürfniss ist eine jede geboren, auf Irrgängen der Vernunft hat sie sich in's Dasein geschlichen; sie hat vielleicht einmal, im Zustande der Gefährdung durch die Wissenschaft, irgend eine philosophische Lehre in ihr System hineingelogen, damit man sie später darin vorfinde: aber diess ist ein Theologenkunststück, aus der Zeit, in welcher eine Religion schon an sich selber zweifelt. Diese Kunststücke der Theologie, welche freilich im Christenthum, als der Religion eines gelehrten, mit Philosophie durchtränkten Zeitalters, sehr früh schon geübt wurden, haben auf jenen Aberglauben vom sensus allegoricus hingeleitet, noch mehr aber die Gewohnheit der Philosophen (namentlich der Halbwesen, der dichterischen Philosophen und der philosophirenden Künstler), alle die Empfindungen, welche sie in s i c h vorfanden, als Grundwesen des Menschen überhaupt zu behandeln und somit auch ihren eigenen religiösen Empfindungen einen bedeutenden Einfluss auf den Gedankenbau ihrer Systeme zu gestatten. Weil die Philosophen vielfach unter dem Herkommen religiöser Gewohnheiten, oder mindestens unter der altvererbten Macht jenes „metaphysischen Bedürfnisses" philosophir-
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ten, so gelangten sie zu Lehrmeinungen, welche in der T h a t den jüdischen oder christlichen oder indischen Religionsmeinungen sehr ähnlich sahen, — ähnlich nämlich, wie K i n d e r den Müttern zu sehen pflegen, nur dass in diesem Falle die V ä t e r sich nicht über jene Mutterschaft klar waren, wie diess wohl vorkommt, — sondern in der Unschuld ihrer Verwunderung v o n einer Familien-Aehnlichkeit aller Religion und Wissenschaft fabelten. In der T h a t besteht zwischen der Religion und der wirklichen Wissenschaft nicht Verwandtschaft, noch Freundschaft, noch selbst Feindschaft: sie leben auf verschiedenen Sternen. J e d e Philosophie, welche einen religiösen Kometenschweif in die Dunkelheit ihrer letzten Aussichten hinaus erglänzen lässt, macht Alles an sich verdächtig, was sie als Wissenschaft vorträgt: es ist diess Alles vermuthlich ebenfalls Religion, wenngleich unter dem A u f p u t z der Wissenschaft. — Uebrigens: wenn alle V ö l k e r über gewisse religiöse Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes, übereinstimmten (was, beiläufig gesagt, in Betreff dieses Punctes nicht der Fall ist), so w ü r d e diess doch eben nur ein G e g e n a r g u m e n t gegen jene behaupteten Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes sein: der consensus gentium und überhaupt hominum kann billigerweise nur einer Narrheit gelten. Dagegen giebt es einen consensus omnium sapientium gar nicht, in Bezug auf kein einziges Ding, mit jener Ausnahme, von welcher der Goethe'sche Vers spricht: A l l e die Weisesten aller der Zeiten
lächeln und winken und stimmen mit ein: Thöricht, auf Bess'rung der Thoren zu harren! K i n d e r der Klugheit, o habet die N a r r e n eben zum N a r r e n auch, wie sich's gehört! 3° Ohne Vers und Reim gesprochen und auf unseren Fall angewendet: der consensus sapientium besteht darin, dass der consensus gentium einer N a r r h e i t gilt.
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Menschliches, Allzumenschlidies I III.
Ursprung des religiösen C u l t u s ' . — Versetzen wir uns in die Zeiten zurück, in welchen das religiöse Leben am kräftigsten aufblühte, so finden wir eine Grundüberzeugung vor, welche wir jetzt nicht mehr theilen und derentwegen wir ein für alle Mal die Thore zum religiösen Leben uns verschlossen sehen: sie betrifft die Natur und den Verkehr mit ihr. Man weiss in jenen Zeiten noch Nichts von Naturgesetzen; weder für die Erde noch für den Himmel giebt es ein Müssen; eine Jahreszeit, der Sonnenschein, der Regen kann kommen oder auch ausbleiben. Es fehlt überhaupt jeder Begriff der n a t ü r l i c h e n Causalität. Wenn man rudert, ist es nicht das Rudern, was das Schiff bewegt, sondern Rudern ist nur eine magische Ceremonie, durch welche man einen Dämon zwingt, das Schiff zu bewegen. Alle Erkrankungen, der Tod selbst ist Resultat magischer Einwirkungen. Es geht bei Krankwerden und Sterben nie natürlich zu; die ganze Vorstellung vom „natürlichen Hergang" fehlt, — sie dämmert erst bei den älteren Griechen, das heisst in einer sehr späten Phase der Menschheit, in der Conception der über den Göttern thronenden Moira. Wenn Einer mit dem Bogen schiesst, so ist immer noch eine irrationelle Hand und Kraft dabei; versiegen plötzlich die Quellen, so denkt man zuerst an unterirdische Dämonen und deren Tücken; der Pfeil eines Gottes muss es sein, unter dessen unsichtbarer Wirkung ein Mensch auf einmal niedersinkt. In Indien pflegt (nach Lubbock) ein Tischler seinem Hammer, seinem Beil und den übrigen Werkzeugen Opfer darzubringen; ein Brahmane behandelt den Stift, mit dem er schreibt, ein Soldat die Waffen, die er im Felde braucht, ein Maurer seine Kelle, ein Arbeiter seinen Pflug in gleicher Weise. Die ganze Natur ist in der Vorstellung religiöser Menschen eine Summe von Handlungen bewusster und wollender Wesen, ein ungeheurer Complex von W i l l k ü r 1 i c h k e i t e n. Es ist in Bezug auf Alles, was ausser uns ist, kein Schluss gestattet, dass irgend Etwas so und so sein
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w e r d e , so und so kommen m ü s s e ; das ungefähr Sichere, Berechenbare sind wir: der Mensch ist die R e g e l , die Natur die R e g e l l o s i g k e i t , — dieser Satz enthält die Grundüberzeugung, welche rohe, religiös productive Urculturen beherrscht. Wir jetzigen Menschen empfinden gerade völlig umgekehrt: je reicher jetzt der Mensch sich innerlich fühlt, je polyphoner sein Subject ist, um so gewaltiger wirkt auf ihn das Gleichmaass der Natur; wir Alle erkennen mit Goethe in der Natur das grosse Mittel der Beschwichtigung für die moderne Seele, wir hören den Pendelschlag der grössten Uhr mit einer Sehnsucht nach Ruhe, nach Heimisch- und Stillewerden an, als ob wir dieses Gleichmaass in uns hineintrinken und dadurch zum Genuss unser selbst erst kommen könnten. Ehemals war es umgekehrt: denken wir an rohe, frühe Zustände von Völkern zurück oder sehen wir die jetzigen Wilden in der Nähe, so finden wir sie auf das stärkste durch das G e s e t z , das H e r k o m m e n bestimmt: das Individuum ist fast automatisch an dasselbe gebunden und bewegt sich mit der Gleichförmigkeit eines Pendels. Ihm muss die Natur — die unbegriffene, schreckliche, geheimnissvolle Natur — als das R e i c h d e r F r e i h e i t , der Willkür, der höheren Macht erscheinen, ja gleichsam als eine übermenschliche Stufe des Daseins, als Gott. Nun aber fühlt jeder Einzelne solcher Zeiten und Zustände, wie von jenen Willkürlichkeiten der Natur seine Existenz, sein Glück, das der Familie, des Staates, das Gelingen aller Unternehmungen abhängen: einige Naturvorgänge müssen zur rechten Zeit eintreten, andere zur rechten Zeit ausbleiben. Wie kann man einen Einfluss auf diese furchtbaren Unbekannten ausüben, wie kann man das Reich der Freiheit binden? so fragt er sich, so forscht er ängstlich: giebt es denn keine Mittel, jene Mächte ebenso durch ein Herkommen und Gesetz regelmässig zu machen, wie du selber regelmässig bist? — Das Nachdenken der magie- und wundergläubigen Menschen geht dahin, d e r N a t u r ein G e s e t z a u f z u l e g e n — : und kurz gesagt, der reli-
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giöse Cultus ist das Ergebniss dieses Nachdenkens. D a s Problem, welches jene Menschen sich vorlegen, ist auf das engste verwandt mit diesem: wie kann der s c h w ä c h e r e Stamm dem s t ä r k e r e n doch Gesetze dictiren, ihn bestimmen, seine Handlungen (im Verhalten zum schwächeren) leiten? M a n wird zuerst sich der harmlosesten A r t eines Zwanges erinnern, jenes Zwanges, den man ausübt, wenn man Jemandes N e i g u n g erworben hat. Durch Flehen und Gebete, durch Unterwerfung, durch die Verpflichtung zu regelmässigen Abgaben und Geschenken, durch schmeichelhafte Verherrlichungen ist es also auch möglich, auf die Mächte der N a t u r einen Zwang auszuüben, insofern man sie sich geneigt macht: Liebe bindet und wird gebunden. Dann kann man V e r t r ä g e schliessen, wobei man sich zu bestimmtem Verhalten gegenseitig verpflichtet, Pfänder stellt und Schwüre wechselt. Aber viel wichtiger ist eine Gattung gewaltsameren Zwanges, durch Magie und Zauberei. Wie der Mensch mit H ü l f e des Zauberers einem stärkeren Feind doch zu schaden weiss und ihn vor sich in Angst erhält, wie der Liebeszauber in die Ferne wirkt, so glaubt der schwächere Mensch auch die mächtigeren Geister der N a t u r bestimmen zu können. D a s Hauptmittel aller Zauberei ist, dass man Etwas in Gewalt bekommt, das Jemandem zu eigen ist, H a a r e , N ä g e l , etwas Speise von seinem Tisch, ja selbst sein Bild, seinen N a m e n . Mit solchem A p p a r a t e kann man dann zaubern; denn die Grundvoraussetzung lautet: zu allem Geistigen gehört etwas Körperliches; mit dessen H ü l f e vermag man den Geist zu binden, zu schädigen, zu vernichten; das Körperliche giebt die H a n d h a b e ab, mit der man das Geistige fassen kann. So wie nun der Mensch den Menschen bestimmt, so bestimmt er auch irgend einen Naturgeist; denn dieser hat auch sein Körperliches, an dem er zu fassen ist. Der Baum und, verglichen mit ihm, der Keim, aus dem er entstand, — dieses räthselhafte Nebeneinander scheint zu beweisen, dass in beiden Formen sich ein und der selbe Geist eingekörpert habe, bald klein, bald gross. Ein
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Stein, der plötzlich rollt, ist der Leib, in welchem ein Geist wirkt; liegt auf einsamer Haide ein Block, erscheint es unmöglich, an Menschenkraft zu denken, die ihn hieher gebracht habe, so muss also der Stein sich selbst hinbewegt haben, das heisst: er muss einen Geist beherbergen. Alles, was einen Leib hat, ist der Zauberei zugänglich, also auch die Naturgeister. Ist ein Gott geradezu an sein Bild gebunden, so kann man auch ganz directen Zwang (durch Verweigerung der Opfernahrung, Geissein, in-Fesseln-Legen und Aehnliches) gegen ihn ausüben. Die geringen Leute in China umwinden, um die fehlende Gunst ihres Gottes zu ertrotzen, das Bild desselben, der sie in Stich gelassen hat, mit Stricken, reissen es nieder, schleifen es über die Strassen durch Lehm- und Düngerhaufen; „du H u n d von einem Geiste, sagen sie, wir Hessen dich in einem prächtigen Tempel wohnen, wir vergoldeten dich hübsch, wir fütterten dich gut, wir brachten dir O p f e r und doch bist du so undankbar." Aehnliche Gewaltmaassregeln gegen Heiligen- und Muttergottesbilder, wenn sie etwa bei Pestilenzen oder Regenmangel ihre Schuldigkeit nicht thun wollten, sind noch während dieses Jahrhunderts in katholischen Ländern vorgekommen. — Durch alle diese zauberischen Beziehungen zur N a t u r sind unzählige Ceremonien in's Leben gerufen: und endlich, wenn der Wirrwarr derselben zu gross geworden ist, bemüht man sich, sie zu ordnen, zu systematisiren, so dass man den günstigen Verlauf des gesammten Ganges der N a t u r , namentlich des grossen Jahreskreislaufs, sich durch einen entsprechenden Verlauf eines Proceduren-Systems zu verbürgen meint. Der Sinn des religiösen Cultus' ist, die N a t u r zu menschlichem Vortheil zu bestimmen und zu bannen, also ihr eine Gesetzlichkeit einzuprägen, die sie v o n v o r n h e r e i n n i c h t h a t ; während in der jetzigen Zeit man die Gesetzlichkeit der N a t u r e r k e n n e n will, um sich in sie zu schicken. Kurz, der religiöse Cultus ruht auf den Vorstellungen der Zauberei zwischen Mensch und Mensch; und der Zauberer ist älter, als der Priester. Aber e b e n s o ruht er
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Menschliches, Allzumensdiliches I
auf anderen und edleren Vorstellungen; er setzt das sympathische Verhältniss von Mensch zu Mensch, das Dasein von Wohlwollen, Dankbarkeit, Erhörung Bittender, von Verträgen zwischen Feinden, von Verleihung der Unterpfänder, von Anspruch auf Schutz des Eigenthums voraus. Der Mensch steht auch in sehr niederen Culturstufen nicht der N a t u r als ohnmächtiger Sclave gegenüber, er ist n i c h t nothwendig der willenlose Knecht derselben: auf der griechischen Stufe der Religion, besonders im Verhalten zu den olympischen Göttern, ist sogar an ein Zusammenleben von zwei Kasten, einer vornehmeren, mächtigeren und einer weniger vornehmen zu denken; aber beide gehören, ihrer Herkunft nach, irgendwie zusammen und sind Einer Art, sie brauchen sich vor einander nicht zu schämen. Das ist das Vornehme in der griechischen Religiosität.
112.
Beim Anblick gewisser antiker Opferg e r ä t h s c h a f t e n . — Wie manche Empfindungen uns verloren gehen, ist zum Beispiel an der Vereinigung des Possenhaften, selbst des Obscönen, mit dem religiösen Gefühl zu sehen: die Empfindung f ü r die Möglichkeit dieser Mischung schwindet, wir begreifen es nur noch historisch, dass sie existirte, bei den Demeter- und Dionysosfesten, bei den christlichen Osterspielen und Mysterien: aber auch wir kennen noch das Erhabene im Bunde mit dem Burlesken und dergleichen, das Rührende mit dem Lächerlichen verschmolzen: was vielleicht eine spätere Zeit auch nicht mehr verstehen wird.
113.
C h r i s t e n t h u m a l s A l t e r t h u m . — Wenn wir eines Sonntag Morgens die alten Glocken brummen hören, da fragen wir uns: ist es nur möglich! diess gilt einem vor zwei
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Jahrtausenden gekreuzigten Juden, welcher sagte, er sei Gottes Sohn. Der Beweis für eine solche Behauptung fehlt. — Sicherlich ist innerhalb unserer Zeiten die christliche Religion ein aus ferner Vorzeit hereinragendes Alterthum, und dass man jene Be5 hauptung glaubt, — während man sonst so streng in der Prüfung von Ansprüchen ist — , ist vielleicht das älteste Stück dieses Erbes. Ein Gott, der mit einem sterblichen Weibe Kinder erzeugt; ein Weiser, der auffordert, nicht mehr zu arbeiten, nicht mehr Gericht zu halten, aber auf die Zeichen des bevorstehenden Weltunterganges zu achten; eine Gerechtigkeit, die den Unschuldigen als stellvertretendes Opfer annimmt; Jemand, der seine Jünger sein Blut trinken heisst; Gebete um Wundereingriffe; Sünden an einem Gott verübt, durch einen Gott gebüsst; Furcht vor einem Jenseits, zu welchem der Tod die Pforte ist; die Ge15 stalt des Kreuzes als Symbol inmitten einer Zeit, welche die Bestimmung und die Schmach des Kreuzes nicht mehr kennt, — wie schauerlich weht uns diess Alles, wie aus dem Grabe uralter Vergangenheit, an! Sollte man glauben, dass so Etwas noch geglaubt wird?
114. Das Ungriechische im Christenthum. — Die Griechen sahen über sich die homerischen Götter nicht als Herren und sich unter ihnen nicht als Knechte, wie die Juden. Sie sahen gleichsam nur das Spiegelbild der gelungensten Exem2 5 plare ihrer eigenen Kaste, also ein Ideal, keinen Gegensatz des eigenen Wesens. Man fühlt sich mit einander verwandt, es besteht ein gegenseitiges Interesse, eine Art Symmachie. Der Mensch denkt vornehm von sich, wenn er sich solche Götter giebt, und stellt sich in ein Verhältniss, wie das des niedrigeren Adels zum 3° höheren ist; während die italischen Völker eine rechte BauernReligion haben, mit fortwährender Aengstlichkeit gegen böse und launische Machtinhaber und Quälgeister. Wo die olympi-
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Mensdilidies, Allzumensdilidies I
sehen Götter zurücktraten, da w a r auch das griechische Leben düsterer und ängstlicher. — Das Christenthum dagegen zerdrückte und zerbrach den Menschen vollständig und versenkte ihn wie in tiefen Schlamm: in das Gefühl völliger Verworfenheit Hess es dann mit Einem Male den Glanz eines göttlichen Erbarmens hineinleuchten, so dass der Ueberraschte, durch Gnade Betäubte, einen Schrei des Entzückens ausstiess und f ü r einen Augenblick den ganzen Himmel in sich zu tragen glaubte. Auf diesen krankhaften Excess des Gefühls, auf die dazu nöthige tiefe K o p f - und Herz-Corruption wirken alle psychologischen Erfindungen des Christenthums hin: es will vernichten, zerbrechen, betäuben, berauschen, es will nur Eins nicht: das M a a s s , und desshalb ist es im tiefsten Verstände barbarisch, asiatisch, unvornehm, ungriechisch.
115. M i t V o r t h e i l r e l i g i ö s s e i n . — Es giebt nüchterne und gewerbstüchtige Leute, denen die Religion wie ein Saum höheren Menschenthums angestickt ist: diese thun sehr wohl, religiös zu bleiben, es verschönert sie. — Alle Menschen, welche sich nicht auf irgend ein Waffenhandwerk verstehen — Mund und Feder als Waffen eingerechnet — werden servil: f ü r solche ist die christliche Religion sehr nützlich, denn die Servilität nimmt darin den Anschein einer christlichen Tugend an und wird erstaunlich verschönert. — Leute, welchen ihr tägliches Leben zu leer und eintönig vorkommt, werden leicht religiös: diess ist begreiflich und verzeihlich, nur haben sie kein Recht, Religiosität von Denen zu fordern, denen das tägliche Leben nicht leer und eintönig verfliesst.
116. D e r A l l t a g s - C h r i s t . — Wenn das Christenthum mit
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seinen Sätzen vom rächenden Gotte, der allgemeinen Sündhaftigkeit, der Gnadenwahl und der Gefahr einer ewigen Verdammniss, Recht hätte, so wäre es ein Zeichen von Schwachsinn und Charakterlosigkeit, n i c h t Priester, Apostel oder Einsiedler zu werden und mit Furcht und Zittern einzig am eigenen Heile zu arbeiten; es wäre unsinnig, den ewigen Vortheil gegen die zeitliche Bequemlichkeit so aus dem Auge zu lassen. Vorausgesetzt, dass überhaupt g e g l a u b t wird, so ist der Alltags-Christ eine erbärmliche Figur, ein Mensch, der wirklich nicht bis drei zählen kann, und der übrigens, gerade wegen seiner geistigen Unzurechnungsfähigkeit, es nicht verdiente, so hart bestraft zu werden, als das Christenthum ihm verheisst.
117. Von der K l u g h e i t des C h r i s t e n t h u m s . — Es ist ein Kunstgriff des Christenthums, die völlige Unwürdigkeit, Sündhaftigkeit und Verächtlichkeit des Menschen überhaupt so laut zu lehren, dass die Verachtung der Mitmenschen dabei nicht mehr möglich ist. „Er mag sündigen, wie er wolle, er unterscheidet sich doch nicht wesentlich von mir: ich bin es, der in jedem Grade unwürdig und verächtlich ist," so sagt sich der Christ. Aber auch dieses Gefühl hat seinen spitzigsten Stachel verloren, weil der Christ nicht an seine individuelle Verächtlichkeit glaubt: er ist böse als Mensch überhaupt und beruhigt sich ein Wenig bei dem Satze: Wir Alle sind Einer Art.
118. P e r s o n e n w e c h s e l . — Sobald eine Religion herrscht, hat sie alle Die zu ihren Gegnern, welche ihre ersten Jünger gewesen wären.
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Menschliches, Allzumenschliches I
119. S c h i c k s a l d e s C h r i s t e n t h u m s . — Das Christenthum entstand, um das Herz zu erleichtern; aber jetzt müsste es das H e r z erst beschweren, um es nachher erleichtern zu können. Folglich wird es zu Grunde gehen.
120. D e r B e w e i s d e r L u s t . — Die angenehme Meinung wird als wahr angenommen: diess ist der Beweis der Lust (oder, wie die Kirche sagt, der Beweis der Kraft), auf welchen alle Religionen so stolz sind, während sie sich dessen doch schämen sollten. Wenn der Glaube nicht selig machte, so würde er nicht geglaubt werden: wie wenig wird er also werth sein!
121. G e f ä h r l i c h e s S p i e l . — Wer jetzt der religiösen Empfindung wieder in sich Raum giebt, der muss sie dann auch wachsen lassen, er kann nicht anders. D a verändert sich allmählich sein Wesen, es bevorzugt das dem religiösen Element Anhängende, Benachbarte, der ganze Umkreis des Urtheilens und Empfindens wird umwölkt, mit religiösen Schatten überflogen. Die Empfindung kann nicht still stehen; man nehme sich also in Acht.
122. D i e b l i n d e n S c h ü l e r . — So lange Einer sehr gut die Stärke und Schwäche seiner Lehre, seiner Kunstart, seiner Religion kennt, ist deren Kraft noch gering. Der Schüler und Apostel, welcher f ü r die Schwäche der Lehre, der Religion und so weiter, kein Auge hat, geblendet durch das Ansehen des Meisters und durch seine Pietät gegen ihn, hat desshalb gewöhnlich
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mehr Macht, als der Meister. Ohne die blinden Schüler ist noch nie der Einfluss eines Mannes und seines Werkes gross geworden. Einer Erkenntniss zum Siege verhelfen heisst oft nur: sie so mit der Dummheit verschwistern, dass das Schwergewicht der letzteren auch den Sieg für die erstere erzwingt.
123. A b b r u c h d e r K i r c h e n . — Es ist nicht genug an Religion in der Welt, um die Religionen auch nur zu vernichten. 124. S ü n d l o s i g k e i t d e s M e n s c h e n . — H a t man begriffen, „wie die Sünde in die Welt gekommen" ist, nämlich durch Irrthümer der Vernunft, vermöge deren die Menschen unter einander, ja der einzelne Mensch sich selbst für viel schwärzer und böser nimmt, als es thatsächlich der Fall ist, so wird die ganze Empfindung sehr erleichtert, und Menschen und Welt erscheinen mitunter in einer Glorie von Harmlosigkeit, dass es Einem von Grund aus wohl dabei wird. Der Mensch ist inmitten der Natur immer das Kind an sich. Diess Kind träumt wohl einmal einen schweren beängstigenden Traum, wenn es aber die Augen aufschlägt, so sieht es sich immer wieder im Paradiese.
125. Irreligiosität der K ü n s t l e r . — Homer ist unter seinen Göttern so zu Hause und hat als Dichter ein solches Behagen an ihnen, dass er jedenfalls tief unreligiös gewesen sein muss; mit dem, was der Volksglaube ihm entgegenbrachte — einen dürftigen, rohen, zum Theil schauerlichen Aberglauben — verkehrte er so frei, wie der Bildhauer mit seinem Thon, also mit der selben Unbefangenheit, welche Aeschylus und Aristophanes
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Menschliches, Allzumenschliches I
besassen und durch welche sich in neuerer Zeit die grossen Künstler der Renaissance, sowie Shakespeare und Goethe auszeichneten.
126.
Kunst und K r a f t der falschen Interpret a t i o n . — Alle die Visionen, Schrecken, Ermattungen, Entzükkungen des Heiligen sind bekannte Krankheits-Zustände, welche von ihm, auf Grund eingewurzelter religiöser und psychologischer Irrthümer, nur ganz anders, nämlich nicht als Krankheiten, g e d e u t e t werden. — So ist vielleicht auch das Dämonion des Sokrates ein Ohrenleiden, das er sich, gemäss seiner herrschenden moralischen Denkungsart, nur anders, als es jetzt geschehen würde, a u s l e g t . Nicht anders steht es mit dem Wahnsinn und Wahnreden der Propheten und Orakelpriester; es ist immer der Grad von Wissen, Phantasie, Bestrebung, Moralität in Kopf und Herz der I n t e r p r e t e n , welcher daraus so viel g e m a c h t hat. Zu den grössten Wirkungen der Menschen, welche man Genie's und Heilige nennt, gehört es, dass sie sich Interpreten erzwingen, welche sie zum Heile der Menschheit m i s s v e r s t e h e n .
127.
V e r e h r u n g d e s W a h n s i n n s . — Weil man bemerkte, dass eine Erregung häufig den Kopf heller machte und glückliche Einfälle hervorrief, so meinte man, durdh die höchsten Erregungen werde man der glücklichsten Einfälle und Eingebungen theilhaftig: und so verehrte man den Wahnsinnigen als den Weisen und Orakelgebenden. Hier liegt ein falsdier Scfaluss zu Grunde.
3. Das religiöse Leben 125—130
123
128.
V e r h e i s s u n g e n d e r W i s s e n s c h a f t . — Die moderne Wissenschaft hat als Ziel: so wenig Schmerz wie möglich, so lange leben wie möglich, — also eine A r t von ewiger 5 Seligkeit, freilich eine sehr bescheidene im Vergleich mit den Verheissungen der Religionen. 129.
V e r b o t e n e F r e i g e b i g k e i t . — Es ist nicht genug Liebe und Güte in der Welt, um noch davon an eingebildete 10 Wesen wegschenken zu dürfen. 130.
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3°
F o r t l e b e n des r e l i g i ö s e n C u l t u s ' im Gern ü t h. — Die katholische Kirche, und vor ihr aller antike Cultus, beherrschte das ganze Bereich von Mitteln, durch welche der Mensch in ungewöhnliche Stimmungen versetzt wird und der kalten Berechnung des Vortheils oder dem reinen VernunftDenken entrissen wird. Eine durch tiefe Töne erzitternde Kirche, dumpfe, regelmässige, zurückhaltende Anrufe einer priesterlichen Schaar, welche ihre Spannung unwillkürlich auf die Gemeinde überträgt und sie fast angstvoll lauschen lässt, wie als wenn eben ein Wunder sich vorbereitete, der Anhauch der Architektur, welche als Wohnung einer Gottheit sich in's Unbestimmte ausreckt und in allen dunklen Räumen das SichRegen derselben fürchten lässt, — wer wollte solche Vorgänge den Menschen zurückbringen, wenn die Voraussetzungen dazu nicht mehr geglaubt werden? Aber die Resultate von dem Allen sind trotzdem nicht verloren: die innere Welt der erhabenen, gerührten, ahnungsvollen, tiefzerknirschten, hoffnungsseligen Stimmungen ist den Menschen vornehmlich durch den Cultus eingeboren worden; was jetzt davon in der Seele existirt, wurde damals, als er keimte, wuchs und blühte, gross gezüchtet.
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R e l i g i ö s e N a c h w e h e n . — Glaubt man sich noch so sehr der Religion entwöhnt zu haben, so ist es doch nicht in dem Grade geschehen, dass man nicht Freude hätte, religiösen Empfindungen und Stimmungen ohne begrifflichen Inhalt zu begegnen, zum Beispiel in der Musik; und wenn eine Philosophie uns die Berechtigung von metaphysischen Hoffnungen, von dem dorther zu erlangenden tiefen Frieden der Seele aufzeigt und zum Beispiel von „dem ganzen sichern Evangelium im Blick der Madonnen bei Rafael" spricht, so kommen wir solchen Aussprüchen und Darlegungen mit besonders herzlicher Stimmung entgegen: der Philosoph hat es hier leichter, zu beweisen, er entspricht mit dem, was er geben will, einem Herzen, welches gern nehmen will. Daran bemerkt man, wie die weniger bedachtsamen Freigeister eigentlich nur an den Dogmen Anstoss nehmen, aber recht wohl den Zauber der religiösen Empfindung kennen; es thut ihnen wehe, letztere fahren zu lassen, um der ersteren willen. — Die wissenschaftliche Philosophie muss sehr auf der H u t sein, nicht auf Grund jenes Bedürfnisses — eines gewordenen und folglich auch vergänglichen Bedürfnisses — Irrthümer einzuschmuggeln: selbst Logiker sprechen von „Ahnungen" der Wahrheit in Moral und Kunst (zum Beispiel von der Ahnung, „dass das Wesen der Dinge Eins ist"): was ihnen doch verboten sein sollte. Zwischen den sorgsam erschlossenen Wahrheiten und solchen „geahnten" Dingen bleibt unüberbrückbar die Kluft, dass jene dem Intellect, diese dem Bedürfniss verdankt werden. Der Hunger beweist nicht, dass es zu seiner Sättigung eine Speise g i e b t , aber er wünscht die Speise. „Ahnen" bedeutet nicht das Dasein einer Sache in irgend einem Grade erkennen, sondern dasselbe für möglich halten, insofern man sie wünscht oder fürchtet; die „Ahnung" trägt keinen Schritt weit in's Land der Gewissheit. — Man glaubt unwillkürlich, die religiös gefärbten Abschnitte einer Philosophie seien besser bewiesen, als die anderen; aber es ist im Grunde um-
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gekehrt, man hat nur den inneren Wunsch, dass es so sein m ö g e , — also dass das Beseligende auch das Wahre sei. Dieser Wunsch verleitet uns, schlechte Gründe als gute einzukaufen.
132. Von dem christlichen E r 1 ösun gsb edür f n i s s. — Bei sorgsamer Ueberlegung muss es möglich sein, dem Vorgange in der Seele eines Christen, welchen man Erlösungsbedürfniss nennt, eine Erklärung abzugewinnen, die frei von Mythologie ist: also eine rein psychologische. Bis jetzt sind freilich die psychologischen Erklärungen religiöser Zustände und Vorgänge in einigem Verrüfe gewesen, insoweit eine sich frei nennende Theologie auf diesem Gebiete ihr unerspriessliches Wesen trieb: denn bei ihr war es von vornherein, sowie es der Geist ihres Stifters, Schleiermacher's, vermuthen lässt, auf die Erhaltung der christlichen Religion und das Fortbestehen der christlichen Theologen abgesehen; als welche in der psychologischen Analysis der religiösen „Thatsachen" einen neuen Ankergrund und vor Allem eine neue Beschäftigung gewinnen sollten. Unbeirrt von solchen Vorgängern, wagen wir folgende Auslegung des bezeichneten Phänomens. Der Mensch ist sich gewisser Handlungen bewusst, welche in der gebräuchlichen Rangordnung der Handlungen tief stehen, ja er entdeckt in sich einen Hang zu dergleichen Handlungen, der ihm fast so unveränderlich wie sein ganzes Wesen erscheint. Wie gerne versuchte er sich in jener anderen Gattung von Handlungen, welche in der allgemeinen Schätzung als die obersten und höchsten anerkannt sind, wie gerne fühlte er sich voll des guten Bewusstseins, welches einer selbstlosen Denkweise folgen soll! Leider aber bleibt es eben bei diesem Wunsche: die Unzufriedenheit darüber, demselben nicht genügen zu können, kommt zu allen übrigen Arten von Unzufriedenheit hinzu, welche sein Lebensloos über-
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Menschliches, Allzumenschliches I
haupt oder die Folgen jener böse genannten Handlungen in ihm erregt haben; so dass eine tiefe Verstimmung entsteht, mit dem Ausblicke nach einem Arzte, der diese, und alle ihre Ursachen, zu heben vermöchte. — Dieser Zustand würde nicht so bitter empJ funden werden, wenn der Mensch sich nur mit anderen Menschen unbefangen vergliche: dann nämlich hätte er keinen Grund, mit sich in einem besonderen Maasse unzufrieden zu sein, er trüge eben nur an der allgemeinen Last der menschlichen Unbefriedigung und Unvollkommenheit. Aber er vergleicht sich io mit einem Wesen, welches allein jener Handlungen fähig ist, die unegoistisch genannt werden, und im fortwährenden Bewusstsein einer selbstlosen Denkweise lebt, mit Gott; dadurch, dass er in diesen hellen Spiegel schaut, erscheint ihm sein Wesen so trübe, so ungewöhnlich verzerrt. Sodann ängstigt ihn der i j Gedanke an das selbe Wesen, insofern dieses als strafende Gerechtigkeit vor seiner Phantasie schwebt: in allen möglichen kleinen und grossen Erlebnissen glaubt er seinen Zorn, seine Drohung zu erkennen, ja die Geisseischläge seines Richter- und Henkerthums schon vorzuempfinden. Wer hilft ihm in dieser Ge20 fahr, welche durch den Hinblick auf eine unermessliche Zeitdauer der Strafe an Grässlichkeit alle anderen Schrecknisse der Vorstellung überbietet?
133Bevor wir diesen Zustand in seinen weiteren Folgen uns vor1 5 legen, wollen wir es doch uns eingestehen, dass der Mensch in diesen Zustand nicht durch seine „Schuld" und „Sünde", sondern durch eine Reihe von Irrthümern der Vernunft gerathen ist, dass es der Fehler des Spiegels war, wenn ihm sein Wesen in jenem Grade dunkel und hassenswerth vorkam, und dass jener 3° Spiegel s e i n Werk, das sehr unvollkommene Werk der menschlichen Phantasie und Urtheilskraft war. Erstens ist ein Wesen, welches einzig rein unegoistischer Handlungen fähig
3. Das religiöse Leben 132—133
127
wäre, noch fabelhafter als der Vogel P h ö n i x ; es ist deutlich nicht einmal
vorzustellen, schon
desshalb, weil
der ganze Begriff
„unegoistische H a n d l u n g " bei strenger Untersuchung in die Luft verstiebt. N i e hat ein Mensch Etwas gethan, das allein für A n 5 dere und ohne jeden persönlichen Beweggrund gethan wäre; ja wie sollte er Etwas thun k ö n n e n ,
das ohne Bezug zu ihm
wäre, also ohne innere Nöthigung (welche ihren Grund doch in einem persönlichen Bedürfniss haben müsste)? Wie vermöchte das ego ohne ego zu handeln? — Ein G o t t , der dagegen 10
ganz
Liebe ist, wie gelegentlich angenommen wird, wäre keiner einzigen unegoistischen Handlung fähig: wobei man sich an einen Gedanken Lichtenberg^, der freilich einer niedrigeren Sphäre entnommen ist, erinnern sollte: „ W i r können unmöglich für Andere f ü h l e n , wie man zu sagen pflegt; wir fühlen nur für
15 uns. D e r Satz klingt hart, er ist es aber nicht, wenn er nur recht verstanden wird. Man
liebt weder Vater, noch Mutter, noch
Frau, noch K i n d , sondern die angenehmen Empfindungen, die sie uns machen", oder wie L a Rochefoucauld sagt: „si on croit aimer sa maitresse pour l'amour d'elle, on est bien trompe." 20 Wesshalb Handlungen der Liebe höher g e s c h ä t z t
werden,
als andere, nämlich nicht ihres Wesens, sondern ihrer Nützlichkeit halber, darüber vergleiche man die schon vorher erwähnten Untersuchungen findungen". 1
5
„über den Ursprung der moralischen
Sollte
aber
ein
Mensch
wünschen,
ganz
Empwie
jener G o t t , Liebe zu sein, Alles für Andere, Nichts für sich zu thun, zu wollen, so ist letzteres schon desshalb unmöglich, weil er s e h r
viel
für sich thun muss, um überhaupt Anderen
Etwas zu Liebe thun zu können. Sodann setzt es voraus, dass der Andere Egoist genug ist, um jene O p f e r , jenes Leben für ihn, 3° immer und immer wieder anzunehmen: so dass die Menschen der Liebe und Aufopferung ein Interesse an dem Fortbestehen der liebelosen und aufopferungsunfähigen Egoisten haben, und die höchste Moralität, um bestehen zu können, förmlich die E x i stenz der Unmoralität e r z w i n g e n
müsste (wodurch sie sich
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Menschliches, Allzumenschliches I
freilich selber aufheben würde). — Weiter: die Vorstellung eines Gottes beunruhigt und demüthigt so lange, als sie geglaubt wird, aber wie sie e n t s t a n d e n ist, darüber kann bei dem jetzigen Stande der völkervergleichenden Wissenschaft kein Zweifel mehr sein; und mit der Einsicht in jene Entstehung fällt jener Glaube dahin. Es geht dem Christen, welcher sein Wesen mit dem Gotte vergleicht, so, wie dem Don Quixote, der seine eigne Tapferkeit unterschätzt, weil er die Wunderthaten der Helden aus den Ritterromanen im Kopfe hat; der Maassstab, mit welchem in beiden Fällen gemessen wird, gehört in's Reich der Fabel. Fällt aber die Vorstellung des Gottes weg, so auch das Gefühl der „Sünde" als eines Vergehens gegen göttliche Vorschriften, als eines Fleckens an einem gottgeweihten Geschöpfe. Dann bleibt wahrscheinlich noch jener Unmuth übrig, welcher mit der Furcht vor Strafen der weltlichen Gerechtigkeit, oder vor der Missachtung der Menschen, sehr verwachsen und verwandt ist; der Unmuth der Gewissensbisse, der schärfste Stachel im Gefühl der Schuld, ist immerhin abgebrochen, wenn man einsieht, dass man sich durch seine Handlungen wohl gegen menschliches Herkommen, menschliche Satzungen und Ordnungen vergangen habe, aber damit noch nicht das „ewige Heil der Seele" und ihre Beziehung zur Gottheit gefährdet habe. Gelingt es dem Menschen zuletzt noch, die philosophische Ueberzeugung von der unbedingten Nothwendigkeit aller Handlungen und ihrer völligen Unverantwortlichkeit zu gewinnen und in Fleisch und Blut aufzunehmen, so verschwindet auch jener Rest von Gewissensbissen.
134.
Ist nun der Christ, wie gesagt, durch einige Irrthümer in das Gefühl der Selbstverachtung gerathen, also durch eine falsche unwissenschaftliche Auslegung seiner Handlungen und Empfindungen, so muss er mit höchstem Erstaunen bemerken, wie jener
3. Das religiöse Leben 1 3 3 — 1 3 5
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Zustand der Verachtung, der Gewissensbisse, der Unlust überhaupt, nicht anhält, wie gelegentlich Stunden kommen, wo ihm dies Alles von der Seele weggeweht ist und er sich wieder frei und muthig fühlt. In Wahrheit hat die Lust an sich selber das Wohlbehagen an der eigenen Kraft, im Bunde mit der nothwendigen Absdiwächung jeder tiefen Erregung, den Sieg davongetragen; der Mensch liebt sich wieder, er fühlt es, — aber gerade diese Liebe, diese neue Selbstschätzung, kommt ihm unglaublich vor, er kann in ihr allein das gänzlich unverdiente Herabströmen eines Gnadenglanzes von Oben sehen. Wenn er früher in allen Begebnissen Warnungen, Drohungen, Strafen und jede Art von Anzeichen des göttlichen Zornes zu erblicken glaubte, so d e u t e t er jetzt in seine Erfahrungen die göttliche Güte h i n e i n : diess Ereigniss kommt ihm liebevoll, jenes wie ein hülfreicher Fingerzeig, ein drittes und namentlich seine ganze freudige Stimmung als Beweis vor, dass Gott gnädig sei. Wie er früher im Zustande des Unmuthes namentlich seine Handlungen falsch ausdeutete, so jetzt namentlich seine Erlebnisse; die getröstete Stimmung fasst er als Wirkung einer ausser ihm waltenden Macht auf, die Liebe, mit der er sich im Grunde selbst liebt, erscheint als göttliche Liebe; Das, was er Gnade und Vorspiel der Erlösung nennt, ist in Wahrheit Selbstbegnadigung, Selbsterlösung.
135-
Also: eine bestimmte falsche Psychologie, eine gewisse Art von Phantastik in der Ausdeutung der Motive und Erlebnisse ist die nothwendige Voraussetzung davon, dass Einer zum Christen werde und das Bedürfniss der Erlösung empfinde. Mit der Einsicht in diese Verirrung der Vernunft und Phantasie hört man auf, Christ zu sein.
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Menschliches, Allzumensdiliches I 136.
Von der christlichen Askese und Heiligk e i t . — So sehr einzelne Denker sich bemüht haben, in den seltenen Erscheinungen der Moralität, welche man Askese und Heiligkeit zu nennen pflegt, ein Wunderding hinzustellen, dem die Leuchte einer vernünftigen Erklärung in's Gesicht zu halten, beinahe schon Frevel und Entweihung sei: so stark ist hinwiederum die Verführung zu diesem Frevel. Ein mächtiger Antrieb der N a t u r hat zu allen Zeiten dazu geführt, gegen jene Erscheinungen überhaupt zu protestiren; die Wissenschaft, insofern sie, wie früher gesagt, eine Nachahmung der N a t u r ist, erlaubt sich wenigstens gegen die behauptete Unerklärbarkeit, ja Unnahbarkeit derselben Einsprache zu erheben. Freilich gelang es ihr bis jetzt nicht: jene Erscheinungen sind immer noch unerklärt, zum grossen Vergnügen der erwähnten Verehrer des moralisch-Wunderbaren. Denn, allgemein gesprochen: das U n erklärte soll durchaus unerklärlich, das Unerklärliche durchaus unnatürlich, übernatürlich, wunderhaft sein, — so lautet die Forderung in den Seelen aller Religiösen und Metaphysiker (auch der Künstler, falls sie zugleich Denker sind); während der wissenschaftliche Mensch in dieser Forderung das „böse Princip" sieht. — Die allgemeine erste Wahrscheinlichkeit, auf welche man bei Betrachtung der Askese und Heiligkeit zuerst geräth, ist diese, dass ihre N a t u r eine c o m p l i c i r t e ist: denn fast überall, innerhalb der physischen Welt sowohl wie in der moralischen, hat man mit Glück das angeblich Wunderbare auf das Complicirte und mehrfach Bedingte zurückgeführt. Wagen wir es also, einzelne Antriebe in der Seele der Heiligen und Asketen zunächst zu isoliren und zum Schluss sie in einander uns verwachsen zu denken. 137-
Es giebt einen T r o t z g e g e n s i c h s e l b s t , zu dessen sublimirtesten Aeusserungen manche Formen der Askese ge-
3. Das religiöse Leben 136—138
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hören. Gewisse Menschen haben nämlich ein so hohes Bedürfniss, ihre Gewalt und Herrschsucht auszuüben, dass sie, in Ermangelung anderer Objecte, oder, weil es ihnen sonst immer misslungen ist, endlich darauf verfallen, gewisse Theile ihres eigenen Wesens, gleichsam Ausschnitte oder Stufen ihrer selbst, zu tyrannisiren. So bekennt sich mancher Denker zu Ansichten, welche ersichtlich nicht dazu dienen, seinen Ruf zu vermehren oder zu verbessern; mancher beschwört förmlich die Missachtung Anderer auf sich herab, während er es leicht hätte, durch Stillschweigen ein geachteter Mann zu bleiben; andere widerrufen frühere Meinungen und scheuen es nicht, fürderhin inconsequent genannt zu werden: im Gegentheil, sie bemühen sich darum und benehmen sich wie übermüthige Reiter, welche das Pferd, erst wenn es wild geworden, mit Schweiss bedeckt, scheu gemacht ist, am liebsten mögen. So steigt der Mensch auf gefährlichen Wegen in die höchsten Gebirge, um über seine Aengstlichkeit und seine schlotternden Kniee Hohn zu lachen; so bekennt sich der Philosoph zu Ansichten der Askese, Demuth und Heiligkeit, in deren Glänze sein eigenes Bild auf das ärgste verhässlicht wird. Dieses Zerbrechen seiner selbst, dieser Spott über die eigene Natur, dieses spernere se sperni, aus dem die Religionen so viel gemacht haben, ist eigentlich ein sehr hoher Grad der Eitelkeit. Die ganze Moral der Bergpredigt gehört hieher: der Mensch hat eine wahre Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele nachher zu vergöttern. In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Theil von sich als Gott an und hat dazu nöthig, den übrigen Theil zu diabolisiren. —
138.
Der Mensch ist nicht zu allen Stunden gleich moralisch, diess ist bekannt: beurtheilt man seine Moralität nach der Fähigkeit zu grosser aufopfernder Erschliessung und Selbstverleugnung
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(welche, dauernd und zur Gewohnheit geworden, Heiligkeit ist), so ist er im A f f e c t am moralischsten; die höhere Erregung reicht ihm ganz neue Motive dar, welcher er, nüchtern und kalt wie sonst, vielleicht nicht einmal fähig zu sein glaubte. Wie kommt diess? Wahrscheinlich aus der Nachbarschaft alles Grossen und hoch Erregenden; ist der Mensch einmal in eine ausserordentliche Spannung gebracht, so kann er ebensowohl zu einer furchtbaren Rache, als zu einer furchtbaren Brechung seines Rachebedürfnisses sich entschliessen. Er will, unter dem Einflüsse der gewaltigen Emotion, jedenfalls das Grosse, Gewaltige, Ungeheure, und wenn er zufällig merkt, dass ihm die Aufopferung seiner selbst ebenso oder noch mehr genugthut, als die Opferung des Anderen, so wählt er sie. Eigentlich liegt ihm also nur an der Entladung seiner Emotion; da fasst er wohl, um seine Spannung zu erleichtern, die Speere der Feinde zusammen und begräbt sie in seine Brust. Dass in der Selbstverleugnung, und nicht nur in der Rache, etwas Grosses liege, musste der Menschheit erst in langer Gewöhnung anerzogen werden; eine Gottheit, welche sich selbst opfert, war das stärkste und wirkungsvollste Symbol dieser Art von Grösse. Als die Besiegung des schwerst zu besiegenden Feindes, die plötzliche Bemeisterung eines Affectes, — als Diess e r s c h e i n t diese Verleugnung; und insofern gilt sie als der Gipfel des Moralischen. In Wahrheit handelt es sich bei ihr um die Vertauschung der einen Vorstellung mit der andern, während das Gemüth seine gleiche Höhe, seinen gleichen Fluthstand, behält. Ernüchterte, vom Affect ausruhende Menschen verstehen die Moralität jener Augenblicke nicht mehr, aber die Bewunderung Aller, die jene miterlebten, hält sie aufrecht; der Stolz ist ihr Trost, wenn der Affect und das Verständniss ihrer That weicht. Also: im Grunde sind auch jene Handlungen der Selbstverleugnung nicht moralisch, insofern sie nicht streng in Hinsicht auf Andere gethan sind; vielmehr giebt der Andere dem hochgespannten Gemüthe nur eine Gelegenheit, sich zu erleichtern, durch jene Verleugnung.
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In mancher Hinsicht sucht sich auch der Asket das Leben leicht zu machen, und zwar gewöhnlich durch die vollkommene Unterordnung unter einen fremden Willen oder unter ein umfängliches Gesetz und Ritual; etwa in der Art, wie der Brahmane durchaus Nichts seiner eigenen Bestimmung überlässt und sich in jeder Minute durch eine heilige Vorschrift bestimmt. Diese U n t e r o r d n u n g ist ein mächtiges Mittel, um über sich H e r r zu werden; man ist beschäftigt, also ohne Langeweile, und hat doch keine Anregung des Eigenwillens und der Leidenschaft dabei; nach vollbrachter That fehlt das Gefühl der Verantwortung und damit die Qual der Reue. Man hat ein f ü r alle Mal auf eigenen Willen verzichtet, und diess ist leichter, als nur gelegentlich einmal zu verzichten; sowie es auch leichter ist, einer Begierde ganz zu entsagen, als in ihr Maass zu halten. Wenn wir uns der jetzigen Stellung des Mannes zum Staate erinnern, so finden wir auch da, dass der unbedingte Gehorsam bequemer ist, als der bedingte. Der Heilige also erleichtert sich durch jenes völlige Aufgeben der Persönlichkeit sein Leben, und man täuscht sich, wenn man in jenem Phänomen das höchste Heldenstück der Moralität bewundert. Es ist in jedem Falle schwerer, seine Persönlichkeit ohne Schwanken und Unklarheit durchzusetzen, als sich von ihr in der erwähnten Weise zu lösen; überdiess verlangt es viel mehr Geist und Nachdenken.
140.
Nachdem ich, in vielen der schwerer erklärbaren Handlungen, Aeusserungen jener Lust an der E m o t i o n a n s i c h gefunden habe, möchte ich auch in Betreff der Selbstverachtung, welche zu den Merkmalen der Heiligkeit gehört, und ebenso in den Handlungen der Selbstquälerei (durch Hunger und Geisseischläge, Verrenkungen der Glieder, Erheuchelung des Wahnsinns) ein Mittel erkennen, durch welches jene Naturen gegen
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die allgemeine Ermüdung ihres Lebenswillens (ihrer Nerven) ankämpfen: sie bedienen sich der schmerzhaftesten Reizmittel und Grausamkeiten, um für Zeiten wenigstens aus jener D u m p f heit und Langenweile aufzutauchen, in welche ihre grosse geistige Indolenz und jene geschilderte Unterordnung unter einen fremden Willen sie so häufig verfallen lässt.
141. D a s gewöhnlichste Mittel, welches der Asket und Heilige anwendet, um sich das Leben doch noch erträglich und unterhaltend zu machen, besteht in gelegentlichem Kriegführen und in dem Wechsel von Sieg und Niederlage. D a z u braucht er einen Gegner und findet ihn in dem sogenannten „inneren Feinde". N a m e n t lich nützt er seinen H a n g zur Eitelkeit, Ehr- und Herrschsucht, sodann seine sinnlichen Begierden aus, um sein Leben wie eine fortgesetzte Schlacht und sich wie ein Schlachtfeld ansehen zu dürfen, auf dem gute und böse Geister mit wechselndem Erfolge ringen. Bekanntlich wird die sinnliche Phantasie durch die Regelmässigkeit des geschlechtlichen Verkehrs gemässigt, ja fast unterdrückt, umgekehrt, durch Enthaltsamkeit oder Unordnung im Verkehre entfesselt und wüst. Die Phantasie vieler christlichen Heiligen war in ungewöhnlichem Maasse schmutzig; vermöge jener Theorie, dass diese Begierden wirkliche Dämonen seien, die in ihnen wütheten, fühlten sie sich nicht allzusehr verantwortlich dabei; diesem Gefühle verdanken wir die so belehrende Aufrichtigkeit ihrer Selbstzeugnisse. Es war in ihrem Interesse, dass dieser K a m p f in irgend einem G r a d e immer unterhalten wurde, weil durch ihn, wie gesagt, ihr ödes Leben unterhalten wurde. D a m i t der K a m p f aber wichtig genug erscheine, um andauernde Theilnahme und Bewunderung bei den Nicht-Heiligen zu erregen, musste die Sinnlichkeit immer mehr verketzert und gebrandmarkt werden, ja die G e f a h r ewiger Verdammnis wurde so eng an diese Dinge geknüpft, dass höchst-
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wahrscheinlich durch ganze Zeitalter hindurch die Christen mit bösem Gewissen Kinder zeugten; wodurch gewiss der Menschheit ein grosser Schade angethan worden ist. U n d doch steht hier die Wahrheit ganz auf dem K o p f e : was für die Wahrheit besonders unschicklich ist. Z w a r hatte das Christenthum gesagt: jeder Mensch sei in Sünden empfangen und geboren, und im unausstehlichen Superlativ-Christenthume des Calderon hatte sich dieser Gedanke noch einmal zusammengeknotet und verschlungen, so dass er die verdrehteste Paradoxie wagte, die es giebt, in dem bekannten Verse: die grösste Schuld des Menschen ist, dass er geboren ward. In allen pessimistischen Religionen wird der Zeugungsact als schlecht an sich empfunden, aber keineswegs ist diese Empfindung eine allgemein-menschliche; selbst nicht einmal das Urtheil aller Pessimisten ist sich hierin gleich. Empedokles zum Beispiel weiss gar Nichts vom Beschämenden, Teuflischen, Sündhaften in allen erotischen Dingen; er sieht vielmehr auf der grossen Wiese des Unheils eine einzige heil- und hoffnungsvolle Erscheinung, die Aphrodite; sie gilt ihm als Bürgschaft, dass der Streit nicht ewig herrschen, sondern einem milderen D ä m o n einmal das Scepter überreichen werde. Die christlichen Pessimisten der Praxis hatten, wie gesagt, ein Interesse daran, dass eine andere Meinung in der Herrschaft blieb; sie brauchten f ü r die Einsamkeit und die geistige Wüstenei ihres Lebens einen immer lebendigen Feind: und einen allgemein anerkannten Feind, durch dessen B e k ä m p f u n g und Ueberwältigung sie dem Nicht-Heiligen sich immer von Neuem wieder als halb unbegreifliche, übernatürliche Wesen darstellten. Wenn dieser Feind endlich, in Folge ihrer Lebensweise und ihrer zerstörten Gesundheit, die Flucht für immer ergriff, so verstanden sie es sofort, ihr Inneres mit neuen Dämonen bevölkert zu s e h e n . D a s A u f - und Niederschwanken der Wagschalen Hochmuth und Demuth unterhielt ihre grübelnden K ö p f e so gut, wie der Wechsel von Begierde
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und Seelenruhe. Damals diente die Psychologie dazu, alles Menschliche nicht nur zu verdächtigen, sondern zu lästern, zu geissein, zu kreuzigen; man w o l l t e sich möglichst schlecht und böse finden, man suchte die Angst um das Heil der Seele, die Verzweiflung an der eignen Kraft. Alles Natürliche, an welches der Mensch die Vorstellung des Schlechten, Sündhaften anhängt (wie er es zum Beispiel noch jetzt in Betreff des Erotischen gewöhnt ist), belästigt, verdüstert die Phantasie, giebt einen scheuen Blick, lässt den Menschen mit sich selber hadern und macht ihn unsicher und vertrauenslos; selbst seine Träume bekommen einen Beigeschmack des gequälten Gewissens. Und doch ist dieses Leiden am Natürlichen in der Realität der Dinge völlig unbegründet: es ist nur die Folge von Meinungen ü b e r die Dinge. Man erkennt leicht, wie die Menschen dadurch schlechter werden, dass sie das unvermeidlich-Natürliche als schlecht bezeichnen und später immer als so beschaffen empfinden. Es ist der Kunstgriff der Religion und jener Metaphysiker, welche den Menschen als böse und sündhaft von N a t u r wollen, ihm die N a tur zu verdächtigen und so ihn selber schlecht zu m a c h e n : denn so lernt er sich als schlecht empfinden, da er das Kleid der N a t u r nicht ausziehen kann. Allmählich fühlt er sich, bei einem langen Leben im Natürlichen, von einer solchen Last von Sünden bedrückt, dass übernatürliche Mächte nöthig werden, um diese Last heben zu können; und damit ist das schon besprochene Erlösungsbedürfniss auf den Schauplatz getreten, welches gar keiner wirklichen, sondern nur einer eingebildeten Sündhaftigkeit entspricht. Man gehe die einzelnen moralischen Aufstellungen der Urkunden des Christenthums durch und man wird überall finden, dass die Anforderungen überspannt sind, damit der Mensch ihnen nicht genügen k ö n n e ; die Absicht ist nicht, dass er moralischer w e r d e , sondern dass er sich m ö g l i c h s t s ü n d h a f t fühle. Wenn dem Menschen diess Gefühl nicht a n g e n e h m gewesen wäre, — wozu hätte er eine solche Vorstellung erzeugt und sich so lange an sie gehängt? Wie in der
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antiken Welt eine unermessliche Kraft von Geist und Erfindungsgabe verwendet worden ist, um die Freude am Leben durch festliche Culte zu mehren: so ist in der Zeit des Christenthums ebenfalls unermesslich viel Geist einem andern Streben geopfert worden: der Mensch sollte auf alle Weise sich sündhaft fühlen und dadurch überhaupt erregt, belebt, beseelt werden. Erregen, beleben, beseelen, um jeden Preis — ist das nicht das Losungswort einer erschlafften, überreifen, übercultivirten Zeit? Der Kreis aller natürlichen Empfindungen war hundertmal durchlaufen, die Seele war ihrer müde geworden: da erfanden der Heilige und der Asket eine neue Gattung von Lebensreizen. Sie stellten sich vor Aller Augen hin, nicht eigentlich zur Nachahmung f ü r Viele, sondern als schauderhaftes und doch entzückendes Schauspiel, welches an jenen Gränzen zwischen Welt und Ueberwelt aufgeführt wurde, wo Jedermann damals bald himmlische Lichtblicke, bald unheimliche, aus der Tiefe lodernde Flammenzungen zu erblicken glaubte. Das Auge des Heiligen, hingerichtet auf die in jedem Betracht furchtbare Bedeutung des kurzen Erdenlebens, auf die N ä h e der letzten Entscheidung über endlose neue Lebensstrecken, diess verkohlende Auge, in einem halb vernichteten Leibe, machte die Menschen der alten Welt bis in alle Tiefen erzittern; hinblicken, schaudernd wegblicken, von Neuem den Reiz des Schauspiels spüren, ihm nachgeben, sich an ihm ersättigen, bis die Seele in Gluth und Fieberfrost erbebt, — das war die letzte L u s t , w e l c h e d a s A l t e r t h u m e r f a n d , nachdem es selbst gegen den Anblick von Thier- und Menschenkämpfen stumpf geworden war.
142. Um das Gesagte zusammenzufassen: jener Seelenzustand, dessen sich der Heilige oder Heiligwerdende erfreut, setzt sich aus Elementen zusammen, welche wir Alle recht wohl kennen, nur dass sie sich unter dem Einfluss anderer als religiöser Vor-
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Menschliches, Allzumenschliches I
Stellungen anders gefärbt zeigen und dann den Tadel der Menschen ebenso stark zu erfahren pflegen, wie sie, in jener Verbrämung mit Religion und letzter Bedeutsamkeit des Daseins, auf Bewunderung, ja Anbetung rechnen dürfen, — mindestens in früheren Zeiten rechnen durften. Bald übt der Heilige jenen Trotz gegen sich selbst, der ein naher Verwandter der Herrschsucht ist und auch dem Einsamsten noch das Gefühl der Macht giebt; bald springt seine angeschwellte Empfindung aus dem Verlangen, seine Leidenschaften dahinschiessen zu lassen, über in das Verlangen, sie wie wilde Rosse zusammenstürzen zu machen, unter dem mächtigen Druck einer stolzen Seele; bald will er ein völliges Aufhören aller störenden, quälenden, reizenden Empfindungen, einen wachen Schlaf, ein dauerndes Ausruhen im Schoosse einer dumpfen, thier- und pflanzenhaften Indolenz; bald sucht er den Kampf und entzündet ihn in sich, weil ihm die Langeweile ihr gähnendes Gesicht entgegenhält: er geisselt seine Selbstvergötterung mit Selbstverachtung und Grausamkeit, er freut sich an dem wilden Aufruhre seiner Begierden, an dem scharfen Schmerz der Sünde, ja an der Vorstellung des Verlorenseins, er versteht es, seinem Affect, zum Beispiel dem der äussersten Herrschsucht, einen Fallstrick zu legen, so dass er in den der äussersten Erniedrigung übergeht und seine aufgehetzte Seele durch diesen Contrast aus allen Fugen gerissen wird; und zuletzt: wenn es ihn gar nach Visionen, Gesprächen mit Todten oder göttlichen Wesen gelüstet, so ist es im Grunde eine seltene Art von Wollust, welche er begehrt, aber vielleicht jene Wollust, in der alle anderen in einen Knoten zusammengeschlungen sind. Novalis, eine der Autoritäten in Fragen der Heiligkeit durch Erfahrung und Instinct, spricht das ganze Geheimniss einmal mit naiver Freude aus: „Es ist wunderbar genug, dass nicht längst die Association von Wollust, Religion und Grausamkeit die Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat."
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Nicht Das, was der Heilige ist, sondern Das, was er in den Augen der Nicht-Heiligen b e d e u t e t , giebt ihm seinen welthistorischen Werth. Dadurch, dass man sich über ihn irrte, dass man seine Seelenzustände falsch auslegte und ihn von sich so stark als möglich abtrennte, als etwas durchaus Unvergleichliches u n d fremdartig-IJebermenschliches: dadurch gewann er die ausserordentliche Kraft, mit welcher er die Phantasie ganzer Völker, ganzer Zeiten beherrschen konnte. Er selbst kannte sich nicht; er selbst verstand die Schriftzüge seiner Stimmungen, Neigungen, Handlungen nach einer Kunst der Interpretation, welche ebenso überspannt und künstlich war, wie die pneumatische Interpretation der Bibel. Das Verschrobene und Kranke in seiner N a t u r , mit ihrer Zusammenkoppelung von geistiger Armuth, schlechtem Wissen, verdorbener Gesundheit, überreizten Nerven, blieb seinem Blick ebenso wie dem seiner Beschauer verborgen. Er war kein besonders guter Mensch, noch weniger ein besonders weiser Mensch: aber er b e d e u t e t e Etwas, das über menschliches Maass in Güte und Weisheit hinausreiche. Der Glaube an ihn unterstützte den Glauben an Göttliches und Wunderhaftes, an einen religiösen Sinn alles Daseins, an einen bevorstehenden letzten Tag des Gerichtes. In dem abendlichen Glänze einer Weltuntergangs-Sonne, welche über die christlichen Völker hinleuchtete, wuchs die Schattengestalt des Heiligen in's Ungeheure: ja bis zu einer solchen Höhe, dass selbst in unserer Zeit, die nicht mehr an Gott glaubt, es noch genug Denker giebt, welche an den Heiligen glauben.
144.
Es versteht sich von selbst, dass dieser Zeichnung des Heiligen, welche nach dem Durchschnitt der ganzen Gattung entworfen ist, manche Zeichnung entgegengestellt werden kann, welche eine angenehmere Empfindung hervorbringen möchte. Einzelne
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Ausnahmen jener Gattung heben sich heraus, sei es durch grosse Milde und Menschenfreundlichkeit, sei es durch den Zauber ungewöhnlicher Thatkraft; andere sind im höchsten G r a d e anziehend, weil bestimmte Wahnvorstellungen über ihr ganzes Wesen Lichtströme ausgiessen: wie es zum Beispiel mit dem berühmten Stifter des Christenthums der Fall ist, der sich für den eingeborenen Sohn Gottes hielt und desshalb sich sündlos fühlte; so dass er durch eine Einbildung — die man nicht zu hart beurtheilen möge, weil das ganze Alterthum von Göttersöhnen wimmelt — das selbe Ziel erreichte, das Gefühl völliger Sündlosigkeit, völliger Unverantwortlichkeit, welches jetzt durch die Wissenschaft Jedermann sich erwerben kann. — Ebenfalls habe ich abgesehen von den indischen Heiligen, welche auf einer Zwischenstufe zwischen dem christlichen Heiligen und dem griechischen Philosophen stehen und insofern keinen reinen Typus darstellen: die Erkenntniss, die Wissenschaft — soweit es eine solche gab —, die Erhebung über die anderen Menschen durch die logische Zucht und Schulung des Denkens wurde bei den Buddhaisten als ein Kennzeichen der Heiligkeit ebenso gefordert, wie die selben Eigenschaften in der christlichen Welt, als Kennzeichen der Unheiligkeit, abgelehnt und verketzert werden.
Viertes Hauptstück. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller. 145.
D a s V o l l k o m m e n e soll n i c h t g e w o r d e n sein. — Wir sind gewöhnt, bei allem Vollkommenen die Frage nach dem Werden zu unterlassen: sondern uns des Gegenwärtigen zu freuen, wie als ob es auf einen Zauberschlag aus dem Boden aufgestiegen sei. Wahrscheinlich stehen wir hier noch unter der Nachwirkung einer uralten mythologischen Empfindung. Es ist uns b e i n a h e noch so zu Muthe (zum Beispiel in einem griechischen Tempel wie der von Pästum), als ob eines Morgens ein Gott spielend aus solchen ungeheuren Lasten sein Wohnhaus gebaut habe: anderemale als ob eine Seele urplötzlich in einen Stein hineingezaubert sei und nun durch ihn reden wolle. Der Künstler weiss, dass sein Werk nur voll wirkt, wenn es den Glauben an eine Improvisation, an eine wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung erregt; und so hilft er wohl dieser Illusion nach und führt jene Elemente der begeisterten Unruhe, der blind greifenden Unordnung, des aufhorchenden Träumens beim Beginn der Schöpfung in die Kunst ein, als Trugmittel, um die Seele des Schauers oder Hörers so zu stimmen, dass sie an das plötzliche Hervorspringen des Vollkommenen glaubt. — Die Wissenschaft der Kunst hat dieser Illusion, wie es sich von selbst versteht, auf das bestimmteste zu widersprechen und die Fehlschlüsse und Verwöhnungen des Intellects aufzuzeigen, vermöge welcher er dem Künstler in das Netz läuft.
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146. Der Wahrheitssinn d e s K ü n s t l e r s . — Der Künstler hat in Hinsicht auf das Erkennen der Wahrheiten eine schwächere Moralität, als der Denker; er will sich die glänzenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens durchaus nicht nehmen lassen und wehrt sich gegen nüchterne, schlichte Methoden und Resultate. Scheinbar kämpft er für die höhere Würde und Bedeutung des Menschen; in Wahrheit will er die für seine Kunst w i r k u n g s v o l l s t e n Voraussetzungen nicht aufgeben, also das Phantastische, Mythische, Unsichere, Extreme, den Sinn für das Symbolische, die Ueberschätzung der Person, den Glauben an etwas Wunderartiges im Genius: er hält also die Fortdauer seiner A r t des Schaffens für wichtiger, als die wissenschaftliche Hingebung an das Wahre in jeder Gestalt, erscheine diese auch noch so schlicht.
147. D i e K u n s t a l s T o d t e n b e s c h w ö r e r i n . — Die Kunst versieht nebenbei die A u f g a b e zu conserviren, auch wohl erloschene, verblichene Vorstellungen ein Wenig wieder aufzufärben; sie flicht, wenn sie diese A u f g a b e löst, ein Band um verschiedene Zeitalter und macht deren Geister wiederkehren. Z w a r ist es nur ein Scheinleben wie über Gräbern, welches hierdurch entsteht, oder wie die Wiederkehr geliebter Todten im Traume, aber wenigstens auf Augenblicke wird die alte E m p findung noch einmal rege und das H e r z klopft nach einem sonst vergessenen Tacte. N u n muss man wegen dieses allgemeinen Nutzens der Kunst dem Künstler selber es nachsehen, wenn er nicht in den vordersten Reihen der Aufklärung und der fortschreitenden V e r m ä n n l i c h u n g der Menschheit steht: er ist zeitlebens ein K i n d oder ein Jüngling geblieben und auf dem Standpunct zurückgehalten, auf welchem er von seinem Kunsttriebe überfallen wurde; Empfindungen der ersten Lebens-
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stufen stehen aber zugestandenermaassen denen früherer Zeitläufte näher, als denen des gegenwärtigen Jahrhunderts. Unwillkürlich wird es zu seiner Aufgabe, die Menschheit zu verkindlichen; diess ist sein Ruhm und seine Begränztheit.
148.
D i c h t e r a l s E r l e i c h t e r e r d e s L e b e n s . — Die Dichter, insofern auch sie das Leben der Menschen erleichtern wollen, wenden den Blick entweder von der mühseligen Gegenwart ab oder verhelfen der Gegenwart durch ein Licht, das sie von der Vergangenheit herstrahlen machen, zu neuen Farben. U m diess zu können, müssen sie selbst in manchen Hinsichten rückwärts gewendete Wesen sein: so dass man sie als Brücken zu ganz fernen Zeiten u n d Vorstellungen, zu absterbenden oder abgestorbenen Religionen und Culturen gebrauchen kann. Sie sind eigentlich immer und nothwendig E p i g o n e n . Es ist freilich von ihren Mitteln zur Erleichterung des Lebens einiges Ungünstige zu sagen: sie beschwichtigen und heilen nur vorläufig, nur f ü r den Augenblick; sie halten sogar die Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung ihrer Zustände zu arbeiten, indem sie gerade die Leidenschaft der Unbefriedigten, welche zur That drängen, aufheben und palliativisch entladen.
149.
D e r l a n g s a m e P f e i l d e r S c h ö n h e i t . — Die edelste Art der Schönheit ist die, welche nicht auf einmal hinreisst, welche nicht stürmische und berauschende Angriffe macht (eine solche erweckt leicht Ekel), sondern jene langsam einsickernde, welche man fast unbemerkt mit sich fortträgt und die Einem im Traum einmal wiederbegegnet, endlich aber, nachdem sie lange mit Bescheidenheit an unserm Herzen gelegen, von uns ganz Besitz nimmt, unser Auge mit Thränen, unser H e r z mit Sehn-
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sucht füllt. — Wonach sehnen wir uns beim Anblick der Schönheit? Darnach, schön zu sein: wir wähnen, es müsse viel Glück damit verbunden sein. — Aber das ist ein Irrthum.
150. B e s e e l u n g d e r K u n s t . — Die Kunst erhebt ihr H a u p t , wo die Religionen nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selber tiefer, seelenvoller, so dass sie Erhebung und Begeisterung mitzutheilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte. Der zum Strome angewachsene Reichthum des religiösen Gefühls bricht immer wieder aus und will sich neue Reiche erobern: aber die wachsende Aufklärung hat die Dogmen der Religion erschüttert und ein gründliches Misstrauen eingeflösst: so wirft sich das Gefühl, durch die Aufklärung aus der religiösen Sphäre hinausgedrängt, in die Kunst; in einzelnen Fällen auch auf das politische Leben, ja selbst direct auf die Wissenschaft. Ueberall, wo man an menschlichen Bestrebungen eine höhere düstere Färbung wahrnimmt, darf man vermuthen, dass Geistergrauen, Weihrauchduft und Kirchenschatten daran hängen geblieben sind.
151. W o d u r c h d a s M e t r u m v e r s c h ö n e r t . — Das Metrum legt Flor über die Realität; es veranlasst einige Künstlichkeit des Geredes und Unreinheit des Denkens; durch den Schatten, den es auf den Gedanken wirft, verdeckt es bald, bald hebt es hervor. Wie Schatten nöthig ist, um zu verschönern, so ist das „Dumpfe" nöthig, um zu verdeutlichen. — Die Kunst macht den Anblick des Lebens erträglich, dadurch dass sie den Flor des unreinen Denkens über dasselbe legt.
4. A u s d e r Seele d e r K ü n s t l e r u n d Schriftsteller 1 4 9 — 1 5 4
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IJ2.
K u n s t d e r h ä s s l i c h e n S e e l e . — Man zieht der Kunst viel zu enge Schranken, wenn man verlangt, dass nur die geordnete, sittlich im Gleichgewicht schwebende Seele sich in ihr aussprechen dürfe. Wie in den bildenden Künsten, so auch giebt es in der Musik und Dichtung eine Kunst der hässlichen Seele, neben der Kunst der schönen Seele; und die mächtigsten Wirkungen der Kunst, das Seelenbrechen, Steinebewegen und Thierevermenschlichen ist vielleicht gerade jener Kunst am meisten gelungen.
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Die K u n s t m a c h t dem D e n k e r das Herz s c h w e r . — Wie stark das metaphysische Bedürfniss ist und wie sich noch zuletzt die N a t u r den Abschied von ihm schwer macht, kann man daraus entnehmen, dass noch im Freigeiste, wenn er sich alles Metaphysischen entschlagen hat, die höchsten Wirkungen der Kunst leicht ein Miterklingen der lange verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite hervorbringen, sei es zum Beispiel, dass er bei einer Stelle der neunten Symphonie Beethoven's sich über der Erde in einem Sternendome schweben fühlt, mit dem Traume der U n s t e r b l i c h k e i t im Herzen: alle Sterne scheinen um ihn zu flimmern und die Erde immer tiefer hinabzusinken. — Wird er sich dieses Zustandes bewusst, so fühlt er wohl einen tiefen Stich im Herzen und seufzt nach dem Menschen, welcher ihm die verlorene Geliebte, nenne man sie nun Religion oder Metaphysik, zurückführe. In solchen Augenblicken wird sein intellectualer C h a r a k ter auf die Probe gestellt.
154.
Mit
dem
Leben
spielen.
— Die Leichtigkeit
und
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Leichtfertigkeit der homerischen Phantasie war nöthig, um das übermässig leidenschaftliche Gemüth und den überscharfen Verstand des Griechen zu beschwichtigen und zeitweilig aufzuheben. Spricht bei ihnen der Verstand: wie herbe und grausam erscheint dann das Leben! Sie täuschen sich nicht, aber sie umspielen absichtlich das Leben mit Lügen. Simonides rieth seinen Landsleuten, das Leben wie ein Spiel zu nehmen; der Ernst war ihnen als Schmerz allzubekannt (das Elend der Menschen ist ja das Thema, über welches die Götter so gern singen hören) und sie wussten, dass einzig durch die Kunst selbst das Elend zum Genüsse werden könne. Zur Strafe f ü r diese Einsicht waren sie aber von der Lust, zu fabuliren, so geplagt, dass es ihnen im Alltagsleben schwer wurde, sich von Lug und Trug frei zu halten, wie alles Poetenvolk eine solche Lust an der Lüge hat und obendrein noch die Unschuld dabei. Die benachbarten Völker fanden das wohl mitunter zum Verzweifeln.
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G l a u b e a n I n s p i r a t i o n . — Die Künstler haben ein Interesse daran, dass man an die plötzlichen Eingebungen, die sogenannten Inspirationen glaubt; als ob die Idee des Kunstwerks, der Dichtung, der Grundgedanke einer Philosophie, wie ein Gnadenschein vom Himmel herableuchte. In Wahrheit producirt die Phantasie des guten Künstlers oder Denkers fortwährend, Gutes, Mittelmässiges und Schlechtes, aber seine U r t h e i l s k r a f t , höchst geschärft und geübt, verwirft, wählt aus, knüpft zusammen; wie man jetzt aus den Notizbüchern Beethoven's ersieht, dass er die herrlichsten Melodien allmählich zusammengetragen und aus vielfachen Ansätzen gewissermaassen ausgelesen hat. Wer weniger streng scheidet und sich der nachbildenden Erinnerung gern überlässt, der wird unter Umständen ein grosser Improvisator werden können; aber die künstlerische Improvisation steht tief im Verhältniss zum ernst
4. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller 154—157
147
und mühevoll erlesenen Kunstgedanken. Alle Grossen waren grosse Arbeiter, unermüdlich nicht nur im Erfinden, sondern auch im Verwerfen, Sichten, Umgestalten, Ordnen.
IJ6.
J
N o c h m a l s d i e I n s p i r a t i o n . — Wenn sich die Productionskraft eine Zeit lang angestaut hat und am Ausfliessen durch ein Hemmnis gehindert worden ist, dann giebt es endlich einen so plötzlichen Erguss, als ob eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes inneres Arbeiten, also ein Wunder 10 sich vollziehe. Diess macht die bekannte Täuschung aus, an deren Fortbestehen, wie gesagt, das Interesse aller Künstler ein wenig zu sehr hängt. Das Capital hat sich eben nur a n g e h ä u f t , es ist nicht auf einmal vom Himmel gefallen. Es giebt übrigens auch anderwärts solche scheinbare Inspiration, zum 15 Beispiel im Bereiche der Güte, der Tugend, des Lasters.
15 7D i e L e i d e n des G e n i u s ' u n d ihr W e r t h . —Der künstlerische Genius will Freude machen, aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so fehlen ihm leicht die Geniessenden; 2o er bietet Speisen, aber man will sie nicht. Das giebt ihm ein unter Umständen lächerlich-rührendes Pathos; denn im Grunde hat er kein Recht, die Menschen zum Vergnügen zu zwingen. Seine Pfeife tönt, aber Niemand will tanzen: kann das tragisch sein? — Vielleicht doch. Zuletzt hat er als Compensation f ü r 2 5 diese Entbehrung mehr Vergnügen beim Schaffen, als die übrigen Menschen bei allen anderen Gattungen der Thätigkeit haben. Man empfindet seine Leiden übertrieben, weil der Ton seiner Klage lauter, sein Mund beredter ist; und m i t u n t e r sind seine Leiden wirklich sehr gross, aber nur desshalb, weil sein 3° Ehrgeiz, sein Neid so gross ist. Der wissende Genius, wie Kepler
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und Spinoza, ist f ü r gewöhnlich nicht so begehrlich und macht von seinen wirklich grösseren Leiden und Entbehrungen kein solches Aufheben. Er darf mit grösserer Sicherheit auf die Nachwelt rechnen und sich der Gegenwart entschlagen; während ein Künstler, der diess thut, immer ein verzweifeltes Spiel spielt, bei dem ihm wehe um's Herz werden muss. In ganz seltenen Fällen, — dann, wenn im selben Individuum der Genius des Könnens und des Erkennens und der moralische Genius sich verschmelzen — kommt zu den erwähnten Schmerzen noch die Gattung von Schmerzen hinzu, welche als die absonderlichsten Ausnahmen in der Welt zu nehmen sind: die ausser- und überpersönlichen, einem Volke, der Menschheit, der gesammten Cultur, allem leidenden Dasein zugewandten Empfindungen: welche ihren Werth durch die Verbindung mit besonders schwierigen und entlegenen Erkenntnissen erlangen (Mitleid an sich ist wenig werth). — Aber welchen Maassstab, welche Goldwage giebt es f ü r deren Aechtheit? Ist es nicht fast geboten, misstrauisch gegen Alle zu sein, welche von Empfindungen dieser Art bei sich reden?
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V e r h ä n g n i s s d e r G r ö s s e . — Jeder grossen Erscheinung folgt die Entartung nach, namentlich im Bereiche der Kunst. Das Vorbild des Grossen reizt die eitleren Naturen zum äusserlichen Nachmachen oder zum Ueberbieten; dazu haben alle grossen Begabungen das Verhängnissvolle an sich, viele schwächere K r ä f t e und Keime zu erdrücken und um sich herum gleichsam die N a t u r zu veröden. Der glücklichste Fall in der Entwickelung einer Kunst ist der, dass mehrere Genie's sich gegenseitig in Schranken halten; bei diesem K a m p f e wird gewöhnlich den schwächeren und zarteren Naturen auch Luft und Licht gegönnt.
4. A u s der Seele der K ü n s t l e r u n d Schriftsteller 1 5 7 — 1 6 0
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15 9D i e K u n s t d e m K ü n s t l e r g e f ä h r l i c h . — Wenn die Kunst ein Individuum gewaltig ergreift, dann zieht es dasselbe zu Anschauungen solcher Zeiten zurück, wo die Kunst am kräf5 tigsten blühte, sie wirkt dann zurückbildend. Der Künstler kommt immer mehr in eine Verehrung der plötzlichen Erregungen, glaubt an Götter und Dämonen, durchseelt die N a t u r , hasst die Wissenschaft, wird wechselnd in seinen Stimmungen, wie die Menschen des Alterthums, und begehrt einen Umsturz aller Ver10 hältnisse, welche der K u n s t nicht günstig sind, und zwar diess mit der Heftigkeit und Unbilligkeit eines Kindes. An sich ist nun der Künstler schon ein zurückbleibendes Wesen, weil er beim Spiel stehen bleibt, welches zur Jugend und Kindheit gehört: dazu kömmt noch, dass er allmählich in andere Zeiten zurückgebildet wird. So entsteht zuletzt ein heftiger Antagonismus zwischen ihm und den gleichalterigen Menschen seiner Periode und ein trübes Ende; so wie, nach den Erzählungen der Alten, H o m e r und Aeschylus in Melancholie zuletzt lebten und starben.
160. G e s c h a f f e n e M e n s c h e n . — Wenn man sagt, der D r a matiker (und der Künstler überhaupt) s c h a f f e wirklich Charaktere, so ist diess eine schöne Täuschung und Uebertreibung, in deren Dasein und Verbreitung die Kunst einen ihrer ungewollten, gleichsam überschüssigen Triumphe feiert. * 5 In der T h a t verstehen wir von einem wirklichen lebendigen Menschen nicht viel und generalisiren sehr oberflächlich, wenn wir ihm diesen und jenen Charakter zuschreiben: dieser unserer sehr u n v o l l k o m m e n e n Stellung zum Menschen entspricht nun der Dichter, indem er ebenso oberflächliche Entwürfe 3° zu Menschen macht (in diesem Sinne „schafft"), als unsere Erkenntniss der Menschen oberflächlich ist. Es ist viel Blendwerk bei diesen geschaffenen Charakteren der Künstler; es sind durch-
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Menschliches, Allzumenschliches I
aus keine leibhaftigen Naturproducte, sondern ähnlich wie die gemalten Menschen ein Wenig allzu dünn, sie vertragen den Anblick aus der Nähe nicht. Gar wenn man sagt, der Charakter des gewöhnlichen lebendigen Menschen widerspreche sich häufig, der vom Dramatiker geschaffene sei das Urbild, welches der N a tur vorgeschwebt habe, so ist diess ganz falsch. Ein wirklicher Mensch ist etwas ganz und gar N o t h w e n d i g e s (selbst in jenen sogenannten Widersprüchen), aber wir erkennen diese N o t wendigkeit nicht immer. Der erdichtete Mensch, das Phantasma, will etwas Nothwendiges bedeuten, doch nur vor Solchen, welche auch einen wirklichen Menschen nur in einer rohen, unnatürlichen Simplification verstehen: so dass ein paar starke, oft wiederholte Züge, mit sehr viel Licht darauf und sehr viel Schatten und Halbdunkel herum, ihren Ansprüchen vollständig genügen. Sie sind also leicht bereit, das Phantasma als wirklichen, nothwendigen Menschen zu behandeln, weil sie gewöhnt sind, beim wirklichen Menschen ein Phantasma, einen Schattenriss, eine willkürliche Abbreviatur f ü r das Ganze zu nehmen. — Dass gar der Maler und der Bildhauer die „Idee" des Menschen ausdrücke, ist eitel Phantasterei und Sinnentrug: man wird vom Auge tyrannisirt, wenn man so Etwas sagt, da dieses vom menschlichen Leibe selbst nur die Oberfläche, die H a u t sieht; der innere Leib gehört aber eben so sehr zur Idee. Die bildende Kunst will Charaktere auf der H a u t sichtbar werden lassen; die redende Kunst nimmt das Wort zu dem selben Zwecke, sie bildet den Charakter im Laute ab. Die Kunst geht von der natürlichen U n w i s s e n h e i t des Menschen über sein Inneres (in Leib und Charakter) aus: sie ist nicht für Physiker und Philosophen da.
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S e l b s t ü b e r s c h ä t z u n g im G l a u b e n an K ü n s t l e r u n d P h i l o s o p h e n . — Wir Alle meinen, es sei die
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Güte eines Kunstwerks, eines Künstlers bewiesen, wenn er uns ergreift, erschüttert. Aber da müsste doch erst u n s e r e e i g e n e G ü t e in Urtheil und Empfindung bewiesen sein: was nicht der Fall ist. Wer hat mehr im Reiche der bildenden K u n s t ergriffen und entzückt, als Bernini, wer mächtiger gewirkt, als jener nachdemosthenische Rhetor, welcher den asianischen Stil einführte und durch zwei Jahrhunderte zur Herrschaft brachte? Diese Herrschaft über ganze Jahrhunderte beweist Nichts für die Güte und dauernde Gültigkeit eines Stils; desshalb soll man nicht zu sicher in seinem guten Glauben an irgend einen Künstler sein: ein solcher ist ja nicht nur der Glaube an die Wahrhaftigkeit unserer Empfindung, sondern auch an die Unfehlbarkeit unseres U r theils, während Urtheil oder Empfindung oder beides selber zu grob oder zu fein geartet, überspannt oder roh sein können. Auch die Segnungen und Beseligungen einer Philosophie, einer Religion beweisen für ihre Wahrheit Nichts: ebensowenig als das Glück, welches der Irrsinnige von seiner fixen Idee her geniesst, Etwas für die Vernünftigkeit dieser Idee beweist.
162. C u l t u s d e s G e n i u s ' a u s E i t e l k e i t . — Weil wir gut von uns denken, aber doch durchaus nicht von uns erwarten, dass wir je den Entwurf eines Rafaelischen Gemäldes oder eine solche Scene wie die eines Shakespeare'schen D r a m a ' s machen könnten, reden wir uns ein, das Vermögen dazu sei ganz übermässig wunderbar, ein ganz seltener Zufall, oder, wenn wir noch religiös empfinden, eine Begnadigung von Oben. So fördert unsere Eitelkeit, unsere Selbstliebe, den Cultus des Genius': denn nur wenn dieser ganz fern von uns gedacht ist, als ein miraculum, verletzt er nicht (selbst Goethe, der Neidlose, nannte Shakespeare seinen Stern der fernsten H ö h e ; wobei man sich jenes Verses erinnern m a g : „die Sterne, die begehrt man nicht"). Aber von jenen Einflüsterungen unserer Eitelkeit abgesehen, so erscheint
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3°
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die Thätigkeit des Genie's durchaus nicht als etwas Grundverschiedenes von der Thätigkeit des mechanischen Erfinders, des astronomischen oder historischen Gelehrten, des Meisters der Taktik. Alle diese Thätigkeiten erklären sich, wenn man sich Menschen vergegenwärtigt, deren Denken in Einer Richtung thätig ist, die Alles als Stoff benützen, die immer ihrem innern Leben und dem Anderer mit Eifer zusehen, die überall Vorbilder, Anreizungen erblicken, die in der Combination ihrer Mittel nicht müde werden. Das Genie thut auch Nichts, als dass es erst Steine setzen, dann bauen lernt, dass es immer nach Stoff sucht und immer an ihm herumformt. Jede Thätigkeit des Menschen ist zum Verwundern complicirt, nicht nur die des Genie's: aber keine ist ein „Wunder." — Woher nun der Glaube, dass es allein beim Künstler, Redner und Philosophen Genie gebe? dass nur sie „Intuition" haben? (womit man ihnen eine Art von WunderAugenglas zuschreibt, mit dem sie direct in's „Wesen" sehen!) Die Menschen sprechen ersichtlich dort allein von Genius, wo ihnen die Wirkungen des grossen Intellectes am angenehmsten sind und sie wiederum nicht Neid empfinden wollen. Jemanden „göttlich" nennen heisst „hier brauchen wir nicht zu wetteifern". Sodann: alles Fertige, Vollkommene wird angestaunt, alles Werdende unterschätzt. N u n kann Niemand beim Werke des Künstlers zusehen, wie es g e w o r d e n ist; das ist sein Vortheil, denn überall, wo man das Werden sehen kann, wird man etwas abgekühlt. Die vollendete Kunst der Darstellung weist alles Denken an das Werden ab; es tyrannisirt als gegenwärtige Vollkommenheit. Desshalb gelten die Künstler der Darstellung vornehmlich als genial, nicht aber die wissenschaftlichen Menschen. In Wahrheit ist jene Schätzung und diese Unterschätzung nur eine Kinderei der Vernunft.
163. D e r E r n s t d e s H a n d w e r k s . — Redet nur nicht von
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Begabung, angeborenen Talenten! Es sind grosse Männer aller A r t zu nennen, welche wenig begabt waren. Aber sie b e k a m e n Grösse, wurden „Genie's" (wie man sagt), durch Eigenschaften, von deren Mangel N i e m a n d gern redet, der sich ihrer bewusst ist: sie hatten Alle jenen tüchtigen Handwerker-Ernst, welcher erst lernt, die Theile vollkommen zu bilden, bis er es wagt, ein grosses Ganzes zu machen; sie gaben sich Zeit dazu, weil sie mehr Lust am Gutmachen des Kleinen, Nebensächlichen hatten, als an dem Effecte eines blendenden Ganzen. D a s Recept zum Beispiel, wie Einer ein guter Novellist werden kann, ist leicht zu geben, aber die Ausführung setzt Eigenschaften voraus, über die man hinwegzusehen pflegt, wenn man sagt „ich habe nicht genug T a l e n t " . M a n mache nur hundert und mehr E n t w ü r f e zu N o v e l len, keinen länger als zwei Seiten, doch von solcher Deutlichkeit, dass jedes Wort darin nothwendig ist; man schreibe täglich Anekdoten nieder, bis man es lernt, ihre prägnanteste, wirkungsvollste Form zu finden, man sei unermüdlich im Sammeln und Ausmalen menschlicher Typen und Charaktere, man erzähle vor Allem so oft es möglich ist und höre erzählen, mit scharfem Auge und Ohr für die Wirkung auf die anderen Anwesenden, man reise wie ein Landschaftsmaler und Costümzeichner, man excerpire sich aus einzelnen Wissenschaften alles Das, was künstlerische Wirkungen macht, wenn es gut dargestellt wird, man denke endlich über die Motive der menschlichen Handlungen nach, verschmähe keinen Fingerzeig der Belehrung hierüber und sei ein Sammler von dergleichen Dingen bei T a g und Nacht. In dieser mannichfachen Uebung lasse man einige zehn J a h r e vorübergehen: was dann aber in der Werkstätte geschaffen wird, darf auch hinaus in das Licht der Strasse. — Wie machen es aber die Meisten? Sie fangen nicht mit dem Theile, sondern mit dem Ganzen an. Sie thun vielleicht einmal einen guten Griff, erregen A u f merksamkeit und thun von da an immer schlechtere Griffe, aus guten, natürlichen Gründen. — Mitunter, wenn Vernunft und Charakter fehlen, um einen solchen künstlerischen Lebensplan
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Menschliches, A l l z u m e n s c h l i d i e s I
zu gestalten, übernimmt das Schicksal und die N o t h die Stelle derselben und führt den zukünftigen Meister schrittweise durch alle Bedingungen seines Handwerks.
164. 5
Gefahr und Gewinn im C u l t u s des Gen i u s ' . — Der Glaube an grosse, überlegene, fruchtbare Geister ist nicht nothwendig, aber sehr häufig noch mit jenem ganzoder halbreligiösen Aberglauben verbunden, dass jene Geister übermenschlichen Ursprungs seien und gewisse wunderbare Vermögen besässen, vermittelst deren sie ihrer Erkenntnisse auf ganz anderem Wege theilhaftig würden, als die übrigen Menschen. Man schreibt ihnen wohl einen unmittelbaren Blick in das Wesen der Welt, gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung, zu und glaubt, dass sie ohne die Mühsal und Strenge der Wissenschaft, vermöge dieses wunderbaren Seherblickes, etwas Endgültiges und Entscheidendes über Mensch und Welt mittheilen könnten. So lange das Wunder im Bereiche der Erkenntniss noch Gläubige findet, kann man vielleicht zugeben, dass dabei für die Gläubigen selber ein Nutzen herauskomme, insofern diese durch ihre unbedingte Unterordnung unter die grossen Geister, ihrem eigenen Geiste für die Zeit der Entwickelung die beste Disciplin und Schule verschaffen. Dagegen ist mindestens fraglich, ob der Aberglaube vom Genie, von seinen Vorrechten und Sondervermögen für das Genie selber von N u t zen sei, wenn er in ihm sich einwurzelt. Es ist jedenfalls ein gefährliches Anzeichen, wenn den Menschen jener Schauder vor sich selbst überfällt, sei es nun jener berühmte Cäsaren-Schauder oder der hier in Betracht kommende Genie-Schauder; wenn der Opferduft, welchen man billigerweise allein einem Gotte bringt, 3° dem Genie in's Gehirn dringt, so dass er zu schwanken und sich für etwas Uebermenschliches zu halten beginnt. Die langsamen Folgen sind: das Gefühl der UnVerantwortlichkeit, der excep-
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tionellen Rechte, der Glaube, schon durch seinen Umgang zu begnadigen, wahnsinnige Wuth bei dem Versuche, ihn mit Anderen zu vergleichen oder gar ihn niedriger zu taxiren und das Verfehlte seines Werkes in's Licht zu setzen. Dadurch, dass er aufhört, Kritik gegen sich selbst zu üben, fällt zuletzt aus seinem Gefieder eine der Schwungfedern nach der anderen aus: jener Aberglaube gräbt die Wurzeln seiner Kraft an und macht ihn vielleicht gar zum Heuchler, nachdem seine Kraft von ihm gewichen ist. Für grosse Geister selbst ist es also wahrscheinlich nützlicher, wenn sie über ihre Kraft und deren Herkunft zur Einsicht kommen, wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen Eigenschaften in ihnen zusammengeflossen sind, welche Glücksumstände hinzutraten: also einmal anhaltende Energie, entschlossene Hinwendung zu einzelnen Zielen, grosser persönlicher Muth, sodann das Glück einer Erziehung, welche die besten Lehrer, Vorbilder, Methoden frühzeitig darbot. Freilich, wenn ihr Ziel ist, die grösstmögliche W i r k u n g zu machen, so hat die Unklarheit über sich selbst und jene Beigabe eines halben Wahnsinns immer viel gethan; denn bewundert und beneidet hat man zu allen Zeiten gerade jene Kraft an ihnen, vermöge deren sie die Menschen willenlos machen und zum Wahne fortreissen, dass übernatürliche Führer vor ihnen her giengen. Ja, es erhebt und begeistert die Menschen, Jemanden im Besitz übernatürlicher K r ä f t e zu glauben: insofern hat der Wahnsinn, wie Plato sagt, die grössten Segnungen über die Menschen gebracht. — In einzelnen seltenen Fällen mag dieses Stück Wahnsinn wohl auch das Mittel gewesen sein, durch welches eine solche nach allen Seiten hin excessive N a t u r fest zusammengehalten wurde: auch im Leben der Individuen haben die Wahnvorstellungen häufig den Werth von Heilmitteln, welche an sich Gifte sind; doch zeigt sich endlich, bei jedem „Genie", das an seine Göttlichkeit glaubt, das Gift in dem Grade, als das „Genie" alt wird: man möge sich zum Beispiel Napoleon's erinnern, dessen Wesen sicherlich gerade durch seinen Glauben an sich und seinen
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Menschliches, Allzumenschliches I
Stern und durch die aus ihm fliessende Verachtung der Menschen zu der mächtigen Einheit zusammenwuchs, welche ihn aus allen modernen Menschen heraushebt, bis endlich aber dieser selbe Glaube in einen fast wahnsinnigen Fatalismus übergieng, ihn seines Schnell- und Scharfblickes beraubte und die Ursache seines Unterganges wurde.
165.
D a s G e n i e u n d d a s N i c h t i g e . — Gerade die originellen, aus sich schöpfenden Köpfe unter den Künstlern können unter Umständen das ganz Leere und Schaale hervorbringen, während die abhängigeren Naturen, die sogenannten Talente, voller Erinnerungen an alles mögliche Gute stecken und auch im Zustand der Schwäche etwas Leidliches produciren. Sind die Originellen aber von sich selber verlassen, so giebt die Erinnerung ihnen keine H ü l f e : sie werden leer.
166. D a s P u b l i c u m . — Von der Tragödie begehrt das Volk eigentlich nicht mehr, als recht gerührt zu werden, um sich einmal ausweinen zu können; der Artist dagegen, der die neue Tragödie sieht, hat seine Freude an den geistreichen technischen Erfindungen und Kunstgriffen, an der Handhabung und Vertheilung des Stoffes, an der neuen Wendung alter Motive, alter Gedanken. Seine Stellung ist die ästhetische Stellung zum Kunstwerk, die des Schaffenden; die erstbeschriebene, mit alleiniger Rücksicht auf den Stoff, die des Volkes. Von dem Menschen dazwischen ist nicht zu reden, er ist weder Volk noch Artist und weiss nicht, was er will: so ist auch seine Freude unklar und gering.
4. Aus der Seele der K ü n s t l e r u n d Schriftsteller 164—169
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167.
Artistische Erziehung d e s P u b l i c u m s. — Wenn das selbe Motiv nicht hundertfältig durch verschiedene Meister behandelt wird, lernt das Publicum nicht über das Interesse des Stoffes hinauskommen; aber zuletzt wird es selbst die Nuancen, die zarten, neuen Erfindungen in der Behandlung dieses Motives fassen und geniessen, wenn es also das Motiv längst aus zahlreichen Bearbeitungen kennt und dabei keinen Reiz der Neuheit, der Spannung mehr empfindet.
168. K ü n s t l e r und sein G e f o l g e müssen S c h r i t t h a l t e n . — Der Fortgang von einer Stufe des Stils zur andern muss so langsam sein, dass nicht nur die Künstler, sondern auch die Zuhörer und Zuschauer diesen Fortgang mitmachen und genau wissen, was vorgeht. Sonst entsteht auf einmal jene grosse Kluft zwischen dem Künstler, der auf abgelegener Höhe seine Werke schafft, und dem Publicum, welches nicht mehr zu jener Höhe hinaufkann und endlich missmuthig wieder tiefer hinabsteigt. Denn wenn der Künstler sein Publicum nicht mehr hebt, so sinkt es schnell abwärts, und zwar stürzt es um so tiefer und gefährlicher, je höher es ein Genius getragen hat, dem Adler vergleichbar, aus dessen Fängen die in die Wolken hinaufgetragene Schildkröte zu ihrem Unheil hinabfällt.
169.
H e r k u n f t des K o m i s c h e n . — Wenn man erwägt, dass der Mensch manche hunderttausend Jahre lang ein im höchsten Grade der Furcht zugängliches Thier war und dass alles Plötzliche, Unerwartete ihn kampfbereit, vielleicht todesbereit sein hiess, ja dass selbst später, in socialen Verhältnissen, alle Sicherheit auf dem Erwarteten, auf dem Herkommen in
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Menschliches, Allzumenschliches I
Meinung und Thätigkeit beruhte, so darf man sich nicht wundern, dass bei allem Plötzlichen, Unerwarteten in Wort und That, wenn es ohne Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen wird, in's Gegentheil der Furcht übergeht: 5 das vor Angst zitternde, zusammengekrümmte Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit, — der Mensch lacht. Diesen Uebergang aus momentaner Angst in kurz dauernden Uebermuth nennt man das K o m i s c h e . Dagegen geht im Phänomen des Tragischen der Mensch schnell aus grossem, dauerndem Uebermuth in grosse Angst über; da aber unter Sterblichen der grosse dauernde Uebermuth viel seltener, als der Anlass zur Angst ist, so giebt es viel mehr des Komischen, als des Tragischen in der Welt; man lacht viel öfter, als dass man erschüttert ist.
170. 1
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K ü n s t l e r - E h r g e i z . — Die griechischen Künstler, zum Beispiel die Tragiker dichteten, um zu siegen; ihre ganze Kunst ist nicht ohne Wettkampf zu denken: die hesiodische gute Eris, der Ehrgeiz, gab ihrem Genius die Flügel. N u n verlangte dieser Ehrgeiz vor Allem, dass ihr Werk die höchste Vortreff20 lichkeit vor i h r e n e i g e n e n A u g e n erhalte, so wie s i e also die Vortrefflichkeit verstanden, ohne Rücksicht auf einen herrschenden Geschmack und die allgemeine Meinung über das Vortreff liehe an einem Kunstwerk; und so blieben Aeschylus und Euripides lange Zeit ohne Erfolg, bis sie sich endlich Kunst25 richter e r z o g e n hatten, welche ihr Werk nach den Maassstäben würdigten, welche sie selber anlegten. Somit erstreben sie den Sieg über Nebenbuhler nach ihrer eigenen Schätzung, vor ihrem eigenen Richterstuhl, sie wollen wirklich vortrefflicher s e i n ; dann fordern sie von Aussen her Zustimmung zu dieser 3° eigenen Schätzung, Bestätigung ihres Urtheils. Ehre erstreben heisst hier „sich überlegen machen und wünschen, dass es auch öffentlich so erscheine". Fehlt das Erstere und wird das Zweit©
4. A u s der Seele d e r K ü n s t l e r u n d Schriftsteller 1 6 9 — 1 7 2
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trotzdem begehrt, so spricht man von E i t e l k e i t . Fehlt das Letztere und wird es nicht vermisst, so redet man von S t o l z .
171. Das Nothwendige a m K u n s t w e r k . — Die, welche so viel von dem Nothwendigen an einem Kunstwerk reden, übertreiben, wenn sie Künstler sind, in majorem artis gloriam, oder wenn sie Laien sind, aus Unkenntniss. Die Formen eines Kunstwerkes, welche seine Gedanken zum Reden bringen, also seine A r t zu sprechen sind, haben immer etwas Lässliches, wie alle A r t Sprache. Der Bildhauer kann viele kleine Züge hinzuthun oder weglassen: ebenso der Darsteller, sei es ein Schauspieler oder, in Betreff der Musik, ein Virtuos oder Dirigent. Diese vielen kleinen Züge und Ausfeilungen machen ihm heute Vergnügen, morgen nicht, sie sind mehr des Künstlers als der Kunst wegen da, denn auch er bedarf, bei der Strenge und Selbstbezwingung, welche die Darstellung des Hauptgedankens von ihm fordert, gelegentlich des Zuckerbrodes und der Spielsachen, um nicht mürrisch zu werden.
172. D e n M e i s t e r v e r g e s s e n m a c h e n . — Der Clavierspieler, der das Werk eines Meisters zum Vortrag bringt, wird am besten gespielt haben, wenn er den Meister vergessen Hess und wenn es so erschien, als ob er eine Geschichte seines Lebens erzähle oder jetzt eben Etwas erlebe. Freilich: wenn er nichts Bedeutendes i s t , wird Jedermann seine Geschwätzigkeit verwünschen, mit der er uns aus seinem Leben erzählt. Also muss er verstehen, die Phantasie des Zuhörers für sich einzunehmen. Daraus wiederum erklären sich alle Schwächen und Narrheiten des „Virtuosenthums".
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Menschliches, Allzumenschliches I
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C o r r i g e r l a f o r t u n e . — Es giebt schlimme Zufälligkeiten im Leben grosser Künstler, welche zum Beispiel den Maler zwingen, sein bedeutendstes Bild nur als flüchtigen Gedanken zu skizziren oder zum Beispiel Beethoven zwangen, uns in manchen grossen Sonaten (wie in der grossen B-dur) nur den ungenügenden Ciavierauszug einer Symphonie zu hinterlassen. Hier soll der späterkommende Künstler das Leben der Grossen nachträglich zu corrigiren suchen: was zum Beispiel Der thun würde, welcher, als ein Meister aller Orchesterwirkungen, uns jene, dem Clavier-Scheintode verfallene Symphonie zum Leben erweckte. 174.
V e r k l e i n e r n . — Manche Dinge, Ereignisse oder Personen, vertragen es nicht, im kleinen Maassstabe behandelt zu werden. Man kann die Laokoon-Gruppe nicht zu einer Nippesfigur verkleinern; sie hat Grösse nothwendig. Aber viel seltener ist es, dass etwas von N a t u r Kleines die Vergrösserung verträgt; wesshalb es Biographen immer noch eher gelingen wird, einen grossen Mann klein darzustellen, als einen kleinen gross.
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Sinnlichkeit in der Kunst der Gegenw a r t . — Die Künstler verrechnen sich jetzt häufig, wenn sie auf eine sinnliche Wirkung ihrer Kunstwerke hinarbeiten; denn ihre Zuschauer oder Zuhörer haben nicht mehr ihre vollen Sinne und gerathen, ganz wider die Absicht des Künstlers, durch sein Kunstwerk in eine „Heiligkeit" der Empfindung, welche der Langweiligkeit nahe verwandt ist. • — Ihre Sinnlichkeit fängt vielleicht dort an, wo die des Künstlers gerade aufhört, sie begegnen sich also höchstens an Einem Puncte.
4. Aus der Seele der K ü n s t l e r u n d Schriftsteller 173—178
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1/6.
S h a k e s p e a r e a l s M o r a l i s t . — Shakespeare hat über die Leidenschaften viel nachgedacht und wohl von seinem Temperamente her zu vielen einen sehr nahen Zugang gehabt (Dramatiker sind im Allgemeinen ziemlich böse Menschen). Aber er vermochte nicht, wie Montaigne, darüber zu reden, sondern legte die Beobachtungen ü b e r die Passionen den passionirten Figuren in den Mund: was zwar wider die N a t u r ist, aber seine Dramen so gedankenvoll macht, dass sie alle anderen leer erscheinen lassen und leicht einen allgemeinen Widerwillen gegen sie erwecken. — Die Sentenzen Schiller's (welchen fast immer falsche oder unbedeutende Einfälle zu Grunde liegen) sind eben Theatersentenzen und wirken als solche sehr stark: während die Sentenzen Shakespeare's seinem Vorbilde Montaigne Ehre machen und ganz ernsthafte Gedanken in geschliffener Form enthalten, desshalb aber f ü r die Augen des Theaterpublicums zu fern und zu fein, also unwirksam sind.
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S i c h g u t z u G e h ö r b r i n g e n . — Man muss nicht nur verstehen, gut zu spielen, sondern auch sich gut zu Gehör zu bringen. Die Geige in der H a n d des grössten Meisters giebt nur ein Gezirp von sich, wenn der Raum zu gross ist; man kann da den Meister mit jedem Stümper verwechseln.
178.
Das U n v o l l s t ä n d i g e als das W i r k s a m e . — Wie Relieffiguren dadurch so stark auf die Phantasie wirken, dass sie gleichsam auf dem Wege sind, aus der Wand herauszutreten und plötzlich, irgend wodurch gehemmt, H a l t machen: so ist mitunter die reliefartig unvollständige Darstellung eines Gedankens, einer ganzen Philosophie wirksamer, als die erschöp-
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fende Ausführung: man überlässt der Arbeit des Beschauers mehr, er wird aufgeregt, das, was in so starkem Licht und Dunkel vor ihm sich abhebt, fortzubilden, zu Ende zu denken und jenes Hemmniss selber zu überwinden, welches ihrem völligen Heraustreten bis dahin hinderlich war.
I
79G e g e n d i e O r i g i n a l e n . — Wenn die Kunst sich in den abgetragensten Stoff kleidet, erkennt man sie am besten als Kunst.
180. C o l l e c t i v g e i s t . — Ein guter Schriftsteller hat nicht nur seinen eigenen Geist, sondern auch noch den Geist seiner Freunde.
181. Z w e i e r l e i V e r k e n n u n g . — Das Unglück scharfsinniger und klarer Schriftsteller ist, dass man sie für flach nimmt und desshalb ihnen keine Mühe zuwendet: und das Glück der unklaren, dass der Leser sich an ihnen abmüht und die Freude über seinen Eifer ihnen zu Gute schreibt.
182. Verhältniss z u r W i s s e n s c h a f t . — Alle Die haben kein wirkliches Interesse an einer Wissenschaft, welche erst dann anfangen, f ü r sie warm zu werden, wenn sie selbst Entdeckungen in ihr gemacht haben.
4. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller 178—188
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183. D e r S c h l ü s s e l . — Der eine Gedanke, auf den ein bedeutender Mensch, zum Gelächter und Spott der Unbedeutenden, grossen Werth legt, ist für ihn ein Schlüssel zu verborgenen Schatzkammern, für Jene nicht mehr, als ein Stück alten Eisens.
184. U n ü b e r s e t z b a r . — Es ist weder das Beste, noch das Schlechteste an einem Buche, was an ihm unübersetzbar ist.
I8J.
P a r a d o x i e n d e s A u t o r s . — Die sogenannten Paradoxien des Autors, an welchen ein Leser Anstoss nimmt, stehen häufig gar nicht im Buche des Autors, sondern im Kopfe des Lesers.
186. W i t z . — Die witzigsten Autoren erzeugen das kaum bemerkbarste Lächeln.
187. D i e A n t i t h e s e . — Die Antithese ist die enge Pforte, durch welche sich am liebsten der Irrthum zur Wahrheit schleicht.
188. D e n k e r a l s S t i l i s t e n . — Die meisten Denker schreiben schlecht, weil sie uns nicht nur ihre Gedanken, sondern auch das Denken der Gedanken mittheilen.
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Menschliches, Allzumenschliches I
189. G e d a n k e n i m G e d i c h t . — Der Dichter führt seine Gedanken festlich daher, auf dem Wagen des Rhythmus': gewöhnlich desshalb, weil diese zu Fuss nicht gehen können.
190. S ü n d e w i d e r d e n G e i s t d e s L e s e r s . — Wenn der Autor sein Talent verleugnet, blos um sich dem Leser gleich zu stellen, so begeht er die einzige Todsünde, welche ihm Jener nie verzeiht: im Fall er nämlich Etwas davon merkt. Man darf dem Menschen sonst alles Böse nachsagen: aber in der Art, w i e man es sagt, muss man seine Eitelkeit wieder aufzurichten wissen.
191. G r ä n z e d e r E h r l i c h k e i t . — Auch dem ehrlichsten Schriftsteller entfällt ein Wort zu viel, wenn er eine Periode abrunden will.
192. D e r b e s t e A u t o r . — Der beste Autor wird der sein, welcher sich schämt, Schriftsteller zu werden.
193Drakonisches Gesetz gegen Schriftsteller. — Man sollte einen Schriftsteller als einen Missethäter ansehen, der nur in den seltensten Fällen Freisprechung oder Begnadigung verdient: das wäre ein Mittel gegen das Ueberhandnehmen der Bücher.
4. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller 189—195
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194. D i e N a r r e n d e r m o d e r n e n C u l t u r . — Die N a r ren der mittelalterlichen H ö f e entsprechen unseren Feuilletonisten; es ist die selbe Gattung Menschen, halbvernünftig, witzig, übertrieben, albern, mitunter nur dazu da, das Pathos der Stimmung durch Einfälle, durch Geschwätz zu mildern und den allzu schweren, feierlichen Glockenklang grosser Ereignisse durch Geschrei zu übertäuben; ehemals im Dienste der Fürsten und Adeligen, jetzt im Dienste von Parteien (wie in Partei-Sinn und Partei-Zucht ein guter Theil der alten Unterthänigkeit im Verkehr des Volkes mit dem Fürsten jetzt noch fortlebt). Der ganze moderne Litteratenstand steht aber den Feuilletonisten sehr nahe, es sind die „ N a r r e n der modernen C u l t u r " , welche man milder beurtheilt, wenn man sie als nicht ganz zurechnungsfähig nimmt. Schriftstellern als Lebensberuf zu betrachten, sollte billigerweise als eine Art Tollheit gelten.
195D e n G r i e c h e n n a c h . — Der Erkenntniss steht es gegenwärtig sehr im Wege, dass alle Worte durch hundertjährige Uebertreibung des Gefühls dunstig und aufgeblasen geworden sind. Die höhere Stufe der Cultur, welche sich unter die Herrschaft (wenn auch nicht unter die Tyrannei) der Erkenntniss stellt, hat eine grosse Ernüchterung des Gefühls und eine starke Concentration aller Worte vonnöthen; worin uns die Griechen im Zeitalter des Demosthenes vorangegangen sind. D a s Ueberspannte bezeichnet alle modernen Schriften; und selbst wenn sie einfach geschrieben sind, so werden die Worte in denselben noch zu excentrisch g e f ü h l t . Strenge Ueberlegung, Gedrängtheit, Kälte, Schlichtheit, selbst absichtlich bis an die Gränze hinab, überhaupt An-sich-halten des Gefühls und Schweigsamkeit, — das kann allein helfen. — Uebrigens ist diese kalte Schreib- und Gefühlsart, als Gegensatz, jetzt sehr reizvoll: und darin liegt
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freilich eine neue Gefahr. Denn die scharfe Kälte ist so gut ein Reizmittel, als ein hoher Wärmegrad.
196. G u t e E r z ä h l e r s c h l e c h t e E r k l ä r e r . — Bei gu5 ten Erzählern steht oft eine bewunderungswürdige psychologische Sicherheit und Consequenz, soweit diese in den Handlungen ihrer Personen hervortreten kann, in einem geradezu lächerlichen Gegensatz zu der Ungeübtheit ihres psychologischen Denkens: so dass ihre Cultur in dem einen Augenblicke ebenso aus10 gezeichnet hoch, als im nächsten bedauerlich tief erscheint. Es kommt gar zu häufig vor, dass sie ihre eigenen Helden und deren Handlungen ersichtlich f a l s c h erklären, — es ist daran kein Zweifel, so unwahrscheinlich die Sache klingt. Vielleicht hat der grösste Clavierspieler nur wenig über die technischen Bedinguni j gen und die specielle Tugend, Untugend, Nutzbarkeit und Erziehbarkeit jedes Fingers (daktylische Ethik) nachgedacht, und macht grobe Fehler, wenn er von solchen Dingen redet.
197Die S c h r i f t e n von B e k a n n t e n und ihre Le20 s e r. — Wir lesen Schriften von Bekannten (Freunden und Feinden) doppelt, insofern fortwährend unsere Erkenntniss daneben flüstert: „das ist von ihm, ein Merkmal seines inneren Wesens, seiner Erlebnisse, seiner Begabung", und wiederum eine andere A r t Erkenntniss dabei festzustellen sucht, was der Er2 5 trag jenes Werkes an sich ist, welche Schätzung es überhaupt, abgesehen von seinem Verfasser, verdient, welche Bereicherung des Wissens es mit sich bringt. Diese beiden Arten des Lesens und Erwägens stören sich, wie das sich von selbst versteht, gegenseitig. Auch eine Unterhaltung mit einem Freunde wird 3° dann erst gute Früchte der Erkenntniss zeitigen, wenn Beide end-
4. Aus der Seele der K ü n s t l e r u n d Schriftsteller 195—200
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lieh nur noch an die Sache denken, und vergessen, dass sie Freunde sind.
198.
R h y t h m i s c h e O p f e r . — Gute Schriftsteller verändern den Rhythmus mancher Periode blos desshalb, weil sie den gewöhnlichen Lesern nicht die Fähigkeit zuerkennen, den Tact, welchem die Periode in ihrer ersten Fassung folgte, zu begreifen: desshalb erleichtern sie es ihnen, indem sie bekannteren Rhythmen den Vorzug geben. — Diese Rücksicht auf das rhythmische Unvermögen der jetzigen Leser hat schon manche Seufzer entlockt, denn ihr ist viel schon zum Opfer gefallen. — O b es guten Musikern nicht ähnlich ergeht?
199.
Das Unvollständige als künstlerisches R e i z m i t t e l . — Das Unvollständige ist oft wirksamer als die Vollständigkeit, so namentlich in der Lobrede: f ü r ihre Zwecke braucht man gerade eine anreizende Unvollständigkeit, als ein irrationales Element, welches der Phantasie des Hörers ein Meer vorspiegelt und gleich einem Nebel die gegenüberliegende Küste, also die Begränztheit des zu lobenden Gegenstandes, verdeckt. Wenn man die bekannten Verdienste eines Menschen erwähnt und dabei ausführlich und breit ist, so lässt diess immer den Argwohn aufkommen, es seien die einzigen Verdienste. Der vollständig Lobende stellt sich über den Gelobten, er scheint ihn zu ü b e r s e h e n . Desshalb wirkt das Vollständige abschwächend.
zoo.
Vorsicht
im
Schreiben
und
L e h r e n . — Wer
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Menschliches, Allzumenschliches I
erst geschrieben hat und die Leidenschaft des Schreibens in sich fühlt, lernt fast aus Allem, was er treibt und erlebt, nur D a s noch heraus, was schriftstellerisch mittheilbar ist. Er denkt nicht mehr an sich, sondern an den Schriftsteller und sein Publicum; er will die Einsicht, aber nicht zum eigenen Gebrauche. Wer Lehrer ist, ist meistens unfähig, etwas Eigenes noch für sein eigenes Wohl zu treiben, er denkt immer an das Wohl seiner Schüler und jede Erkenntniss erfreut ihn nur, so weit er sie lehren kann. E r betrachtet sich zuletzt als einen Durchweg des Wissens und überhaupt als Mittel, so dass er den Ernst für sich verloren hat. 201. Schlechte Schriftsteller nothwendig. — Es wird immer schlechte Schriftsteller geben müssen, denn sie entsprechen dem Geschmack der unentwickelten, unreifen Altersclassen; diese haben so gut ihr Bedürfniss wie die reifern. Wäre das menschliche Leben länger, so würde die Zahl der reif gewordenen Individuen überwiegend oder mindestens gleich gross mit der der unreifen ausfallen; so aber sterben bei Weitem die meisten zu jung, das heisst es giebt immer viel mehr unentwickelte Intellecte mit schlechtem Geschmack. Diese begehren überdiess, mit der grösseren Heftigkeit der Jugend, nach Befriedigung ihres Bedürfnisses, und sie e r z w i n g e n sich schlechte Autoren. 202. Z u n a h u n d z u f e r n . — Der Leser und der Autor verstehen sidi häufig desshalb nicht, weil der Autor sein Thema zu gut kennt und es beinahe langweilig findet, so dass er sich die Beispiele erlässt, die er zu Hunderten weiss; der Leser aber ist der Sache fremd und findet sie leicht schlecht begründet, wenn ihm die Beispiele vorenthalten werden.
4. Aus der Seele der K ü n s t l e r u n d Schriftsteller 200—204
169
203. Eine verschwundene Vorbereitung zur K u n s t . — An Allem, was das Gymnasium trieb, w a r das Werthvollste die Uebung im lateinischen Stil: diese war eben eine K u n s t ü b u n g , während alle anderen Beschäftigungen nur das Wissen zum Zweck hatten. Den deutschen Aufsatz voranzustellen, ist Barbarei, denn wir haben keinen mustergültigen, an öffentlicher Beredtsamkeit emporgewachsenen deutschen Stil; will man aber durch den deutschen Aufsatz die Uebung im Denken fördern, so ist es gewiss besser, wenn man einstweilen von Stil dabei überhaupt absieht, also zwischen der Uebung im Denken und der im Darstellen scheidet. Letztere sollte sich auf mannichfache Fassung eines gegebenen Inhaltes beziehen und nicht auf selbständiges Erfinden eines Inhaltes. Die blose Darstellung bei gegebenem Inhalte war die Aufgabe des lateinischen Stils, für welchen die alten Lehrer eine längst verloren gegangene Feinheit des Gehörs besassen. Wer ehemals gut in einer modernen Sprache schreiben lernte, verdankte es dieser Uebung (jetzt muss man sich nothgedrungen zu den älteren Franzosen in die Schule schicken); aber noch mehr: er bekam einen Begriff von der H o heit und Schwierigkeit der Form und wurde für die Kunst überhaupt auf dem einzig richtigen Wege vorbereitet, durch Praxis.
204. Dunkles und Ueberhelles neben einand e r . — Schriftsteller, welche im Allgemeinen ihren Gedanken keine Deutlichkeit zu geben verstehen, werden im Einzelnen mit Vorliebe die stärksten, übertriebensten Bezeichnungen und Superlative wählen: dadurch entsteht eine Lichtwirkung, wie bei Fackelbeleuchtung auf verworrenen Waldwegen.
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Menschliches, Allzumensdiliches I
205. Schriftstellerisches Malerthum. — Einen bedeutenden Gegenstand wird man am besten darstellen, wenn man die Farben zum Gemälde aus dem Gegenstande selber, wie 5 ein Chemiker, nimmt und sie dann wie ein Artist verbraucht: so dass man die Zeichnung aus den Gränzen und Uebergängen der Farben erwachsen lässt. So bekommt das Gemälde Etwas von dem hinreissenden Naturelement, welches den Gegenstand selber bedeutend macht.
10
206.
Bücher, welche tanzen lehren. — Es giebt Schriftsteller, welche dadurch, dass sie Unmögliches als möglich darstellen und vom Sittlichen und Genialen so reden, als ob beides nur eine Laune, ein Belieben sei, ein Gefühl von über1 5 müthiger Freiheit hervorbringen, wie wenn der Mensch sich auf die Fussspitzen stellte und vor innerer Lust durchaus tanzen müsste.
207. N i c h t f e r t i g g e w o r d e n e G e d a n k e n . — Ebenso 10 wie nicht nur das Mannesalter, sondern auch Jugend und Kindheit einen Werth a n s i c h haben und gar nicht nur als Durchgänge und Brücken zu schätzen sind, so haben auch die nicht fertig gewordenen Gedanken ihren Werth. Man muss desshalb einen Dichter nicht mit subtiler Auslegung quälen und sich an 25 der Unsicherheit seines Horizontes vergnügen, wie als ob der Weg zu mehreren Gedanken noch offen sei. Man steht an der Schwelle; man wartet wie bei der Ausgrabung eines Schatzes: es ist, als ob ein Glücksfund von Tiefsinn eben gemacht werden sollte. Der Dichter nimmt Etwas von der Lust des Denkers beim 3 ° Finden eines Hauptgedankens vorweg und macht uns damit be-
4. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller 205—208
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gehrlich, so dass wir nach diesem haschen; der aber gaukelt an unserm Kopf vorüber und zeigt die schönsten Schmetterlingsflügel — und doch entschlüpft er uns.
208. 5
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2
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3°
Das Buch fast zum Menschen geworden. — Jeden Schriftsteller überrascht es von Neuem, wie das Buch, sobald es sich von ihm gelöst hat, ein eigenes Leben für sich weiterlebt; es ist ihm zu Muthe, als wäre der eine Theil eines Insectes losgetrennt und gienge nun seinen eigenen Weg weiter. Vielleicht vergisst er es fast ganz, vielleicht erhebt er sich über die darin niedergelegten Ansichten, vielleicht selbst versteht er es nicht mehr und hat jene Schwingen verloren, auf denen er damals flog, als er jenes Buch aussann: währenddem sucht es sich seine Leser, entzündet Leben, beglückt, erschreckt, erzeugt neue Werke, wird die Seele von Vorsätzen und Handlungen — kurz: es lebt wie ein mit Geist und Seele ausgestattetes Wesen und ist doch kein Mensch. — Das glücklichste Loos hat der Autor gezogen, welcher, als alter Mann, sagen kann, dass Alles, was von lebenzeugenden, kräftigenden, erhebenden, aufklärenden Gedanken und Gefühlen in ihm war, in seinen Schriften noch fortlebe und dass er selber nur noch die graue Asche bedeute, während das Feuer überall hin gerettet und weiter getragen sei. — Erwägt man nun gar, dass jede Handlung eines Menschen, nicht nur ein Buch, auf irgend eine Art Anlass zu anderen Handlungen, EntSchlüssen, Gedanken wird, dass Alles, was geschieht, unlösbar fest sich mit Allem, was geschehen wird, verknotet, so erkennt man die wirkliche U n s t e r b l i c h k e i t , die es giebt, die der Bewegung: was einmal bewegt hat, ist in dem Gesammtverbande alles Seienden, wie in einem Bernstein ein Insect, eingeschlossen und verewigt.
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Menschliches, Allzumenschliches I
209. F r e u d e i m A l t e r . — Der Denker und ebenso der Künstler, welcher sein besseres Selbst in Werke geflüchtet hat, empfindet eine fast boshafte Freude, wenn er sieht, wie sein Leib 5 und Geist langsam von der Zeit angebrochen und zerstört werden, als ob er aus einem Winkel einen Dieb an seinem Geldschranke arbeiten sähe, während er weiss, dass dieser leer ist und alle Schätze gerettet sind.
210. 10
R u h i g e F r u c h t b a r k e i t . — Die geborenen Aristokraten des Geistes sind nicht zu eifrig; ihre Schöpfungen erscheinen und fallen an einem ruhigen Herbstabend vom Baume, ohne hastig begehrt, gefördert, durch Neues verdrängt zu werden. Das unablässige Schaffenwollen ist gemein und zeigt Eifer15 sucht, Neid, Ehrgeiz an. Wenn man Etwas ist, so braucht man eigentlich Nichts zu machen, — und thut doch sehr viel. Es giebt über dem „productiven" Menschen noch eine höhere Gattung.
211. A c h i l l e s u n d H o m e r . — Es ist immer wie zwischen 20 Achilles und Homer: der Eine hat das Erlebniss, die Empfindung, der Andere b e s c h r e i b t sie. Ein wirklicher Schriftsteller giebt dem Affect und der Erfahrung Anderer nui Worte, er ist Künstler, um aus dem Wenigen, was er empfunden hat, viel zu errathen. Künstler sind keineswegs die Menschen der 25 grossen Leidenschaft, aber häufig g e b e n sie sich als solche in der unbewussten Empfindung, dass man ihrer gemalten Leidenschaft mehr traut, wenn ihr eigenes Leben f ü r ihre Erfahrung auf diesem Gebiete spricht. Man braucht sich ja nur gehen zu lassen, sich nicht zu beherrschen, seinem Zorn, seiner Begierde 30 offenen Spielraum zu gönnen, sofort schreit alle Welt: wie
4. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller 209—212
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leidenschaftlich ist er! Aber mit der tiefwühlenden, das Individuum anzehrenden und oft verschlingenden Leidenschaft hat es Etwas auf sich: wer sie erlebt, beschreibt sie gewiss nicht in Dramen, Tönen oder Romanen. Künstler sind häufig z ü g e l l o s e Individuen, soweit sie eben nicht Künstler sind: aber das ist etwas Anderes.
212. Alte Zweifel über d i e W i r k u n g der Kunst. — Sollten Mitleid u n d Furcht wirklich, wie Aristoteles will, durch die Tragödie entladen werden, so dass der Zuhörer kälter und ruhiger nach Hause zurückkehre? Sollten Geistergeschichten weniger furchtsam und abergläubisch machen? Es ist bei einigen physischen Vorgängen, zum Beispiel bei dem Liebesgenuss, wahr, dass mit der Befriedigung eines Bedürfnisses eine Linderung und zeitweilige Herabstimmung des Triebes eintritt. Aber die Furcht und das Mitleid sind nicht in diesem Sinne Bedürfnisse bestimmter Organe, welche erleichtert werden wollen. Und auf die Dauer wird selbst jeder Trieb durch Uebung in seiner Befriedigung g e s t ä r k t , trotz jener periodischen Linderungen. Es wäre möglich, dass Mitleid und Furcht in jedem einzelnen Falle durch die Tragödie gemildert und entladen würden: trotzdem könnten sie im Ganzen durch die tragische Einwirkung überhaupt grösser werden, und Plato behielte doch Recht, wenn er meint, dass man durch die Tragödie insgesammt ängstlicher und rührseliger werde. Der tragische Dichter selbst würde dann nothwendig eine düstere, furchtvolle Weltbetrachtung und eine weiche, reizbare, thränensüchtige Seele bekommen, desgleichen würde es zu Plato's Meinung stimmen, wenn die tragischen Dichter und ebenso die ganzen Stadtgemeinden, welche sich besonders an ihnen ergötzen, zu immer grösserer Maass- und Zügellosigkeit ausarten. — Aber welches Recht hat unsere Zeit überhaupt, auf die grosse Frage Plato's nach dem moralischen
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Menschliches, A l l z u m e n s c h l i c h e s I
Einfluss der Kunst eine Antwort zu geben? Hätten wir selbst die Kunst, — wo haben wir den Einfluss, i r g e n d e i n e n Einfluss der Kunst?
213. F r e u d e a m U n s i n n . — Wie kann der Mensch Freude am Unsinn haben? So weit nämlich auf der Welt gelacht wird, ist diess der Fall; ja man kann sagen, fast überall wo es Glück giebt, giebt es Freude am Unsinn. D a s Umwerfen der Erfahrung in's Gegentheil, des Zweckmässigen in's Zwecklose, des N o t h wendigen in's Beliebige, doch so, dass dieser Vorgang keinen Schaden macht und nur einmal aus Uebermuth vorgestellt wird, ergötzt, denn es befreit uns momentan von dem Zwange des Nothwendigen, Zweckmässigen und Erfahrungsgemässen, in denen wir für gewöhnlich unsere unerbittlichen Herren sehen; wir spielen und lachen dann, wenn das Erwartete (das gewöhnlich bange macht und spannt) sich, ohne zu schädigen, entladet. Es ist die Freude der Sclaven am Saturnalienfeste.
214. V e r e d e l u n g d e r W i r k l i c h k e i t . — Dadurch, dass die Menschen in dem aphrodisischen Triebe eine Gottheit sahen und ihn mit anbetender Dankbarkeit in sich wirkend fühlten, ist im Verlaufe der Zeit jener Affect mit höheren Vorstellungsreihen durchzogen und dadurch thatsächlich sehr veredelt worden. So haben sich einige Völker, vermöge dieser Kunst des Idealisirens, aus Krankheiten grosse Hülfsmächte der Cultur geschaffen: zum Beispiel die Griechen, welche in früheren J a h r hunderten an grossen Nerven-Epidemien (in der A r t der Epilepsie und des Veitstanzes) litten und daraus den herrlichen T y pus der Bacchantin herausgebildet haben. — Die Griechen besassen nämlich Nichts weniger, als eine vierschrötige Gesund-
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heit; — ihr Geheimniss war, auch die Krankheit, wenn sie nur M a c h t hatte, als Gott zu verehren.
21 J. M u s i k . — Die Musik ist nicht an und für sich so bedeu5 tungsvoll für unser Inneres, so tief erregend, dass sie als u n m i t t e l b a r e Sprache des Gefühls gelten dürfte; sondern ihre uralte Verbindung mit der Poesie hat so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke und Schwäche des Tones gelegt, dass wir jetzt w ä h n e n , sie spräche direct z u m Inneren und käme a u s dem Inneren. Die dramatische Musik ist erst möglich, wenn sich die Tonkunst ein ungeheures Bereich symbolischer Mittel erobert hat, durch Lied, Oper und hundertfältige Versuche der Tonmalerei. Die „absolute Musik" ist entweder Form an sich, im rohen Zustand der Musik, wo das Er1 S klingen in Zeitmaass und verschiedener Stärke überhaupt Freude macht, oder die ohne Poesie schon zum Verständniss redende Symbolik der Formen, nachdem in langer Entwickelung beide Künste verbunden waren und endlich die musicalische Form ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist. Menschen, welche in der Entwickelung der Musik zurückgeblieben sind, können das selbe Tonstück rein formalistisch empfinden, wo die Fortgeschrittenen Alles symbolisch verstehen. An sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom „Willen", vom „Dinge an sich"; das konnte der Intellect 5 erst in einem Zeitalter wähnen, welches den ganzen U m f a n g des inneren Lebens für die musicalische Symbolik erobert hatte. Der Intellect selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang h i n e i n g e l e g t , wie er in die Verhältnisse von Linien und Massen bei der Architektur ebenfalls Bedeutsamkeit gelegt hat, 3° welche aber an sich den mechanischen Gesetzen ganz fremd ist.
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Menschliches, Allzumenschliches I 216.
G e b ä r d e u n d S p r a c h e . — Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebärden, welches unwillkürlich vor sich geht und jetzt noch, bei einer allgemeinen Zurückdrängung der Gebärdensprache und gebildeten Beherrschung der Muskeln, so stark ist, dass wir ein bewegtes Gesicht nicht ohne Innervation unseres Gesichts ansehen können (man kann beobachten, dass fingirtes Gähnen bei Einem, der es sieht, natürliches Gähnen hervorruft). Die nachgeahmte Gebärde leitete Den, der nachahmte, zu der Empfindung zurück, welche sie im Gesicht oder Körper des Nachgeahmten ausdrückte. So lernte man sich verstehen: so lernt noch das Kind die Mutter verstehen. Im Allgemeinen mögen schmerzhafte Empfindungen wohl auch durch Gebärden ausgedrückt worden sein, welche Schmerz ihrerseits verursachen (zum Beispiel durch Haarausraufen, die-Brustschlagen, gewaltsame Verzerrungen und Anspannungen der Gesichtsmuskeln). Umgekehrt: Gebärden der Lust waren selber lustvoll und eigneten sich dadurch leicht zum Mittheilen des Verständnisses (Lachen als Aeusserung des Gekitzeltwerdens, welches lustvoll ist, diente wiederum zum Ausdruck anderer lustvoller Empfindungen). — Sobald man sich in Gebärden verstand, konnte wiederum eine S y m b o l i k der Gebärde entstehen: ich meine, man konnte über eine Tonzeichensprache sich verständigen, so zwar, dass man zuerst Ton u n d Gebärde (zu der er symbolisch hinzutrat), später nur den Ton hervorbrachte. — Es scheint sich da in früher Zeit das Selbe oftmals ereignet zu haben, was jetzt vor unseren Augen und Ohren in der Entwickelung der Musik, namentlich der dramatischen Musik, vor sich geht: während zuerst die Musik, ohne erklärenden Tanz und Mimus (Gebärdensprache), leeres Geräusch ist, wird durch lange Gewöhnung an jenes Nebeneinander von Musik und Bewegung das O h r zur sofortigen Ausdeutung der Tonfiguren eingeschult und kommt endlich auf eine Höhe des schnellen Verständnisses, wo es der sichtbaren Bewegung gar nicht mehr be-
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darf und den Tondichter ohne dieselbe v e r s t e h t . Man redet dann von absoluter Musik, das heisst von Musik, in der Alles ohne weitere Beihülfe sofort symbolisch verstanden wird.
217. Die Entsinnlichung der höheren Kunst. — Unsere Ohren sind, vermöge der ausserordentlichen Uebung des Intellects durch die Kunstentwickelung der neuen Musik, immer intellectualer geworden. Desshalb ertragen wir jetzt viel grössere Tonstärke, viel mehr „Lärm", weil wir viel besser eingeübt sind, auf die V e r n u n f t i n i h m hinzuhorchen, als unsere Vorfahren. Thatsächlich sind nun alle unsere Sinne eben dadurch, dass sie sogleich nach der Vernunft, also nach dem „es bedeutet" und nicht mehr nach dem „es ist" fragen, etwas abgestumpft worden: wie sich eine solche Abstumpfung zum Beispiel in der unbedingten Herrschaft der Temperatur der Töne verräth; denn jetzt gehören Ohren, welche die feineren Unterscheidungen, zum Beispiel zwischen eis und des, noch machen, zu den Ausnahmen. In dieser Hinsicht ist unser O h r vergröbert worden. Sodann ist die hässliche, den Sinnen ursprünglich feindselige Seite der Welt f ü r die Musik erobert worden; ihr Machtbereich, namentlich zum Ausdruck des Erhabenen, Furchtbaren, Geheimnissvollen, hat sich damit erstaunlich erweitert; unsere Musik bringt jetzt Dinge zum Reden, welche früher keine Zunge hatten. In ähnlicher Weise haben einige Maler das Auge intellectualer gemacht und sind weit über Das hinausgegangen, was man früher Farben- und Formenfreude nannte. Auch hier ist die ursprünglich als hässlich geltende Seite der Welt vom künstlerischen Verstände erobert worden. — Was ist von alledem die Consequenz? Je gedankenfähiger Auge und O h r werden, um so mehr kommen sie an die Gränze, wo sie unsinnlich werden: die Freude wird in's Gehirn verlegt, die Sinnesorgane selbst werden stumpf und schwach, das Symbolische tritt immer mehr an Stelle
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Menschliches, Allzumenschüches I
des Seienden, — und so gelangen wir auf diesem Wege so sicher zur Barbarei, wie auf irgend einem anderen. Einstweilen heisst es noch: die Welt ist hässlicher als je, aber sie b e d e u t e t eine schönere Welt als je gewesen. Aber je mehr der Ambraduft der 5 Bedeutung sich zerstreut und verflüchtigt, um so seltener werden Die, welche ihn noch wahrnehmen: und die Uebrigen bleiben endlich bei dem Hässlichen stehen und suchen es direct zu gemessen, was ihnen aber immer misslingen muss. So giebt es in Deutschland eine doppelte Strömung der musicalischen Entwickelung: hier eine Schaar von Zehntausend mit immer höheren, zarteren Ansprüchen und immer mehr nach dem „es bedeutet" hinhörend, und dort die ungeheuere Ueberzahl, welche alljährlich immer unfähiger wird, das Bedeutende auch in der Form der sinnlichen Hässlichkeit zu verstehen und desshalb nach 15 dem an sich Hässlichen und Ekelhaften, das heisst dem niedrig Sinnlichen, in der Musik mit immer mehr Behagen greifen lernt.
218. D e r S t e i n i s t m e h r S t e i n a l s f r ü h e r . — Wir verstehen im Allgemeinen Architektur nicht mehr, wenigstens lange nicht in der Weise, wie wir Musik verstehen. Wir sind aus der Symbolik der Linien und Figuren herausgewachsen, wie wir der Klangwirkungen der Rhetorik entwöhnt sind, und haben diese A r t von Muttermilch der Bildung nicht mehr vom ersten Augenblick unseres Lebens an eingesogen. An einem griechischen 2 5 oder christlichen Gebäude bedeutete ursprünglich Alles Etwas, und zwar in Hinsicht auf eine höhere Ordnung der Dinge: diese Stimmung einer unausschöpflichen Bedeutsamkeit lag um das Gebäude gleich einem zauberhaften Schleier. Schönheit kam nur nebenbei in das System hinein, ohne die Grundempfindung des 3° Unheimlich-Erhabenen, des durch Götternähe und Magie Geweihten, wesentlich zu beeinträchtigen; Schönheit m i l d e r t e höchstens das G r a u e n , — aber dieses Grauen war überall
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die Voraussetzung. — Was ist uns jetzt die Schönheit eines Gebäudes? Das Selbe wie das schöne Gesicht einer geistlosen Frau: etwas Maskenhaftes.
219.
Religiöse H e r k u n f t der neueren Musik. — Die seelenvolle Musik entsteht in dem wiederhergestellten Katholicismus nach dem tridentinischen Concil, durch Palestrina, welcher dem neu erwachten innigen und tief bewegten Geiste zum Klange verhalf; später, mit Bach, auch im Protestantismus, soweit dieser durch die Pietisten vertieft und von seinem ursprünglich dogmatischen Grundcharakter losgebunden worden war. Voraussetzung und nothwendige Vorstufe f ü r beide Entstehungen ist die Befassung mit Musik, wie sie dem Zeitalter der Renaissance und Vor-Renaissance zu eigen war, namentlich jene gelehrte Beschäftigung mit Musik, jene im Grunde wissenschaftliche Lust an den Kunststücken der Harmonik und Stimmführung. Andererseits musste auch die Oper vorhergegangen sein: in welcher der Laie seinen Protest gegen eine zu gelehrt gewordene kalte Musik zu erkennen gab und der Polyhymnia wieder eine Seele schenken wollte. — Ohne jene tief religiöse Umstimmung, ohne das Ausklingen des innerlichst-erregten Gemüthes wäre die Musik gelehrt oder opernhaft geblieben; der Geist der Gegenreformation ist der Geist der modernen Musik (denn jener Pietismus in Bach's Musik ist auch eine Art Gegenreformation). So tief sind wir dem religiösen Leben verschuldet. — Die Musik war die G e g e n r e n a i s s a n c e im Gebiete der Kunst, zu ihr gehört die spätere Malerei des Murillo, zu ihr vielleicht auch der Barockstil: mehr jedenfalls als die Architektur der Renaissance oder des Alterthums. Und noch jetzt dürfte man fragen: wenn unsere neuere Musik die Steine bewegen könnte, würde sie diese zu einer antiken Architektur zusammensetzen? Ich zweifle sehr. Denn Das, was in dieser Musik regiert, der
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Affect, die Lust an erhöhten, weit gespannten Stimmungen, das Lebendig-werden-wollen um jeden Preis, der rasche Wechsel der Empfindung, die starke Reliefwirkung in Licht und Schatten, die Nebeneinanderstellung der Ekstase und des Naiven, — das hat 5 Alles schon einmal in den bildenden Künsten regiert und neue Stilgesetze geschaffen: — es war aber weder im Alterthum noch in der Zeit der Renaissance.
220. Das Jenseits i n d e r K u n s t . — Nicht ohne 10 tiefen Schmerz gesteht man sich ein, dass die Künstler aller Zeiten in ihrem höchsten Aufschwünge gerade jene Vorstellungen zu einer himmlischen Verklärung hinaufgetragen haben, welche wir jetzt als falsch erkennen: sie sind die Verherrlicher der religiösen und philosophischen Irrthümer der Menschheit, und sie hätten diess nicht sein können ohne den Glauben an die absolute Wahrheit derselben. N i m m t nun der Glaube an eine solche Wahrheit überhaupt ab, verblassen die Regenbogenfarben um die äussersten Enden des menschlichen Erkennens und Wähnens: so kann jene Gattung von Kunst nie wieder aufblühen, 20 welche, wie die divina commedia, die Bilder Rafael's, die Fresken Michelangelo's, die gothischen Münster, nicht nur eine kosmische, sondern auch eine metaphysische Bedeutung der Kunstobjecte voraussetzt. Es wird eine rührende Sage daraus werden, dass es eine solche Kunst, einen solchen Künstlerglauben gegeben M habe.
221. D i e R e v o l u t i o n i n d e r P o e s i e . — Der strenge Zwang, welchen sich die französischen Dramatiker auferlegten, in Hinsicht auf Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit, 3° auf Stil, Vers- und Satzbau, Auswahl der Worte und Gedanken,
4. Aus der Seele der K ü n s t l e r u n d Schriftsteller 219—221
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war eine so wichtige Schule, wie die des Contrapuncts und der Fuge in der Entwickelung der modernen Musik oder wie die Gorgianischen Figuren in der griechischen Beredtsamkeit. Sich so zu binden, kann absurd erscheinen; trotzdem giebt es kein anderes Mittel, um aus dem Naturalisiren herauszukommen, als sich zuerst auf das allerstärkste (vielleicht allerwillkürlichste) zu beschränken. Man lernt so allmählich mit Grazie selbst auf den schmalen Stegen schreiten, welche schwindelnde Abgründe überbrücken, und bringt die höchste Geschmeidigkeit der Bewegung als Ausbeute mit heim: wie die Geschichte der Musik vor den Augen aller Jetztlebenden beweist. Hier sieht man, wie Schritt vor Schritt die Fesseln lockerer werden, bis sie endlich ganz abgeworfen scheinen können: dieser S c h e i n ist das höchste Ergebniss einer nothwendigen Entwickelung in der Kunst. In der modernen Dichtkunst gab es keine so glückliche allmähliche Herauswickelung aus den selbstgelegten Fesseln. Lessing machte die französische Form, das heisst die einzige moderne Kunstform, zum Gespött in Deutschland und verwies auf Shakespeare, und so verlor man die Stetigkeit jener Entfesselung und machte einen Sprung in den Naturalismus — das heisst in die Anfänge der Kunst zurück. Aus ihm versuchte sich Goethe zu retten, indem er sich immer von Neuem wieder auf verschiedene Art zu binden wusste; aber auch der Begabteste bringt es nur zu einem fortwährenden Experimentiren, wenn der Faden der Entwickelung einmal abgerissen ist. Schiller verdankt die ungefähre Sicherheit seiner Form dem unwillkürlich verehrten, wenn auch verleugneten Vorbilde der französischen Tragödie und hielt sich ziemlich unabhängig von Lessing (dessen dramatische Versuche er bekanntlich ablehnte). Den Franzosen selber fehlten nach Voltaire auf einmal die grossen Talente, welche die Entwickelung der Tragödie aus dem Zwange zu jenem Scheine der Freiheit fortgeführt hätten; sie machten später nach deutschem Vorbilde auch den Sprung in eine Art von Rousseau'schem Naturzustand der Kunst und experimentirten.
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Man lese nur von Zeit zu Zeit Voltaire's Mahomet, um sich klar vor die Seele zu stellen, was durch jenen Abbruch der Tradition ein für alle Mal der europäischen Cultur verloren gegangen ist. Voltaire war der letzte der grossen Dramatiker, welcher seine vielgestaltige, auch den grössten tragischen Gewitterstürmen gewachsene Seele durch griechisches Maass bändigte, — er vermochte Das, was noch kein Deutscher vermochte, weil die N a t u r des Franzosen der griechischen viel verwandter ist, als die N a t u r des Deutschen —; wie er auch der letzte grosse Schriftsteller war, der in der Behandlung der Prosa-Rede griechisches Ohr, griechische Künstler-Gewissenhaftigkeit, griechische Schlichtheit und Anmuth hatte; ja wie er einer der letzten Menschen gewesen ist, welche die höchste Freiheit des Geistes und eine schlechterdings unrevolutionäre Gesinnung in sich vereinigen können, ohne inconsequent und feige zu sein. Seitdem ist der moderne Geist mit seiner Unruhe, seinem Hass gegen Maass und Schranke, auf allen Gebieten zur H e r r schaft gekommen, zuerst entzügelt durch das Fieber der Revolution und dann wieder sich Zügel anlegend, wenn ihn Angst und Grauen vor sich selber anwandelte, — aber die Zügel der Logik, nicht mehr des künstlerischen Maasses. Zwar geniessen wir durch jene Entfesselung eine Zeit lang die Poesien aller Völker, alles an verborgenen Stellen Aufgewachsene, Urwüchsige, Wildblühende, Wunderlich-Schöne und Riesenhaft-Unregelmässige, vom Volksliede an bis zum „grossen Barbaren" Shakespeare hinauf; wir schmecken die Freuden der Localfarbe und des Zeitcostüms, die allen künstlerischen Völkern bisher fremd waren; wir benutzen reichlich die „barbarischen Avantagen" unserer Zeit, welche Goethe gegen Schiller geltend machte, um die Formlosigkeit seines Faust in das günstigste Licht zu stellen. Aber auf wie lange noch? Die hereinbrechende Fluth von Poesien aller Stile aller Völker m u s s ja allmählich das Erdreich hinwegschwemmen, auf dem ein stilles verborgenes Wachsthum noch möglich gewesen wäre; alle Dichter m ü s s e n ja experimentirende Nach-
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ahmer, wagehalsige Copisten werden, m a g ihre K r a f t von Anbeginn noch so gross sein; das Publicum endlich, welches verlernt hat, in der B ä n d i g u n g der darstellenden Kraft, in der organisirenden Bewältigung aller Kunstmittel die eigentlich künstlerische T h a t zu sehen, m u s s immer mehr die K r a f t um der K r a f t willen, die Farbe um der Farbe willen, den Gedanken um des Gedankens willen, ja die Inspiration um der Inspiration willen schätzen, es wird demgemäss die Elemente und Bedingungen des Kunstwerks gar nicht, wenn nicht i s o 1 i r t , gemessen und zu guterletzt die natürliche Forderung stellen, dass der Künstler isolirt sie ihm auch darreichen m ü s s e . J a , man hat die „unvernünftigen" Fesseln der französisch-griechischen Kunst abgeworfen, aber unvermerkt sich daran gewöhnt, alle Fesseln, alle Beschränkung unvernünftig zu finden; — und so bewegt sich die Kunst ihrer Auflösung entgegen und streift dabei — was freilich höchst belehrend ist — alle Phasen ihrer Anfänge, ihrer Kindheit, ihrer Unvollkommenheit, ihrer einstmaligen Wagnisse und Ausschreitungen: sie interpretirt, im ZuGrunde-gehen, ihre Entstehung, ihr Werden. Einer der Grossen, auf dessen Instinct man sich wohl verlassen kann und dessen Theorie Nichts weiter, als ein dreissig J a h r e M e h r von Praxis fehlte, — L o r d Byron hat einmal ausgesprochen: „Was die Poesie im Allgemeinen anlangt, so bin ich, je mehr ich darüber nachdenke, immer fester der Ueberzeugung, dass wir allesammt auf dem falschen Wege sind, Einer wie der Andere. Wir folgen Alle einem innerlich falschen revolutionären System, — unsere oder die nächste Generation wird noch zu der selben Ueberzeugung gelangen." Es ist diess der selbe Byron, welcher sagt: „Ich betrachte Shakespeare als das schlechteste Vorbild, wenn auch als den ausserordentlichsten Dichter." U n d sagt im Grunde Goethe's gereifte künstlerische Einsicht aus der zweiten H ä l f t e seines Lebens nicht genau das Selbe? — jene Einsicht, mit welcher er einen solchen Vorsprung über eine Reihe von Generationen gewann, dass man im Grossen und Ganzen behaupten kann,
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Goethe habe noch gar nicht gewirkt und seine Zeit werde erst kommen? Gerade weil seine N a t u r ihn lange Zeit in der Bahn der poetischen Revolution festhielt, gerade weil er am gründlichsten auskostete, was Alles indirect durch jenen Abbruch der Tradition an neuen Funden, Aussichten, Hülfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der Kunst ausgegraben worden war, so wiegt seine spätere Umwandelung und Bekehrung so viel: sie bedeutet, dass er das tiefste Verlangen empfand, die Tradition der Kunst wieder zu gewinnen und den stehen gebliebenen Trümmern und Säulengängen des Tempels mit der Phantasie des Auges wenigstens die alte Vollkommenheit und Ganzheit anzudichten, wenn die Kraft des Armes sich viel zu schwach erweisen sollte, zu bauen, wo so ungeheure Gewalten schon zum Zerstören nöthig waren. So lebte er in der Kunst als in der Erinnerung an die wahre Kunst: sein Dichten war zum Hülfsmittel der Erinnerung, des Verständnisses alter, längst entrückter Kunstzeiten geworden. Seine Forderungen waren zwar in H i n sicht auf die Kraft des neuen Zeitalters unerfüllbar; der Schmerz darüber wurde aber reichlich durch die Freude aufgewogen, dass sie einmal erfüllt g e w e s e n sind und dass auch wir noch an dieser Erfüllung theilnehmen können. Nicht Individuen, sondern mehr oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, sondern eine allegorische Allgemeinheit; Zeitcharaktere, Localfarben zum fast Unsichtbaren abgedämpft und mythisch gemacht; das gegenwärtige Empfinden und die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft auf die einfachsten Formen zusammengedrängt, ihrer reizenden, spannenden, pathologischen Eigenschaften entkleidet, in jedem andern als dem artistischen Sinne w i r k u n g s l o s gemacht; keine neuen Stoffe und Charaktere, sondern die alten, längst gewohnten in immerfort währender Neubeseelung und Umbildung: das ist die Kunst, so wie sie Goethe später v e r s t a n d , so wie sie die Griechen, ja auch die Franzosen ü b t e n .
4. Aus der Seele der K ü n s t l e r u n d Schriftsteller 221—222
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222. W a s v o n d e r K u n s t ü b r i g b l e i b t . — Es ist wahr, bei gewissen metaphysischen Voraussetzungen hat die Kunst viel grösseren Werth, zum Beispiel wenn der Glaube gilt, dass der Charakter unveränderlich sei und das Wesen der Welt sich in allen Charakteren und Handlungen fortwährend ausspreche: da wird das Werk des Künstlers zum Bild des e w i g B e h a r r e n d e n , während f ü r unsere Auffassung der Künstler seinem Bilde immer nur Gültigkeit für eine Zeit geben kann, weil der Mensch im Ganzen geworden und wandelbar und selbst der einzelne Mensch nichts Festes und Beharrendes ist. — Ebenso steht es bei einer andern metaphysischen Voraussetzung: gesetzt, dass unsere sichtbare Welt nur Erscheinung wäre, wie es die Metaphysiker annehmen, so käme die Kunst der wirklichen Welt ziemlich nahe zu stehen: denn zwischen der Erscheinungswelt und der Traumbild-Welt des Künstlers gäbe es dann gar zu viel Aehnliches; und die übrigbleibende Verschiedenheit stellte sogar die Bedeutung der Kunst höher, als die Bedeutung der N a t u r , weil die Kunst das Gleichförmige, die Typen und Vorbilder der N a t u r darstellte. — Jene Voraussetzungen sind aber falsch: welche Stellung bleibt nach dieser Erkenntniss jetzt noch der Kunst? Vor Allem hat sie durch Jahrtausende hindurch gelehrt, mit Interesse und Lust auf das Leben in jeder Gestalt zu sehen und unsere Empfindung so weit zu bringen, dass wir endlich rufen: „wie es auch sei, das Leben, es ist gut." Diese Lehre der Kunst, Lust am Dasein zu haben und das Menschenleben wie ein Stück N a t u r , ohne zu heftige Mitbewegung, als Gegenstand gesetzmässiger Entwickelung anzusehen, — diese Lehre ist in uns hineingewachsen, sie kommt jetzt als allgewaltiges Bedürfniss des Erkennens wieder an's Licht. Man könnte die Kunst aufgeben, würde damit aber nicht die von ihr gelernte Fähigkeit einbüssen: ebenso wie man die Religion aufgegeben hat, nicht aber die durch sie erworbenen Gemüths-Steigerungen und Erhebungen. Wie die bildende Kunst und die Musik der Maassstab des
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durch die Religion wirklich erworbenen und hinzugewonnenen Gefühls-Reichthumes ist, so würde nach einem Verschwinden der Kunst die von ihr gepflanzte Intensität und Vielartigkeit der Lebensfreude immer noch Befriedigung fordern. Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwickelung des künstlerischen.
223. A b e n d r ö t h e d e r K u n s t . — Wie man sich im Alter der Jugend erinnert und Gedächtnissfeste feiert, so steht bald die Menschheit zur Kunst im Verhältniss einer rührenden Erinnerung an die Freuden der Jugend. Vielleicht dass niemals früher die Kunst so tief und seelenvoll erfasst wurde, wie jetzt, wo die Magie des Todes dieselbe zu umspielen scheint. Man denke an jene griechische Stadt in Unteritalien, welche an Einem Tage des Jahres noch ihre griechischen Feste feierte, unter Wehmuth und Thränen darüber, dass immer mehr die ausländische Barbarei über ihre mitgebrachten Sitten triumphire; niemals hat man wohl das Hellenische so genossen, nirgendswo diesen goldenen N e k t a r mit solcher Wollust geschlürft, als unter diesen absterbenden Hellenen. Den Künstler wird man bald als ein herrliches Ueberbleibsel ansehen und ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an dessen Kraft und Schönheit das Glück früherer Zeiten hieng, Ehren erweisen, wie wir sie nicht leicht Unseresgleichen gönnen. Das Beste an uns ist vielleicht aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können; die Sonne ist schon hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen.
Fünftes Hauptstück. Anzeichen höherer und niederer Cultur. 224. V e r e d e l u n g d u r c h E n t a r t u n g . — Aus der Geschichte ist zu lernen, dass d e r Stamm eines Volkes sich am besten erhält, in welchem die meisten Menschen lebendigen Gemeinsinn in Folge der Gleichheit ihrer gewohnten und undiscutirbaren Grundsätze, also in Folge ihres gemeinsamen Glaubens haben. Hier erstarkt die gute, tüchtige Sitte, hier wird die Unterordnung des Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit schon als Angebinde gegeben und nachher noch anerzogen. Die Gefahr dieser starken, auf gleichartige, charaktervolle Individuen gegründeten Gemeinwesen ist die allmählich durch Vererbung gesteigerte Verdummung, welche nun einmal aller Stabilität wie ihr Schatten folgt. Es sind die ungebundneren, viel unsichereren und moralisch schwächeren Individuen, an denen das g e i s t i g e F o r t s c h r e i t e n in solchen Gemeinwesen hängt: es sind die Menschen, welche Neues und überhaupt Vielerlei versuchen. Unzählige dieser Art gehen, ihrer Schwäche wegen, ohne sehr ersichtliche Wirkung zu Grunde; aber im Allgemeinen, zumal wenn sie Nachkommen haben, lockern sie auf und bringen von Zeit zu Zeit dem stabilen Elemente eines Gemeinwesens eine Wunde bei. Gerade an dieser wunden und schwach gewordenen Stelle wird dem gesammten Wesen etwas Neues gleichsam i n o c u 1 i r t ; seine Kraft im Ganzen muss aber stark genug sein, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen und sich zu assi-
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miliren. Die abartenden Naturen sind überall da von höchster Bedeutung, wo ein Fortschritt erfolgen soll. Jedem Fortschritt im Grossen muss eine theilweise Schwächung vorhergehen. Die stärksten Naturen halten den Typus fest, die schwächeren helfen ihn f o r t b i l d e n . — Etwas Aehnliches ergiebt sich für den einzelnen Menschen; selten ist eine Entartung, eine Verstümmelung, selbst ein Laster und überhaupt eine körperliche oder sittliche Einbusse ohne einen Vortheil auf einer anderen Seite. Der kränkere Mensch zum Beispiel wird vielleicht, inmitten eines kriegerischen und unruhigen Stammes, mehr Veranlassung haben, für sich zu sein und dadurch ruhiger und weiser zu werden, der Einäugige wird Ein stärkeres Auge haben, der Blinde wird tiefer in's Innere schauen und jedenfalls schärfer hören. Insofern scheint mir der b e r ü h m t e Kampf um's Dasein nicht der einzige Gesichtspunct zu sein, aus dem das Fortschreiten oder Stärkerwerden eines Menschen, einer Rasse erklärt werden kann. Vielmehr muss zweierlei zusammen kommen: einmal die Mehrung der stabilen Kraft durch Bindung der Geister in Glauben und Gemeingefühl; sodann die Möglichkeit, zu höheren Zielen zu gelangen, dadurch dass entartende Naturen und, in Folge derselben, theilweise Schwächungen und Verwundungen der stabilen Kraft vorkommen; gerade die schwächere N a t u r , als die zartere und freiere, macht alles Fortschreiten überhaupt möglich. Ein Volk, das irgendwo anbröckelt und schwach wird, aber im Ganzen noch stark und gesund ist, vermag die Infection des Neuen aufzunehmen und sich zum Vortheil einzuverleiben. Bei dem einzelnen Menschen lautet die Aufgabe der Erziehung so: ihn so fest und sicher hinzustellen, dass er als Ganzes gar nicht mehr aus seiner Bahn abgelenkt werden kann. Dann aber hat der Erzieher ihm Wunden beizubringen oder die Wunden, welche das Schicksal ihm schlägt, zu benutzen, und wenn so der Schmerz und das Bedürfniss entstanden sind, so kann auch in die verwundeten Stellen etwas Neues und Edles inoculirt werden. Seine gesammte N a t u r wird es in sich hineinnehmen und
5. Anzeichen höherer und niederer Cultur 2 2 4 — 2 2 5
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später, in ihren Früchten, die Veredelung spüren lassen. — Was den Staat betrifft, so sagt Macchiavelli, dass „die Form der Regierungen
von
sehr geringer Bedeutung ist,
obgleich
halbgebildete Leute anders denken. D a s grosse Ziel der Staatskunst sollte D a u e r
sein, welche alles Andere aufwiegt, in-
dem sie weit werthvoller ist, als Freiheit". N u r bei sicher begründeter und verbürgter grösster Dauer ist stetige Entwickelung und veredelnde Inoculation überhaupt möglich. Freilich wird
gewöhnlich
die gefährliche Genossin
aller Dauer,
die
Autorität, sich dagegen wehren.
22J. Freigeist
ein
relativer
B e g r i f f . — M a n nennt
Den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet. E r ist die Ausnahme, die gebundenen Geister sind die Regel; diese werfen ihm vor, dass seine freien Grundsätze ihren Ursprung entweder in der Sucht, aufzufallen, haben oder gar auf freie H a n d lungen, das heisst auf solche, welche mit der gebundenen M o ral unvereinbar sind, schliessen lassen. Bisweilen sagt man auch, diese oder jene freien Grundsätze seien aus Verschrobenheit und Ueberspanntheit des Kopfes herzuleiten; doch spricht so nur die Bosheit, welche selber an Das nicht glaubt, was sie sagt, aber damit schaden will: denn das Zeugniss für die grössere Güte und Schärfe seines Intellectes ist dem Freigeist gewöhnlich in's G e sicht geschrieben, so lesbar, dass es die gebundenen Geister gut genug verstehen. Aber die beiden andern Ableitungen der Freigeisterei sind redlich gemeint; in der T h a t entstehen auch viele Freigeister auf die eine oder die andere A r t . Desshalb könnten aber die Sätze, zu denen sie auf jenen Wegen gelangten, doch wahrer und zuverlässiger sein, als die der gebundenen Geister. Bei der Erkenntniss der Wahrheit kommt es darauf an, dass
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Menschliches, Allzumenschliches I
man sie h a t , nicht darauf, aus welchem Antrieb man sie gesucht, auf welchem Wege man sie gefunden hat. Haben die Freigeister Recht, so haben die gebundenen Geister Unrecht, gleichgültig, ob die ersteren aus Unmoralität zur Wahrheit gekommen sind, die anderen aus Moralität bisher an der Unwahrheit festgehalten haben. — Uebrigens gehört es nicht zum Wesen des Freigeistes, dass er richtigere Ansichten hat, sondern vielmehr, dass er sich von dem Herkömmlichen gelöst hat, sei es mit Glück oder mit einem Misserfolg. Für gewöhnlich wird er aber doch die Wahrheit oder mindestens den Geist der Wahrheitsforschung auf seiner Seite haben: er fordert Gründe, die Anderen Glauben.
22 6. H e r k u n f t d e s G l a u b e n s . — Der gebundene Geist nimmt seine Stellung nicht aus Gründen ein, sondern aus Gewöhnung; er ist zum Beispiel Christ, nicht weil er die Einsicht in die verschiedenen Religionen und die Wahl zwischen ihnen gehabt hätte; er ist Engländer, nicht weil er sich für England entschieden hat, sondern er fand das Christenthum und das Engländerthum vor und nahm sie an ohne Gründe, wie Jemand, der in einem Weinlande geboren wurde, ein Weintrinker wird. Später, als er Christ und Engländer war, hat er vielleicht auch einige Gründe zu Gunsten seiner Gewöhnung ausfindig gemacht; man mag diese Gründe umwerfen, damit wirft man ihn in seiner ganzen Stellung nicht um. Man nöthige zum Beispiel einen gebundenen Geist, seine Gründe gegen die Bigamie vorzubringen, dann wird man erfahren, ob sein heiliger Eifer f ü r die Monogamie auf Gründen oder auf Angewöhnung beruht. Angewöhnung geistiger Grundsätze ohne Gründe nennt man Glauben.
5. Anzeichen höherer und niederer Cultur 225—227
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227. Aus den Folgen auf G r u n d und Ungrund z u r ü c k g e s c h l o s s e n . — Alle Staaten und Ordnungen der Gesellschaft: die Stände, die Ehe, die Erziehung, das Recht, alles diess hat seine Kraft und Dauer allein in dem Glauben der gebundenen Geister an sie, — also in der Abwesenheit der Gründe, mindestens in der Abwehr des Fragens nach Gründen. Das wollen die gebundenen Geister nicht gern zugeben und sie fühlen wohl, dass es ein Pudendum ist. Das Christenthum, das sehr unschuldig in seinen intellectuellen Einfällen war, merkte von diesem Pudendum Nichts, forderte Glauben und Nichts als Glauben und wies das Verlangen nach Gründen mit Leidenschaft ab; es zeigte auf den Erfolg des Glaubens hin: ihr werdet den Vortheil des Glaubens schon spüren, deutete es an, ihr sollt durch ihn selig werden. Thatsächlich verfährt der Staat ebenso und jeder Vater erzieht in gleicher Weise seinen Sohn: halte diess nur f ü r wahr, sagt er, du wirst spüren, wie gut diess thut. Diess bedeutet aber, dass aus dem persönlichen N u t z e n , den eine Meinung einträgt, ihre W a h r h e i t erwiesen werden soll, die Zuträglichkeit einer Lehre soll für die intellectuelle Sicherheit und Begründetheit Gewähr leisten. Es ist diess so, wie wenn der Angeklagte vor Gericht spräche: mein Vertheidiger sagt die ganze Wahrheit, denn seht nur zu, was aus seiner Rede folgt: ich werde freigesprochen. — Weil die gebundenen Geister ihre Grundsätze ihres Nutzens wegen haben, so vermuthen sie auch beim Freigeist, dass er mit seinen Ansichten ebenfalls seinen Nutzen suche und nur Das f ü r wahr halte, was ihm gerade frommt. Da ihm aber das Entgegengesetzte von dem zu nützen scheint, was seinen Landes- oder Standesgenossen nützt, so nehmen diese an, dass seine Grundsätze ihnen gefährlich sind; sie sagen oder fühlen: er darf nicht Recht haben, denn er ist uns schädlich.
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Menschliches, Allzumensdilidies I
228.
D e r s t a r k e , g u t e C h a r a k t e r . — Die Gebundenheit der Ansichten, durch Gewöhnung zum Instinct geworden, führt zu dem, was man Charakterstärke nennt. Wenn Jemand aus wenigen, aber immer aus den gleichen Motiven handelt, so erlangen seine Handlungen eine grosse Energie; stehen diese Handlungen im Einklänge mit den Grundsätzen der gebundenen Geister, so werden sie anerkannt und erzeugen nebenbei in Dem, der sie thut, die Empfindung des guten Gewissens. Wenige Motive, energisches Handeln und gutes Gewissen machen Das aus, was man Charakterstärke nennt. Dem Charakterstarken fehlt die Kenntniss der vielen Möglichkeiten und Richtungen des Handelns; sein Intellect ist unfrei, gebunden, weil er ihm in einem gegebenen Falle vielleicht nur zwei Möglichkeiten zeigt; zwischen diesen muss er jetzt gemäss seiner ganzen Natur mit Nothwendigkeit wählen, und er thut diess leicht und schnell, weil er nicht zwischen fünfzig Möglichkeiten zu wählen hat. Die erziehende Umgebung will jeden Menschen unfrei machen, indem sie ihm immer die geringste Zahl von Möglichkeiten vor Augen stellt. Das Individuum wird von seinen Erziehern behandelt, als ob es zwar etwas Neues sei, aber eine W i e d e r h o l u n g werden solle. Erscheint der Mensch zunächst als etwas Unbekanntes, nie Dagewesenes, so soll er zu etwas Bekanntem, Dagewesenem gemacht werden. Einen guten Charakter nennt man an einem Kinde das Sichtbarwerden der Gebundenheit durch das Dagewesene; indem das Kind sich auf die Seite der gebundenen Geister stellt, bekundet es zuerst seinen erwachenden Gemeinsinn; auf der Grundlage dieses Gemeinsinns aber wird es später seinem Staate oder Stande nützlich.
229.
Maass
der
Dinge
bei
den
gebundenen
5. Anzeichen höherer und niederer C u l t u r 228—230
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G e i s t e r n . — Von vier Gattungen der Dinge sagen die gebundenen Geister, sie seien im Rechte. Erstens: alle Dinge, welche Dauer haben, sind im Recht; zweitens: alle Dinge, welche uns nicht lästig fallen, sind im Recht; drittens: alle Dinge, welche 5 uns Vortheil bringen, sind im Recht; viertens: alle Dinge, für welche wir Opfer gebracht haben, sind im Recht. Letzteres erklärt zum Beispiel, wesshalb ein Krieg, der wider Willen des Volkes begonnen wurde, mit Begeisterung fortgeführt wird, sobald erst O p f e r gebracht sind. — Die Freigeister, welche ihre io Sache vor dem Forum der gebundenen Geister führen, haben nachzuweisen, dass es immer Freigeister gegeben hat, also dass die Freigeisterei Dauer hat, sodann, dass sie nicht lästig fallen wollen, und endlich, dass sie den gebundenen Geistern im Ganzen Vortheil bringen; aber weil sie von diesem Letzten die ge15 bundenen Geister nicht überzeugen können, nützt es ihnen Nichts, den ersten und zweiten Punct bewiesen zu haben.
230.
E s p r i t f o r t . — Verglichen mit Dem, welcher das Herkommen auf seiner Seite hat und keine Gründe f ü r sein Handein braucht, ist der Freigeist immer schwach, namentlich im Handeln; denn er kennt zu viele Motive und Gesichtspuncte und hat desshalb eine unsichere, ungeübte Hand. Welche Mittel giebt es nun, um ihn doch v e r h ä l t n i s s m ä s s i g stark zu machen, so dass er sich wenigstens durchsetzt und nicht wir2 5 kungslos zu Grunde geht? Wie entsteht der starke Geist (esprit fort)? Es ist diess in einem einzelnen Falle die Frage nach der Erzeugung des Genius'. Woher kommt die Energie, die unbeugsame Kraft, die Ausdauer, mit welcher der Einzelne, dem Herkommen entgegen, eine ganz individuelle Erkenntniss der Welt 30 zu erwerben trachtet?
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Menschliches, Allzumenschlidies I
231.
5
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20
D i e E n t s t e h u n g d e s G e n i e ' s . — Der Witz des Gefangenen, mit welchem er nach Mitteln zu seiner Befreiung sucht, die kaltblütigste und langwierigste Benützung jedes kleinsten Vortheils kann lehren, welcher Handhabe sich mitunter die N a t u r bedient, um das Genie — ein Wort, das ich bitte, ohne allen mythologischen und religiösen Beigeschmack zu verstehen — zu Stande zu bringen: sie fängt es in einen Kerker ein und reizt seine Begierde, sich zu befreien, auf das äusserste. — Oder mit einem anderen Bilde: Jemand, der sich auf seinem Wege im Walde völlig verirrt hat, aber mit ungemeiner Energie nach irgend einer Richtung hin in's Freie strebt, entdeckt mitunter einen neuen Weg, welchen Niemand kennt: so entstehen die Genies, denen man Originalität nachrühmt. — Es wurde schon erwähnt, dass eine Verstümmelung, Verkrüppelung, ein erheblicher Mangel eines Organs häufig die Veranlassung dazu giebt, dass ein anderes Organ sich ungewöhnlich gut entwickelt, weil es seine eigene Function und noch eine andere zu versehen hat. Hieraus ist der Ursprung mancher glänzenden Begabung zu errathen. — Aus diesen allgemeinen Andeutungen über die Entstehung des Genius' mache man die Anwendung auf den speciellen Fall, die Entstehung des vollkommenen Freigeistes.
232. V e r m u t h u n g über den U r s p r u n g der Frei5 g e i s t e r e i . — Ebenso wie die Gletscher zunehmen, wenn in den Aequatorialgegenden die Sonne mit grösserer Gluth als früher auf die Meere niederbrennt, so mag auch wohl eine sehr starke, um sich greifende Freigeisterei Zeugniss d a f ü r sein, dass irgendwo die Gluth der Empfindung ausserordentlich gewach3° senist.
2
5. Anzeichen h ö h e r e r u n d niederer C u l t u r 231—234 2
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33-
D i e S t i m m e d e r G e s c h i c h t e . — Im Allgemeinen s c h e i n t die Geschichte über die Erzeugung des Genius' folgende Belehrung zu geben: misshandelt und quält die Menschen, — so ruft sie den Leidenschaften Neid, Hass und Wetteifer zu — treibt sie zum Aeussersten, den Einen wider den Andern, das Volk gegen das Volk, und zwar durch Jahrhunderte hindurch, dann flammt vielleicht, gleichsam aus einem bei Seite fliegenden Funken der dadurch entzündeten furchtbaren Energie, auf einmal das Licht des Genius' empor; der Wille, wie ein Ross durch den Sporn des Reiters wild gemacht, bricht dann aus und springt auf ein anderes Gebiet über. — Wer zum Bewusstsein über die Erzeugung des Genius' käme und die Art, wie die N a t u r gewöhnlich verfährt, auch praktisch durchführen wollte, würde gerade so böse und rücksichtslos wie die N a t u r sein müssen. — Aber vielleicht haben wir uns verhört.
234.
W e r t h d e r M i t t e d e s W e g s . — Vielleicht ist die Erzeugung des Genius' nur einem begränzten Zeiträume der Menschheit vorbehalten. Denn man darf von der Zukunft der Menschheit nicht zugleich alles Das erwarten, was ganz bestimmte Bedingungen irgend welcher Vergangenheit allein hervorzubringen vermochten; zum Beispiel nicht die erstaunlichen Wirkungen des religiösen Gefühles. Dieses selbst hat seine Zeit gehabt und vieles sehr Gute kann nie wieder wachsen, weil es allein aus ihm wachsen konnte. So wird es nie wieder einen religiös umgränzten Horizont des Lebens und der Cultur geben. Vielleicht ist selbst der Typus des Heiligen nur bei einer gewissen Befangenheit des Intellectes möglich, mit der es, wie es scheint, f ü r alle Zukunft vorbei ist. Und so ist die Höhe der Intelligenz vielleicht einem einzelnen Zeitalter der Menschheit aufgespart gewesen: sie trat hervor — und tritt hervor, denn
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Menschliches, Allzumenschliches I
wir leben noch in diesem Zeitalter — , als eine ausserordentliche, lang angesammelte Energie des Willens sich ausnahmsweise auf g e i s t i g e Ziele durch Vererbung übertrug. Es wird mit jener Höhe vorbei sein, wenn diese Wildheit und 5 Energie nicht mehr gross gezüchtet werden. Die Menschheit kommt vielleicht auf der Mitte ihres Weges, in der mittleren Zeit ihrer Existenz, ihrem eigentlichen Ziele näher, als am Ende. Es könnten K r ä f t e , durch welche zum Beispiel die Kunst bedingt ist, geradezu aussterben; die Lust am Lügen, am U n io genauen, am Symbolischen, am Rausche, an der Ekstase könnte in Missachtung kommen. J a , ist das Leben erst im vollkommenen Staate geordnet, so ist aus der Gegenwart gar kein Motiv zur Dichtung mehr zu entnehmen, und es würden allein die zurückgebliebenen Menschen sein, welche nach dichterischer Unwirklichkeit verlangten. Diese würden dann jedenfalls mit Sehnsucht rückwärts schauen, nach den Zeiten des unvollkommenen Staates, der halb-barbarischen Gesellschaft nach u n s e r e n Zeiten.
2 35G e n i u s u n d i d e a l e r S t a a t in W i d e r s p r u c h . — Die Socialisten begehren für möglichst Viele ein Wohlleben herzustellen. Wenn die dauernde Heimath dieses Wohllebens, der vollkommene Staat, wirklich erreicht wäre, so würde durch dieses Wohlleben der Erdboden, aus dem der grosse Intellect und 15 überhaupt das mächtige Individuum wächst, zerstört sein: ich meine die starke Energie. Die Menschheit würde zu matt geworden sein, wenn dieser Staat erreicht ist, um den Genius noch erzeugen zu können. Müsste man somit nicht wünschen, dass das Leben seinen gewaltsamen Charakter behalte und dass immer 3 ° von N e u e m wieder wilde K r ä f t e und Energien hervorgerufen werden? N u n will das warme, mitfühlende H e r z gerade die B e s e i t i g u n g jenes gewaltsamen und wilden Charakters,
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und das wärmste Herz, das man sich denken kann, würde eben darnach am leidenschaftlichsten verlangen: während doch gerade seine Leidenschaft aus jenem wilden und gewaltsamen Charakter des Lebens ihr Feuer, ihre Wärme, ja ihre Existenz genommen hat; das wärmste Herz will also Beseitigung seines Fundamentes, Vernichtung seiner selbst, das heisst doch: es will etwas Unlogisches, es ist nicht intelligent. Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in einer Person beisammen sein, und der Weise, welcher über das Leben das Urtheil spricht, stellt sich auch über die Güte und betrachtet diese nur als Etwas, das bei der Gesammtrechnung des Lebens mit abzuschätzen ist. Der Weise muss jenen ausschweifenden Wünschen der unintelligenten Güte widerstreben, weil ihm an dem Fortleben seines Typus' und an dem endlichen Entstehen des höchsten Intellectes gelegen ist; mindestens wird er der Begründung des „vollkommenen Staates" nicht förderlich sein, insofern in ihm nur ermattete Individuen Platz haben. Christus dagegen, den wir uns einmal als das wärmste Herz denken wollen, förderte die Verdummung der Menschen, stellte sich auf die Seite der geistig Armen und hielt die Erzeugung des grössten Intellectes auf: und diess war consequent. Sein Gegenbild, der vollkommene Weise — diess darf man wohl vorhersagen — wird ebenso nothwendig der Erzeugung eines Christus hinderlich sein. — Der Staat ist eine kluge Veranstaltung zum Schutz der Individuen gegen einander: übertreibt man seine Veredelung, so wird zuletzt das Individuum durch ihn geschwächt, ja aufgelöst, — also der ursprüngliche Zweck des Staates am gründlichsten vereitelt.
236.
D i e Z o n e n d e r C u l t u r . — Man kann gleichnissweise sagen, dass die Zeitalter der Cultur den Gürteln der verschiedenen Klimate entsprechen, nur dass diese hinter einander und nicht, wie die geographischen Zonen, neben einander liegen. Im
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Vergleich mit der gemässigten Zone der Cultur, in welche überzugehen unsere A u f g a b e ist, macht die vergangene im Ganzen und Grossen den Eindruck eines t r o p i s c h e n Klima's. Gewaltsame Gegensätze, schroffer Wechsel von T a g und Nacht, Gluth und Farbenpracht, die Verehrung alles Plötzlichen, Geheimnissvollen, Schrecklichen, die Schnelligkeit der hereinbrechenden Unwetter, überall das verschwenderische Ueberströmen der Füllhörner der N a t u r : und dagegen, in unserer Cultur, ein heller, doch nicht leuchtender Himmel, reine, ziemlich gleich verbleibende Luft, Schärfe, ja K ä l t e gelegentlich: so heben sich beide Zonen gegen einander ab. Wenn wir dort sehen, wie die wüthendsten Leidenschaften durch metaphysische Vorstellungen mit unheimlicher Gewalt niedergerungen und zerbrochen werden, so ist es uns zu Muthe, als ob vor unsern Augen in den Tropen wilde Tiger unter den Windungen ungeheurer Schlangen zerdrückt würden; unserem geistigen K l i m a fehlen solche Vorkommnisse, unsere Phantasie ist gemässigt, selbst im Traume kommt uns D a s nicht bei, was frühere Völker im Wachen sahen. Aber sollten wir über diese Veränderung nicht glücklich sein dürfen, selbst zugegeben, dass die Künstler durch das Verschwinden der tropischen Cultur wesentlich beeinträchtigt sind und uns Nicht-Künstler ein Wenig zu nüchtern finden? Insofern haben Künstler wohl das Recht, den „Fortschritt" zu leugnen, denn in der T h a t : ob die letzten drei Jahrtausende in den Künsten einen fortschreitenden Verlauf zeigen, das lässt sich mindestens bezweifeln; ebenso wird ein metaphysischer Philosoph, wie Schopenhauer, keinen Anlass haben, den Fortschritt zu erkennen, wenn er die letzten vier Jahrtausende in Bezug auf metaphysische Philosophie und Religion überblickt. — Uns gilt aber die E x i s t e n z der gemässigten Zone der Cultur selbst als Fortschritt.
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37R e n a i s s a n c e u n d R e f o r m a t i o n . — Die italiänische Renaissance barg in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Cultur verdankt: also Befreiung des Gedankens, Missachtung der Autoritäten, Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft, 'Begeisterung für die Wissenschaft und die wissenschaftliche Vergangenheit der Menschen, Entfesselung des Individuums, eine Gluth der Wahrhaftigkeit und Abneigung gegen Schein und blosen Effect (welche Gluth in einer ganzen Fülle künstlerischer Charaktere hervorloderte, die Vollkommenheit in ihren Werken und Nichts als Vollkommenheit mit höchster sittlicher Reinheit von sich forderten); ja, die Renaissance hatte positive Kräfte, welche in unserer bisherigen modernen Cultur noch nicht wieder so mächtig geworden sind. Es war das goldene Zeitalter dieses Jahrtausends, trotz aller Flecken und Laster. Dagegen hebt sich nun die deutsche Reformation ab als ein energischer Protest zurückgebliebener Geister, welche die Weltanschauung des Mittelalters noch keineswegs satt hatten und die Zeichen seiner Auflösung, die ausserordentliche Verflachung und Veräusserlichung des religiösen Lebens, anstatt mit Frohlocken, wie sich gebührt, mit tiefem Unmuthe empfanden. Sie warfen mit ihrer nordischen Kraft und Halsstarrigkeit die Menschen wieder zurück, erzwangen die Gegenreformation, das heisst ein katholisches Christenthum der N o t h wehr, mit den Gewaltsamkeiten eines Belagerungszustandes und verzögerten um zwei bis drei Jahrhunderte ebenso das völlige Erwachen und Herrschen der Wissenschaften, als sie das völlige In-Eins-Verwachsen des antiken und des modernen Geistes vielleicht für immer unmöglich machten. Die grosse Aufgabe der Renaissance konnte nicht zu Ende gebracht werden, der Protest des inzwischen zurückgebliebenen deutschen Wesens (welches im Mittelalter Vernunft genug gehabt hatte, um immer und immer wieder zu seinem Heile über die Alpen zu steigen) verhinderte diess. Es lag in dem Zufall einer ausserordentlichen Constel-
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Menschliches, Allzumenschliches I
lation der Politik, dass damals Luther erhalten blieb und jener Protest K r a f t gewann: denn der Kaiser schützte ihn, um seine Neuerung gegen den Papst als Werkzeug des Druckes zu verwenden, und ebenfalls begünstigte ihn im Stillen der Papst, um die protestantischen Reichsfürsten als Gegengewicht gegen den Kaiser zu benutzen. Ohne diess seltsame Zusammenspiel der Absichten wäre Luther verbrannt worden wie Huss — und die Morgenröthe der Aufklärung vielleicht etwas früher und mit schönerem Glänze, als wir jetzt ahnen können, aufgegangen.
238.
G e r e c h t i g k e i t gegen den w e r d e n d e n Gott. — Wenn sich die ganze Geschichte der Cultur vor den Blicken aufthut als ein Gewirr von bösen und edlen, wahren und falschen Vorstellungen und es Einem beim Anblick dieses Wellenschlags fast seekrank zu Muthe wird, so begreift man, was für ein Trost in der Vorstellung eines w e r d e n d e n G o t t e s liegt: dieser enthüllt sich immer mehr in den Verwandelungen und Schicksalen der Menschheit, es ist nicht Alles blinde Mechanik, sinnund zweckloses Durcheinanderspielen von K r ä f t e n . Die Vergottung des Werdens ist ein metaphysischer Ausblick — gleichsam von einem Leuchtthurm am Meere der Geschichte herab — , an welchem eine allzuviel historisirende Gelehrtengeneration ihren Trost fand; darüber darf man nicht böse werden, so irrthümlich jene Vorstellung auch sein mag. N u r wer, wie Schopenhauer, die Entwickelung leugnet, fühlt auch Nichts von dem Elend dieses historischen Wellenschlags und darf desshalb, weil er von jenem werdenden Gotte und dem Bedürfniss seiner A n nahme Nichts weiss, Nichts fühlt, billigerweise seinen Spott auslassen.
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D i e F r ü c h t e n a c h d e r J a h r e s z e i t . — Jede bessere Zukunft, welche man der Menschheit anwünscht, ist nothwendigerweise auch in manchem Betracht eine schlechtere Zukunft: denn es ist Schwärmerei, zu glauben, dass eine höhere neue Stufe der Menschheit alle die Vorzüge früherer Stufen in sich vereinigen werde und zum Beispiel auch die höchste Gestaltung der Kunst erzeugen müsse. Vielmehr hat jede Jahreszeit ihre Vorzüge und Reize f ü r sich und schliesst die der anderen aus. Das, was aus der Religion und in ihrer Nachbarschaft gewachsen ist, kann nicht wieder wachsen, wenn diese zerstört ist; höchstens können verirrte, spät kommende Absenker zur Täuschung darüber verleiten, ebenso wie die zeitweilig ausbrechende Erinnerung an die alte Kunst: ein Zustand, der wohl das Gefühl des Verlustes, der Entbehrung verräth, aber kein Beweis für die Kraft ist, aus der eine neue Kunst geboren werden könnte.
240. Z u n e h m e n d e S e v e r i t ä t d e r W e l t . — Je höher die Cultur eines Menschen steigt, um so mehr Gebiete entziehen sich dem Scherz, dem Spotte. Voltaire war f ü r die Erfindung der Ehe und der Kirche von Herzen dem Himmel dankbar: als welcher damit so gut f ü r unsere Aufheiterung gesorgt habe. Aber er und seine Zeit, und vor ihm das sechszehnte Jahrhundert, haben diese Themen zu Ende gespottet; es ist Alles, was jetzt Einer auf diesem Gebiete noch witzelt, verspätet und vor Allem gar zu wohlfeil, als dass es die Käufer begehrlich machen könnte. Jetzt fragt man nach den Ursachen; es ist das Zeitalter des Ernstes. Wem liegt jetzt noch daran, die Differenzen zwischen Wirklichkeit und anspruchsvollem Schein, zwischen dem, was der Mensch ist und was er vorstellen will, in scherzhaftem Lichte zu sehen; das Gefühl dieser Contraste wirkt alsbald ganz anders, wenn man nach den Gründen sucht. Je gründlicher Jemand das
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Leben versteht, desto weniger wird er spotten, nur dass er zuletzt vielleicht noch über die „Gründlichkeit seines Verstehens" spottet.
241. G e n i u s d e r C u l t u r . — Wenn Jemand einen Genius der Cultur imaginiren wollte, wie würde dieser beschaffen sein? Er handhabt die Lüge, die Gewalt, den rücksichtslosesten Eigennutz so sicher als seine Werkzeuge, dass er nur ein böses dämonisches Wesen zu nennen wäre; aber seine Ziele, welche hie und da durchleuchten, sind gross und gut. Es ist ein Centaur, halb Thier, halb Mensch und hat noch Engelsflügel dazu am Haupte.
242. W u n d e r - E r z i e h u n g . — Das Interesse an der Erziehung wird erst von dem Augenblick an grosse Stärke bekommen, wo man den Glauben an einen Gott und seine Fürsorge aufgiebt: ebenso wie die Heilkunst erst erblühen konnte, als der Glaube an Wunder-Curen aufhörte. Bis jetzt glaubt aber alle Welt noch an die Wunder-Erziehung: aus der grössten Unordnung, Verworrenheit der Ziele, Ungunst der Verhältnisse sah man ja die fruchtbarsten, mächtigsten Menschen erwachsen: wie konnte diess doch mit rechten Dingen zugehen? — Jetzt wird man, bald auch in diesen Fällen, näher zusehen, sorgsamer prüfen: Wunder wird man dabei niemals entdecken. Unter gleichen Verhältnissen gehen fortwährend zahlreiche Menschen zu Grunde, das einzelne gerettete Individuum ist d a f ü r gewöhnlich stärker geworden, weil es diese schlimmen Umstände vermöge unverwüstlicher eingeborener Kraft ertrug und diese Kraft noch geübt und vermehrt hat: so erklärt sich das Wunder. Eine Erziehung, welche an kein Wunder mehr glaubt, wird auf dreierlei zu achten haben: erstens, wie viel Energie ist vererbt? zweitens, wo-
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durch kann noch neue Energie entzündet werden? drittens, wie kann das Individuum jenen so überaus vielartigen Ansprüchen der Cultur angepasst werden, ohne dass diese es beunruhigen und seine Einartigkeit zersplittern, — kurz, wie kann das Individuum in den Contrapunct der privaten und öffentlichen Cultur eingereiht werden, wie kann es zugleich die Melodie führen und als Melodie begleiten?
243.
D i e Z u k u n f t d e s A r z t e s . — Es giebt jetzt keinen Beruf, der eine so hohe Steigerung zuliesse, wie der des Arztes; namentlich nachdem die geistlichen Aerzte, die sogenannten Seelsorger ihre Beschwörungskünste nicht mehr unter öffentlichem Beifall treiben dürfen und ein Gebildeter ihnen aus dem Wege geht. Die höchste geistige Ausbildung eines Arztes ist jetzt nicht erreicht, wenn er die besten neuesten Methoden kennt und auf sie eingeübt ist und jene fliegenden Schlüsse von Wirkungen auf Ursachen zu machen versteht, derentwegen die Diagnostiker berühmt sind: er muss ausserdem eine Beredtsamkeit haben, die sich jedem Individuum anpasst und ihm das Herz aus dem Leibe zieht, eine Männlichkeit, deren Anblick schon den Kleinmuth (den Wurmfrass aller Kranken) verscheucht, eine Diplomaten-Geschmeidigkeit im Vermitteln zwischen Solchen, welche Freude zu ihrer Genesung nöthig haben und Solchen, die aus Gesundheitsgründen Freude machen müssen (und können), die Feinheit eines Polizeiagenten und Advocaten, die Geheimnisse einer Seele zu verstehen, ohne sie zu verrathen, — kurz ein guter Arzt bedarf jetzt der Kunstgriffe und Kunstvorrechte aller andern Berufsclassen: so ausgerüstet, ist er dann im Stande, der ganzen Gesellschaft ein Wohlthäter zu werden, durch Vermehrung guter Werke, geistiger Freude und Fruchtbarkeit, durch Verhütung von bösen Gedanken, Vorsätzen, Schurkereien (deren ekler Quell so häufig der Unterleib ist), durch Herstel-
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lung einer geistig-leiblichen Aristokratie (als Ehestifter und Eheverhinderer), durch wohlwollende Abschneidung aller sogenannten Seelenqualen und Gewissensbisse: so erst wird er aus einem „Medicinmann" ein Heiland und braucht doch keine Wunder zu thun, hat auch nicht nöthig, sich kreuzigen zu lassen.
244. In der N a c h b a r s c h a f t des Wahnsinns. — Die Summe der Empfindungen, Kenntnisse, Erfahrungen, also die ganze Last der Cultur, ist so gross geworden, dass eine Ueberreizung der Nerven- und D e n k k r ä f t e die allgemeine Gefahr ist, ja dass die cultivirten Classen der europäischen Länder durchweg neurotisch sind und fast jede ihrer grösseren Familien in einem Gliede dem Irrsinn nahe gerückt ist. N u n kommt man zwar der Gesundheit jetzt auf alle Weise entgegen; aber in der Hauptsache bleibt eine Verminderung jener Spannung des Gefühls, jener niederdrückenden Cultur-Last vonnöthen, welche, wenn sie selbst mit schweren Einbussen erkauft werden sollte, uns doch zu der grossen H o f f n u n g einer n e u e n R e n a i s s a n c e Spielraum giebt. M a n hat dem Christenthum, den Philosophen, Dichtern, Musikern eine Ueberfülle tief erregter E m p findungen zu danken: damit diese uns nicht überwuchern, müssen wir den Geist der Wissenschaft beschwören, welcher im G a n zen etwas kälter und skeptischer macht und namentlich den Gluthstrom des Glaubens an letzte endgültige Wahrheiten abkühlt; er ist vornehmlich durch das Christenthum so wild geworden.
245. G l o c k e n g u s s d e r C u l t u r . — Die Cultur ist entstanden wie eine Glocke, innerhalb eines Mantels von gröberem, gemeinerem Stoffe: Unwahrheit, Gewaltsamkeit, unbegränzte
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Ausdehnung aller einzelnen Ich's, aller einzelnen Völker, waren dieser Mantel. Ist es an der Zeit, ihn jetzt abzunehmen? Ist das Flüssige erstarrt, sind die guten, nützlichen Triebe, die Gewohnheiten des edleren Gemüthes so sicher und allgemein geworden, dass es keiner Anlehnung an Metaphysik und die Irrthümer der Religionen mehr bedarf, keiner Härten und Gewaltsamkeiten als mächtigster Bindemittel zwischen Mensch und Mensch, Volk und Volk? — Zur Beantwortung dieser Frage ist kein Wink eines Gottes uns mehr hülfreich: unsere eigene Einsicht muss da entscheiden. Die Erdregierung des Menschen im Grossen hat der Mensch selber in die H a n d zu nehmen, seine „Allwissenheit" muss über dem weiteren Schicksal der Cultur mit scharfem Auge wachen.
246. D i e C y k l o p e n d e r C u l t u r . — Wer jene zerfurchten Kessel sieht, in denen Gletscher gelagert haben, hält es kaum für möglich, dass eine Zeit kommt, wo an der selben Stelle ein Wiesen- und Waldthal mit Bächen darin sich hinzieht. So ist es auch in der Geschichte der Menschheit; die wildesten K r ä f t e brechen Bahn, zunächst zerstörend, aber trotzdem war ihre Thätigkeit nöthig, damit später eine mildere Gesittung hier ihr H a u s aufschlage. Die schrecklichen Energien — Das, was man das Böse nennt — sind die cyklopischen Architekten und Wegebauer der Humanität.
247. K r e i s l a u f d e s M e n s c h e n t h u m s . — Vielleicht ist das ganze Menschenthum nur eine Entwickelungsphase einer bestimmten Thierart von begränzter Dauer: so dass der Mensch aus dem Affen geworden ist und wieder zum Affen werden wird, während Niemand da ist, der an diesem verwunderlichen
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Komödienausgang irgend ein Interesse nehme. So wie mit dem Verfalle der römischen Cultur und seiner wichtigsten Ursache, der Ausbreitung des Christenthums, eine allgemeine Verhässlichung des Menschen innerhalb des römischen Reiches überhand 5 nahm, so könnte auch durch den einstmaligen Verfall der allgemeinen Erdcultur eine viel höher gesteigerte Verhässlichung und endlich Verthierung des Menschen, bis in's Affenhafte, herbeigeführt werden. — Gerade weil wir diese Perspective in's Auge fassen können, sind wir vielleicht im Stande, einem solchen Ende der Zukunft vorzubeugen.
248.
T r o s t r e d e eines desperaten Fortschritts. — Unsere Zeit macht den Eindruck eines Interim-Zustandes; die alten Weltbetrachtungen, die alten Culturen sind noch theilweise 15 vorhanden, die neuen noch nicht sicher und gewohnheitsmässig und daher ohne Geschlossenheit und Consequenz. Es sieht aus, als ob Alles chaotisch würde, das Alte verloren gienge, das Neue nichts tauge und immer schwächlicher werde. Aber so geht es dem Soldaten, welcher marschiren lernt; er ist eine Zeit lang unsicherer und unbeholfener als je, weil die Muskeln bald nach dem alten System, bald nach dem neuen bewegt werden und noch keines entschieden den Sieg behauptet. Wir schwanken, aber es ist nöthig, dadurch nicht ängstlich zu werden und das Neu-Errungene etwa preiszugeben. Ueberdiess k ö n n e n wir in's 25 Alte nicht zurück, wir h a b e n die Schiffe verbrannt; es bleibt nur übrig, tapfer zu sein, mag nun dabei diess oder jenes herauskommen. — S c h r e i t e n wir nur zu, kommen wir nur von der Stelle! Vielleicht sieht sich unser Gebahren doch einmal wie F o r t s c h r i t t an; wenn aber nicht, so mag 3° Friedrich's des Grossen Wort auch zu uns gesagt sein und zwar zum Tröste: A h , mon eher Sulzer, vous ne connaissez pas assez cette race maudite, ä laquelle nous appartenons.
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24 9. An der V e r g a n g e n h e i t der C u l t u r leiden. — Wer sich das Problem der Cultur klar gemacht hat, leidet dann an einem ähnlichen Gefühle wie Der, welcher einen durch unrechtmässige Mittel erworbenen Reichthum ererbt hat, oder wie der Fürst, der durch Gewaltthat seiner Vorfahren regiert. Er denkt mit Trauer an seinen Ursprung und ist oft beschämt, oft reizbar. Die ganze Summe von Kraft, Lebenswillen, Freude, welche er seinem Besitze zuwendet, balancirt sich oft mit einer tiefen Müdigkeit: er kann seinen Ursprung nicht vergessen. D i e Zukunft sieht er wehmüthig an, seine Nachkommen, er weiss es voraus, werden an der Vergangenheit leiden wie er.
250. M a n i e r e n . — Die guten Manieren verschwinden in dem Maasse, in welchem der Einfluss des H o f e s und einer abgeschlossenen Aristokratie nachlässt: man kann diese Abnahme von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlich beobachten, wenn man ein Auge für die öffentlichen Acte hat: als welche ersichtlich immer pöbelhafter werden. N i e m a n d versteht mehr, auf geistreiche A r t zu huldigen und zu schmeicheln; daraus ergiebt sich die lächerliche Thatsache, dass man in Fällen, wo man gegenwärtig Huldigungen darbringen m u s s (zum Beispiel einem grossen Staatsmanne oder Künstler), die Sprache des tiefsten Gefühls, der treuherzigen, ehrenfesten Biederkeit borgt — aus Verlegenheit und Mangel an Geist und Grazie. So scheint die öffentliche festliche Begegnung der Menschen immer ungeschickter, aber gefühlvoller und biederer, ohne diess zu sein. — Sollte es aber mit den Manieren immerfort bergab gehen? Es scheint mir vielmehr, dass die Manieren eine tiefe Curve machen und wir uns ihrem niedrigsten Stande nähern. Wenn erst die Gesellschaft ihrer Absichten und Principien sicherer geworden ist, so dass diese formbildend wirken (während jetzt die angelernten Manieren frü-
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herer formbildender Zustände immer schwächer vererbt und angelernt werden), so wird es Manieren des Umgangs, Gebärden und Ausdrücke des Verkehrs geben, welche so nothwendig und schlicht natürlich erscheinen müssen, als es diese Absichten und Principien sind. Die bessere Vertheilung der Zeit und Arbeit, die zur Begleiterin jeder schönen Mussezeit umgewandelte gymnastische Uebung, das vermehrte und strenger gewordene Nachdenken, welches selbst dem Körper Klugheit und Geschmeidigkeit giebt, bringt diess Alles mit sich. — Hier könnte man nun freilich mit einigem Spotte unserer Gelehrten gedenken, ob denn sie, die doch Vorläufer jener neuen Cultur sein wollen, sich in der That durch bessere Manieren auszeichnen? Es ist diess wohl nicht der Fall, obgleich ihr Geist willig genug dazu sein mag: aber ihr Fleisch ist schwach. Die Vergangenheit ist noch zu mächtig in ihren Muskeln: sie stehen noch in einer unfreien Stellung und sind zur H ä l f t e weltliche Geistliche, zur H ä l f t e abhängige Erzieher vornehmer Leute und Stände, und überdiess durch Pedanterie der Wissenschaft, durch veraltete geistlose Methoden verkrüppelt und unlebendig gemacht. Sie sind also, jedenfalls ihrem Körper nach und oft auch zu Dreiviertel ihres Geistes, immer noch die Höflinge einer alten, ja greisenhaften Cultur und als solche selber greisenhaft; der neue Geist, der gelegentlich in diesen alten Gehäusen rumort, dient einstweilen nur dazu, sie unsicherer und ängstlicher zu machen. In ihnen gehen sowohl die Gespenster der Vergangenheit, als die Gespenster der Zukunft um: was Wunder, wenn sie dabei nicht die beste Miene machen, nicht die gefälligste Haltung haben?
251.
Z u k u n f t d e r W i s s e n s c h a f t . — Die Wissenschaft giebt Dem, welcher in ihr arbeitet und sucht, viel Vergnügen, Dem, welcher ihre Ergebnisse l e r n t , sehr wenig. Da allmählich aber alle wichtigen Wahrheiten der Wissenschaft alltäglich
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und gemein werden müssen, so hört auch dieses wenige Vergnügen auf: so wie wir beim Lernen des so bewunderungswürdigen Einmaleins längst aufgehört haben, uns zu freuen. Wenn nun die Wissenschaft immer weniger Freude durch sich macht und immer mehr Freude, durch Verdächtigung der tröstlichen Metaphysik, Religion und Kunst, nimmt: so verarmt jene grösste Quelle der Lust, welcher die Menschheit fast ihr gesammtes Menschenthum verdankt. Desshalb muss eine höhere Cultur dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaf!; zu empfinden: neben einander liegend, ohne Verwirrung, trennbar, abschliessbar; es ist diess eine Forderung der Gesundheit. Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muss geheizt werden, mit H ü l f e der erkennenden Wissenschaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt werden. — Wird dieser Forderung der höheren Cultur nicht genügt, so ist der weitere Verlauf der menschlichen Entwickelung fast mit Sicherheit vorherzusagen: das Interesse am Wahren hört auf, je weniger es Lust gewährt; die Illusion, der Irrthum, die Phantastik erkämpfen sich Schritt um Schritt, weil sie mit Lust verbunden sind, ihren ehemals behaupteten Boden: der Ruin der Wissenschaften, das Zurücksinken in Barbarei ist die nächste Folge; von Neuem muss die Menschheit wieder anfangen, ihr Gewebe zu weben, nachdem sie es, gleich Penelope, des Nachts zerstört hat. Aber wer bürgt uns dafür, dass sie immer wieder die Kraft dazu findet?
2J2.
D i e L u s t a m E r k e n n e n . — Wesshalb ist das Erkennen, das Element des Forschers und Philosophen, mit Lust verknüpft? Erstens und vor Allem, weil man sich dabei seiner Kraft bewusst wird, also aus dem selben Grunde, aus dem gymnasti-
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sehe Uebungen auch ohne Zuschauer lustvoll sind. Zweitens, weil man, im Verlauf der Erkenntniss, über ältere Vorstellungen und deren Vertreter, hinauskommt, Sieger wird oder wenigstens es zu sein glaubt. Drittens, weil wir uns durch eine noch so kleine neue Erkenntniss über A l l e erhaben und uns als die Einzigen fühlen, welche hierin das Richtige wissen. Diese drei Gründe zur Lust sind die wichtigsten, doch giebt es, je nach der N a t u r des Erkennenden, noch viele Nebengründe. — Ein nicht unbeträchtliches Verzeichniss von solchen giebt, an einer Stelle, wo man es nicht suchen würde, meine paraenetische Schrift über Schopenhauer: mit deren Aufstellungen sich jeder erfahrene Diener der Erkenntniss zufrieden geben kann, sei es auch, dass er den ironischen Anflug, der auf jenen Seiten zu liegen scheint, wegwünschen wird. Denn wenn es wahr ist, dass zum Entstehen des Gelehrten „eine Menge sehr menschlicher Triebe und Triebchen zusammengegossen werden muss", dass der Gelehrte zwar ein sehr edles, aber kein reines Metall ist und „aus einem verwickelten Geflecht sehr verschiedener Antriebe und Reize besteht": so gilt doch das Selbe ebenfalls von Entstehung und Wesen des Künstlers, Philosophen, moralischen Genie's — und wie die in jener Schrift glorificirten grossen Namen lauten. A l l e s Menschliche verdient in Hinsicht auf seine E n t s t e h u n g die ironische Betrachtung: desshalb ist die Ironie in der Welt so ü b e r flüssig.
T r e u e a l s B e w e i s d e r S t i c h h a l t i g k e i t . — Es ist ein vollkommenes Zeichen f ü r die Güte einer Theorie, wenn ihr Urheber v i e r z i g J a h r e lang kein Misstrauen gegen sie bekommt; aber ich behaupte, dass es noch keinen Philosophen gegeben hat, welcher auf die Philosophie, die seine Jugend erfand, nicht endlich mit Geringschätzung — mindestens mit Argwohn — herabgesehen hätte. — Vielleicht hat er aber nicht öffentlich
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von dieser Umstimmung gesprochen, aus Ehrsucht oder — wie es bei edlen Naturen wahrscheinlicher ist — aus zarter Schonung seiner Anhänger.
254. J
u
Z u n a h m e d e s I n t e r e s s a n t e n . — Im Verlaufe der höheren Bildung wird dem Menschen Alles interessant, er weiss die belehrende Seite einer Sache rasch zu finden und den Punct anzugeben, wo eine Lücke seines Denkens mit ihr ausgefüllt oder ein Gedanke durch sie bestätigt werden kann. Dabei verschwindet immer mehr die Langeweile, dabei auch die übermässige Erregbarkeit des Gemüthes. Er geht zuletzt wie ein N a t u r f o r scher unter Pflanzen, so unter Menschen herum und nimmt sich selber als ein Phänomen wahr, welches nur seinen erkennenden Trieb stark anregt.
255.
Aberglauben i m G l e i c h z e i t i g e n . — Etwas Gleichzeitiges hängt zusammen, meint man. Ein Verwandter stirbt in der Ferne, zu gleicher Zeit träumen wir von ihm, — also! Aber zahllose Verwandte sterben und wir träumen nicht 20 von ihnen. Es ist wie bei den Schiffbrüchigen, welche Gelübde thun: man sieht später im Tempel die Votivtafeln Derer, welche zu Grunde giengen, nicht. — Ein Mensch stirbt, eine Eule krächzt, eine U h r steht still, alles in Einer Nachtstunde: sollte da nicht ein Zusammenhang sein? Eine solche Vertraulichkeit mit 25 der N a t u r , wie diese Ahnung sie annimmt, schmeichelt den Menschen. — Diese Gattung des Aberglaubens findet sich in verfeinerter Form bei Historikern und Culturmalern wieder, welche vor allem sinnlosen Nebeneinander, an dem doch das Leben der Einzelnen und der Völker so reich ist, eine Art Wasserscheu zu 3° haben pflegen.
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256.
Das K ö n n e n , nicht das Wissen, durch die W i s s e n s c h a f t g e ü b t . — Der Werth davon, dass man zeitweilig eine s t r e n g e W i s s e n s c h a f t streng betrieben hat, beruht nicht gerade auf deren Ergebnissen: denn diese werden, im Verhältniss zum Meere des Wissenswerthen, ein verschwindend kleiner Tropfen sein. Aber es ergiebt einen Zuwachs an Energie, an Schlussvermögen, an Zähigkeit der Ausdauer; man hat gelernt, einen Z w e c k z w e c k m ä s s i g zu erreichen. Insofern ist es sehr schätzbar, in Hinsicht auf Alles, was man später treibt, einmal ein wissenschaftlicher Mensch gewesen zu sein.
2
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J u g e n d r e i z d e r W i s s e n s c h a f t . — Das Forschen nach Wahrheit hat jetzt noch den Reiz, dass sie sich überall stark gegen den grau und langweilig gewordenen Irrthum abhebt; dieser Reiz verliert sich immer mehr; jetzt zwar leben wir noch im Jugendzeitalter der Wissenschaft und pflegen der Wahrheit wie einem schönen Mädchen nachzugehen; wie aber, wenn sie eines Tages zum ältlichen, mürrisch blickenden Weibe geworden ist? Fast in allen Wissenschaften ist die Grundeinsicht entweder erst in jüngster Zeit gefunden oder wird noch gesucht; wie anders reizt diess an, als wenn alles Wesentliche gefunden ist und nur noch eine kümmerliche Herbstnachlese dem Forscher übrig bleibt (welche Empfindung man in einigen historischen Disciplinen kennen lernen kann).
258.
D i e S t a t u e d e r M e n s c h h e i t . — Der Genius der Cultur verfährt wie Cellini, als dieser den Guss seiner PerseusStatue machte: die flüssige Masse drohte, nicht auszureichen, aber
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sie s o l l t e es: so warf er Schüsseln und Teller und was ihm sonst in die H ä n d e kam, hinein. Und ebenso wirft jener Genius Irrthümer, Laster, Hoffnungen, Wahnbilder und andere Dinge von schlechterem wie von edlerem Metalle hinein, denn die Statue der Menschheit muss herauskommen und fertig werden; was liegt daran, dass hie und da geringerer Stoff verwendet wurde?
259E i n e C u l t u r d e r M ä n n e r . — Die griechische Cultur der classischen Zeit ist eine Cultur der Männer. Was die Frauen anlangt, so sagt Perikles in der Grabrede Alles mit den Worten: sie seien am besten, wenn unter Männern so wenig als möglich von ihnen gesprochen werde. — Die erotische Beziehung der Männer zu den Jünglingen war in einem, unserem Verständniss unzugänglichen Grade die nothwendige, einzige Voraussetzung aller männlichen Erziehung (ungefähr wie lange Zeit alle höhere Erziehung der Frauen bei uns erst durch die Liebschaft und Ehe herbeigeführt wurde), aller Idealismus der Kraft der griechischen N a t u r warf sich auf jenes Verhältniss, und wahrscheinlich sind junge Leute niemals wieder so aufmerksam, so liebevoll, so durchaus in Hinsicht auf ihr Bestes (virtus) behandelt worden, wie im sechsten und fünften Jahrhundert, — also gemäss dem schönen Spruche Hölderlin's „denn liebend giebt der Sterbliche vom Besten". Je höher dieses Verhältniss genommen wurde, um so tiefer sank der Verkehr mit der Frau: der Gesichtspunct der Kindererzeugung und der Wollust — Nichts weiter kam hier in Betracht; es gab keinen geistigen Verkehr, nicht einmal eine eigentliche Liebschaft. Erwägt man ferner, dass sie selbst vom Wettkampfe und Schauspiele jeder Art ausgeschlossen waren, so bleiben nur die religiösen Culte als einzige höhere Unterhaltung der Weiber. — Wenn man nun allerdings in der Tragödie Elektra und Antigone vorführte, so e r t r u g man diess eben in der
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Kunst, obschon man es im Leben nicht mochte: so wie wir jetzt alles Pathetische im L e b e n nicht vertragen, aber in der Kunst gern sehen. — Die Weiber hatten weiter keine Aufgabe, als schöne, machtvolle Leiber hervorzubringen, in denen der C h a rakter des Vaters möglichst ungebrochen weiter lebte, und damit der überhand nehmenden Nervenüberreizung einer so hochentwickelten Cultur entgegenzuwirken. Diess hielt die griechische Cultur verhältnissmässig so lange jung; denn in den griechischen Müttern kehrte immer wieder der griechische Genius zur N a t u r zurück.
260. D a s V o r u r t h e i l zu G u n s t e n d e r G r ö s s e . — Die Menschen überschätzen ersichtlich alles Grosse und Hervorstechende. Diess kommt aus der bewussten oder unbewussten Einsicht her, dass sie es sehr nützlich finden, wenn Einer alle K r a f t auf Ein Gebiet wirft und aus sich gleichsam Ein monströses Organ macht. Sicherlich ist dem Menschen selber eine g l e i c h m a s s i g e Ausbildung seiner K r ä f t e nützlicher und glückbringender; denn jedes Talent ist ein V a m p y r , welcher den übrigen K r ä f t e n Blut und K r a f t aussaugt, und eine übertriebene Production kann den begabtesten Menschen fast zur Tollheit bringen. Auch innerhalb der Künste erregen die extremen Naturen viel zu sehr die Aufmerksamkeit; aber es ist auch eine viel geringere Cultur nöthig, um von ihnen sich fesseln zu lassen. Die Menschen unterwerfen sich aus Gewohnheit Allem, was Macht haben will.
261. D i e T y r a n n e n d e s G e i s t e s . — N u r wohin der Strahl des Mythus fällt, da leuchtet das Leben der Griechen; sonst ist es düster. N u n berauben sich die griechischen Philosophen eben dieses Mythus': ist es nicht, als ob sie aus dem Sonnen-
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schein sich in den Schatten, in die Düsterkeit setzen wollten? Aber keine Pflanze geht dem Lichte aus dem Wege; im Grunde suchten jene Philosophen nur eine h e l l e r e Sonne, der Mythus war ihnen nicht rein, nicht leuchtend genug. Sie fanden diess Licht in ihrer Erkenntniss, in dem, was Jeder von ihnen seine „Wahrheit" nannte. D a m a l s aber hatte die Erkenntniss noch einen grösseren Glanz; sie war noch jung und wusste noch wenig von allen Schwierigkeiten und Gefahren ihrer P f a d e ; sie konnte damals noch hoffen, mit einem einzigen Sprung an den Mittelpunet alles Seins zu kommen und von dort aus das Räthsel der Welt zu lösen. Diese Philosophen hatten einen handfesten Glauben an sich und ihre „Wahrheit" und warfen mit ihr alle ihre Nachbarn und Vorgänger nieder; Jeder von ihnen war ein streitbarer gewaltthätiger T y r a n n . Vielleicht war das Glück im Glauben an den Besitz der Wahrheit nie grösser in der Welt, aber auch nie die Härte, der Uebermuth, das Tyrannische und Böse eines solchen Glaubens. Sie waren Tyrannen, also Das, was jeder Grieche sein wollte und was jeder war, wenn er es sein k o n n t e . Vielleicht macht nur Solon eine Ausnahme; in seinen Gedichten sagt er es, wie er die persönliche Tyrannis verschmäht habe. Aber er tliat es aus Liebe zu seinem Werke, zu seiner Gesetzgebung; und Gesetzgeber sein ist eine subümirtere Form des Tyrannenthums. Auch Parmenides gab Gesetze, wohl auch Pythagoras und Empedokles; Anaximander gründete eine Stadt. Plato war der fleischgewordene Wunsch, der höchste philosophische Gesetzgeber und Staatengründer zu werden; er scheint schrecklich an der Nichterfüllung seines Wesens gelitten zu haben, und seine Seele wurde gegen sein Ende hin voll der schwärzesten Galle. J e mehr das griechische Philosophenthum an Macht verlor, um so mehr litt es innerlich durch diese Galligkeit und Schmähsucht; als erst die verschiedenen Secten ihre Wahrheiten auf den Strassen verfochten, da waren die Seelen aller dieser Freier der Wahrheit durch Eifer- und Geifersucht völlig verschlammt, das tyrannische Element wüthete jetzt als Gift in
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ihrem Körper. Diese vielen kleinen Tyrannen hätten sich roh fressen mögen; es war kein Funke mehr von Liebe und allzuwenig Freude an ihrer eigenen Erkenntniss in ihnen übrig geblieben. — Ueberhaupt gilt der Satz, dass Tyrannen meistens ermordet werden und dass ihre Nachkommenschaft kurz lebt, auch von den Tyrannen des Geistes. Ihre Geschichte ist kurz, gewaltsam, ihre Nachwirkung bricht plötzlich ab. Fast von allen grossen Hellenen kann man sagen, dass sie zu spät gekommen scheinen, so von Aeschylus, von Pindar, von Demosthenes, von Thukydides; ein Geschlecht nach ihnen — und dann ist es immer völlig vorbei. Das ist das Stürmische und Unheimliche in der griechischen Geschichte. Jetzt zwar bewundert man das Evangelium der Schildkröte. Geschichtlich denken heisst jetzt fast so viel, als ob zu allen Zeiten nach dem Satze Geschichte gemacht worden wäre: „möglichst wenig in möglichst langer Zeit!" Ach, die griechische Geschichte läuft so rasch! Es ist nie wieder so verschwenderisch, so maasslos gelebt worden. Ich kann mich nicht überzeugen, dass die Geschichte der Griechen jenen n a t ü r l i c h e n Verlauf genommen habe, der so an ihr gerühmt wird. Sie waren viel zu mannichfach begabt dazu, um in jener schrittweisen Manier a l l m ä h l i c h zu sein, wie es die Schildkröte im Wettlauf mit Achilles ist: und das nennt man ja natürliche Entwickelung. Bei den Griechen geht es schnell vorwärts, aber eben so schnell abwärts; die Bewegung der ganzen Maschine ist so gesteigert, dass ein einziger Stein, in ihre Räder geworfen, sie zerspringen macht. Ein solcher Stein war zum Beispiel Sokrates; in einer Nacht war die bis dahin so wunderbar regelmässige, aber freilich allzu schleunige Entwickelung der philosophischen Wissenschaft zerstört. Es ist keine müssige Frage, ob nicht Plato, von der sokratischen Verzauberung frei geblieben, einen noch höheren Typus des philosophischen Menschen gefunden hätte, der uns auf immer verloren ist. Man sieht in die Zeiten vor ihm wie in eine Bildner-Werkstätte solcher Typen hinein. Das sechste und fünfte Jahrhundert scheint aber doch noch mehr und
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Höheres zu verheissen, als es selber hervorgebracht hat; aber es blieb bei dem Verheissen und Ankündigen. Und doch giebt es kaum einen schwereren Verlust, als den Verlust eines Typus', einer neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen höchsten M ö g l i c h k e i t d e s p h i l o s o p h i s c h e n L e b e n s . Selbst von den älteren Typen sind die meisten schlecht überliefert; es scheinen mir alle Philosophen von Thaies bis Demokrit ausserordentlich schwer erkennbar; wem es aber gelingt, diese Gestalten nachzuschaffen, der wandelt unter Gebilden von mächtigstem und reinstem Typus. Diese Fähigkeit ist freilich selten, sie fehlte selbst den späteren Griechen, welche sich mit der Kunde der älteren Philosophie befassten; Aristoteles zumal scheint seine Augen nicht im Kopfe zu haben, wenn er vor den Bezeichneten steht. Und so scheint es, als ob diese herrlichen Philosophen umsonst gelebt hätten oder als ob sie gar nur die streit- und redelustigen Schaaren der sokratischen Schulen hätten vorbereiten sollen. Es ist hier, wie gesagt, eine Lücke, ein Bruch in der Entw i c k l u n g ; irgend ein grosses Unglück muss geschehen sein und die einzige Statue, an welcher man Sinn und Zweck jener grossen bildnerischen Vorübung erkannt haben würde, zerbrach oder misslang: was eigentlich geschehen ist, ist für immer ein Geheimniss der Werkstätte geblieben. — Das, was bei den Griechen sich ereignete — dass jeder grosse Denker im Glauben daran, Besitzer der absoluten Wahrheit zu sein, zum Tyrannen wurde, so dass auch die Geschichte des Geistes bei den Griechen jenen gewaltsamen, übereilten und gefährlichen Charakter bekommen hat, den ihre politische Geschichte zeigt — diese Art von Ereignissen war damit nicht erschöpft: es hat sich vieles Gleiche bis in die neueste Zeit hinein begeben, obwohl allmählich seltener und jetzt schwerlich mehr mit dem reinen naiven Gewissen der griechischen Philosophen. Denn im Ganzen redet jetzt die Gegenlehre und die Skepsis zu mächtig, zu laut. Die Periode der Tyrannen des Geistes ist vorbei. In den Sphären der höheren Cultur wird es freilich immer eine Herrschaft geben müssen, —
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aber diese Herrschaft liegt von jetzt ab in den Händen der O l i g a r c h e n d e s G e i s t e s . Sie bilden, trotz aller räumlichen und politischen Trennung, eine zusammengehörige Gesellschaft, deren Mitglieder sich e r k e n n e n und a n e r k e n n e n , was auch die öffentliche Meinung und die Urtheile der auf die Masse wirkenden Tages- und Zeitschriftsteller für Schätzungen der Gunst oder Abgunst in Umlauf bringen mögen. Die geistige Ueberlegenheit, welche früher trennte und verfeindete, pflegt jetzt zu b i n d e n : wie könnten die Einzelnen sich selbst behaupten und auf eigener Bahn, allen Strömungen entgegen, durch das Leben schwimmen, wenn sie nicht ihres Gleichen hier und dort unter gleichen Bedingungen leben sähen und deren H a n d ergriffen, im K a m p f e eben so sehr gegen den ochlokratischen Charakter des Halbgeistes und der Halbbildung, als gegen die gelegentlichen Versuche, mit H ü l f e der Massenwirkung eine Tyrannei aufzurichten? Die Oligarchen sind einander nöthig, sie haben an einander ihre beste Freude, sie verstehen ihre Abzeichen, — aber trotzdem ist ein Jeder von ihnen frei, er kämpft und siegt an s e i n e r Stelle und geht lieber unter, als sich zu unterwerfen.
262. H o m e r . — Die grösste Thatsache in der griechischen Bildung bleibt doch die, dass Homer so frühzeitig panhellenisch wurde. Alle geistige und menschliche Freiheit, welche die Griechen erreichten, geht auf diese Thatsache zurück. Aber zugleich ist es das eigentliche Verhängniss der griechischen Bildung gewesen, denn Homer verflachte, indem er centralisirte, und löste die ernsteren Instincte der Unabhängigkeit auf. Von Zeit zu Zeit erhob sich aus dem tiefsten Grunde des Hellenischen der Widerspruch gegen Homer; aber er blieb immer siegreich. Alle grossen geistigen Mächte üben neben ihrer befreienden Wirkung auch eine unterdrückende aus; aber freilich ist es ein Unterschied, ob
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Homer oder die Bibel oder die Wissenschaft die Menschen tyrannisiren.
263.
B e g a b u n g . — In einer so hoch entwickelten Menschheit, wie die jetzige ist, bekommt von N a t u r Jeder den Zugang zu vielen Talenten mit. Jeder hat a n g e b o r e n e s T a l e n t , aber nur Wenigen ist der Grad von Zähigkeit, Ausdauer, Energie angeboren und anerzogen, so dass er wirklich ein Talent wird, also w i r d , was er i s t , das heisst: es in Werken und Handlungen entladet.
26 4. Der Geistreiche entweder überschätzt o d e r u n t e r s c h ä t z t . — Unwissenschaftliche, aber begabte Menschen schätzen jedes Anzeichen von Geist, sei es nun, dass er auf wahrer oder falscher Fährte ist; sie wollen vor Allem, dass der Mensch, der mit ihnen verkehrt, sie gut mit seinem Geist unterhalte, sie ansporne, entflamme, zu Ernst und Scherz fortreisse und jedenfalls vor der Langenweile als kräftigstes Amulet schütze. Die wissenschaftlichen Naturen wissen dagegen, dass die Begabung, allerhand Einfälle zu haben, auf das strengste durch den Geist der Wissenschaft gezügelt werden müsse; nicht Das, was glänzt, scheint, erregt, sondern die oft unscheinbare Wahrheit ist die Frucht, welche er vom Baum der Erkenntniss zu schütteln wünscht. Er darf, wie Aristoteles, zwischen „Langweiligen" und „Geistreichen" keinen Unterschied machen, sein Dämon führt ihn durch die Wüste ebenso wie durch tropische Vegetation, damit er überall nur an dem Wirklichen, Haltbaren, Aechten seine Freude habe. —• Daraus ergiebt sich, bei unbedeutenden Gelehrten, eine Missachtung und Verdächtigung des Geistreichen überhaupt, und wiederum haben geistreiche Leute
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häufig eine Abneigung gegen die Wissenschaft: wie zum Beispiel fast alle Künstler.
265. D i e V e r n u n f t in d e r S c h u l e . — Die Schule hat keine wichtigere Aufgabe, als strenges D e n k e n , vorsichtiges Urtheilen, consequentes Schliessen zu lehren: desshalb hat sie von allen Dingen abzusehen, die nicht f ü r diese O p e r a t i o n e n tauglich sind, zum Beispiel von der Religion. Sie k a n n ja darauf rechnen, dass menschliche U n k l a r h e i t , G e w ö h n u n g u n d B e d ü r f niss später doch wieder den Bogen des allzustraffen Denkens abspannen. Aber so lange ihr Einfluss reicht, soll sie D a s erzwingen, was das Wesentliche u n d Auszeichnende am Menschen ist: „Vernunft u n d Wissenschaft des Menschen allerhöchste K r a f t " — wie wenigstens Goethe urtheilt. — D e r grosse N a t u r forscher von Baer findet die Ueberlegenheit aller E u r o p ä e r im Vergleich zu Asiaten in der eingeschulten Fähigkeit, dass sie G r ü n d e f ü r Das, was sie glauben, angeben können, w o z u Diese aber völlig u n f ä h i g sind. E u r o p a ist in die Schule des consequenten u n d kritischen Denkens gegangen, Asien weiss immer noch nicht zwischen W a h r h e i t u n d Dichtung zu unterscheiden u n d ist sich nicht bewusst, ob seine Ueberzeugungen aus eigener Beobachtung u n d regelrechtem D e n k e n oder aus Phantasien stammen. — Die V e r n u n f t in der Schule hat E u r o p a zu E u r o p a gemacht: im Mittelalter w a r es auf dem Wege, wieder zu einem Stück u n d Anhängsel Asiens zu werden, — also den wissenschaftlichen Sinn, welchen es den Griechen v e r d a n k t e , einzubiissen.
266. Unterschätzte Wirkung des gymnasialen U n t e r r i c h t s . — M a n sucht den W e r t h des Gymnasiums
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selten in den Dingen, welche wirklich dort gelernt und von ihm unverlierbar heimgebracht werden, sondern in denen, welche man lehrt, welche der Schüler sich aber nur mit Widerwillen aneignet, um sie, so schnell er darf, von sich abzuschütteln. D a s Lesen der Classiker — das giebt jeder Gebildete zu — ist so, wie es überall getrieben wird, eine monströse Procedur: vor jungen Menschen, welche in keiner Beziehung dazu reif sind, von Lehrern, welche durch jedes Wort, oft durch ihr Erscheinen schon einen Mehlthau über einen guten Autor legen. Aber darin liegt der Werth, der gewöhnlich verkannt wird, — dass diese Lehrer die a b s t r a c t e S p r a c h e d e r h ö h e r n Cultur reden, schwerfällig und schwer zum Verstehen, wie sie ist, aber eine hohe Gymnastik des K o p f e s ; dass Begriffe, Kunstausdrücke, Methoden, Anspielungen in ihrer Sprache fortwährend vorkommen, welche die jungen Leute im Gespräche ihrer Angehörigen und auf der Gasse fast nie hören. Wenn die Schüler nur h ö r e n , so wird ihr Intellect zu einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise unwillkürlich präformirt. Es ist nicht möglich, aus dieser Zucht völlig unberührt von der Abstraction als reines Naturkind herauszukommen.
267.
V i e l e S p r a c h e n l e r n e n . — Viele Sprachen lernen füllt das Gedächtniss mit Worten, statt mit Thatsachen und Gedanken, aus, während diess ein Behältniss ist, welches bei jedem Menschen nur eine bestimmt begränzte Masse von Inhalt aufnehmen kann. Sodann schadet das Lernen vieler Sprachen, insofern es den Glauben, Fertigkeiten zu haben, erweckt und thatsächlich auch ein gewisses verführerisches Ansehen im Verkehre verleiht; es schadet sodann auch indirect dadurch, dass es dem Erwerben gründlicher Kenntnisse und der Absicht, auf redliche Weise die Achtung der Menschen zu verdienen, entgegenwirkt. Endlich ist es die Axt, welche dem feineren Sprachgefühl
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innerhalb der Muttersprache an die Wurzel gelegt wird: diess wird dadurch unheilbar beschädigt und zu Grunde gerichtet. Die beiden Völker, welche die grössten Stilisten erzeugten, Griechen und Franzosen, lernten keine fremden Sprachen. — Weil aber der Verkehr der Menschen immer kosmopolitischer werden muss, und zum Beispiel ein rechter K a u f m a n n in London jetzt schon sich in acht Sprachen schriftlich und mündlich verständlich zu machen hat, so ist freilich das Viele-Sprachen-lernen ein n o t wendiges U e b e 1; welches aber zuletzt zum Aeussersten kommend, die Menschheit zwingen wird, ein Heilmittel zu finden: und in irgend einer fernen Zukunft wird es eine neue Sprache, zuerst als Handelssprache, dann als Sprache des geistigen Verkehres überhaupt, f ü r Alle geben, so gewiss, als es einmal LuftSchifffahrt giebt. Wozu hätte auch die Sprachwissenschaft ein Jahrhundert lang die Gesetze der Sprache studirt und das N o t h wendige, Werthvolle, Gelungene an jeder einzelnen Sprache abgeschätzt! 268. Z u r K r i e g s g e s c h i c h t e des I n d i v i d u u m s . — Wir finden in ein einzelnes Menschenleben, welches durch mehrere Culturen geht, den Kampf zusammengedrängt, welcher sich sonst zwischen zwei Generationen, zwischen Vater und Sohn, abspielt: die N ä h e der Verwandtschaft v e r s c h ä r f t diesen Kampf, weil jede Partei schonungslos das ihr so gut bekannte Innere der anderen Partei mit hineinzieht; und so wird dieser Kampf im einzelnen Individuum am erbittertsten sein; hier schreitet jede neue Phase über die früheren mit grausamer Ungerechtigkeit und Verkennung von deren Mitteln und Zielen hinweg.
269. Um
eine V i e r t e l s t u n d e
f r ü h e r . — Man
findet
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gelegentlich Einen, der mit seinen Ansichten über seiner Zeit steht, aber doch nur um so viel, dass er die Vulgäransichten des nädisten Jahrzehnts vorwegnimmt. E r hat die öffentliche Meinung eher, als sie öffentlich ist, das heisst: er ist einer Ansicht, 5 die es verdient trivial zu werden, eine Viertelstunde eher in die Arme gefallen, als Andere. Sein Ruhm pflegt aber viel lauter zu sein, als der Ruhm der wirklichen Grossen und Ueberlegenen.
270. D i e K u n s t , z u l e s e n . — Jede starke Richtung ist 10 einseitig; sie nähert sich der Richtung der geraden Linie und ist wie diese abschliessend, das heisst sie berührt nicht viele andere Richtungen, wie diess schwache Parteien und Naturen in ihrem wellenhaften Hin- und Hergehen thun: das muss man also auch den Philologen nachsehen, dass sie einseitig sind. Herstellung 15 und Reinhaltung der Texte, nebst der Erklärung derselben, in einer Zunft jahrhundertelang fortgetrieben, hat endlich jetzt die richtigen Methoden finden lassen; das ganze Mittelalter w a r tief unfähig zu einer streng philologischen Erklärung, das heisst zum einfachen Verstehenwollen dessen, was der Autor sagt, — es 20 w a r Etwas, diese Methoden zu finden, man unterschätze es nicht! Alle Wissenschaft hat dadurch erst Continuität und Stetigkeit gewonnen, dass die Kunst des richtigen Lesens, das heisst die Philologie, auf ihre Höhe kam.
271. 2S
D i e K u n s t , z u s c h l i e s s e n . — Der grösste Fortschritt, den die Menschen gemacht haben, liegt darin, dass sie r i c h t i g s c h l i e s s e n lernen. Das ist gar nicht so etwas Natürliches, wie Schopenhauer annimmt, wenn er sagt: „zu schliessen sind Alle, zu urtheilen Wenige fähig", sondern ist 3° spät erlernt und jetzt noch nicht zur Herrschaft gelangt. Das
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falsche Schliessen ist in älteren Zeiten die Regel: und die Mythologien aller Völker, ihre Magie und ihr Aberglaube, ihr religiöser Cultus, ihr Recht sind die unerschöpflichen Beweis-Fundstätten für diesen Satz.
272. J a h r e s r i n g e d e r i n d i v i d u e l l e n C u l t u r . — Die Stärke und Schwäche der geistigen Productivität hängt lange nicht so an der angeerbten Begabung, als an dem mitgegebenen Maasse von S p a n n k r a f t . Die meisten jungen Gebildeten von dreissig Jahren gehen um diese Frühsonnenwende ihres Lebens zurück und sind f ü r neue geistige Wendungen von da an unlustig. Desshalb ist dann gleich wieder zum Heile einer fort und fort wachsenden Cultur eine neue Generation nöthig, die es nun aber ebenfalls nicht weit bringt: denn um die Cultur des Vaters n a c h z u h o l e n , muss der Sohn die angeerbte Energie, welche der Vater auf jener Lebensstufe, als er den Sohn zeugte, selber besass, fast aufbrauchen; mit dem kleinen Ueberschuss kommt er weiter (denn weil hier der Weg zum zweiten Mal gemacht wird, geht es ein Wenig schneller vorwärts; der Sohn verbraucht, um das Selbe zu lernen, was der Vater wusste, nicht ganz so viel Kraft). Sehr spannkräftige Männer, wie zum Beispiel Goethe, durchmessen so viel als kaum vier Generationen hinter einander vermögen; desshalb kommen sie aber zu schnell voraus, so dass die anderen Menschen sie erst in dem nächsten Jahrhundert einholen, vielleicht nicht einmal völlig, weil durch die häufigen Unterbrechungen die Geschlossenheit der Cultur, die Consequenz der E n t w i c k l u n g geschwächt worden ist. — Die gewöhnlichen Phasen der geistigen Cultur, welche im Verlauf der Geschichte errungen ist, holen die Menschen immer schneller nach. Sie beginnen gegenwärtig in die Cultur als religiös bewegte Kinder einzutreten und bringen es vielleicht im zehnten Lebensjahre zur höchsten Lebhaftigkeit dieser Empfindungen,
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gehen dann in abgeschwächtere Formen (Pantheismus) über, während sie sich der Wissenschaft nähern; kommen über Gott, Unsterblichkeit und dergleichen ganz hinaus, aber verfallen den Zaubern einer metaphysischen Philosophie. Auch diese wird ihnen endlich unglaubwürdig; die Kunst scheint dagegen immer mehr zu gewähren, so dass eine Zeit lang die Metaphysik kaum noch in einer Umwandelung zur Kunst oder als künstlerisch verklärende Stimmung übrig bleibt und fortlebt. Aber der wissenschaftliche Sinn wird immer gebieterischer und f ü h r t den Mann hin zur Naturwissenschaft und Historie und namentlich zu den strengsten Methoden des Erkennens, während der Kunst eine immer mildere und anspruchslosere Bedeutung zufällt. Diess Alles pflegt sich jetzt innerhalb der ersten dreissig Jahre eines Mannes zu ereignen. Es ist die Recapitulation eines Pensums, an welchem die Menschheit vielleicht dreissigtausend Jahre sich abgearbeitet hat. 273-
Zurückgegangen, nicht zurückgeblieben. — Wer gegenwärtig seine E n t w i c k l u n g noch aus religiösen Empfindungen heraus anhebt und vielleicht längere Zeit nachher in Metaphysik und Kunst weiterlebt, der hat sich allerdings ein gutes Stück zurückbegeben und beginnt sein Wettrennen mit anderen modernen Menschen unter ungünstigen Voraussetzungen: er verliert scheinbar Raum und Zeit. Aber dadurch, dass er sich in jenen Bereichen aufhielt, wo Gluth und Energie entfesselt werden und fortwährend Macht als vulcanischer Strom aus unversiegbarer Quelle strömt, kommt er dann, sobald er sich nur zur rechten Zeit von jenen Gebieten getrennt hat, um so schneller vorwärts, sein Fuss ist beflügelt, seine Brust hat ruhiger, länger, ausdauernder athmen gelernt. — Er hat sich nur zurückgezogen, um zu seinem Sprunge genügenden Raum zu haben: so kann selbst etwas Fürchterliches, Drohendes in diesem Rückgange liegen.
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274. Ein Ausschnitt unseres Selbst als künstl e r i s c h e s O b j e c t. — Es ist ein Zeichen überlegener Cultur, gewisse Phasen der Entwickelung, welche die geringeren Menschen fast gedankenlos durchleben und von der Tafel ihrer Seele dann wegwischen, mit Bewusstsein festzuhalten und ein getreues Bild davon zu entwerfen: denn diess ist die höhere G a t tung der Malerkunst, welche nur Wenige verstehen. D a z u wird es nöthig, jene Phasen künstlich zu isoliren. Die historischen Studien bilden die Befähigung zu diesem Malerthum aus, denn sie fordern uns fortwährend auf, bei Anlass eines Stückes Geschichte, eines Volkes — oder Menschenlebens uns einen ganz bestimmten Horizont von Gedanken, eine bestimmte Stärke von Empfindungen, das Vorwalten dieser, das Zurücktreten jener vorzustellen. Darin, dass man solche Gedanken- und Gefühlssysteme aus gegebenen Anlässen schnell reconstruiren kann, wie den Eindruck eines Tempels aus einigen zufällig stehen gebliebenen Säulen und Mauerresten, besteht der historische Sinn. D a s nächste Ergebniss desselben ist, dass wir unsere Mitmenschen als ganz bestimmte solche Systeme und Vertreter verschiedener Culturen verstehen, das heisst als nothwendig, aber als veränderlich. U n d wiederum, dass wir in unserer eigenen Entwickelung Stücke heraustrennen und selbständig hinstellen können.
C y n i k e r u n d E p i k u r e e r . — Der Cyniker erkennt den Zusammenhang zwischen den vermehrten und stärkeren Schmerzen des höher cultivirten Menschen und der Fülle von Bedürfnissen; er begreift also, dass die Menge von Meinungen über das Schöne, Schickliche, Geziemende, Erfreuende ebenso sehr reiche Genuss-, aber auch Unlustquellen entspringen lassen musste. Gemäss dieser Einsicht bildet er sich zurück, indem er viele dieser Meinungen aufgiebt und sich gewissen Anforderun-
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gen der Cultur entzieht; damit gewinnt er ein Gefühl der Freiheit und der Kräftigung; und allmählich, wenn die Gewohnheit ihm seine Lebensweise erträglich macht, hat er in der That seltnere und schwächere Unlustempfindungen, als die cultivirten 5 Menschen, und nähert sich dem Hausthier an; überdiess empfindet er Alles im Reiz des Contrastes und — schimpfen kann er ebenfalls nach Herzenslust; so dass er dadurch wieder hoch über die Empfindungswelt des Thieres hinauskommt. — Der Epikureer hat den selben Gesichtspunct wie der Cyniker; zwischen ihm und Jenem ist gewöhnlich nur ein Unterschied des Temperamentes. Sodann benutzt der Epikureer seine höhere Cultur, um sich von den herrschenden Meinungen unabhängig zu machen; er erhebt sich über dieselben, während der Cyniker nur in der Negation bleibt. Er wandelt gleichsam in windstillen, 15 wohlgeschützten, halbdunkelen Gängen, während über ihm, im Winde, die Wipfel der Bäume brausen und ihm verrathen, wie heftig bewegt da draussen die Welt ist. Der Cyniker dagegen geht gleichsam nackt draussen im Windeswehen umher und härtet sich bis zur Gefühllosigkeit ab.
276. M i k r o k o s m u s und M a k r o k o s m u s der Cult u r . — Die besten Entdeckungen über die Cultur macht der Mensch in sich selbst, wenn er darin zwei heterogene Mächte waltend findet. Gesetzt, es lebe Einer eben so sehr in der Liebe 25 zur bildenden Kunst oder zur Musik als er vom Geiste der Wissenschaft fortgerissen werde, und er sehe es als unmöglich an, diesen Widerspruch durch Vernichtung der einen und volle Entfesselung der anderen Macht aufzuheben: so bleibt ihm nur übrig, ein so grosses Gebäude der Cultur aus sich zu gestalten, 3° dass jene beiden Mächte, wenn auch an verschiedenen Enden desselben, in ihm wohnen können, während zwischen ihnen versöhnende Mittelmächte, mit überwiegender Kraft, um nöthigen-
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falls den ausbrechenden Streit zu schlichten, ihre Herberge haben. Ein solches Gebäude der Cultur im einzelnen Individuum wird aber die grösste Aehnlichkeit mit dem Culturbau in ganzen Zeitperioden haben und eine fortgesetzte analogische Belehrung über denselben abgeben. Denn überall, wo sich die grosse Architektur der Cultur entfaltet hat, war ihre Aufgabe, die einander widerstrebenden Mächte zur Eintracht vermöge einer übermächtigen Ansammelung der weniger unverträglichen übrigen Mächte zu zwingen, ohne sie desshalb zu unterdrücken und in Fesseln zu schlagen.
2
77G l ü c k u n d C u l t u r . — Der Anblick der Umgebungen unserer Kindheit erschüttert uns: das Gartenhaus, die Kirche mit den Gräbern, der Teich und der Wald, — diess sehen wir immer als Leidende wieder. Mitleid mit uns selbst ergreift uns, denn was haben wir seitdem Alles durchgelitten! Und hier steht Jegliches noch so still, so ewig da: nur wir sind so anders, so bewegt; selbst etliche Menschen finden wir wieder, an welchen die Zeit nicht m e h r ihren Zahn gewetzt hat, als an einem Eichenbaume: Bauern, Fischer, Waldbewohner — sie sind die selben. — Erschütterung, Selbstmitleid im Angesichte der niederen Cultur ist das Zeichen der höheren Cultur; woraus sich ergiebt, dass durch diese das Glück jedenfalls nicht gemehrt worden ist. Wer eben Glück und Behagen vom Leben ernten will, der mag nur immer der höheren Cultur aus dem Wege gehen.
278. G l e i c h n i s s v o m T a n z e . — Jetzt ist es als das entscheidende Zeichen grosser Cultur zu betrachten, wenn Jemand jene Kraft und Biegsamkeit besitzt, um ebenso rein und streng im Erkennen zu sein als, in andern Momenten, auch befähigt,
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der Poesie, Religion und Metaphysik gleichsam hundert Schritte vorzugeben und ihre Gewalt und Schönheit nachzuempfinden. Eine solche Stellung zwischen zwei so verschiedenen Ansprüchen ist sehr schwierig, denn die Wissenschaft drängt zur absoluten Herrschaft ihrer Methode, und wird diesem Drängen nicht nachgegeben, so entsteht die andere Gefahr eines schwächlichen A u f - und Niederschwankens zwischen verschiedenen Antrieben. Indessen: um wenigstens mit einem Gleichniss einen Blick auf die Lösung dieser Schwierigkeit zu eröffnen, möge man sich doch daran erinnern, dass der T a n z nicht das Selbe wie ein mattes H i n - und Hertaumeln zwischen verschiedenen Antrieben ist. Die hohe Cultur wird einem kühnen Tanze ähnlich sehen: wesshalb, wie gesagt, viel Kraft und Geschmeidigkeit noth thut.
2
79V o n d e r E r l e i c h t e r u n g d e s L e b e n s . — Ein Hauptmittel, um sich das Leben zu erleichtern, ist das Idealisiren aller Vorgänge desselben; man soll sich aber aus der Malerei recht deutlich machen, was idealisiren heisst. Der Maler verlangt, dass der Zuschauer nicht zu genau, zu scharf zusehe, er zwingt ihn in eine gewisse Ferne zurück, damit er von dort aus betrachte; er ist genöthigt, eine ganz bestimmte Entfernung des Betrachters vom Bilde vorauszusetzen; ja er muss sogar ein ebenso bestimmtes Maass von Schärfe des Auges bei seinem Betrachter annehmen; in solchen Dingen darf er durchaus nicht schwanken. Jeder also, der sein Leben idealisiren will, muss es nicht zu genau sehen wollen und seinen Blick immer in eine gewisse Entfernung zurückbannen. Dieses Kunststück verstand zum Beispiel Goethe.
280.
Erschwerung
als
Erleichterung
und
umge-
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k e h r t . — Vieles, was auf gewissen Stufen des Menschen Erschwerung des Lebens ist, dient einer höheren Stufe als Erleichterung, weil solche Menschen stärkere Erschwerungen des Lebens kennen gelernt haben. Ebenso kommt das Umgekehrte vor: so 5 hat zum Beispiel die Religion ein doppeltes Gesicht, je nachdem ein Mensch zu ihr hinaufblickt, um von ihr sich seine Last und Noth abnehmen zu lassen, oder auf sie hinabsieht, wie auf die Fessel, welche ihm angelegt ist, damit er nicht zu hoch in die L ü f t e steige.
281. Die höhere Cultur wird nothwendig missv e r s t a n d e n . — Wer sein Instrument nur mit zwei Saiten bespannt hat, wie die Gelehrten, welche ausser dem W i s s e n s t r i e b nur noch einen anerzogenen r e l i g i ö s e n haben, der 15 versteht solche Menschen nicht, welche auf mehr Saiten spielen können. Es liegt im Wesen der höheren v i e l s a i t i g e r e n Cultur, dass sie von der niederen immer falsch gedeutet wird; wie diess zum Beispiel geschieht, wenn die Kunst als eine verkappte Form des Religiösen gilt. J a Leute, die nur religiös sind, 20 verstehen selbst die Wissenschaft als Suchen des religiösen Gefühls, so wie Taubstumme nicht wissen, was Musik ist, wenn nicht sichtbare Bewegung.
282. K l a g e l i e d . — Es sind vielleicht die Vorzüge unserer 25 Zeiten, welche ein Zurüdktreten und eine gelegentliche Unterschätzung der vita contemplativa mit sich bringen. Aber eingestehen muss man es sich, dass unsere Zeit arm ist an grossen Moralisten, dass Pascal, Epictet, Seneca, Plutarch wenig noch gelesen werden, dass Arbeit und Fleiss — sonst im Gefolge der 3 ° grossen Göttin Gesundheit — mitunter wie eine Krankheit zu
5. Anzeichen höherer und niederer Cultur 280—283
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wüthen scheinen. Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken fehlt, so erwägt man abweichende Ansichten nicht mehr: man begnügt sich, sie zu hassen. Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches 5 Sehen und Urtheilen gewöhnt, und Jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennen lernen. Selbständige und vorsichtige Haltung der Erkenntniss schätzt man beinahe als eine Art Verrücktheit ab, der Freigeist ist in Verruf gebracht, namentlich durch Gelehrte, welche an seiner Kunst, die Dinge zu betrachten, ihre Gründlichkeit und ihren Ameisenfleiss vermissen und ihn gern in einen einzelnen Winkel der Wissenschaft bannen möchten: während er die ganz andere und höhere Aufgabe hat, von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen Heerbann der wissenschaftlichen und r 5 gelehrten Menschen zu befehligen und ihnen die Wege und Ziele der Cultur zu zeigen. — Eine solche Klage, wie die eben abgesungene, wird wahrscheinlich ihre Zeit haben und von selber einmal, bei einer gewaltigen Rückkehr des Genius' der Meditation, verstummen.
283.
Hauptmangel der thätigen Menschen. — Den Thätigen fehlt gewöhnlich die höhere Thätigkeit: ich meine die individuelle. Sie sind als Beamte, Kaufleute, Gelehrte, das heisst als Gattungswesen thätig, aber nicht als ganz bestimmte 2 5 einzelne und einzige Menschen; in dieser Hinsicht sind sie faul. — Es ist das Unglück der Thätigen, dass ihre Thätigkeit fast immer ein Wenig unvernünftig ist. Man darf zum Beispiel bei dem geldsammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen Thätigkeit nicht fragen: sie ist unvernünftig. Die Thätigen rol3° len, wie der Stein rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik. — Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sclaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht
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zwei Drittel für sich hat, ist ein Sclave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter.
284.
Z u G u n s t e n d e r M ü s s i g e n . — Zum Zeichen dafür, 5 dass die Schätzung des beschaulichen Lebens abgenommen hat, wetteifern die Gelehrten jetzt mit den thätigen Menschen in einer Art von hastigem Genüsse, so dass sie also diese Art, zu geniessen, höher zu schätzen scheinen, als die, welche ihnen eigentlich z u k o m m t u n d welche in der That viel m e h r Genuss 10 ist. Die Gelehrten schämen sich des otium. Es ist aber ein edel Ding um Müsse und Müssiggehen. — Wenn Müssiggang wirklich der A n f a n g aller Laster ist, so befindet er sich also wenigstens in der nächsten Nähe aller Tugenden; der müssige Mensch ist immer noch ein besserer Mensch als der thätige. — 'S Ihr meint doch nicht, dass ich mit Müsse und Müssiggehen auf euch ziele, ihr Faulthiere? —
285.
D i e m o d e r n e U n r u h e . — Nach dem Westen zu wird die moderne Bewegtheit immer grösser, so dass den Ame20 rikanern die Bewohner Europa's insgesammt sich als ruheliebende und geniessende Wesen darstellen, während diese doch selbst wie Bienen und Wespen durcheinander fliegen. Diese Bewegtheit wird so gross, dass die höhere Cultur ihre Früchte nicht mehr zeitigen kann; es ist, als ob die Jahreszeiten zu rasch auf 25 einander folgten. Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Civilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Thätigen, das heisst die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört desshalb zu den nothwendigen Correcturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in gros3° sem Maasse zu verstärken. Doch hat schon jeder Einzelne, wel-
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eher in H e r z und Kopf ruhig und stetig ist, das Recht zu glauben, dass er nicht nur ein gutes Temperament, sondern eine allgemein nützliche Tugend besitze und durch die Bewahrung dieser Tugend sogar eine höhere Aufgabe erfülle.
5
286.
I n w i e f e r n d e r T h ä t i g e f a u l i s t . — Ich glaube, dass Jeder über jedes Ding, über welches Meinungen möglich sind, eine eigene Meinung haben muss, weil er selber ein eigenes, nur einmaliges Ding ist, das zu allen anderen Dingen eine neue, nie 10 dagewesene Stellung einnimmt. Aber die Faulheit, welche im Grunde der Seele des Thätigen liegt, verhindert den Menschen, das Wasser aus seinem eigenen Brunnen zu schöpfen. — Mit der Freiheit der Meinungen steht es wie mit der Gesundheit: beide sind individuell, von beiden kann kein allgemein gültiger Be15 griff aufgestellt werden. Das, was das eine Individuum zu seiner Gesundheit nöthig hat, ist für ein anderes schon Grund zur Erkrankung, und manche Mittel und Wege zur Freiheit des Geistes dürfen höher entwickelten Naturen als Wege und Mittel zur Unfreiheit gelten.
287.
C e n s o r v i t a e . — Der Wechsel von Liebe und Hass bezeichnet f ü r eine lange Zeit den inneren Zustand eines Menschen, welcher frei in seinem Urtheile über das Leben werden will; er vergisst nicht und trägt den Dingen Alles nach, Gutes 2 5 und Böses. Zuletzt, wenn die ganze Tafel seiner Seele mit Erfahrungen voll geschrieben ist, wird er das Dasein nicht verachten und hassen, aber es auch nicht lieben, sondern über ihm liegen bald mit dem Auge der Freude, bald mit dem der Trauer, und, wie die N a t u r , bald sommerlich, bald herbstlich gesinnt 30 sein.
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288. N e b e n e r f o l g . — Wer ernstlich frei werden will, wird dabei ohne allen Z w a n g die Neigung zu Fehlern und Lastern mit verlieren; auch Aerger und Verdruss werden ihn immer sel5 tener anfallen. Sein Wille nämlich will Nichts angelegentlicher, als Erkennen und das Mittel dazu, das heisst: den andauernden Zustand, in dem er am tüchtigsten zum Erkennen ist.
289. W e r t h d e r K r a n k h e i t . — Der Mensch, der krank zu 10 Bette liegt, kommt mitunter dahinter, dass er für gewöhnlich an seinem Amte, Geschäfte oder an seiner Gesellschaft krank ist und durch sie jede Besonnenheit über sich verloren hat: er gewinnt diese Weisheit aus der Müsse, zu welcher ihn seine Krankheit zwingt.
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290.
E m p f i n d u n g a u f d e m L a n d e . — Wenn man nicht feste, ruhige Linien am Horizonte seines Lebens hat, Gebirgsund Waldlinien gleichsam, so wird der innerste Wille des Menschen selber unruhig, zerstreut und begehrlich wie das Wesen 20 des Städters: er hat kein Glück und giebt kein Glück.
291. V o r s i c h t d e r f r e i e n G e i s t e r . — Freigesinnte, der Erkenntniss allein lebende Menschen werden ihr äusserliches Lebensziel, ihre endgültige Stellung zu Gesellschaft und Staat 2 5 bald erreicht finden und zum Beispiel mit einem kleinen Amte oder einem Vermögen, das gerade zum Leben ausreicht, gerne sich zufrieden geben; denn sie werden sich einrichten so zu leben, dass eine grosse Verwandelung der äusseren Güter, ja ein U m -
5. Anzeichen höherer und niederer C u l t u r 2 8 8 — 2 9 2
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stürz der politischen Ordnungen ihr Leben nicht mit umwirft. Auf alle diese Dinge verwenden sie so wenig wie möglich an Energie, damit sie mit der ganzen angesammelten Kraft und gleichsam mit einem langen Athem in das Element des Erkennens hinabtauchen. So können sie hoffen, tief zu tauchen und auch wohl auf den Grund zu sehen. — Von einem Ereigniss w i r d ein solcher Geist gerne nur einen Zipfel nehmen, er liebt die Dinge in der ganzen Breite und Weitschweifigkeit ihrer Falten nicht: denn er will sich nicht in diese verwickeln. — Auch er kennt die Wochentage der Unfreiheit, der Abhängigkeit, der Dienstbarkeit. Aber von Zeit zu Zeit muss ihm ein Sonntag der Freiheit kommen, sonst w i r d er das Leben nicht aushalten. — Es ist w a h r scheinlich, dass selbst seine Liebe zu den Menschen vorsichtig und etwas kurzathmig sein w i r d , denn er will sich nur, so weit es zum Zwecke der Erkenntniss nöthig ist, mit der Welt der Neigungen und der Blindheit einlassen. Er muss darauf vertrauen, dass der Genius der Gerechtigkeit Etwas f ü r seinen Jünger und Schützling sagen wird, wenn anschuldigende Stimmen ihn arm an Liebe nennen sollten. — Es giebt in seiner Lebens- und Denkweise einen v e r f e i n e r t e n H e r o i s m u s , welcher es verschmäht, sich der grossen Massen-Verehrung, wie sein gröberer Bruder es thut, anzubieten und still durch die Welt und aus der Welt zu gehen pflegt. W a s f ü r Labyrinthe er auch durchwandert, unter welchen Felsen sich auch sein Strom zeitweilig durchgequält hat — kommt er an's Licht, so geht er hell, leicht und fast geräuschlos seinen Gang und lässt den Sonnenschein bis in seinen Grund hinab spielen.
292. V o r w ä r t s . — U n d damit v o r w ä r t s auf der Bahn der Weisheit, guten Schrittes, guten Vertrauens! W i e du auch bist, so diene dir selber als Quell der Erfahrung! Wirf das Missvergnügen über dein Wesen ab, verzeihe dir dein eignes Ich, denn in
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Menschliches, Allzumenschlidies I
jedem Falle hast du an dir eine Leiter mit hundert Sprossen, auf welchen du zur Erkenntniss steigen kannst. Das Zeitalter, in welches du dich mit Leidwesen geworfen fühlst, preist dich selig dieses Glückes wegen; es ruft dir zu, dass dir jetzt noch an Erfahrungen zu Theil werde, was Menschen späterer Zeit vielleicht entbehren müssen. Missachte es nicht, noch religiös gewesen zu sein; ergründe es völlig, wie du noch einen ächten Zugang zur Kunst gehabt hast. Kannst du nicht gerade mit H ü l f e dieser Erfahrungen ungeheuren Wegstrecken der früheren Menschheit verständnisvoller nachgehen? Sind nicht gerade auf d e m Boden, welcher dir mitunter so missfällt, auf dem Boden des unreinen Denkens, viele der herrlichsten Früchte älterer Cultur aufgewachsen? Man muss Religion und Kunst wie Mutter und Amme geliebt haben, — sonst kann man nicht weise werden. Aber man muss über sie hinaus sehen, ihnen entwachsen können; bleibt man in ihrem Banne, so versteht man sie nicht. Ebenso muss dir die Flistorie vertraut sein und das vorsichtige Spiel mit den Wagschalen: „einerseits—andererseits". Wandle zurück, in die Fussstapfen tretend, in welchen die Menschheit ihren leidvollen grossen Gang durch die Wüste der Vergangenheit machte: so bist du am gewissesten belehrt, wohin alle spätere Menschheit nicht wieder gehen kann oder darf. Und indem du mit aller Kraft vorauserspähen willst, wie der Knoten der Zukunft noch geknüpft wird, bekommt dein eigenes Leben den Werth eines Werkzeuges und Mittels zur Erkenntniss. Du hast es in der H a n d zu erreichen, dass all dein Erlebtes: die Versuche, Irrwege, Fehler, Täuschungen, Leidenschaften, deine Liebe und deine Hoffnung, in deinem Ziele ohne Rest aufgehn. Dieses Ziel ist, selber eine nothwendige Kette von Cultur-Ringen zu werden und von dieser Nothwendigkeit aus auf die Nothwendigkeit im Gange der allgemeinen Cultur zu schliessen. Wenn dein Blick stark genug geworden ist, den Grund in dem dunklen Brunnen deines Wesens und deiner Erkenntnisse zu sehen, so werden dir vielleicht auch in seinem Spiegel die fernen Sternbilder zu-
5. Anzeichen höherer und niederer Cultur 292
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künftiger Culturen sichtbar werden. Glaubst du, ein solches Leben mit einem solchen Ziele sei zu mühevoll, zu ledig aller Annehmlichkeiten? So hast du noch nicht gelernt, dass kein Honig süsser als der der Erkenntniss ist und dass die hängenden Wolken der Trübsal dir noch zum Euter dienen müssen, aus dem du die Milch zu deiner Labung melken wirst. Kommt das Alter, so merkst du erst recht, wie du der Stimme der N a t u r Gehör gegeben, jener N a t u r , welche die ganze Welt durch Lust beherrscht: das selbe Leben, welches seine Spitze im Alter hat, hat auch seine Spitze in der Weisheit, in jenem milden Sonnenglanz einer beständigen geistigen Freudigkeit; beiden, dem Alter und der Weisheit, begegnest du auf Einem Bergrücken des Lebens, so wollte es die N a t u r . Dann ist es Zeit und kein Anlass zum Zürnen, dass der Nebel des Todes naht. Dem Lichte zu — deine letzte Bewegung; ein Jauchzen der Erkenntniss — dein letzter Laut.
Sechstes Hauptstück. Der Mensch im Verkehr. 293. W o h l w o l l e n d e V e r s t e l l u n g . — Es ist häufig im Verkehre mit Menschen eine wohlwollende Verstellung nöthig, als ob wir die Motive ihres Handelns nicht durchschauten.
294. C o p i e n. — Nicht selten begegnet man Copien bedeutender Menschen; und den Meisten gefallen, wie bei Gemälden, so auch hier, die Copien besser als die Originale.
295-
D e r R e d n e r . — M a n kann höchst passend reden und doch so, dass alle Welt über das Gegentheil schreit: nämlich dann, wenn man nicht zu aller Welt redet.
296. M a n g e l a n V e r t r a u l i c h k e i t . — Mangel an Vertraulichkeit unter Freunden ist ein Fehler, der nicht gerügt werden kann, ohne unheilbar zu werden.
240
Menschliches, Allzumenschliches I
297Z u r K u n s t d e s S c h e n k e n s . — Eine Gabe ausschlagen zu müssen, blos weil sie nicht auf die rechte Weise angeboten wurde, erbittert gegen den Geber.
298.
D e r g e f ä h r l i c h s t e P a r t e i m a n n . — In jeder Partei ist Einer, der durch sein gar zu gläubiges Aussprechen der Parteigrundsätze die Uebrigen zum Abfall reizt.
299.
R a t h g e b e r d e s K r a n k e n . — Wer einem Kranken seine Rathschläge giebt, erwirbt sich ein Gefühl von Ueberlegenheit über ihn, sei es, dass sie angenommen oder dass sie verworfen werden. Desshalb hassen reizbare und stolze Kranke die Rathgeber noch mehr als ihre Krankheit.
300.
D o p p e l t e A r t d e r G l e i c h h e i t . — Die Sucht nach Gleichheit kann sich so äussern, dass man entweder alle Anderen zu sich hinunterziehen möchte (durch Verkleinern, Secretiren, Beinstellen) oder sich mit Allen hinauf (durch Anerkennen, Helfen, Freude an fremdem Gelingen).
301.
G e g e n V e r l e g e n h e i t . — Das beste Mittel, sehr verlegenen Leuten zu H ü l f e zu kommen und sie zu beruhigen, besteht darin, dass man sie entschieden lobt.
6. Der Mensdi im Verkehr 297—306
241
302.
V o r l i e b e f ü r e i n z e l n e T u g e n d e n . — Wir legen nicht eher besonderen Werth auf den Besitz einer Tugend, bis wir deren völlige Abwesenheit an unserem Gegner wahrnehmen.
303.
W a r u m m a n w i d e r s p r i c h t . — Man widerspricht oft einer Meinung, während uns eigentlich nur der Ton, mit dem sie vorgetragen wurde, unsympathisch ist.
304.
V e r t r a u e n u n d V e r t r a u l i c h k e i t . — Wer die Vertraulichkeit mit einer anderen Person geflissentlich zu erzwingen sucht, ist gewöhnlich nicht sicher darüber, ob er ihr Vertrauen besitzt. Wer des Vertrauens sicher ist, legt auf Vertraulichkeit wenig Werth.
305.
G l e i c h g e w i c h t d e r F r e u n d s c h a f t . — Manchmal kehrt, im Verhältniss von uns zu einem andern Menschen, das rechte Gleichgewicht der Freundschaft zurück, wenn wir in unsre eigene Wagschale einige Gran Unrecht legen.
3 0 6.
D i e g e f ä h r l i c h s t e n A e r z t e . — Die gefährlichsten Aerzte sind die, welche es dem geborenen Arzte als geborene Schauspieler mit vollkommener Kunst der Täuschung nachmachen.
242
Menschliches, Allzumenschliches I
307.
W a n n P a r a d o x i e n a m P l a t z e s i n d . — Geistreichen Personen braucht man mitunter, um sie für einen Satz zu gewinnen, denselben nur in der Form einer ungeheuerlichen Paradoxie vorzulegen.
308.
W i e m u t h i g e L e u t e g e w o n n e n w e r d e n . — Muthige Leute überredet man dadurch zu einer Handlung, dass man dieselbe gefährlicher darstellt, als sie ist.
309.
A r t i g k e i t e n . — Unbeliebten Personen rechnen wir die Artigkeiten, welche sie uns erweisen, zum Vergehen an.
310.
W a r t e n l a s s e n . — Ein sicheres Mittel, die Leute aufzubringen und ihnen böse Gedanken in den Kopf zu setzen, ist, sie lange warten zu lassen. Diess macht unmoralisch.
311.
G e g e n d i e V e r t r a u l i c h e n . — Leute, welche uns ihr volles Vertrauen schenken, glauben dadurch ein Recht auf das unsrige zu haben. Diess ist ein Fehlschluss; durch Geschenke erwirbt man keine Rechte.
312.
A u s g l e i c h s m i t t e l . — Es genügt oft, einem Andern, dem man einen Nachtheil zugefügt hat, Gelegenheit zu einem
6. Der Mensch im Verkehr 307—316
243
Witze über uns zu geben, um ihm persönlich Genugthuung zu schaffen, ja um ihn für uns gut zu stimmen.
313E i t e l k e i t d e r Z u n g e . — O b der Mensch seine schlechten Eigenschaften und Laster verbirgt oder mit Offenheit sie eingesteht, so wünscht doch in beiden Fällen seine Eitelkeit einen Vortheil dabei zu haben: man beachte nur, wie fein er unterscheidet, vor wem er jene Eigenschaften verbirgt, vor wem er ehrlich und offenherzig wird.
314. R ü c k s i c h t s v o l l . — Niemanden kränken, Niemanden beeinträchtigen wollen kann ebensowohl das Kennzeichen einer gerechten, als einer ängstlichen Sinnesart sein.
315Z u m D i s p u t i r e n e r f o r d e r l i c h . — Wer seine Gedanken nicht auf Eis zu legen versteht, der soll sich nicht in die H i t z e des Streites begeben.
316. U m g a n g u n d A n m a a s s u n g . — M a n verlernt die Anmaassung, wenn man sich immer unter verdienten Menschen weiss; Allein-sein pflanzt Uebermuth. Junge Leute sind anmaassend, denn sie gehen mit Ihresgleichen um, welche alle Nichts sind, aber gerne viel bedeuten.
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Menschliches, Allzumenschliches I
317M o t i v d e s A n g r i f f s . — Man greift nicht nur an, um Jemandem wehe zu thun, ihn zu besiegen, sondern vielleicht auch nur, um sich seiner Kraft bewusst zu werden.
318.
S c h m e i c h e l e i . — Personen, welche unsere Vorsicht im Verkehr mit ihnen durch Schmeicheleien betäuben wollen, wenden ein gefährliches Mittel an, gleichsam einen Schlaftrunk, welcher, wenn er nicht einschläfert, nur um so mehr wach erhält.
3 r 9G u t e r B r i e f s c h r e i b e r . — Der, welcher keine Bücher schreibt, viel denkt und in unzureichender Gesellschaft lebt, wird gewöhnlich ein guter Briefschreiber sein.
320.
A m h ä s s 1 i c h s t e n . — Es ist zu bezweifeln, ob ein Vielgereister irgendwo in der Welt hässlichere Gegenden gefunden hat, als im menschlichen Gesichte.
D i e M i t l e i d i g e n . — Die mitleidigen, im Unglück jederzeit hülfreichen Naturen sind selten zugleich die sich mitfreuenden: beim Glück der Anderen haben sie Nichts zu thun, sind überflüssig, fühlen sich nicht im Besitz ihrer Ueberlegenheit und zeigen desshalb leicht Missvergnügen.
6. Der Mensch im Verkehr 317—327
245
322.
V e r w a n d t e e i n e s S e l b s t m ö r d e r s . — Verwandte eines Selbstmörders rechnen es ihm übel an, dass er nicht aus Rücksicht auf ihren Ruf am Leben geblieben ist.
323U n d a n k v o r a u s z u s e h e n . — Der, welcher etwas Grosses schenkt, findet keine Dankbarkeit; denn der Beschenkte hat schon durch das Annehmen zu viel Last.
324.
I n g e i s t l o s e r G e s e l l s c h a f t . — Niemand dankt dem geistreichen Menschen die Höflichkeit, wenn er sich einer Gesellschaft gleichstellt, in der es nicht höflich ist, Geist zu zeigen.
32J. G e g e n w a r t v o n Z e u g e n . — Man springt einem Menschen, der in's Wasser fällt, noch einmal so gern nach, wenn Leute zugegen sind, die es nicht wagen.
326.
S c h w e i g e n . — Die f ü r beide Parteien unangenehmste Art, eine Polemik zu erwidern, ist, sich ärgern und schweigen: denn der Angreifende erklärt sich das Schweigen gewöhnlich als Zeichen der Verachtung.
3 27D a s G e h e i m n i s s d e s F r e u n d e s . — Es wird Wenige geben, welche, wenn sie um Stoff zur Unterhaltung verlegen
246
Menschliches, Allzumenschliches I
sind, nicht die geheimeren preisgeben.
Angelegenheiten
ihrer
Freunde
328.
H u m a n i t ä t . — Die Humanität der Berühmtheiten des Geistes besteht darin, im Verkehre mit Unberühmten auf eine verbindliche Art Unrecht zu behalten.
329.
D e r B e f a n g e n e . — Menschen, die sich in der Gesellschaft nicht sicher fühlen, benutzen jede Gelegenheit, um an einem Nahegestellten, dem sie überlegen sind, diese Ueberlegenheit öffentlich, vor der Gesellschaft, zu zeigen, zum Beispiel durch Neckereien.
330.
D a n k . — Eine feine Seele bedrückt es, sich Jemanden zum Dank verpflichtet zu wissen; eine grobe, sich Jemandem.
331-
M e r k m a l d e r E n t f r e m d u n g . — Das stärkste Anzeichen von Entfremdung der Ansichten bei zwei Menschen ist diess, dass beide sich gegenseitig einiges Ironische sagen, aber keiner von beiden das Ironische daran fühlt.
332A n m a a s s u n g b e i V e r d i e n s t e n . — Anmaassung bei Verdiensten beleidigt noch mehr, als Anmaassung von Menschen ohne Verdienst: denn schon das Verdienst beleidigt.
6. Der Mensch im Verkehr 327—337
247
333-
G e f a h r i n d e r S t i m m e . — Mitunter macht uns im Gespräche der Klang der eigenen Stimme verlegen und verleitet uns zu Behauptungen, welche gar nicht unserer Meinung entsprechen.
334-
I m G e s p r ä c h e . — O b man im Gespräche dem Andern vornehmlich Recht giebt oder Unrecht, ist durchaus die Sache der Angewöhnung: das Eine wie das Andere hat Sinn.
335-
F u r c h t v o r d e m N ä c h s t e n . — Wir fürchten die feindselige Stimmung des Nächsten, weil wir befürchten, dass er durch diese Stimmung hinter unsere Heimlichkeiten k o m m t .
336. D u r c h T a d e l a u s z e i c h n e n . — Sehr angesehene Personen ertheilen selbst ihren Tadel so, dass sie uns damit auszeichnen wollen. Es soll uns aufmerksam machen, wie angelegentlich sie sich mit uns beschäftigen. Wir verstehen sie ganz falsch, wenn wir ihren Tadel sachlich nehmen und uns gegen ihn vertheidigen; wir ärgern sie dadurch und entfremden uns ihnen.
337-
V e r d r u s s a m W o h l w o l l e n A n d e r e r . — Wir irren uns über den Grad, in welchem wir uns gehasst, gefürchtet glauben: weil wir selber zwar gut den Grad unserer Abweichung von einer Person, Richtung, Partei kennen, jene Andern aber uns sehr
248
Menschliches, A l l z u m e n s d i l i d i e s I
oberflächlich kennen und desshalb auch nur oberflächlich hassen. Wir begegnen oft einem Wohlwollen, welches uns unerklärlich ist; verstehen wir es aber, so beleidigt es uns, weil es zeigt, dass man uns nicht ernst, nicht wichtig genug nimmt.
338.
S i c h k r e u z e n d e E i t e l k e i t e n . — Zwei sich begegnende Personen, deren Eitelkeit gleich gross ist, behalten hinterdrein von einander einen schlechten Eindruck, weil jede so mit dem Eindruck beschäftigt war, den sie bei der andern hervorbringen wollte, dass die andere auf sie keinen Eindruck machte; beide merken endlich, dass ihr Bemühen verfehlt ist und schieben je der andern die Schuld zu.
339U n a r t e n a l s g u t e A n z e i c h e n . — Der überlegene Geist hat an den Tactlosigkeiten, Anmaassungen, ja Feindseligkeiten ehrgeiziger Jünglinge gegen ihn sein Vergnügen; es sind die Unarten feuriger Pferde, welche noch keinen Reiter getragen haben und doch in K u r z e m so stolz sein werden, ihn zu tragen.
340.
W a n n es r a t h s a m i s t , U n r e c h t z u b e h a l t e n . — Man thut gut, gemachte Anschuldigungen, selbst wenn sie uns Unrecht thun, ohne Widerlegung hinzunehmen, im Fall der Anschuldigende darin ein noch grösseres Unrecht unsererseits sehen würde, wenn wir ihm widersprächen und etwa gar ihn widerlegten. Freilich kann Einer auf diese Weise immer Unrecht haben und immer Recht behalten und zuletzt mit dem besten Gewissen von der Welt der unerträglichste Tyrann und Quälgeist
6. Der Mensdi im Verkehr 337—343
249
werden; und was vom Einzelnen gilt, kann auch bei ganzen Classen der Gesellschaft vorkommen.
341.
Z u w e n i g g e e h r t . — Sehr eingebildete Personen, denen man Zeichen von geringerer Beachtung gegeben hat, als sie erwarteten, versuchen lange, sich selbst und Andere darüber irre zu führen und werden spitzfindige Psychologiker, um herauszubekommen, dass der Andere sie doch genügend geehrt hat: erreichen sie ihr Ziel nicht, reisst der Schleier der Täuschung, so geben sie sich einer um so grösseren Wuth hin.
342.
U r z u s t ä n d e i n d e r R e d e n a c h k l i n g e n d . — In der Art, wie jetzt die Männer im Verkehre Behauptungen aufstellen, erkennt man oft einen Nachklang der Zeiten, wo dieselben sich besser auf Waffen, als auf irgend Etwas verstanden: sie handhaben ihre Behauptungen bald wie zielende Schützen ihr Gewehr, bald glaubt man das Sausen und Klirren der Klingen zu hören; und bei einigen Männern poltert eine Behauptung herab wie ein derber Knüttel. — Frauen dagegen sprechen so, wie Wesen, welche Jahrtausende lang am Webstuhl sassen oder die Nadel führten oder mit Kindern kindisch waren.
343-
D e r E r z ä h l e r . — Wer Etwas erzählt, lässt leicht merken, ob er erzählt, weil ihn das Factum interessirt oder weil er durch die Erzählung interessiren will. Im letzteren Falle wird er übertreiben, Superlative gebrauchen und Aehnliches thun. Er erzählt dann gewöhnlich schlechter, weil er nicht so sehr an die Sache, als an sich denkt.
250
Menschliches, Allzumenschliches I
344-
D e r V o r l e s e r . — Wer dramatische Dichtungen vorliest, macht Entdeckungen über seinen Charakter: er findet für gewisse Stimmungen und Scenen seine Stimme natürlicher, als für ande$ re, etwa f ü r alles Pathetische oder f ü r das Scurrile, während er vielleicht im gewöhnlichen Leben nur nicht Gelegenheit hatte, Pathos oder Scurrilität zu zeigen.
345-
Eine Lustspiel-Scene, welche im Leben 10 v o r k o m m t . — Jemand denkt sich eine geistreiche Meinung über ein Thema aus, um sie in einer Gesellschaft vorzutragen. N u n würde man im Lustspiel anhören und ansehen, wie er mit allen Segeln an den Punct zu kommen und die Gesellschaft dort einzuschiffen sucht, wo er seine Bemerkung machen kann: wie er 1 5 fortwährend die Unterhaltung nach Einem Ziele schiebt, gelegentlich die Richtung verliert, sie wiedergewinnt, endlich den Augenblick erreicht: fast versagt ihm der Athem — und da nimmt ihm Einer aus der Gesellschaft die Bemerkung vom Munde weg. Was wird er thun? Seiner eigenen Meinung 20 opponiren?
346.
W i d e r W i l l e n u n h ö f l i c h . — Wenn Jemand wider Willen einen Andern unhöflich behandelt, zum Beispiel nicht grüsst, weil er ihn nicht erkennt, so wurmt ihn diess, obwohl er 25 nicht seiner Gesinnung einen Vorwurf machen kann; ihn kränkt die schlechte Meinung, welche er bei dem Andern erzeugt hat, oder er fürchtet die Folgen einer Verstimmung, oder ihn schmerzt es, den Andern verletzt zu haben, — also Eitelkeit, Furcht oder Mitleid können rege werden, vielleicht auch alles zusammen.
6. Der Mensch im Verkehr 344—350
251
347V e r r ä t h e r - M e i s t e r s t ü c k . — Gegen den Mitverschworenen den kränkenden Argwohn zu äussern, ob man nicht von ihm verrathen werde, und diess gerade in dem Augenblicke, wo man selbst Verrath übt, ist ein Meisterstück der Bosheit, weil es den Andern persönlich occupirt und ihn zwingt, eine Zeit lang sich sehr unverdächtig und offen zu benehmen, so dass der wirkliche Verräther sich freie H a n d gemacht hat.
348.
B e l e i d i g e n u n d b e l e i d i g t w e r d e n . — Es ist weit angenehmer, zu beleidigen und später um Verzeihung zu bitten, als beleidigt zu werden und Verzeihung zu gewähren. Der, welcher das Erste thut, giebt ein Zeichen von Macht und nachher von Güte des Charakters. Der Andere, wenn er nicht als inhuman gelten will, m u s s schon verzeihen; der Genuss an der Demüthigung des Anderen ist dieser Nöthigung wegen gering.
349I m D i s p u t . — Wenn man zugleich einer anderen Meinung widerspricht und dabei seine eigene entwickelt, so verrückt gewöhnlich die fortwährende Rücksicht auf die andere Meinung die natürliche Haltung der eigenen: sie erscheint absichtlicher, schärfer, vielleicht etwas übertrieben.
350.
K u n s t g r i f f . — Wer etwas Schwieriges von einem Andern erlangen will, muss die Sache überhaupt nicht als Problem fassen, sondern schlicht seinen Plan hinlegen, als sei er die einzige Möglichkeit; er muss es verstehen, wenn im Auge des Gegners der Einwand, der Widerspruch dämmert, schnell abzubrechen und ihm keine Zeit zu geben.
252
Menschliches, Allzumenschliches I
35i-
G e w i s s e n s b i s s e n a c h G e s e l l s c h a f t e n . — Warum haben wir nach gewöhnlichen Gesellschaften Gewissensbisse? Weil wir wichtige Dinge leicht genommen haben, weil wir bei der Besprechung von Personen nicht mit voller Treue gesprochen oder weil wir geschwiegen haben, wo wir reden sollten, weil wir gelegentlich nicht aufgesprungen und fortgelaufen sind, kurz weil wir uns in der Gesellschaft benahmen, als ob wir zu ihr gehörten.
352M a n w i r d f a l s c h b e u r t h e i l t . — Wer immer darnach hinhorcht, wie er beurtheilt wird, hat immer Aerger. Denn wir werden schon von Denen, welche uns am nächsten stehen („am besten kennen"), falsch beurtheilt. Selbst gute Freunde lassen ihre Verstimmung mitunter in einem missgünstigen Worte aus; und würden sie unsere Freunde sein, wenn sie uns genau kennten? — Die Urtheile der Gleichgültigen thun sehr weh, weil sie so unbefangen, fast sachlich klingen. Merken wir aber gar, dass Jemand, der uns feind ist, uns in einem geheim gehaltenen Puñete so gut kennt, wie wir uns, wie gross ist dann erst der Verdruss!
353-
T y r a n n e i d e s P o r t r a i t s. — Künstler und Staatsmänner, die schnell aus einzelnen Zügen das ganze Bild eines Menschen oder Ereignisses combiniren, sind am meisten dadurch ungerecht, dass sie hinterdrein verlangen, das Ereigniss oder der Mensch müsse wirklich so sein, wie sie es malten; sie verlangen geradezu, dass Einer so begabt, so verschlagen, so ungerecht sei, wie er in ihrer Vorstellung lebt.
6. Der Mensch im Verkehr 351—357
253
354-
D e r V e r w a n d t e a l s d e r b e s t e F r e u n d . — Die Griechen, die so gut wussten, was ein Freund sei, — sie allein von allen Völkern haben eine tiefe, vielfache philosophische Erörterung der Freundschaft; sodass ihnen zuerst, und bis jetzt zuletzt, der Freund als ein lösenswerthes Problem erschienen ist — diese selben Griechen haben die V e r w a n d t e n mit einem Ausdrucke bezeichnet, welcher der Superlativ des Wortes „Freund" ist. Diess bleibt mir unerklärlich.
3 5 5-
V e r k a n n t e E h r l i c h k e i t . — Wenn Jemand im Gespräche sich selber citirt („ich sagte damals", „ich pflege zu sagen"), so macht diess den Eindruck der Anmaassung, während es häufiger gerade aus der entgegengesetzten Quelle hervorgeht, mindestens aus Ehrlichkeit, welche den Augenblick nicht mit den Einfällen schmücken und herausputzen will, welche einem früheren Augenblicke angehören.
356.
D e r P a r a s i t . — Es bezeichnet einen völligen Mangel an vornehmer Gesinnung, wenn Jemand lieber in Abhängigkeit, auf Anderer Kosten, leben will, um nur nicht arbeiten zu müssen, gewöhnlich mit einer heimlichen Erbitterung gegen Die, von denen er abhängt. — Eine solche Gesinnung ist viel häufiger bei Frauen als bei Männern, auch viel verzeihlicher (aus historischen Gründen).
357-
A u f d e m A l t a r d e r V e r s ö h n u n g . — Es giebt U m stände, wo man eine Sache von einem Menschen nur so erlangt,
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M e n s d i l i d i e s , Allzumenschliches I
dass man ihn beleidigt und sich verfeindet: dieses Gefühl, einen Feind zu haben, quält ihn so, dass er gern das erste Anzeichen einer milderen Stimmung zur Versöhnung benützt und jene Sache auf dem Altar dieser Versöhnung opfert, an der ihm früher so viel gelegen war, dass er sie um keinen Preis geben wollte.
358.
M i t l e i d f o r d e r n als Zeichen der Anmaass u n g. — Es giebt Menschen, welche, wenn sie in Zorn gerathen und die Anderen beleidigen, dabei erstens verlangen, dass man ihnen Nichts übel nehme und zweitens, dass man mit ihnen Mitleid habe, weil sie so heftigen Paroxysmen unterworfen sind. So weit geht die menschliche Anmaassung.
359-
K ö d e r . — „Jeder Mensch hat seinen Preis", — das ist nicht wahr. Aber es findet sich wohl für Jeden ein Köder, an den er anbeissen muss. So braucht man, um manche Personen für eine Sache zu gewinnen, dieser Sache nur den Glanz des Menschenfreundlichen, Edlen, Mildthätigen, Aufopfernden zu g e b e n — u n d welcher Sadie könnte man ihn nicht geben? — Es ist das Zuckerwerk und die Näscherei i h r e r Seele; andere haben anderes.
360.
V e r h a l t e n b e i m L o b e . — Wenn gute Freunde die begabte N a t u r loben, so wird sie sich öfters aus Höflichkeit und Wohlwollen darüber erfreut zeigen, aber in Wahrheit ist es ihr gleichgültig. Ihr eigentliches Wesen ist ganz träge dagegen und um keinen Schritt dadurch aus der Sonne oder dem Schatten, in dem sie liegt, herauszuwälzen; aber die Menschen wollen
6. Der Mensch im Verkehr 357—364
255
durch Lob eine Freude machen und man würde sie betrüben, wenn man sich über ihr Lob nicht freute.
361. D i e E r f a h r u n g d e s S o k r a t e s . — Ist man in einer Sache Meister geworden, so ist man gewöhnlich eben dadurch in den meisten andern Sachen ein völliger Stümper geblieben; aber man urtheilt gerade umgekehrt, wie diess schon Sokrates erfuhr. Diess ist der Uebelstand, welcher den Umgang mit Meistern unangenehm macht.
362. M i t t e l d e r V e r t h i e r u n g . — Im Kampf mit der Dummheit werden die billigsten und sanftesten Menschen zuletzt brutal. Sie sind damit vielleicht auf dem rechten Wege der Vertheidigung; denn an die dumme Stirn gehört, als Argument, von Rechtswegen die geballte Faust. Aber weil, wie gesagt, ihr Charakter sanft und billig ist, so leiden sie durch diese Mittel der Nothwehr mehr als sie Leid zufügen.
363. N e u g i e r d e . — Wenn die Neugierde nicht wäre, würde wenig für das Wohl des Nächsten gethan werden. Aber die Neugierde schleicht sich unter dem Namen der Pflicht oder des Mitleides in das Haus des Unglücklichen und Bedürftigen. — Vielleicht ist selbst an der vielberühmten Mutterliebe ein gut Stück Neugierde.
364. Verrechnung
in
der
Gesellschaft.
— Dieser
256
Menschliches, Allzumenschliches I
wünscht interessant zu sein durch seine Urtheile, Jener durch seine Neigungen und Abneigungen, der Dritte durch seine Bekanntschaften, ein Vierter durch seine Vereinsamung — und sie verrechnen sich Alle. Denn Der, vor dem das Schauspiel aufgeführt wird, meint selber dabei das einzig in Betracht kommende Schauspiel zu sein. 365.
D u e l l . — Zu Gunsten aller Ehrenhändel und Duelle ist zu sagen, dass, wenn Einer ein so reizbares Gefühl hat, nicht leben zu wollen, wenn Der und Der das und das über ihn sagt oder denkt, er ein Recht hat, die Sache auf den Tod des Einen oder des Andern ankommen zu lassen. Darüber, dass er so reizbar ist, ist gar nicht zu rechten, damit sind wir die Erben der Vergangenheit, ihrer Grösse sowohl wie ihrer Uebertreibungen, ohne welche es nie eine Grösse gab. Existirt nun ein Ehren-Kanon, welcher Blut an Stelle des Todes gelten lässt, so dass nach einem regelmässigen Duell das Gemüth erleichtert ist, so ist diess eine grosse Wohlthat, weil sonst viele Menschenleben in Gefahr wären. — So eine Institution erzieht übrigens die Menschen in Vorsicht auf ihre Aeusserungen und macht den Umgang mit ihnen möglich.
3 66. V o r n e h m h e i t u n d D a n k b a r k e i t . — Eine vornehme Seele wird sich gern zur Dankbarkeit verpflichtet fühlen und den Gelegenheiten, bei denen sie sich verpflichtet, nicht ängstlich aus dem Wege zu gehen; ebenso wird sie nachher gelassen in den Aeusserungen der Dankbarkeit sein; während niedere Seelen sich gegen alles Verpflichtetwerden sträuben oder nachher in den Aeusserungen ihrer Dankbarkeit übertrieben und allzu sehr beflissen sind. Letzteres kommt übrigens auch bei Personen von niederer Herkunft oder gedrückter Stellung vor: eine Gunst, i h n e n erwiesen, deucht ihnen ein Wunder von Gnade.
6. Der Mensdi im Verkehr 364—368
257
367. D i e S t u n d e n d e r B e r e d t s a m k e i t . — Der Eine hat, um gut zu sprechen, Jemanden nöthig, der ihm entschieden und anerkannt überlegen ist, der Andere kann nur vor Einem, den er überragt, völlige Freiheit der Rede und glückliche Wendungen der Beredtsamkeit finden: in beiden Fällen ist es der selbe Grund; Jeder von ihnen redet nur gut, wenn er sans gêne redet, der Eine, weil er vor dem Höheren den Antrieb der Concurrenz, des Wettbewerbs nicht fühlt, der Andere ebenfalls desshalb angesichts des Niederen. — N u n giebt es eine ganz andere Gattung von Menschen, die nur gut reden, wenn sie im Wetteifer, mit der Absicht zu siegen, reden. Welche von beiden Gattungen ist die ehrgeizigere: die, welche aus erregter Ehrsucht gut, oder die, welche aus eben diesen Motiven schlecht oder gar nicht spricht?
368. D a s T a l e n t z u r F r e u n d s c h a f t . — Unter den Menschen, welche eine besondere Gabe zur Freundschaft haben, treten zwei Typen hervor. Der Eine ist in einem fortwährenden Aufsteigen und findet f ü r jede Phase seiner Entwickelung einen genau zugehörigen Freund. Die Reihe von Freunden, welche er auf diese Weise erwirbt, ist unter sich selten im Zusammenhang, mitunter in Misshelligkeit und Widerspruch: ganz dem entsprechend, dass die späteren Phasen in seiner Entwickelung die früheren Phasen aufheben oder beeinträchtigen. Ein solcher Mensch mag im Scherz eine L e i t e r heissen. — Den andern Typus vertritt Der, welcher eine Anziehungskraft auf sehr verschiedene Charaktere und Begabungen ausübt, so dass er einen ganzen Kreis von Freunden gewinnt; diese aber kommen dadurch selber unter einander in freundschaftliche Beziehung, trotz aller Verschiedenheit. Einen solchen Menschen nenne man einen K r e i s : denn in ihm muss jene Zusammengehörigkeit so verschiedener Anlagen und Naturen irgendwie vorgebildet
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Menschliches, Allzumenschliches I
sein. — Uebrigens ist die Gabe, gute Freunde zu haben, in manchem Menschen viel grösser, als die Gabe, ein guter Freund zu sein.
369. 5
T a k t i k i m G e s p r ä c h . — Nach einem Gespräch mit Jemandem ist man am besten auf den Mitunterredner zu sprechen, wenn man Gelegenheit hatte, seinen Geist, seine Liebenswürdigkeit vor ihm im ganzen Glänze zu zeigen. Diess benutzen kluge Menschen, welche Jemanden sich günstig stimmen wollen, indem 10 sie bei der Unterredung ihm die besten Gelegenheiten zu einem guten Witz und dergleichen zuschieben. Es wäre ein lustiges Gespräch zwischen zwei sehr Klugen zu denken, welche sich gegenseitig günstig stimmen wollen und sich desshalb die schönen Gelegenheiten im Gespräch hin und her zuwerfen, während keiner 15 sie annimmt: so dass das Gespräch im Ganzen geistlos und unliebenswürdig verliefe, weil Jeder dem Andern die Gelegenheit zu Geist und Liebenswürdigkeit zuwiese.
370. E n t l a d u n g d e s U n m u t h es. — Der Mensch, dem Etwas 10 misslingt, führt diess Misslingen lieber auf den bösen Willen eines Anderen, als auf den Zufall zurück. Seine gereizte Empfindung wird dadurch erleichtert, eine Person und nicht eine Sache sich als Grund seines Misslingens zu denken; denn an Personen kann man sich rächen, die Unbilden des Zufalls aber muss 25 man hinunterwürgen. Die Umgebung eines Fürsten pflegt desshalb, wenn diesem Etwas misslungen ist, einen einzelnen Menschen als angebliche Ursache ihm zu bezeichnen und im Interesse aller Höflinge aufzuopfern; denn der Missmuth des Fürsten würde sich sonst an ihnen Allen auslassen, da er ja an 3° der Schicksalsgöttin selber keine Rache nehmen kann.
6. Der Mensch im Verkehr 368—372
259
371D i e F a r b e d e r U m g e b u n g a n n e h m e n . — Warum ist Neigung und Abneigung so ansteckend, dass man kaum in der Nähe einer stark empfindenden Person leben kann, ohne wie ein $ Gefäss mit ihrem Für und.Wider angefüllt zu werden? Erstens ist die völlige Enthaltung des Urtheils sehr schwer, mitunter f ü r unsere Eitelkeit geradezu unerträglich; sie trägt da gleiche Farbe mit der Gedanken- undEmpfindungsarmuth oder mit der Aengstlichkeit, der Unmännlichkeit: und so werden wir wenigstens dazu fortgerissen, Partei zu nehmen, vielleicht gegen die Richtung unserer Umgebung, wenn diese Stellung unserm Stolze mehr Vergnügen macht. Gewöhnlich aber — das ist das Zweite — bringen wir uns den Uebergang von Gleichgültigkeit zu Neigung oder Abneigung gar nicht zum Bewusstsein, sondern allmählich 15 gewöhnen wir uns an die Empfindungsweise unserer Umgebung, und weil sympathisches Zustimmen und Sichverstehen so angenehm ist, tragen wir bald alle Zeichen und Parteifarben dieser Umgebung.
37 2 2-o I r o n i e . — Die Ironie ist nur als pädagogisches Mittel am Platze, von Seiten eines Lehrers im Verkehr mit Schülern irgend welcher Art: ihr Zweck ist Demüthigung, Beschämung, aber von jener heilsamen Art, welche gute Vorsätze erwachen lässt und Dem, welcher uns so behandelte, Verehrung, Dank25 barkeit als einem Arzte entgegenbringen heisst. Der Ironische stellt sich unwissend und zwar so gut, dass die sich mit ihm unterredenden Schüler, getäuscht sind und in ihrem guten Glauben an ihr eigenes Besserwissen dreist werden und sich Blossen aller Art geben; sie verlieren die Behutsamkeit und zeigen sich, 3° wie sie sind, — bis in einem Augenblick die Leuchte, die sie dem Lehrer in's Gesicht hielten, ihre Strahlen sehr demüthigend auf sie selbst zurückfallen lässt. — Wo ein solches Verhältniss, wie
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Menschliches, Allzumenschliches I
zwischen Lehrer und Schüler, nicht stattfindet, ist sie eine Unart, ein gemeiner Affect. Alle ironischen Schriftsteller rechnen auf die alberne Gattung von Menschen, welche sich gerne allen Anderen mit dem Autor zusammen überlegen fühlen wollen, als welchen sie f ü r das Mundstück ihrer Anmaassung ansehen. — Die Gewöhnung an Ironie, ebenso wie die an Sarkasmus, verdirbt übrigens den Charakter, sie verleiht allmählich die Eigenschaft einer schadenfrohen Ueberlegenheit: man ist zuletzt einem bissigen H u n d e gleich, der noch das Lachen gelernt hat, ausser dem Beissen. 373A n m a a s s u n g . — Vor Nichts soll man sich so hüten, als vor dem Aufwachsen jenes Unkrautes, welches Anmaassung heisst und uns jede gute Ernte verdirbt; denn es giebt Anmaassung in der Herzlichkeit, in der Ehrenbezeigung, in der wohlwollenden Vertraulichkeit, in der Liebkosung, im freundschaftlichen Rathe, im Eingestehen von Fehlern, in dem Mitleid f ü r Andere, und alle diese schönen Dinge erwecken Widerwillen, wenn jenes Kraut dazwischen wächst. Der Anmaassende, das heisst Der, welcher mehr bedeuten will als er ist o d e r g i l t , macht immer eine falsche Berechnung. Zwar hat er den augenblicklichen Erfolg f ü r sich, insofern die Menschen, vor denen er anmaassend ist, ihm gewöhnlich das Maass von Ehre zollen, welches er fordert, aus Angst oder Bequemlichkeit; aber sie nehmen eine schlimme Rache dafür, insofern sie ebensoviel, als er über das Maass forderte, von dem Werthe subtrahiren, den sie ihm bis jetzt beilegten. Es ist Nichts, was die Menschen sich theurer bezahlen lassen, als Demüthigung. Der Anmaassende kann sein wirkliches grosses Verdienst so in den Augen der Andern verdächtigen und klein machen, dass man mit staubigen Füssen darauf tritt. — Selbst ein stolzes Benehmen sollte man sich nur dort erlauben, wo man ganz sicher sein kann, nicht missverstanden und als anmaassend betrachtet zu werden, zum Beispiel vor
6. Der Mensch im Verkehr 372—374
261
Freunden und Gattinnen. Denn es giebt im Verkehre mit Menschen keine grössere Thorheit, als sich den Ruf der Anmaassung zuzuziehen; es ist noch schlimmer, als wenn man nicht gelernt hat, höflich zu lügen. 5
10
ij
2°
25
3°
374Z w i e g e s p r ä c h . — Das Zwiegespräch ist das vollkommene Gespräch, weil Alles, was der Eine sagt, seine bestimmte Farbe, seinen Klang, seine begleitende Gebärde i n s t r e n g e r R ü c k s i c h t a u f d e n A n d e r e n , mit dem gesprochen wird, erhält, also dem entsprechend, was beim Briefverkehr geschieht, dass ein und der selbe zehn Arten des seelischen Ausdrucks zeigt, je nachdem er bald an Diesen, bald an Jenen schreibt. Beim Zwiegespräch giebt es nur eine einzige Strahlenbrechung des Gedankens: diese bringt der Mitunterredner hervor, als der Spiegel, in welchem wir unsere Gedanken möglichst schön wiedererblicken wollen. Wie aber ist es bei zweien, bei dreien und mehr Mitunterrednern? Da verliert nothwendig das Gespräch an individualisirender Feinheit, die verschiedenen Rücksichten kreuzen sich, heben sich auf; die Wendung, welche dem Einen wohlthut, ist nicht der Sinnesart des Andern gemäss. Desshalb wird der Mensch im Verkehr mit Mehreren gezwungen, sich auf sich zurückzuziehen, die Thatsachen hinzustellen, wie sie sind, aber jenen spielenden Aether der H u m a n i t ä t den Gegenständen zu nehmen, welcher ein Gespräch zu den angenehmsten Dingen der Welt macht. Man höre nur den Ton, in welchem Männer im Verkehr mit ganzen Gruppen von Männern zu reden pflegen, es ist als ob der Grundbass aller Rede der sei: „das bin i c h , das sage i c h , nun haltet davon, was ihr wollt!" Diess ist der Grund, wesshalb geistreiche Frauen bei Dem, welcher sie in der Gesellschaft kennen lernte, meistens einen befremdenden, peinlichen, abschreckenden Eindruck hinterlassen: es ist das Reden zu Vielen, vor Vielen, welches sie aller geistigen Liebenswürdigkeit beraubt und nur das bewusste
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Menschliches, Allzumenschlidies I
Beruhen auf sich selbst, ihre Taktik und die Absicht auf öffentlichen Sieg in grellem Lichte zeigt: während die selben Frauen im Zwiegespräche wieder zu Weibern werden und ihre geistige Anmuth wiederfinden.
5
375N a c h r u h m . — Auf die Anerkennung einer fernen Zukunft hoffen, hat nur Sinn, wenn man die Annahme macht, dass die Menschheit wesentlich unverändert bleibe und dass alles Grosse nicht f ü r Eine, sondern f ü r alle Zeiten als gross empfunden werden müsse. Diess ist aber ein Irrthum; die Menschheit, in allem Empfinden und Urtheilen über Das, was schön und gut ist, verwandelt sich sehr stark; es ist Phantasterei, von sich zu glauben, dass man eine Meile Wegs voraus sei und dass die gesammte Menschheit u n s e r e Strasse ziehe. Zudem: ein GeI S lehrter, der verkannt wird, darf jetzt bestimmt darauf rechnen, dass seine Entdeckung von Anderen auch gemacht wird, und dass ihm besten Falls einmal später von einem Historiker zuerkannt wird, er habe diess und jenes auch schon gewusst, sei aber nicht im Stande gewesen, seinem Satz Glauben zu verschaffen. Nichtanerkannt-werden wird von der Nachwelt immer als Mangel an Kraft ausgelegt. — Kurz, man soll der hochmüthigen Vereinsamung nicht so leicht das Wort reden. Es giebt übrigens Ausnahmefälle; aber zumeist sind es unsere Fehler, Schwächen und Narrheiten, welche die Anerkennung unserer grossen Eigenschaften verhindern. 376.
V o n d e n F r e u n d e n . — Ueberlege nur mit dir selber einmal, wie verschieden die Empfindungen, wie getheilt die Meinungen selbst unter den nächsten Bekannten sind; wie selbst gleiche Meinungen in den Köpfen deiner Freunde eine ganz andere Stellung oder Stärke haben, als in deinem; wie hundert-
6. Der Mensch im Verkehr 374—376
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fältig der Anlass kommt zum Missverstehen, zum feindseligen Auseinanderfliehen. Nach alledem wirst du dir sagen: wie unsicher ist der Boden, auf dem alle unsere Bündnisse und Freundschaften ruhen, wie nahe sind kalte Regengüsse oder böse Wetter, wie vereinsamt ist jeder Mensch! Sieht Einer diess ein und noch dazu, dass alle Meinungen und deren Art und Stärke bei seinen Mitmenschen ebenso nothwendig und unverantwortlich sind wie ihre Handlungen, gewinnt er das Auge f ü r diese innere Nothwendigkeit der Meinungen aus der unlösbaren Verflechtung von Charakter, Beschäftigung, Talent, Umgebung, — so wird er vielleicht die Bitterkeit und Schärfe jener Empfindung los, mit der jener Weise rief: „Freunde, es giebt keine Freunde!" Er wird sich vielmehr eingestehen: ja es giebt Freunde, aber der Irrthum, die Täuschung über dich führte sie dir zu; und Schweigen müssen sie gelernt haben, um dir Freund zu bleiben; denn fast immer beruhen solche menschliche Beziehungen darauf, dass irgend ein paar Dinge nie gesagt werden, ja dass an sie nie gerührt wird; kommen diese Steinchen aber in's Rollen, so folgt die Freundschaft hinterdrein und zerbricht. Giebt es Menschen, welche nicht tödtlich zu verletzen sind, wenn sie erführen, was ihre vertrautesten Freunde im Grunde von ihnen wissen? — Indem wir uns selbst erkennen und unser Wesen selber als eine wandelnde Sphäre der Meinungen und Stimmungen ansehen und somit ein Wenig geringschätzen lernen, bringen wir uns wieder in's Gleichgewicht mit den Uebrigen. Es ist wahr, wir haben gute Gründe, jeden unserer Bekannten, und seien es die grössten, gering zu achten; aber eben so gute, diese Empfindung gegen uns selber zu kehren. — Und so wollen wir es mit einander aushalten, da wir es ja mit uns aushalten; und vielleicht kommt Jedem auch einmal die freudigere Stunde, wo er sagt: „Freunde, es giebt keine Freunde!" so rief der sterbende Weise; „Feinde, es giebt keinen Feind!" — r u f ' ich, der lebende Thor.
Siebentes Hauptstück. Weib und Kind. 377D a s v o l l k o m m e n e W e i b . — Das vollkommene Weib ist ein höherer Typus des Menschen, als der vollkommene Mann: auch etwas viel Selteneres. — Die Naturwissenschaft der Thiere bietet ein Mittel, diesen Satz wahrscheinlich zu machen.
378.
F r e u n d s c h a f t u n d E h e . — Der beste Freund wird wahrscheinlich die beste Gattin bekommen, weil die gute Ehe auf dem Talent zur Freundschaft beruht.
379F o r t l e b e n d e r E l t e r n . — Die unaufgelösten Dissonanzen im Verhältniss von Charakter und Gesinnung der Eltern klingen in dem Wesen des Kindes fort und machen seine innere Leidensgeschichte aus. 380.
V o n d e r M u t t e r h e r . — Jedermann trägt ein Bild des Weibes von der Mutter her in sich: davon wird er bestimmt, die Weiber überhaupt zu verehren oder sie geringzuschätzen oder gegen sie im Allgemeinen gleichgültig zu sein.
266
Menschliches, Allzumenschliches I 381.
D i e N a t u r c o r r i g i r e n . — Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen.
382.
V ä t e r u n d S ö h n e . — Väter haben viel zu thun, um es wieder gut zu machen, dass sie Söhne haben.
383.
I r r t h u m v o r n e h m e r F r a u e n . — Die vornehmen Frauen denken, dass eine Sache gar nicht da ist, wenn es nicht möglich ist, von ihr in der Gesellschaft zu sprechen.
384.
E i n e M ä n n e r k r a n k h e i t . — Gegen die Männerkrankheit der Selbstverachtung hilft es am sichersten, von einem klugen Weibe geliebt zu werden.
385.
E i n e A r t d e r E i f e r s u c h t . — Mütter sind leicht eifersüchtig auf die Freunde ihrer Söhne, wenn diese besondere Erfolge haben. Gewöhnlich liebt eine Mutter s i c h mehr in ihrem Sohn, als den Sohn selber.
386.
V e r n ü n f t i g e U n v e r n u n f t . — In der Reife des Lebens und des Verstandes überkommt den Menschen das Gefühl, dass sein Vater Unrecht hatte, ihn zu zeugen.
7. Weib und Kind 381—392
267
387.
M ü t t e r l i c h e G ü t e . — Manche Mutter braucht glückliche geehrte Kinder, manche unglückliche: sonst kann sich ihre Güte als Mutter nicht zeigen.
388.
V e r s c h i e d e n e S e u f z e r . — Einige Männer haben über die Entführung ihrer Frauen geseufzt, die meisten darüber, dass Niemand sie ihnen entführen wollte.
389.
L i e b e s h e i r a t h e n . — Die Ehen, welche aus Liebe geschlossen werden (die sogenannten Liebesheirathen), haben den Irrthum zum Vater und die N o t h (das Bedürfniss) zur Mutter.
39°F r a u e n f r e u n d s c h a f t . — Frauen können recht gut mit einem Manne Freundschaft schliessen; aber um diese aufrecht zu erhalten — dazu muss wohl eine kleine physische Antipathie mithelfen.
39iL a n g e w e i l e . — Viele Menschen, namentlich Frauen, empfinden die Langeweile nicht, weil sie niemals ordentlich arbeiten gelernt haben. 3 92. E i n E l e m e n t d e r L i e b e . — In jeder Art der weiblichen Liebe kommt auch Etwas von der mütterlichen Liebe zum Vorschein.
268
Menschliches, Allzumenschliches I
393-
Die E i n h e i t des O r t e s und das Drama. — Wenn die Ehegatten nicht beisammen lebten, würden die guten Ehen häufiger sein.
394-
G e w ö h n l i c h e F o l g e n d e r E h e . — Jeder Umgang, der nicht hebt, zieht nieder, und umgekehrt; desshalb sinken gewöhnlich die Männer etwas, wenn sie Frauen nehmen, während die Frauen etwas gehoben werden. Allzu geistige Männer bedürfen eben so sehr der Ehe, als sie ihr wie einer widrigen Medicin widerstreben.
395-
B e f e h l e n l e h r e n . — Kinder aus bescheidenen Familien muss man eben so sehr das Befehlen durch Erziehung lehren, wie andere Kinder das Gehorchen.
396.
V e r l i e b t w e r d e n w o l l e n . — Verlobte, welche die Convenienz zusammengefügt hat, bemühen sich häufig, verliebt zu w e r d e n , um über den Vorwurf der kalten, berechnenden Nützlichkeit hinwegzukommen. Ebenso bemühen sich Solche, die ihres Vortheils wegen zum Christenthum umlenken, wirklich fromm zu werden; denn so wird das religiöse Mienenspiel ihnen leichter.
397-
K e i n S t i l l s t a n d i n d e r L i e b e . — Ein Musiker, der das langsame Tempo l i e b t , wird die selben Tonstücke
7. Weib und Kind 393—402
269
immer langsamer nehmen. So giebt es in keiner Liebe ein Stillstehen.
398.
S c h a m h a f t i g k e i t . — Mit der Schönheit der Frauen nimmt im Allgemeinen ihre Schamhaftigkeit zu.
599-
E h e v o n g u t e m B e s t a n d . — Eine Ehe, in der Jedes durch das Andere ein individuelles Ziel erreichen will, hält gut zusammen, zum Beispiel wenn die Frau durch den Mann berühmt, der Mann durch die Frau beliebt werden will.
400.
P r o t e u s - N a t u r . — Weiber werden aus Liebe ganz zu dem, als was sie in der Vorstellung der Männer, von denen sie geliebt werden, leben.
401.
L i e b e n u n d b e s i t z e n . — Frauen lieben meistens einen bedeutenden Mann so, dass sie ihn allein haben wollen. Sie würden ihn gern in Verschluss legen, wenn nicht ihre Eitelkeit widerriethe: diese will, dass er auch vor Anderen bedeutend erscheine.
402.
P r o b e e i n e r g u t e n E h e . — Die Güte einer Ehe bew ä h r t sich dadurch, dass sie einmal eine „Ausnahme" verträgt.
270
Menschliches, Allzumensdiliches 1
403. M i t t e l , A l l e z u A l l e m z u b r i n g e n . — Man kann Jedermann so durch Unruhen, Aengste, Ueberhäufung von Arbeit und Gedanken abmatten und schwach machen, dass er einer Sache, die den Schein des Complicirten hat, nicht mehr widersteht, sondern ihr nachgiebt, — das wissen die Diplomaten und die Weiber.
404. E h r b a r k e i t u n d E h r l i c h k e i t . — Jene Mädchen, welche allein ihrem Jugendreize die Versorgung für's ganze Leben verdanken wollen und deren Schlauheit die gewitzigten Mütter noch souffliren, wollen ganz das Selbe wie die H e tären, nur dass sie klüger und unehrlicher als diese sind.
405. M a s k e n . — Es giebt Frauen, die, wo man bei ihnen auch nachsucht, kein Inneres haben, sondern reine Masken sind. Der Mann ist zu beklagen, der sich mit solchen fast gespenstischen, nothwendig unbefriedigenden Wesen einlässt, aber gerade sie vermögen das Verlangen des Mannes auf das stärkste zu erregen: er sucht nach ihrer Seele — und sucht immer fort.
406. D i e E h e a l s l a n g e s G e s p r ä c h . — Man soll sich beim Eingehen einer Ehe die Frage vorlegen: glaubst du, dich mit dieser Frau bis in's Alter hinein gut zu unterhalten? Alles Andere in der Ehe ist transitorisch, aber die meiste Zeit des Verkehrs gehört dem Gespräche an.
7. Weib und Kind 403—410
271
407. M ä d c h e n t r ä u m e . — Unerfahrene Mädchen schmeicheln sich mit der Vorstellung, dass es in ihrer Macht stehe, einen Mann glücklich zu machen; später lernen sie, dass es so viel heisst als: einen Mann geringschätzen, wenn man annimmt, dass es nur eines Mädchens bedürfe, um ihn glücklich zu machen. — Die Eitelkeit der Frauen verlangt, dass ein Mann mehr sei, als ein glücklicher Gatte.
408. A u s s t e r b e n v o n F a u s t u n d G r e t c h e n . — Nach der sehr einsichtigen Bemerkung eines Gelehrten ähneln die gebildeten Männer des gegenwärtigen Deutschland einer Mischung von Mephistopheles und Wagner, aber durchaus nicht Fausten: welchen die Grossväter (in ihrer Jugend wenigstens) in sich rumoren fühlten. Zu ihnen passen also — um jenen Satz fortzusetzen — aus zwei Gründen die G r e t c h e n nicht. U n d weil sie nicht mehr begehrt werden, so sterben sie, scheint es, aus.
409. M ä d c h e n a l s G y m n a s i a s t e n . — Um Alles in der Welt nicht noch unsere Gymnasialbildung auf die Mädchen übertragen! Sie, die häufig aus geistreichen, wissbegierigen, feurigen Jungen — Abbilder ihrer Lehrer macht!
410. O h n e N e b e n b u h l e r i n n e n . — Frauen merken es einem Manne leicht an, ob seine Seele schon in Besitz genommen ist; sie wollen ohne Nebenbuhlerinnen geliebt sein und verargen ihm die Ziele seines Ehrgeizes, seine politischen Aufgaben, seine
272
Menschliches, Allzumensdiliches I
Wissenschaften und Künste, wenn er eine Leidenschaft zu solchen Sachen hat. Es sei denn, dass er durch diese glänze, — dann erhoffen sie, im Falle einer Liebesverbindung mit ihm, zugleich einen Zuwachs i h r e s Glanzes; wenn es so steht, begünstigen 5 sie den Liebhaber.
411. D e r w e i b l i c h e I n t e l l e c t . — Der Intellect der Weiber zeigt sich als vollkommene Beherrschung, Gegenwärtigkeit des Geistes, Benutzung aller Vortheile. Sie vererben ihn als 10 ihre Grundeigenschaft auf ihre Kinder, und der Vater giebt den dunkleren Hintergrund des Willens dazu. Sein Einfluss bestimmt gleichsam Rhythmus und Harmonie, mit denen das neue Leben abgespielt werden soll; aber die Melodie desselben stammt vom Weibe. — Für Solche gesagt, welche Etwas sidi zurecht zu legen 15 wissen: die Weiber haben den Verstand, die Männer das Gemüth und die Leidenschaft. Dem widerspricht nicht, dass die Männer thatsächlich es mit ihrem Verstände so viel weiterbringen: sie haben die tieferen, gewaltigeren Antriebe; diese tragen ihren Verstand, der an sich etwas Passives ist, so weit. Die Wei20 ber wundern sich im Stillen oft über die grosse Verehrung, welche die Männer ihrem Gemüthe zollen. Wenn die Männer vor Allem nach einem tiefen, gemüthvollen Wesen, die Weiber aber nach einem klugen, geistesgegenwärtigen und glänzenden Wesen bei der Wahl ihres Ehegenossen suchen, so sieht man im Grunde 25 deutlich, wie der Mann nadi dem idealisirten Manne, das Weib nach dem idealisirten Weibe sucht, also nicht nach Ergänzung, sondern nach Vollendung der eigenen Vorzüge.
412. E i n U r t h e i l H e s i o d ' s b e k r ä f t i g t . — Ein Zei3° chen für die Klugheit der Weiber ist es, dass sie es fast überall
273
7. W e i b und K i n d 4 1 0 — 4 1 4
verstanden haben, sich ernähren zu lassen, wie Drohnen im Bienenkorbe. Man erwäge doch, was das aber ursprünglich bedeuten will und warum die Männer sich nicht von den Frauen ernähren lassen. Gewiss weil die männliche Eitelkeit und E h r 5 sucht grösser als die weibliche Klugheit ist; denn die Frauen haben es verstanden, sich durch Unterordnung doch den überwiegenden Vortheil, j a die Herrschaft zu sichern. Selbst das Pflegen der Kinder könnte ursprünglich von der Klugheit der Weiber als V o r w a n d benutzt sein, um sich der Arbeit möglichst zu entziehen. Auch jetzt noch verstehen sie, wenn sie wirklich thätig sind, zum Beispiel als Haushälterinnen, davon ein sinnverwirrendes Aufheben zu machen: so dass von den Männern das Verdienst ihrer Thätigkeit zehnfach überschätzt zu werden pflegt. i$
413. Die
Kurzsichtigen
sind
verliebt.
—
Mitunter
genügt schon eine stärkere Brille, um den Verliebten zu heilen; und wer die Kraft der Einbildung hätte, um ein Gesicht, eine Gestalt sich zwanzig J a h r e älter vorzustellen, gienge vielleicht 10 sehr ungestört durch das Leben.
414. Frauen
im
Hass.
—
I m Zustande des Hasses
sind
Frauen gefährlicher, als M ä n n e r ; zuvörderst weil sie durch keine Rücksicht auf Billigkeit in ihrer einmal erregten
feindseligen
Empfindung gehemmt werden, sondern ungestört ihren Hass bis zu den letzten Consequenzen anwachsen lassen, sodann weil sie darauf eingeübt sind, wunde Stellen (die jeder Mensch, jede P a r tei hat) zu finden und dort hinein zu stechen: wozu ihnen ihr dolchspitzer Verstand treffliche Dienste leistet
(während
die
3° Männer beim Anblick von Wunden zurückhaltend, oft grossmüthig und versöhnlich gestimmt werden).
274
Menschliches, Allzumenschliches I
415. L i e b e . — Die Abgötterei, welche die Frauen mit der Liebe treiben, ist im Grunde und ursprünglich eine Erfindung der Klugheit, insofern sie ihre Macht durch alle jene Idealisirungen 5 der Liebe erhöhen und sich in den Augen der Männer als immer begehrenswerther darstellen. Aber durch die Jahrhundertelange Gewöhnung an diese übertriebene Schätzung der Liebe ist es geschehen, dass sie in ihr eigenes Netz gelaufen sind und jenen Ursprung vergessen haben. Sie selber sind jetzt noch mehr die 10 Getäuschten, als die Männer, und leiden desshalb auch mehr an der Enttäuschung, welche fast nothwendig im Leben jeder Frau eintreten wird — sofern sie überhaupt Phantasie und Verstand genug hat, um getäuscht und enttäuscht werden zu können.
416. 1$
Z u r E m a n c i p a t i o n d e r F r a u e n . — Können die Frauen überhaupt gerecht sein, wenn sie so gewohnt sind, zu lieben, gleich für oder wider zu empfinden? Daher sind sie auch seltener für Sachen, mehr für Personen eingenommen: sind sie es aber f ü r Sachen, so werden sie sofort deren Parteigänger und 20 verderben damit die reine unschuldige Wirkung derselben. So entsteht eine nicht geringe Gefahr, wenn ihnen die Politik und einzelne Theile der Wissenschaft anvertraut werden (zum Beispiel Geschichte). Denn was wäre seltener, als eine Frau, welche wirklich wüsste, was Wissenschaft ist? Die besten nähren sogar im Busen gegen sie eine heimliche Geringschätzung, als ob sie irgend wodurch ihr überlegen wären. Vielleicht kann diess Alles anders werden, einstweilen ist es so.
417. D i e I n s p i r a t i o n im U r t h e i l e der F r a u e n . — 3° Jene plötzlichen Entscheidungen über das Für und Wider,
7. Weib und Kind 415—419
275
welche Frauen zu geben pflegen, die blitzschnellen Erhellungen persönlicher Beziehungen durch ihre hervorbrechenden Neigungen und Abneigungen, kurz die Beweise der weiblichen Ungerechtigkeit sind von liebenden Männern mit einem Glanz umgeben worden, als ob alle Frauen Inspirationen von Weisheit hätten, auch ohne den delphischen Kessel und die Lorbeerbinde: und ihre Aussprüche werden noch lange nachher wie sibyllinische Orakel interpretirt und zurechtgelegt. Wenn man aber erwägt, dass f ü r jede Person, für jede Sache sich etwas geltend machen lässt, aber ebenso gut auch Etwas gegen sie, dass alle Dinge nicht nur zwei-, sondern drei- und vierseitig sind, so ist es beinahe schwer, mit solchen plötzlichen Entscheidungen gänzlich fehl zu greifen; ja man könnte sagen: die N a t u r der Dinge ist so eingerichtet, dass die Frauen immer Recht behalten.
418.
S i c h l i e b e n l a s s e n . — Weil die eine von zwei liebenden Personen gewöhnlich die liebende, die andere die geliebte Person ist, so ist der Glaube entstanden, es gäbe in jedem Liebeshandel ein gleichbleibendes Maass von Liebe: je mehr eine davon an sich reisse, um so weniger bleibe für die andere Person übrig. Ausnahmsweise kommt es vor, dass die Eitelkeit jede der beiden Personen überredet, sie sei die, welche geliebt werden müsse; so dass sich beide lieben lassen wollen: woraus sich namentlich in der Ehe mancherlei halb drollige, halb absurde Scenen ergeben.
419.
Widersprüche in weiblichen Köpfen. — Weil die Weiber so viel mehr persönlich als sachlich sind, vertragen sich in ihrem Gedankenkreise Richtungen, die logisch mit einander in Widerspruch sind: sie pflegen sich eben f ü r die Ver-
276
Menschliches, Allzumenschliches I
treter dieser Richtungen der Reihe nach zu begeistern und nehmen deren Systeme in Bausch und Bogen an; doch so, dass überall dort eine todte Stelle entsteht, wo eine neue Persönlichkeit später das Uebergewicht bekommt. Es kommt vielleicht vor, dass 5 die ganze Philosophie im Kopf einer alten Frau aus lauter solchen todten Stellen besteht.
420.
W e r l e i d e t m e h r ? — Nach einem persönlichen Zwiespalt und Zanke zwischen einer Frau und einem Manne 10 leidet der eine Theil am meisten bei der Vorstellung, dem anderen Wehe gethan zu haben; während jener am meisten bei der Vorstellung leidet, dem andern nicht genug Wehe gethan zu haben, wesshalb er sich bemüht, durch Thränen, Schluchzen und verstörte Mienen, ihm noch hinterdrein das Herz schwer zu 15 machen.
421.
G e l e g e n h e i t z u w e i b l i c h e r G r o s s m u t h. — Wenn man sich über die Ansprüche der Sitte einmal in Gedanken hinwegsetzt, so könnte man wohl erwägen, ob nicht N a t u r und 20 Vernunft den Mann auf mehrfache Verheirathung nach einander anweist, etwa in der Gestalt, dass er zuerst im Alter von zwei und zwanzig Jahren ein älteres Mädchen heirathet, das ihm geistig und sittlich überlegen ist und seine Führerin durch die Gefahren der zwanziger Jahre (Ehrgeiz, Hass, Selbstverachtung, 2 5 Leidenschaften aller Art) werden kann. Die Liebe dieser würde später ganz in das Mütterliche übertreten, und sie ertrüge es nicht nur, sondern förderte es auf die heilsamste Weise, wenn der Mann in den dreissiger Jahren mit einem ganz jungen Mädchen eine Verbindung eingienge, dessen Erziehung er selber in 3° die H a n d nähme. — Die Ehe ist f ü r die zwanziger Jahre ein
7. Weib und Kind 419—423
277
nöthiges, f ü r die dreissiger ein nützliches, aber nicht nöthiges Institut: für das spätere Leben wird sie oft schädlich und befördert die geistige Rückbildung des Mannes.
422.
T r a g ö d i e d e r K i n d h e i t . — Es kommt vielleicht nicht selten vor, dass edel- und hochstrebende Menschen ihren härtesten K a m p f in der Kindheit zu bestehen haben: etwa dadurch, dass sie ihre Gesinnung gegen einen niedrig denkenden, dem Schein und der Lügnerei ergebenen Vater durchsetzen io müssen, oder fortwährend, wie Lord Byron, im K a m p f e mit einer kindischen und zornwüthigen Mutter leben. H a t man so Etwas erlebt, so wird man sein Leben lang es nicht verschmerzen, zu wissen, wer Einem eigentlich der grösste, der gefährlichste Feind gewesen ist. 5
ij
423.
E l t e r n - T h o r h e i t . — Die gröbsten Irrthümer in der Beurtheilung eines Menschen werden von dessen Eltern gemacht: diess ist eine Thatsache, aber wie soll man sie erklären? Haben die Eltern zu viele Erfahrung von dem Kinde und können sie 20 diese nicht mehr zu einer Einheit zusammenbringen? Man bemerkt, dass Reisende unter fremden Völkern nur in der ersten Zeit ihres Aufenthaltes die allgemeinen unterscheidenden Züge eines Volkes richtig erfassen; je mehr sie das Volk kennen lernen, desto mehr verlernen sie, das Typische und Unterscheidende an ihm zu sehen. Sobald sie nah-sichtig werden, hören ihre Augen auf, fern-sichtig zu sein. Sollten die Eltern desshalb falsch über das Kind urtheilen, weil sie ihm nie fern genug gestanden haben? — Eine ganz andere Erklärung wäre folgende: die Menschen pflegen über das Nächste, was sie umgiebt, nicht mehr 30 nachzudenken, sondern es nur hinzunehmen. Vielleicht ist die
278
Menschliches, A l l z u m e n s d i l i c h e s I
gewohnheitsmässige Gedankenlosigkeit der Eltern der Grund, wesshalb sie, einmal genöthigt über ihre Kinder zu urtheilen, so schief urtheilen.
424. A u s d e r Z u k u n f t d e r E h e . — Jene edlen, freigesinnten Frauen, welche die Erziehung und Erhebung des weiblichen Geschlechtes sich zur A u f g a b e stellen, sollen einen Gesichtspunct nicht übersehen: die Ehe in ihrer höheren Auffassung gedacht, als Seelenfreundschaft zweier Menschen verschiedenen Geschlechts, also so, wie sie von der Zukunft erhofft wird, zum Zweck der Erzeugung und Erziehung einer neuen Generation geschlossen, — eine solche Ehe, welche das Sinnliche gleichsam nur als ein seltenes, gelegentliches Mittel für einen grösseren Zweck gebraucht, bedarf wahrscheinlich, wie man besorgen muss, einer natürlichen Beihülfe, des C o n c u b i n a t s ; denn wenn aus Gründen der Gesundheit des Mannes das Eheweib auch zur alleinigen Befriedigung des geschlechtlichen Bedürfnisses dienen soll, so wird bei der Wahl einer Gattin schon ein falscher, den angedeuteten Zielen entgegengesetzter Gesichtspunct maassgebend sein: die Erzielung der Nachkommenschaft wird zufällig, die glückliche Erziehung höchst unwahrscheinlich. Eine gute Gattin, welche Freundin, Gehülfin, Gebärerin, Mutter, Familienhaupt, Verwalterin sein soll, ja vielleicht abgesondert von dem Manne ihrem eigenen Geschäft und Amte vorzustehen hat, kann nicht zugleich Concubine sein: es hiesse im Allgemeinen zu viel von ihr verlangen. Somit könnte in Zukunft das U m gekehrte dessen eintreten, was zu Perikles' Zeiten in Athen sich begab: die Männer, welche damals an ihren Eheweibern nicht viel mehr als Concubinen hatten, wandten sich nebenbei zu den Aspasien, weil sie nach den Reizen einer k ö p f - und herzbefreienden Geselligkeit verlangten, wie eine solche nur die Anmuth und geistige Biegsamkeit der Frauen zu schaffen vermag. Alle mensch-
7. Weib und Kind 423—426
279
liehen Institutionen, wie die Ehe, gestatten nur einen massigen Grad von praktischer Idealisirung, widrigenfalls sofort grobe Remeduren nöthig werden. 425.
$
10
15
Jo
zj
Sturm- und D r a n g p e r i o d e der Frauen. — Man kann in den drei oder vier civilisirten Ländern Europa's aus den Frauen durch einige Jahrhunderte von Erziehung Alles machen, was man will, selbst Männer, freilich nicht in geschlechtlichem Sinne, aber doch in jedem anderen Sinne. Sie werden unter einer solchen Einwirkung einmal alle männlichen Tugenden und Stärken angenommen haben, dabei allerdings auch deren Schwächen und Laster mit in den Kauf nehmen müssen: so viel, wie gesagt, kann man erzwingen. Aber wie werden wir den dadurch herbeigeführten Zwischenzustand aushalten, welcher vielleicht selber ein paar Jahrhunderte dauern kann, während denen die weiblichen Narrheiten und Ungerechtigkeiten, ihr uraltes Angebinde, noch die Uebermacht über alles Hinzugewonnene, Angelernte behaupten? Diese Zeit wird es sein, in welcher der Zorn den eigentlich männlichen Affect ausmacht, der Zorn darüber, dass alle Künste und Wissenschaften durch einen unerhörten Dilettantismus überschwemmt und verschlammt sind, die Philosophie durch sinnverwirrendes Geschwätz zu Tode geredet, die Politik phantastischer und parteiischer als je, die Gesellschaft in voller Auflösung ist, weil die Bewahrerinnen der alten Sitte sich selber lächerlich geworden und in jeder Beziehung ausser der Sitte zu stehen bestrebt sind. Hatten nämlich die Frauen ihre grösste Macht i n der Sitte, wonach werden sie greifen müssen, um eine ähnliche Fülle der Macht wiederzugewinnen, nachdem sie die Sitte aufgegeben haben?
426.
3°
Freigeist
u n d E h e . — Ob die Freigeister mit Frauen
280
Menschliches, Allzumenschliches I
leben werden? Im Allgemeinen glaube ich, dass sie, gleich den wahrsagenden Vögeln des Alterthums, als die Wahrdenkenden, Wahrheit-Redenden der Gegenwart es vorziehen müssen, a l lein zu f l i e g e n . $
427.
G l ü c k d e r E h e . — Alles Gewohnte zieht ein immer fester werdendes Netz von Spinneweben um uns zusammen; und alsobald merken wir, dass die Fäden zu Stricken geworden sind und dass wir selber als Spinne in der Mitte sitzen, die sich 10 hier gefangen hat und von ihrem eigenen Blute zehren muss. Desshalb hasst der Freigeist alle Gewöhnungen und Regeln, alles Dauernde und Definitive, desshalb reisst er, mit Schmerz, das Netz um sich immer wieder auseinander: wiewohl er in Folge dessen an zahlreichen kleinen und grossen Wunden leiden wird, 15 — denn jene Fäden muss er v o n s i c h , von seinem Leibe, seiner Seele abreissen. Er muss dort lieben lernen, wo er bisher hasste, und umgekehrt. Ja es darf für ihn nichts Unmögliches sein, auf das selbe Feld Drachenzähne auszusäen, auf welches er vorher die Füllhörner seiner Güte ausströmen Hess. — Daraus 20 lässt sich abnehmen, ob er für das Glück der Ehe geschaffen ist.
428.
Z u n a h e . — Leben wir zu nahe mit einem Menschen zusammen, so geht es uns so, wie wenn wir einen guten Kupferstich immer wieder mit blossen Fingern anfassen: eines Tages 25 haben wir schlechtes beschmutztes Papier und Nichts weiter mehr in den Händen. Auch die Seele eines Menschen wird durch beständiges Angreifen endlich abgegriffen; mindestens e r s c h e i n t sie uns endlich so, — wir sehen ihre ursprüngliche Zeichnung und Schönheit nie wieder» — Man verliert immer 3° durch den allzuvertraulichen Umgang mit Frauen und Freunden; und mitunter verliert man die Perle seines Lebens dabei.
7. Weib und Kind 426—431
281
429.
D i e g o l d e n e W i e g e . — Der Freigeist wird immer aufathmen, wenn er sich endlich entschlossen hat, jenes mutterhafte Sorgen und Bewachen, mit welchem die Frauen um ihn walten, von sich abzuschütteln. Was schadet ihm denn ein rauherer Luftzug, den man so ängstlich von ihm wehrte, was bedeutet ein wirklicher Nachtheil, Verlust, Unfall, eine Erkrankung, Verschuldung, Bethörung mehr oder weniger in seinem Leben, verglichen mit der Unfreiheit der goldenen Wiege, des Pfauenschweif-Wedels und der drückenden Empfindung, noch dazu dankbar sein zu müssen, weil er wie ein Säugling gewartet und verwöhnt wird? Desshalb kann sich die Milch, welche die mütterliche Gesinnung der ihn umgebenden Frauen reicht, so leicht in Galle verwandeln. 430.
F r e i w i l l i g e s O p f e r t h i e r . — Durch Nichts erleichtern bedeutende Frauen ihren Männern, falls diese berühmt und gross sind, das Leben so sehr, als dadurch dass sie gleichsam das Gefäss der allgemeinen Ungunst und gelegentlichen Verstimmung der übrigen Menschen werden. Die Zeitgenossen pflegen ihren grossen Männern viel Fehlgriffe und Narrheiten, ja Handlungen grober Ungerechtigkeit nachzusehen, wenn sie nur Jemanden finden, den sie als eigentliches Opferthier zur Erleichterung ihres Gemüthes misshandeln und schlachten dürfen. Nicht selten findet eine Frau den Ehrgeiz in sich, sich zu dieser Opferung anzubieten, und dann kann freilich der Mann sehr zufrieden sein, — falls er nämlich Egoist genug ist, um sich einen solchen freiwilligen Blitz-, Sturm- und Regenableiter in seiner Nähe gefallen zu lassen. 431.
Angenehme
Widersacher.
—
Die naturgemässe
282
Menschliches, Allzumenschliches I
Neigung der Frauen zu ruhigem, gleichmässigem, glücklich zusammenstimmendem Dasein und Verkehren, das Oelgleiche und Beschwichtigende ihrer Wirkungen auf dem Meere des Lebens, arbeitet unwillkürlich dem heroischeren inneren Drange des J Freigeistes entgegen. Ohne dass sie es merken, handeln die Frauen so, als wenn man dem wandernden Mineralogen die Steine vom Wege nimmt, damit sein Fuss nicht daran stosse, — während er gerade ausgezogen ist, u m daran zu stossen.
432. 0
M i s s k l a n g z w e i e r C o n s o n a n z e n . — Die Frauen wollen dienen und haben darin ihr Glück: und der Freigeist will nicht bedient sein und hat darin sein Glück.
433X a n t h i p p e . — Sokrates fand eine Frau, wie er sie 'S brauchte, — aber auch er hätte sie nicht gesucht, falls er sie gut genug gekannt hätte: so weit wäre auch der Heroismus dieses freien Geistes nicht gegangen. Thatsächlich trieb ihn Xanthippe in seinen eigenthümlichen Beruf immer mehr hinein, indem sie ihm Haus und Heim unhäuslich und unheimlich machte: sie 20 lehrte ihn, auf den Gassen und überall dort zu leben, w o man schwätzen und müssig sein konnte und bildete ihn damit zum grössten athenischen Gassen-Dialektiker aus: der sich zuletzt selber mit einer zudringlichen Bremse vergleichen musste, welche dem schönen Pferde Athen von einem Gotte auf den Nacken 15 gesetzt sei, um es nicht zur Ruhe kommen zu lassen.
434F ü r d i e F e r n e b l i n d . — Ebenso wie die Mütter eigentlich nur Sinn und Auge f ü r die äugen- und sinnfälligen
283
7. Weib und Kind 431—436
Schmerzen ihrer Kinder haben, so vermögen die Gattinnen hoch strebender Männer es nicht über sich zu gewinnen, ihre Ehegenossen leidend, darbend und gar missachtet zu sehen, — w ä h rend vielleicht alles diess nicht nur die Wahrzeichen einer richJ tigen Wahl ihrer Lebenshaltung, sondern schon die Bürgschaften dafür sind, dass ihre grossen Ziele irgendwann einmal erreicht werden
müssen.
Die Frauen intriguiren im Stillen
immer gegen die höhere Seele ihrer Männer; sie wollen dieselbe um ihre Zukunft, zu Gunsten einer schmerzlosen, behaglichen Gegenwart, betrügen.
435Macht
und
F r e i h e i t . — So hoch Frauen ihre M ä n -
ner ehren, so ehren sie doch die von der Gesellschaft anerkannten Gewalten und Vorstellungen noch mehr: sie sind seit J a h r 1
J
tausenden gewohnt, vor allem Herrschenden gebückt, die H ä n d e auf die Brust gefaltet, einherzugehen und missbilligen alle Auflehnung gegen die öffentliche Macht. Desshalb hängen sie sich, ohne es auch nur zu beabsichtigen, vielmehr wie aus Instinct, als Hemmschuh in die Räder eines freigeisterischen unabhängigen Strebens
und
machen
unter
Umständen
ihre Gatten
auf's
Höchste ungeduldig, zumal wenn diese sich noch vorreden, dass Liebe es sei, was die Frauen im Grunde dabei antreibe. Die Mittel der Frauen missbilligen und grossmüthig die Motive dieser Mittel ehren, — das ist Männer-Art und oft genug Männer25
Verzweiflung.
436. Ceterum
censeo.
— Es ist zum Lachen, wenn eine
Gesellschaft von Habenichtsen die Abschaffung des Erbrechts decretirt, und nicht minder zum Lachen ist es, wenn Kinderlose an 30 der praktischen Gesetzgebung eines Landes arbeiten: — sie haben
284
Menschliches, Allzumenschliches I
ja nicht genug Schwergewicht in ihrem Schiffe, um sicher in den Ocean der Zukunft hineinsegeln zu können. Aber ebenso ungereimt erscheint es, wenn Der, welcher die allgemeinste Erkenntniss und die Abschätzung des gesammten Daseins zu seiner Aufgabe erkoren hat, sich mit persönlichen Rücksichten auf eine Familie, auf Ernährung, Sicherung, Achtung von Weib und Kind, belastet und vor sein Teleskop jenen trüben Schleier aufspannt, durch welchen kaum einige Strahlen der fernen Gestirnwelt hindurchzudringen vermögen. So komme auch ich zu dem Satze, dass in den Angelegenheiten der höchsten philosophischen A r t alle Verheiratheten verdächtig sind.
437Z u l e t z t . — Es giebt mancherlei Arten von Schierling, und gewöhnlich findet das Schicksal eine Gelegenheit, dem Freigeiste einen Becher dieses Giftgetränkes an die Lippen zu setzen, — um ihn zu „strafen", wie dann alle Welt sagt. Was thun dann die Frauen um ihn? Sie werden schreien und wehklagen und vielleicht die Sonnenuntergangs-Ruhe des Denkers stören: wie sie es im Gefängniss von Athen thaten. „ O Kriton, heisse doch Jemanden diese Weiber da fortführen!" sagte endlich Sokrates. —
Achtes Hauptstück. Ein Blick auf den Staat.
438.
U m d a s W o r t b i t t e n . — Der demagogische Charakter und die Absicht, auf die Massen zu wirken, ist gegenwärtig allen politischen Parteien gemeinsam: sie alle sind genöthigt, der genannten Absicht wegen, ihre Principien zu grossen AlfrescoDummheiten umzuwandeln und sie so an die Wand zu malen. Daran ist Nichts mehr zu ändern, ja es ist überflüssig, auch nur einen Finger dagegen aufzuheben; denn auf diesem Gebiete gilt, was Voltaire sagt: quand la populace se mêle de raisonner, tout est perdu. Seitdem diess geschehen ist, muss man sich den neuen Bedingungen fügen, wie man sich fügt, wenn ein Erdbeben die alten Gränzen und Umrisse der Bodengestalt verrückt und den Werth des Besitzes verändert hat. Ueberdiess: wenn es sich nun einmal bei aller Politik darum handelt, möglichst Vielen das Leben erträglich zu machen, so mögen immerhin diese Möglichst-Vielen auch bestimmen, was sie unter einem erträglichen Leben verstehen; trauen sie sich den Intellect zu, auch die richtigen Mittel zu diesem Ziele zu finden, was hülfe es, daran zu zweifeln? Sie w o l l e n nun einmal ihres Glückes und Unglückes eigene Schmiede sein; und wenn dieses Gefühl der Selbstbestimmung, der Stolz auf die fünf, sechs Begriffe, welche ihr Kopf birgt und zu Tage bringt, ihnen in der Tnat das Leben so angenehm macht, dass sie die fatalen Folgen ihrer Beschränktheit gern ertragen: so ist wenig einzuwen-
286
Menschliches, AlIzumenschliAes I
den, vorausgesetzt, dass die Beschränktheit nicht so weit geht, zu verlangen, es solle A l l e s in diesem Sinne zur Politik werden, es solle J e d e r nach solchem Maassstabe leben und wirken. Zuerst nämlich muss es Einigen mehr als je, erlaubt sein, sich der Politik zu enthalten und ein Wenig bei Seite zu treten: dazu treibt auch sie die Lust an der Selbstbestimmung, und auch ein kleiner Stolz mag damit verbunden sein, zu schweigen, wenn zu Viele oder überhaupt nur Viele reden. Sodann muss man es diesen Wenigen nachsehen, wenn sie das Glück der Vielen, verstehe man nun darunter Völker oder Bevölkerungsschichten, nicht so wichtig nehmen und sich hie und da eine ironische Miene zu Schulden kommen lassen; denn ihr Ernst liegt anderswo, ihr Glück ist ein anderer Begriff, ihr Ziel ist nicht von jeder plumpen H a n d , welche eben nur fünf Finger hat, zu umspannen. Endlich kommt — was ihnen gewiss am schwersten zugestanden wird, aber ebenfalls zugestanden werden muss — von Zeit zu Zeit ein Augenblick, w o sie aus ihren schweigsamen Vereinsamungen heraustreten und die K r a f t ihrer Lungen wieder einmal versuchen: dann rufen sie nämlich einander zu wie Verirrte in einem Walde, um sich einander zu erkennen zu geben und zu ermuthigen; wobei freilich Mancherlei laut wird, was den Ohren, für welche es nicht bestimmt ist, übel klingt. — N u n , bald darauf ist es wieder stille im Walde, so stille, dass man das Schwirren, Summen und Flattern der zahllosen Insecten, welche in, über und unter ihm leben, wieder deutlich vernimmt. —
439C u l t u r u n d K a s t e . — Eine höhere Cultur kann allein dort entstehen, wo es zwei unterschiedene Kasten der Gesellschaft giebt: die der Arbeitenden und die der Müssigen, zu wahrer Müsse Befähigten; oder mit stärkerem Ausdruck: die Kaste der Zwangs-Arbeit und die K a s t e der Frei-Arbeit. D e r Gesichts-
8. Ein Blick auf den Staat 438—441
287
punct der Vertheilung des Glücks ist nicht wesentlich, wenn es sich um die Erzeugung einer höheren Cultur handelt; jedenfalls aber ist die K a s t e der Müssigen die leidensfähigere, leidendere, ihr Behagen am Dasein ist geringer, ihre A u f g a b e grösser. FinJ det nun gar ein Austausch der beiden Kasten statt, so, dass die stumpferen, ungeistigeren Familien und Einzelnen aus der oberen K a s t e in die niedere herabgesetzt werden und wiederum die freieren Menschen aus dieser den Zutritt zur höheren erlangen: so ist ein Zustand erreicht, über den hinaus man nur noch das io offene Meer unbestimmter Wünsche sieht. — So redet die verklingende Stimme der alten Zeit zu uns; aber w o sind noch Ohren, sie zu hören?
440. V o n G e b l ü t . — D a s , was Männer und Frauen von Geblüt i j vor Anderen voraus haben und was ihnen unzweifelhaftes Anrecht auf höhere Schätzung giebt, sind zwei durch Vererbung immer mehr gesteigerte Künste: die Kunst, befehlen zu können, und die K u n s t des stolzen Gehorsams. — N u n entsteht überall, w o das Befehlen zum Tagesgeschäft gehört (wie in der grossen 20 K a u f m a n n s - und Industrie-Welt), etwas Aehnliches wie jene Geschlechter „von Geblüt", aber ihnen fehlt die vornehme H a l tung im Gehorsam, welche bei jenen eine Erbschaft feudaler Zustände ist und die in unserem Cultur-Klima nicht mehr wachsen will.
441S u b o r d i n a t i o n . — Die Subordination, welche im Militär- und Beamtenstaate so hoch geschätzt wird, wird uns bald ebenso unglaublich werden, wie die geschlossene T a k t i k der Jesuiten es bereits geworden ist; und wenn diese Subordination 3° nicht mehr möglich ist, lässt sich eine Menge der erstaunlichsten
288
Menschliches, Allzumenschliches I
Wirkungen nicht mehr erreichen, und die Welt wird ärmer sein. Sie muss schwinden, denn ihr Fundament schwindet: der Glaube an die unbedingte Autorität, an die endgültige Wahrheit; selbst in Militärstaaten ist der physische Z w a n g nicht ausreichend, sie hervorzubringen, sondern die angeerbte Adoration vor dem Fürstlichen wie vor etwas Uebermenschlichem. — In f r e i e r e n Verhältnissen ordnet man sich nur auf Bedingungen unter, in Folge gegenseitigen Vertrages, also mit allen Vorbehalten des Eigennutzes.
442. V o l k s h e e r e . — Der grösste Nachtheil der jetzt so verherrlichten Volksheere besteht in der Vergeudung von Menschen der höchsten Civilisation; nur durch die Gunst aller Verhältnisse giebt es deren überhaupt, — wie sparsam und ängstlich sollte man mit ihnen umgehen, da es grosser Zeiträume bedarf, um die zufälligen Bedingungen zur Erzeugung so zart organisirter Gehirne zu schaffen! Aber wie die Griechen in Griechenblut wütheten, so die Europäer jetzt in Europäerblut: und zwar werden relativ am meisten immer die Höchstgebildeten zum O p f e r gebracht, Die, welche eine reichliche und gute Nachkommenschaft verbürgen; Solche nämlich stehen im K a m p f e voran, als Befehlende, und setzen sich überdiess, ihres höheren Ehrgeizes wegen, den Gefahren am meisten aus. — Der grobe Römer-Patriotismus ist jetzt, wo ganz andere und höhere Aufgaben gestellt sind, als patria und honor, entweder etwas Unehrliches oder ein Zeichen der Zurückgebliebenheit.
443H o f f n u n g a l s A n m a a s s u n g . — Unsere gesellschaftliche Ordnung wird langsam wegschmelzen, wie es alle früheren Ordnungen gethan haben, sobald die Sonnen neuer Meinungen
8. Ein Blick auf den Staat 441—446
289
mit neuer Gluth über die Menschen hinleuchteten. W ü n s c h e n kann man diess Wegschmelzen nur, indem man hofft: und hoffen darf man vernünftigerweise nur, wenn man sich und seinesgleichen mehr Kraft in Herz und Kopf zutraut, als den Vertretern des Bestehenden. Gewöhnlich also wird diese Hoffnung eine A n m a a s s u n g , eine U e b e r s c h ä t z u n g sein.
444-
K r i e g . — Zu Ungunsten des Krieges kann man sagen: er macht den Sieger dumm, den Besiegten boshaft. Zu Gunsten des Krieges: er barbarisirt in beiden eben genannten Wirkungen und macht dadurch natürlicher; er ist für die Cultur Schlaf oder Winterszeit, der Mensch kommt kräftiger zum Guten und Bösen aus ihm heraus.
445-
I m D i e n s t e d e s F ü r s t e n . — Ein Staatsmann wird, um völlig rücksichtslos handeln zu können, am besten thun, nicht für sich, sondern für einen Fürsten sein Werk auszuführen. Von dem Glänze dieser allgemeinen Uneigennützigkeit wird das Auge des Beschauers geblendet, so dass er jene Tücken und Härten, welche das Werk des Staatsmannes mit sich bringt, nicht sieht. 446. Eine F r a g e der M a c h t , nicht des Rechtes. — Für Menschen, welche bei jeder Sache den höheren Nutzen in's Auge fassen, giebt es bei dem Socialismus, falls er w i r k l i c h die Erhebung der Jahrtausende lang Gedrückten, Niedergehaltenen gegen ihre Unterdrücker ist, kein Problem des R e c h t e s (mit der lächerlichen, weichlichen Frage: „wie weit s o l l man seinen Forderungen nachgeben?"), sondern nur ein
290
Menschliches, Allzumensdilidies I
Problem der M a c h t („wie weit k a n n man seine Forderungen benutzen?"); also wie bei einer Naturmacht, zum Beispiel dem Dampfe, welcher entweder von dem Menschen in seine Dienste, als Maschinengott, gezwungen wird, oder, bei Fehlern der Maschine, das heisst Fehlern der menschlichen Berechnung im Bau derselben, sie und den Menschen mit zertrümmert. Um jene Machtfrage zu lösen, muss man wissen, wie stark der Socialismus ist, in welcher Modification er noch als mächtiger Hebel innerhalb des jetzigen politischen Kräftespiels benutzt werden kann; unter Umständen müsste man selbst Alles thun, ihn zu kräftigen. Die Menschheit muss bei jeder grossen Kraft — und sei es die gefährlichste — daran denken, aus ihr ein Werkzeug ihrer Absichten zu machen. — Ein Recht gewinnt sich der Socialismus erst dann, wenn es zwischen den beiden Mächten, den Vertretern des Alten und Neuen, zum Kriege gekommen zu sein scheint, wenn aber dann das kluge Rechnen auf möglichste Erhaltung und Zuträglichkeit auf Seiten beider Parteien das Verlangen nach einem Vertrag entstehen lässt. Ohne Vertrag kein Recht. Bis jetzt giebt es aber auf dem bezeichneten Gebiete weder Krieg, noch Verträge, also auch keine Rechte, kein „Sollen".
447B e n u t z u n g der k l e i n s t e n Unredlichkeit.— Die Macht der Presse besteht darin, dass jeder Einzelne, der ihr dient, sich nur ganz wenig verpflichtet und verbunden fühlt. Er sagt für gewöhnlich s e i n e Meinung, aber sagt sie einmal auch n i c h t , um seiner Partei oder der Politik seines Landes oder endlich sich selbst zu nützen. Solche kleine Vergehen der Unredlichkeit oder vielleicht nur einer unredlichen Verschwiegenheit sind von dem Einzelnen nicht schwer zu tragen, doch sind die Folgen ausserordentlich, weil diese kleinen Vergehen von Vielen zu gleicher Zeit begangen werden. Jeder von Diesen sagt sich: „für so geringe Dienste lebe ich besser, kann ich mein Aus-
8. Ein Blick auf den Staat 446—449
291
kommen finden; durch den Mangel solcher kleinen Rücksichten mache ich mich unmöglich". Weil es beinahe sittlich gleichgültig erscheint, eine Zeile, noch dazu vielleicht ohne Namensunterschrift, mehr zu schreiben oder nicht zu schreiben, so kann Einer, der Geld und Einfluss hat, jede Meinung zur öffentlichen machen. Wer da weiss, dass die meisten Menschen in Kleinigkeiten schwach sind, und seine eigenen Zwecke durch sie erreichen will, ist immer ein gefährlicher Mensch.
448.
A l l z u l a u t e r T o n b e i B e s c h w e r d e n . — Dadurch, dass ein Nothstand (zum Beispiel die Gebrechen einer Verwaltung, Bestechlichkeit und Gunstwillkür in politischen oder gelehrten Körperschaften) stark übertrieben dargestellt wird, verliert zwar die Darstellung bei den Einsichtigen ihre Wirkung, aber wirkt um so stärker auf die Nichteinsichtigen (welche bei einer sorgsamen maassvollen Darlegung gleichgültig geblieben wären). D a diese aber bedeutend in der Mehrzahl sind und stärkere Willenskräfte, ungestümere Lust zum Handeln in sich beherbergen, so wird jene Uebertreibung zum Anlass von Untersuchungen, Bestrafungen, Versprechen, Reorganisationen. — Insofern ist es nützlich, Nothstände übertrieben darzustellen.
449Die a n s c h e i n e n d e n W e t t e r m a c h e r der Pol i t i k . — Wie das Volk bei Dem, welcher sich auf das Wetter versteht und es um einen Tag voraussagt, im Stillen annimmt, dass er das Wetter mache, so legen selbst Gebildete und Gelehrte mit einem Aufwand von abergläubischem Glauben grossen Staatsmännern alle die wichtigen Veränderungen und Conjuncturen, welche während ihrer Regierung eintraten, als deren eigenstes Werk bei, wenn es nur ersichtlich ist, dass Jene Etwas
292
Menschliches, Allzumensdiliches I
d a v o n eher wussten, als Andere, u n d ihre Berechnung darnach machten: sie w e r d e n also ebenfalls als Wettermacher genommen — u n d dieser G l a u b e ist nicht das geringste W e r k z e u g ihrer Macht.
5
10
'5
20
2$
3°
450. Neuer und alter Begriff der Regierung. — Zwischen Regierung u n d V o l k so zu scheiden, als ob hier zwei getrennte Machtsphären, eine stärkere, höhere mit einer schwächeren, niederen, v e r h a n d e l t e n u n d sich vereinbarten, ist ein Stück vererbter politischer E m p f i n d u n g , welches der historischen Feststellung der Machtverhältnisse in den m e i s t e n Staaten noch jetzt genau entspricht. W e n n z u m Beispiel Bismarck die constitutionelle F o r m als einen Compromiss zwischen Regierung u n d Volk bezeichnet, so redet er gemäss einem P r i n cip, welches seine V e r n u n f t in der Geschichte h a t (ebendaher freilich auch den Beisatz v o n U n v e r n u n f t , ohne den nichts Menschliches existiren k a n n ) . Dagegen soll m a n n u n lernen — gemäss einem Princip, welches rein aus dem K o p f e entsprungen ist u n d erst Geschichte m a c h e n soll —, dass Regierung Nichts als ein O r g a n des Volkes sei, nicht ein vorsorgliches, v e r ehrungswürdiges „ O b e n " im Verhältniss zu einem an Bescheidenheit gewöhnten „ U n t e n " . Bevor m a n diese bis jetzt unhistorische u n d willkürliche, w e n n auch logischere Aufstellung des Begriffs Regierung a n n i m m t , möge m a n doch ja die Folgen erw ä g e n : denn das Verhältniss zwischen Volk u n d Regierung ist das stärkste vorbildliche Verhältniss, nach dessen Muster sich unwillkürlich der V e r k e h r zwischen Lehrer u n d Schüler, H a u s h e r r n u n d Dienerschaft, V a t e r u n d Familie, H e e r f ü h r e r u n d Soldat, Meister u n d Lehrling bildet. Alle diese Verhältnisse gestalten sich jetzt, u n t e r dem Einflüsse der herrschenden constitutionellen Regierungsform, ein Wenig u m : sie werden Compromisse. A b e r wie müssen sie sich verkehren u n d verschie-
293
8. Ein Blidc auf den Staat 4 4 9 — 4 5 2
ben, N a m e n und Wesen wechseln, wenn jener allerneueste Begriff überall sich der K ö p f e bemeistert hat! — w o z u es aber wohl ein
Jahrhundert
noch
brauchen
dürfte.
Hierbei
ist
Nichts
m e h r zu wünschen, als Vorsicht und langsame E n t w i c k l u n g .
451.
5
Gerechtigkeit
a l s P a r t e i e n - L o c k r u f . — Wohl
können edle (wenn auch nicht gerade sehr einsichtsvolle) V e r treter der herrschenden Classe sich geloben: „ w i r wollen die Menschen als gleich behandeln, ihnen gleiche Rechte zugeste10 hen"; insofern ist eine socialistische Denkungsweise, auf
Gerechtigkeit
welche
ruht, möglich, aber w i e gesagt nur
innerhalb der herrschenden Classe, welche in diesem Falle die Gerechtigkeit mit O p f e r n und Verleugnungen Gleichheit der Rechte
fordern,
übt.
Dagegen
wie es die Socialisten der
1$ unterworfenen Kaste thun, ist nimmermehr der Ausfluss der Gerechtigkeit, sondern der Begehrlichkeit. —
Wenn man der
Bestie blutige Fleischstücke aus der N ä h e zeigt und wieder wegzieht, bis sie endlich brüllt: meint ihr, dass diess Gebrüll G e rechtigkeit bedeute?
452.
20
Besitz
u n d G e r e c h t i g k e i t . — Wenn die Socialisten
nachweisen, dass die Eigenthums-Vertheilung in der gegenwärtigen Menschheit die Consequenz zahlloser Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten ist, und in summa die Verpflichtung ge25
gen etwas so unrecht Begründetes ablehnen: so sehen sie nur etwas Einzelnes. Die ganze Vergangenheit der alten C u l t u r ist auf G e w a l t , Sclaverei, Betrug, Irrthum aufgebaut; w i r können aber uns selbst, die Erben aller dieser Zustände, ja die C o n crescenzen aller jener Vergangenheit, nicht wegdecretiren und
3° dürfen nicht ein einzelnes Stück herausziehen wollen. Die un-
294
Menschliches, Allzumenschliches I
gerechte Gesinnung steckt in den Seelen der Nicht-Besitzenden auch, sie sind nicht besser als die Besitzenden und haben kein moralisches Vorrecht, denn irgend wann sind ihre V o r f a h ren Besitzende gewesen. Nicht gewaltsame neue Vertheilungen, $ sondern allmähliche Umschafiungen des Sinnes thun noth, die Gerechtigkeit muss in Allen grösser werden, der gewaltthätige Instinct schwächer. 453-
io
i$
20
25
30
D e r S t e u e r m a n n d e r L e i d e n s c h a f t e n . — Der Staatsmann erzeugt öffentliche Leidenschaften, um den Gewinn von der dadurch erweckten Gegenleidenschaft zu haben. Um ein Beispiel zu nehmen: so weiss ein deutscher Staatsmann wohl, dass die katholische Kirche niemals mit Russland gleiche Pläne haben wird, ja sich viel lieber mit den Türken verbünden würde, als mit ihm; ebenso weiss er, dass Deutschland alle Gefahr von einem Bündnisse Frankreichs mit Russland droht. Kann er es nun dazu bringen, Frankreich zum Herd und Hort der katholischen Kirche zu machen, so hat er diese G e f a h r auf eine lange Zeit beseitigt. E r hat demnach ein Interesse daran, Hass gegen die Katholiken zu zeigen und durch Feindseligkeiten aller A r t die Bekenner der Autorität des Papstes in eine leidenschaftliche politische Macht zu verwandeln, welche der deutschen Politik feindlich ist und sich naturgemäss mit Frankreich, als dem Widersacher Deutschlands, verschmelzen muss: sein Ziel ist ebenso nothwendig die Katholisirung Frankreichs, als Mirabeau in der Dekatholisirung das Heil seines Vaterlandes sah. — Der eine Staat will also die Verdunkelung von Millionen K ö p f e n eines anderen Staates, um seinen Vortheil aus dieser Verdunkelung zu ziehen. Es ist diess die selbe Gesinnung, welche die republicanische Regierungsform des nachbarlichen Staates — le désordre organisé, wie Mérimée sagt — aus dem alleinigen Grunde unterstützt, weil sie von dieser annimmt, dass sie das Volk schwächer, zerrissener und kriegsunfähiger mache.
8. Ein Blick auf den Staat 4 5 2 — 4 5 6
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454Die G e f ä h r l i c h e n unter den U m s t u r z - G e i s t e r n . — Man theile Die, welche auf einen Umsturz der Gesellschaft bedacht sind, in Solche ein, welche f ü r sich selbst, und 5 in Solche, welche f ü r ihre Kinder und Enkel Etwas erreichen wollen. Die Letzteren sind die Gefährlicheren; denn sie haben den Glauben und das gute Gewissen der Uneigennützigkeit. Die Anderen kann man abspeisen: dazu ist die herrschende Gesellschaft immer noch reich und klug genug. Die G e f a h r beginnt, 10 sobald die Ziele unpersönlich werden; die Revolutionäre aus unpersönlichem Interesse dürfen alle Vertheidiger des Bestehenden als persönlich interessirt ansehen und sich desshalb ihnen überlegen fühlen.
455P o l i t i s c h e r W e r t h d e r V a t e r s c h a f t . — Wenn der Mensch keine Söhne hat, so hat er kein volles Recht, über die Bedürfnisse eines einzelnen Staatswesens mitzureden. Man muss selber mit den Anderen sein Liebstes daran gewagt haben; das erst bindet an den Staat fest; man muss das Glück 20 seiner Nachkommen in's Auge fassen, also vor Allem Nachkommen haben, um an allen Institutionen und deren Veränderung rechten, natürlichen Antheil zu nehmen. Die Entwickelung der höhern Moral hängt daran, dass Einer Söhne hat; diess stimmt ihn unegoistisch, oder richtiger: es erweitert seinen Egoismus 2 5 der Zeitdauer nach, und lässt ihn Ziele über seine individuelle Lebenslänge hinaus mit Ernst verfolgen. ij
456. A h n e n s t o l z . — Auf eine ununterbrochene Reihe g u t e r A h n e n bis zum Vater herauf darf man mit Recht stolz sein, 3° — nicht aber auf die Reihe; denn diese hat Jeder. Die Herkunft
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Menschliches, Allzumensdiliches I
von guten Ahnen macht den ächten Geburtsadel aus; eine einzige Unterbrechung in jener Kette, Ein böser Vorfahr also hebt den Geburtsadel auf. Man soll Jeden, welcher von seinem Adel redet, fragen: hast du keinen gewaltthätigen, habsüchtigen, J ausschweifenden, boshaften, grausamen Menschen unter deinen Vorfahren? Kann er darauf in gutem Wissen und Gewissen mit Nein antworten, so bewerbe man sich um seine Freundschaft.
457S c l a v e n u n d A r b e i t e r . — Dass wir mehr Werth auf Befriedigung der Eitelkeit, als auf alles übrige Wohlbefinden (Sicherheit, Unterkommen, Vergnügen aller Art) legen, zeigt sich in einem lächerlichen Grade daran, dass Jedermann (abgesehen von politischen Gründen) die Aufhebung der Sclaverei i j wünscht und es auf's Aergste verabscheut, Menschen in diese Lage zu bringen: während Jeder sich sagen muss, dass die Sclaven in allen Beziehungen sicherer und glücklicher leben, als der moderne Arbeiter, dass Sclavenarbeit sehr wenig Arbeit im Verhältniss zu der des „Arbeiters" ist. Man protestirt im 20 Namen der „Menschenwürde": das ist aber, schlichter ausgedrückt, jene liebe Eitelkeit, welche das Nicht-gleich-gestelltsein, das Oeffentlich-niedriger-geschätzt-werden, als das härteste Loos empfindet. — Der Cyniker denkt anders darüber, weil er die Ehre verachtet: — und so war Diogenes eine Zeit2 5 lang Sclave und Hauslehrer. io
458.
L e i t e n d e G e i s t e r u n d i h r e W e r k z e u g e . — Wir sehen grosse Staatsmänner und überhaupt alle Die, welche sich vieler Menschen zur Durchführung ihrer Pläne bedienen müs3° sen, bald so, bald so verfahren: entweder wählen sie sehr fein
8. Ein Blidc auf den Staat 456—459
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und sorgsam die zu ihren Plänen passenden Menschen aus und lassen ihnen dann verhältnissmässige grosse Freiheit, weil sie wissen, dass die Natur dieser Ausgewählten sie eben dahin treibt, wohin sie selber Jene haben wollen; oder sie wählen schlecht, ja nehmen was ihnen unter die Hand kommt, formen aber aus jedem Thone etwas für ihre Zwecke Taugliches. Diese letzte Art ist die gewaltsamere, sie begehrt auch unterwürfigere Werkzeuge; ihre Menschenkenntniss ist gewöhnlich viel geringer, ihre Menschenverachtung grösser, als bei den erstgenannten Geistern, aber die Maschine, welche sie construiren, arbeitet gemeinhin besser, als die Maschine aus der Werkstätte jener.
459-
W i l l k ü r l i c h e s R e c h t n o t h w e n d i g . — Die Juristen streiten, ob das am vollständigsten durchgedachte Recht oder das am leichtesten zu verstehende in einem Volke zum Siege kommen solle. Das erste, dessen höchstes Muster das römische ist, erscheint dem Laien als unverständlich und desshalb nicht als Ausdruck seiner Rechtsempfindung. Die Volksrechte, wie zum Beispiel die germanischen, waren grob, abergläubisch, unlogisch, zum Theil albern, aber sie entsprachen ganz bestimmten vererbten heimischen Sitten und Empfindungen. — Wo aber Recht nicht mehr, wie bei uns, Herkommen ist, da kann es nur b e f o h l e n , Zwang sein; wir haben Alle kein herkömmliches Rechtsgefühl mehr, desshalb müssen wir uns W i l l k ü r s r e c h t e gefallen lassen, die der Ausdruck der Nothwendigkeit sind, dass es ein Recht g e b e n m ü s s e . Das logischste ist dann jedenfalls das annehmbarste, weil es das u n p a r t e i l i c h s t e ist: zugegeben selbst, dass in jedem Falle die kleinste Maasseinheit im Verhältniss von Vergehen und Strafe willkürlich angesetzt ist.
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Menschlidies, Allzumenschliches I
460. D e r g r o s s e M a n n d e r M a s s e . — Das Receptzu dem, was die Masse einen grossen Mann nennt, ist leicht gegeben. Unter allen Umständen verschaffe man ihr Etwas, das ihr sehr angenehm ist, oder setze ihr erst in den Kopf, dass diess und jenes sehr angenehm wäre, und gebe es ihr dann. Doch um keinen Preis sofort: sondern man erkämpfe es mit grösster Anstrengung oder scheine es zu erkämpfen. Die Masse muss den Eindruck haben, dass eine mächtige, ja unbezwingliche Willenskraft da sei; mindestens muss sie da zu sein scheinen. Den starken Willen bewundert Jedermann, weil Niemand ihn hat und Jedermann sich sagt, dass, wenn er ihn hätte, es für ihn und seinen Egoismus keine Gränze mehr gäbe. Zeigt sich nun, dass ein solcher starker Wille etwas der Masse sehr Angenehmes bewirkt, statt auf die Wünsche seiner Begehrlichkeit zu hören, so bewundert man noch einmal und wünscht sich selber Glück. Im Uebrigen habe er alle Eigenschaften der Masse: um so weniger schämt sie sich vor ihm, um so mehr ist er populär. Also: er sei gewaltthätig, neidisch, ausbeuterisch, intrigant, schmeichlerisch, kriechend, aufgeblasen, je nach Umständen alles. 461. F ü r s t u n d G o t t . — Die Menschen verkehren mit ihren Fürsten vielfach in ähnlicher Weise wie mit ihrem Gotte, wie ja vielfach auch der Fürst der Repräsentant des Gottes, mindestens sein Oberpriester war. Diese fast unheimliche Stimmung von Verehrung und Angst und Scham war und ist viel schwächer geworden, aber mitunter lodert sie auf und heftet sich an mächtige Personen überhaupt. Der Cultus des Genius' ist ein Nachklang dieser Götter-Fürsten-Verehrung. Ueberall, wo man sich bestrebt, einzelne Menschen in das Uebermenschliche hinaufzuheben, entsteht auch die Neigung, ganze Schichten des Volkes sich roher und niedriger vorzustellen, als sie wirklich sind.
299
8. Ein Blick auf den Staat 460—463
462. Meine
U t o p i e . — In einer besseren Ordnung der G e -
sellschaft wird die schwere Arbeit und N o t h des Lebens Dem zuzumessen sein, welcher am wenigsten durch sie leidet, also dem J Stumpfesten, und so schrittweise aufwärts bis zu Dem, welcher für die höchsten sublimirtesten Gattungen des Leidens am empfindlichsten ist und desshalb selbst noch bei der grössten Erleichterung des Lebens leidet. 463. 10
Ein
Wahn
in
der
Lehre
vom
Umsturz.
—
Es
giebt politische und sociale Phantasten, welche feurig und beredt zu einem Umsturz aller Ordnungen auffordern, in dem Glauben, dass dann sofort das stolzeste Tempelhaus schönen M e n schenthums gleichsam von selbst sich erheben werde. In diesen 15 gefährlichen Träumen klingt noch der Aberglaube Rousseau's nach, welcher an eine wundergleiche, ursprüngliche, aber gleichsam
verschüttete
Güte der menschlichen N a t u r
glaubt
und den Institutionen der Cultur, in Gesellschaft, Staat, Erziehung, alle Schuld jener Verschüttung beimisst. Leider weiss man 20 aus historischen Erfahrungen, dass jeder solche Umsturz die wildesten Energien als die längst begrabenen Furchtbarkeiten und Maasslosigkeiten fernster Zeitalter von Neuem zur Auferstehung bringt: dass also ein Umsturz wohl eine Kraftquelle in einer mattgewordenen Menschheit sein kann, nimmermehr aber ein Ordner, Baumeister, Künstler, Vollender der menschlichen N a t u r . — Nicht V o l t a i r e ' s
maassvolle, dem Ordnen, R e i -
nigen und Umbauen zugeneigte N a t u r , sondern
Rousseau's
leidenschaftliche Thorheiten und Halblügen haben den optimistischen Geist der Revolution wachgerufen, gegen den ich rufe: 3°
„Ecrasez P i n f a m e ! " Durch ihn ist der G e i s t rung
und
der
fortschreitenden
der
Aufklä-
Entwickelung
auf lange verscheucht worden: sehen wir zu — ein Jeder bei sich selber — ob es möglich ist, ihn wieder zurückzurufen!
300
Menschliches, Allzumenschliches I
464. M a a s s. — Die volle Entschiedenheit des Denkens und Forschens, also die Freigeisterei, zur Eigenschaft des Charakters geworden, macht im Handeln mässig: denn sie schwächt die Begehrlichkeit, zieht viel von der vorhandenen Energie an sich, zur Förderung geistiger Zwecke, und zeigt das Halbnützliche oder Unnütze und Gefährliche aller plötzlichen Veränderungen.
4 A u f e r s t e h u n g d e s G e i s t e s . — Auf dem politischen Krankenbette verjüngt ein Volk gewöhnlich sich selbst und findet seinen Geist wieder, den es im Suchen und Behaupten der Macht allmählich verlor. Die Cultur verdankt das Allerhöchste den politisch geschwächten Zeiten.
466. N e u e M e i n u n g e n i m a l t e n H a u s e . — Dem U m sturz der Meinungen folgt der Umsturz der Institutionen nicht sofort nach, vielmehr wohnen die neuen Meinungen lange Zeit im verödeten und unheimlich gewordenen Hause ihrer Vorgängerinnen und conserviren es selbst, aus Wohnungsnoth.
467. S c h u l w e s e n . — Das Schulwesen wird in grossen Staaten immer höchstens mittelmässig sein, aus dem selben Grunde, aus dem in grossen Küchen besten Falls mittelmässig gekocht wird.
468. U n s c h u l d i g e C o r r u p t i o n . — In allen Instituten, in welche nicht die scharfe Luft der öffentlichen Kritik hinein-
8. E i n Blick auf den S t a a t 4 6 4 — 4 7 1
301
weht, wächst eine unschuldige Corruption auf, wie ein Pilz (also zum Beispiel in gelehrten Körperschaften und Senaten).
4
69.
G e l e h r t e a l s P o l i t i k e r . — Gelehrten, welche Politiker werden, wird gewöhnlich die komische Rolle zugetheilt, das gute Gewissen einer Politik sein zu müssen.
470. Der Wolf hinter dem S c h a f e versteckt. — Fast jeder Politiker hat unter gewissen Umständen einmal einen ehrlichen Mann so nöthig, dass er, gleich einem heisshungrigen Wolfe, in einen Schaf stall bricht: nicht aber um dann den geraubten Widder zu fressen, sondern um sich hinter seinen wolligen Rücken zu verstecken.
471. G l ü c k s z e i t e n . — Ein glückliches Zeitalter ist desshalb gar nicht möglich, weil die Menschen es nur wünschen wollen, aber nicht haben wollen und jeder Einzelne, wenn ihm gute Tage kommen, förmlich um Unruhe und Elend beten lernt. Das Schicksal der Menschen ist auf glückliche Augenb l i c k e eingerichtet — jedes Leben hat solche —, aber nicht auf glückliche Zeiten. Trotzdem werden diese als „das Jenseits der Berge" in der Phantasie des Menschen bestehen bleiben, als Erbstück der Urväter; denn man hat wohl den Begriff des Glückszeitalters seit uralten Zeiten her jenem Zustande entnommen, in dem der Mensch, nach gewaltiger Anstrengung durch J a g d und Krieg, sich der Ruhe übergiebt, die Glieder streckt und die Fittige des Schlafes um sich rauschen hört. Es ist ein falscher Schluss, wenn der Mensch jener alten Gewöhnung gemäss sich
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Menschliches, Allzumenschliches I
vorstellt, dass er nun auch n a c h g a n z e n Z e i t r ä u m e n der N o t h und Mühsal jenes Zustandes des Glücks i n e n t s p r e c h e n d e r S t e i g e r u n g u n d D a u e r theilhaftig werden könne.
472. R e l i g i o n u n d R e g i e r u n g . — So lange der Staat oder, deutlicher, die Regierung sich als Vormund zu Gunsten einer unmündigen Menge bestellt weiss und um ihretwillen die Frage erwägt, ob die Religion zu erhalten oder zu beseitigen sei: wird sie höchst wahrscheinlich sich immer f ü r die Erhaltung der Religion entscheiden. Denn die Religion befriedigt das einzelne Gemüth in Zeiten des Verlustes, der Entbehrung, des Schreckens, des Misstrauens, also da, wo die Regierung sich ausser Stande fühlt, direct Etwas zur Linderung der seelischen Leiden des Privatmannes zu thun: ja selbst bei allgemeinen, unvermeidlichen und zunächst unabwendbaren Uebeln (Hungersnöthen, Geldkrisen, Kriegen) gewährt die Religion eine beruhigte, abwartende, vertrauende Haltung der Menge. Ueberall, wo die nothwendigen oder zufälligen Mängel der Staatsregierung oder die gefährlilichen Consequenzen dynastischer Interessen dem Einsichtigen sich bemerklich machen und ihn widerspänstig stimmen, werden die Nicht-Einsichtigen den Finger Gottes zu sehen meinen und sich in Geduld den Anordnungen von O b e n (in welchem Begriff göttliche und menschliche Regierungsweise gewöhnlich verschmelzen) unterwerfen: so wird der innere bürgerliche Frieden und die Continuität der Entwickelung gewahrt. Die Macht, welche in der Einheit der Volksempfindung, in gleichen Meinungen und Zielen für Alle, liegt, wird durch die Religion beschützt und besiegelt, jene seltenen Fälle abgerechnet, wo eine Priesterschaft mit der Staatsgewalt sich über den Preis nicht einigen kann und in Kampf tritt. Für gewöhnlich wird der Staat sich die Priester zu gewinnen wissen, weil er ihrer allerprivatesten, verborge-
8. Ein Blick auf den Staat 471—472
303
nen Erziehung der Seelen benöthigt ist und Diener zu schätzen weiss, welche scheinbar und äusserlich ein ganz anderes Interesse vertreten. Ohne Beihülfe der Priester kann auch jetzt noch keine Macht „legitim" werden: wie Napoleon begriff. — So gehen absolute vormundschaftliche Regierung und sorgsame Erhaltung der Religion nothwendig mit einander. Dabei ist vorauszusetzen, dass die regierenden Personen und Classen über den Nutzen, welchen ihnen die Religion gewährt, aufgeklärt werden und somit bis zu einem Grade sich ihr überlegen fühlen, insofern sie dieselbe als Mittel gebrauchen: wesshalb hier die Freigeisterei ihren Ursprung hat. — Wie aber, wenn jene ganz verschiedene Auffassung des Begriffes der Regierung, wie sie in d e m o k r a t i s c h e n Staaten gelehrt wird, durchzudringen anfängt? Wenn man in ihr Nichts als das Werkzeug des Volkswillen sieht, kein Oben im Vergleich zu einem Unten, sondern lediglich eine Function des alleinigen Souverains, des Volkes? Hier kann auch nur die selbe Stellung, welche das Volk zur Religion einnimmt, von der Regierung eingenommen werden; jede Verbreitung von Aufklärung wird bis in ihre Vertreter hineinklingen müssen, eine Benutzung und Ausbeutung der religiösen Triebkräfte und Tröstungen zu staatlichen Zwecken wird nicht so leicht möglich sein (es sei denn, dass mächtige Parteiführer zeitweilig einen Einfluss üben, welcher dem des aufgeklärten Despotismus ähnlich sieht). Wenn aber der Staat keinen Nutzen mehr aus der Religion selber ziehen darf oder das Volk viel zu mannichfach über religiöse Dinge denkt, als dass es der Regierung ein gleichartiges, einheitliches Vorgehen bei religiösen Maassregeln gestatten dürfte, — so wird nothwendig sich der Ausweg zeigen, die Religion als Privatsache zu behandeln und dem Gewissen und der Gewohnheit jedes Einzelnen zu überantworten. Die Folge ist zu allererst diese, dass das religiöse Empfinden verstärkt erscheint, insofern versteckte und unterdrückte Regungen desselben, welchen der Staat unwillkürlich oder absichtlich keine Lebensluft gönnte, jetzt hervorbrechen
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Menschliches, Allzumenschliches I
und bis in's Extreme ausschweifen; später erweist sich, dass die Religion von Secten überwuchert wird und dass eine Fülle von Drachenzähnen in dem Augenblicke gesät worden ist, als man die Religion zur Privatsache machte. Der Anblick des Streites, die feindselige Bloslegung aller Schwächen religiöser Bekenntnisse lässt endlich keinen Ausweg mehr zu, als dass jeder Bessere und Begabtere die Irreligiosität zu seiner Privatsache macht: als welche Gesinnung nun auch in dem Geiste der regierenden Personen die Ueberhand bekommt und, fast wider ihren Willen, ihren Maassregeln einen religionsfeindlichen Charakter giebt. Sobald diess eintritt, wandelt sich die Stimmung der noch religiös bewegten Menschen, welche früher den Staat als etwas H a l b - oder Ganzheiliges adorirten, in eine entschieden s t a a t s f e i n d l i c h e um; sie lauern den Maassregeln der Regierung auf, suchen zu hemmen, zu kreuzen, zu beunruhigen, so viel sie können, und treiben dadurch die Gegenpartei, die irreligiöse, durch die H i t z e ihres Widerspruchs in eine fast fanatische Begeisterung f ü r den Staat hinein; wobei im Stillen noch mitwirkt, dass in diesen Kreisen die Gemüther seit der Trennung von der Religion eine Leere spüren und sich vorläufig durch die Hingebung an den Staat einen Ersatz, eine A r t von Ausfüllung zu schaffen suchen. Nach diesen, vielleicht lange dauernden Uebergangskämpfen entscheidet es sich endlich, ob die religiösen Parteien noch stark genug sind, um einen alten Zustand heraufzubringen und das R a d zurückzudrehen: in welchem Falle unvermeidlich der aufgeklärte Despotismus (vielleicht weniger aufgeklärt und ängstlicher, als früher) den Staat in die H ä n d e bekommt, — oder ob die religionslosen Parteien sich durchsetzen und die Fortpflanzung ihrer Gegnerschaft, einige Generationen hindurch, etwa durch Schule und Erziehung, untergraben und endlich unmöglich machen. D a n n aber lässt auch bei ihnen jene Begeisterung für den Staat nach: immer deutlicher tritt hervor, dass mit jener religiösen Adoration, für welche er ein Mysterium, eine überweltliche Stiftung ist, auch das ehrfürchtige und pietät-
8. Ein Blick auf den Staat 472
305
volle Verhältniss zu ihm erschüttert ist. Fürderhin sehen die Einzelnen immer nur die Seite an ihm, w o er ihnen nützlich oder schädlich werden kann, und drängen sich mit allen Mitteln heran, um Einfluss auf ihn zu bekommen. Aber diese Concurrenz wird bald zu gross, die Menschen und Parteien wechseln zu schnell, stürzen sich gegenseitig zu wild vom Berge wieder herab, nachdem sie kaum oben angelangt sind. Es fehlt allen Maassregeln, welche von einer Regierung durchgesetzt werden, die Bürgschaft ihrer Dauer; man scheut vor Unternehmungen zurück, welche auf Jahrzehnte, Jahrhunderte hinaus ein stilles Wachsthum haben müssten, um reife Früchte zu zeitigen. Niemand fühlt eine andere Verpflichtung gegen ein Gesetz mehr, als die, sich augenblicklich der Gewalt, welche ein Gesetz einbrachte, zu beugen: sofort geht man aber daran, es durch eine neue Gewalt, eine neu zu bildende Majorität zu unterminiren. Zuletzt — man kann es mit Sicherheit aussprechen — muss das Misstrauen gegen alles Regierende, die Einsicht in das Nutzlose und Aufreibende dieser kurzathmigen K ä m p f e die Menschen zu einem ganz neuen Entschlüsse drängen: zur Abschaffung des Staatsbegriffs, zur Aufhebung des Gegensatzes „ p r i v a t und öffentlich". Die Privatgesellschaften ziehen Schritt vor Schritt die Staatsgeschäfte in sich hinein: selbst der zäheste Rest, welcher von der alten Arbeit des Regierens übrigbleibt (jene Thätigkeit zum Beispiel welche die Privaten gegen die Privaten sicher stellen soll), wird zu allerletzt einmal durch Privatunternehmer besorgt werden. Die Missachtung, der Verfall und d e r T o d d e s S ta a t e s , die Entfesselung der Privatperson (ich hüte mich zu sagen: des Individuums) ist die Consequenz des demokratischen Staatsbegriffes; hier liegt seine Mission. H a t er seine A u f g a b e erfüllt — die wie alles Menschliche viel Vernunft und Unvernunft im Schoosse trägt —, sind alle Rückfälle der alten Krankheit überwunden, so wird ein neues Blatt im Fabelbuche der Menschheit entrollt, auf dem man allerlei seltsame Historien und vielleicht auch einiges Gute lesen wird. — U m das Gesagte
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Menschliches, Allzumenschliches I
noch einmal kurz zu sagen: das Interesse der vormundschaftlichen Regierung und das Interesse der Religion gehen mit einander H a n d in H a n d , so dass, wenn letztere abzusterben beginnt, auch die Grundlage des Staates erschüttert wird. Der Glaube an eine göttliche Ordnung der politischen Dinge, an ein Mysterium in der Existenz des Staates ist religiösen Ursprungs: schwindet die Religion, so wird der Staat unvermeidlich seinen alten Isisschleier verlieren und keine Ehrfurcht mehr erwecken. Die Souveränität des Volkes, in der N ä h e gesehen, dient dazu, auch den letzten Zauber und Aberglauben auf dem Gebiete dieser Empfindungen zu verscheuchen; die moderne Demokratie ist die historische Form vom V e r f a l l d e s S t a a t e s . — Die Aussicht, welche sich durch diesen sichern Verfall ergiebt, ist aber nicht in jedem Betracht eine unglückselige: die Klugheit und der Eigennutz der Menschen sind von allen ihren Eigenschaften am besten ausgebildet; wenn den Anforderungen dieser K r ä f t e der Staat nicht mehr entspricht, so wird am wenigsten das Chaos eintreten, sondern eine noch zweckmässigere Erfindung, als der Staat es war, zum Siege über den Staat kommen. Wie manche organisirende Gewalt hat die Menschheit schon absterben sehen, — zum Beispiel die der Geschlechtsgenossenschaft, als welche Jahrtausende lang viel mächtiger war, als die Gewalt der Familie, ja längst, bevor diese bestand, schon waltete und ordnete. Wir selber sehen den bedeutenden Rechts- und Machtgedanken der Familie, welcher einmal, so weit wie römisches Wesen reichte, die Herrschaft besass, immer blasser und ohnmächtiger werden. So wird ein späteres Geschlecht auch den Staat in einzelnen Strecken der Erde bedeutungslos werden sehen, — eine Vorstellung, an welche viele Menschen der Gegenwart kaum ohne Angst und Abscheu denken können. An der Verbreitung und Verwirklichung dieser Vorstellung zu a r b e i t e n , ist freilich ein ander Ding: man muss sehr anmaassend von seiner Vernunft denken und die Geschichte kaum halb verstehen, um schon jetzt die H a n d an den Pflug zu legen, — wäh-
8. Ein Blick auf den Staat 472—473
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rend noch Niemand die Samenkörner aufzeigen kann, welche auf das zerrissene Erdreich nachher gestreut werden sollen. Vertrauen wir also „der Klugheit und dem Eigennutz der Menschen", dass jetzt n o c h der Staat eine gute Weile bestehen bleibt und zerstörerische Versuche übereifriger und voreiliger Halbwisser abgewiesen werden!
473Der Socialismus in H i n s i c h t auf seine M i t t e l . — Der Socialismus ist der phantastische jüngere Bruder des fast abgelebten Despotismus, den er beerben will; seine Bestrebungen sind also im tiefsten Verstände reactionär. Denn er begehrt eine Fülle der Staatsgewalt, wie sie nur je der Despotismus gehabt hat, ja er überbietet alles Vergangene dadurch, dass er die förmliche Vernichtung des Individuums anstrebt: als welches ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur vorkommt und durch ihn in ein zweckmässiges O r g a n d e s G e m e i n w e s e n s umgebessert werden soll. Seiner Verwandtschaft wegen erscheint er immer in der Nähe aller excessiven Machtentfaltungen, wie der alte typische Socialist Piato am H o f e des sicilischen Tyrannen; er wünscht (und befördert unter Umständen) den cäsarischen Gewaltstaat dieses Jahrhunderts, weil er, wie gesagt, sein Erbe werden möchte. Aber selbst diese Erbschaft würde für seine Zwecke nicht ausreichen, er braucht die allerunterthänigste Niederwerfung aller Bürger vor dem unbedingten Staate, wie niemals etwas Gleiches existirt hat; und da er nicht einmal auf die alte religiöse Pietät für den Staat mehr rechnen darf, vielmehr an deren Beseitigung unwillkürlich fortwährend arbeiten muss — nämlich weil er an der Beseitigung aller bestehenden S t a a t e n arbeitet —, so kann er sich nur auf kurze Zeiten, durch den äussersten Terrorismus, hie und da einmal auf Existenz Hoffnung machen. Desshalb bereitet er sich im Stillen zu Schreckensherrschaften vor und treibt den halb-
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Menschliches, Allzumenschlidies I
gebildeten Massen das Wort „Gerechtigkeit" wie einen Nagel in den Kopf, um sie ihres Verstandes völlig zu berauben (nachdem dieser Verstand schon durch die Halbbildung sehr gelitten hat) und ihnen f ü r das böse Spiel, das sie spielen sollen, ein gutes GeJ wissen zu schaffen. — Der Socialismus kann dazu dienen, die Gefahr aller Anhäufungen von Staatsgewalt recht brutal und eindringlich zu lehren und insofern vor dem Staate selbst Misstrauen einzuflössen. Wenn seine rauhe Stimme in das Feldgeschrei „ s o v i e l S t a a t w i e m ö g 1 i c h " einfällt, so io wird dieses zunächst dadurch lärmender, als je: aber bald dringt auch das entgegengesetzte mit um so grösserer Kraft hervor: „so w e n i g S t a a t wie m ö g l i c h " .
474Die E n t w i c k e l u n g des Geistes, v o m S t a a t e g e f ü r c h t e t . — Die griechische Polis war, wie jede organisirende politische Macht, ausschliessend und misstrauisch gegen das Wachsthum der Bildung; ihr gewaltiger Grundtrieb zeigte sich fast nur lähmend und hemmend für dieselbe. Sie wollte keine Geschichte, kein Werden in der Bildung gelten lassen; die 20 in dem Staatsgesetz festgestellte Erziehung sollte alle Generationen verpflichten und auf Einer Stufe festhalten. Nicht anders wollte es später auch noch Plato f ü r seinen idealen Staat. T r o t z der Polis entwickelte sich also die Bildung: indirect freilich und wider Willen half sie mit, weil die Ehrsucht des * 5 Einzelnen in der Polis auf's Höchste angereizt wurde, so dass er, einmal auf die Bahn geistiger Ausbildung gerathen, auch in ihr bis in's letzte Extrem fortgieng. Dagegen soll man sich nicht auf die Verherrlichungsrede des Perikles berufen: denn sie ist nur ein grosses optimistisches Trugbild über den angeblich nothwendigen 3° Zusammenhang von Polis und athenischer Cultur; Thukydides lässt sie, unmittelbar bevor die Nadht über Athen kommt (die Pest und der Abbruch der Tradition), noch einmal wie eine ver-
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klärende Abendröthe aufleuchten, bei der man den schlimmen Tag vergessen soll, der ihr vorangieng.
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475Der e u r o p ä i s c h e Mensch und die V e r n i c h t u n g d e r N a t i o n e n . — Der Handel und die Industrie, der Bücher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller höheren Cultur, das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer, — diese U m stände bringen nothwendig eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europäischen, mit sich: so dass aus ihnen allen, in Folge fortwährender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europäischen Menschen, entstehen muss. Diesem Ziele wirkt jetzt bewusst oder unbewusst die A b schliessung der Nationen durch Erzeugung nationaler Feindseligkeiten entgegen, aber langsam geht der Gang jener Mischung dennoch vorwärts, trotz jener zeitweiligen Gegenströmungen: dieser künstliche Nationalismus ist übrigens so gefährlich wie der künstliche Katholicismus es gewesen ist, denn er ist in seinem Wesen ein gewaltsamer Noth- und Belagerungszustand, welcher von Wenigen über Viele verhängt ist, und braucht List, Lüge und Gewalt, um sich in Ansehen zu halten. Nicht das Interesse der Vielen (der Völker), wie man wohl sagt, sondern vor Allem das Interesse bestimmter Fürstendynastien, sodann das bestimmter Classen des Handels und der Gesellschaft, treibt zu diesem Nationalismus; hat man diess einmal erkannt, so soll man sich nur ungescheut als g u t e n E u r o p ä e r ausgeben und durch die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten: wobei die Deutschen durch ihre alte bewährte Eigenschaft, D o l m e t s c h e r und Vermitt1 e r d e r V ö l k e r zu sein, mitzuhelfen vermögen. — Beiläufig: das ganze Problem der J u d e n ist nur innerhalb der nationalen Staaten vorhanden, insofern hier überall ihre That-
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Menschliches, Allzumensdiliches I
kräftigkeit und höhere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht angehäuftes Geist- und WillensCapital, in einem neid- und hasserweckenden Maasse zum Uebergewicht kommen muss, so dass die litterarische Unart fast in allen jetzigen Nationen überhand nimmt — und zwar je mehr diese sich wieder national gebärden —, die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur Schlachtbank zu führen. Sobald es sich nicht mehr um Conservirung von Nationen, sondern um die Erzeugung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse handelt, ist der Jude als Ingredienz ebenso brauchbar und erwünscht, als irgend ein anderer nationaler Rest. Unangenehme, ja gefährliche Eigenschaften hat jede Nation, jeder Mensch; es ist grausam, zu verlangen, dass der Jude eine Ausnahme machen soll. Jene Eigenschaften mögen sogar bei ihm in besonderem Maasse gefährlich und abschreckend sein; und vielleicht ist der jugendliche Börsen-Jude die widerlichste Erfindung des Menschengeschlechtes überhaupt. Trotzdem möchte ich wissen, wie viel man bei einer Gesammtabrechnung einem Volke nachsehen muss, welches, nicht ohne unser Aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen Völkern gehabt hat und dem man den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der Welt verdankt. Ueberdiess: in den dunkelsten Zeiten des Mittelalters, als sich die asiatische Wolkenschicht schwer über Europa gelagert hatte, waren es jüdische Freidenker, Gelehrte und Aerzte, welche das Banner der Aufklärung und der geistigen Unabhängigkeit unter dem härtesten persönlichen Zwange festhielten und Europa gegen Asien vertheidigten; ihren Bemühungen ist es nicht am wenigsten zu danken, dass eine natürlichere, vernunftgemässere und jedenfalls unmythische Erklärung der Welt endlich wieder zum Siege kommen konnte und dass der Ring der Cultur, welcher uns jetzt mit der Aufklärung des griechisch-römischen Alterthums zusammenknüpft, unzerbrochen blieb. Wenn das
8. Ein Blick auf den Staat 475—477
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Christenthum Alles gethan hat, um den Occident zu orientalisiren, so hat das Judenthum wesentlich mit dabei geholfen, ihn immer wieder zu occidentalisiren: was in einem bestimmten Sinne so viel heisst als Europa's Aufgabe und Geschichte zu $ einer F o r t s e t z u n g d e r g r i e c h i s c h e n zu machen.
476. Scheinbare Ueberlegenheit des Mittela l t e r s . — Das Mittelalter zeigt in der Kirche ein Institut mit einem ganz universalen, die gesammte Menschheit in sich begrei10 fenden Ziele, noch dazu einem solchen, welches den — vermeintlich — höchsten Interessen derselben galt: dagegen gesehen, machen die Ziele der Staaten und Nationen, welche die neuere Geschichte zeigt, einen beklemmenden Eindruck; sie erscheinen kleinlich, niedrig, materiell, räumlich beschränkt. Aber dieser 15 verschiedene Eindruck auf die Phantasie soll unser Urtheil ja nicht bestimmen; denn jenes universale Institut entsprach erkünstelten, auf Fictionen beruhenden Bedürfnissen, welche es, w o sie noch nicht vorhanden waren, erst erzeugen musste (Bedürfniss der Erlösung); die neuen Institute helfen wirklichen 20 Nothzuständen ab; und die Zeit kommt, wo Institute entstehen, um den gemeinsamen wahren Bedürfnissen aller Menschen zu dienen und das phantastische Urbild, die katholische Kirche, in Schatten und Vergessenheit zu stellen.
477-
25
D e r K r i e g u n e n t b e h r l i c h . — Es ist eitel Schwärmerei und Schönseelenthum, von der Menschheit noch viel (oder gar: erst recht viel) zu erwarten, wenn sie verlernt hat, Kriege zu führen. Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch mattwerdenden Völkern jene rauhe Energie des Feld3° lagers, jener tiefe unpersönliche Hass, jene Mörder-Kaltblütigkeit
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S
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Menschliches, Allzumenschliches I
mit gutem Gewissen, jene gemeinsame organisirende Gluth in der Vernichtung des Feindes, jene stolze Gleichgültigkeit gegen grosse Verluste, gegen das eigene Dasein und das der Befreundeten, jenes dumpfe erdbebenhafte Erschüttern der Seele ebenso stark und sicher mitgetheilt werden könnte, wie diess jeder grosse Krieg thut: von den hier hervorbrechenden Bächen und Strömen, welche freilich Steine und Unrath aller Art mit sich wälzen und die Wiesen zarter Culturen zu Grunde richten, werden nachher unter günstigen Umständen die Räderwerke in den Werkstätten des Geistes mit neuer Kraft umgedreht. Die Cultur kann die Leidenschaften, Laster und Bosheiten durchaus nicht entbehren. — Als die kaiserlich gewordenen Römer der Kriege etwas müde wurden, versuchten sie aus Thierhetzen, Gladiatorenkämpfen und Christenverfolgungen sich neue Kraft zu gewinnen. Die jetzigen Engländer, welche im Ganzen auch dem Kriege abgesagt zu haben scheinen, ergreifen ein anderes Mittel, um jene entschwindenden K r ä f t e neu zu erzeugen: jene gefährlichen Entdeckungsreisen, Durchschiffungen, Erkletterungen, zu wissenschaftlichen Zwecken, wie es heisst, unternommen, in Wahrheit, um überschüssige Kraft aus Abenteuern und Gefahren aller Art mit nach Hause zu bringen. Man wird noch vielerlei solche Surrogate des Krieges ausfindig machen, aber vielleicht durch sie immer mehr einsehen, dass eine solche hoch cultivirte und daher nothwendig matte Menschheit, wie die der jetzigen Europäer, nicht nur der Kriege, sondern der grössten und furchtbarsten Kriege — also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei — bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr Dasein selber einzubüssen.
478.
3°
F l e i s s i m S ü d e n u n d N o r d e n . — Der Fleiss entsteht auf zwei ganz verschiedene Arten. Die Handwerker im Süden werden fleissig, nicht aus Erwerbstrieb, sondern aus der
8. Ein Blidc auf den Staat 477—479
313
beständigen Bedürftigkeit der Anderen. Weil immer Einer kommt, der ein Pferd beschlagen, einen Wagen ausbessern lassen will, so ist der Schmied fleissig. Käme Niemand, so würde er auf dem Markte herumlungern. Sich zu ernähren, das hat in J einem fruchtbaren Lande wenig Noth, dazu brauchte er nur ein sehr geringes Maass von Arbeit, jedenfalls keinen Fleiss; schliesslich würde er betteln und zufrieden sein. — Der Fleiss englischer Arbeiter hat dagegen den Erwerbssinn hinter sich: er ist sich seiner selbst und seiner Ziele bewusst und will mit dem Besitz io die Macht, mit der Macht die grösstmögliche Freiheit und individuelle Vornehmheit.
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2°
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479Reichthum als U r s p r u n g eines Geblütsa d e l s . — Der Reichthum erzeugt nothwendig eine Aristokratie der Rasse, denn er gestattet die schönsten Weiber zu wählen, die besten Lehrer zu besolden, er gönnt dem Menschen Reinlichkeit, Zeit zu körperlichen Uebungen und vor Allem Abwendung von verdumpfender körperlicher Arbeit. Soweit verschafft er alle Bedingungen, um, in einigen Generationen, die Menschen vornehm und schön sich bewegen, ja selbst handeln zu machen: die grössere Freiheit des Gemüthes, die Abwesenheit des Erbärmlich-Kleinen, der Erniedrigung vor Brodgebern, der Pfennig-Sparsamkeit. — Gerade diese negativen Eigenschaften sind das reichste Angebinde des Glückes für einen jungen Menschen; ein ganz Armer richtet sich gewöhnlich durch Vornehmheit der Gesinnung zu Grunde, er kommt nicht vorwärts und erwirbt Nichts, seine Rasse ist nicht lebensfähig. — Dabei ist aber zu bedenken, dass der Reichthum fast die gleichen Wirkungen ausübt, wenn Einer dreihundert Thaler oder dreissigtausend jährlich verbrauchen darf: es giebt nachher keine wesentliche Progression der begünstigenden Umstände mehr. Aber weniger zu haben, als Knabe zu betteln und sich zu erniedrigen, ist furcht-
314
Menschliches, Allzumenschlidies I
bar: obwohl für Solche, welche ihr Glück im Glänze der H ö f e , in der Unterordnung unter Mächtige und Einflussreiche suchen oder welche Kirchenhäupter werden wollen, es der rechte Ausgangspunct sein mag. ( — Es lehrt, gebückt sich in die Höhlengange der Gunst einzuschleichen.)
480. N e i d u n d T r ä g h e i t in v e r s c h i e d e n e r Richt u n g . — Die beiden gegnerischen Parteien, die socialistische und die nationale — oder wie die N a m e n in den verschiedenen Ländern Europa's lauten mögen — sind einander würdig: N e i d und Faulheit sind die bewegenden Mächte in ihnen beiden. In jenem Heerlager will man so wenig als möglich mit den Händen arbeiten, in diesem so wenig als möglich mit dem K o p f ; in letzterem hasst und neidet man die hervorragenden, aus sich wachsenden Einzelnen, welche sich nicht gutwillig in Reih und Glied zum Zwecke einer Massenwirkung stellen lassen; in ersterem die bessere, äusserlich günstiger gestellte Kaste der Gesellschaft, deren eigentliche Aufgabe, die Erzeugung der höchsten Culturgüter, das Leben innerlich um so viel schwerer und schmerzensreicher macht. Gelingt es freilich, jenen Geist der Massenwirkung zum Geiste der höheren Classen der Gesellschaft zu machen, so sind die socialistischen Schaaren ganz im Rechte, wenn sie auch äusserlich zwischen sich und jenen zu nivelliren suchen, da sie ja innerlich, in K o p f und H e r z , schon mit einander nivellirt sind. — Lebt als höhere Menschen und thut immerfort die Thaten der höheren Cultur, — so gesteht euch Alles, was da lebt, euer Recht zu, und die Ordnung der Gesellschaft, deren Spitze ihr seid, ist gegen jeden bösen Blick und Griff gefeit!
481. Grosse
Politik
und
ihre
E i n b u s s e n . — Ebenso
8. Ein Blick auf den Staat 479—481
5
io
ij
2°
25
3°
315
wie ein Volk die grössten Einbussen, welche Krieg und Kriegsbereitschaft mit sich bringen, nicht durch die Unkosten des Krieges, die Stauungen im Handel und Wandel erleidet, ebenso nicht durch die Unterhaltung der stehenden Heere — so gross diese Einbussen auch jetzt sein mögen, wo acht Staaten Europa's jährlich die Summe von zwei bis drei Milliarden darauf verwenden — , sondern dadurch, dass J a h r aus J a h r ein die tüchtigsten, kräftigsten, arbeitsamsten Männer in ausserordentlicher Anzahl ihren eigentlichen Beschäftigungen und Berufen entzogen werden, um Soldaten zu sein: ebenso erleidet ein Volk, welches sich anschickt, grosse Politik zu treiben und unter den mächtigsten Staaten sich eine entscheidende Stimme zu sichern, seine grössten Einbussen nicht darin, worin man sie gewöhnlich findet. Es ist wahr, dass es von diesem Zeitpuncte ab fortwährend eine Menge der hervorragendsten Talente auf dem „ A l t a r des Vaterlandes" oder der nationalen Ehrsucht opfert, während früher diesen Talenten, welche jetzt die Politik verschlingt, andere Wirkungskreise offen standen. Aber abseits von diesen öffentlichen Hekatomben, und im Grunde viel grauenhafter als diese, begiebt sich ein Schauspiel, welches fortwährend in hunderttausend Acten gleichzeitig sich abspielt: jeder tüchtige, arbeitsame, geistvolle, strebende Mensch eines solchen nach politischen Ruhmeskränzen lüsternen Volkes wird von dieser Lüsternheit beherrscht und gehört seiner eigenen Sache nicht mehr, wie früher, völlig an: die täglich neuen Fragen und Sorgen des öffentlichen Wohles verschlingen eine tägliche Abgabe von dem K o p f - und HerzCapitale jedes Bürgers: die Summe all dieser O p f e r und Einbussen an individueller Energie und Arbeit ist so ungeheuer, dass das politische Aufblühen eines Volkes eine geistige Verarmung und Ermattung, eine geringere Leistungsfähigkeit zu Werken, welche grosse Concentration und Einseitigkeit verlangen, fast mit Nothwendigkeit nach sich zieht. Zuletzt darf man fragen: l o h n t sich denn all diese Blüthe und Pracht des Ganzen (welche ja doch nur als Furcht der anderen Staaten vor dem neuen
316
Menschliches, Allzumensdilidies I
Coloss und als dem Auslande abgerungene Begünstigung der nationalen Handels- und Verkehrs-Wohl fahrt zu Tage tritt), wenn dieser groben und buntschillernden Blume der Nation alle die edleren, zarteren, geistigeren Pflanzen und Gewächse, an wel5 chen ihr Boden bisher so reich war, zum Opfer gebracht werden müssen?
482.
Und nochmals — private Faulheiten.
g e s a g t . — Oeffentliche Meinungen
Neuntes Hauptstück. Der Mensch mit sich allein.
483.
F e i n d e d e r W a h r h e i t . — Ueberzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit, als Lügen.
484.
V e r k e h r t e W e l t . — Man kritisirt einen Denker schärfer, wenn er einen uns unangenehmen Satz hinstellt; und doch wäre es vernünftiger, diess zu thun, wenn sein Satz uns angenehm ist.
485.
C h a r a k t e r v o l l . — Charaktervoll erscheint ein Mensch weit häufiger, weil er immer seinem Temperamente, als weil er immer seinen Principien folgt.
486.
D a s E i n e , w a s N o t h t h u t . — Eins muss man haben: entweder einen von N a t u r leichten Sinn oder einen durch Kunst und Wissen erleichterten Sinn.
318
Menschliches, Allzumenschliches I 487.
D i e L e i d e n s c h a f t f ü r S a c h e n . — Wer seine Leidenschaft auf Sachen (Wissenschaften, Staatswohl, Culturinteressen, Künste) richtet, entzieht seiner Leidenschaft für Personen 5 viel Feuer (selbst wenn sie Vertreter jener Sachen sind, wie Staatsmänner, Philosophen, Künstler Vertreter ihrer Schöpfungen sind).
488.
D i e R u h e i n d e r T h a t . — Wie ein Wasserfall im 10 Sturz langsamer und schwebender wird, so pflegt der grosse Mensch der That mit m e h r Ruhe zu handeln, als seine stürmische Begierde vor der That es erwarten Hess.
489.
N i c h t z u t i e f . — Personen, welche eine Sache in aller 15 Tiefe erfassen, bleiben ihr selten auf immer treu. Sie haben eben die Tiefe an's Licht gebracht: da giebt es immer viel Schlimmes zu sehen.
490.
W a h n d e r I d e a l i s t e n . — Alle Idealisten bilden sich 20 ein, die Sachen, welchen sie dienen, seien wesentlich besser, als die anderen Sachen in der Welt, und wollen nicht glauben, dass wenn ihre Sache überhaupt gedeihen soll, sie genau des selben übel riechenden Düngers bedarf, welchen alle anderen menschlichen Unternehmungen nöthig haben.
»j
491.
S e l b s t b e o b a c h t u n g . — Der Mensdi ist gegen sich
9. Der Mensch m i t sich allein 487—495
319
selbst, gegen Auskundschaftung und Belagerung durch sich selber, sehr gut vertheidigt, er vermag gewöhnlich nicht mehr von sich, als seine Aussenwerke wahrzunehmen. Die eigentliche Festung ist ihm unzugänglich, selbst unsichtbar, es sei denn, dass Freunde und Feinde die Verräther machen und ihn selber auf geheimem Wege hineinführen.
492.
D e r r i c h t i g e B e r u f . — Männer halten selten einen Beruf aus, von dem sie nicht glauben oder sich einreden, er sei im Grunde wichtiger, als alle anderen. Ebenso geht es Frauen mit ihren Liebhabern.
493A d e l d e r G e s i n n u n g . — Der Adel der Gesinnung besteht zu einem grossen Theil aus Gutmüthigkeit und Mangel an Misstrauen, und enthält also gerade Das, worüber sich die gewinnsüchtigen und erfolgreichen Menschen so gerne mit Ueberlegenheit und Spott ergehen.
494Z i e l u n d W e g e . — Viele sind hartnäckig in Bezug auf den einmal eingeschlagenen Weg, Wenige in Bezug auf das Ziel.
495Das Empörende an e i n e r individuellen L e b e n s a r t . — Alle sehr individuellen Maassregeln des Lebens bringen die Menschen gegen Den, der sie ergreift, auf; sie fühlen sich durch die aussergewöhnliche Behandlung, welche Jener sich angedeihen lässt, erniedrigt, als gewöhnliche Wesen.
320
Menschliches, Allzumenschliches I
496. V o r r e c h t d e r G r ö s s e . — Es ist das Vorrecht der Grösse, mit geringen Gaben hoch zu beglücken.
497U n w i l l k ü r l i c h v o r n e h m . — Der Mensch beträgt sich unwillkürlich vornehm, wenn er sich gewöhnt hat, von den Menschen Nichts zu wollen und ihnen immer zu geben.
498. B e d i n g u n g d e s H e r o e n t h u m s . — Wenn Einer zum Helden werden will, so muss die Schlange vorher zum Drachen geworden sein, sonst fehlt ihm sein rechter Feind.
499F r e u n d . — Mitfreude, nicht Mitleiden, macht den Freund.
500. E b b e u n d F l u t h z u b e n u t z e n . — Man muss zum Zwecke der Erkenntniss jene innere Strömung zu benutzen wissen, welche uns zu einer Sache hinzieht und wiederum jene, welche uns nach einer Zeit von der Sache fortzieht.
501. F r e u d e a n s i c h . — „Freude an der Sache" so sagt man: aber in Wahrheit ist es Freude an sich vermittelst einer Sache.
9. Der Mensch mit sich allein 496—507
321
502. D e r B e s c h e i d e n e . — Wer gegen Personen bescheiden ist, zeigt gegen Sachen (Stadt, Staat, Gesellschaft, Zeit, Menschheit) um so stärker seine Anmaassung. Das ist seine Rache.
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503. N e i d u n d E i f e r s u c h t . — Neid und Eifersucht sind die Schamtheile der menschlichen Seele. Die Vergleichung kann vielleicht fortgesetzt werden.
504. 10
D e r v o r n e h m s t e H e u c h l e r . — G a r nicht von sich zu reden, ist eine sehr vornehme Heuchelei.
505. V e r d r u s s . — Der Verdruss ist eine körperliche K r a n k heit, welche keineswegs dadurch schon gehoben ist, dass die Ver15 anlassung zum Verdruss hinterdrein beseitigt wird.
50 6. V e r t r e t e r d e r W a h r h e i t . — Nicht wenn es gefährlich ist, die Wahrheit zu sagen, findet sie am seltensten Vertreter, sondern wenn es langweilig ist.
507. B e s c h w e r l i c h e r n o c h , a l s F e i n d e . — Die Personen, von deren sympathischem Verhalten wir nicht unter allen Umständen überzeugt sind, während uns irgend ein Grund (z. B. Dankbarkeit) verpflichtet, den Anschein der unbedingten
322
Menschliches, Allzumenschliches I
Sympathie unsererseits aufrecht zu erhalten, quälen unsere Phantasie viel mehr, als unsere Feinde.
508. D i e f r e i e N a t u r . — Wir sind so gern in der freien $ Natur, weil diese keine Meinung über uns hat.
509.
J e d e r i n E i n e r S a c h e ü b e r l e g e n . — In civilisirten Verhältnissen fühlt sich Jeder jedem Anderen in Einer Sache wenigstens überlegen: darauf beruht das allgemeine Wohl10 wollen, insofern Jeder einer ist, der unter Umständen helfen kann und desshalb sich ohne Scham helfen lassen darf.
510. T r o s t g r ü n d e . — Bei einem Todesfall braucht man zumeist Trostgründe, nicht sowohl um die Gewalt des Schmerzes 1$ zu lindern, als um zu entschuldigen, dass man sich so leicht getröstet fühlt.
511. D i e U e b e r z e u g u n g s t r e u e n . — Wer viel zu thun hat, behält seine allgemeinen Ansichten und Standpuncte fast 10 unverändert bei. Ebenso Jeder, der im Dienst einer Idee arbeitet: er wird die Idee selber nie mehr prüfen, dazu hat er keine Zeit mehr; ja es geht gegen sein Interesse, sie überhaupt noch f ü r discutirbar zu halten.
9. Der Mensdi mit sidi allein 507—517
323
512. M o r a l i t ä t u n d Q u a n t i t ä t . — Die höhere Moralität des einen Menschen, im Vergleich zu der eines anderen, liegt oft nur darin, dass die Ziele quantitativ grösser sind. Jenen zieht die Beschäftigung mit dem Kleinen, im engen Kreise, nieder.
5i3D a s L e b e n a l s E r t r a g d e s L e b e n s . — Der Mensdi mag sich noch so weit mit seiner Erkenntniss ausrecken, sich selber noch so objectiv vorkommen: zuletzt trägt er doch Nichts davon, als seine eigene Biographie.
514. D i e e h e r n e N o t w e n d i g k e i t . — Die eherne N o t wendigkeit ist ein Ding, von dem die Menschen im Verlauf der Geschichte einsehen, dass es weder ehern noch nothwendig ist.
515A u s d e r E r f a h r u n g . — Die Unvernunft einer Sache ist kein Grund gegen ihr Dasein, vielmehr eine Bedingung desselben. 516. W a h r h e i t . — Niemand stirbt jetzt an tödtlichen Wahrheiten: es giebt zu viele Gegengifte.
5i 7G r u n d e i n s i c h t . — Es giebt keine prästabilirte H a r monie zwischen der Förderung der Wahrheit und dem Wohle der Menschheit.
324
Menschlidies, Allzumensdilidies I 518.
M e n s c h e n l o o s . — Wer tiefer denkt, weiss, dass er immer Unrecht hat, er m a g handeln und urtheilen, wie er will.
519W a h r h e i t a l s C i r c e . — Der Irrthum hat aus Thieren Menschen gemacht; sollte die Wahrheit im Stande sein, aus dem Menschen wieder ein Thier zu machen?
520. G e f a h r u n s e r e r C u l t u r . — Wir gehören einer Zeit an, deren Cultur in Gefahr ist, an den Mitteln der Cultur zu Grunde zu gehen.
521. G r ö s s e h e i s s t : R i c h t u n g - g e b e n . — Kein Strom ist durch sich selber gross und reich: sondern dass er so viele Nebenflüsse aufnimmt und fortführt, das macht ihn dazu. So steht es auch mit allen Grössen des Geistes. N u r darauf kommt es an, dass Einer die Richtung angiebt, welcher dann so viele Zuflüsse folgen müssen; nicht darauf, ob er von Anbeginn arm oder reich begabt ist.
522. S c h w a c h e s G e w i s s e n . — Menschen, welche von ihrer Bedeutung für die Menschheit sprechen, haben in Bezug auf gemeine bürgerliche Rechtlichkeit im Halten von Verträgen, Versprechungen, ein schwaches Gewissen.
9. Der Mensdi m i t sich allein 518—528
325
J23G e l i e b t s e i n w o l l e n . — Die Forderung, geliebt zu werden, ist die grösste der Anmaassungen. 524.
M e n s c h e n v e r a c h t u n g . — Das unzweideutigste Anzeichen von einer Geringschätzung der Menschen ist diess, dass man Jedermann nur als Mittel zu s e i n e m Zwecke oder gar nicht gelten lässt. 525A n h ä n g e r a u s W i d e r s p r u c h . — Wer die Menschen zur Raserei gegen sich gebracht hat, hat sich immer auch eine Partei zu seinen Gunsten erworben. J2i.
E r l e b n i s s e v e r g e s s e n . — Wer viel denkt, und zwar sachlich denkt, vergisst leicht seine eigenen Erlebnisse, aber nicht so die Gedanken, welche durch jene hervorgerufen wurden.
527F e s t h a l t e n e i n e r M e i n u n g . — Der Eine hält eine Meinung fest, weil er sich Etwas darauf einbildet, von selbst auf sie gekommen zu sein, der Andere, weil er sie mit Mühe gelernt hat und stolz darauf ist, sie begriffen zu haben: Beide also aus Eitelkeit. J28.
D a s L i c h t s c h e u e n . — Die gute That scheut ebenso ängstlich das Licht, als die böse That: diese fürchtet, durch das
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Menschliches, Allzumenschliches I
Bekanntwerden komme der Schmerz (als Strafe), jene fürchtet, durch das Bekanntwerden schwinde die Lust (jene reine Lust an sich selbst nämlich, welche sofort aufhört, sobald eine Befriedigung der Eitelkeit hinzutritt).
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529.
D i e L ä n g e d e s T a g e s . — Wenn man viel hineinzustecken hat, so hat ein Tag hundert Taschen.
$30.
T y r a n n e n g e n i e . — Wenn in der Seele eine un10 bezwingliche Lust dazu rege ist, sich tyrannisch durchzusetzen, und das Feuer beständig unterhält, so wird selbst eine geringe Begabung (bei Politikern, Künstlern) allmählich zu einer fast unwiderstehlichen Naturgewalt.
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531D a s L e b e n d e s F e i n d e s . — Wer davon lebt, einen Feind zu bekämpfen, hat ein Interesse daran, dass er am Leben bleibt. 532-
W i c h t i g e r . — Man nimmt die unerklärte dunkle Sache io wichtiger, als die erklärte helle.
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A b s c h ä t z u n g e r w i e s e n e r D i e n s t e . — Dienstleistungen, die uns Jemand erweist, schätzen wir nach dem Werthe, den Jener darauf legt, nicht nach dem, welchen sie f ü r 25 uns haben.
9. Der Mensdi mit sich allein 528—538
327
534-
U n g l ü c k . — Die Auszeichnung, welche im Unglück liegt (als ob es ein Zeichen von Flachheit, Anspruchslosigkeit, Gewöhnlichkeit sei, sich glücklich zu fühlen), ist so gross, dass wenn Jemand Einem sagt: „Aber wie glücklich Sie sind!" man gewöhnlich protestirt.
535-
P h a n t a s i e d e r A n g s t . — Die Phantasie der Angst ist jener böse äffische Kobold, der dem Menschen gerade dann noch auf den Rücken springt, wenn er schon am schwersten zu tragen hat.
J36.
W e r t h a b g e s c h m a c k t e r G e g n e r . — Man bleibt mitunter einer Sache nur desshalb treu, weil ihre Gegner nicht aufhören, abgeschmackt zu sein.
S37-
W e r t h e i n e s B e r u f e s . — Ein Beruf macht gedankenlos; darin liegt sein grösster Segen. Denn er ist eine Schutzwehr, hinter welche man sich, wenn Bedenken und Sorgen allgemeiner Art Einen anfallen, erlaubtermaassen zurückziehen kann.
538.
T a l e n t . — Das Talent manches Menschen erscheint geringer als es ist, weil er sich immer zu grosse Aufgaben gestellt hat.
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Menschliches, Allzumensdiliches I 539-
J u g e n d . — Die Jugend ist unangenehm; denn in ihr ist es nicht möglich oder nicht vernünftig, productiv zu sein, in irgend einem Sinne.
540.
Z u g r o s s e Z i e l e . — Wer sich öffentlich grosse Ziele stellt und hinterdrein im Geheimen einsieht, dass er dazu zu schwach ist, hat gewöhnlich auch nicht Kraft genug, jene Ziele öffentlich zu widerrufen und wird dann unvermeidlich zum Heuchler.
541.
I m S t r o m e . — Starke Wasser reissen viel Gestein und Gestrüpp mit sich fort, starke Geister viel dumme und verworrene Köpfe.
542.
G e f a h r e n d e r g e i s t i g e n B e f r e i u n g . — Bei der ernstlich gemeinten geistigen Befreiung eines Menschen hoffen im Stillen auch seine Leidenschaften und Begierden ihren Vortheil sich zu ersehen.
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V e r k ö r p e r u n g d e s G e i s t e s . — Wenn Einer viel und klug denkt, so bekommt nicht nur sein Gesicht, sondern auch sein Körper ein kluges Aussehen.
9. Der Mensch mit sich allein 539—548
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544S c h l e c h t s e h e n u n d s c h l e c h t h ö r e n . — Wer wenig sieht, sieht immer weniger; wer schlecht hört, hört immer Einiges noch dazu.
545S e l b s t g e n u s s i n d e r E i t e l k e i t . — Der Eitele will nicht sowohl hervorragen, als sich hervorragend fühlen, desshalb verschmäht er kein Mittel des Selbstbetruges und der Selbstüberlistung. Nicht die Meinung der Anderen, sondern seine Meinung von Deren Meinung liegt ihm am Herzen.
54 6.
A u s n a h m s w e i s e e i t e l . — Der für gewöhnlich Selbstgenügsame ist ausnahmsweise eitel und für Ruhm und Lobsprüche empfänglich, wenn er körperlich krank ist. In dem Maasse, in welchem er sich verliert, muss er sich aus fremder Meinung, von Aussen her, wieder zu gewinnen suchen.
547D i e „ G e i s t r e i c h e n " . — Der hat keinen Geist, welcher den Geist sucht.
548.
W i n k f ü r P a r t e i h ä u p t e r . — Wenn man die Leute dazu treiben kann, sich öffentlich für Etwas zu erklären, so hat man sie meistens auch dazu gebracht, sich innerlich dafür zu erklären; sie wollen fürderhin als consequent erfunden werden.
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Menschliches, Allzumenschlidies I 549-
V e r a c h t u n g . — Die Verachtung durch Andere ist dem Menschen empfindlicher, als die durch sich selbst.
550.
S c h n u r d e r D a n k b a r k e i t . — Es giebt sclavische Seelen, welche die Erkenntlichkeit für erwiesene Wohlthaten so weit treiben, dass sie sich mit der Schnur der Dankbarkeit selbst erdrosseln. 5 51K u n s t g r i f f d e s P r o p h e t e n . — Um die Handlungsweise gewöhnlicher Menschen im Voraus zu errathen, muss man annehmen, dass sie immer den mindesten Aufwand an Geist machen, um sich aus einer unangenehmen Lage zu befreien.
55*-
D a s e i n z i g e M e n s c h e n r e c h t . — Wer vom Herkömmlichen abweicht, ist das Opfer des Aussergewöhnlichen; wer im Herkömmlichen bleibt, ist der Sclave desselben. Zu Grunde gerichtet wird man auf jeden Fall.
553-
U n t e r d a s T h i e r h i n a b . — Wenn der Mensch vor Lachen wiehert, übertrifft er alle Thiere durch seine Gemeinheit.
554-
H a l b w i s s e n . — Der, welcher eine fremde Sprache wenig spricht, hat mehr Freude daran, als Der, welcher sie gut spricht. Das Vergnügen ist bei den Halbwissenden.
9. Der Mensch mit sidi allein 549—559
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G e f ä h r l i c h e H ü l f b e r e i t s c h a f t . — Es giebt Leute, welche das Leben den Menschen erschweren wollen, aus keinem andern Grunde, als um ihnen hinterdrein ihre Recepte 5 zur Erleichterung des Lebens, zum Beispiel ihr Christenthum, anzubieten.
556.
F l e i s s u n d G e w i s s e n h a f t i g k e i t . — Fleiss und Gewissenhaftigkeit sind oftmals dadurch Antagonisten, dass der 10 Fleiss die Früchte sauer vom Baume nehmen will, die Gewissenhaftigkeit sie aber zu lange hängen lässt, bis sie herabfallen und sich zerschlagen.
557-
V e r d ä c h t i g e n . — Menschen, welche man nicht leiden 15 kann, sucht man sich zu verdächtigen.
558-
D i e U m s t ä n d e f e h l e n . — Viele Menschen warten ihr Leben lang auf die Gelegenheit, auf i h r e Art gut zu sein.
559-
20
M a n g e l a n F r e u n d e n . — Der Mangel an Freunden lässt auf Neid oder Anmaassung schliessen. Mancher verdankt seine Freunde nur dem glücklichen Umstände, dass er keinen Anlass zum Neide hat.
332
Menschliches, Allzumenschliches I
J 60.
G e f a h r i n d e r V i e l h e i t . — Mit einem Talente mehr steht man oft unsicherer, als mit einem weniger: wie der Tisch besser auf drei, als auf vier Füssen steht.
561.
D e n A n d e r n z u m V o r b i l d . — Wer ein gutes Beispiel geben will, muss seiner Tugend einen Gran Narrheit zusetzen: dann ahmt man nach und erhebt sich zugleich über den Nachgeahmten, — was die Menschen lieben.
562.
Z i e l s c h e i b e s e i n . — Die bösen Reden Anderer über uns gelten oft nicht eigentlich uns, sondern sind die Aeusserungen eines Aergers, einer Verstimmung aus ganz anderen Gründen. 563.
L e i c h t r e s i g n i r t . — Man leidet wenig an versagten Wünschen, wenn man seine Phantasie geübt hat, die Vergangenheit zu verhässlichen. 564.
I n G e f a h r . — Man ist am Meisten in Gefahr, überfahren zu werden, wenn man eben einem Wagen ausgewichen ist.
565.
J e n a c h d e r S t i m m e d i e R o l l e . — Wer gezwungen ist, lauter zu reden, als er gewohnt ist (etwa vor einem HalbTauben oder vor einem grossen Auditorium), übertreibt gewöhn-
9. Der Mensch mit sich allein 560—570
333
lieh die Dinge, welche er mitzutheilen hat. — Mancher wird zum Verschwörer, böswilligen Nachredner, Intriguanten, blos weil seine Stimme sich am besten zu einem Geflüster eignet.
566. L i e b e u n d H a s s . — Liebe und Hass sind nicht blind, aber geblendet vom Feuer, das sie selber mit sich tragen.
567.
M i t V o r t h e i l a n g e f e i n d e t . — Menschen, welche der Welt ihre Verdienste nicht völlig deutlich machen können, suchen sich eine starke Feindschaft zu erwecken. Sie haben dann den Trost, zu denken, dass diese zwischen ihren Verdiensten und deren Anerkennung stehe — und dass mancher Andere das Selbe vermuthe: was sehr vortheilhaft für ihre Geltung ist.
568.
B e i c h t e . — Man vergisst seine Schuld, wenn man sie einem Andern gebeichtet hat, aber gewöhnlich vergisst der Andere sie nicht. 569.
S e l b s t g e n ü g s a m k e i t . — Das goldene Vliess der Selbstgenügsamkeit schützt gegen Prügel, aber nicht gegen Nadelstiche. 570.
S c h a t t e n i n d e r F l a m m e . — Die Flamme ist sich selber nicht so hell, als den Anderen, denen sie leuchtet: so auch der Weise.
334
Menschliches, Allzumenschliches I
571E i g e n e M e i n u n g e n . — Die erste Meinung, welche uns einfällt, wenn wir plötzlich über eine Sache befragt werden, ist gewöhnlich nicht unsere eigene, sondern nur die landläufige, J unserer Kaste, Stellung, Abkunft zugehörige; die eigenen Meinungen schwimmen selten oben auf.
57 2 H e r k u n f t d e s M u t h e s . — Der gewöhnliche Mensch ist muthig und unverwundbar wie ein Held, wenn er die Gefahr io nicht sieht, für sie keine Augen hat. Umgekehrt: der Held hat die einzig verwundbare Stelle auf dem Rücken, also dort, wo er keine Augen hat.
573G e f a h r i m A r z t e . — Man muss für seinen Arzt gei J boren sein, sonst geht man an seinem Arzt zu Grunde.
574W u n d e r l i c h e E i t e l k e i t . — Wer dreimal mit Dreistigkeit das Wetter prophezeit hat und Erfolg hatte, der glaubt im Grunde seiner Seele ein Wenig an seine Prophetengabe. Wir 20 lassen das Wunderliche, Irrationelle gelten, wenn es unserer Selbstschätzung schmeichelt.
575B e r u f . — Ein Beruf ist das Rückgrat des Lebens.
9. Der Mensch mit sich allein 571—580 57
335
6.
G e f a h r p e r s ö n l i c h e n E i n f l u s s e s . — Wer fühlt, dass er auf einen Anderen einen grossen innerlichen Einfluss ausübt, muss ihm ganz freie Zügel lassen, ja gelegentliches Widerstreben gern sehen und selbst herbeiführen: sonst wird er unvermeidlich sich einen Feind machen.
577D e n E r b e n g e l t e n l a s s e n . — Wer etwas Grosses in selbstloser Gesinnung begründet hat, sorgt dafür, sich Erben zu erziehen. Es ist das Zeichen einer tyrannischen und unedlen N a t u r , in allen möglichen Erben seines Werkes seine Gegner zu sehen und gegen sie im Stande der Nothwehr zu leben.
578.
H a l b w i s s e n . — Das Halbwissen ist siegreicher, als das Ganzwissen: es kennt die Dinge einfacher, als sie sind, und macht daher seine Meinung fasslicher und überzeugender.
579N i c h t g e e i g n e t z u m P a r t e i m a n n . — Wer viel denkt, eignet sich nicht zum Parteimann: er denkt sich zu bald durch die Partei hindurch.
580.
S c h l e c h t e s G e d ä c h t n i s s . — Der Vortheil des schlechten Gedächtnisses ist, dass man die selben guten Dinge mehrere Male zum Ersten Male geniesst.
336
Menschliches, Allzumensdilidies I 581.
Sich Schmerzen machen. — Rücksichtslosigkeit des Denkens ist oft das Zeichen einer unfriedlichen inneren Gesinnung, welche Betäubung begehrt.
582.
M ä r t y r e r . — Der Jünger eines Märtyrers leidet mehr, als der Märtyrer.
583.
R ü c k s t ä n d i g e E i t e l k e i t . — Die Eitelkeit mancher Menschen, die es nicht nöthig hätten, eitel zu sein, ist die übriggebliebene und gross gewachsene Gewohnheit aus der Zeit her, wo sie noch kein Recht hatten, an sich zu glauben und diesen Glauben erst von Andern in kleiner Münze einbettelten.
584.
P u n c t u m s a l i e n s d e r L e i d e n s c h a f t . — Wer im Begriff ist, in Zorn oder in einen heftigen Liebesaffect zu gerathen, erreicht einen Punct, wo die Seele voll ist wie ein G e f ä s s : aber doch muss ein Wassertropfen noch hinzukommen, der gute Wille zur Leidenschaft (den man gewöhnlich auch den bösen nennt). Es ist nur dieses Pünctchen nöthig, dann läuft das Gefäss über.
585.
G e d a n k e d e s U n m u t h e s . — Es ist mit den Menschen wie mit den Kohlenmeilern im Walde. Erst wenn die jungen Menschen ausgeglüht haben und verkohlt sind, gleich jenen, dann werden sie n ü t z l i c h . So lange sie dampfen und rauchen,
9. Der Mensch mit sich allein 581—587
337
sind sie vielleicht interessanter, aber unnütz und gar zu häufig unbequem. — Die Menschheit verwendet schonungslos jeden Einzelnen als Material zum Heizen ihrer grossen Maschinen: aber wozu dann die Maschinen, wenn alle Einzelnen (das heisst die Menschheit) nur dazu nützen, sie zu unterhalten? Maschinen, die sich selbst Zweck sind, — ist das die umana commedia?
586.
V o m S t u n d e n z e i g e r d e s L e b e n s . — Das Leben besteht aus seltenen einzelnen Momenten von höchster Bedeutsamkeit und unzählig vielen Intervallen, in denen uns besten Falls die Schattenbilder jener Momente umschweben. Die Liebe, der Frühling, jede schöne Melodie, das Gebirge, der Mond, das Meer — Alles redet nur einmal ganz zum Herzen: wenn es überhaupt je ganz zu Worte kommt. Denn viele Menschen haben jene Momente gar nicht und sind selber Intervalle und Pausen in der Symphonie des wirklichen Lebens.
$87.
A n g r e i f e n o d e r e i n g r e i f e n . — Wir machen häufig den Fehler, eine Richtung oder Partei oder Zeit lebhaft anzufeinden, weil wir zufällig nur ihre veräusserlichte Seite, ihre Verkümmerung oder die ihnen nothwendig anhaftenden „Fehler ihrer Tugenden" zu sehen bekommen, — vielleicht weil wir selbst an diesen vornehmlich theilgenommen haben. Dann wenden wir ihnen den Rücken und suchen eine entgegengesetzte Richtung; aber das Bessere wäre, die starken guten Seiten aufzusuchen oder an sich selber auszubilden. Freilich gehört ein kräftigerer Blick und besserer Wille dazu, das Werdende und Unvollkommene zu fördern, als es in seiner Unvollkommenheit zu durchschauen und zu verleugnen.
338
Menschliches, Allzumenschliches I 588.
B e s c h e i d e n h e i t . — Es giebt wahre Bescheidenheit (das heisst die Erkenntniss, dass wir nicht unsere eigenen Werke sind); und recht wohl geziemt sie dem grossen Geiste, weil geJ rade er den Gedanken der völligen Unverantwortlichkeit (auch f ü r das Gute, was er schafft) fassen kann. Die Unbescheidenheit des Grossen hasst man nicht, insofern er seine K r a f t fühlt, sondern weil er seine K r a f t dadurch erst erfahren will, dass er die Anderen verletzt, herrisch behandelt und zusieht, wie weit sie es 10 aushalten. Gewöhnlich beweist diess sogar den Mangel an sicherem Gefühl der K r a f t und macht somit die Menschen an seiner Grösse zweifeln. Insofern ist Unbescheidenheit vom Gesichtspuncte der Klugheit aus sehr zu widerrathen.
589.
1$
D e s T a g e s e r s t e r G e d a n k e . — Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen an diesem Tage eine Freude machen könne. Wenn diess als ein Ersatz für die religiöse Gewöhnung des Gebetes gelten dürfte, so hätten die Mitmenschen 20 einen Vortheil bei dieser Aenderung.
590.
A n m a a s s u n g a l s l e t z t e s T r o s t m i t t e l . — Wenn man ein Missgeschick, seinen intellectuellen Mangel, seine Krankheit sich so zurecht legt, dass man hierin sein vorgezeichnetes 1$ Schicksal, seine Prüfung oder die geheimnissvolle Strafe für früher Begangenes sieht, so macht man sich sein eigenes Wesen dadurch interessant und erhebt sich in der Vorstellung über seine Mitmenschen. Der stolze Sünder ist eine bekannte Figur in allen kirchlichen Secten.
9. D e r Mensch m i t sich allein 588—593
339
59 1 V e g e t a t i o n d e s G l ü c k e s . — Dicht neben dem Wehe der Welt, und oft auf seinem vulcanischen Boden, hat der Mensch seine kleinen Gärten des Glückes angelegt; ob man das Leben mit 5 dem Blicke Dessen betrachtet, der vom Dasein Erkenntniss allein will, oder Dessen, der sich ergiebt und resignirt, oder Dessen, der an der überwundenen Schwierigkeit sich freut, — überall wird er etwas Glück neben dem Unheil aufgesprosst finden — und zwar um so mehr Glück, je vulcanischer der Boden war —, nur wäre es lächerlich, zu sagen, dass mit diesem Glück das Leiden selbst gerechtfertigt sei.
S9*-
D i e S t r a s s e d e r V o r f a h r e n . — Es ist vernünftig, wenn Jemand das T a l e n t , auf welches sein Vater oder Gross«S vater Mühe verwendet hat, an sich selbst weiter ausbildet und nicht zu etwas ganz Neuem umschlägt; er nimmt sich sonst die Möglichkeit, zum Vollkommenen in irgend einem H a n d w e r k zu gelangen. Desshalb sagt das Sprüchwort: „Welche Strasse sollst du reiten? — die deiner Vorfahren."
10
593E i t e l k e i t u n d E h r g e i z a l s E r z i e h e r . — So lange Einer noch nicht zum Werkzeug des allgemeinen menschlichen Nutzens geworden ist, mag ihn der Ehrgeiz peinigen; ist jenes Ziel aber erreicht, arbeitet er mit Nothwendigkeit wie eine Maschine zum Besten Aller, so mag dann die Eitelkeit kommen; sie wird ihn im Kleinen vermenschlichen, geselliger, erträglicher, nachsichtiger machen, dann, wenn der Ehrgeiz die grobe Arbeit (ihn nützlich zu machen) an ihm vollendet hat.
340
Menschliches, Allzumenschliches I
594P h i l o s o p h i s c h e N e u l i n g e . — H a t man die Weisheit eines Philosophen eben eingenommen, so geht man durch die Strassen mit dem Gefühle, als sei man umgeschaffen und ein 5 grosser Mann geworden; denn man findet lauter Solche, welche diese Weisheit nicht kennen, hat also über Alles eine neue unbekannte Entscheidung vorzutragen: weil man ein Gesetzbuch anerkennt, meint man jetzt auch sich als Richter gebärden zu müssen.
IO
595.
D u r c h M i s s f a l l e n g e f a l l e n . — Die Menschen, welche lieber auffallen und dabei missfallen wollen, begehren das Selbe wie Die, welche nicht auffallen und gefallen wollen, nur in einem viel höheren Grade und indirect, vermittelst einer Stufe, 15 durch welche sie sich scheinbar von ihrem Ziele entfernen. Sie wollen Einfluss und Macht, und zeigen desshalb ihre Ueberlegenheit, selbst so, dass sie unangenehm empfunden wird; denn sie wissen, dass Der, welcher endlich zur Macht gelangt ist, fast in Allem was er thut und sagt, gefällt, und dass selbst, wo er miss10 fällt, er doch noch zu gefallen scheint. — Auch der Freigeist, und ebenso der Gläubige, wollen Macht, um durch sie einmal zu gefallen; wenn ihnen ihrer Lehre wegen ein übeles Schicksal, Verfolgung, Kerker, Hinrichtung, droht, so freuen sie sich des Gedankens, dass ihre Lehre auf diese Weise der Menschheit eingeritzt 2$ und eingebrannt wird; sie nehmen es hin als ein schmerzhaftes, aber kräftiges, wenngleich spät wirkendes Mittel, um doch noch zur Macht zu gelangen.
596.
C a s u s b e l l i u n d A e h n l i p h e s . — Der Fürst, welcher 3° zu dem gefassten Entschlüsse, Krieg mit dem Nachbar zu führen,
9. D e r M e n s d i m i t sich allein 594—599
341
einen casus belli ausfindig macht, gleicht dem Vater, der seinem Kinde eine Mutter unterschiebt, welche fürderhin als solche gelten soll. Und sind nicht fast alle öffentlich bekannt gemachten Motive unserer Handlungen solche untergeschobene Mütter?
597-
L e i d e n s c h a f t u n d R e c h t . — Niemand spricht leidenschaftlicher von seinem Rechte, als Der, welcher im Grunde seiner Seele einen Zweifel an seinem Rechte hat. Indem er die Leidenschaft auf seine Seite zieht, will er den Verstand und dessen Zweifel betäuben: so gewinnt er das gute Gewissen und mit ihm den Erfolg bei den Mitmenschen.
598.
K u n s t g r i f f d e s E n t s a g e n d e n . — Wer gegen die Ehe protestirt nach Art der katholischen Priester wird diese nach ihrer niedrigsten, gemeinsten Auffassung zu verstehen suchen. Ebenso wer die Ehre bei den Zeitgenossen von sich abweist, wird deren Begriff niedrig fassen; so erleichtert er sich die Entbehrung und den Kampf dagegen. Uebrigens wird Der, welcher sich im Ganzen viel versagt, sich im Kleinen leicht Indulgenz geben. Es wäre möglich, dass Der, welcher über den Beifall der Zeitgenossen erhaben ist, doch die Befriedigung kleiner Eitelkeiten sich nicht versagen will.
599-
L e b e n s a l t e r d e r A n m a a s s u n g . — Zwischen dem sechsundzwanzigsten und dreissigsten Jahre liegt bei begabten Menschen die eigentliche Periode der Anmaassung; es ist die Zeit der ersten Reife, mit einem starken Rest von Säuerlichkeit. Man fordert auf Grund dessen, was man in sich fühlt, von Men-
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Menschliches, Allzumenschliches I
sehen, welche Nichts oder wenig davon sehen, Ehre und Demüthigung, und rächt sich, weil diese zunächst ausbleiben, durch jenen Blick, jene Gebärde der Anmaassung, jenen Ton der Stimme, die ein feines O h r und Auge an allen Productionen jenes Alters, seien es Gedichte, Philosophien, oder Bilder und Musik, wiedererkennt. Aeltere erfahrene Männer lächeln dazu und mit Rührung gedenken sie dieses schönen Lebensalters, in dem man böse über das Geschick ist, so viel zu s e i n und so wenig zu s c h e i n e n . Später s c h e i n t man wirklich mehr, — aber man hat den guten Glauben verloren, viel zu s e i n : man bleibe denn zeitlebens ein unverbesserlicher N a r r der Eitelkeit.
6 oo.
T r ü g e r i s c h u n d d o c h h a l t b a r . — Wie man, um an einem Abgrund vorbeizugehen oder einen tiefen Bach auf einem Balken zu überschreiten, eines Geländers bedarf, nicht um sich daran festzuhalten, — denn es würde sofort mit Einem zusammenbrechen, sondern um die Vorstellung der Sicherheit für das Auge zu erwecken, — so bedarf man als Jüngling solcher Personen, welche uns unbewusst den Dienst jenes Geländers erweisen; es ist wahr, sie würden uns nicht helfen, wenn wir uns wirklich, in grosser Gefahr, auf sie stützen wollten, aber sie geben die beruhigende Empfindung des Schutzes in der N ä h e (zum Beispiel Väter, Lehrer, Freunde, wie sie, alle drei, gewöhnlich sind).
6oi.
L i e b e n l e r n e n . — Man muss lieben lernen, gütig sein lernen, und diess von Jugend auf; wenn Erziehung und Zufall uns keine Gelegenheit zur Uebung dieser Empfindungen geben, so wird unsere Seele trocken und selbst zu einem Verständnisse jener zarten Erfindungen liebevoller Menschen ungeeignet. Ebenso muss der Hass gelernt und genährt werden, wenn Einer
9. D e r Mensch m i t sich allein 599—604
343
ein tüchtiger Hasser werden will: sonst wird auch der Keim dazu alimählich absterben.
602. D i e R u i n e a l s S c h m u c k . — Solche, die viele geistige Wandlungen durchmachen, behalten einige Ansichten und Gewohnheiten früherer Zustände bei, welche dann wie ein Stück unerklärlichen Alterthums und grauen Mauerwerks in ihr neues Denken und Handeln hineinragen: oft zur Zierde der ganzen Gegend.
603. L i e b e u n d E h r e . — Die Liebe begehrt, die Furcht meidet. Daran liegt es, dass man nicht zugleich von derselben Person wenigstens in dem selben Zeiträume, geliebt und geehrt werden kann. Denn der Ehrende erkennt die Macht an, das heisst er fürchtet sie: sein Zustand ist Ehr-furcht. Die Liebe aber erkennt keine Macht an, Nichts was trennt, abhebt, überund unterordnet. Weil sie nicht ehrt, so sind ehrsüchtige Menschen insgeheim oder öffentlich gegen das Geliebtwerden widerspänstig.
604. V o r u r t h e i l f ü r d i e k a l t e n M e n s c h e n . — Menschen, welche rasch Feuer fangen, werden schnell kalt und sind daher im Ganzen unzuverlässig. Desshalb giebt es f ü r alle Die, welche immer kalt sind oder sich so stellen, das günstige Vorurtheil, dass es besonders vertrauenswerthe zuverlässige Menschen seien: man verwechselt sie mit Denen, welche langsam Feuer fangen und es lange festhalten.
344
Menschliches, Allzumenschlidies I
605. D a s G e f ä h r l i c h e a n f r e i e n M e i n u n g e n . — Das leichte Befassen mit freien Meinungen giebt einen Reiz, wie eine A r t Jucken; giebt man ihm mehr nach, so fängt man an, die Stellen zu reiben; bis zuletzt eine offene schmerzende Wunde entsteht, das heisst: bis die freie Meinung uns in unserer Lebensstellung, unsern menschlichen Beziehungen zu stören, zu quälen beginnt.
606. B e g i e r d e n a c h t i e f e m S c h m e r z . — Die Leidenschaft lässt, wenn sie vorüber ist, eine dunkele Sehnsucht nach sich selber zurück und wirft im Verschwinden noch einen verführerischen Blick zu. Es muss doch eine Art von Lust gewährt haben, mit ihrer Geissei geschlagen worden zu sein. Die mässigeren Empfindungen erscheinen dagegen schaal; man will, wie es scheint, die heftigere Unlust immer noch lieber als die matte Lust.
607. U n m u t h ü b e r A n d e r e u n d d i e W e l t . — W e n n wir, wie so häufig, unsern Unmuth an Anderen auslassen, während wir ihn eigentlich über uns empfinden, erstreben wir im Grunde eine Umnebelung und Täuschung unseres Urtheils: wir wollen diesen Unmuth a posteriori motiviren durch die Versehen, Mängel der Anderen und uns selber so aus den Augen verlieren. — Die religiös strengen Menschen, welche gegen sich selber unerbittliche Richter sind, haben zugleich am meisten Uebles der Menschheit überhaupt nachgesagt: ein Heiliger, weldaer sich die Sünden und den Anderen die Tugenden vorbehält, hat nie gelebt: ebensowenig wie Jener, welcher nach Buddha's Vorschrift sein Gutes vor den Leuten verbirgt und ihnen sein Böses allein sehen lässt.
9. D e r Mensch m i t sich allein 605—610
345
608. U r s a c h e u n d W i r k u n g v e r w e c h s e l t . — Wir suchen unbewusst die Grundsätze und Lehrmeinungen, welche unserem Temperamente angemessen sind, so dass es zuletzt so aussieht, als ob die Grundsätze und Lehrmeinungen unseren Charakter geschaffen, ihm H a l t und Sicherheit gegeben hätten: während es gerade umgekehrt zugegangen ist. Unser Denken und Urtheilen soll nachträglich, so scheint es, zur Ursache unseres Wesens gemacht werden: aber thatsächlich ist unser Wesen die Ursache, dass wir so und so denken und urtheilen. — U n d was bestimmt uns zu dieser fast unbewussten Komödie? Die Trägheit und Bequemlichkeit und nicht am wenigsten der Wunsch der Eitelkeit, durch und durch als consistent, in Wesen und Denken einartig erfunden zu werden: denn diess erwirbt Achtung, giebt Vertrauen und Macht.
609. L e b e n s a l t e r u n d W a h r h e i t . — Junge Leute lieben das Interessante und Absonderliche, gleichgültig wie wahr oder falsch es ist. Reifere Geister lieben Das an der Wahrheit, was an ihr interessant und absonderlich ist. Ausgereifte Köpfe endlich lieben die Wahrheit auch in Dem, wo sie schlicht und einfältig erscheint und dem gewöhnlichen Menschen Langeweile macht, weil sie gemerkt haben, dass die Wahrheit das Höchste an Geist, was sie besitzt, mit der Miene der Einfalt zu sagen pflegt.
610. D i e M e n s c h e n a l s s c h l e c h t e D i c h t e r . — So wie schlechte Dichter im zweiten Theil des Verses zum Reime den Gedanken suchen, so pflegen die Menschen in der zweiten H ä l f t e des Lebens, ängstlicher geworden, die Handlungen, Stellungen, Verhältnisse zu suchen, welche zu denen ihres früheren Lebens
346
Menschliches, Allzumenschliches I
passen, so dass äusserlich Alles wohl zusammenklingt: aber ihr Leben ist nicht mehr von einem starken Gedanken beherrscht und immer wieder neu bestimmt, sondern an die Stelle desselben tritt die Absicht, einen Reim zu finden.
5
6 ir.
L a n g e w e i l e u n d S p i e l . — Das Bedürfniss zwingt uns zur Arbeit, mit deren Ertrage das Bedürfniss gestillt wird; das immer neue Erwachen der Bedürfnisse gewöhnt uns an die Arbeit. In den Pausen aber, in welchen die Bedürfnisse gestillt io sind und gleichsam schlafen, überfällt uns die Langeweile. Was ist diese? Es ist die Gewöhnung an Arbeit überhaupt, welche sich jetzt als neues, hinzukommendes Bedürfniss geltend macht; sie wird um so stärker sein, je stärker Jemand gewöhnt ist zu arbeiten, vielleicht sogar je stärker Jemand an Bedürfnissen gei j litten hat. U m der Langeweile zu entgehen, arbeitet der Mensch entweder über das Maass seiner sonstigen Bedürfnisse hinaus oder er erfindet das Spiel, das heisst die Arbeit, welche kein anderes Bedürfniss stillen soll, als das nach Arbeit überhaupt. Wer des Spieles überdrüssig geworden ist und durch neue Bedürf20 nisse keinen Grund zur Arbeit hat, den überfällt mitunter das Verlangen nach einem dritten Zustand, welcher sich zum Spiel verhält, wie Schweben zum Tanzen, wie Tanzen zum Gehen, nach einer seligen, ruhigen Bewegtheit: es ist die Vision der Künstler und Philosophen von dem Glück.
2J
612.
L e h r e a u s B i l d e r n . — Betrachtet man eine Reihe Bilder von sich selber, von den Zeiten der letzten Kindheit bis zu der der Mannesreife, so findet man mit einer angenehmen Verwunderung, dass der Mann dem Kinde ähnlicher sieht, als der 3° Mann dem Jünglinge: dass also, wahrscheinlich diesem Vorgange
9. D e r Mensch m i t sich allein 610—613
347
entsprechend, inzwischen eine zeitweilige Alienation vom Grundcharakter eingetreten ist, über welche die gesammelte, geballte Kraft des Mannes wieder Herr wurde. Dieser Wahrnehmung entspricht die andere, dass alle die starken Einwirkungen von $ Leidenschaften, Lehrern, politischen Ereignissen, welche in dem Jünglingsalter uns herumziehen, später wieder auf ein festes Maass zurückgeführt erscheinen: gewiss, sie leben und wirken in uns fort, aber das Grundempfinden und Grundmeinen hat doch die Uebermacht und benutzt sie wohl als Kraftquellen, nicht aber mehr als Regulatoren, wie diess wohl in den zwanziger Jahren geschieht. So erscheint auch das Denken und Empfinden des Mannes dem seines kindlichen Lebensalters wieder gemässer, — und diese innere Thatsache spricht sich in der erwähnten äusseren aus. is
613.
S t i m m k l a n g d e r L e b e n s a l t e r . — Der Ton, in dem Jünglinge reden, loben, tadeln, dichten, missfällt dem Aeltergewordenen, weil er zu laut ist und zwar zugleich dumpf und undeutlich wie der Ton in einem Gewölbe, der durch die Leerheit 20 eine solche Schallkraft bekommt; denn das Meiste, was Jünglinge denken, ist nicht aus der Fülle ihrer eigenen N a t u r herausgeströmt, sondern ist Anklang, Nachklang von dem, was in ihrer N ä h e gedacht, geredet, gelobt, getadelt worden ist. Weil aber die Empfindungen (der Neigung und Abneigung) viel stärker, 1 5 als die Gründe für jene, in ihnen nachklingen, so entsteht, wenn sie ihre Empfindung wieder laut werden lassen, jener dumpfe, hallende Ton, welcher f ü r die Abwesenheit oder die Spärlichkeit von Gründen das Kennzeichen abgiebt. Der Ton des reiferen Alters ist streng, kurz abgebrochen, massig laut, aber, wie 3° alles deutlich Articulirte, sehr weit tragend. Das Alter endlich bringt häufig eine gewisse Milde und Nachsicht in den Klang und verzuckert ihn gleichsam: in manchen Fällen freilich versäuert sie ihn auch.
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Menschliches, Allzumenschliches I
614.
5
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ij
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Zurückgebliebene und vorwegnehmende M e n s c h e n . — Der unangenehme Charakter, welcher voller Misstrauen ist, alles glückliche Gelingen der Mitbewerbenden und Nächsten mit Neid fühlt, gegen abweichende Meinungen gewaltthätig und aufbrausend ist, zeigt, dass er einer früheren Stufe der Cultur zugehört, also ein Ueberbleibsel ist: denn die Art, in welcher er mit den Menschen verkehrt, war die rechte und zutreffende f ü r die Zustände eines Faustrecht-Zeitalters; es ist ein z u r ü c k g e b l i e b e n e r Mensch. Ein anderer Charakter, welcher reich an Mitfreude ist, überall Freunde gewinnt, alles Wachsende und Werdende liebevoll empfindet, alle Ehren und Erfolge Anderer mitgeniesst und kein Vorrecht, das Wahre allein zu erkennen, in Anspruch nimmt, sondern voll eines bescheidenen Misstrauens ist, — das ist ein vorwegnehmender Mensch, welcher einer höheren Cultur der Menschen entgegenstrebt. Der unangenehme Charakter stammt aus den Zeiten, w o die rohen Fundamente des menschlichen Verkehrs erst zu bauen waren, der andere lebt auf deren höchsten Stockwerken, mögliehst entfernt von dem wilden Thier, welches in den Kellern, unter den Fundamenten der Cultur, eingeschlossen wüthet und heult. 615.
T r o s t f ü r H y p o c h o n d e r . — Wenn ein grosser Denker i j zeitweilig hypochondrischen Selbstquälereien unterworfen ist, so mag er sich zum Tröste sagen: „es ist deine eigene grosse Kraft, von der dieser Parasit sich nährt und wächst; wäre sie geringer, so würdest du weniger zu leiden haben." Ebenso mag der Staatsmann sprechen, wenn Eifersucht und Rachegefühl, 3° überhaupt die Stimmung des bellum omnium contra omnes, zu der er als Vertreter einer Nation nothwendig eine starke Begabung haben muss, sich gelegentlich auch in seine persönlichen Beziehungen eindrängt und ihm das Leben schwer macht.
9. D e r Mensch m i t sich allein 614—618
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616. D e r G e g e n w a r t e n t f r e m d e t . — Es hat grosse Vortheile, seiner Zeit sich einmal in stärkerem Maasse zu entfremden und gleichsam von ihrem U f e r zurück in den Ocean der vergan5 genen Weltbetrachtungen getrieben zu werden. Von dort aus nach der Küste zu blickend, überschaut man wohl zum ersten Male ihre gesammte Gestaltung und hat, wenn man sich ihr wieder nähert, den Vortheil, sie besser im Ganzen zu verstehen, als Die, welche sie nie verlassen haben. io
617. Auf p e r s ö n l i c h e n M ä n g e l n säen und ernt e n . — Menschen wie Rousseau verstehen es, ihre Schwächen, Lücken, Laster gleichsam als Dünger ihres Talentes zu benutzen. Wenn Jener die Verdorbenheit und Entartung der Gesellschaft 15 als leidige Folge der Cultur beklagt, so liegt hier eine persönliche Erfahrung zu Grunde; deren Bitterkeit giebt ihm die Schärfe seiner allgemeinen Verurtheilung und vergiftet die Pfeile, mit denen er schiesst; er entlastet sich zunächst als ein Individuum und denkt ein Heilmittel zu suchen, das direct der 20 Gesellschaft, aber indirect und vermittelst jener, auch ihm zu Nutze ist. 618. P h i l o s o p h i s c h g e s i n n t s e i n . — Gewöhnlich strebt man darnach, f ü r alle Lebenslagen und Ereignisse e i n e H a l 25 tung des Gemüthes, e i n e Gattung von Ansichten zu erwerben, — das nennt man vornehmlich philosophisch gesinnt sein. Aber f ü r die Bereicherung der Erkenntniss mag es höheren Werth haben, nicht in dieser Weise sich zu uniformiren, sondern auf die leise Stimme der verschiedenen Lebenslagen zu hören; diese 3° bringen ihre eigenen Ansichten mit sich. So nimmt man erkennenden Antheil am Leben und Wesen Vieler, indem man sich selber nicht als starres, beständiges, Eines Individuum behandelt.
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Menschliches, Allzumenschlidies I
619. I m F e u e r d e r V e r a c h t u n g . — Es ist ein neuer Schritt zum Selbständigwerden, wenn man erst Ansichten zu äussern wagt, die als schmählich für Den gelten, welcher sie hegt; da 5 pflegen auch die Freunde und Bekannten ängstlich zu werden. Auch durch dieses Feuer muss die begabte Natur hindurch; sie gehört sich hinterdrein noch vielmehr selber an.
620. A u f o p f e r u n g . — Die grosse Aufopferung wird, im Falle 10 der Wahl, einer kleinen Aufopferung vorgezogen: weil wir f ü r die grosse uns durch Selbstbewunderung entschädigen, was uns bei der kleinen nicht möglich ist.
621. L i e b e a l s K u n s t g r i f f . — Wer etwas Neues wirklich k e n n e n lernen will (sei es ein Mensch, ein Ereigniss, ein Buch), der thut gut, dieses Neue mit aller möglichen Liebe aufzunehmen, von Allem, was ihm daran feindlich, anstössig, falsch vorkommt, schnell das Auge abzuwenden, ja es zu vergessen: so dass man zum Beispiel dem Autor eines Buches den grössten Vorsprung 20 giebt und geradezu, wie bei einem Wettrennen, mit klopfendem Herzen danach begehrt, dass er sein Ziel erreiche. Mit diesem Verfahren dringt man nähmlich der neuen Sache bis an ihr Herz, bis an ihren bewegenden Punct: und diess heisst eben sie kennen lernen. Ist man soweit, so macht der Verstand hinterdrein seine 25 Restrictionen; jene Ueberschätzung, jenes zeitweilige Aushängen des kritischen Pendels w a r eben nur der Kunstgriff, die Seele einer Sache herauszulocken.
15
9. D e r M e n s d i m i t sich allein 619—624
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622. Zu g u t u n d zu s c h l e c h t v o n d e r W e l t d e n k e n . — O b man zu gut oder zu schlecht von den Dingen denkt, man hat immer den Vortheil dabei, eine höhere Lust einzuernten: denn bei einer vorgefassten zu guten Meinung legen wir gewöhnlich mehr Süssigkeit in die Dinge (Erlebnisse) hinein, als sie eigentlich enthalten. Eine vorgefasste zu schlechte Meinung verursacht eine angenehme Enttäuschung: das Angenehme, das an sich in den Dingen lag, bekommt einen Zuwachs durch das Angenehme der Ueberraschung. — Ein finsteres Temperament wird übrigens in beiden Fällen die umgekehrte Erfahrung machen.
623. T i e f e M e n s c h e n . — Diejenigen, welche ihre Stärke in der Vertiefung der Eindrücke haben — man nennt sie gewöhnlich tiefe Menschen — sind bei allem Plötzlichen verhältnissmässig gefasst und entschlossen: denn im ersten Augenblick war der Eindruck noch flach, er w i r d dann erst tief. Lange vorhergesehene, erwartete Dinge oder Personen regen aber solche N a turen am meisten auf und machen sie fast unfähig, bei der endlichen Ankunft derselben noch Gegenwärtigkeit des Geistes zu haben.
624. V e r k e h r m i t d e m h ö h e r e n S e l b s t . — Ein Jeder hat seinen guten Tag, wo er sein höheres Selbst findet; und die wahre Humanität verlangt, Jemanden nur nach diesem Zustande und nicht nach den Werktagen der Unfreiheit und Knechtung zu schätzen. Man soll zum Beispiel einen Maler nach seiner höchsten Vision, die er zu sehen und darzustellen vermochte, taxiren und verehren. Aber die Menschen selber verkehren sehr ver-
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schieden mit diesem ihrem höheren Selbst und sind häufig ihre eigenen Schauspieler, insofern sie Das, was sie in jenen Augenblicken sind, später immer wieder nachmachen. Manche leben in Scheu und Demuth vor ihrem Ideale und möchten es verleug5 nen: sie fürchten ihr höheres Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll redet. Dazu hat es eine geisterhafte Freiheit zu kommen und fortzubleiben wie es will; es wird desswegen häufig eine Gabe der Götter genannt, während eigentlich alles Andere Gabe der Götter (des Zufalls) ist: jenes aber ist der io Mensch selber.
625. E i n s a m e M e n s c h e n . — Manche Menschen sind so sehr an das Alleinsein mit sich selber gewöhnt, dass sie sich gar nicht mit Anderen vergleichen, sondern in einer ruhigen, freudigen i j Stimmung, unter guten Gesprächen mit sich, ja mit Lachen ihr monologisches Leben fortspinnen. Bringt man sie aber dazu, sich mit Anderen zu vergleichen, so neigen sie zu einer grübelnden Unterschätzung ihrer selbst: so dass sie gezwungen werden müssen, eine gute, gerechte Meinung über sich erst von Anderen io wieder zu l e r n e n : und auch von dieser erlernten Meinung werden sie immer wieder Etwas abziehen und abhandeln wollen. — Man muss also gewissen Menschen ihr Alleinsein gönnen und nicht so albern sein, wie es häufig geschieht, sie desswegen zu bedauern.
626. O h n e M e l o d i e . — Es giebt Mensdhen, denen ein stätiges Beruhen in sich selbst und ein harmonisches Sich-zurecht-legen aller ihrer Fähigkeiten so zu eigen ist, dass ihnen jede zielesetzende Thätigkeit widerstrebt. Sie gleichen einer Musik, 3° welche aus lauter langgezogenen harmonischen Accorden be-
9. Der Mensdi mit sich allein 624—627
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steht, ohne dass je auch nur der Ansatz zu einer gegliederten bewegten Melodie sich zeigte. Alle Bewegung von Aussen her dient nur, dem Kahne sofort wieder sein neues Gleichgewicht auf dem See harmonischen Wohlklangs zu geben. Moderne Men5 sehen werden gewöhnlich auf's Aeusserste ungeduldig, wenn sie solchen Naturen begegnen, aus denen Nichts w i r d , ohne dass man ihnen sagen dürfte, dass sie Nichts s i n d . Aber in einzelnen Stimmungen erregt ihr Anblick jene ungewöhnliche Frage: wozu überhaupt Melodie? Warum genügt es uns nicht, io wenn das Leben sich ruhevoll in einem tiefen See spiegelt? — Das Mittelalter war reicher an solchen Naturen als unsere Zeit. Wie selten trifft man noch auf einen, der so recht friedlich und froh mit sich auch im Gedränge fortleben kann, zu sich redend wie Goethe: „das Beste ist die tiefe Stille, in der ich gegen die 15 Welt lebe und wachse, und gewinne, was sie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen können."
627. L e b e n u n d E r l e b e n . — Sieht man zu, wie Einzelne mit ihren Erlebnissen — ihren unbedeutenden alltäglichen 20 Erlebnissen — umzugehen wissen, so dass diese zu einem Ackerland werden, das dreimal des Jahres Frucht trägt; während Andere — und wie Viele! — durch den Wogenschlag der aufregendsten Schicksale, der mannigfaltigsten Zeit- und Volksströmungen hindurchgetrieben werden und doch immer 25 leicht, immer obenauf, wie K o r k , bleiben: so ist man endlich versucht, die Menschheit in eine Minorität (Minimalität) Solcher einzutheilen, welche aus Wenigem Viel zu machen verstehen: und in eine Majorität Derer, welche aus Vielem Wenig zu machen verstehen; ja man trifft auf jene umgekehrten Hexenmeister, 30 welche, anstatt die Welt aus Nichts, aus der Welt ein Nichts schaffen.
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628. E r n s t i m S p i e l e . — In Genua hörte ich zur Zeit der Abenddämmerung von einem Thurme her ein langes Glockenspiel: das wollte nicht enden und klang, wie unersättlich an sich 5 selber, über das Geräusch der Gassen in den Abendhimmel und die Meerlufl hinaus, so schauerlich, so kindisch zugleich, so wehmuthsvoll. D a gedachte ich der Worte Plato's und fühlte sie auf einmal im Herzen: a l l e s M e n s c h l i c h e insgesammt ist des g r o s s e n E r n s t e s n i c h t w e r t h ; trotz10 d e m 629. Von der U e b e r z e u g u n g und der G e r e c h t i g k e i t . — Das, was der Mensch in der Leidenschaft sagt, verspricht, beschliesst, nachher in Kälte und Nüchternheit zu vertreten — diese Forderung gehört zu den schwersten Lasten, welche die Menschheit drücken. Die Folgen des Zornes, der aufflammenden Rache, der begeisterten Hingebung in alle Zukunft hin anerkennen zu müssen — das kann zu einer um so grösseren Erbitterung gegen diese Empfindungen reizen, je mehr gerade 20 mit ihnen allerwärts und namentlich von den Künstlern ein Götzendienst getrieben wird. Diese züchten die S c h ä t z u n g d e r L e i d e n s c h a f t e n gross und haben es immer gethan; freilich verherrlichen sie auch die furchtbaren Genugthuungen der Leidenschaft, welche Einer an sich selber nimmt, jene Racheausbräche mit Tod, Verstümmelung, freiwilliger Verbannung im Gefolge, und jene Resignation des zerbrochnen Herzens. Jedenfalls: halten sie die Neugierde nach den Leidenschaften wach, es ist, als ob sie sagen wollten: ihr habt ohne Leidenschaften gar Nichts erlebt. — Weil man Treue geschworen, vielleicht gar 3° einem rein fingirten Wesen, wie einem Gotte, weil man sein Herz hingegeben hat, einem Fürsten, einer Partei, einem Weibe, einem priesterlichen Orden, einem Künstler, einem Denker, im Zustande eines verblendeten Wahnes, welcher Entzückung über
9. D e r Mensch m i t sich allein 6 2 8 — 6 2 9
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uns legte und jene Wesen als jeder Verehrung, jedes Opfers würdig erscheinen Hess — ist man nun unentrinnbar fest gebunden? J a haben wir uns denn damals nicht selbst betrogen? War es nicht ein hypothetisches Versprechen, unter der freilich nicht laut gewordenen Voraussetzung, dass jene Wesen, denen wir uns weihten wirklich die Wesen sind, als welche sie in unserer Vorstellung erschienen? Sind wir verpflichtet, unsern Irrthümern treu zu sein, selbst mit der Einsicht, dass wir durch diese Treue an unserem höheren Selbst Schaden stiften? — Nein, es giebt kein Gesetz, keine Verpflichtung der Art, wir m ü s s e n Verräther werden, Untreue üben,unsere Ideale immer wieder preisgeben. Aus einer Periode des Lebens in die andere schreiten wir nicht, ohne diese Schmerzen des Verrathes zu machen und auch daran wieder zu leiden. Wäre es nöthig, dass wir uns, um diesen Schmerzen zu entgehen, vor den Aufwallungen unserer Empfindung hüten müssten? Würde dann die Welt nicht zu öde, zu gespenstisch für uns werden? Vielmehr wollen wir uns fragen, ob diese Schmerzen bei einem Wechsel der Ueberzeugung n o t h w e n d i g sind oder ob sie nicht von einer i r r t h ü m l i e h e n Meinung und Schätzung abhängen. Warum bewundert man Den, welcher seiner Ueberzeugung treu bleibt, und verachtet Den, welcher sie wechselt? Ich fürchte, die Antwort muss sein: weil Jedermann voraussetzt, dass nur Motive gemeineren Vortheils oder persönlicher Angst einen solchen Wechsel veranlassen. D a s heisst: man glaubt im Grunde, dass Niemand seine Meinungen verändert, so lange sie ihm vortheilhaft sind, oder wenigstens so lange sie ihm keinen Schaden bringen. Steht es aber so, so liegt darin ein schlimmes Zeugniss über die i n t e l l e c t u e l l e Bedeutung aller Ueberzeugungen. Prüfen wir einmal, wie Ueberzeugungen entstehen, und sehen wir zu, ob sie nicht bei Weitem überschätzt werden: dabei wird sich ergeben, dass auch der W e c h s e l von Ueberzeugungen unter allen Umständen nach falschem Maasse bemessen wird und dass wir bisher zu viel an diesem Wechsel zu leiden pflegten.
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630.
Ueberzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puñete der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen; endlich, dass Jeder, der Ueberzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Ueberzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens ist; er steht im Alter der theoretischen Unschuld vor uns und ist ein Kind, wie erwachsen er auch sonst sein möge. Ganze Jahrtausende aber haben in jenen kindlichen Voraussetzungen gelebt und aus ihnen sind die mächtigsten Kraftquellen der Menschheit herausgeströmt. Jene zahllosen Menschen, welche sich f ü r ihre Ueberzeugungen opferten, meinten es f ü r die unbedingte Wahrheit zu thun. Sie alle hatten Unrecht darin: wahrscheinlich hat noch nie ein Mensch sich für die Wahrheit geopfert; mindestens wird der dogmatische Ausdruck seines Glaubens unwissenschaftlich oder halbwissenschaftlich gewesen sein. Aber eigentlich wollte man Recht behalten, weil man meinte, Recht haben zu m ü s s e n . Seinen Glauben sich entreissen lassen, das bedeutete vielleicht seine ewige Seligkeit in Frage stellen. Bei einer Angelegenheit von dieser äussersten Wichtigkeit war der „Wille" gar zu hörbar der Souffleur des Intellects. Die Voraussetzung jedes Gläubigen jeder Richtung war, nicht widerlegt werden zu k ö n n e n ; erwiesen sich die Gegengründe als sehr stark, so blieb ihm immer noch übrig, die Vernunft überhaupt zu verlästern und vielleicht gar das „credo quia absurdum est" als Fahne des äussersten Fanatismus aufzupflanzen. Es ist nicht der Kampf der Meinungen, welcher die Geschichte so gewaltthätig gemacht hat, sondern der Kampf des Glaubens an die Meinungen, das heisst der Ueberzeugungen. Wenn doch alle Die, welche so gross von ihrer Ueberzeugung dachten, Opfer aller Art ihr brachten und Ehre, Leib und Leben in ihrem Dienste nicht schonten, nur die H ä l f t e
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9. D e r Mensch m i t sich allein 630—631
ihrer K r a f t der Untersuchung gewidmet hätten, mit welchem Rechte sie an dieser oder jener Ueberzeugung hiengen,
auf
welchem Wege sie zu ihr gekommen seien: w i e f r i e d f e r t i g sähe die Geschichte der Menschheit aus! Wieviel mehr des Erkannten 5 w ü r d e es geben! A l l e die grausamen Scenen bei der V e r f o l g u n g der K e t z e r jeder A r t w ä r e n uns aus zwei G r ü n d e n erspart geblieben: einmal weil die Inquisitoren v o r A l l e m in sich selbst inquirirt hätten und über die Anmaassung, die unbedingte W a h r heit zu vertheidigen, hinausgekommen w ä r e n ; sodann weil die io K e t z e r selber so schlecht begründeten Sätzen, w i e die Sätze aller religiösen Sectirer und „Rechtgläubigen"
sind, keine weitere
Theilnahme geschenkt haben würden, nachdem sie dieselben untersucht hätten.
631. 15
A u s den Zeiten her, in welchen Menschen daran gewöhnt w a r e n , an den Besitz der unbedingten Wahrheit zu glauben, stammt ein tiefes M i s s b e h a g e n
an allen skeptischen und
relativistischen Stellungen zu irgendwelchen Fragen der
Er-
kenntniss; man zieht meistens v o r , sich einer Ueberzeugung, 20 welche Personen v o n A u t o r i t ä t haben (Väter, Freunde, Lehrer, Fürsten), auf G n a d e oder U n g n a d e zu ergeben, und hat, wenn man diess nicht thut, eine A r t von Gewissensbissen. Dieser H a n g ist ganz begreiflich und seine Folgen geben kein Recht zu heftigen V o r w ü r f e n gegen die Entwickelung der menschlichen V e r 25 nunft. Allmählich
muss aber der wissenschaftliche Geist
Menschen jene T u g e n d der v o r s i c h t i g e n
im
Enthaltung
zeitigen, jene weise Mässigung, welche im Gebiet des praktischen Lebens bekannter ist, als im Gebiet des theoretischen Lebens, und welche zum Beispiel Goethe im A n t o n i o dargestellt hat, 30 als einen Gegenstand der E r b i t t e r u n g f ü r alle Tasso's, das heisst f ü r die unwissenschaftlichen und zugleich thatlosen N a t u r e n . D e r Mensch der Ueberzeugung hat in sich ein Recht, jenen Men-
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sehen des vorsichtigen Denkens, den theoretischen Antonio nicht zu begreifen; der wissenschaftliche Mensch hinwiederum hat kein Recht, jenen desshalb zu tadeln, er übersieht ihn und weiss ausserdem, im bestimmten Falle, dass Jener sich an ihn noch anklammern wird, so wie es Tasso zuletzt mit Antonio thut.
632.
Wer nicht durch verschiedene Ueberzeugungen hindurchgegangen ist, sondern in dem Glauben hängen bleibt, in dessen N e t z er sich zuerst verfieng, ist unter allen Umständen eben wegen dieser Unwandelbarkeit ein Vertreter z u r ü c k g e b l i e b e n e r Culturen; er ist gemäss diesem Mangel an Bildung (welche immer Bildbarkeit voraussetzt) hart, unverständig, unbelehrbar, ohne Milde, ein ewiger Verdächtiger, ein Unbedenklicher, der zu allen Mitteln greift, seine Meinung durchzusetzen, weil er gar nicht begreifen kann, dass es andere Meinungen geben müsse; er ist, in solchem Betracht, vielleicht eine Kraftquelle und in allzu frei und schlaff gewordenen Culturen sogar heilsam, aber doch nur, weil er kräftig anreizt, ihm Widerpart zu halten: denn dabei wird das zartere Gebilde der neuen Cultur, welche zum K a m p f mit ihm gezwungen ist, selber stark.
633.
Wir sind im Wesentlichen noch dieselben Menschen, wie die des Zeitalters der Reformation: wie sollte es auch anders sein? Aber dass wir uns einige Mittel nicht mehr erlauben, um mit ihnen unsrer Meinung zum Siege zu verhelfen, das hebt uns gegen jene Zeit ab und beweist, dass wir einer höhern Cultur angehören. Wer jetzt noch, in der A r t der Reformations-Menschen, Meinungen mit Verdächtigungen, mit Wuthausbrüchen bekämpft und niederwirft, verräth deutlich, dass er seine Gegner verbrannt haben würde, falls er in anderen Zeiten gelebt hätte,
9. D e r Mensch m i t sich allein 631—634
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und dass er zu allen Mitteln der Inquisition seine Zuflucht genommen haben würde, wenn er als Gegner der Reformation gelebt hätte. Diese Inquisition war damals vernünftig, denn sie bedeutete nichts Anderes, als den allgemeinen Belagerungszustand, welcher über den ganzen Bereich der Kirche verhängt werden musste, und der, wie jeder Belagerungszustand, zu den äussersten Mitteln berechtigte, unter der Voraussetzung nämlich (welche wir jetzt nicht mehr mit jenen Menschen theilen), dass man die Wahrheit, in der Kirche, h a b e , und um jeden Preis mit jedem O p f e r zum Heile der Menschheit bewahren m ü s s e . Jetzt aber giebt man Niemandem so leicht mehr zu, dass er die Wahrheit habe: die strengen Methoden der Forschung haben genug Misstrauen und Vorsicht verbreitet, so dass Jeder, welcher gewaltthätig in Wort und Werk Meinungen vertritt, als ein Feind unserer jetzigen Cultur, mindestens als ein zurückgebliebener empfunden wird. In der That: das Pathos, dass man die Wahrheit habe, gilt jetzt sehr wenig im Verhältniss zu jenem freilich milderen und klanglosen Pathos des Wahrheit-Suchens, welches nicht müde wird, umzulernen und neu zu prüfen.
634.
Uebrigens ist das methodische Suchen der Wahrheit selber das Resultat jener Zeiten, in denen die Ueberzeugungen mit einander in Fehde lagen. Wenn nicht dem Einzelnen an s e i n e r „Wahrheit", das heisst an seinem Rechtbehalten gelegen hätte, so gebe es überhaupt keine Methode der Forschung; so aber, bei dem ewigen Kampfe der Ansprüche verschiedener Einzelner auf unbedingte Wahrheit, gieng man Schritt vor Schritt weiter, um unumstössliche Prinzipien zu finden, nach denen das Recht der Ansprüche geprüft und der Streit geschlichtet werden könne. Zuerst entschied man nach Autoritäten, später kritisirte man sich gegenseitig die Wege und Mittel, mit denen die angebliche Wahrheit gefunden worden war; dazwischen gab es eine Periode,
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wo man die Consequenzen des gegnerischen Satzes zog und vielleicht sie als schädlich und unglücklich machend erfand: woraus dann sich für Jedermanns Urtheil ergeben sollte, dass die Ueberzeugung des Gegners einen Irrthum enthalte. D e r p e r 5 sönliche Kampf d e r D e n k e r hat schliesslich die Methoden so verschärft, dass wirklich Wahrheiten entdeckt werden konnten und dass die Irrgänge früherer Methoden vor Jedermanns Blicken biosgelegt sind.
635.
10
15
20
25
30
Im Ganzen sind die wissenschaftlichen Methoden mindestens ein ebenso wichtiges Ergebniss der Forschung als irgend ein sonstiges Resultat: denn auf der Einsicht in die Methode beruht der wissenschaftliche Geist, und alle Resultate der Wissenschaft könnten, wenn jene Methoden verloren giengen, ein erneutes Ueberhandnehmen des Aberglaubens und des Unsinns nicht verhindern. Es mögen geistreiche Leute von den Ergebnissen der Wissenschaft l e r n e n so viel sie wollen: man merkt es immer noch ihrem Gespräche und namentlich den Hypothesen in demselben an, dass ihnen der wissenschaftliche Geist fehlt: sie haben nicht jenes instinctive Misstrauen gegen die Abwege des Denkens, welches in der Seele jedes wissenschaftlichen Menschen in Folge langer Uebung seine Wurzeln eingeschlagen hat. Ihnen genügt es, über eine Sache überhaupt irgendeine Hypothese zu finden, dann sind sie Feuer und Flamme für dieselbe und meinen, damit sei es gethan. Eine Meinung haben heisst bei ihnen schon: dafür sich fanatisiren und sie als Ueberzeugung fürderhin sich an's Herz legen. Sie erhitzen sich bei einer unerklärten Sache f ü r den ersten Einfall ihres Kopfes, der einer Erklärung derselben ähnlich sieht: woraus sich, namentlich auf dem Gebiete der Politik, fortwährend die schlimmsten Folgen ergeben. — Desshalb sollte jetzt Jedermann mindestens e i n e Wissenschaft von Grund aus kennen gelernt haben: dann weiss er doch, was
9. D e r Mensch m i t sich allein 634—636
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Methode heisst und wie nöthig die äusserste Besonnenheit ist. Namentlich ist den Frauen dieser Rath zu geben; als welche jetzt rettungslos die Opfer aller Hypothesen sind, zumal wenn diese den Eindruck des Geistreichen, Hinreissenden, Belebenden, Kräftigenden machen. Ja bei genauerem Zusehen bemerkt man, dass der allergrösste Theil aller Gebildeten noch jetzt von einem Denker Ueberzeugungen und Nichts als Ueberzeugungen begehrt, und dass allein eine geringe Minderheit G e w i s s h e i t will. Jene wollen stark fortgerissen werden, um dadurch selber einen Kraftzuwachs zu erlangen; diese Wenigen haben jenes sachliche Interesse, welches von persönlichen Vortheilen, auch von dem des erwähnten Kraftzuwachses absieht. Auf jene bei Weitem überwiegende Classe wird überall dort gerechnet, wo der Denker sich als G e n i e benimmt und bezeichnet, also wie ein höheres Wesen drein schaut, welchem Autorität zukommt. Insofern das Genie jener Art die Glut der Ueberzeugungen unterhält und Misstrauen gegen den vorsichtigen und bescheidenen Sinn der Wissenschaft weckt, ist es ein Feind der Wahrheit und wenn es sich auch noch so sehr als deren Freier glauben sollte. 636.
Es giebt freilich auch eine ganz andere Gattung der Genialität, die der Gerechtigkeit; und ich kann mich durchaus nicht entschliessen, dieselbe niedriger zu schätzen, als irgend eine philosophische, politische oder künstlerische Genialität. Ihre Art ist es, mit herzlichem Unwillen Allem aus dem Wege zu gehen, was das Urtheil über die Dinge blendet und verwirrt; sie ist folglich eine G e g n e r i n d e r U e b e r z e u g u n g e n , denn sie will Jedem, sei es ein Belebtes oder Todtes, Wirkliches oder Gedachtes, das Seine geben — und dazu muss sie es rein erkennen; sie stellt daher jedes Ding in das beste Licht und geht um dasselbe mit sorgsamem Auge herum. Zuletzt wird sie selbst ihrer Gegnerin, der blinden oder kurzsichtigen „Ueberzeugung"
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(wie Männer sie nennen: — bei Weibern heisst sie „Glaube") geben was der Ueberzeugung ist — um der Wahrheit willen.
637.
Aus den L e i d e n s c h a f t e n wachsen die Meinungen; 5 die T r ä g h e i t d e s G e i s t e s lässt diese zu U e b e r z e u g u n g e n erstarren. — Wer sich aber f r e i e n , rastlos lebendigen Geistes fühlt, kann durch beständigen Wechsel diese Erstarrung verhindern; und ist er gar insgesammt ein denkender Schneeballen, so wird er überhaupt nicht Meinungen, sondern 10 nur Gewissheiten und genau bemessene Wahrscheinlichkeiten in seinem K o p f e haben. — Aber wir, die wir gemischten Wesens sind und bald vom Feuer durchglüht, bald vom Geiste durchkältet sind, wollen vor der Gerechtigkeit knieen, als der einzigen Göttin, welche wir über uns anerkennen. D a s F e u e r in uns 15 macht uns f ü r gewöhnlich ungerecht und, im Sinne jener Göttin, unrein; nie dürfen wir in diesem Zustande ihre Hand fassen, nie liegt dann das ernste Lächeln ihres Wohlgefallens auf uns. Wir verehren sie als die verhüllte Isis unsers Lebens; beschämt bringen wir ihr unsern Schmerz als Busse und Opfer dar, wenn das 20 Feuer uns brennt und verzehren will. D e r G e i s t ist es, der uns rettet, dass wir nicht ganz verglühen und verkohlen; er reisst uns hier und da fort von dem Opferaltare der Gerechtigkeit oder hüllt uns in ein Gespinnst aus Asbest. Vom Feuer erlöst, schreiten wir dann, durch den Geist getrieben von Meinung zu 25 Meinung, durch den Wechsel der Parteien, als edle Verr ä t h e r aller Dinge, die überhaupt verrathen werden können — und dennoch ohne ein Gefühl von Schuld.
638.
D e r W a n d e r e r . — Wer nur einigermaassen zur Freiheit 30 der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders
9. Der Mensch mit sich allein 636—638
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fühlen, denn als Wanderer, — wenn auch nicht als Reisender n a c h einem letzten Ziele: denn dieses giebt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was Alles in der Welt eigentlich vorgeht; desshalb darf er sein Herz nicht allzufest an alles Einzelne anhängen; es muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe. Freilich werden einem solchcn Menschen böse Nächte kommen, wo er müde ist und das Thor der Stadt, welche ihm Rast bieten sollte, verschlossen findet; vielleicht, dass noch dazu, wie im Orient, die Wüste bis an das Thor reicht, dass die Raubthiere bald ferner bald näher her heulen, dass ein starker Wind sich erhebt, dass Räuber ihm seine Zugthiere wegführen. Dann sinkt für ihn wohl die schreckliche Nacht wie eine zweite Wüste auf die Wüste, und sein Herz wird des Wanderns müde. Geht ihm dann die Morgensonne auf, glühend wie eine Gottheit des Zornes, öffnet sich die Stadt, so sieht er in den Gesichtern der hier Hausenden vielleicht noch mehr Wüste, Schmutz, Trug, Unsicherheit, als vor den Thoren — und der Tag ist fast schlimmer, als die Nacht. So mag es wohl einmal dem Wanderer ergehen; aber dann kommen, als Entgelt, die wonnevollen Morgen anderer Gegenden und Tage, wo er schon im Grauen des Lichtes die Musenschwärme im Nebel des Gebirges nahe an sich vorübertanzen sieht, wo ihm nachher, wenn er still, in dem Gleichmaass der Vormittagsseele, unter Bäumen sich ergeht, aus deren Wipfeln und Laubverstecken heraus lauter gute und helle Dinge zugeworfen werden, die Geschenke aller jener freien Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welche, gleich ihm, in ihrer bald fröhlichen bald nachdenklichen Weise, Wanderer und Philosophen sind. Geboren aus den Geheimnissen der Frühe, sinnen sie darüber nach, wie der Tag zwischen dem zehnten und zwölften Glockenschlage ein so reines, durchleuchtetes, verklärt-heiteres Gesicht haben könne: — sie suchen die P h i l o s o p h i e d e s Vormittages.
Unter Freunden. Ein Nachspiel.
i. Schön ist's, mit einander schweigen, 5
Schöner, mit einander lachen, — Unter seidenem Himmels-Tuche Hingelehnt zu Moos und Buche Lieblich laut mit Freunden lachen U n d sich weisse Zähne zeigen.
io
Macht' ich's gut, so w o l l ' n w i r schweigen; Macht' ich's schlimm — , so w o l l ' n w i r lachen U n d es immer schlimmer machen, Schlimmer machen, schlimmer lachen, Bis w i r in die Grube steigen.
!5
Freunde! Ja! So soll's geschehn? — A m e n ! U n d auf Wiedersehn!
Unter Freunden 2 2.
Kein Entschuld'gen! Kein Verzeihen! Gönnt ihr Frohen, Herzens-Freien Diesem unvernünft'gen Buche Ohr und Herz und Unterkunft! Glaubt mir, Freunde, nicht zum Fluche Ward mir meine Unvernunft! Was i c h finde, was i c h suche —, Stand das je in einem Buche? Ehrt in mir die Narren-Zunft! Lernt aus diesem Narrenbuche, Wie Vernunft kommt — „zur Vernunft" Also, Freunde, soll's geschehn? Amen! Und auf Wiedersehn!
—
Vorrede. i. Man soll nur reden, wo man nicht schweigen darf; und nur von dem reden, was man ü b e r w u n d e n hat, — alles Andere ist Geschwätz, „Litteratur", Mangel an Zucht. Meine Schriften reden n u r von meinen Ueberwindungen: „ich" bin darin, mit Allem, was mir feind war, ego ipsissimus, ja sogar, wenn ein stolzerer Ausdruck erlaubt wird, ego ipsissi m u m. Man erräth: ich habe schon Viel — u n t e r m i r . . . Aber es bedurfte immer erst der Zeit, der Genesung, der Ferne, der Distanz, bis die Lust bei mir sich regte, etwas Erlebtes und Ueberlebtes, irgend ein eigenes Factum oder Fatum nachträglich für die Erkenntniss abzuhäuten, auszubeuten, blosszulegen, „darzustellen" (oder wie man's heissen will). Insofern sind alle meine Schriften, mit einer einzigen, allerdings wesentlichen Ausnahme, z u r ü c k z u d a t i e r e n — sie reden immer von einem „Hinter-mir" — : einige sogar, wie die drei ersten Unzeitgemässen Betrachtungen, noch zurück hinter die Entstehungs- und Erlebnisszeit eines vorher herausgegebenen Buches (der „Geburt der Tragödie" im gegebenen Falle: wie es einem feineren Beobachter und Vergleicher nicht verborgen bleiben darf). Jener zornige Ausbruch gegen die Deutschthümelei, Behäbigkeit und Sprach-Verlumpung des alt gewordenen David Strauss, der Inhalt der ersten Unzeitgemässen, machte Stimmungen Luft, mit denen ich lange vorher, als
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Menschliches, Allzumenschliches I I
Student, inmitten deutscher Bildung und Bildungsphilisterei gesessen hatte (ich mache Anspruch auf die Vaterschaft des jetzt viel gebrauchten und missbrauchten Wortes „Bildungsphilister" —); und was ich gegen die „historische Krankheit" gesagt habe, das sagte ich als Einer, der von ihr langsam, mühsam genesen lernte und ganz und gar nicht Willens war, fürderhin auf „Historie" zu verzichten, weil er einstmals an ihr gelitten hatte. Als ich sodann, in der dritten Unzeitgemässen Betrachtung, meine Ehrfurcht vor meinem ersten und einzigen Erzieher, v o r dem g r o s s e n Arthur Schopenhauer zum Ausdruck brachte — ich würde sie jetzt noch viel stärker, auch persönlicher ausdrükken — war ich f ü r meine eigne Person schon mitten in der moralistischen Skepsis und Auflösung drin, d a s heisst e b e n s o s e h r in d e r K r i t i k als d e r V e r t i e f u n g a l l e s b i s h e r i g e n P e s s i m i s m u s —, und glaubte bereits „an gar nichts mehr", wie das V o l k sagt, auch an Schopenhauer nicht: eben in jener Zeit entstand ein geheim gehaltenes Schriftstück „über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne". Selbst meine Siegs- und Festrede zu Ehren Richard Wagner's, bei Gelegenheit seiner Bayreuther Siegesfeier 1876 — Bayreuth bedeutet den grössten Sieg, den je ein Künstler errungen hat — ein Werk, welches den stärksten A n s c h e i n der „Aktualität" an sich trägt, war im Hintergrunde eine Huldigung und Dankbarkeit gegen ein Stück Vergangenheit von mir, gegen die schönste, auch gefährlichste Meeresstille meiner F a h r t . . . und thatsächlich eine Loslösung, ein Abschiednehmen. (Täuschte Richard Wagner sich vielleicht selbst darüber? Ich glaube es nicht. So lange man noch liebt, malt man gewiss keine solchen Bilder; man „betrachtet" noch nicht, man stellt sich nicht dergestalt in die Ferne, wie es der Betrachtende thun muss. „ Z u m Betrachten gehört schon eine geheimnisvolle G e g n e r s c h a f t , die des Entgegenschauens" — heisst es auf Seite 46 der genannten Schrift selbst, mit einer verrätherischen und schwermüthigen Wendung, welche vielleicht nur für wenige Ohren war.) Die
Vorrede 1—2
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Gelassenheit, u m über lange Zwischenjahre innerlichsten Alleinseins und Entbehrens reden zu k ö n n e n , k a m mir erst mit dem Buche „Menschliches, Allzumenschliches", dem auch dies zweite Für- und V o r w o r t gewidmet sein soll. Auf ihm, als einem Buche „ f ü r freie Geister", liegt Etwas von der beinahe heiteren und neugierigen Kälte des Psychologen, welche eine Menge schmerzlicher Dinge, die er u n t e r sich hat, h i n t e r sich hat, nachträglich für sich noch feststellt und gleichsam mit irgend einer Nadelspitze fest s t i c h t : — was Wunders, wenn, bei einer so spitzen und kitzlichen Arbeit, gelegentlich auch etwas Blut fliesst, wenn der Psydiologe Blut dabei an den Fingern und nicht immer nur — an den Fingern hat? . . .
2.
Die Vermischten Meinungen und Sprüche sind, ebenso wie der Wanderer und sein Schatten, zuerst e i n z e l n als Fortsetzungen und Anhänge jenes eben genannten menschlich-allzumenschlichen „Buchs f ü r freie Geister" herausgegeben worden: zugleich als Fortsetzung und Verdoppelung einer geistigen K u r , nämlich der a n t i r o m a n t i s c h e n Selbstbehandlung, wie sie mir mein gesund gebliebener Instinkt wider eine zeitweilige Erkrankung an der gefährlichsten F o r m der R o m a n t i k selbst erfunden, selbst verordnet hatte. M ö g e man sich nunmehr, nach sechs Jahren der Genesung, die gleichen Schriften v e r e i n i g t gefallen lassen, als zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches: vielleicht lehren sie, zusammen betrachtet, ihre Lehre stärker und deutlicher, — eine G e s u n d h e i t s l e h r e , welche den geistigeren N a t u r e n des eben h e r a u f k o m m e n d e n Geschlechts zur disciplinavoluntatis empfohlen sein mag. Aus ihnen redet ein Pessimist, der oft genug aus der H a u t gefahren, aber immer wieder in sie hineingefahren ist, ein Pessimist also mit dem guten Willen z u m Pessimismus, — somit jedenfalls kein R o m a n t i k e r mehr: wie? sollte ein Geist, der sich auf diese
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Menschliches, Allzumenschliches II
Schlangenklugheit versteht, d i e H a u t z u w e c h s e l n , nicht den heutigen Pessimisten eine Lektion geben dürfen, welche allesammt noch in der G e f a h r der R o m a n t i k sind? U n d ihnen z u m Mindesten zeigen, wie m a n das — m a c h t ? . . .
3— Es war in der T h a t damals die höchste Zeit, A b s c h i e d z u n e h m e n : alsbald schon b e k a m ich den Beweis dafür. Richard Wagner, scheinbar der Siegreichste, in Wahrheit ein morsch gewordener, verzweifelnder R o m a n t i k e r , sank plötzlich, hülflos und zerbrochen, v o r dem christlichen Kreuze nieder . . . H a t denn kein Deutscher f ü r dieses schauerliche Schauspiel damals Augen im K o p f e , Mitgefühl in seinem Gewissen gehabt? War ich der Einzige, der an ihm — litt? Genug, mir selbst gab dies unerwartete Ereigniss wie ein Blitz Klarheit über den O r t , den ich verlassen hatte, — und auch jenen nachträglichen Schrecken, wie ihn Jeder empfindet, der unbewusst durch eine ungeheure Gefahr gelaufen ist. Als ich allein weiter gieng, zitterte ich; nicht lange darauf, und ich war krank, mehr als krank, nämlich müde, aus der unaufhaltsamen Enttäuschung über Alles, was uns modernen Menschen zur Begeisterung übrig blieb, über die allerorts v e r g e u d e t e Kraft, Arbeit, H o f f n u n g , Jugend, Liebe; müde aus Ekel v o r dem Femininischen und Schwärmerisch-Zuchtlosen dieser R o m a n t i k , vor der ganzen idealistischen Lügnerei und Gewissens-Verweichlichung, die hier wieder einmal den Sieg über Einen der Tapfersten davongetragen hatte; müde endlich, und nicht am wenigsten aus dem G r a m eines unerbittlichen A r g w o h n s , — dass ich, nach dieser Enttäuschung, verurtheilt sei, tiefer zu misstrauen, tiefer zu verachten, tiefer allein zu sein, als je vorher. Meine A u f g a b e — wohin war sie? Wie? schien es jetzt nicht, als ob sich meine A u f g a b e von mir zurückziehe, als ob ich nun f ü r lange kein Recht mehr auf sie habe? Was thun, u m d i e s e grösste Entbehrung
Vorrede 2—4
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auszuhalten? — Ich begann damit, dass ich mir gründlich und grundsätzlich alle romantische Musik v e r b o t , diese zweideutige grossthuerische schwüle Kunst, welche den Geist u m seine Strenge und Lustigkeit bringt und jede A r t unklarer Sehnsucht, schwammichter Begehrlichkeit wuchern macht. „ C a v e m u s i c a m " ist auch heute noch mein R a t h an Alle, die Manns genug sind, u m in Dingen des Geistes auf Reinlichkeit zu halten; solche Musik entnervt, erweicht, verweiblicht, ihr „Ewig-Weibliches" zieht u n s — h i n a b ! . . . G e g e n die romantische Musik wendete sich damals mein erster A r g w o h n , meine nächste Vorsicht; und wenn ich überhaupt noch etwas von der Musik hoffte, so war es in der Erwartung, es möchte ein Musiker k o m m e n , kühn, fein, boshaft, südlich, übergesund genug, u m an jener Musik auf eine unsterbliche Weise R a c h e z u n e h m e n . —
4Einsam nunmehr und schlimm misstrauisch gegen midi, nahm ich, nicht ohne Ingrimm, dergestalt Partei g e g e n mich und f ü r Alles, was gerade m i r wehe that und hart fiel: — so fand ich den Weg zu jenem tapferen Pessimismus wieder, der der Gegensatz aller romantischen Verlogenheit ist, und auch, wie mir heute scheinen will, den Weg zu „ m i r " selbst, zu m e i n e r Aufgabe. Jenes verborgene und herrische Etwas, f ü r das wir lange keinen N a m e n haben, bis es sich endlich als unsre A u f g a b e erweist, — dieser T y r a n n in uns n i m m t eine schreckliche Wiedervergeltung für jeden Versuch, den wir machen, ihm auszuweichen oder zu entschlüpfen, f ü r jede vorzeitige Bescheidung, f ü r jede Gleichsetzung mit Solchen, zu denen wir nicht gehören, für jede noch so achtbare Thätigkeit, falls sie uns von unsrer Hauptsache ablenkt, ja f ü r jede Tugend selbst, welche uns gegen die H ä r t e der eigensten Verantwortlichkeit schützen möchte. Krankheit ist jedes Mal die A n t w o r t , wenn wir an unsrem Rechte auf u n s r e A u f g a b e zweifeln wollen, — wenn
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Menschliches, Allzumenschliches I I
wir anfangen, es uns irgendworin leichter zu machen. Sonderbar und furchtbar zugleich! Unsre E r l e i c h t e r u n g e n sind es, die wir am härtesten büssen müssen! U n d wollen wir hinterdrein zur Gesundheit zurück, so bleibt uns keine Wahl: wir müssen uns s c h w e r e r belasten, als wir je vorher belastet waren . . .
5-
— Damals lernte ich erst jenes einsiedlerische Reden, auf welches sich n u r die Schweigendsten und Leidendsten verstehn: ich redete, ohne Zeugen oder vielmehr gleichgültig gegen Zeugen, um nicht am Schweigen zu leiden, ich sprach von lauter Dingen, die midi nichts angiengen, aber so, als ob sie mich etwas angiengen. Damals lernte ich die Kunst, mich heiter, objektiv, neugierig, vor allem gesund und boshaft zu g e b e n , — und bei einem Kranken ist dies, wie mir scheinen will, sein „guter Geschmack"? Einem feineren Auge und Mitgefühl wird es t r o t z dem nicht entgehn, was vielleicht den Reiz dieser Schriften ausmacht, — dass hier ein Leidender und Entbehrender redet, wie als ob er n i c h t ein Leidender u n d Entbehrender sei. Hier s o l l das Gleichgewicht, die Gelassenheit, sogar die Dankbarkeit gegen das Leben aufrecht erhalten werden, hier waltet ein strenger, stolzer, beständig wacher, beständig reizbarer Wille, der sich die Aufgabe gestellt hat, das Leben w i d e r den Schmerz zu vertheidigen u n d alle Schlüsse abzuknicken, welche aus Schmerz, Enttäuschung, Ueberdruss, Vereinsamung und andrem Moorgrunde gleich giftigen Schwämmen aufzuwachsen pflegen. Dies giebt vielleicht gerade unsern Pessimisten Fingerzeige zur eignen Prüfung? — denn damals war es so, wo ich mir den Satz abgewann: „ein Leidender hat auf Pessimismus n o c h k e i n R e c h t ! " , damals f ü h r t e ich mit mir einen langwierig-geduldigen Feldzug gegen den unwissenschaftlichen G r u n d h a n g jedes romantischen Pessimismus, einzelne persönliche Erfahrungen
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zu allgemeinen Urtheilen, ja Welt-Verurtheilungen aufzubauschen, auszudeuten . . . kurz, damals drehte ich meinen Blick h e r u m . Optimismus, z u m Zweck der Wiederherstellung, u m irgend wann einmal wieder Pessimist sein zu d ü r f e n — versteht ihr das? Gleich wie ein A r z t seinen Kranken in eine völlig fremde U m g e b u n g stellt, damit er seinem ganzen „Bisher", seinen Sorgen, Freunden, Briefen, Pflichten, D u m m h e i t e n und Gedächtnissmartern entrückt wird und H ä n d e und Sinne nach neuer N a h r u n g , neuer Sonne, neuer Z u k u n f t ausstrecken lernt, so zwang ich mich, als A r z t und K r a n k e r in Einer Person, zu einem umgekehrten unerprobten K l i m a d e r S e e l e , und namentlich zu einer abziehenden Wanderung in die Fremde, in d a s Fremde, zu einer Neugierde nach aller A r t von Fremdem . . . Ein langes Herumziehn, Suchen, Wechseln folgte hieraus, ein Widerwille gegen alles Festbleiben, gegen jedes plumpe Bejahen und Verneinen; ebenfalls eine Diätetik und Zucht, welche es dem Geiste so leicht als möglich machen wollte, weit zu laufen, hoch zu fliegen, vor Allem immer wieder f o r t zu fliegen. Thatsächlich ein M i n i m u m von Leben, eine Loskettung von allen gröberen Begehrlichkeiten, eine Unabhängigkeit inmitten aller A r t äusserer Ungunst, s a m m t dem Stolze, leben zu k ö n n e n unter dieser U n g u n s t ; etwas Cynismus vielleicht, etwas „ T o n n e " , aber ebenso gewiss viel Grillen-Glück, GrillenMunterkeit, viel Stille, Licht, feinere Thorheit, verborgenes Schwärmen — das Alles ergab zuletzt eine grosse geistige Erstarkung, eine wachsende Lust und Fülle der Gesundheit. Das Leben selbst b e l o h n t uns f ü r unsern zähen Willen z u m Leben, f ü r einen solchen langen Krieg, wie ich ihn damals mit mir gegen den Pessimismus der Lebensmüdigkeit führte, schon f ü r jeden aufmerksamen Blick unsrer Dankbarkeit, der sich die kleinsten, zartesten, flüchtigsten Geschenke des Lebens nicht entgehn lässt. Wir b e k o m m e n endlich d a f ü r seine g r o s s e n Geschenke, vielleicht auch sein grösstes, das es zu geben vermag, — wir bekommen u n s r e A u f g a b e wieder zurück. — —
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Menschliches, Allzumenschlichcs I I 6.
— Sollte mein Erlebniss — die Geschichte einer Krankheit und Genesung, denn es lief auf eine Genesung hinaus — nur mein persönliches Erlebniss gewesen sein? U n d gerade nur m e i n „Menschlich-Allzumenschliches"? Ich möchte heute das U m g e k e h r t e glauben; das Zutrauen k o m m t mir wieder und wieder dafür, dass meine Wanderbücher doch nicht nur für mich aufgezeichnet waren, wie es bisweilen den Anschein hatte —. Darf ich nunmehr, nach sechs Jahren wachsender Zuversicht, sie von N e u e m zu einem Versuche auf die Reise schicken? Darf ich sie Denen sonderlich an's H e r z und Ohr legen, welche mit irgend einer „Vergangenheit" behaftet sind und Geist genug übrig haben, u m auch noch am G e i s t e ihrer Vergangenheit zu leiden? V o r allem aber Euch, die ihr es am schwersten habt, ihr Seltenen, Gefährdetsten, Geistigsten, Muthigsten, die ihr das G e w i s s e n der modernen Seele sein müsst und als solche ihr W i s s e n haben müsst, in denen was es nur heute von Krankheit, Gift und Gefahr geben kann zusammen k o m m t , — deren L o o s es will, dass ihr kränker sein müsst als irgend ein Einzelner, weil ihr nicht „ n u r Einzelne" seid . . . , deren T r o s t es ist, den Weg zu einer n e u e n Gesundheit zu wissen, ach! und zu gehen, einer Gesundheit von Morgen und Uebermorgen, ihr Vorherbestimmten, ihr Siegreichen, ihr Zeit-Ueberwinder, ihr Gesündesten, ihr Stärksten, ihr g u t e n E u r o p ä e r !
7— Dass ich schliesslich meinen Gegensatz gegen den r o m a n t i s c h e n P e s s i m i s m u s , das heisst zum Pessimismus der Entbehrenden, Missglückten, Ueberwundenen, noch in eine Formel bringe: es giebt einen Willen zum Tragischen und z u m Pessimismus, der das Zeichen ebensosehr der Strenge als der Stärke des Intellekts (Geschmacks, Gefühls, Gewissens) ist. Man fürchtet, mit diesem Willen in der Brust, nicht das Furchtbare
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u n d F r a g w ü r d i g e , das allem Dasein eignet; m a n sucht es selbst auf. H i n t e r einem solchen Willen s t e h t der M u t h , der Stolz, das Verlangen nach einem g r o s s e n Feinde. — Dies war m e i n e pessimistische P e r s p e k t i v e v o n A n b e g i n n , — eine neue Perspek5 tive, wie mich d ü n k t ? eine solche, die auch h e u t e noch neu u n d f r e m d ist? Bis zu diesem Augenblick halte ich an ihr fest, u n d , w e n n m a n m i r glauben will, e b e n s o w o h l f ü r mich, als, gelegentlich wenigstens, g e g e n mich . . . W o l l t ihr dies erst bewiesen? A b e r was sonst w ä r e m i t dieser langen V o r r e d e — bewiesen? 0
S i 1 s - M a r i a , Oberengadin, im September 1886.
Erste Abtheilung: Vermischte Meinungen und Sprüche.
An
die
Enttäuschten
der
Philosophie.
—
W e n n ihr bisher an den höchsten W e r t h des Lebens geglaubt habt und euch nun enttäuscht seht, müsst ihr es denn jetzt gleich z u m niedrigsten Preise losschlagen?
2.
Verwöhnt.
— M a n k a n n sich auch in B e z u g auf die
H e l l i g k e i t der B e g r i f f e v e r w ö h n e n : w i e ekelhaft w i r d da der V e r k e h r m i t den H a l b k l a r e n , Dunstigen, Strebenden, A h n e n den! Wie lächerlich und doch nicht erheiternd w i r k t ihr ewiges Flattern und Haschen und doch nicht Fliegen- und
Fangen-
können!
3Die
Freier
der
Wirklichkeit.
—
Wer
endlich
merkt, wie sehr und wie lange er genarrt worden ist, umarmt aus T r o t z selbst die hässlichste Wirklichkeit: so dass dieser, den V e r lauf der Welt im Ganzen gesehen, zu allen Zeiten die allerbesten Freier zugefallen sind, — denn die Besten sind i m m e r am besten u n d längsten getäuscht w o r d e n .
382
Menschliches, Allzumenschliches I I
4F o r t s c h r i t t d e r F r e i g e i s t e r e i . — Man kann den Unterschied der früheren und der gegenwärtigen Freigeisterei nicht besser verdeutlichen, als wenn man jenes Satzes gedenkt, 5 den zu erkennen und auszusprechen die ganze Unerschrockenheit des vorigen Jahrhunderts nöthig war und der dennoch von der jetzigen Einsicht aus bemessen, zu einer unfreiwilligen Naivetät herabsinkt, — ich meine den Satz Voltaire's: „croyezmoi, m o n ami, l'erreur aussi a son mérite." io
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2°
2
$
3°
5.
E i n e E r b s ü n d e d e r P h i l o s o p h e n . — Die Philosophen haben zu allen Zeiten die Sätze der Menschenprüfer (Moralisten) sich angeeignet und v e r d o r b e n , dadurch dass sie dieselben unbedingt nahmen, und Das als nothwendig beweisen wollten, was von jenen nur als ungefährer Fingerzeig oder gar als land- oder stadtsässige Wahrheit eines Jahrzehends gemeint war, — während sie gerade dadurch sich über jene zu erheben meinten. So wird man als Grundlage der berühmten Lehren Schopenhauer's vom Primat des Willens vor dem Intellect, von der U n Veränderlichkeit des Charakters, von der Negativität der Lust — welche alle, so wie er sie versteht, I r r t h ü m e r sind — populäre Weisheiten finden, welche Moralisten aufgestellt haben. Schon das W o r t „Wille", welches Schopenhauer zur gemeinsamen Bezeichnung vieler menschlicher Zustände umbildete und in eine Lücke der Sprache hineinstellte, zum grossen Vortheil f ü r ihn selber, soweit er Moralist war — da es ihm nun freistand, v o m „Willen" zu reden, wie Pascal von ihm geredet hatte —, schon der „Wille" Schopenhauer's ist unter den H ä n den seines Urhebers, durch die Philosophen-Wuth der Verallgemeinerung, zum Unheil f ü r die Wissenschaft ausgeschlagen: denn dieser Wille ist zu einer poetischen Metapher gemacht, wenn behauptet wird, alle Dinge in der N a t u r hätten Willen;
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 4 — 8
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endlich ist er, z u m Zwecke einer Verwendung bei allerhand mystischem U n f u g e , zu einer falschen Verdinglichung gemissbraucht worden — und alle Modephilosophen sagen es nach und scheinen es ganz genau zu wissen, dass alle Dinge Einen Willen hätten, ja dieser Eine Wille wären (was, nach der Abschilderung, die man von diesem All-Eins-Willen macht, so viel bedeutet als ob man durchaus den d u m m e n T e u f e l zum G o t t e haben wolle).
6. W i d e r d i e P h a n t a s t e n . — D e r Phantast verleugnet die Wahrheit vor sich, der Lügner nur v o r Andern.
7L i c h t - F e i n d s c h a f t . — Macht m a n J e m a n d e m klar, dass er, streng verstanden, nie von Wahrheit, sondern immer nur von Wahrscheinlichkeit und deren Graden reden könne, so entdeckt man gewöhnlich an der unverhohlenen Freude des also Belehrten, wie viel lieber den Menschen die Unsicherheit des geistigen Horizontes ist und wie sie die Wahrheit im G r u n d e ihrer Seele wegen ihrer Bestimmtheit h a s s e n . — Liegt es daran, dass sie Alle insgeheim selber Furcht davor haben, dass man einmal das Licht der Wahrheit zu hell auf sie fallen lasse? Sie wollen etwas bedeuten, folglich darf man nicht genau wissen, was sie s i n d ? Oder ist es nur die Scheu vor dem allzuhellen Licht, an welches ihre dämmernden, leichtzublendenden Fledermaus-Seelen nicht gewöhnt sind, so dass sie es hassen müssen?
8.
C h r i s t e n - S k e p s i s . — Pilatus mit seiner Frage: was ist Wahrheit!, wird jetzt gern als A d v o c a t Christi eingeführt,
384
Menschliches, Allzumenschlidies I I
u m alles E r k a n n t e und Erkennbare als Schein zu verdächtigen und auf dem schauerlichen Hintergrunde des Nichts-wissen-könnens das K r e u z aufzurichten.
9„ N a t u r g e s e t z " ein W o r t des A b e r g l a u b e n s . — Wenn ihr so entzückt von der Gesetzmässigkeit in der N a t u r redet, so müsst ihr doch entweder annehmen, dass aus freiem, sich selbst unterwerfendem Gehorsam alle natürlichen Dinge ihrem Gesetze folgen — in welchem Falle ihr also die Moralität der N a t u r bewundert — ; oder euch entzückt die Vorstellung eines schaffenden Mechanikers, der die kunstvollste Uhr, mit lebenden Wesen als Zierrath daran, gemacht hat. — Die N o t wendigkeit in der N a t u r wird durch den Ausdruck „Gesetzmässigkeit" menschlicher und ein letzter Zufluchtswinkel der mythologischen Träumerei.
10. D e r H i s t o r i e v e r f a l l e n . — Die Schleier-Philosophen und Welt-Verdunkler, also alle Metaphysiker feinern und gröberen Korns, ergreift Augen-, Ohren- und Zahnschmerz, wenn sie zu argwöhnen beginnen, dass es mit dem Satze: die ganze Philosophie sei v o n jetzt ab der Historie verfallen, seine Richtigkeit habe. Es ist ihnen, ihrer S c h m e r z e n wegen, zu verzeihen, dass sie nach Jenem, der so spricht, mit Steinen und Unflath werfen: die Lehre selbst kann aber dadurch eine Zeit lang schmutzig und unansehnlich werden und an Wirkung verlieren. 11.
D e r P e s s i m i s t d e s I n t e l l e c t e s . — Der wahrhaft Freie im Geiste wird auch über den Geist selber frei denken
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 8 — 1 3
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und sich einiges Furchtbare in Hinsicht auf Quelle und Richtung desselben nicht verhehlen. Desshalb werden ihn die Andern vielleicht als den ärgsten Gegner der Freigeisterei bezeichnen und mit dem Schimpf- und Schreckwort „Pessimist des Intellectes" belegen: gewohnt, wie sie sind, Jemanden nicht nach seiner hervorragenden Stärke und Tugend zu nennen, sondern nach dem, was ihnen am fremdesten an ihm ist.
12. S c h n a p p s a c k d e r M e t a p h y s i k e r . — Allen Denen, welche so grossthuerisch von der Wissenschaftlichkeit ihrer Metaphysik reden, soll man gar nicht antworten; es genügt, sie an dem Bündel zu zupfen, welches sie, einigermaassen scheu, hinter ihrem Rücken verborgen halten; gelingt es, dasselbe zu lüpfen, so kommen die Resultate jener Wissenschaftlichkeit, zu ihrem Erröthen, an's Licht: ein kleiner lieber Herrgott, eine artige Unsterblichkeit, vielleicht etwas Spiritismus und jedenfalls ein ganzer verschlungener Haufen von Armen-Sünder-Elend und Pharisäer-Hochmuth.
13G e l e g e n t l i c h e S c h ä d l i c h k e i t der E r k e n n t n i s s. — Die Nützlichkeit, welche die unbedingte Erforschung des Wahren mit sich bringt, wird fortwährend so hundertfach neu bewiesen, dass man die feinere und seltenere Schädlichkeit, an der Einzelne ihrethalben zu leiden haben, unbedenklich mit in den Kauf nehmen muss. Man kann es nicht verhindern, dass der Chemiker bei seinen Versuchen sich gelegentlich vergiftet und verbrennt. — Was vom Chemiker gilt, gilt von unsrer gesammten Cultur: woraus sich, nebenbei gesagt, deutlich ergiebt, wie sehr dieselbe für Heilsalben bei Verbrennungen und für das stete Vorhandensein von Gegengiften zu sorgen hat.
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Menschliches, Allzumenschliches I I
14.
P h i l i s t e r - N o t h d u r f t . — Der Philister meint einen Purpurfetzen oder Turban von Metaphysik am nöthigsten zu haben und will ihn durchaus nicht schlüpfen lassen: und doch würde man ihn ohne diesen Putz weniger lächerlich finden. ISD i e S c h w ä r m e r . — Mit Allem, was Schwärmer zu Gunsten ihres Evangeliums oder ihres Meisters sagen, vertheidigen sie sich selbst, so sehr sie sich auch als Richter (und nicht als Angeklagte) gebärden, weil sie unwillkürlich und fast in jedem Augenblicke daran erinnert werden, dass sie Ausnahmen sind, die sich legitimiren müssen. 16. D a s G u t e v e r f ü h r t z u m L e b e n . — Alle guten Dinge sind starke Reizmittel zum Leben, selbst jedes gute Buch, das gegen das Leben geschrieben ist. 17G l ü c k d e s H i s t o r i k e r s . — „Wenn wir die spitzfindigen Metaphysiker und Hinterweltler reden hören, fühlen wir Anderen freilich, dass wir die „Armen im Geist" sind, aber auch dass unser das Himmelreich des Wechsels, mit Frühling und Herbst, Winter und Sommer, und jener die Hinterwelt ist, mit ihren grauen, frostigen, unendlichen Nebeln und Schatten." — So sprach Einer zu sich bei einem Gange in der Morgensonne: Einer, dem bei der Historie nicht nur der Geist, sondern auch das Herz sich immer neu verwandelt und der, im Gegensatze zu den Metaphysikern, glücklich darüber ist, nicht „Eine unsterbliche Seele", sondern v i e l e s t e r b l i c h e S e e l e n in sich zu beherbergen.
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 1 4 — 2 1
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18. D r e i A r t e n v o n D e n k e r n . — Es giebt strömende, fliessende, tröpfelnde Mineralquellen; und dem entsprechend drei Arten von Denkern. Der Laie schätzt sie nach der Masse $ des Wassers, der Kenner nach dem Gehalt des Wassers ab, also nach dem, was eben n i c h t Wasser in ihnen ist.
19D a s B i l d d e s L e b e n s . — Die Aufgabe, d a s Bild d e s Lebens zu malen, so oft sie auch von Dichtern und Philoio sophen gestellt wurde, ist trotzdem unsinnig: auch unter den Händen der grössten Maler-Denker sind immer nur Bilder und Bildchen a u s e i n e m Leben, nämlich aus ihrem Leben, entstanden — und nichts Anderes ist auch nur möglich. Im Werdenden kann sich ein Werdendes nicht als fest und dauernd, nicht als 15 ein „Das" spiegeln.
20. W a h r h e i t will k e i n e G ö t t e r n e b e n sich. — Der Glaube an die Wahrheit beginnt mit dem Zweifel an allen bis dahin geglaubten „Wahrheiten".
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W o r ü b e r S c h w e i g e n v e r l a n g t w i r d . — Wenn man von der Freigeisterei wie von einer höchst gefährlichen Gletscher- und Eismeer-Wanderung redet, so sind Die, welche jenen Weg nicht gehen wollen, beleidigt als ob man ihnen Zag25 haftigkeit und schwache Kniee zum Vorwurf gemacht hätte. Das Schwere, dem wir uns nicht gewachsen fühlen, soll nicht einmal vor uns genannt werden.
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H i s t o r i a i n n u c e . — Die ernsthafteste Parodie, die ich je hörte, ist diese: „im Anfang war der Unsinn, und der Unsinn w a r , bei G o t t ! und G o t t (göttlich) war der Unsinn."
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3U n h e i l b a r . — Ein Idealist ist unverbesserlich: wirft man ihn aus seinem Himmel, so macht er sich aus der Hölle ein Ideal zurecht. Man enttäusche ihn und siehe! — er wird die Enttäuschung nicht minder brünstig u m a r m e n als er noch jüngst die H o f f n u n g u m a r m t hat. Insofern sein H a n g zu den grossen unheilbaren Hängen der menschlichen N a t u r gehört, kann er tragische Schicksale herbeiführen und später Gegenstand von Tragödien werden: als welche es eben mit dem Unheilbaren, Unabwendbaren, Unentfliehbaren in Menschenloos und -Charakter zu thun haben.
24. D e r B e i f a l l selber als F o r t s e t z u n g des S c h a u s p i e l s . — Strahlende Augen und ein wohlwollendes Lächeln ist die A r t des Beifalls, welcher der ganzen grossen Welt- und Daseinskomödie gezollt wird, — aber zugleich eine Komödie in der Komödie, welche die andern Zuschauer z u m „plaudite amici" v e r f ü h r e n soll.
M u t h z u r L a n g w e i l i g k e i t . — Wer den Muth nicht hat, sich und sein Werk langweilig finden zu lassen, ist gewiss kein Geist ersten Ranges, sei es in Künsten oder Wissenschaften. — Ein Spötter, der ausnahmsweise auch ein Denker wäre, könnte, bei einem Blick auf Welt und Geschichte, hinzufügen:
1. V e r m i s c h t e M e i n u n g e n u n d S p r ü c h e 2 2 — 2 6
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„ G o t t hat diesen M u t h nicht; er hat die Dinge insgesammt zu interessant machen wollen und gemacht."
2
6.
Aus der innersten E r f a h r u n g
des D e n k e r s .
—
Nichts wird dem Menschen schwerer, als eine Sache unpersönlich zu fassen: ich meine, in ihr eben eine Sache und
keine
P e r s o n zu sehen; ja man kann fragen, o b es ihm überhaupt möglich ist, das U h r w e r k seines personenbildenden, personendichtenden Triebes auch nur einen Augenblick auszuhängen. V e r k e h r t er doch selbst m i t G e d a n k e n ,
und seien es die
abstractesten, so, als wären es Individuen, m i t denen
man
kämpfen, an die man sich anschliessen, welche man behüten, pflegen, aufnähren müsse. Belauern und belauschen wir uns nur selber, in jenen Minuten, wo wir einen uns neuen Satz hören oder finden. Vielleicht missfällt er uns, weil er so trotzig, so selbstherrlich dasteht: unbewusst fragen wir uns, o b wir ihm nicht einen Gegensatz als Feind zur Seite ordnen, o b wir ihm ein „Vielleicht", ein „ M i t u n t e r " anhängen k ö n n e n ; selbst das W ö r t c h e n „wahrscheinlich" giebt uns eine Genugthuung, weil es die persönlich lästige T y r a n n e i des U n b e d i n g t e n bricht. W e n n dagegen jener neue Satz in milderer F o r m einherzieht, fein duldsam und demüthig und dem Widerspruche gleichsam in die A r m e sinkend, so versuchen wir es m i t einer andern P r o b e unserer Selbstherrlichkeit: wie, k ö n n e n wir diesem schwachen Wesen nicht zu H ü l f e k o m m e n , es streicheln und nähren, ihm Kraft und Fülle, ja W a h r h e i t und selbst Unbedingtheit geben? Ist es möglich, uns elternhaft oder ritterlich oder mitleidig gegen dasselbe zu benehmen? — D a n n wieder sehen wir hier ein Urtheil und dort ein U r t h e i l , e n t f e r n t von einander, ohne sich anzusehen, ohne sich auf einander zuzubewegen: da kitzelt uns der Gedanke, ob hier nicht eine E h e zu stiften, ein S c h 1 u s s zu ziehen sei, m i t dem Vorgefühle, dass, im Falle sich eine Folge
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aus diesem Schlüsse ergiebt, nicht n u r die beiden ehelich verbundenen Urtheile, sondern auch der Ehestifter die Ehre davon habe. Kann man aber weder auf dem Wege des Trotzes u n d Uebelwollens, noch auf dem des Wohlwollens jenem Gedanken etwas anhaben (hält man ihn f ü r w a h r —), dann unterwirft man sich und huldigt ihm als einem Führer und Herzoge, giebt ihm einen Ehrenstuhl u n d spricht nicht ohne Gepränge u n d Stolz von ihm: denn in s e i n e m Glänze glänzt man mit. Wehe dem, der diesen verdunkeln will; es sei denn, dass er selber uns eines Tages bedenklich wird: — dann stossen wir, die u n e r m ü d lichen „Königsmacher" (king-makers) der Geschichte des Geistes, ihn v o m T h r o n e u n d heben flugs seinen Gegner hinauf. Diess erwäge man und denke noch ein Stück weiter: gewiss wird Niemand dann noch von einem „Erkenntnisstriebe an und f ü r sich" reden! — Wesshalb zieht also der Mensch das W a h r e dem Unwahren vor, in diesem h e i m l i c h e n K a m p f e mit Gedanken-Personen, in dieser meist versteckt bleibenden Gedanken-Ehestiftung, Gedanken-Staatenbegründung, GedankenKinderzucht, Gedanken-Armen- und Krankenpflege? Aus dem gleichen Grunde, aus dem er die G e r e c h t i g k e i t im Verkehre mit wirklichen Personen ü b t : j e t z t aus Gewohnheit, Vererbung und Anerziehung, u r s p r ü n g l i c h , weil das Wahre — wie auch das Billige und Gerechte — n ü t z l i c h e r und e h r e b r i n g e n d e r ist als das Unwahre. Denn im Reiche des Denkens sind M a c h t und R u f schlecht zu behaupten, die sich auf dem I r r t h u m oder der Lüge aufbauen: das Gefühl, dass ein solcher Bau irgend einmal zusammenbrechen könne, ist d e m ü t h i g e n d f ü r das Selbstbewusstsein seines Baumeisters; er schämt sich der Zerbrechlichkeit seines Materials und möchte, weil er s i c h selber w i c h t i g e r als die übrige Welt nimmt, Nichts thun, was nicht d a u e r n d e r als die übrige Welt wäre. Im Verlangen nach der Wahrheit u m a r m t er den Glauben an die persönliche Unsterblichkeit, das heisst: den hochmüthigsten und trotzigsten Gedanken, den es giebt, verschwistert, wie er ist,
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 2 6 — 2 7
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mit dem Hintergedanken „pereat mundus, dum ego salvus sim!" Sein Werk ist ihm zu seinem ego geworden, er schafft sich selber in's Unvergängliche, Allem Trotzbietende um. Sein unermesslicher Stolz ist es, der nur die besten, härtesten Steine zum 5 Werke verwenden will, Wahrheiten also oder Das, was er dafür hält. Mit Recht hat man zu allen Zeiten „das Laster des Wissenden" den H o c h m u t h genannt, — doch würde es ohne dieses triebkräftige Laster erbärmlich um die Wahrheit und deren Geltung auf Erden bestellt sein. Darin dass wir uns vor unsern eigenen Gedanken, Begriffen, Worten f ü r c h t e n , dass wir aber auch in ihnen uns selber e h r e n , ihnen unwillkürlich die Kraft zuschreiben, uns belohnen, verachten, loben und tadeln zu können, darin dass wir also mit ihnen wie mit freien geistigen Personen, mit unabhängigen Mächten verkehren, als Gleiche mit 15 Gleichen — darin hat das seltsame Phänomen seine Wurzel, welches ich „intellectuales Gewissen" genannt habe. — So ist auch hier etwas Moralisches höchster Gattung aus einer Schwarzwurzel herausgeblüht.
2°
D i e O b s c u r a n t e n . — Das Wesentliche an der schwarzen Kunst des Obscurantismus ist nicht, dass er die Köpfe verdunkeln will, sondern dass er das Bild der Welt anschwärzen, unsere V o r s t e l l u n g v o m D a s e i n v e r d u n k e l n will. Dazu dient ihm zwar häufig jenes Mittel, die Aufhellung der 2J Geister zu hintertreiben: mitunter aber gebraucht er gerade das entgegengesetzte Mittel und sucht durch die höchste Verfeinerung des Intellects einen U e b e r d r u s s an dessen Früchten zu erzeugen. Spitzfindige Metaphysiker, welche die Skepsis vorbereiten und durch ihren übermässigen Scharfsinn zum Misstrauen 3° gegen den Scharfsinn auffordern, sind gute Werkzeuge eines feineren Obscurantismus. — Ist es möglich, dass selbst Kant in dieser Absicht verwendet werden kann? ja dass er, nach seiner
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Menschliches, Allzumensdilidies I I
eigenen berüchtigten Erklärung, etwas Derartiges, wenigstens zeitweilig, g e w o l l t h a t : dem G l a u b e n Bahn machen, dadurch, dass er dem W i s s e n seine Schranken wies? — was ihm nun freilich nicht gelungen ist, ihm so wenig, wie seinen Nachfolgern auf den Wolfs- und Fuchsgängen dieses höchst verfeinerten und gefährlichen Obscurantismus, ja des gefährlichsten: denn die schwarze Kunst erscheint hier in einer Lichthülle.
28. An w e l c h e r A r t von P h i l o s o p h i e die K u n s t v e r d i r b t . — Wenn es den Nebeln einer metaphysisch-mystischen Philosophie gelingt, alle ästhetischen Phänomene u n d u r c h s i c h t b a r zu machen, so folgt dann, dass sie auch unter einander u n a b s c h ä t z b a r sind, weil jedes Einzelne unerklärlich wird. Dürfen sie aber nicht einmal mehr mit einander zum Zwecke der Abschätzung verglichen werden, so entsteht zuletzt eine vollständige U n k r i t i k , ein blindes Gewährenlassen; daraus aber wiederum eine stätige Abnahme des G e n u s s e s an der Kunst (welcher nur durch ein höchst verschärftes Schmecken und Unterscheiden sich von der rohen Stillung eines Bedürfnisses unterscheidet). Je mehr aber der Genuss abnimmt, um so mehr wandelt sich das Kunst-Verlangen zum gemeinen Hunger um und zurück, dem nun der Künstler durch immer gröbere Kost abzuhelfen sucht.
29. A u f G e t h s e m a n e . — Das Schmerzlichste, was der Denker zu den Künstlern sagen kann, lautet so: „könnt ihr denn nicht eine Stunde m i t m i r w a c h e n ? "
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 27—31
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30.
A m W e b s t u h l e . — Den Wenigen, welche eine Freude daran haben, den Knoten der Dinge zu lösen und sein Gewebe aufzutrennen, arbeiten Viele entgegen (zum Beispiel alle Künstler und Frauen), ihn immer wieder neu zu knüpfen und zu verwickeln und so das Begriffene in's Unbegriffene, womöglich Unbegreifliche umzubilden. Was dabei auch sonst herauskomme, — das Gewebte und Verknotete wird immer etwas unreinlich aussehen müssen, weil zu viele Hände daran arbeiten und ziehen.
3*I n d e r W ü s t e d e r W i s s e n s c h a f t . — Dem wissenschaftlichen Menschen erscheinen auf seinen bescheidenen und mühsamen Wanderungen, die oft genug Wüstenreisen sein müssen, jene glänzenden Lufterscheinungen, die man „philosophische Systeme" nennt: sie zeigen mit zauberischer Kraft der Täuschung die Lösung aller Räthsel und den frischesten Trunk wahren Lebenswassers in der Nähe; das Herz schwelgt und der Ermüdete berührt das Ziel aller wissenschaftlichen Ausdauer und N o t h beinahe schon mit den Lippen, so dass er wie unwillkürlich vorwärts drängt. Freilich bleiben andere Naturen, von der schönen Täuschung wie betäubt, stehen: die Wüste verschlingt sie, für die Wissenschaft sind sie todt. Wieder andere Naturen, welche jene subjectiven Tröstungen schon öfter erfahren haben, werden wohl auf's Aeusserste missmuthig und verfluchen den Salzgeschmack, welchen jene Erscheinungen im Munde hinterlassen und aus dem ein rasender Durst entsteht — ohne dass man nur Einen Schritt damit irgend einer Quelle näher gekommen wäre.
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Menschliches, Allzumenschliches I I
32Die angebliche „ w i r k l i c h e W i r k l i c h k e i t . " — Der Dichter stellt sich so, wenn er die einzelnen Berufsarten z. B. die des Feldherrn, des Seidenwebers, des Seemanns schildert, als ob er diese Dinge von Grund aus kenne und ein W i s s e n d e r sei; ja bei der Auseinanderlegung menschlicher Handlungen und Geschicke benimmt er sich, wie als ob er beim Ausspinnen des ganzen Weltennetzes zugegen gewesen sei: in so fern ist er ein Betrüger. Und zwar betrügt er vor lauter N i c h t w i s s e n d e n — und desshalb gelingt es ihm: diese bringen ihm das Lob seines ächten und tiefen Wissens entgegen und verleiten ihn endlich zu dem Wahne, er wisse die Dinge wirklich so gut wie der einzelne Kenner und Macher, ja wie die grosse WeltenSpinne selber. Zuletzt also wird der Betrüger ehrlich und glaubt an seine Wahrhaftigkeit. Ja, die empfindenden Menschen sagen es ihm sogar in's Gesicht, er habe die h ö h e r e Wahrheit und Wahrhaftigkeit, — sie sind nämlich der Wirklichkeit zeitweilig müde und nehmen den dichterischen Traum als eine wohlthätige Ausspannung und Nacht für Kopf und Herz. Was dieser Traum ihnen zeigt, erscheint ihnen jetzt mehr w e r t h , weil sie es, wie gesagt, wohlthätiger empfinden: und immer haben die Menschen gemeint, das werthvoller Scheinende sei das Wahrere, Wirklichere. Die Dichter, die sich dieser Macht b e w u s s t sind, gehen absichtlich darauf aus, Das, was für gewöhnlich Wirklichkeit genannt wird, zu verunglimpfen und zum Unsichern, Scheinbaren, Unächten, Sünd-, Leid- und Trugvollen umzubilden; sie benützen alle Zweifel über die Gränzen der Erkenntniss, alle skeptischen Ausschreitungen, um die faltigen Schleier der Unsicherheit über die Dinge zu breiten: damit dann, nach dieser Umdunkelung, ihre Zauberei und Seelenmagie recht unbedenklich als Weg zur „wahren Wahrheit", zur „wirklichen Wirklichkeit" verstanden werde.
1. Vermischte Meinungen und Sprüdie 3 2 — 3 3
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33-
G e r e c h t sein w o l l e n und R i c h t e r sein w o l l e n . — Schopenhauer, dessen grosse Kennerschaft für Menschliches und Allzumenschliches, dessen ursprünglicher ThatsachenSinn nicht wenig durch das bunte Leoparden-Fell seiner Metaphysik beeinträchtigt worden ist (welches man ihm erst abziehen muss, um ein wirkliches Moralisten-Genie darunter zu entdecken) — Schopenhauer macht jene treffliche Unterscheidung, mit der er viel mehr Recht behalten wird, als er sich selber eigentlich zugestehen durfte: „die Einsicht in die strenge Nothwendigkeit der menschlichen Handlungen ist die Gränzlinie, welche die p h i l o s o p h i s c h e n Köpfe von d e n a n d e r e n scheidet." Dieser mächtigen Einsicht, welcher er zu Zeiten offen stand, wirkte er bei sich selber durch jenes Vorurtheil entgegen, welches er mit den moralischen Menschen ( n i c h t mit den Moralisten) noch gemein hatte und das er ganz harmlos und gläubig so ausspricht: „der letzte und wahre Aufschluss über das innere Wesen des Ganzen der Dinge muss nothwendig eng zusammenhängen mit dem über die ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns", — was eben durchaus nicht „nothwendig" ist, vielmehr durch jenen Satz von der strengen N o t wendigkeit der menschlichen Handlungen, das heisst der unbedingten Willens-Unfreiheit und -Unverantwortlichkeit, eben abgelehnt wird. Die philosophischen Köpfe werden sich also von den anderen durch den Unglauben an die metaphysische Bedeutsamkeit der Moral unterscheiden: und das dürfte eine Kluft zwischen sie legen, von deren Tiefe und Unüberbrückbarkeit die so beklagte Kluft zwischen „Gebildet" und „Ungebildet", wie sie jetzt existirt, kaum einen Begriff giebt. Freilich muss noch manche Hinterthür, welche sich die „philosophischen Köpfe", gleich Schopenhauern selbst, gelassen haben, als nutzlos erkannt werden: k e i n e führt in's Freie, in die Luft des freien Willens; j e d e , durch welche man bisher geschlüpft ist, zeigte dahinter wieder die ehern blinkende Mauer des Fatums:
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Menschliches, Allzumenschliches II
wir s i n d im Gefängniss, frei können wir uns nur t r ä u m e n , nicht m a c h e n . Dass dieser Erkenntniss nicht lange mehr widerstrebt werden kann, das zeigen die verzweifelten und unglaublichen Stellungen und Verzerrungen Derer an, welche gegen sie andringen, mit ihr noch den Ringkampf fortsetzen. — So ungefähr geht es bei ihnen jetzt zu: „also kein Mensch verantwortlich? U n d Alles voll Schuld und Schuldgefühl? Aber irgendwer muss doch der Sünder sein: ist es unmöglich und nicht mehr erlaubt, den Einzelnen, die arme Welle im nothwendigen Wellenspiele des Werdens, anzuklagen und zu richten, — nun denn: so sei das Wellenspiel selbst, das Werden, der Sünder: hier ist der freie Wille, hier darf angeklagt, verurtheilt, gebüsst und gesühnt werden: so sei G o t t d e r S ü n d e r und d e r M e n s c h s e i n E r 1 ö s e r: so sei die Weltgeschichte Schuld, Selbstverurtheilung und Selbstmord; so werde der Missethäter zum eigenen Richter, der Richter zum eigenen H e n k e r . " — Dieses a u f d e n K o p f g e s t e l l t e C h r i s t e n t h u m — was ist es denn sonst? — ist der l e t z t e Fechter-Ausfall im Kampfe der Lehre von der unbedingten Moralität mit der von der unbedingten Unfreiheit, — ein schauerliches Ding, wenn es m e h r wäre als eine l o g i s c h e G r i m a s s e , mehr als eine hässliche Gebärde des unterliegenden Gedankens, — etwa der Todeskrampf des verzweifelnden und heilsüchtigen Herzens, dem der Wahnsinn zuflüstert: „Siehe, du bist das Lamm, das Gottes Sünde trägt." — Der I r r t h u m steckt nicht nur im Gefühle „ich bin verantwortlich", sondern eben so in jenem Gegensatze „ich bin es nicht, aber irgendwer muss es doch sein." — Diess ist eben nicht wahr: der Philosoph hat also zu sagen, wie Christus, „richtet nicht!" und der letzte Unterschied zwischen den philosophischen Köpfen und den andern wäre der, dass die ersten g e r e c h t s e i n wollen, die andern R i c h t e r sein wollen.
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 3 3 — 3 7
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34A u f o p f e r u n g . — Ihr meint, das Kennzeichen der moralischen H a n d l u n g sei die A u f o p f e r u n g ? — D e n k t doch nach, ob nicht bei j e d e r H a n d l u n g , die mit Ueberlegung gethan wird, 5 A u f o p f e r u n g dabei ist, bei der schlechtesten wie bei der besten.
35Gegen die N i e r e n p r ü f e r der S i t t l i c h k e i t . — Man muss das Beste und das Schlechteste kennen, dessen ein Mensch fähig ist, im Vorstellen und Ausführen, u m zu beurtheilen, wir stark seine sittliche N a t u r ist und wurde. Aber jenes zu erfahren ist unmöglich.
36. S c h l a n g e n z a h n . — O b man einen Schlangenzahn habe oder nicht, weiss man nicht eher, als bis J e m a n d die Ferse auf '$ uns gesetzt hat. Eine Frau oder Mutter würde sagen: bis J e m a n d die Ferse auf unsern Liebling, unser Kind gesetzt hat. — Unser Charakter wird noch mehr durch den Mangel gewisser Erlebnisse, als durch Das, was man erlebt, bestimmt.
37D e r B e t r u g i n d e r L i e b e . — Man vergisst manches aus seiner Vergangenheit und schlägt es sich absichtlich aus dem Sinn: das heisst, man will, dass unser Bild, welches von der Vergangenheit her uns anstrahlt, uns belüge, unserm Dünkel schmeichele, — wir arbeiten fortwährend an diesem Selbst2 5 betrüge. — U n d nun meint ihr, die ihr so viel v o m „Sich selbst vergessen in der Liebe", v o m „ A u f g e h e n des Ich in der andern Person" redet und rühmt, diess sei etwas wesentlich Anderes? Also man zerbricht den Spiegel, dichtet sich in eine Person hin-
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Menschliches, Allzumenschliches I I
ein, die man bewundert, und geniesst nun das neue Bild seines Ich, ob man es schon mit dem Namen der anderen Person nennt, — und dieser ganze Vorgang soll n i c h t Selbstbetrug, n i c h t Selbstsucht sein, ihr Wunderlichen! — Ich denke, Die, welche etwas von sich v o r s i c h verhehlen und Die, welche sich als Ganzes vor sich verhehlen, sind darin gleich, dass sie in der Schatzkammer der Erkenntniss einen D i e b s t a h l verüben: woraus sich ergiebt, vor welchem Vergehen der Satz „erkenne dich selbst" warnt.
38.
A n d e n L e u g n e r s e i n e r E i t e l k e i t . — Wer die Eitelkeit bei sich leugnet, besitzt sie gewöhnlich in so brutaler Form, dass er instinctiv vor ihr das Auge schliesst, um sich nicht verachten zu müssen.
39W e s s h a l b die D u m m e n so o f t b o s h a f t werd e n . — Auf Einwände des Gegners, gegen welche sich unser Kopf zu schwach fühlt, antwortet unser Herz durch Verdächtigung der Motive seiner Einwände.
40.
Die K u n s t der m o r a l i s c h e n A u s n a h m e n . — Einer Kunst, welche die Ausnahmefälle der Moral zeigt und verherrlicht — dort wo das Gute schlecht, das Ungerechte gerecht wird — darf man nur selten Gehör geben: wie man von Zigeunern ab und zu Etwas kauft, doch mit Scheu, dass sie nicht viel mehr entwenden, als der Gewinn beim Kaufe ist.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 3 7 — 4 4
399
41.
G e n u s s u n d N i c h t - G e n u s s v o n G i f t e n . — Das einzige entscheidende Argument, welches zu allen Zeiten die Menschen abgehalten hat, ein Gift zu trinken, ist nicht, dass es 5 tödtete, sondern, dass es schlecht schmeckte.
42.
D i e W e l t o h n e S ü n d e n g e f ü h l e . — Wenn nur solche Thaten gethan würden, welche kein schlechtes Gewissen erzeugen, so sähe die menschliche Welt immer noch schlecht und 10 schurkenhaft genug aus: aber nicht so kränklich und erbärmlich wie jetzt. — Es lebten genug Böse o h n e Gewissen zu allen Zeiten: und vielen Guten und Braven fehlt das Lustgefühl des guten Gewissens.
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43D i e G e w i s s e n h a f t e n . — Seinem Gewissen folgen ist bequemer, als seinem Verstände: denn es hat bei jedem Misserfolg eine Entschuldigung und Aufheiterung in sich, — darum giebt es immer noch so viele Gewissenhafte gegen so wenig Verständige. 44.
E n t g e g e n g e s e t z t e M i t t e l , das B i t t e r w e r d e n z u v e r h ü t e n . — Dem einen Temperament ist es von N u t zen, seinen Verdruss in Worten auslassen zu können: im Reden versüsst es sich. Ein anderes Temperament kommt erst durch 1 5 Aussprechen zu seiner vollen Bitterkeit: ihm ist es räthlicher, Etwas hinunterschlucken zu müssen: der Zwang, den Menschen solcher A r t sich vor Feinden oder Vorgesetzten anthun, verbessert ihren Charakter und verhütet, dass er allzu scharf und sauer wird.
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Menschliches, Allzumenschliches I I
45N i c h t z u s c h w e r n e h m e n . — Sich w u n d liegen ist unangenehm, aber doch kein Beweis gegen die G ü t e der Cur, nach der man bestimmt wurde, sich zu Bett zu legen. — Menschen, die lange ausser sich lebten und endlich sich dem philosophischen Innen- und Binnenleben zuwandten, wissen, dass es auch ein Sich-wund-liegen von G e m ü t h und Geist giebt. Diess ist also kein Argument gegen die gewählte Lebensweise im Ganzen, macht aber einige kleine Ausnahmen und scheinbare Rückfälligkeiten nöthig.
46.
D a s m e n s c h l i c h e „ D i n g a n s i c h " . — Das verwundbarste Ding u n d doch das unbesiegbarste ist die menschliche Eitelkeit: ja durch die Verwundung wächst seine Kraft und kann zuletzt riesengross werden.
47D i e P o s s e v i e l e r A r b e i t s a m e n . — Sie erkämpfen durch ein Uebermaass von Anstrengung sich freie Zeit und wissen nachher Nichts mit ihr anzufangen, als die Stunden abzuzählen, bis sie abgelaufen sind.
48.
V i e l F r e u d e h a b e n . — Wer viel Freude hat, muss ein guter Mensch sein: aber vielleicht ist er nicht der klügste, obwohl er gerade Das erreicht, was der Klügste mit aller seiner Klugheit erstrebt.
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 4 5 — 5 0
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49I m S p i e g e l d e r N a t u r . — Ist ein Mensch nicht ziemlich genau beschrieben, wenn man hört, dass er gern zwischen gelben hohen Kornfeldern geht, dass er die Waldes- und Blu5 menfarben des abglühenden und vergilbten Herbstes allen andern vorzieht, weil sie auf Schöneres hindeuten als der N a t u r je gelingt, dass er unter grossen fettblätterigen N u s s b ä u m e n sich ganz heimisch wie ünter Bluts-Verwandten fühlt, dass im Gebirge seine grösste Freude ist, jenen kleinen abgelegenen Seen 10 zu begegnen, aus denen ihn die Einsamkeit selber mit ihren Augen anzusehen scheint, dass er jene graue R u h e der NebelD ä m m e r u n g liebt, welche an Herbst- und Frühwinter-Abenden an die Fenster heranschleicht und jedes seelenlose Geräusch wie mit Sammt-Vorhängen umschliesst, dass er unbehauenes Gestein als übriggebliebene, der Sprache begierige Zeugen der Vorzeit empfindet und von Kind an verehrt, und zuletzt, dass ihm das Meer mit seiner beweglichen Schlangenhaut und RaubthierSchönheit f r e m d ist und bleibt? — J a , E t w a s von diesem Menschen ist allerdings damit beschrieben: aber der Spiegel der N a t u r sagt Nichts darüber, dass der selbe Mensch, bei aller seiner idyllischen Empfindsamkeit (und nicht einmal „ t r o t z ihrer"), ziemlich lieblos, knauserig und eingebildet sein könnte. H o r a z , der sich auf dergleichen Dinge verstand, hat das zarteste G e f ü h l für das Landleben einem römischen W u c h e r e r in M u n d und 2J Seele gelegt, in dem berühmten „beatus ille qui procul nego'tiis".
50.
M a c h t o h n e S i e g e . — Die stärkste Erkenntniss (die v o n der völligen Unfreiheit des menschlichen Willens) ist doch die ärmste an E r f o l g e n : denn sie hat immer den stärksten Geg3° ner, die menschliche Eitelkeit.
402
Menschliches, Allzumenschliches I I
5iL u s t u n d I r r t h u m . — Der Eine theilt sich unwillkürlich durch sein Wesen an seine Freunde wohlthätig mit, der Andere willkürlich durch einzelne Handlungen. Obgleich das Erstere als das H ö h e r e g i l t , so ist doch nur das Zweite mit dem guten Gewissen und der Lust verknüpft — nämlich mit der Lust der Werkheiligkeit, welche auf dem Glauben an der Willkür unseres Gut- und Schlimmthuns, das heisst auf einem Irrthum ruht.
52E s i s t t h ö r i c h t , U n r e c h t z u t h u n . — Eigenes Unrecht, das man zugefügt hat, ist viel schwerer zu tragen als fremdes, das Einem zugefügt wurde (nicht gerade aus moralischen Gründen, wohlgemerkt —); der Thäter ist eigentlich immer der Leidende, w e n n er nämlich entweder den Gewissensbissen zugänglich ist oder der Einsicht, dass er die Gesellschaft gegen sich durch seine H a n d l u n g bewaffnet u n d sich isolirt habe. Desshalb sollte man sich, schon seines inneren Glückes wegen, also u m seines Wohlbehagens nicht verlustig zu gehen, ganz abgesehen von Allem, was Religion und Moral gebieten, vor dem Unrecht-Thun in Acht nehmen, mehr noch als vor dem Unrecht-Erfahren: denn letzteres hat den Trost des guten Gewissens, der H o f f n u n g auf Rache, auf Mitleiden u n d Beifall der Gerechten, ja der ganzen Gesellschaft, welche sich vor dem Uebelthäter fürchtet. — Nicht Wenige verstehen sich auf die unsaubere Selbstüberlistung, jedes eigene Unrecht in ein f r e m des, ihnen zugefügtes u m z u m ü n z e n u n d f ü r das, was sie selber gethan haben, sich das Ausnahmerecht der N o t h w e h r zur E n t schuldigung vorzubehalten: u m auf diese Weise viel leichter an ihrer Last zu tragen.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 51—56
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53N e i d m i t o d e r o h n e M u n d s t ü c k . — Der gewöhnliche Neid pflegt zu gackern, sobald das beneidete H u h n ein Ei gelegt hat: er erleichtert sich dabei und wird milder. Es giebt aber einen noch tieferen Neid: der wird in solchem Falle todtenstill, und, wünschend dass jetzt jeder Mund versiegelt würde, immer wüthender darüber, dass diess gerade nicht geschieht. Der schweigende Neid wächst im Schweigen. 54D e r Z o r n a l s S p i o n . — Der Zorn schöpft die Seele aus und bringt selbst den Bodensatz an's Licht. Man muss desshalb, wenn man sonst sich nicht Klarheit zu schaffen weiss, seine Umgebung, seine Anhänger und Gegner in Z o r n zu versetzen wissen, u m zu erfahren, was im G r u n d e Alles wider uns geschieht und gedacht wird. 55Die V e r t h e i d i g u n g moralisch schwieriger a l s d e r A n g r i f f . — Das wahre Helden- und Meisterstück des guten Menschen liegt nicht darin, dass er die Sache angreift u n d die Person f o r t f ä h r t zu lieben, sondern in dem viel schwereren, seine e i g e n e Sache zu v e r t h e i d i g e n , ohne dass man der angreifenden Person bitteres Herzeleid mache und machen wolle. Das Schwert des Angriffs ist ehrlich u n d breit, das der Vertheidigung läuft gewöhnlich in eine Nadel aus. 56.
E h r l i c h g e g e n d i e E h r l i c h k e i t . — Einer, der gegen sich öffentlich ehrlich ist, bildet sich zu allerletzt Etwas auf diese Ehrlichkeit ein: denn er weiss n u r zu gut, w a r u m er ehrlich ist, — aus dem selben Grunde, aus dem ein Anderer den Schein u n d die Verstellung vorzieht.
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Menschliches, Allzumenschliches I I
57G l ü h e n d e K o h l e n . — Glühende Kohlen auf des Andern H a u p t sammeln wird gewöhnlich missverstanden und schlägt fehl, weil der Andere sich ebenfalls im guten Besitze des Rechts weiss und auch seinerseits an das Kohlensammeln gedacht hat.
58.
G e f ä h r l i c h e B ü c h e r . — Da sagt Einer „ich merke es an mir selber: dies Buch ist schädlich." Aber er warte nur ab und vielleicht gesteht er sich eines Tages, dass dieses selbe Buch ihm einen grossen Dienst erwies, indem es die versteckte Krankheit seines Herzens hervortrieb u n d in die Sichtbarkeit brachte. — Veränderte Meinungen verändern den Charakter eines Menschen nicht (oder ganz wenig); wohl aber beleuchten sie einzelne Seiten des Gestirns seiner Persönlichkeit, welche bisher, bei einer andern Constellation von Meinungen, dunkel und unerkennbar geblieben waren.
59G e h e u c h e l t e s M i t l e i d e n . — Man heuchelt Mitleiden, wenn man über das Gefühl der Feindseligkeit sich erhaben z e i g e n will: aber gewöhnlich umsonst. Diess bemerkt man nicht ohne ein starkes Zunehmen jener feindseligen Empfindung.
60.
Offener Widerspruch oft versöhnend. — Im Augenblick, wo einer seine Differenz der Lehrmeinung in
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 5 7 — 6 3
405
Hinsicht auf einen berühmten Parteiführer oder Lehrer öffentlich zu erkennen giebt, glaubt alle Welt, er müsse ihm gram sein. Mitunter hört er aber gerade da auf, ihm gram zu sein: er wagt es, sich selber neben ihm aufzustellen und ist die Q u a l der unausgesprochenen Eifersucht los.
6i. S e i n L i c h t l e u c h t e n s e h e n . — Im verfinsterten Zustande von Trübsal, Krankheit, Verschuldung sehen wir es gern, wenn wir Anderen noch leuchten und sie an uns die helle Mondesscheibe wahrnehmen. Auf diesem Umwege nehmen wir an unserer eigenen Fähigkeit, zu e r h e 11 e n , Antheil.
62. M i t f r e u d e . — Die Schlange, die uns sticht, meint uns wehe zu thun und freut sich dabei; das niedrigste Thier kann sich fremden S c h m e r z vorstellen. Aber fremde Freude sich vorstellen und sich dabei freuen, ist das höchste Vorrecht der höchsten Thiere und wieder unter ihnen nur den ausgesuchtesten Exemplaren zugänglich, — also ein seltenes humanum: so dass es Philosophen gegeben hat, welche die Mitfreude geleugnet haben.
63.
Nachträgliche Schwangerschaft. — Die, welche zu ihren Werken und Thaten gekommen sind, sie wissen nicht wie, gehen gewöhnlich hinterher um so mehr mit ihnen schwanger: wie um nachträglich zu beweisen, dass es ihre Kinder und nicht die des Zufalls sind.
406
Menschliches, Aüzumenschliches I I
64. A u s E i t e l k e i t h a r t h e r z i g . — Wie Gerechtigkeit so häufig der Deckmantel der Schwäche ist, so greifen billig denkende, aber schwache Menschen mitunter aus Ehrgeiz zur Verstellung und benehmen sich ersichtlich ungerecht und hart — um den Eindruck der Stärke zu hinterlassen. 65.
D e m ü t h i g u n g . — Findet Jemand in einem geschenkten Sack Vortheil auch nur ein Korn Demüthigung, so macht er doch noch eine böse Miene zum guten Spiele. 66. A e u s s e r s t e s H e r o s t r a t e n t h u m . — Es könnte Herostrate geben, welche den eigenen Tempel anzündeten, in dem ihre Bilder verehrt werden. 67.
D i e D e m i n u t i v - W e i t . — Der Umstand, dass alles Schwache und Hülfsbedürftige zu Herzen spricht, bringt die Gewohnheit mit sich, dass wir Alles, was uns zu Herzen spricht, mit Verkleinerungs- und Abschwächungsworten bezeichnen, — also, für unsere Empfindung, schwach und hilfsbedürftig machen. 68.
U e b l e E i g e n s c h a f t d e s M i t l e i d e n s . — Das Mitleiden hat eine eigene Unverschämtheit als Gefährtin: denn weil es durchaus helfen möchte, ist es weder über die Mittel der Heilung, noch über Art und Ursache der Krankheit in Verlegenheit und quacksalbert muthig auf die Gesundheit und den Ruf seines Patienten los.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 64—72
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69. Z u d r i n g l i c h k e i t . — Es giebt auch eine Zudringlichkeit gegen Werke; und sich als Jüngling schon nachahmend zu den erlauchtesten Werken aller Zeiten mit der Vertraulichkeit des D u und Du zu gesellen, beweist einen völligen Mangel an Scham. — Andere sind nur aus Ignoranz zudringlich: sie wissen nicht, mit wem sie es zu t h u n haben, — so nicht selten junge und alte Philologen im Verhältniss zu den Werken der Griechen.
70. D e r Wille s c h ä m t sich des I n t e l l e c t e s . — Mit aller Kälte machen wir vernünftige E n t w ü r f e gegen unsre Affecte: dann aber begehen wir die gröbsten Fehler dagegen, weil wir uns häufig im Augenblicke, wo der Vorsatz ausgeführt werden sollte, jener Kälte u n d Besonnenheit schämen, mit der wir ihn fassten. U n d so t h u t man dann gerade das U n v e r n ü n f tige, aus jener A r t trotziger Grossherzigkeit, welche jeder Affect mit sich bringt.
7iWarum dieSkeptikerderMoral missfallen. — Wer seine Moralität hoch und schwer nimmt, zürnt den Skeptikern auf dem Gebiete der Moral: denn dort, wo er alle seine Kraft aufwendet, soll man s t a u n e n , aber nicht untersuchen und zweifeln. — Dann giebt es N a t u r e n , deren l e t z t e r Rest von Moralität eben der Glaube an Moral ist: sie benehmen sich eben so gegen die Skeptiker, womöglich noch leidenschaftlicher.
7*S c h ü c h t e r n h e i t . — Alle Moralisten sind schüchtern, weil sie wissen, dass sie mit Spionirern und Verräthern ver-
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Menschliches, Allzumenschliches I I
wechselt werden, dann sind sie sich sein: denn mitten Aufmerksamkeit
sobald man ihren H a n g ihnen anmerkt. Soüberhaupt bewusst, im Handeln unkräftig zu im Werke ziehen die Motive ihres Thuns ihre fast v o m Werke ab.
73Eine G e f a h r für die allgemeine Moralität. — Menschen, die zugleich edel und ehrlich sind, bringen es zu Wege, jede Teufelei, welche ihre Ehrlichkeit ausheckt, zu vergöttlichen u n d die Wage des moralischen Urtheils eine Zeit lang stillzustellen. 74B i t t e r s t e r I r r t h u m . — Es beleidigt unversöhnlich, zu entdecken, dass man dort, wo man überzeugt war geliebt zu sein, n u r als Hausgeräth und Zimmerschmuck betrachtet wurde, an dem der Hausherr vor Gästen seine Eitelkeit auslassen kann.
75-
L i e b e u n d Z w e i h e i t . — Was ist denn Liebe anders als verstehen und sich darüber freuen, dass ein Andrer in andrer und entgegengesetzter Weise, als wir, lebt, w i r k t und empfindet? Damit die Liebe die Gegensätze durch Freude überbrücke, darf sie dieselben nicht aufheben, nicht leugnen. — Sogar die Selbstliebe enthält die unvermischbare Zweiheit (oder Vielheit) in Einer Person als Voraussetzung. 76. A u s d e m T r a u m e d e u t e n . — Was man mitunter im Wachen nicht genau weiss u n d f ü h l t — ob man gegen eine Person ein gutes oder ein schlechtes Gewissen habe — darüber belehrt völlig unzweideutig der Traum.
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 7 2 — 8 1
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77A u s s c h w e i f u n g . — Die Mutter der Ausschweifung ist nicht die Freude, sondern die Freudlosigkeit.
78.
S t r a f e n u n d b e l o h n e n . — Niemand klagt an, ohne den Hintergedanken an Strafe und Rache zu haben, — selbst wenn man sein Schicksal, ja sich selber anklagt. — Alles Klagen ist Anklagen, alles Sich-freuen ist Loben: wir mögen das Eine oder das Andere thun, immer machen wir Jemanden verantwortlich.
79Z w e i m a l u n g e r e c h t . — Wir fördern mitunter die Wahrheit durch eine doppelte Ungerechtigkeit, dann nämlich, wenn wir die beiden Seiten einer Sache, die wir nicht im Stande sind zusammen zu sehen, hintereinander sehen und darstellen, doch so, dass wir jedesmal die andere Seite verkennen oder leugnen, im Wahne, Das, was wir sehen, sei die ganze Wahrheit.
80. M i s s t r a u e n . — Das Misstrauen an sich selber geht nicht immer unsicher und scheu daher, sondern mitunter wie tollwüthig: es hat sich berauscht, um nicht zu zittern.
81. P h i l o s o p h i e d e s P a r v e n ü . — Will man einmal eine Person sein, so muss man auch seinen Schatten in Ehren halten.
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Menschliches, Allzumenschlidies II 82.
S i c h r e i n z u w a s c h e n v e r s t e h e n . — Man muss lernen, aus unreinlichen Verhältnissen reinlicher hervorzugehen und sich, wenn es N o t h thut, auch mit schmutzigem Wasser waschen.
83.
S i c h g e h e n l a s s e n . — Je mehr sich Einer gehen lässt, um so weniger lassen ihn die Andern gehen.
84.
D e r u n s c h u l d i g e S c h u f t . — Es giebt einen langsamen, schrittweisen Weg zu Laster und Schurkenhaftigkeit jeder Art. Am Ende desselben haben Den, welcher ihn geht, die Insecten-Schwärme des schlechten Gewissens völlig verlassen, und er wandelt, obschon ganz verrucht, doch in Unschuld.
85.
P l ä n e m a c h e n . — Pläne machen und Vorsätze fassen bringt viel gute Empfindungen mit sich, und wer die Kraft hätte, sein ganzes Leben lang Nichts als ein Pläne-Schmiedender zu sein, wäre ein sehr glücklicher Mensch: aber er wird sich gelegentlich von dieser Thätigkeit ausruhen müssen, dadurch dass er einen Plan ausführt — und da kommt der Aerger und die Ernüchterung.
86.
W o m i t w i r d a s I d e a l s e h e n . — Jeder tüchtige Mensch ist verrannt in seine Tüchtigkeit und kann aus ihr nicht frei hinausblicken. Hätte er sonst nicht sein gut Theil von Un-
1. Vermischte Meinungen u n d Spriidie 8 2 — 8 8
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Vollkommenheit, er könnte seiner Tugend halber zu keiner geistig-sittlichen Freiheit kommen. Unsere Mängel sind die Augen, mit denen wir das Ideal sehen.
87. U n e h r l i c h e s L o b . — Unehrliches Lob macht hinterdrein viel mehr Gewissensbisse als unehrlicher Tadel, wahrscheinlich nur desshalb, weil wir durch zu starkes Loben unsere Urtheilsfähigkeit viel stärker blossgestellt haben, als durch zu starkes, selbst ungerechtes Tadeln.
88. W i e m a n s t i r b t , i s t g l e i c h g ü l t i g . — Die ganze Art, wie ein Mensch während seines vollen Lebens, seiner blühenden Kraft an den Tod denkt, ist freilich sehr sprechend und zeugnissgebend für Das, was man seinen Charakter nennt; aber die Stunde des Sterbens selber, seine Haltung auf dem Todtenbette ist fast gleichgültig dafür. Die Erschöpfung des ablaufenden Daseins, namentlich wenn alte Leute sterben, die unregelmässige oder unzureichende Ernährung des Gehirns während dieser letzten Zeit, das gelegentlich sehr Gewaltsame des Schmerzes, das Unerprobte und Neue des ganzen Zustandes und gar zu häufig der An- und Rückfall von abergläubischen Eindrücken und Beängstigungen, als ob am Sterben viel gelegen sei und hier Brücken schauerlichster Art überschritten würden, — diess Alles e r l a u b t es nicht, das Sterben als Zeugniss über den Lebenden zu benützen. Auch ist es nicht wahr, dass der Sterbende im Allgemeinen e h r l i c h e r wäre als der Lebende: vielmehr wird fast Jeder durch die feierliche Haltung der Umgebenden, die zurückgehaltenen oder fliessenden Thränen- und Gefühlsbäche zu einer bald bewussten bald unbewussten Komödie der Eitelkeit verführt. Der Ernst, mit dem jeder Sterbende behan-
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Menschliches, Allzumenschlidies I I
delt wird, ist gewiss gar manchem armen verachteten Teufel der feinste Genuss seines ganzen Lebens und eine Art Schadenersatz und Abschlagszahlung für viele Entbehrungen gewesen.
89.
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D i e S i t t e u n d i h r O p f e r . — Der Ursprung der Sitte geht auf zwei Gedanken zurück: „die Gemeinde ist mehr werth als der Einzelne" und „der dauernde Vortheil ist dem flüchtigen vorzuziehen"; woraus sich der Schluss ergiebt, dass der dauernde Vortheil der Gemeinde unbedingt dem Vortheile des Einzelnen, namentlich seinem momentanen Wohlbefinden, aber auch seinem dauernden Vortheile und selbst seinem Weiterleben voranzustellen sei. Ob nun der Einzelne von einer Einrichtung leide, die dem Ganzen frommt, ob er an ihr verkümmere, ihretwegen zu Grunde gehe, — die Sitte muss erhalten, das Opfer gebracht werden. Eine solche Gesinnung e n t s t e h t aber nur in Denen, welche n i c h t das Opfer sind, — denn dieses macht in seinem Falle geltend, dass der Einzelne mehr werth sein könne als Viele, ebenso dass der gegenwärtige Genuss, der Augenblick im Paradiese, vielleicht höher anzuschlagen sei als eine matte Fortdauer von leidlosen oder wohlhäbigen Zuständen. Die Philosophie des Opferthiers wird aber immer zu spät laut: und so bleibt es bei der Sitte und der S i t t l i c h k e i t : als welche eben nur die Empfindung für den ganzen Inbegriff von Sitten ist, unter denen man lebt und erzogen wurde — und zwar erzogen nicht als Einzelner, sondern als Glied eines Ganzen, als Ziffer einer Majorität. — So kommt es fortwährend vor, dass der Einzelne sich selbst, vermittelst seiner Sittlichkeit, majorisirt.
90.
3°
D a s G u t e u n d d a s g u t e G e w i s s e n . — Ihr meint,
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 8 8 — 9 1
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alle guten Dinge hätten zu aller Zeit ein gutes Gewissen gehabt? — Die Wissenschaft, also gewisslich etwas sehr Gutes, ist ohne ein solches und ganz bar alles Pathos' in die Welt getreten, vielmehr heimlich, auf Umwegen, mit verhülltem oder maskirtem Haupte einherziehend, gleich einer Verbrecherin, und immer mindestens mit dem G e f ü h l e einer Schleichhändlerin. Das gute Gewissen hat als Vorstufe das böse Gewissen — nicht als Gegensatz: denn alles Gute ist einmal neu, folglich ungewohnt, wider die Sitte, u n s i t t l i c h gewesen und nagte im Herzen des glücklichen Erfinders wie ein Wurm.
D e r E r f o l g h e i l i g t d i e A b s i c h t e n . — Man scheue sich nicht, den Weg zu einer Tugend zu gehen, selbst wenn man deutlich einsieht, dass Nichts als Egoismus — also Nutzen, persönliches Behagen, Furcht, Rücksicht auf Gesundheit, auf Ruf oder Ruhm — die dazu treibenden Motive sind. Man nennt diese Motive unedel und selbstisch: gut, aber wenn sie uns zu einer Tugend, zum Beispiel Entsagung, Pflichttreue, Ordnung, Sparsamkeit, Maass und Mitte anreizen, so höre man ja auf sie, wie auch ihre Beiworte lauten mögen! Erreicht man nämlich Das, wozu sie rufen, so v e r e d e l t die e r r e i c h t e Tugend, vermöge der reinen Luft, die sie athmen lässt, und des seelischen Wohlgefühls, das sie mittheilt, immerfort die ferneren Motive unseres Handelns, und wir thun die selben Handlungen später nicht mehr aus den gleichen gröberen Motiven, welche uns früher dazu führten. — Die Erziehung soll desshalb die Tugenden, so gut es geht, e r z w i n g e n , je nach der Natur des Zöglings: die Tugend selber, als die Sonnen- und Sommerluft der Seele, mag dann ihr eigenes Werk daran thun und Reife und Süssigkeit hinzuschenken.
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Menschliches, Allzumenschliches I I 92.
C h r i s t e n t h ü m l e r , n i c h t C h r i s t e n . — Das wäre also euer Christenthum! — U m Menschen zu ä r g e r n , preist ihr „Gott und seine Heiligen"; und wiederum wenn ihr Menschen p r e i s e n wollt, so treibt ihr es so weit, dass G o t t und seine Heiligen sich ärgern müssen. — Ich wollte, ihr lerntet wenigstens die christlichen Manieren, da es euch so an der Manierlichkeit des christlichen Herzens gebricht.
93N a t u r e i n d r u c k der F r o m m e n und U n f r o m m e n . — Ein ganz frommer Mensch muss uns ein Gegenstand der Verehrung sein: aber ebenso ein ganzer aufrichtiger, durchdrungener Unfrommer. Ist man bei Menschen der letzteren Art wie in der N ä h e des Hochgebirges, wo die kräftigsten Ströme ihren Ursprung haben, so bei den Frommen wie unter saftvollen, breitschattigen, ruhigen Bäumen.
94J u s t i z m o r d e . — Die zwei grössten Justizmorde in der Weltgeschichte sind, ohne Umschweife gesprochen, verschleierte und gut verschleierte Selbstmorde. In beiden Fällen w o l l t e man sterben; in beiden Fällen liess man sich das Schwert durch die H a n d der menschlichen Ungerechtigkeit in die Brust stossen.
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„ L i e b e " . — Der feinste Kunstgriff, welchen das Christenthum vor den übrigen Religionen voraus hat, ist ein Wort: es redete von L i e b e . So wurde es die l y r i s c h e Religion (während in seinen beiden anderen Schöpfungen das Semitenthum der Welt heroisch-epische Religionen geschenkt hat). Es ist
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 9 2 — 9 6
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in dem Worte Liebe etwas so Vieldeutiges, Anregendes, zur Erinnerung, zur Hoffnung Sprechendes, dass auch die niedrigste Intelligenz und das kälteste Herz noch Etwas von dem Schimmer dieses Wortes fühlt. Das klügste Weib und der gemeinste Mann denken dabei an die verhältnissmässig uneigennützigsten Augenblicke ihres gesammten Lebens, selbst wenn Eros nur einen niedrigen Flug bei ihnen genommen hat; und jene Zahllosen, welche Liebe v e r m i s s e n , von Seiten der Eltern, Kinder oder Geliebten, namentlich aber die Menschen der sublimirten Geschlechtlichkeit, haben im Christenthum ihren Fund gemacht.
D a s e r f ü l l t e C h r i s t e n t h u m . — Es giebt auch innerhalb des Christenthums eine epikureische Gesinnung, ausgehend von dem Gedanken, dass Gott von dem Menschen, seinem Geschöpf und Ebenbilde, nur verlangen könne, was diesem zu erfüllen m ö g l i c h sein müsse, dass also christliche Tugend und Vollkommenheit erreichbar und oft erreicht sei. Nun macht zum Beispiel der G l a u b e , seine Feinde zu l i e b e n — selbst wenn es eben nur Glaube, Einbildung und durchaus keine psychologische Wirklichkeit (also keine Liebe) ist — unbedingt g l ü c k l i c h , so lange er wirklich geglaubt wird (warum? darüber werden freilich Psycholog und Christ verschieden denken). Und so möchte das i r d i s c h e L e b e n durch den Glauben, ich meine die Einbildung, nicht nur jenem Ansprüche, seine Feinde zu lieben, sondern allen übrigen christlichen Ansprüchen zu genügen und die göttliche Vollkommenheit nach der Aufforderung „seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist" wirklich sich angeeignet und einverleibt zu haben, in der That zu einem s e l i g e n L e b e n werden. Der Irrthum kann also die V e r h e i s s u n g Christi zur Wahrheit machen.
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Menschliches, Allzumenschliches I I
97V o n der Z u k u n f t des C h r i s t e n t h u m s . — Ueber das Verschwinden des Christenthums und darüber, in welchen Gegenden es am langsamsten weichen wird, kann m a n sich eine V e r m u t h u n g gestatten, wenn man erwägt, aus welchen G r ü n d e n und w o der Protestantismus so ungestüm u m sich griff. E r verhiess bekanntlich alles das Selbe weit billiger zu leisten, was die alte Kirche leistete, also ohne kostspielige Seelenmessen, Wallfahrten, Priester-Prunk und -Ueppigkeit; er verbreitete sich namentlich bei den nördlichen N a t i o n e n , welche nicht so tief in der Symbolik und Formenlust der alten Kirche eingewurzelt waren, als die des Südens: bei diesen lebte ja im Christenthume das viel mächtigere religiöse H e i d e n t h u m fort, während im N o r d e n das Christenthum einen Gegensatz und Bruch mit dem Altheimischen bedeutete und desshalb mehr gedankenhafl als sinnfällig von A n f a n g an war, eben desshalb aber auch, zu Zeiten der Gefahr, fanatischer und trotziger. Gelingt es, v o m G e d a n k e n aus das Christenthum zu entwurzeln, so liegt auf der H a n d , wo es anfangen wird, zu verschwinden: also gerade dort, wo es auch am allerhärtesten sich wehren wird. Anderwärts wird es sich beugen, aber nicht brechen, entblättert werden, aber wieder Blätter ansetzen, — weil dort die S i n n e und nicht die Gedanken für dasselbe Partei genommen haben. Die Sinne aber sind es, welche auch den Glauben unterhalten, dass mit allem K o s t e n a u f w a n d der Kirche doch immer noch billiger und bequemer gewirthschaftet werde, als mit den strengen Verhältnissen von Arbeit und Lohn: denn welches Preises hält man die Müsse (oder die halbe Faulheit) für werth, wenn man sich erst an sie gewöhnt hat! Die Sinne wenden gegen eine entchristlichte Welt ein, dass in ihr zu viel gearbeitet werden müsse, und der E r t r a g an Müsse zu klein sei; sie nehmen die Partei der Magie, das heisst — sie lassen lieber G o t t für sich arbeiten (oremus nos, deus laboret!)
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 9 7 — 9 8
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98. Schauspielerei und Ehrlichkeit der Ung l ä u b i g e n . — Es giebt kein Buch, welches Das, was jedem Menschen gelegentlich wohl thut — schwärmerische opfer- und todbereite Glücks-Innigkeit im Glauben und Schauen s e i n e r „Wahrheit" als der letzten Wahrheit — so reichlich enthielte, so treuherzig ausdrückte, als das Buch, welches von Christus redet: aus ihm kann ein Kluger alle Mittel lernen, wodurch ein Buch z u m Weltbach, z u m Jedermanns-Freund gemacht werden kann, namentlich jenes Meister-Mittel, Alles als gefunden, Nichts als kommend und ungewiss hinzustellen. Alle wirkungsvollen Bücher versuchen, einen ähnlichen Eindruck zu hinterlassen, als ob der weiteste geistige und seelische Horizont hier umschrieben sei und um die hier leuchtende Sonne sich jedes gegenwärtige und zukünftig sichtbare Gestirn drehen müsse. — Muss also nicht aus dem selben Grunde, aus dem solche Bücher wirkungsvoll sind, jedes r e i n w i s s e n s c h a f t l i c h e Buch wirkungsarm sein? Ist es nicht verurtheilt, niedrig und unter Niedrigen zu leben, um endlich gekreuzigt zu werden und nie wieder aufzuerstehen? Sind im Verhältniss zu dem, was die Religiösen von ihrem „Wissen", v o n ihrem „heiligen" Geist verkünden, nicht alle Redlichen der Wissenschaft „ a r m im Geiste"? K a n n irgend eine Religion mehr Entsagung verlangen, unerbittlicher den Selbstsüchtigen aus sich herausziehen als die Wissenschaft? So und ähnlich und jedenfalls mit einiger Schauspielerei mögen w i r reden, wenn wir uns v o r den Gläubigen zu vertheidigen haben: denn es ist k a u m möglich, eine Vertheidigung ohne etwas Schauspielerei zu führen. U n t e r uns aber muss die Sprache ehrlicher sein: wir bedienen uns da einer Freiheit, welche Jene nicht einmal, ihres eigenen Interesses halber, verstehen dürfen. Weg also mit der K a p u z e der Entsagung! der Miene der D e m u t h ! Viel mehr und viel besser: so klingt unsere Wahrheit! Wenn die Wissenschaft nicht an die L u s t der Erkenntniss, an den N u t z e n des Erkannten geknüpft wäre,
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Menschliches, Allzumenschliches I I
was läge uns an der Wissenschaft? Wenn nicht ein wenig Glaube, Liebe und Hoffnung unsere Seele zur Erkenntniss hinführte, was zöge uns sonst zur Wissenschaft? Und wenn zwar in der Wissenschaft das Ich Nichts zu bedeuten hat, so bedeutet das erfinderische glückliche Ich, ja selbst schon jedes redliche und fleissige Ich, sehr viel in der Republik der wissenschaftlichen Menschen. Achtung der Achtung-Gebenden, Freude Solcher, welchen wir wohlwollen oder die wir verehren, unter Umständen R u h m und eine mässige Unsterblichkeit der Person ist der erreichbare Preis für jene Entpersönlichung, von geringeren Aussichten und Belohnungen hier zu schweigen, obschon gerade ihrethalben die Meisten den Gesetzen jener Republik und überhaupt der Wissenschaft zugeschworen haben und immerfort zuzuschwören pflegen. Wenn wir nicht in irgend einem Maasse u n w i s s e n s c h a f t l i c h e Menschen geblieben wären, was könnte uns auch nur an der Wissenschaft liegen! Alles in Allem genommen und rund, glatt und voll ausgesprochen: f ü r e i n rein e r k e n n e n d e s Wesen wäre die E r k e n n t n i s s g l e i c h g ü l t i g . — Von den Frommen und Gläubigen unterscheidet uns nicht die Qualität, sondern die Quantität Glaubens und Frommseins: wir sind mit Wenigerem zufrieden. Aber, werden jene uns zurufen — so seid auch zufrieden, und gebt euch auch als zufrieden! — Worauf wir leicht antworten dürften: „In der That, wir gehören nicht zu den Unzufriedensten! Ihr aber, wenn euer Glaube euch selig macht, so gebt euch auch als selig! Eure Gesichter sind immer eurem Glauben schädlicher gewesen, als unsere Gründe! Wenn jene frohe Botschaft eurer Bibel euch in's Gesicht geschrieben wäre, ihr brauchtet den Glauben an die Autorität dieses Buches nicht so halsstarrig zu fordern: eure Worte, eure Handlungen sollten die Bibel fortwährend überflüssig machen, eine neue Bibel sollte durch euch fortwährend entstehen! So aber hat alle eure Apologie des Christenthums ihre Wurzel in eurem Unchristenthum; mit eurer Vertheidigung schreibt ihr eure eigne Anklageschrift. Solltet
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 9 8 — 9 9
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ihr aber wünsdien, aus diesem eurem Ungenügen am Christenthum herauszukommen, so bringt euch doch die Erfahrung von zwei Jahrtausenden zur Erwägung: welche, in bescheidene Frageform gekleidet, so klingt: „wenn Christus wirklich die Absicht hatte, die Welt zu erlösen, sollte es ihm nicht misslungen sein?"
99D e r D i c h t e r als W e g w e i s e r für die Z u k u n f t . — So viel noch überschüssige dichterische Kraft unter den jetzigen Menschen vorhanden ist, welche bei der Gestaltung des Lebens nicht verbraucht wird, so viel sollte, ohne jeden Abzug, Einem Ziele sich weihen, nicht etwa der Abmalung des Gegenwärtigen, der Wiederbeseelung und Verdichtung der Vergangenheit, sondern dem Wegweisen für die Zukunft: — und diess nicht in dem Verstände, als ob der Dichter gleich einem phantastischen Nationalökonomen günstigere Volks- und Gesellschafts-Zustände und deren Ermöglichung im Bilde vorwegnehmen sollte. Vielmehr wird er, wie früher die Künstler an den Götterbildern fortdichteten, so an dem schönen Menschenbilde f o r t d i c h t e n und jene Fälle auswittern, wo m i t t e n in unserer modernen Welt und Wirklichkeit, wo ohne jede künstliche Abwehr und Entziehung von derselben, die schöne grosse Seele noch möglich ist, dort wo sie sich auch jetzt noch in harmonische, ebenmässige Zustände einzuverleiben vermag, durch sie Sichtbarkeit, Dauer und Vorbildlichkeit bekommt und also durch Erregung von Nachahmung und Neid die Zukunft schaffen hilft. Dichtungen solcher Dichter würden dadurch sich auszeichnen, dass sie gegen die Luft und Gluth der L e i d e n s c h a f t e n abgeschlossen und verwahrt erschienen: der unverbesserliche Fehlgriff, das Zertrümmern des ganzen menschlichen Saitenspiels, Hohnlachen und Zähneknirschen und alles Tragische und Komische im alten gewohnten Sinne, würde in der
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Menschliches, Allzumenschliches I I
N ä h e dieser neuen Kunst als lästige archaisirende Vergröberung des Menschen-Bildes e m p f u n d e n werden. Kraft, Güte, Milde, Reinheit und ungewolltes, eingeborenes Maass in den Personen u n d deren Handlungen: ein geebneter Boden, welcher dem Fusse R u h e und Lust giebt: ein leuchtender H i m m e l auf Gesichtern und Vorgängen sich abspiegelnd: das Wissen und die Kunst zu neuer Einheit zusammengeflossen: der Geist ohne Anmaassung und Eifersucht mit seiner Schwester, der Seele, zusammenwohnend und aus dem Gegensätzlichen die Grazie des Ernstes, nicht die Ungeduld des Zwiespaltes herauslockend: — diess Alles wäre das Umschliessende, Allgemeine, Goldgrundhafte, auf dem jetzt erst die zarten U n t e r s c h i e d e der verkörperten Ideale das eigentliche G e m ä l d e — das der immer wachsenden menschlichen H o h e i t — machen würden. — Von G o e t h e aus f ü h r t mancher Weg in diese Dichtung der Zukunft: aber es bedarf guter Pfadfinder und vor Allem einer viel grössern Macht als die jetzigen Dichter, das heisst die unbedenklichen Darsteller des Halbthiers und der mit Kraft und N a t u r verwechselten Unreife und Unmässigkeit, besitzen.
IOO. D i e M u s e a l s P e n t h e s i l e a . — „Lieber verwesen als ein Weib sein, das nicht r e i z t." Wenn die Muse erst einmal so denkt, so ist das Ende ihrer Kunst wieder in der Nähe. Aber es kann ein Tragödien- und auch ein Komödien-Ausgang sein.
IOI. W a s d e r U m w e g z u m S c h ö n e n i s t . — Wenn das Schöne gleich dem Erfreuenden ist — und so sangen es ja einmal die Musen — so ist das Nützliche der oftmals nothwendige U m w e g z u m S c h ö n e n u n d kann den kurzsichtigen Tadel der Augenblicks-Menschen, die nicht warten wollen und alles
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 99—105
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Gute ohne Umwege zu erreichen denken, mit gutem Recht zurückweisen.
102. Z u r E n t s c h u l d i g u n g m a n c h e r S c h u l d . — Das unablässige Schaffen wollen und Nach-Aussen-Spähen des Künstlers hält ihn davon ab, als Person schöner und besser zu werden, also s i c h s e l b e r zu schaffen — es sei denn, dass seine Ehrsucht gross genug ist, um ihn zu zwingen, dass er sich auch im Leben mit Andern der wachsenden Schönheit und Grösse seiner Werke immer entsprechend gewachsen zeige. In allen Fällen hat er nur ein bestimmtes Maass von Kraft: was er davon auf s i c h verwendet — wie k ö n n t e diess noch seinem W e r k e zu Gute kommen? — U n d umgekehrt.
103. D e n B e s t e n g e n u g t h u n . — Wenn man mit seiner Kunst „den Besten seiner Zeit genug gethan", so ist diess ein Anzeichen davon, dass man den Besten der nächsten Zeit mit ihr n i c h t g e n u g t h u n w i r d : „gelebt" freilich „hat man f ü r alle Zeiten", — der Beifall der Besten sichert den R u h m .
104. A u s E i n e m S t o f f e . — Ist man aus Einem Stoffe mit einem Buche oder Kunstwerk, so meint man ganz innerlich, es müsse vortrefflich sein u n d ist beleidigt, wenn Andere es hässlich, überwürzt oder grossthuerisch finden.
105. S p r a c h e u n d G e f ü h l . — Dass die Sprache uns nicht
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Menschliches, Allzumenschliches I I
zur Mittheilung des G e f ü h l s gegeben ist, sieht man daraus, dass alle einfachen Menschen sich schämen, Worte für ihre tieferen Erregungen zu suchen: die Mittheilung derselben äussert sich nur in Handlungen, und selbst hier giebt es ein Erröthen dar5 über, wenn der Andere ihre Motive zu errathen scheint. Unter den Dichtern, welchen im Allgemeinen die Gottheit diese Scham versagte, sind doch die edleren in der Sprache des Gefühls einsilbiger, und lassen einen Zwang merken: während die eigentlichen Gefühls-Dichter im praktischen Leben meistens unver10 schämt sind.
10 6. I r r t h u m ü b e r e i n e E n t b e h r u n g . — Wer sich nicht von einer Kunst lange Zeit völlig entwöhnt hat, sondern immer in ihr zu Hause ist, kann nicht von ferne begreifen, w i e '5 w e n i g man entbehrt, wenn man ohne diese Kunst lebt.
107.
D r e i v i e r t e l s k r a f t . — Ein Werk, das den Eindruck des Gesunden machen soll, darf höchstens mit dreiviertel der Kraft seines Urhebers hervorgebracht sein. Ist er dagegen bis an 20 seine äusserste Gränze gegangen, so regt das Werk den Betrachtenden auf und ängstigt ihn durch seine Spannung. Alle guten Dinge haben etwas Lässiges und liegen wie Kühe auf der Wiese.
108.
D e n H u n g e r a l s G a s t a b w e i s e n . — Weil dem 25 Hungrigen die feinere Speise so gut und um Nichts besser als die gröbste dient, so wird der anspruchsvollere Künstler nicht darauf denken, den Hungrigen zu seiner Mahlzeit einzuladen.
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 1 0 5 — 1 1 1
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109. O h n e K u n s t u n d W e i n l e b e n . — Mit den Werken der Kunst steht es wie mit dem Weine: noch besser ist es wenn man beide nicht nöthig hat, sich an Wasser hält und das Wasser aus innerem Feuer, innerer Süsse der Seele immer wieder von selber in Wein verwandelt.
110. D a s R a u b - G e n i e . — Das Raub-Genie in den Künsten, das selbst feine Geister zu täuschen weiss, entsteht, wenn Jemand unbedenklich von jung an alles Gute, welches nicht geradezu vom Gesetz als Eigenthum einer bestimmten Person in Schutz genommen ist, als freie Beute betrachtet. N u n liegt alles Gute vergangener Zeiten und Meister frei umher, eingehegt und behütet durch die verehrende Scheu der Wenigen, die es erkennen: diesen Wenigen bietet jenes Genie, Kraft seines Mangels an Scham, Trotz und häuft sich einen Reichthum auf, der selber wieder Verehrung und Scheu erzeugt.
in. A n d i e D i c h t e r d e r g r o s s e n S t ä d t e . — D e n Gärten der heutigen Poesie merkt man an, dass die grossstädtischen Kloaken zu nahe dabei sind: mitten in den Blüthengerudi mischt sich etwas, das Ekel und Fäulniss verräth. — Mit Schmerz frage ich: habt ihr es so nöthig, ihr Dichter, den Witz und den Schmutz immer zu Gevatter zu bitten, wenn irgend eine unschuldige und schöne Empfindung von euch getauft werden soll? Müsst ihr durchaus eurer edlen Göttin eine Fratzen- und Teufelskappe aufsetzen? Woher aber diese Noth, dieses Müssen? — Eben daher, dass ihr der Kloake zu nahe wohnt.
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Menschliches, Allzumenschliches I I
112.
V o m S a l z d e r R e d e . — Niemand hat noch erklärt, warum die griechischen Schriftsteller von den Mitteln des Ausdrucks, welche ihnen in unerhörter Fülle und Kraft zu Gebote standen, einen so übersparsamen Gebrauch gemacht haben, dass jedes nachgriechische Buch dagegen grell, bunt und überspannt erscheint. — Man hört, dass dem Nordpol-Eise zu ebenso wie in den heissesten Ländern der Gebrauch des Salzes spärlicher werde, dass dagegen die Ebenen- und Küstenanwohner im Erdgürtel der massigeren Sonnenwärme am reichlichsten Gebrauch von ihm machen. Sollten die Griechen aus doppelten Gründen, weil zwar ihr Intellect kälter und klarer, ihre leidenschaftliche Grundnatur aber um Vieles tropischer war als die unsrige, des Salzes und Gewürzes nicht in dem Maasse nöthig gehabt haben als wir? 113. D e r f r e i e s t e S c h r i f t s t e l l e r. —Wie dürfte in einem Buche für freie Geister Lorenz Sterne ungenannt bleiben, er, den Goethe als den freiesten Geist seines Jahrhunderts geehrt hat! Möge er hier mit der Ehre fürlieb nehmen, der freieste Schriftsteller aller Zeiten genannt zu werden, in Vergleich mit welchem alle Andern steif, vierschrötig, unduldsam und bäurisch-geradezu erscheinen. An ihm dürfte nicht die geschlossene, klare, sondern die „unendliche Melodie" gerühmt werden: wenn mit diesem Worte ein Stil der Kunst zu einem Namen kommt, bei dem die bestimmte Form fortwährend gebrochen, verschoben, in das Unbestimmte zurückübersetzt wird, so dass sie das Eine und zugleich das Andere bedeutet. Sterne ist der grosse Meister der Z w e i d e u t i g k e i t , — diess Wort billigerweise viel weiter genommen als man gemeinhin thut, wenn man dabei an geschlechtliche Beziehungen denkt. Der Leser ist verloren zu geben, der jederzeit genau wissen will, was Sterne
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 112—113
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eigentlich über eine Sache denkt, ob er bei ihr ein ernsthaftes oder ein lächelndes Gesicht macht: denn er versteht sich auf Beides in Einer Faltung seines Gesichtes; er versteht es ebenfalls und will es sogar, zugleich Recht und Unrecht zu haben, den Tiefsinn und die Posse zu verknäueln. Seine Abschweifungen sind zugleich Forterzählungen und Weiterentwickelungen der Geschichte; seine Sentenzen enthalten zugleich eine Ironie auf alles Sentenziöse, sein Widerwille gegen das Ernsthafte ist einem Hange angeknüpft, keine Sache nur flach und äusserlich nehmen zu können. So bringt er bei dem rechten Leser ein Gefühl von Unsicherheit darüber hervor, ob man gehe, stehe oder liege: ein Gefühl, welches dem des Schwebens am verwandtesten ist. Er, der geschmeidigste Autor, theilt auch seinem Leser Etwas von dieser Geschmeidigkeit mit. Ja, Sterne verwechselt unversehens die Rollen und ist bald ebenso Leser als er Autor ist; sein Buch gleicht einem Schauspiel im Schauspiel, einem Theaterpublicum vor einem andern Theaterpublicum. Man muss sich der Sternischen Laune auf Gnade und Ungnade ergeben — und kann übrigens erwarten, dass sie gnädig, immer gnädig ist. — Seltsam und belehrend ist es, wie ein so grosser Schriftsteller wie Diderot sich zu dieser allgemeinen Zweideutigkeit Sterne's gestellt hat: nämlich ebenfalls zweideutig — und das eben ist ächt Sternischer Ueberhumor. Hat er jenen, in seinem Jacques le fataliste, nachgeahmt, bewundert, verspottet, parodirt? — man kann es nicht völlig herausbekommen, — und vielleicht hat gerade diess sein Autor gewollt. Gerade dieser Zweifel macht die Franzosen gegen das Werk eines ihrer ersten Meister (der sich vor keinem Alten und Neuen zu schämen braucht) u n g e r e c h t . Die Franzosen sind eben zum H u m o r — und namentlich zu diesem humoristisch-Nehmen des Humors selber — zu ernsthaft. — Sollte es nöthig sein, hinzuzufügen, dass Sterne unter allen grossen Schriftstellern das schlechteste Muster und der eigentlich unvorbildliche Autor ist, und dass selbst Diderot sein Wagniss büssen musste? Das, was die guten Franzosen und vor ihnen ein-
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zelne Griechen als Prosaiker wollten und konnten, ist genau das Gegentheil von dem, was Sterne will und kann: er erhebt sich eben als meisterhafte Ausnahme über Das, was alle schriftstellerischen Künstler von sich fordern: Zucht, Geschlossenheit, Charakter, Beständigkeit der Absichten, Ueberschaulichkeit, Schlichtheit, Haltung in Gang und Miene. — Leider scheint der Mensch Sterne mit dem Schriftsteller Sterne nur zu verwandt gewesen zu sein: seine Eichhorn-Seele sprang mit unbändiger Unruhe von Zweig zu Zweig; was nur zwischen Erhaben und Schuftig liegt, war ihm bekannt; auf jeder Stelle hatte er gesessen, immer mit dem unverschämten wässerigen Auge und dem empfindsamen Mienenspiele. Er war, wenn die Sprache vor einer solchen Zusammenstellung nicht erschrecken wollte, von einer hartherzigen Gutmüthigkeit und hatte in den Genüssen einer barocken, ja verderbten Einbildungskraft fast die blöde Anmuth der Unschuld. Eine solche fleisch- und seelenhafte Zweideutigkeit, eine solche Freigeisterei bis in jede Faser und Muskel des Leibes hinein, wie er diese Eigenschaften hatte, besass vielleicht kein anderer Mensch.
114.
G e w ä h l t e W i r k l i c h k e i t . — Wie der gute Prosaschriftsteller nur Worte nimmt, welche der Umgangssprache angehören, doch lange nicht alle Worte derselben — wodurch eben der gewählte Stil entsteht —, so wird der gute Dichter der Zukunft n u r W i r k l i c h e s darstellen und von allen phantastischen, abergläubischen, halbredlichen, abgeklungenen Gegenständen, an denen frühere Dichter ihre Kraft zeigten, völlig absehen. N u r Wirklichkeit, aber lange nicht jede Wirklichkeit! — sondern eine gewählte Wirklichkeit!
1. Vermischte M e i n u n g e n u n d Sprüche 1 1 3 — 1 1 8
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II
A b a r t e n d e r K u n s t . — Neben den ächten Gattungen der Kunst, der der grossen Ruhe und der der grossen Bewegung, giebt es Abarten, die ruhesüchtige, blasirte Kunst und die aufgeregte Kunst: beide wünschen, dass man ihre Schwäche für ihre Stärke nehme und sie mit den ächten Gattungen verwechsele.
116. Z u m H e r o s f e h l t j e t z t d i e F a r b e . — Die eigentlichen Dichter und Künstler der Gegenwart lieben es, ihre Gemälde auf einen roth, grün, grau und goldig flackernden Grund aufzutragen, auf den Grund der n e r v ö s e n S i n n l i c h k e i t : auf diese verstehen sich ja die Kinder dieses Jahrhunderts. Diess hat den Nachtheil — wenn man nämlich n i c h t mit den Augen des Jahrhunderts auf jene Gemälde sieht —, dass die grössten Gestalten, welche Jene hinmalen, etwas Flimmerndes, Zitterndes, Wirbelndes an sich zu haben scheinen: so dass man ihnen heroische Thaten eigentlich nicht zutraut, sondern höchstens heroisirende, prahlerische Unthaten.
i i 7. S t i l d e r U e b e r l a d u n g . — Der überladene Stil in der Kunst ist die Folge einer Verarmung der organisirenden Kraft bei verschwenderischem Vorhandensein von Mitteln und Absichten. — In den Anfängen der Kunst findet sich mitunter das gerade Gegenstück dazu. 118. P u l c h r u m e s t p a u c o r u m h o m i n u m . — Die Historie und die Erfahrung sagt uns, dass die bedeutsame Ungeheuerlichkeit, welche die Phantasie geheimnissvoll anregt
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Menschliches, Allzumenschliches I I
und über das Wirkliche und Alltägliche fortträgt, ä l t e r ist und reichlicher wächst, als das Schöne in der Kunst und dessen Verehrung — und dass es sofort wieder in Ueberfülle ausschlägt, wenn der Sinn f ü r Schönheit sich verdunkelt. Es scheint f ü r die 5 Mehr- und Ueberzahl der Menschen ein höheres Bedürfniss zu sein als das Schöne: wohl desshalb, weil es das gröbere Narcoticum enthält.
Ii 9. U r s p r ü n g e des G e s c h m a c k s an K u n s t w e r 10 k e n. — D e n k t man an die anfänglichen Keime des künstlerischen Sinnes und fragt sich, welche verschiedentlichen Arten der Freude durch die Erstlinge der Kunst, zum Beispiel bei wilden Völkerschaften, hervorgebracht werden, so findet man zuerst die Freude, zu v e r s t e h e n , was ein Andrer m e i n t ; die r 5 Kunst ist hier eine A r t Räthselaufgeben, das dem Errathenden Genuss am eigenen Schnell- und Scharfsinn verschafft. — Sodann erinnert man sich beim rohesten Kunstwerk an Das, was Einem in der Erfahrung angenehm w a r und hat insofern Freude, zum Beispiel wenn der Künstler auf Jagd, Sieg, Hochzeit hingedeutet hat. — Wiederum kann man sich durch das Dargestellte erregt, gerührt, entflammt fühlen, beispielsweise bei Verherrlichung v o n Rache und Gefahr. Hier liegt der Genuss in der Erregung selber, im Siege über die Langeweile. — Auch die Erinnerung an das Unangenehme, insofern es über25 wunden ist, oder insofern es uns selber als Gegenstand der Kunst v o r dem Zuhörer interessant erscheinen lässt (wie wenn der Sänger die Unfälle eines verwegenen Seefahrers beschreibt), kann grosse Freude machen, welche man dann der Kunst zu Gute rechnet. — Feinerer A r t ist schon jene Freude, welche beim A n 30 blick alles Regelmässigen und Symmetrischen, in Linien, Puncten, R h y t h m e n , entsteht; denn durch eine gewisse Aehnlichkeit wird die Empfindung f ü r alles Geordnete und Regelmässige im
1. Vermisdite Meinungen und Sprüche 118—121
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Leben, dem man ja ganz allein alles Wohlbefinden zu danken hat, wachgerufen: im Cultus des Symmetrischen verehrt man also unbewusst die Regel und das Gleichmaass als Quelle seines bisherigen Glücks; diese Freude ist eine Art Dankgebet. Erst bei einer gewissen Uebersättigung an dieser letzterwähnten Freude entsteht das noch feinere Gefühl, dass auch im Durchbrechen des Symmetrischen und Geregelten Genuss liegen könne; wenn es zum Beispiel anreizt, Vernunft in der scheinbaren Unvernunft zu suchen, wodurch es dann, als eine Art ästhetischen Räthselrathens, wie eine höhere Gattung der zuerst erwähnten Kunstfreude dasteht. — Wer dieser Betrachtung weiter nachhängt, wird wissen, auf w e l c h e A r t v o n H y p o t h e s e n hier zur Erklärung der ästhetischen Erscheinungen grundsätzlich verzichtet wird.
120. N i c h t z u n a h e . — Es ist ein Nachtheil für gute Gedanken, wenn sie zu rasch auf einander folgen; sie verdecken sich gegenseitig die Aussicht. — Deshalb haben die grössten Künstler und Schriftsteller reichlichen Gebrauch vom Mittelmässigen gemacht.
121.
R o h h e i t u n d S c h w ä c h e . — Die Künstler aller Zeiten haben die Entdeckung gemacht, dass in der R o h h e i t eine gewisse Kraft liegt und dass nicht Jeder roh sein kann, der es wohl sein möchte; ebenso dass manche Arten von S c h w ä c h e stark auf das Gefühl wirken. Hieraus sind nicht wenig KunstmittelSurrogate abgeleitet worden, deren sich völlig zu enthalten selbst den grössten und gewissenhaftesten Künstlern schwer wird.
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Menschliches, Allzumenschliches I I 122.
D a s g u t e G e d ä c h t n i s s . — Mancher wird nur desshalb kein Denker, weil sein Gedächtniss zu gut ist.
123. H u n g e r m a c h e n s t a t t H u n g e r s t i l l e n . — Grosse Künstler wähnen, sie hätten durch ihre Kunst eine Seele völlig in Besitz genommen und ausgefüllt: in Wahrheit, und oft zu ihrer schmerzlichen Enttäuschung, ist jene Seele dadurch nur um so umfänglicher und unausfüllbarer geworden, so dass zehn grössere Künstler sich nun in ihre Tiefe hinabstürzen könnten, ohne sie zu sättigen.
124. K ü n s t l e r - A n g s t . — Die Angst, man möchte ihren Figuren nicht glauben, dass sie l e b e n , kann Künstler des absinkenden Geschmacks verführen, diese so zu bilden, dass sie sich wie t o l l benehmen: wie andererseits aus der selben Angst griechische Künstler des ersten Aufgangs selbst Sterbenden und Schwerverwundeten jenes Lächeln gaben, welches sie als lebhaftestes Zeichen des Lebens kannten, — unbekümmert darum, was die Natur in solchem Falle des Noch-lebens, des Fast-nichtmehr-lebens bildet. 125. D e r K r e i s s o l l f e r t i g w e r d e n . — Wer einer Philosophie oder Kunstart bis an das Ende ihrer Bahn und um das Ende herum nachgegangen ist, begreift aus einem innern Erlebniss, warum die nachfolgenden Meister und Lehrer sich von ihr, oft mit abschätziger Miene, zu einer neuen Bahn fortwandten. Der Kreis muss eben umschrieben werden, — aber der Einzelne,
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 1 2 2 — 1 2 6
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und sei es der Grösste, sitzt auf seinem Puñete der Peripherie fest, mit einer unerbittlichen Miene der Hartnäckigkeit, als ob der Kreis nie geschlossen werden dürfe.
126. AeltereKunstunddieSeelederGegenwart. — Weil jede Kunst zum Ausdruck seelischer Zustände, der bewegteren, zarteren, drastischeren, leidenschaftlicheren, immer befähigter wird, so empfinden die späteren Meister, durch diese Ausdrucks-Mittel verwöhnt, ein Unbehagen bei den Kunstwerken der älteren Zeit, wie als ob es den Alten eben nur an den Mitteln gefehlt habe, ihre Seele deutlich reden zu lassen, vielleicht gar an einigen technischen Vorbedingungen; und sie meinen hier nachhelfen zu müssen, — denn sie glauben an die Gleichheit, ja Einheit aller Seelen. In Wahrheit ist aber die Seele jener Meister selber noch eine andere gewesen, g r ö s s e r vielleicht, aber kälter und dem Reizvoll-Lebendigen noch abhold: das Maass, die Symmetrie, die Geringachtung des Holden und Wonnigen, eine unbewusste Herbe und Morgenkühle, ein Ausweichen vor der Leidenschaft, wie als ob an ihr die Kunst zu Grunde gehen werde, — diess macht die Gesinnung und Moralität aller älteren Meister aus, welche ihre Ausdrucks-Mittel nicht zufällig, sondern nothwendig mit der gleichen Moralität wählten und durchgeisteten. — Soll man aber, bei dieser Erkenntniss, den später Kommenden das Recht versagen, die älteren Werke nach ihrer Seele zu beseelen? Nein, denn nur dadurch, dass wir ihnen unsere Seele geben, vermögen sie fortzuleben: erst u n s e r Blut bringt sie dazu, zu u n s zu reden. Der wirklich „historische" Vortrag würde gespenstisch zu Gespenstern reden. — Man ehrt die grossen Künstler der Vergangenheit weniger durch jene unfruchtbare Scheu, welche jedes Wort, jede Note so liegen lässt, wie sie gestellt ist, als durdi thätige Versuche, ihnen immer von Neuem wieder zum Leben zu ver-
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Menschliches, Allzumenschliches II
helfen. — Freilich: dächte man sich Beethoven plötzlich wiederkommend und eines seiner Werke gemäss der modernsten Beseeltheit und Nerven-Verfeinerung, welche unsern Meistern des Vortrags zum Ruhme dient, vor ihm ertönend: er würde wahrscheinlich lange stumm sein, schwankend, ob er die Hand zum Fluchen oder Segnen erheben solle, endlich aber vielleicht sprechen: „ N u n ! N u n ! Das ist weder Ich noch Nicht-Idi, sondern etwas Drittes, — es sdieint mir auch etwas Rechtes, wenn es gleich nicht d a s R e c h t e ist. Ihr mögt aber zusehen, wie ihr's treibt, da ihr ja jedenfalls zuhören müsst — und der Lebende hat Recht, sagt ja unser Schiller. So h a b t denn Recht und lasst mich wieder hinab." 127. G e g e n d i e T a d l e r d e r K ü r z e . — Etwas Kurz-Gesagtes kann die Frucht und Ernte von vielem Lang-Gedachten sein: aber der Leser, der auf diesem Felde Neuling ist und hier noch gar nicht nachgedacht hat, sieht in allem Kurz-Gesagten etwas Embryonisches, nicht ohne einen tadelnden Wink an den Autor, dass er dergleichen Unausgewachsenes, Ungereiftes ihm zur Mahlzeit mit auf den Tisch setze.
128. G e g e n d i e K u r z s i c h t i g e n . — Meint ihr denn, es müsse Stückwerk sein, weil man es euch in Stücken giebt (und geben muss)? 129. S e n t e n z e n - L e s e r . — Die schlechtesten Leser von Sentenzen sind die Freunde ihres Urhebers, im Fall sie beflissen sind, aus dem Allgemeinen wieder auf das Besondere zurückzurathen, dem die Sentenz ihren Ursprung verdankt: denn durch diese Topfguckerei machen sie die ganze Mühe des Autors zu nichte,
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 126—132
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so dass sie nun verdientermaassen anstatt einer philosophischen Stimmung und Belehrung besten oder schlimmsten Falles Nichts als die Befriedigung der gemeinen Neugierde zum Gewinn erhalten. 5
130.
U n a r t e n d e s L e s e r s . — Die doppelte Unart des Lesers gegen den Autor besteht darin, das zweite Buch desselben auf Unkosten des ersten zu loben (oder umgekehrt) und dabei zu verlangen, dass der Autor ihm dankbar sei.
10
131.
D a s A u f r e g e n d e in d e r G e s c h i c h t e der K u n s t . — Verfolgt man die Geschichte einer Kunst, zum Beispiel die der griechischen Beredtsamkeit, so geräth man, von Meister zu Meister fortgehend, bei dem Anblick dieser immer 15 gesteigerten Besonnenheit, um den alten und neuhinzugefügten Gesetzen und Selbstbeschränkungen insgesammt zu gehorchen, zuletzt in eine peinliche Spannung: man begreift, dass der Bogen brechen m u s s und dass die sogenannte unorganische Composition, mit den wundervollsten Mitteln des Ausdrucks über10 hängt und maskirt — in jenem Falle der Barockstil des Asianismus — einmal eine Nothwendigkeit und fast eine W o h 1 1 h a t war. 132.
A n d i e G r o s s e n d e r K u n s t . — Jene Begeisterung 2$ für eine Sache, welche du Grosser in die Welt hineinträgst, lässt den Verstand Vieler v e r k r ü p p e l n . Diess zu wissen demüthigt. Aber der Begeisterte trägt seinen Höcker mit Stolz und Lust: insofern hast du den Trost, dass durch dich das Glück in der Welt v e r m e h r t ist.
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Menschliches, Allzumenschlithes I I
133D i e ä s t h e t i s c h G e w i s s e n l o s e n . — Die eigentlichen Fanatiker einer künstlerischen Partei sind jene völlig unkünstlerischen Naturen, welche selbst in die Elemente der Kunstlehre und des Kunstkönnens nicht eingedrungen sind, aber auf das Stärkste von allen e l e m e n t a r i s c h e n Wirkungen einer Kunst ergriffen werden. Für sie giebt es kein ästhetisches Gewissen — und daher Nichts, was sie vom Fanatismus zurückhalten könnte. z
34Wie nach der n e u e r e n Musik sich die Seele b e w e g e n s o l l . — Die künstlerische Absicht, welche die neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark aber undeutlich, als „unendliche Melodie" bezeichnet wird, kann man sich dadurch klar machen, dass man in's Meer geht, allmählich den sichern Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem wogenden Elemente auf Gnade und Ungnade übergiebt: man soll s c h w i m m e n . In der bisherigen älteren Musik musste man, im zierlichen oder feierlichen oder feurigen Hin und Wieder, Schneller und Langsamer, t a n z e n : wobei das hierzu nöthige Maass, das Einhalten bestimmter gleichwiegender Zeitund Kraftgrade von der Seele des Zuhörers eine fortwährende B e s o n n e n h e i t erzwang: auf dem Widerspiele dieses kühleren Luftzuges, welcher von der Besonnenheit herkam, und des durchwärmten Athems musikalischer Begeisterung ruhte der Zauber jener Musik. — Richard Wagner wollte eine andere Art B e w e g u n g d e r S e e l e , welche, wie gesagt, dem Schwimmen und Schweben verwandt ist. Vielleicht ist diess das Wesentlichste aller seiner Neuerungen. Sein berühmtes Kunstmittel, diesem Wollen entsprungen und angepasst — die „unendliche Melodie" — bestrebt sich alle mathematischen Zeitund Kraft-Ebenmässigkeit zu brechen, mitunter selbst zu ver-
1. Vermischte Meinungen u n d Sprüche 133—136
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höhnen, und er ist überreich in der Erfindung solcher Wirkungen, welche dem älteren Ohre wie rhythmische Paradoxien und Lästerreden klingen. Er fürchtet die Versteinerung, die Krystallisation, den Uebergang der Musik in das Architektonische, — und so stellt er dem zweitactigen Rhythmus einen dreitactigen entgegen, führt nicht selten den Fünf- und Siebentact ein, wiederholt die selbe Phrase sofort, aber mit einer Dehnung, dass sie die doppelte und dreifache Zeitdauer bekommt. Aus einer bequemen Nachahmung solcher Kunst kann eine grosse Gefahr für die Musik entstehen: immer hat neben der Ueberreife des rhythmischen Gefühls die Verwilderung, der Verfall der Rhythmik im Versteck gelauert. Sehr gross wird zumal diese Gefahr, wenn eine solche Musik sich immer enger an eine ganz naturalistische, durch keine höhere Plastik erzogene und beherrschte Schauspielerkunst und Gebärdensprache anlehnt, welche in sich kein Maass hat und dem sich ihr anschmiegenden Elemente, dem a l l z u w e i b l i c h e n Wesen der Musik, auch kein Maass mitzutheilen vermag.
135-
D i c h t e r u n d W i r k l i c h k e i t . — Die Muse des Dichters, der nicht in die Wirklichkeit v e r l i e b t ist, wird eben nicht die Wirklichkeit sein und ihm hohläugige und allzuzartknochichte Kinder gebären.
136.
M i t t e l u n d Z w e c k . — In der Kunst heiligt der Zweck die Mittel nicht: aber heilige Mittel können hier den Zweck heiligen.
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Menschliches, Allzumenschliches I I
137D i e s c h l e c h t e s t e n L e s e r . — Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren: sie nehmen sich Einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das Uebrige und lästern auf das Ganze. 138. M e r k m a l e d e s g u t e n S c h r i f t s t e l l e r s . — Die guten Schriftsteller haben zweierlei gemeinsam: sie ziehen vor, lieber verstanden als angestaunt zu werden; und sie schreiben nicht für die spitzen und überscharfen Leser.
139D i e g e m i s c h t e n G a t t u n g e n . — Die gemischten Gattungen in den Künsten legen Zeugniss über das Misstrauen ab, welches ihre Urheber gegen ihre eigene Kraft empfanden; sie suchten Hülfsmächte, Anwälte, Verstecke, — so der Dichter, der die Philosophie, der Musiker, der das Drama, der Denker, der die Rhetorik zu Hülfe ruft.
140. M u n d h a l t e n . — Der Autor hat den Mund zu halten, wenn sein Werk den Mund aufthut.
141. A b z e i c h e n d e s R a n g e s . — Alle Dichter und Schriftsteller, welche in den Superlativ verliebt sind, wollen mehr als sie können.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 1 3 7 — 1 4 4
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142.
K a l t e B ü c h e r . — Der gute Denker rechnet auf Leser, welche das Glück nachempfinden, das im guten Denken liegt: so dass ein Buch, welches sich kalt und nüchtern ausnimmt, i durch die rechten Augen gesehen, v o m Sonnenschein der geistigen Heiterkeit umspielt und als ein rechter Seelentrost erscheinen kann.
143K u n s t g r i f f d e r S c h w e r f ä l l i g e n . — Der Schwerte fällige Denker wählt gewöhnlich die Geschwätzigkeit oder die Feierlichkeit zur Bundesgenossin: durch die erstere meint er sich Beweglichkeit u n d leichten Fluss anzueignen, durch die letztere erweckt er den Schein, als ob seine Eigenschaft eine Wirkung des freien Willens, der künstlerischen Absicht sei, z u m Zwecke der Würde, welche Langsamkeit der Bewegung fordert.
144.
V o m B a r o c k s t i l e . — Wer sich als Denker und Schriftsteller zur Dialektik u n d Auseinanderfaltung der Gedanken nicht geboren oder erzogen weiss, wird unwillkürlich nach dem R h e t o r i s c h e n u n d D r a m a t i s c h e n greifen: denn zuletzt k o m m t es ihm darauf an, sich v e r s t ä n d l i c h zu machen und dadurch Gewalt zu gewinnen, gleichgültig ob er das Gefühl auf ebenem Pfade zu sich leitet, oder unversehens überfällt — als H i r t oder als Räuber. Diess gilt auch in den bildenden wie musischen Künsten; wo das Gefühl mangelnder Dialektik oder des Ungenügens in Ausdruck und Erzählung, zusammen mit' einem überreichen, drängenden Formentriebe, jene G a t t u n g des Stiles zu Tage fördert, welche man B a r o c k s t i l nennt. — N u r die Schlechtunterrichteten u n d Anmaassenden werden 3° übrigens bei diesem Worte sogleich eine abschätzige Empfin-
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dung haben. D e r Barockstil entsteht jedesmal beim Abblühen jeder grossen Kunst, wenn die A n f o r d e r u n g e n in der Kunst des classischen Ausdrucks allzugross geworden sind, als ein N a t u r Ereigniss, dem man wohl mit Schwermuth — weil es der N a c h t voranläuft — zusehen wird, aber zugleich mit Bewunderung f ü r die ihm e i g e n t ü m l i c h e n Ersatzkünste des Ausdrucks und der Erzählung. Dahin gehört schon die Wahl von Stoffen und V o r w ü r f e n höchster dramatischer Spannung, bei denen auch ohne K u n s t das H e r z zittert, weil H i m m e l und Hölle der E m p findung allzunah sind: dann die Beredtsamkeit der starken A f fecte und Gebärden, des Hässlich-Erhabenen, der grossen Massen, überhaupt der Q u a n t i t ä t an sich — wie diess sich schon bei Michelangelo, dem Vater oder Grossvater der italiänischen Barockkünstler, ankündigt — : die Dämmerungs-, Verklärungsoder Feuerbrunstlichter auf so starkgebildeten F o r m e n : dazu fortwährend neue Wagnisse in Mitteln und Absichten, v o m Künstler für die Künstler kräftig unterstrichen, während der Laie wähnen muss, das beständige unfreiwillige U e b e r s t r ö m e n aller Füllhörner einer ursprünglichen N a t u r - K u n s t zu sehen: diese Eigenschaften alle, in denen jener Stil seine Grösse hat, sind in den früheren, vorclassischen und classischen Epochen einer K u n s t a r t nicht möglich, nicht erlaubt: solche Köstlichkeiten hängen lange als verbotene Früchte am Baume. — Gerade jetzt, w o die M u s i k in diese letzte Epoche übergeht, kann m a n das Phänomen des Barockstils in einer besonderen Pracht kennen lernen und Vieles durch Vergleichung daraus f ü r frühere Zeiten lernen: denn es hat von den griechischen Zeiten ab schon oftmals einen Barockstil gegeben, in der Poesie, Beredtsamkeit, im Prosastile, in der Sculptur eben so wohl als bekanntermaassen in der Architektur — und jedesmal hat dieser Stil, o b es ihm gleich am höchsten Adel, an dem einer unschuldigen, unbewussten, sieghaften Vollkommenheit, gebricht, auch Vielen von den Besten und Ernstesten seiner Zeit wohl gethan: — wesshalb es, wie gesagt, anmaassend ist, ohne Weiteres ihn abschätzig zu be-
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 1 4 4 — 1 4 7
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urtheilen, so sehr sich Jeder glücklich preisen darf, dessen Empfindung durch ihn nicht für den reineren und grösseren Stil unempfänglich gemacht wird. 145-
W e r t h e h r l i c h e r B ü c h e r . — Ehrliche Bücher machen den Leser ehrlich, wenigstens indem sie seinen Hass und Widerwillen herauslocken, welchen die verschmitzte Klugheit sonst am besten zu verstecken weiss. Gegen ein Buch aber lässt man sich gehen, wenn man sich auch noch so sehr gegen Menschen zurückhält. 14 6. W o d u r c h d i e K u n s t P a r t e i m a c h t . — Einzelne schöne Stellen, ein erregender Gesammt-Verlauf und hinreissende erschütternde Schluss-Stimmungen — so v i e l wird auch den meisten Laien von einem Kunstwerk noch zugänglich sein: und in einer Periode der Kunst, in der man die grosse Masse der Laien auf die Seite der Künstler h i n ü b e r z i e h e n , also eine Partei, vielleicht zur Erhaltung der Kunst überhaupt, machen will, wird der Schaffende gut thun, auch nicht m e h r zu geben: damit er nicht zum Verschwender seiner Kraft werde, auf Gebieten, wo Niemand ihm Dank weiss. Das U e b r i g e nämlich zu leisten — die Natur in ihrem o r g a n i s c h e n Bilden und Wachsenlassen nachzuahmen — hiesse in jenem Falle: auf Wasser säen. 147. Zum Schaden der H i s t o r i e gross werden. — Jeder spätere Meister, welcher den Geschmack der Kunst-Geniessenden in s e i n e Bahn lenkt, bringt unwillkürlich eine Auswahl und Neu-Abschätzung der älteren Meister und ihrer
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Werke hervor: das i h m Gemässe und Verwandte, das i h n Vorschmeckende und Ankündigende in Jenen gilt von jetzt ab als das eigentlich B e d e u t e n d e an Jenen und ihren Werken, — eine Frucht, in der gewöhnlich ein grosser I r r t h u m als Wurm verborgen steckt. 148.
Wie ein Z e i t a l t e r zur K u n s t g e k ö d e r t wird. — Man lerne mit Hülfe aller Künstler- und Denker-Zaubereien die Menschen an, vor ihren Mängeln, ihrer geistigen Armuth, ihren unsinnigen Verblendungen und Leidenschaften Verehrung zu empfinden — und diess ist möglich —, man zeige vom Verbrechen und vom Wahne nur die erhabene Seite, von der Schwäche der Willenlosen und Blind-Ergebenen nur das Rührende und zu-Herzen-Sprechende eines solchen Zustandes — auch diess ist oft genug geschehen — : so hat man das Mittel angewendet, auch einem ganz unkünstlerischen und unphilosophischen Zeitalter schwärmerische L i e b e zu Philosophie und Kunst (namentlich zu den Künstlern und Denkern als Personen) einzuflössen, und, in schlimmen Umständen, vielleicht das einzige Mittel, die Existenz so zarter und gefährdeter Gebilde zu wahren. 149.
K r i t i k u n d F r e u d e . — Kritik, einseitige und ungerechte ebensogut wie verständige, macht Dem, der sie übt, so viel Vergnügen, dass die Welt jedem Werk, jeder Handlung Dank schuldig ist, welche viel und Viele zur Kritik auffordert: denn hinter ihr her zieht sich ein blitzender Schweif von Freude, Witz, Selbstbewunderung, Stolz, Belehrung, Vorsatz zum Bessermachen. — Der Gott der Freude schuf das Schlechte und Mittelmässige aus dem gleichen Grunde, aus dem er das Gute schuf.
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1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 1 4 7 — 1 5 3
IJO.
U e b e r s e i n e G r ä n z e h i n a u s . — Wenn ein Künstler mehr sein will als ein Künstler, zum Beispiel der moralische Erwecker seines Volkes, so verliebt er sich zur Strafe zuletzt in ein Ungethüm von moralischem Stoff — und die Muse lacht dazu: denn diese so gutherzige Göttin kann aus Eifersucht auch boshaft werden. Man denke an Milton und Klopstock.
151. G l ä s e r n e s A u g e . — Die Richtung des Talentes auf m o r a l i s c h e Stoffe, Personen, Motive, auf die schöne Seele des Kunstwerks ist mitunter nur das gläserne Auge, welches der Künstler, dem es an der schönen Seele g e b r i c h t , sich einsetzt: mit dem sehr seltenen Erfolge, dass diess Auge zuletzt doch lebendige Natur wird, wenn auch etwas verkümmert blikkende Natur, — aber mit dem gewöhnlichen Erfolge, dass alle Welt Natur zu sehen meint, wo kaltes Glas ist.
152. S c h r e i b e n u n d S i e g e n w o l l e n . — Schreiben sollte immer einen Sieg anzeigen, und zwar eine Ueberwindung s e i n e r s e l b s t , welche Andern zum Nutzen mitgetheilt werden muss; aber es giebt dyspeptische Autoren, welche gerade nur schreiben, wenn sie Etwas nicht verdauen können, ja wenn diess ihnen schon in den Zähnen hängen geblieben ist: sie suchen unwillkürlich mit ihrem Aerger auch dem Leser Verdruss zu machen und so eine Gewalt über ihn auszuüben, das heisst: auch sie wollen siegen, aber über Andere.
153-
Gut
Buch
will
Weile
haben".
—
Jedes
gute
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Buch schmeckt herb, wenn es erscheint: es hat den Fehler der Neuheit. Zudem schadet ihm sein lebender Autor, im Fall er bekannt ist und manches von ihm verlautet: denn alle Welt pflegt den Autor und sein Werk zu verwechseln. Was in diesem an Geist, Süsse und Goldglanz ist, muss sich erst mit den Jahren entwickeln, unter der Pflege wachsender, dann alter, zuletzt überlieferter Verehrung. Manche Stunde muss darüber hinlaufen, manche Spinne ihr Netz daran gewoben haben. Gute Leser machen ein Buch immer besser und gute Gegner klären es ab.
154.
M a a s s l o s i g k e i t a l s K u n s t m i t t e l . — Künstler verstehen wohl, was es sagen will: die Maasslosigkeit als Kunstmittel zu benützen, um den Eindruck des Reichthums hervorzubringen. Es gehört das zu den unschuldigen Listen der Seelenverführung, auf welche sich die Künstler verstehen müssen: denn in ihrer Welt, in der es auf Schein abgesehen ist, brauchen auch die Mittel des Scheins nicht nothwendig acht zu sein.
155D e r v e r s t e c k t e L e i e r k a s t e n . — Die Genie's verstehen sich besser als die Talente darauf, den Leierkasten zu verstecken, vermöge ihres umfänglicheren Faltenwurfs: aber im Grunde können sie auch nicht mehr, als ihre alten sieben Stücke immer wieder spielen.
156.
D e r N a m e a u f d e m T i t e l b l a t t . — Dass der N a m e des Autors auf dem Buche steht, ist zwar jetzt Sitte und fast Pflicht; doch ist es eine Hauptursache davon, dass Bücher
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 1 5 3 — 1 5 9
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so wenig wirken. Sind sie nämlich gut, so sind sie mehr werth als die Personen, als deren Quintessenzen; sobald aber der Autor sich durch den Titel zu erkennen giebt, wird die Quintessenz wieder von Seiten des Lesers mit dem Persönlichen, ja Persönlichsten diluirt, und somit der Zweck des Buches vereitelt. Es ist der Ehrgeiz des Intellectes, nicht mehr individuell zu erscheinen.
157S c h ä r f s t e K r i t i k . — Man kritisirt einen Menschen, ein Buch am schärfsten, wenn man das Ideal desselben hinzeichnet.
158.
W e n i g u n d o h n e L i e b e . — Jedes gute Buch ist für einen bestimmten Leser und dessen Art geschrieben und wird eben desshalb von allen übrigen Lesern, der grossen Mehrzahl, ungünstig angesehen: wesshalb sein Ruf auf schmaler Grundlage ruht, und nur langsam aufgebaut werden kann. Das mittelmässige und schlechte Buch ist es eben dadurch, dass es Vielen zu gefallen sucht und gefällt.
159M u s i k u n d K r a n k h e i t . — Die Gefahr in der neuen Musik liegt darin, dass sie uns den Becher des Wonnigen und Grossartigen so hinreissend und mit einem Anschein von sittlicher Ekstase an die Lippen setzt, dass auch der Massige und Edle immer einige Tropfen zu viel von ihr trinkt. Diese Minimal" Ausschweifung, fortwährend wiederholt, kann aber zuletzt eine tiefere Erschütterung und Untergrabung der geistigen Gesundheit zu Wege bringen, als irgend ein grober Excess es ver-
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möchte: so dass Nichts übrig bleibt, als eines Tages die N y m phengrotte zu fliehen und, durch Meereswogen und Gefahren, nach dem Rauch von Ithaka und nach den Umarmungen der schlichteren und menschlicheren Gattin sich den Weg zu bahnen.
160. V o r t h e i l f ü r d i e G e g n e r . — Ein Buch voller Geist theilt auch an seine Gegner davon mit.
161. J u g e n d u n d K r i t i k . — Ein Buch kritisiren — das heisst für die Jungen nur: keinen einzigen productiven Gedanken desselben an sich herankommen lassen und sich, mit Händen und Füssen, seiner Haut wehren. Der Jüngling lebt gegen alles Neue, das er nicht in Bausch und Bogen lieben kann, im Stande der Nothwehr und begeht jedesmal dabei, so oft er nur kann, ein überflüssiges Verbrechen.
162. W i r k u n g d e r Q u a n t i t ä t . — Die grösste Paradoxie in der Geschichte der Dichtkunst liegt darin, dass in Allem, worin die alten Dichter ihre Grösse haben, Einer ein Barbar, nämlich fehlerhaft und verwachsen vom Wirbel bis zur Zehe, sein kann und dennoch der grösste Dichter bleibt. So steht es ja mit Shakespeare, der, mit Sophokles zusammengehalten, einem Bergwerke voll einer Unermesslichkeit an Gold, Blei und Geröll gleicht, während jener nicht nur Gold, sondern Gold in der edelsten Gestaltung ist, die seinen Werth als Metall fast vergessen macht. Aber die Quantität, in ihren höchsten Steigerungen, w i r k t als Qualität — das kommt Shakespeare zu Gute.
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163. A l l e r A n f a n g i s t G e f a h r . — Der Dichter hat die Wahl, entweder das Gefühl von einer Stufe zur andern zu heben und es so zuletzt sehr hoch zu steigern — oder es mit einem Ueberfalle zu versuchen und gleich von Beginn an mit aller Gewalt am Glockenstrang zu ziehen. Beides hat seine Gefahren: im ersten Falle läuft ihm vielleicht sein Zuhörer vor Langerweile, im zweiten vor Schrecken davon.
164. Z u G u n s t e n d e r K r i t i k e r . — Die Insecten stechen, nicht aus Bosheit, sondern weil sie auch leben wollen: ebenso unsere Kritiker; sie wollen unser Blut, nicht unsern Schmerz.
165. E r f o l g v o n S e n t e n z e n . — Die Unerfahrenen meinen immer, wenn ihnen eine Sentenz sofort durch ihre schlichte Wahrheit einleuchtet, sie sei alt und bekannt, und blikken dabei scheel auf den Urheber, als habe er das Gemeingut Aller stehlen wollen: während sie an gewürzten Halbwahrheiten Freude haben, und diess dem Autor zu erkennen geben. Dieser weiss einen solchen Wink zu würdigen und erräth daraus leicht, wo es ihm gelungen und wo misslungen ist.
166. S i e g e n w o l l e n . — Ein Künstler, der in Allem, was er unternimmt, über seine Kräfte hinausgeht, wird doch zuletzt, durch das Schauspiel des gewaltigen Ringens, das er gewährt, die Menge mit sich fortreissen: denn der Erfolg ist nicht immer nur beim Siege, sondern mitunter schon beim Siegen-wollen.
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167. S i b i s c r i b e r e . — Der vernünftige Autor schreibt für keine andere Nachwelt als für seine eigene, das heisst, für sein Alter, um auch dann noch an sich Freude haben zu können.
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L o b d e r S e n t e n z . — Eine gute Sentenz ist zu hart für den Zahn der Zeit und wird von allen Jahrtausenden nicht aufgezehrt, obwohl sie jeder Zeit zur Nahrung dient: dadurch ist sie das grosse Paradoxon in der Litteratur, das Unvergängliche 10 inmitten des Wechselnden, die Speise, welche immer geschätzt bleibt, wie das Salz, und niemals, wie selbst dieses, dumm wird. 169. K u n s t b e d ü r f n i s s z w e i t e n R a n g e s . — Das Volk hat wohl Etwas von dem, was man Kunstbedürfniss nennen darf, I S aber es ist wenig und wohlfeil zu befriedigen. Im Grunde genügt hierfür der Abfall der Kunst: das soll man ehrlich sich eingestehen. Man erwäge doch nur zum Beispiel, an was für Melodien und Liedern jetzt unsere kraftvollsten, unverdorbensten, treuherzigsten Schichten der Bevölkerung ihre rechte Herzensfreude 20 haben, man lebe unter Hirten, Sennen, Bauern, Jägern, Soldaten, Seeleuten und gebe sich die Antwort. Und wird nicht in der kleinen Stadt, gerade in den Häusern, welche der Sitz altvererbter Bürgertugend sind, jene allerschlechteste Musik geliebt, ja gehätschelt, welche überhaupt jetzt hervorgebracht wird? Wer 25 von tieferem Bedürfnisse, von unausgefülltem Begehren nach Kunst in Beziehung auf das Volk, w i e es i s t , redet, der faselt oder schwindelt. Seid ehrlich! — N u r bei A u s n a h m e M e n s c h e n giebt es jetzt ein Kunstbedürfniss in h o h e m S t i l e , — weil die Kunst überhaupt wieder einmal im Rückgange ist und 3° die menschlichen Kräfte und Hoffnungen sich für eine Zeit auf
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andre Dinge geworfen haben. — Ausserdem, nämlich abseits vom Volke, besteht freilich noch ein breiteres, umfänglicheres Kunstbedürfniss, aber z w e i t e n R a n g e s , in den höheren und hödisten Schichten der Gesellschaft: hier ist Etwas wie eine künstlerische Gemeinde, die es aufrichtig meint, möglich. Aber man sehe sich diese Elemente an! Es sind im Allgemeinen die feineren Unzufriedenen, die an sich zu keiner rechten Freude kommen: der Gebildete, der nicht frei genug geworden ist, um der Tröstungen der Religion entrathen zu können und doch ihre Oele nicht wohlriechend genug findet: der Halbedle, der zu schwach ist, den einen Grundfehler seines Lebens oder den schädlichen Hang seines Charakters zu brechen, durch heroisches Umkehren oder Verzichtleisten: der Reichbegabte, der zu vornehm von sich denkt, um durch bescheidene Thätigkeit zu nützen, und zu träge zur grossen und aufopfernden Arbeit ist: das Mädchen, welches sich keinen genügenden Kreis von Pflichten zu schaffen weiss: die Frau, die durch eine leichtsinnige oder frevelhafte Ehe sich band und nicht genug gebunden weiss: der Gelehrte, Arzt, Kaufmann, Beamte, der zu zeitig in das Einzelne eingekehrt, und seiner ganzen Natur niemals vollen Lauf gegönnt hat, dafür aber mit einem Wurm im Herzen seine immerhin tüchtige Arbeit thut: endlich alle unvollständigen Künstler — diess sind j e t z t die noch wahrhaften Kunstbedürftigen! Und was begehren sie eigentlich von der Kunst? Sie soll ihnen für Stunden und Augenblicke das Unbehagen, die Langeweile, das halbschlechte Gewissen verscheuchen und womöglich den Fehler ihres Lebens und Charakters als Fehler des WeltenSchicksals in's Grosse umdeuten — sehr verschieden von den Griechen, welche in ihrer Kunst das Aus- und Ueberströmen ihres eigenen Wohl- und Gesundseins empfanden und es liebten, ihre Vollkommenheit n o c h e i n m a l ausser sich zu sehen: — sie führte der Selbstgenuss zur Kunst, diese unsere Zeitgenossen — der Selbstverdruss.
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170. D i e D e u t s c h e n i m T h e a t e r . — Das eigentliche Theatertalent der Deutschen war Kotzebue; er und seine Deutschen, die der höheren sowohl als die der mittleren Gesellschaft, gehörten nothwendig zusammen, und die Zeitgenossen hätten von ihm im Ernste sagen dürfen: „in ihm leben, weben und sind w i r " . Hier war nichts Erzwungenes, Angebildetes, Halb- und Angeniessendes: was er wollte und konnte, wurde verstanden, ja bis jetzt ist der e h r l i c h e Theater-Erfolg auf deutschen Bühnen im Besitze der verschämten oder unverschämten Erben Kotzebueischer Mittel und Wirkungen, namentlich so weit das Lustspiel noch in einiger Blüthe steht; woraus sich ergiebt, dass viel von dem damaligen Deutschthum, zumal abseits von der grossen Stadt, immer noch fortlebt. Gutmüthig, in kleinen Genüssen unenthaltsam, thränenlüstern, mit dem Wunsche, wenigstens im Theater sich der eingebornen pflichtstrengen Nüchternheit entschlagen zu dürfen und hier lächelnde, ja lachende Duldung zu üben, das Gute und das Mitleid verwechselnd und in Eins zusammenwerfend — wie es das Wesentliche der deutschen Sentimentalität ist — , überglücklich bei einer schönen, grossmüthigen Handlung, im Uebrigen unterwürfig nach Oben, neidisch gegen einander, und doch im Innersten sich selbst genügend — so waren sie, so war er. — Das zweite Theatertalent war Schiller: dieser entdeckte eine Classe von Zuhörern, welche bis dahin nicht in Betracht gekommen waren; er fand sie in den unreifen Lebensaltern, im deutschen Mädchen und Jüngling. Ihren höheren, edleren, stürmischeren, wenn auch unklareren Regungen, ihrer Lust am Klingklang sittlicher Worte (welche in den dreissiger Jahren des Lebens zu verschwinden pflegt) kam er mit seinen Dichtungen entgegen und errang sich dadurch, gemäss der Leidenschaftlichkeit und Parteisucht jener Altersclasse, einen Erfolg, der allmählich auch auf die reiferen Lebensalter mit Vortheil einwirkte: Schiller hat im Allgemeinen die Deutschen v e r j ü n g t . — Goethe stand über den Deutschen
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in jeder Beziehung und steht es auch jetzt noch: er wird ihnen nie angehören. Wie könnte auch je ein Volk der Goethischen G e i s t i g k e i t in W o h l - S e i n u n d W o h l - W o l l e n gewachsen sein! Wie Beethoven über die Deutschen weg Musik machte, wie Schopenhauer über die Deutschen weg philosophirte, so dichtete Goethe seinen Tasso, seine Iphigenie über die Deutschen weg. Ihm folgte eine s e h r k l e i n e Schar Hödistgebildeter, durch Alterthum, Leben und Reisen Erzogener, über deutsches Wesen hinaus Gewachsener: — er selber wollte es nicht anders. — Als dann die Romantiker ihren zweckbewussten Goethe-Cultus aufrichteten, als ihre erstaunliche Kunstfertigkeit des Anschmeckens dann auf die Schüler Hegels, die eigentlichen Erzieher der Deutschen dieses Jahrhunderts, überging, als der erwachende nationale Ehrgeiz auch dem Ruhme der deutschen Dichter zu Gute kam und der eigentliche Maassstab des Volkes, ob es sich e h r 1 i c h an Etwas f r e u e n könne, unerbittlich dem Urtheile der Einzelnen und jenem nationalen Ehrgeiz untergeordnet wurde — das heisst, als man anfing sich freuen zu m ü s s e n — da entstand jene Verlogenheit und Unäditheit der deutschen Bildung, welche sich Kotzebue's schämte, welche Sophokles, Calderon und selbst Goethe's Faust-Fortsetzung auf die Bühne brachte und welche ihrer belegten Zunge, ihres verschleimten Magens wegen, zuletzt nicht mehr weiss, was ihr schmeckt, was ihr langweilig ist. — Selig sind Die, welche Geschmack haben, wenn es auch ein schlechter Geschmack ist! — Und nicht nur selig, auch weise kann man nur vermöge dieser Eigenschaft werden: wesshalb die Griechen, die in solchen Dingen sehr fein waren, den Weisen mit einem Wort bezeichneten, das d e n M a n n d e s G e s c h m a c k s bedeutet, und Weisheit, künstlerische sowohl wie erkennende, geradezu „Geschmack" (Sophia) benannten.
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171. D i e M u s i k a l s S p ä t l i n g j e d e r C u l t u r . — Die Musik kommt von allen Künsten, welche auf einem bestimmten Culturboden, unter bestimmten socialen und politischen Verhältnissen jedesmal aufzuwachsen pflegen, als die l e t z t e aller Pflanzen zum Vorschein, im Herbst und Abblühen der zu ihr gehörenden Cultur: während gewöhnlich die ersten Boten und Anzeichen eines neuen Frühlings schon bemerkbar sind; ja mitunter läutet die Musik wie die Sprache eines versunkenen Zeitalters in eine erstaunte und neue Welt hinein und kommt zu spät. Erst in der Kunst der Niederländer Musiker fand die Seele des christlichen Mittelalters ihren vollen Klang: ihre Ton-Baukunst ist die nachgeborne, aber ächt- und ebenbürtige Schwester der Gothik. Erst in Händel's Musik erklang das Beste von Luther's und seiner Verwandten Seele, der grosse jüdisch-heroische Zug, welcher die ganze ReformationsBewegung schuf. Erst Mozart gab dem Zeitalter Ludwig des Vierzehnten und der Kunst Racine's und Claude Lorrain's in k l i n g e n d e m Golde heraus. Erst in Beethoven's und Rössings Musik sang sich das achtzehnte Jahrhundert aus, das Jahrhundert der Schwärmerei, der zerbrochnen Ideale und des flüchtigen Glückes. So möchte denn ein Freund empfindsamer Gleichnisse sagen, jede wahrhaft bedeutende Musik sei Schwanengesang. — Die Musik ist eben n i c h t eine allgemeine, überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärme- und Zeitmaass, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Cultur als inneres Gesetz in sich trägt: die Musik Palestrina's würde für einen Griechen völlig unzugänglich sein, und wiederum — was würde Palestrina bei der Musik Rossini's hören? — Vielleicht, dass auch unsere neueste deutsche Musik, so sehr sie herrscht und herrschlustig ist, in kurzer Zeitspanne nicht mehr verstanden wird: denn sie entsprang aus einer Cultur, die im raschen Absinken begriffen ist; ihr Boden ist jene
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Reactions- und Restaurations-Periode, in welcher ebenso ein gewisser K a t h o l i c i s m u s d e s G e f ü h l s wie die Lust an allem h e i m i s c h - n a t i o n a l e n W e s e n u n d U r w e s e n zur Blüthe kam und über Europa einen gemischten Duft ausgoss: welche beide Richtungen des Empfindens, in grösster Stärke erfasst und bis in die entferntesten Enden fortgeführt, in der Wagnerischen Kunst zuletzt zum Erklingen gekommen sind. Wagner's Aneignung der altheimischen Sagen, sein veredelndes Schalten und Walten unter deren so fremdartigen Göttern und Helden — welche eigentlich souveräne Raubthiere sind, mit Anwandlungen von Tiefsinn, Grossherzigkeit und Lebensüberdruss —, die Neubeseelung dieser Gestalten, denen er den christlich-mittelalterlichen Durst nach verzückter Sinnlichkeit und Entsinnlichung dazugab, dieses ganze Wagnerische Nehmen und Geben in Hinsicht auf Stoffe, Seelen, Gestalten und Worte spricht deutlich auch den G e i s t s e i n e r M u s i k aus, wenn diese, wie alle Musik, von sich selber nicht völlig unzweideutig zu reden vermöchte: dieser Geist führt den a l l e r l e t z t e n Kriegs- und Reactionszug an gegen den Geist der Aufklärung, welcher aus dem vorigen Jahrhundert in dieses hineinwehte, eben so gegen die übernationalen Gedanken der französischen Umsturz-Schwärmerei und der englisdi-amerikanischen Nüchternheit im Umbau von Staat und Gesellschaft. — Ist es aber nicht ersichtlich, dass die hier — bei Wagner selbst und seinem Anhange — noch zurückgedrängt erscheinenden Gedankenund Empfindungskreise längst von Neuem wieder Gewalt bekommen haben, und dass jener späte musikalische Protest gegen sie zumeist in Ohren hineinklingt, die andere und entgegengesetzte Töne lieber hören? so dass eines Tages jene wunderbare und hohe Kunst ganz plötzlich unverständlich werden und sich Spinnweben und Vergessenheit über sie legen könnten. — Man darf sich über diese Sachlage nicht durch jene flüchtigen Schwankungen beirren lassen, welche als Reaction innerhalb der Reaction, als ein zeitweiliges Einsinken des Wellenbergs inmitten der
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gesammten Bewegung erscheinen; so mag dieses Jahrzehend der nationalen Kriege, des ultramontanen Martyriums und der socialistischen Beängstigung in seinen feineren Nachwirkungen auch der genannten Kunst zu einer plötzlichen Glorie verhelfen, — ohne ihr damit die Bürgschaft dafür zu geben, dass sie „Zukunft habe", oder gar, dass s i e d i e Z u k u n f t habe. — Es liegt im Wesen der Musik, dass die Früchte ihrer grossen CulturJahrgänge zeitiger unschmackhaft werden und rascher verderben, als die Früchte der bildenden Kunst oder gar die auf dem Baume der Erkenntniss gewachsenen: unter allen Erzeugnissen des menschlichen Kunstsinns sind nämlich G e d a n k e n das Dauerhafteste und Haltbarste.
172. D i e D i c h t e r k e i n e L e h r e r m e h r . — So fremd es unserer Zeit klingen mag: es gab Dichter und Künstler, deren Seele über die Leidenschaften und deren Krämpfe und Entzükkungen hinaus war und desshalb an reinlicheren Stoffen, würdigeren Menschen, zarteren Verknüpfungen und Lösungen ihre Freude hatte. Sind die jetzigen grossen Künstler meistens Entfesseier des Willens und unter Umständen eben dadurch Befreier des Lebens, so waren jene — Willens-Bändiger, Thier-Verwandter, Menschen-Schöpfer und überhaupt Bildner, U m - und Fortbildner des Lebens: während der R u h m der Jetzigen im Abschirren, Kettenlösen, Zertrümmern liegen mag. — Die älteren Griechen verlangten vom Dichter, er solle der Lehrer der Erwachsenen sein: aber wie müsste sich jetzt ein Dichter schämen, wenn man diess von ihm verlangte — er, der selber sich kein guter Lehrer war und daher selber kein gutes Gedicht, kein schönes Gebilde wurde, sondern im günstigen Falle gleichsam der scheue, anziehende Trümmerhaufen eines Tempels, aber zugleich eine Höhle der Begierden, mit Blumen, Stechpflanzen, Giftkräutern ruinenhaft überwachsen, von Schlangen, Gewürm,
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 171—174
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Spinnen und Vögeln bewohnt und besucht, — ein Gegenstand zum trauernden Nachsinnen darüber, warum jetzt das Edelste und Köstlichste sogleich als Ruine, ohne die Vergangenheit und Zukunft des Vollkommenseins, emporwachsen muss? —
T73V o r - u n d R ü c k b l i c k . — Eine Kunst, wie sie aus Homer, Sophokles, Theokrit, Calderon, Racine, Goethe a u s s t r ö m t , a l s U e b e r s c h u s s einer weisen und harmonischen Lebensführung — das ist das Rechte, nach dem wir endlich greifen lernen, wenn wir selber weiser und harmonischer geworden sind, nicht jene barbarische, wenngleich noch so entzückende Aussprudelung hitziger und bunter Dinge aus einer ungebändigten chaotischen Seele, welche wir früher als Jünglinge unter Kunst verstanden. Es begreift sich aber aus sich selber, dass für gewisse Lebenszeiten eine Kunst der Ueberspannung, der Erregung, des Widerwillens gegen das Geregelte, Eintönige, Einfache, Logische ein nothwendiges Bedürfniss ist, welchem Künstler entsprechen m ü s s e n , damit die Seele solcher Lebenszeiten sich nicht auf anderm Wege, durch allerlei Unfug und Unart, entlade. So bedürfen die Jünglinge, wie sie meistens sind, voll, gährend, von Nichts m e h r als von der Langenweile gepeinigt, — so bedürfen Frauen, denen eine gute, die Seele füllende Arbeit fehlt, jener Kunst der entzückenden Unordnung: um so heftiger noch entflammt sich ihre Sehnsucht nach einem Genügen ohne Wechsel, einem Glück ohne Betäubung und Rausch.
174G e g e n d i e K u n s t d e r K u n s t w e r k e . — Die Kunst soll vor Allem und zuerst das Leben v e r s c h ö n e r n , also u n s selber den Andern erträglich, womöglich angenehm
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machen: mit dieser Aufgabe vor Augen, mässigt sie und hält uns im Zaume, schafft Formen des Umgangs, bindet die Unerzogenen an Gesetze des Anstandes, der Reinlichkeit, der Höflichkeit, des Redens und Schweigens zur rechten Zeit. Sodann soll die Kunst alles Hässliche v e r b e r g e n oder u m d e u t e n , jenes Peinliche, Schreckliche, Ekelhafte, welches trotz allem Bemühen immer wieder, gemäss der Herkunft der menschlichen Natur, herausbrechen wird: sie soll so namentlich in Hinsicht auf die Leidenschaften und seelischen Schmerzen und Aengste verfahren und im unvermeidlich oder unüberwindlich Hässlichen das B e d e u t e n d e durchschimmern lassen. Nach dieser grossen, ja übergrossen Aufgabe der Kunst ist die sogenannte eigentliche Kunst, d i e d e r K u n s t w e r k e , nur ein A n h ä n g s e l : ein Mensch, der einen Ueberschuss von solchen verschönernden, verbergenden und umdeutenden Kräften in sich fühlt, wird sich zuletzt nodi in Kunstwerken dieses Ueberschusses zu entladen suchen; ebenso, unter besondern Umständen, ein ganzes Volk. — Aber gewöhnlich fängt man jetzt die Kunst am Ende an, hängt sich an ihren Schweif und meint, die Kunst der Kunstwerke sei das Eigentliche, von ihr aus solle das Leben verbessert und umgewandelt werden — wir Thoren! Wenn wir die Mahlzeit mit dem Nachtisch beginnen und Süssigkeiten über Süssigkeiten kosten, was Wunders, wenn wir uns den Magen und selbst den Appetit für die gute, kräftige, nährende Mahlzeit, zu der uns die Kunst einladet, verderben!
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F o r t b e s t e h e n d e r K u n s t . — Wodurch besteht jetzt im Grunde eine Kunst der Kunstwerke fort? Dadurch dass die Meisten, welche Musse-Stunden haben, — und nur für Diese giebt es ja eine solche Kunst — nicht glauben ohne Musik, Theater- und Gallerien-Besuch, ohne Roman- und GedichteLesen mit ihrer Zeit fertig zu werden. Gesetzt, man könnte sie
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von dieser Befriedigung a b h a l t e n , so würden sie entweder nicht so eifrig nach Müsse streben, und der neiderregende Anblick der Reichen würde s e l t e n e r — ein grosser Gewinn für den Bestand der Gesellschaft; oder sie hätten Müsse, lernten aber n a c h d e n k e n — was man lernen und verlernen kann — über ihre Arbeit zum Beispiel, ihre Verbindungen, über Freuden, die sie erweisen könnten; alle Welt, mit Ausnahme der Künstler, hätte in beiden Fällen den Vortheil davon. — Es giebt gewiss manchen kraft- und sinnvollen Leser, der hier einen guten Einwand zu machen versteht. Der Plumpen und Böswilligen halber soll es doch einmal gesagt werden, dass es hier, wie so oft in diesem Buche, dem Autor eben auf den Einwand ankommt, und dass Manches in ihm zu lesen ist, was nicht gerade darin geschrieben steht.
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D a s M u n d s t ü c k d e r G ö t t e r . — Der Dichter spricht die allgemeinen höheren Meinungen aus, welche ein Volk hat; er ist deren Mundstück und Flöte, — aber er spricht sie, vermöge des Metrums und aller anderen künstlerischen Mittel so aus, dass das Volk sie wie etwas ganz Neues und Wunderhaftes nimmt, und es vom Dichter allen Ernstes glaubt, er sei das Mundstück der Götter. Ja, in der Umwölkung des Schaffens, vergisst der Dichter selber, wo er alle seine geistige Weisheit her hat — von Vater und Mutter, von Lehrern und Büchern aller Art, von der Strasse und namentlich von den Priestern; ihn täuscht seine eigene Kunst und er glaubt wirklich, in naiver Zeit, dass e i n G o t t durch ihn rede, dass er im Zustande einer religiösen Erleuchtung schaffe —: während er eben nur sagt, was er gelernt hat, Volks-Weisheit und Volks-Thorheit miteinander. Also: insofern der Dichter wirklich vox populi i s t , g i 11 er als vox dei.
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77W a s a l l e K u n s t w i l l u n d n i c h t k a n n . — Die schwerste und letzte Aufgabe des Künstlers ist die Darstellung des Gleichbleibenden, in sich Ruhenden, Hohen, Einfachen, vom 5 Einzelreiz weit Absehenden; desshalb werden die höchsten Gestaltungen sittlicher Vollkommenheit von den schwächeren Künstlern selbst als unkünstlerische Vorwürfe abgelehnt und in Verruf gebracht, weil ihrem Ehrgeize der Anblick dieser Früchte gar zu peinlich ist: sie glänzen ihnen aus den äussersten Aesten 1 0 der Kunst entgegen, aber es fehlt ihnen Leiter, Muth und Handgriff, um sich so hoch wagen zu dürfen. An sich ist ein Phidias a l s D i c h t e r recht wohl möglich, aber, in Anbetracht der modernen Kraft, fast nur im Sinne des Wortes, dass bei Gott kein Ding unmöglich ist. Schon der Wunsch nach einem dichtei j rischen Claude Lorrain ist ja gegenwärtig eine Unbescheidenheit, so sehr Einen das Herz darnach verlangen heisst. — Der Darstellung des l e t z t e n Menschen, d a s h e i s s t d e s e i n f a c h s t e n u n d z u g l e i c h v o l l s t e n , war bis jetzt kein Künstler gewachsen; vielleicht aber haben die Griechen, i m I d e a l d e r A t h e n e , am weitesten von allen bisherigen Menschen den Blick geworfen. I
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K u n s t u n d R e s t a u r a t i o n . — Die rückläufigen Bewegungen in der Geschichte, die sogenannten Restaurations-Zei1 5 ten, welche einem geistigen und gesellschaftlichen Zustand, der v o r dem zuletzt bestehenden lag, wieder Leben zu geben suchen und denen eine kurze Todten-Erweckung auch wirklich zu gelingen scheint, haben den Reiz gemüthvoller Erinnerung, sehnsüchtigen Verlangens nach fast Verlorenem, hastigen U m 3° armens von minutenlangem Glücke. Wegen dieser seltsamen Vertiefung der Stimmung finden gerade in solchen flüchtigen, fast traumhaften Zeiten Kunst und Dichtung einen natürlichen
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Boden, wie an steil absinkenden Bergeshängen die zartesten und seltensten Pflanzen wachsen. — So treibt es manchen guten Künstler unvermerkt zu einer Restaurations-Denkweise in Politik und Gesellschaft, für welche er sich, auf eigene Faust, ein 5 stilles Winkelchen und Gärtchen zurecht macht: wo er dann die menschlichen Ueberreste jener ihn anheimelnden Geschichtsepoche um sich sammelt und vor lauter Todten, Halbtodten und Sterbensmüden sein Saitenspiel ertönen lässt, vielleicht mit dem erwähnten Erfolge einer kurzen Todten-Erweckung.
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i79.
G l ü c k d e r Z e i t . — In zwei Beziehungen ist unsre Zeit glücklich zu preisen. In Hinsicht auf die V e r g a n g e n h e i t gemessen wir alle Culturen und deren Hervorbringungen und nähren uns mit dem edelsten Blute aller Zeiten, wir stehen noch i j dem Zauber der Gewalten, aus deren Schoosse jene geboren wurden, nahe genug, um uns vorübergehend ihnen mit Lust und Schauder unterwerfen zu können: während frühere Culturen nur sich selber zu geniessen vermochten und nicht über sich hinaussahen, vielmehr wie von einer weiter oder enger gewölb20 ten Glocke überspannt waren: aus welcher zwar Licht auf sie herabströmte, durch welche aber kein Blick hindurch drang. In Hinsicht auf die Z u k u n f t erschliesst sich uns zum ersten Male in der Geschichte der ungeheure Weitblick menschlichökumenischer, die ganze bewohnte Erde umspannender Ziele. Zugleich fühlen wir uns der Kräfte bewusst, diese neue Aufgabe ohne Anmaassung selber in die Hand nehmen zu dürfen, ohne übernatürlicher Beistände zu bedürfen; ja, möge unser Unternehmen ausfallen, wie es wolle, mögen wir unsere Kräfte überschätzt haben, jedenfalls giebt es Niemanden, dem wir Rechen3° schaft schuldeten als uns selbst: die Menschheit kann von nun an durchaus mit sich anfangen, was sie will. — Es giebt freilich sonderbare Menschen-Bienen, welche aus dem Kelche aller Dinge
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immer nur das Bitterste und Aergerlichste zu saugen verstehen; — und in der That, alle Dinge enthalten Etwas von diesem Nicht-Honig in sich. Diese mögen über das geschilderte Glück unseres Zeitalters in ihrer Art empfinden und an ihrem Bienen-Korb des Missbehagens weiter bauen.
180. E i n e V i s i o n . — Lehr- und Betrachtungsstunden für Erwachsene, Reife und Reifste, und diese täglich, ohne Zwang, aber nach dem Gebot der Sitte, von Jedermann besucht: die Kirchen als die würdigsten und erinnerungsreichsten Stätten dazu: gleichsam alltägliche Festfeiern der erreichten und erreichbaren menschlichen Vernunft würde: ein neueres und volleres Auf- und Ausblühen des Lehrer-Ideals, in welches der Geistliche, der Künstler und Arzt, der Wissende und der Weise hineinverschmelzen, wie deren Einzel-Tugenden als GesammtTugend auch in der Lehre selber, in ihrem Vortrag, ihrer Methode zum Vorschein kommen müssten, — diess ist meine Vision, die mir immer wiederkehrt und von der ich fest glaube, dass sie einen Zipfel des Zukunfts-Schleiers gehoben hat.
181. E r z i e h u n g V e r d r e h u n g . — Die ausserordentliche Unsicherheit alles Unterrichtswesens, auf Grund deren jetzt jeder Erwachsene das Gefühl bekommt, sein einziger Erzieher sei der Zufall gewesen, — das Windfahnenhafte der erzieherischen Methoden und Absichten erklärt sich daraus, dass jetzt die ä l t e s t e n und die n e u e s t e n Culturmächte wie in einer wilden Volksversammlung mehr gehört als verstanden werden wollen und um jeden Preis durch ihre Stimme, ihr Geschrei beweisen wollen, dass sie n o c h e x i s t i r e n oder dass sie s c h o n e x i s t i r e n . Die armen Lehrer und Erzieher sind bei diesem
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widersinnigen Lärm erst betäubt, dann still und endlich stumpf geworden und lassen Alles über sich ergehen, wie sie nun wieder auch Alles über ihre Zöglinge ergehen lassen. Sie selbst sind nicht erzogen: wie sollten sie erziehen? Sie selbst sind keine 5 gerad gewachsenen kräftigen, saftvollen Stämme: wer sich an sie ansdiliessen will, wird sich winden und krümmen müssen, und zuletzt verdreht und verwachsen erscheinen.
182. P h i l o s o p h e n u n d K ü n s t l e r d e r Z e i t . — Wüst10 heit und Kaltsinn, Brand der Begierden, Abkühlung des Herzens, — diess widerliche Nebeneinander findet sich im Bilde der höheren europäischen Gesellschaft der Gegenwart. Da glaubt der Künstler schon viel zu erreichen, wenn er durch seine Kunst n e b e n dem Brande der Begierde auch einmal den Brand des 15 Herzens aufflammen macht: und ebenso der Philosoph, wenn er bei der Kühle des Herzens, die er mit seiner Zeit gemein hat, auch die Hitze der Begierde durch sein weltverneinendes Urtheilen in sich und jener Gesellschaft abkühlt.
183. N i c h t o h n e N o t h S o l d a t der C u l t u r sein. — Endlich, endlich lernt man, was nicht zu wissen Einem in jüngeren Jahren so viel Einbusse macht: dass man zuerst das Vortreffliche t h u n , zuzweit das Vortreffliche a u f s u c h e n müsse, wo und unter welchem Namen es auch zu finden sei: dass man 25 dagegen allem Schlechten und Mittelmässigen sofort aus dem Wege gehe, o h n e e s z u b e k ä m p f e n , und dass schon der Zweifel an der Güte einer Sache — wie er bei geübterem Geschmacke schnell entsteht — uns als Argument gegen sie und als Anlass, ihr völlig auszuweichen, gelten dürfe: auf die Gefahr 3° hin, einige Male dabei zu irren und das schwerer zugängliche
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Gute mit dem Schlechten und Unvollkommenen zu verwechseln. N u r wer nichts Besseres kann, soll den Schlechtigkeiten der Welt zu Leibe gehen, als der Soldat der Cultur. Aber der Nährund Lehrstand derselben richtet sich zu Grunde, wenn er in 5 Waffen einhergehen will und den Frieden seines Berufs und Hauses durch Vorsorge, Nachtwachen und böse Träume in unheimliche Friedlosigkeit umkehrt.
184.
W i e N a t u r g e s c h i c h t e z u e r z ä h l e n i s t . — Die Naturgeschichte, als die Kriegs- und Siegsgeschichte der sittlichgeistigen Kraft im Widerstande gegen Angst, Einbildung, Trägheit, Aberglauben, Narrheit, sollte so erzählt werden, dass Jeder, der sie hört, zum Streben nach geistig-leiblicher Gesundheit und Blüthe, zum Frohgefühl, Erbe und Fortsetzer des 15 Menschlichen zu sein, und zu einem immer edleren Unternehmungs-Bedürfniss unaufhaltsam fortgerissen würde. Bis jetzt hat sie ihre rechte Sprache noch nicht gefunden, weil die spracherfinderischen und beredten Künstler — denn deren bedarf es hiezu — gegen sie ein verstocktes Misstrauen nicht los 20 werden und vor Allem nicht gründlich von ihr lernen wollen. Immerhin ist den Engländern zuzugestehen, dass sie in ihren naturwissenschaftlichen Lehrbüchern für die niederen Volksschichten bewunderungswürdige Schritte nach jenem Ideale hin gemacht haben: dafür werden diese auch von ihren ausgezeich25 netsten Gelehrten — ganzen, vollen und füllenden Naturen — gemacht, nidit, wie bei uns, von den Mittelmässigkeiten der Forschung.
185.
G e n i a l i t ä t d e r M e n s c h h e i t . — Wenn Genialität, 30 nach Schopenhauer's Beobachtung, in der zusammenhängenden
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 1 8 3 — 1 8 6
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und lebendigen Erinnerung an das Selbst-Erlebte besteht, so möchte im Streben nach Erkenntniss des gesammten historischen Gewordenseins — welches immer mächtiger die neuere Zeit gegen alle früheren abhebt und z u m ersten Male zwischen 5 N a t u r und Geist, Mensch und Thier, Moral und Physik die alten Mauern zerbrochen hat — ein Streben nach Genialität der Menschheit im Ganzen zu erkennen sein. Die vollendet gedachte Historie wäre kosmisches Selbstbewusstsein.
186. io
C u l t u s d e r C u l t u r . — Grossen Geistern ist das abschreckende Allzumenschliche ihres Wesens, ihrer Blindheiten, Verkennungen, Maasslosigkeiten beigegeben, damit ihr mächtiger, leicht allzumächtiger Einfluss fortwährend durch das Misstrauen, welches jene Eigenschaften einflössen, in Schranken gei$ halten werde. Denn das System alles Dessen, was die Menschheit zu ihrem Fortbestehen nöthig hat, ist so umfassend und n i m m t so verschiedenartige und zahlreiche K r ä f t e in Anspruch, dass für jede e i n s e i t i g e Bevorzugung, sei es der Wissenschaft oder des Staates oder der K u n s t oder des Handels, wozu jene Einzelnen treiben, die Menschheit als Ganzes harte Busse zahlen muss. Es ist immer das grösste Verhängniss der Cultur gewesen, wenn Menschen angebetet wurden: in welchem Sinne man sogar mit dem Spruche des mosaischen Gesetzes zusammen fühlen darf, welcher verbietet, neben G o t t andere G ö t t e r zu haben. — D e m Cultus des Genius' und der Gewalt muss man, als Ergänzung und Heilmittel, immer den Cultus der Cultur zur Seite stellen: welcher auch dem Stofflichen, Geringen, Niedrigen, Verkannten, Schwachen, U n v o l l k o m m e n e n , Einseitigen, Halben, Unwahren, Scheinenden, ja dem Bösen und Furcht3° baren, eine verständnissvolle Würdigung und das Zugeständniss, d a s s d i e s s A l l e s n ö t h i g s e i , zu schenken weiss; denn der Zusammen- und Fortklang alles Menchlichen, durch
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Menschliches, Allzumensdiliches I I
erstaunliche Arbeiten und Glücksfälle erreicht, und eben so sehr das Werk von Cyklopen und Ameisen als von Genie's, soll nicht wieder verloren gehen: wie dürften wir da des gemeinsamen, tiefen, oft unheimlichen Grundbasses entrathen können, ohne den ja Melodie nicht Melodie zu sein vermag?
187. D i e a l t e W e l t u n d d i e F r e u d e . — Die Menschen der alten Welt wussten sich besser zu f r e u e n : wir, uns w e n i g e r z u b e t r ü b e n ; jene machten immerfort neue Anlässe, sich wohl zu fühlen und Feste zu feiern, ausfindig, mit allem ihrem Reichthum von Scharfsinn und Nachdenken: während wir unsern Geist auf Lösung von Aufgaben verwenden, welche mehr die Schmerzlosigkeit, die Beseitigung von Unlustquellen im Auge haben. In Betreff des leidenden Daseins suchten die Alten zu vergessen oder die Empfindung in's Angenehme irgendwie umzubiegen: so dass sie hierin palliativisch zu helfen suchten, während wir den Ursachen des Leidens zu Leibe gehen und im Ganzen lieber prophylaktisch wirken. — Vielleicht bauen wir nur die Grundlagen, auf denen spätere Menschen auch wieder den Tempel der Freude errichten.
188. D i e M u s e n a l s L ü g n e r i n n e n . — „Wir verstehen uns darauf, viele Lügen zu sagen" — so sangen einstmals die Musen als sie sich vor Hesiod offenbarten. — Es führt zu wesentlichen Entdeckungen, wenn man den Künstler einmal als Betrüger fasst.
189. W i e p a r a d o x H o m e r s e i n k a n n . — Giebt es etwas
1. Vermischte Meinungen und Sprüdie 186—192
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Verwegeneres, Schauerlicheres, Unglaublicheres, das über Menschenschicksal, gleich der Wintersonne, so hinleuchtet, wie jener Gedanke, der sich bei Homer findet: Das ja fügte der Götter Beschluss und verhängte den Menschen U n t e r g a n g , d a s s es w a r ' e i n G e s a n g a u c h späten Geschlechtern. Also: wir leiden und gehen zu Grunde, damit es den Dichtern nicht an S t o f f fehle — und diess ordnen gerade so die Götter Homer's an, welchen an der Lustbarkeit der kommenden Geschlechter sehr viel gelegen scheint, aber allzuwenig an uns, den Gegenwärtigen. — Dass je solche Gedanken in den Kopf eines Griechen gekommen sind!
190. NachträglicheRechtfertigungdesDaseins. — Manche Gedanken sind als Irrthümer und Phantasmen in die Welt getreten, aber zu Wahrheiten geworden, weil die Menschen ihnen hinterdrein ein wirkliches Substrat untergeschoben haben. 191. P r o u n d C o n t r a n ö t h i g . — Wer nicht begriffen hat, dass jeder grosse Mann nicht nur gefördert, sondern auch, der allgemeinen Wohlfahrt wegen, b e k ä m p f t werden muss, ist gewiss noch ein grosses Kind — oder selber ein grosser Mann. 192. U n g e r e c h t i g k e i t d e s G e n i e ' s . — Das Genie ist am ungerechtesten gegen die Genie's, falls sie seine Zeitgenossen sind: einmal glaubt es sie nicht nöthig zu haben und hält sie desshalb überhaupt für überflüssig, denn es ist ohne sie, was es
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Menschliches, Allzumensthliches II
ist; sodann kreuzt ihr Einfluss die Wirkung s e i n e s elektrischen Stromes: wesshalb es sie sogar s c h ä d l i c h nennt.
193Schlimmstes Schicksal eines Propheten. — Er arbeitete zwanzig Jahre daran, seine Zeitgenossen von sich zu überzeugen, — es gelingt ihm endlich; aber inzwischen war es seinen Gegnern auch gelungen: er war nicht mehr von sich überzeugt. 194. D r e i D e n k e r g l e i c h e i n e r S p i n n e . — In jeder philosophischen Secte folgen drei Denker in diesem Verhältnisse auf einander: der Erste erzeugt aus sich den Saft und Samen, der Zweite zieht ihn zu Fäden aus und spinnt ein künstliches Netz, der Dritte lauert in diesem Netz auf Opfer, die sich hier verfangen — und sucht von der Philosophie zu leben.
A u s d e m V e r k e h r m i t A u t o r e n . — Es ist eine ebenso schlechte Manier, mit einem Autor umzugehen, wenn man ihn an der Nase fasst, wie wenn man ihn an seinem Hörne fasst — und jeder Autor hat sein Horn.
196. Z w e i g e s p a n n . — Unklarheit des Denkens und Gefühlsschwärmerei sind ebenso häufig mit dem rücksichtslosen Willen, sich selber mit allen Mitteln durchzusetzen, sich allein gelten zu lassen, verbunden, wie herzhaftes Helfen, Gönnen und Wohlwollen mit dem Triebe nach Helle und Reinlidikeit des Denkens, nach Mässigung und Ansidihalten des Gefühls.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 192—200
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197D a s B i n d e n d e u n d d a s T r e n n e n d e . — Liegt nicht im Kopfe Das, was die Menschen verbindet — das Verständniss für gemeinsamen Nutzen und Nachtheil — und im Herzen Das, was sie trennt — das blinde Auswählen und Zutappen in Liebe und Hass, die Hinwendung zu Einem auf Unkosten Aller und die daraus entspringende Verachtung des allgemeinen Nutzens? 198. S c h ü t z e n u n d D e n k e r . — Es giebt curiose Schützen, welche zwar das Ziel verfehlen, aber mit dem heimlichen Stolz vom Schiessstande abtreten, dass ihre Kugel jedenfalls sehr weit (allerdings über das Ziel hinaus) geflogen ist, oder dass sie zwar nicht das Ziel, aber etwas Anderes getroffen haben. Und eben solche Denker giebt es. 199. V o n z w e i S e i t e n a u s . — Man feindet eine geistige Richtung und Bewegung an, wenn man ihr überlegen ist und ihr Ziel missbilligt, oder wenn ihr Ziel zu hoch und unserem Auge unerkennbar, also wenn sie uns überlegen ist. So kann die selbe Partei von zwei Seiten aus, von Oben und von Unten her, bekämpft werden; und nicht selten schliessen die Angreifenden aus gemeinsamem Hass ein Bündniss mit einander, das widerlicher ist, als Alles, was sie hassen.
200. O r i g i n a l . — Nicht dass man etwas Neues zuerst sieht, sondern dass man das Alte, Altbekannte, von Jedermann Gesehene und Uebersehene w i e n e u sieht, zeichnet die eigentlich originalen Köpfe aus. Der erste Entdecker ist gemeinhin jener ganz gewöhnliche und geistlose Phantast — der Zufall.
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Menschliches, Allzumenschliches I I
201. I r r t h u m d e r P h i l o s o p h e n . — Der Philosoph glaubt, der Werth seiner Philosophie liege im Ganzen, im Bau: die Nachwelt findet ihn im Stein, mit dem er baute und mit dem, von da an, noch oft und besser gebaut wird: also darin, dass jener Bau zerstört werden kann und d o c h n o c h als Material Werth hat.
202. W i t z . — Der Witz ist das Epigramm auf den Tod eines Gefühls.
203. I m A u g e n b l i c k e v o r d e r L ö s u n g . — In der Wissenschaft kommt es alle Tage und Stunden vor, dass Einer unmittelbar vor der Lösung stehen bleibt, überzeugt, jetzt sei sein Bemühen völlig umsonst gewesen, — gleich Einem der, eine Schleife aufziehend, im Augenblicke, wo sie der Lösung am nächsten ist, zögert: denn da gerade sieht sie einem Knoten am ähnlichsten.
204. U n t e r d i e S c h w ä r m e r g e h e n . — Der besonnene und seines Verstandes sichere Mensch kann mit Gewinnst ein Jahrzehend unter die Phantasten gehen und sich in dieser heissen Zone einer bescheidenen Tollheit überlassen. Damit hat er ein gutes Stück Wegs gemacht, um zuletzt zu jenem Kosmopolitismus des Geistes zu gelangen, welcher ohne Anmaassung sagen darf: „nichts Geistiges ist mir mehr fremd".
1. Vermischte Meinungen und Sprüdie 2 0 1 — 2 0 7
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205. S c h a r f e L u f t . — Das Beste und Gesündeste in der Wissenschaft wie im Gebirge ist die scharfe Luft, die in ihnen weht. — Die Geistig-Weichlichen (wie die Künstler) scheuen und 5 verlästern dieser Luft halber die Wissenschaft.
206. W a r u m G e l e h r t e e d l e r als K ü n s t l e r s i n d . — Die Wissenschaft bedarf e d l e r e r Naturen als die Dichtkunst: sie müssen einfacher, weniger ehrgeizig, enthaltsamer, stiller, >o nicht so auf Nachruhm bedacht sein und sich über Sachen vergessen, welche selten dem Auge Vieler eines solchen Opfers der Persönlichkeit würdig erscheinen. Dazu kommt eine andere Einbusse, deren sie sich bewusst sind: die Art ihrer Beschäftigung, die fortwährende Aufforderung zur grössten Nüchtern'5 heit schwächt ihren W i l l e n , das Feuer wird nicht so stark unterhalten, wie auf dem Heerde der dichterischen Naturen: und desshalb verlieren sie häufig in früheren Lebensjahren als jene ihre höchste Kraft und Blüthe — und wie gesagt, sie w i s s e n um diese Gefahr. Unter allen Umständen e r s c h e i n e n 2° sie unbegabter, weil sie weniger glänzen, und werden für weniger gelten, als sie sind. 207. I n w i e f e r n d i e P i e t ä t v e r d u n k e l t . — Dem grossen Manne macht man in späteren Jahrhunderten alle grossen 25 Eigenschaften und Tugenden seines Jahrhunderts zum Geschenk — und so wird alles Beste fortwährend durch die Pietät v e r d u n k e l t , welche es als ein heiliges Bild ansieht, an dem man Weihgeschenke aller Art aufhängt und aufstellt; — bis es endlich ganz durch dieselben verdeckt und umhüllt wird und 3° fürderhin mehr ein Gegenstand des Glaubens als des Schauens ist.
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208. A u f d e m K o p f e s t e h e n . — Wenn wir die Wahrheit auf den Kopf stellen, bemerken wir gewöhnlich nicht, dass auch unser Kopf nicht d o r t steht, wo er stehen sollte.
209. U r s p r u n g u n d N u t z e n d e r M o d e . — Die ersichtliche Selbstzufriedenheit des E i n z e l n e n mit seiner F o r m macht die Nachahmung rege und erschafft allmählich die F o r m der V i e l e n , das heisst die Mode: diese Vielen wollen durch die Mode eben jene so wohlthuende Selbstzufriedenheit mit der F o r m und erlangen sie auch. — Wenn man erwägt, wie viel G r ü n d e zu Aengstlichkeit und schüchternem Sichverstecken jeder Mensch hat und wie Dreiviertel seiner Energie u n d seines guten Willens durch jene G r ü n d e gelähmt und unfruchtbar werden können, so muss man der Mode vielen Dank zollen, insofern sie jenes Dreiviertel entfesselt und Selbstvertrauen und gegenseitiges heiteres Entgegenkommen Denen mittheilt, welche sich unter einander an ihr Gesetz gebunden wissen. Auch thörichte Gesetze geben Freiheit und R u h e des Gemüths, sofern sich nur Viele ihnen u n t e r w o r f e n haben.
210. Z u n g e n l ö s e r . — Der W e r t h mancher Menschen und Bücher b e r u h t allein in der Eigenschaft, Jedermann zum Aussprechen des Verborgensten, Innersten zu nöthigen: es sind Zungenlöser und Brecheisen f ü r die verbissensten Zähne. A u d i manche Ereignisse und Uebelthaten, wel.die scheinbar nur zum Fluche der Menschheit da sind, haben jenen W e r t h u n d N u t z e n .
1. Vermisdite Meinungen und Sprüche 2 0 8 — 2 1 3
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21 I.
F r e i z ü g i g e G e i s t e r . — Wer von uns würde sich einen freien Geist zu nennen wagen, wenn er nicht auf seine A r t jenen Männern, denen man diesen Namen als S c h i m p f anhängt, 5 eine Huldigung darbringen möchte, indem er Etwas von jener Last der öffentlichen Missgunst und Beschimpfung auf seine Schultern ladet? Wohl aber dürften wir uns „freizügige Geister" in allem Ernste (und ohne diesen hoch- oder grossmüthigen Trotz) nennen, weil wir den Zug zur Freiheit als stärksten Trieb unseres Geistes fühlen, und im Gegensatz zu den gebundenen und festgewurzelten Intellecten unser Ideal fast in einem geistigen Nomadenthum sehen, — um einen bescheidenen und fast abschätzigen Ausdruck zu gebrauchen.
212. J a d i e G u n s t d e r M u s e n ! — Was H o m e r darüber sagt, greift in's Herz, so wahr, so schrecklich ist es: „herzlich liebt' ihn die Muse und gab ihm Gutes und Böses; denn die Augen entnahm sie und gab ihm süssen Gesang ein." — Diess ist ein Text ohne Ende f ü r den Denkenden: Gutes u n d Böses giebt sie, das ist i h r e A r t v o n herzlicher Liebe! U n d Jeder wird es sich besonders auslegen, warum wir Denker und Dichter unsre A u g e n daran geben m ü s s e n .
213.
G e g e n d i e P f l e g e d e r M u s i k . — Die künstlerische 25 Ausbildung des Auges von Kindheit an, durch Zeichnen und Malen, durch Skizziren von Landschaften, Personen, Vorgängen, bringt nebenbei den f ü r das Leben unschätzbaren Gewinn mit sich, das Auge zum Beobachten von Menschen und Lagen s c h a r f , r u h i g und a u s d a u e r n d zu machen. Ein ähn30 licher Neben-Vortheil erwächst aus der künstlerischen Pflege des
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Ohres nicht: wesshalb Volksschulen im Allgemeinen gut thun werden, der K u n s t des Auges vor der des Ohres den V o r z u g zu geben.
214. J
D i e E n t d e c k e r v o n T r i v i a l i t ä t e n . — Subtile Geister, denen Nichts ferner liegt als eine Trivialität, entdecken oft nach allerlei Umschweifen und Gebirgspfaden eine solche und haben grosse Freude daran, zur Verwunderung der NichtSubtilen.
10
215.
M o r a l d e r G e l e h r t e n . — Ein regelmässiger und schneller Fortschritt der Wissenschaften ist nur möglich, wenn der Einzelne n i c h t z u m i s s t r a u i s c h sein muss, u m jede Rechnung und Behauptung Anderer nachzuprüfen, auf Gebiei j ten, die ihm ferner liegen: dazu aber ist die Bedingung, dass Jeder auf seinem eigenen Felde Mitbewerber hat, die ä u s s e r s t m i s s t r a u i s c h sind und ihm scharf auf die Finger sehen. Aus diesem Nebeneinander von „nicht zu misstrauisch" und „äusserst misstrauisch" entsteht die Rechtschaffenheit in der Ge20 lehrten-Republik.
216. G r u n d d e r U n f r u c h t b a r k e i t . — Es giebt höchst begabte Geister, welche nur desshalb immer unfruchtbar sind, weil sie, aus einer Schwäche des Temperamentes, zu ungeduldig 25 sind, ihre Schwangerschaft abzuwarten.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 213—219
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217. V e r k e h r t e W e l t d e r T h r ä n e n . — Das vielfache Missbehagen, welches die Ansprüche der höheren Cultur dem Menschen machen, verkehrt endlich die Natur so weit, dass er für gewöhnlich starr und stoisch sich hält und nur noch für die seltenen Anfälle des Glücks die Thränen übrig hat, ja dass Mancher schon bei dem Genüsse der Schmerzlosigkeit weinen muss: — nur im Glücke schlägt sein Herz noch. 218. D i e G r i e c h e n a l s D o l m e t s c h e r . — Wenn wir von den Griechen reden, reden wir unwillkürlich zugleich von Heute und Gestern: ihre allbekannte Geschichte ist ein blanker Spiegel, der immer Etwas wiederstrahlt, das nicht im Spiegel selbst ist. Wir benützen die Freiheit, von ihnen zu reden, um von Anderen schweigen zu dürfen, — damit jene nun selber dem sinnenden Leser Etwas in's Ohr sagen. So erleichtern die Griechen dem modernen Menschen das Mittheilen von mancherlei schwer Mittheilbarem und Bedenklichem. 219. Vom erworbenen C h a r a k t e r der Griechen. — Wir lassen uns leicht durch die berühmte griechische Helle, Durchsichtigkeit, Einfachheit und Ordnung, durch das Krystallhafl-Natürliche und zugleich Krystallhaft-Künstliche griechischer Werke verführen, zu glauben, das sei alles den Griechen geschenkt: sie hätten zum Beispiel gar nicht anders gekonnt als gut schreiben, wie diess Lichtenberg einmal ausspricht. Aber Nichts ist voreiliger und unhaltbarer. Die Geschichte der Prosa von Gorgias bis Demosthenes zeigt ein Arbeiten und Ringen aus dem Dunklen, Ueberladnen, Geschmacklosen heraus zum Lichte hin, dass man an die Mühsal der Heroen erinnert wird,
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welche die ersten Wege durch Wald und Sümpfe zu bahnen hatten. Der Dialog der Tragödie ist die eigentliche T h a t der Dramatiker, wegen seiner ungemeinen Helle und Bestimmtheit, bei einer Volksanlage, welche im Symbolischen und Andeutenden schwelgte, und durch die grosse chorische Lyrik dazu noch eigens erzogen war: wie es die That Homer's ist, die Griechen von dem asiatischen Pomp und dem dumpfen Wesen befreit und die Helle der Architektur, im Grossen und Einzelnen, errungen zu haben. Es galt auch keineswegs für leicht, Etwas recht rein und leuchtend zu sagen; woher sonst die hohe Bewunderung für das Epigramm des Simonides, das ja so schlicht sich giebt, ohne vergoldete Spitzen, ohne Arabesken des Witzes, — aber es sagt, was es zu sagen hat, deutlich, mit der Ruhe der Sonne, nicht mit der Effecthascherei eines Blitzes. Weil das Zustreben zum Lichte aus einer gleichsam eingeborenen Dämmerung griechisch ist, so geht ein Frohlocken durch das Volk beim Hören einer lakonischen Sentenz, bei der Sprache der Elegie, den Sprüchen der sieben Weisen. Desshalb wurde das Vorschriftengeben in Versen, das uns anstössig ist, so geliebt, als eigentliche apollinische Aufgabe für den hellenischen Geist, um über die Gefahren des Metrum's, über die Dunkelheit, welche der Poesie sonst eigen ist, Sieger zu werden. Die Schlichtheit, die Geschmeidigkeit, die Nüchternheit sind der Volksanlage a n g e r u n g e n , nicht mitgegeben, — die Gefahr eines Rückfalles in's Asiatische schwebte immer über den Griechen, und wirklich kam es von Zeit zu Zeit über sie wie ein dunkler überschwemmender Strom mystischer Regungen, elementarer Wildheit und Finsterniss. Wir sehen sie untertauchen, wir sehen Europa gleichsam weggespült, überfluthet — denn Europa war damals sehr klein —, aber immer kommen sie auch wieder an's Licht, gute Schwimmer und Taucher wie sie sind, das Volk des Odysseus.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 219—220
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220. D a s e i g e n t l i c h H e i d n i s c h e . — Vielleicht giebt es nichts Befremdenderes für Den, welcher sich die griechische Welt ansieht, als zu entdecken, dass die Griechen allen ihren Leidenschaften und bösen Naturhängen von Zeit zu Zeit gleichsam Feste gaben und sogar eine Art Festordnung ihres Allzumenschlichen von Staatswegen einrichteten: es ist diess das eigentlich Heidnische ihrer Welt, vom Christenthume aus nie begriffen, nie zu begreifen und stets auf das Härteste bekämpft und verachtet. — Sie nahmen jenes Allzumenschliche als unvermeidlich und zogen vor, statt es zu besdiimpfen, ihm eine Art Recht zweiten Ranges durch Einordnung in die Bräuche der Gesellschaft und des Cultus' zu geben: ja, alles, was im Menschen M a c h t hat, nannten sie göttlich und schrieben es an die Wände ihres Himmels. Sie leugnen den Naturtrieb, der in den schlimmen Eigenschaften sich ausdrückt, nicht ab, sondern ordnen ihn ein und beschränken ihn auf bestimmte Culte und Tage, nachdem sie genug Vorsichtsmaassregeln erfunden haben, um jenen wilden Gewässern einen möglichst unschädlichen Abfluss geben zu können. Diess ist die Wurzel aller moralistischen Freisinnigkeit des Altherthums. Man gönnte dem Bösen und Bedenklichen, dem Thierisch-Rückständigen ebenso wie dem Barbaren, Vor-Griechen und Asiaten, welcher im Grunde des griechischen Wesens noch lebte, eine mässige Entladung und strebte nicht nach seiner völligen Vernichtung. Das ganze System solcher Ordnungen umfasste der Staat, der nicht auf einzelne Individuen oder Kasten, sondern auf die gewöhnlichen menschlichen Eigenschaften hin construirt war. In seinem Baue zeigen die Griechen jenen wunderbaren Sinn für das Typisch-Thatsächliche, der sie später befähigte, Naturforscher, Historiker, Geographen und Philosophen zu werden. Es war nicht ein beschränktes, priesterliches oder kastenmässiges Sittengesetz, welches bei der Verfassung des Staates und Staats-Cultus' zu entscheiden hatte: sondern die umfänglichste Rücksicht auf die W i r k -
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Menschliches, Allzumensdilidies II
l i c h k e i t a l l e s M e n s c h l i c h e n . — Woher haben die Griechen diese Freiheit, diesen Sinn für das Wirkliche? Vielleicht von Homer und den Dichtern vor ihm; denn gerade die Dichter, deren Natur nicht die gerechteste und weiseste zu sein pflegt, besitzen dafür jene Lust am Wirklichen, Wirkenden j e d e r A r t und wollen selbst das Böse nicht völlig verneinen: es genügt ihnen, dass es sich massige und nicht Alles todtschlage oder innerlich giftig mache — das heisst, sie denken ähnlich wie die griechischen Staatenbildner und sind deren Lehrmeister und Wegebahner gewesen. 221. A u s n a h m e - G r i e c h e n . — In Griechenland waren die tiefen, gründlichen, ernsten Geister die Ausnahme: der Instinct des Volkes ging vielmehr dahin, das Ernste und Gründliche als eine Art von Verzerrung zu empfinden. Die Formen aus der Fremde entlehnen, nicht schaffen, aber zum schönsten Schein umbilden — das ist griechisch: nachahmen, nicht zum Gebrauch, sondern zu künstlerischer Täuschung, über den aufgezwungenen Ernst immer wieder Herr werden, ordnen, verschönern, verflachen — so geht es fort von Homer bis zu den Sophisten des dritten und vierten Jahrhunderts der neuen Zeitrechnung, welche ganz Aussenseite, pomphaftes Wort, begeisterte Gebärde sind, und sich an lauter ausgehöhlte schein-, klang- und effectlüsterne Seelen wenden. — Und nun würdige man die Grösse jener Ausnahme-Griechen, welche die W i s s e n s c h a f t schufen! Wer von ihnen erzählt, erzählt die heldenhafteste Geschichte des menschlichen Geistes!
222. Das E i n f a c h e nicht das Erste, noch das L e t z t e d e r Z e i t n a c h . — In die Geschichte der religiösen Vorstellungen wird viel falsche Entwickelung und Allmählich-
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 2 2 0 — 2 2 2
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keit hineingedichtet, bei Dingen, die in Wahrheit nicht aus- und hintereinander, sondern nebeneinander und getrennt aufgewachsen sind; namentlich ist das Einfache viel zu sehr noch im Rufe, das Aelteste und Anfänglichste zu sein. Nicht wenig Menschliches entsteht durch Subtraction und Division und gerade nicht durch Verdoppelung, Zusatz, Zusammenbildung. — Man glaubt zum Beispiel immer noch an eine allmähliche Entw i c k l u n g der G ö t t e r d a r s t e l l u n g von jenen ungefügen Holzklötzen und Steinen aus bis zur vollen Vermenschlichung hinauf: und doch steht es gerade so, dass, so l a n g e die Gottheit in Bäume, Holzstücke, Steine, Thiere hineinverlegt und -empfunden wurde, man sich vor einer Anmensdilichung ihrer Gestalt wie vor einer Gottlosigkeit scheute. Erst die Dichter haben, abseits vom Cultus und dem Banne der religiösen S c h a m , die innere Phantasie der Menschen daran gewöhnen, dafür willig machen müssen: überwogen aber wieder frömmere Stimmungen und Augenblicke, so trat dieser befreiende Einfluss der Dichter wieder zurück und die Heiligkeit verblieb nach wie vor auf Seite des Ungethümlichen, Unheimlichen, ganz eigentlich Unmenschlichen. Selbst aber Vieles von dem, was die innere Phantasie sich zu bilden wagt, würde doch noch, in äussere, leibhafte Darstellung übersetzt, peinlich wirken: das innere Auge ist um Vieles kühner und weniger schamhaft als das äussere (woraus sich die bekannte Schwierigkeit und theilweise Unmöglichkeit ergiebt, epische Stoffe in dramatische umzuwandeln). Die religiöse Phantasie w i l l lange Zeit durchaus nicht an die Identität des Gottes mit einem Bilde glauben: das Bild soll das Numen der Gottheit in irgend einer geheimnissvollen, nicht völlig auszudenkenden Weise hier als thätig, als örtlich gebannt erscheinen lassen. Das älteste Götterbild soll den G o t t b e r g e n u n d z u g l e i c h v e r b e r g e n , — ihn andeuten, aber nicht zur Schau stellen. Kein Grieche hat je innerlich seinen Apollo als Holz-Spitzsäule, seinen Eros als Steinklumpen a n g e s c h a u t ; es waren Symbole, welche gerade Angst vor der Ver-
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anschaulichung machen sollten. Ebenso steht es noch mit jenen Hölzern, denen mit dürftigster Schnitzerei einzelne Glieder, mitunter in der Ueberzahl, angebildet waren: wie ein lakonischer Apollo vier H ä n d e und vier O h r e n hatte. In dem Unvollständigen, Andeutenden oder Uebervollständigen liegt eine grausenhafte Heiligkeit, welche a b w e h r e n soll, an Menschliches, Menschenartiges zu denken. Es ist nicht eine embryonische Stufe der Kunst, in der man so Etwas bildet: als ob man in der Zeit, wo man solche Bilder verehrte, nicht hätte deutlicher reden, sinnfälliger darstellen k ö n n e n . Vielmehr scheut man gerade Eines: das directe Heraussagen. Wie die Cella das Allerheiligste, das eigentliche N u m e n der Gottheit birgt und in geheimnissvolles Halbdunkel versteckt, d o c h n i c h t g a n z ; wie wiederum der peripterische Tempel die Cella birgt, gleichsam mit einem Schirm und Schleier vor dem ungescheuten Auge schützt, a b e r n i c h t g a n z : so ist das Bild die Gottheit und zugleich Versteck der Gottheit. — Erst als ausserhalb des Cultus', in der profanen Welt des Wettkampfes, die Freude an dem Sieger im K a m p f e so hoch gestiegen war, dass die hier erregten Wellen in den See der religiösen Empfindung hinüberschlugen, erst als das Standbild des Siegers in den Tempelhöfen aufgestellt wurde und der f r o m m e Besucher des Tempels freiwillig oder unfreiwillig sein Auge wie seine Seele an diesen unumgänglichen Anblick m e n s c h l i c h e r Schönheit und U e b e r k r a f t gewöhnen musste, so dass, bei der räumlichen und seelischen Nachbarschaft, Mensch- und Gottverehrung in einander überklangen: da erst verliert sich auch die Scheu vor der eigentlichen Vermenschlichung des Götterbildes, und der grosse Tummelplatz f ü r die grosse Plastik wird aufgethan: auch jetzt noch mit der Beschränkung, dass überall wo a n g e b e t e t werden soll, die uralte Form und Hässlichkeit bewahrt und vorsichtig nachgebildet wird. Aber der w e i h e n d e u n d s c h e n k e n d e Hellene darf seiner Lust, G o t t Mensch werden zu lassen, jetzt in aller Seligkeit nachhängen.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 2 2 2 — 2 2 3
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223. Wohin m a n r e i s e n m u s s . — Die unmittelbare Selbstbeobachtung reicht nicht lange aus, um sich kennen zu lernen: wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort; wir selber sind ja Nichts als Das, was wir in jedem Augenblick von diesem Fortströmen empfinden. Auch hier sogar, wenn wir in den Fluss unseres anscheinend eigensten und persönlichsten Wesens hinabsteigen wollen, gilt Heraklit's Satz: man steigt nicht zweimal in den selben Fluss. — Das ist eine Weisheit, die allmählich zwar altbacken geworden, aber trotzdem eben so kräftig und nahrhaft geblieben ist, wie sie es je war: ebenso wie jene, dass, um Geschichte zu verstehen, man die lebendigen Ueberreste geschichtlicher Epochen aufsuchen müsse, — dass man r e i s e n müsse, wie Altvater Herodot reiste, zu Nationen — diese sind ja nur festgewordene ältere C u l t u r s t u f e n , auf die man sich s t e l l e n kann — , zu sogenannten wilden und halbwilden Völkerschaften namentlich, dorthin wo der Mensch das Kleid Europa's ausgezogen oder noch nicht angezogen hat. Nun giebt es aber noch eine f e i n e r e Kunst und Absicht des Reisens, welche es nicht immer nöthig macht, von O r t zu O r t und über Tausende von Meilen hin den Fuss zu setzen. Es leben sehr wahrscheinlich die letzten drei Jahrhunderte in allen ihren Culturfärbungen und -Strahlenbrechungen auch in u n s e r e r N ä h e noch fort: sie wollen nur e n t d e c k t werden. In manchen Familien, ja in einzelnen Menschen liegen die Schichten schön und übersichtlich noch übereinander: anderswo giebt es schwieriger zu verstehende Verwerfungen des Gesteins. Gewiss hat sich in abgelegenen Gegenden, in weniger betretenen Gebirgsthälern, umschlosseneren Gemeinwesen ein ehrwürdiges Musterstück sehr viel älterer Empfindung leichter erhalten können und muss hier aufgespürt werden: während es zum Beispiel unwahrscheinlich ist, in Berlin, wo der Mensch ausgelaugt und abgebrüht zur Welt kommt, solche Entdeckungen zu machen. Wer nach langer Uebung in
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Menschliches, Allzumenschliches I I
dieser Kunst des Reisens, zum hundertäugigen Argos geworden ist, der wird s e i n e l o — ich meine sein e g o — endlich überall hinbegleiten und in Aegypten und Griechenland, Byzanz und Rom, Frankreich und Deutschland, in der Zeit der wandernden J oder der festsitzenden Völker, in Renaissance und Reformation, in Heimat und Fremde, ja in Meer, Wald, Pflanze und Gebirge, die Reise-Abenteuer dieses werdenden und verwandelten ego wieder entdecken. — So wird Selbst-Erkenntniss zur All-Erkenntniss in Hinsicht auf alles Vergangene: wie, nach einer io andern, hier nur anzudeutenden Betrachtungskette, Selbstbestimmung und Selbsterziehung in den freiesten und weitest blickenden Geistern einmal zur All-Bestimmung, in Hinsicht auf alles zukünftige Menschenthum werden könnte.
224. 1$
B a l s a m u n d G i f t . — Man kann es nicht gründlich genug erwägen: das Christenthum ist die Religion des altgewordenen Alterthums, seine Voraussetzung sind entartete alte Culturvölker; auf diese vermochte und vermag es wie ein Balsam zu wirken. In Zeitaltern, wo die O h r e n und Augen „voller 2° Schlamm" sind, so dass sie die Stimme der Vernunft und Philosophie nicht mehr zu vernehmen, die leibhaft wandelnde Weisheit, trage sie nun den N a m e n Epiktet oder Epikur, nicht mehr zu sehen vermögen: da mag vielleicht noch das aufgerichtete Marterkreuz und die „Posaune des jüngsten Gerichts" wirken, 25 u m solche Völker noch zu einem a n s t ä n d i g e n Ausleben zu bewegen. Man denke an das R o m Juvenal's, an diese Giftkröte mit den Augen der Venus: — da lernt man, was es heisst, ein Kreuz vor der „Welt" schlagen, da verehrt man die stille christliche Gemeinde und ist dankbar f ü r ihr Ueberwuchern des 3° griechisch-römischen Erdreichs. Wenn die meisten Menschen damals gleich mit der Verknechtung der Seele, mit der Sinnlichkeit von Greisen geboren wurden: welche Wohlthat, jenen Wesen
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 2 2 3 — 2 2 4
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zu begegnen, die mehr Seelen als Leiber waren und welche die griechische Vorstellung von den Hadesschatten zu verwirklichen schienen: scheue, dahinhuschende, zirpende, wohlwollende Gestalten, mit einer Anwartschaft auf das „bessere Leben" und dadurch so anspruchslos, so stillverachtend, so stolz-geduldig geworden! — Diess Christenthum als Abendläuten des g u t e n Alterthums, mit zersprungener, müder und doch wohltönender Glocke, ist selbst noch für Den, welcher jetzt jene Jahrhunderte nur historisch durchwandert, ein Ohrenbalsam: was muss es für jene Menschen selber gewesen sein! — Dagegen ist das Christenthum für junge frische Barbarenvölker G i f t ; in die Helden-, Kinder- und Thierseele des alten Deutschen zum Beispiel die Lehre von der Sündhaftigkeit und Verdammniss hineinpflanzen, heisst nichts Anderes als sie vergiften; eine ganz ungeheuerliche chemische Gährung und Zersetzung, ein Durcheinander von Gefühlen und Urtheilen, ein Wuchern und Bilden des Abenteuerlichsten musste dieFolge sein und also, im weiteren Verlaufe, eine gründliche Schwächung solcher Barbarenvölker. — Freilich: was hätten wir, ohne diese Schwächung, noch von der griechischen Cultur! was von der ganzen Cultur-Vergangenheit des Menschengeschlechts! — denn die vom Christenthume u n a n g e t a s t e t e n Barbaren verstanden gründlich mit alten Culturen aufzuräumen: wie es zum Beispiel die heidnischen Eroberer des romanisirten Britannien mit furchtbarer Deutlichkeit bewiesen haben. Das Christenthum hat wider seinen Willen helfen müssen, die antike „Welt" unsterblich zu machen. — N u n bleibt auch hier wieder eine Gegenfrage und die Möglichkeit einer Gegenrechnung übrig: wäre vielleicht, ohne jene Schwächung durch das erwähnte Gift, eine oder die andere jener frischen Völkerschaften, etwa die deutsche, im Stande gewesen, allmählich von selber eine höhere Cultur zu finden, eine eigene, neue? — von welcher somit der Menschheit selbst der entfernteste Begriff verloren gegangen wäre? — So steht es auch hier, wie überall: man weiss nicht, um christlich
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Menschliches, Allzumenschlidies I I
zu reden, ob G o t t dem Teufel oder der Teufel G o t t mehr D a n k dafür schuldig ist, dass Alles so g e k o m m e n ist, wie es ist.
22$. G l a u b e m a c h t s e l i g u n d v e r d a m m t . — Ein Christ, der auf unerlaubte Gedankengänge geräth, könnte sich wohl einmal fragen: ist es eigentlich n ö t h i g , dass es einen G o t t , nebst einem stellvertretenden Sündenlamme, wirklich g i e b t , wenn schon der G l a u b e an das D a s e i n dieser Wesen ausreicht, u m die gleichen Wirkungen hervorzubringen? Sind es nicht ü b e r f l ü s s i g e Wesen, falls sie doch existiren sollten? D e n n alles Wohlthuende, Tröstliche, Versittlichende, ebenso wie alles Verdüsternde und Zermalmende, welches die christliche Religion der menschlichen Seele giebt, geht von jenem Glauben aus und nicht von den Gegenständen jenes Glaubens. Es steht hier nicht anders als bei dem bekannten Falle: zwar hat es keine H e x e n gegeben, aber die furchtbaren Wirkungen des Hexenglaubens sind die selben gewesen, wie wenn es wirklich H e x e n gegeben hätte. Für alle jene Gelegenheiten, w o der Christ das unmittelbare Eingreifen eines Gottes erwartet, aber umsonst erwartet — weil es keinen G o t t giebt — ist seine Religion erfinderisch genug in Ausflüchten und Gründen zur Beruhigung: hierin ist es sicherlich eine geistreiche Religion. — Zwar hat der Glaube bisher noch keine wirklichen Berge versetzen können, obschon diess ich weiss nicht wer behauptet hat; aber er vermag Berge dorthin zu setzen, w o keine sind.
22 6. T r a g i k o m ö d i e v o n R e g e n s b u r g . — Hier und da kann m a n mit einer erschreckenden Deutlichkeit das Possenspiel der F o r t u n a sehen, wie sie an wenig Tage, an Einen O r t , an die Zustände und Stimmungen Eines K o p f e s das Seil der
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nächsten Jahrhunderte anknüpft, an dem sie diese tanzen lassen will. So liegt das Verhängniss der neueren deutschen Geschichte in den Tagen jener Disputation von Regensburg: der friedliche Ausgang der kirchlichen und sittlichen Dinge, ohne Religionskriege, Gegenreformation, schien gewährleistet, ebenso die Einheit der deutschen Nation; der tiefe, milde Sinn des Contarini schwebte einen Augenblick über dem theologischen Gezänk, siegreich, als Vertreter der reiferen italiänischen Frömmigkeit, welche die Morgenröthe der geistigen Freiheit auf ihren Schwingen wiederstrahlte. Aber der knöcherne Kopf Luther's, voller Verdächtigungen und unheimlicher Aengste, sträubte sich: weil die Rechtfertigung durch die Gnade ihm als s e i n grösster Fund- und Wahlspruch erschien, glaubte er diesem Satze nicht im Munde von Italiänern: während diese ihn, wie es bekannt ist, schon viel früher gefunden und durch ganz Italien in tiefer Stille verbreitet hatten. Luther sah in dieser scheinbaren Uebereinstimmung die Tücken des Teufels, und verhinderte das Friedenswerk so gut er konnte: wodurch er die Absichten der Feinde des Reiches ein gutes Stück vorwärts brachte. — U n d nun nehme man, um den Eindruck des schauerlich Possenhaften noch mehr zu haben, hinzu, dass keiner der Sätze, über welche man sich damals in Regensburg stritt, weder der von der Erbsünde, noch der von der Erlösung durch Stellvertretung, noch der von der Rechtfertigung im Glauben, irgendwie wahr ist, oder auch nur mit der Wahrheit zu thun hat, dass sie alle jetzt als undiscutirbar erkannt sind: — und doch wurde darüber die Welt in Flammen gesetzt, also über Meinungen, denen gar keine Dinge und Realitäten entsprechen; während in Betreff von rein philologischen Fragen, zum Beispiel nach der Erklärung der EinsetzungsWorte des Abendmahls, doch wenigstens ein Streit erlaubt ist, weil hier die Wahrheit gesagt werden kann. Aber wo Nichts ist, da hat auch die Wahrheit ihr Recht verloren. — Zuletzt bleibt Nichts übrig zu sagen, als dass damals allerdings K r a f t q u e l l e n entsprungen sind, so mächtig, dass ohne sie alle Mühlen
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der modernen Welt nicht mit gleicher Stärke getrieben würden. Und erst kommt es auf Kraft an, dann erst auf Wahrheit, oder auch dann noch lange nicht, — nicht wahr, meine lieben Zeitgemässen?
22 7. G o e t h e ' s I r r u n g e n . — Goethe ist darin die grosse Ausnahme unter den grossen Künstlern, dass er nicht in der Bornirtheit seines wirklichen Vermögens lebte, als ob dasselbe an ihm selber und f ü r alle Welt das Wesentliche und Auszeichnende, das Unbedingte und Letzte sein müsse. Er meinte zweimal etwas Höheres zu besitzen, als er wirklich besass — und irrte sich, in der z w e i t e n H ä l f t e seines Lebens, wo er ganz durchdrungen von der Ueberzeugung erscheint, einer der grössten w i s s e n s c h a f t l i c h e n Entdecker und Lichtbringer zu sein. U n d ebenso schon in der e r s t e n H ä l f t e seines Lebens: er w o l l t e von sich etwas Höheres, als die Dichtkunst ihm schien — und irrte sich schon darin. Die N a t u r habe aus ihm einen b i l d e n d e n Künstler machen wollen — das war sein innerlich glühendes und versengendes Geheimniss, das ihn endlich nach Italien trieb, damit er sich in diesem Wahne noch recht austobe und ihm jedes O p f e r bringe. Endlich entdeckte er, der Besonnene, allem Wahnschaffnen an sich ehrlich Abholde, wie ein trügerischer Kobold von Begierde ihn zum Glauben an diesen Beruf gereizt habe, wie er von der grössten Leidenschaft seines Wollens sich losbinden und A b s c h i e d nehmen müsse. Die schmerzlich schneidende und wühlende Ueberzeugung, es sei nöthig, A b s c h i e d z u n e h m e n, ist völlig in der Stimmung des Tasso ausgeklungen: über ihm, dem „gesteigerten Werther", liegt das Vorgefühl von Schlimmerem als der Tod ist, wie wenn sich Einer sagt: „nun ist es aus — nach diesem Abschiede; wie soll man weiter leben, ohne wahnsinnig zu werden!" — Diese beiden G r u n d i r r t h ü m e r
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 226—228
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seines Lebens gaben Goethe, angesichts einer rein litterarischen Stellung zur Poesie, wie damals die Welt allein sie kannte, eine so unbefangene und fast willkürlich erscheinende Haltung. Abgesehen von der Zeit, wo Schiller — der arme Schiller, der keine Zeit hatte und keine Zeit liess — ihn aus der enthaltsamen Scheu vor der Poesie, aus der Furcht vor allem litterarischen Wesen und H a n d w e r k heraustrieb — erscheint Goethe wie ein Grieche, der hier und da eine Geliebte besucht, mit dem Zweifel, ob es nicht eine Göttin sei, der er keinen rechten N a m e n zu geben wisse. Allem seinem Dichten m e r k t man die anhauchende N ä h e der Plastik u n d der N a t u r an: die Züge dieser ihm vorschwebenden Gestalten — u n d er meint vielleicht immer nur den Verwandlungen Einer Göttin auf der Spur zu sein — wurden ohne Willen und Wissen die Züge sämtlicher Kinder seiner Kunst. O h n e die U m s c h w e i f e d e s I r r t h u m s wäre er nicht Goethe geworden: das heisst, der einzige deutsche Künstler der Schrift, der jetzt noch nicht veraltet ist, — weil er eben so wenig Schriftsteller als Deutscher von Beruf sein wollte.
228. R e i s e n d e u n d i h r e G r a d e . — U n t e r den Reisenden unterscheide man nach fünf Graden: die des ersten niedrigsten Grades sind solche, welche reisen u n d dabei gesehen w e r d e n , — sie werden eigentlich gereist und sind gleichsam blind; die nächsten sehen wirklich selber in die Welt; die dritten erleben Etwas in Folge des Sehens; die vierten leben das Erlebte in sich hinein und tragen es mit sich f o r t ; endlich giebt es einige Menschen der höchsten Kraft, welche alles Gesehene, nachdem es erlebt u n d eingelebt worden ist, endlich auch nothwendig wieder aus sich herausleben müssen, in Handlungen und Werken, sobald sie nach Hause zurückgekehrt sind. — Diesen fünf Gattungen von Reisenden gleich gehen überhaupt alle Menschen durch die ganze Wanderschaft des Lebens, die niedrigsten
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Menschliches, Allzumenschliches I I
als reine Passiva, die höchsten als die Handelnden und Auslebenden ohne allen R e s t zurückbleibender innerer Vorgänge.
229. Im
Höher-Steigen.
—
Sobald
man
höher
steigt
als Die, welche Einen bisher bewunderten, so erscheint man eben Denen als gesunken und herabgefallen: denn sie vermeinten u n t e r allen U m s t ä n d e n , bisher m i t uns (sei es auch durch uns) a u f d e r H ö h e zu sein.
230. Maass
u n d M i t t e . — V o n zwei ganz hohen D i n g e n :
Maass und Mitte, redet man am besten nie. Einige Wenige kennen ihre K r ä f t e und Anzeichen aus den Mysterien-Pfaden innerer Erlebnisse und U m k e h r u n g e n : sie verehren in ihnen etwas Göttliches und scheuen das laute W o r t . Alle Uebrigen hören kaum zu, wenn davon gesprochen wird, und wähnen, es handele sich um Langeweile und Mittelmässigkeit: J e n e etwa noch ausgenommen, welche einen anmahnenden Klang aus j e n e m Reiche einmal v e r n o m m e n , aber gegen ihn sich die O h r e n verstopft haben. Die E r i n n e r u n g daran macht sie nun böse und aufgebracht.
231. H u m a n i t ä t der Freund - und Meisterschaft.
—
„Gehst du gen Morgen: so werde ich gen Abend ziehen"
—
so zu empfinden ist das h o h e M e r k m a l von H u m a n i t ä t im engeren V e r k e h r e : ohne diese Empfindung wird jede Freundschaft, jede J ü n g e r - und Schülerschaft irgendwann einmal zur H e u chelei.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 2 2 8 — 2 3 5
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232. D i e T i e f e n . — Tiefdenkende Menschen kommen sich im Verkehr mit Andern als Komödianten vor, weil sie sich da, um verstanden zu werden, immer erst eine Oberfläche anheucheln müssen.
2 33Für die V e r ä c h t e r der „Heerden-Menschh e i t " . — Wer die Menschen als Heerde betrachtet, und vor ihnen so schnell er kann flieht, den werden sie gewiss einholen und mit ihren Hörnern stossen.
234. H a u p t v e r g e h e n g e g e n d i e E i t e l e n . — Wer einem Andern in der Gesellschaft Gelegenheit macht, sein Wissen, Fühlen, Erfahren glücklich darzulegen, stellt sich über ihn und begeht also, falls er nicht als Höherstehender von Jenem ohne Einschränkung empfunden wird, ein Attentat auf dessen Eitelkeit, — während er gerade derselben Befriedigung zu geben glaubte.
2 35E n t t ä u s c h u n g . — Wenn ein langes Leben und Thun, sammt Reden und Schriften, von einer Person öffentlich Zeugniss ablegt, so pflegt der Umgang mit ihr zu enttäuschen, aus doppeltem Grunde: einmal, weil man zu viel von einer kurzen Zeitspanne Verkehrs erwartet — nämlich alles Das, was erst die tausend Gelegenheiten des Lebens sichtbar werden Hessen —, und sodann, weil jeder Anerkannte sich keine Mühe giebt, im Einzelnen noch um Anerkennung zu buhlen. Er ist zu nachlässig — und wir sind zu gespannt.
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Menschliches, Allzumenschliches II
236. Z w e i Q u e l l e n d e r G ü t e . — Alle Menschen mit gleichmässigem Wohlwollen behandeln und ohne Unterschied der Person gütig sein, kann eben so sehr der Ausfluss tiefer Menschenverachtung als gründlicher Menschenliebe sein.
23 7D e r W a n d e r e r im G e b i r g e zu sich selber. — Es giebt sichere Anzeichen dafür, dass du vorwärts und höher hinauf gekommen bist: es ist jetzt freier und aussichtsreicher u m dich als vordem, die Lufl weht dich kühler, aber auch milder an, — du hast ja die Thorheit verlernt, Milde und Wärme zu verwechseln —, dein Gang ist lebhafter und fester geworden, Muth und Besonnenheit sind zusammen gewachsen: — aus allen diesen Gründen wird dein Weg jetzt einsamer sein dürfen und jedenfalls gefährlicher sein als dein früherer, wenn auch gewiss nicht in dem Maasse, als Die glauben, welche dich Wanderer v o m dunstigen Thale aus auf dem Gebirge schreiten sehen. 238.
A u s g e n o m m e n d e r N ä c h s t e . — Offenbar steht mein Kopf nur auf meinem eigenen Halse nicht recht; denn jeder Andere weiss bekanntlich besser, was ich zu t h u n und zu lassen habe: nur mir selber weiss ich armer Schelm nicht zu rathen. Sind wir nicht A l l e wie Bildsäulen, denen falsche Köpfe aufgesetzt wurden? — nicht wahr, mein geliebter Nachbar? — Doch nein, du gerade bist die Ausnahme. 239.
V o r s i c h t . — Mit Menschen, denen die Scheu vor dem Persönlichen fehlt, muss man nicht umgehen oder unerbittlich ihnen vorher die Handschellen der Convenienz anlegen.
1. Vermischte M e i n u n g e n u n d Sprüche 2 3 6 — 2 4 3
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240. E i t e l e r s c h e i n e n w o l l e n . — Im Gespräche mit Unbekannten oder Halbbekannten nur ausgewählte Gedanken äussern, von seinen berühmten Bekanntschaften, bedeutenden Erlebnissen und Reisen reden, ist ein Anzeichen davon, dass man nicht stolz ist, mindestens dass man nicht so scheinen möchte. Die Eitelkeit ist die Höflichkeits-Maske des Stolzen.
241. D i e g u t e F r e u n d s c h a f t . — Die gute Freundschaft entsteht, wenn man den Anderen sehr achtet und zwar mehr als sich selbst, wenn man ebenfalls ihn liebt, jedoch nicht so sehr als sich, und wenn man endlich, zur Erleichterung des Verkehrs, den zarten A n s t r i c h und Flaum der Intimität hinzuzuthun versteht, zugleich aber sich der wirklichen und eigentlichen Intimität und der Verwechselung von Ich und Du weislich enthält.
242. D i e F r e u n d e a l s G e s p e n s t e r . — Wenn wir uns stark verwandeln, dann werden unsere Freunde, die nicht verwandelten, zu Gespenstern unserer eigenen Vergangenheit: ihre Stimme tönt schattenhaft-schauerlich zu uns heran — als ob wir uns selber hörten, aber jünger, härter, ungereifter.
243-
E i n A u g e u n d z w e i B l i c k e . — Die selben Personen, welche das Naturspiel des gunst- und gönnersuchenden Blicks haben, haben gewöhnlich auch, in Folge ihrer häufigen Demüthigungen und Rachegefühle, den unverschämten Blick.
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Menschliches, Allzumenschliches I I
244. D i e b l a u e F e r n e . — Zeitlebens ein Kind — das klingt sehr rührend, ist aber nur das Urtheil aus der Ferne; in der Nähe gesehen und erlebt, heisst es immer: zeitlebens knabenhaft. 245. V o r t h e i l und N a c h t h e i l im g l e i c h e n M i s s v e r s t ä n d n i s s. — Die verstummende Verlegenheit des feinen Kopfes wird gewöhnlich von Seiten der Unfeinen als schweigende Ueberlegenheit gedeutet und sehr gefürchtet: während die Wahrnehmung v o n Verlegenheit Wohlwollen erzeugen würde. 246. D e r W e i s e s i c h a l s N a r r e n g e b e n d . — Die Menschenfreundlichkeit des Weisen bestimmt ihn mitunter, sich erregt, erzürnt, erfreut zu s t e l l e n , um seiner Umgebung durch die Kälte und Besonnenheit seines w a h r e n Wesens nicht weh zu thun. 247. S i c h z u r A u f m e r k s a m k e i t z w i n g e n . — Sobald wir merken, dass Jemand im Umgange und Gespräche mit uns sich zur Aufmerksamkeit z w i n g e n muss, haben wir einen vollgültigen Beweis dafür, dass er uns nicht oder nicht mehr liebt. 248. W e g z u e i n e r c h r i s t l i c h e n T u g e n d . — Von seinen Feinden zu lernen ist der beste Weg dazu, sie zu lieben: denn es stimmt uns dankbar gegen sie.
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 2 4 4 — 2 5 3
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249.
K r i e g s l i s t d e s Z u d r i n g l i c h e n . — Der Zudringliche giebt auf unsere Conventionsmünze in Goldmünze heraus und will uns dadurch nachträglich nöthigen, unsere Convention als Versehen und ihn als Ausnahme zu behandeln.
250.
G r u n d d e r A b n e i g u n g . — Wir werden manchem Künstler oder Schriftsteller feindlich, nicht weil wir endlich merken, dass er uns hintergangen hat, sondern weil er nicht feinere Mittel für nöthig befand, um uns zu fangen.
251.
I m S c h e i d e n . — Nicht darin, wie eine Seele sich der andern nähert, sondern wie sie sich von ihr entfernt, erkenne ich ihre Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit mit der andern.
252.
S i l e n t i u m . — Man darf über seine Freunde nicht reden: sonst verredet man sich das Gefühl der Freundschaft.
U n h ö f l i c h k e i t . — Unhöflichkeit ist häufig das Merkmal einer ungeschickten Bescheidenheit, welche bei einer Ueberraschung den Kopf verliert und durch Grobheit diess verbergen möchte.
490
Menschliches, Allzumenschliches II 2 54-
V e r r e c h n u n g i n d e r E h r l i c h k e i t . — Das bisher von uns Verschwiegene erfahren mitunter gerade unsere neuesten Bekannten zuerst: wir meinen dabei thörichterweise, es sei unser Vertrauens-Beweis die stärkste Fessel, mit welcher wir sie festhalten könnten, — aber sie wissen nicht genug von uns, um das Opfer unseres Aussprechens so stark zu empfinden, und verrathen unsere Geheimnisse an Andere, ohne an Verrath zu denken: so dass wir vielleicht darüber unsere alten Bekannten verlieren.
2 55-
I m V o r z i m m e r d e r G u n s t . — Alle Menschen, die man lange im Vorzimmer seiner Gunst stehen lässt, gerathen in Gährung oder werden sauer.
256.
W a r n u n g a n d i e V e r a c h t e t e n . — Wenn man unverkennbar in der Achtung der Menschen gesunken ist, so halte man mit den Zähnen an der Scham im Verkehre fest: sonst verräth man den Andern, dass man auch in seiner eigenen Achtung gesunken ist. DerCynismus im Verkehre ist ein Anzeichen, dass der Mensch in der Einsamkeit sich selber als Hund behandelt.
257M a n c h e U n k e n n t n i s s a d e l t . — In Hinsicht auf die Achtung der Achtung-Gebenden ist vortheilhafter, gewisse Dinge ersichtlich n i c h t zu verstehen. Auch die Unwissenheit giebt Vorrechte.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 254—261
491
258.
D e r W i d e r s a c h e r d e r G r a z i e . — Der Unduldsame und Hochmüthige mag die Grazie nicht und empfindet sie wie einen leibhaft sichtbaren Vorwurf gegen sich; denn sie ist die Toleranz des Herzens in Bewegung und Gebärde.
259.
B e i m W i e d e r s e h e n . — Wenn alte Freunde nach langer Trennung einander wiedersehen, ereignet es sich oft, dass sie sich bei Erwähnung von Dingen theilnahmsvoll stellen, die für sie ganz gleichgültig geworden sind: und mitunter merken es beide, wagen aber nicht den Schleier zu heben — aus einem traurigen Zweifel. So entstehen Gespräche wie im Todtenreiche. 260.
N u r A r b e i t s a m e sich zu F r e u n d e n m a c h e n . — Der Müssige ist seinen Freunden gefährlich: denn weil er nicht genug zu thun hat, redet er davon, was seine Freunde thun und nicht thun, mischt sich endlich hinein und macht sich beschwerlich: wesshalb man kluger Weise nur mit Arbeitsamen Freundschaft schliessen soll. 261.
E i n e W a f f e d o p p e l t s o v i e l a l s z w e i . — Es ist ein ungleicher Kampf, wenn der Eine mit Kopf und Herz, der Andere nur mit dem Kopfe für seine Sache spricht: der Erstere hat gleichsam Sonne und Wind gegen sich und seine beiden Waffen stören sich gegenseitig: er verliert den Preis — in den Augen der W a h r h e i t . Dafür ist freilich der Sieg des Zweiten mit seiner Einen Waffe selten ein Sieg nach dem Herzen aller a n d e r n Zuschauer und macht bei ihnen unbeliebt.
492
Menschliches, Allzumenschliches I I
262. T i e f e u n d T r ü b e . — Das Publicum verwechselt leicht Den, welcher im Trüben fischt, mit Dem, welcher aus der Tiefe schöpft. 263.
An F r e u n d und Feind seine E i t e l k e i t dem o n s t r i r e n . — Mancher misshandelt aus Eitelkeit selbst seine Freunde, wenn Zeugen zugegen sind, denen er sein Uebergewicht deutlich machen will: und Andere übertreiben den Werth ihrer Feinde, um mit Stolz darauf hinzuweisen, dass sie solcher Feinde werth sind. 264.
A b k ü h l u n g . — Die Erhitzung des Herzens ist gewöhnlich mit der Krankheit von Kopf und Urtheil verbunden. Wem für einige Zeit an der Gesundheit des letzteren gelegen ist, der muss also wissen, was er abzukühlen hat: unbesorgt für die Zukunft seines Herzens! Denn ist man überhaupt der Erwärmung fähig, so wird man auch wieder warm werden und seinen Sommer haben müssen. 265.
Z u r M i s c h u n g d e r G e f ü h l e . — Gegen die Wissenschaft empfinden Frauen und selbstsüchtige Künstler Etwas, das aus Neid und Sentimentalität zusammengesetzt ist.
2 66.
W e n n d i e G e f a h r a m g r ö s s t e n i s t . — Man bricht das Bein selten, so lange man im Leben mühsam aufwärts steigt, aber wenn man anfängt, es sich leicht zu machen und die bequemen Wege zu wählen.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 2 6 2 — 2 7 0
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267. N i c h t z u z e i t i g . — Man muss sich in Acht nehmen, nicht zu zeitig scharf zu werden, — weil man zugleich damit zu zeitig dünn wird. 5
10
268. F r e u d e a m W i d e r s p ä n s t i g e n . — Der gute Erzieher kennt Fälle, wo er stolz darauf ist, dass sein Zögling w i d e r i h n sich selber treu bleibt: da nämlich, wo der Jüngling den Mann nicht verstehen darf oder zu seinem Schaden verstehen würde. 269.
V e r s u c h d e r E h r l i c h k e i t . — Jünglinge, die ehrlicher werden wollen als sie waren, suchen sich einen anerkannt Ehrlichen zum Opfer, das sie zuerst anfallen, indem sie sich zu 15 seiner Höhe hinauf zu schimpfen suchen — mit dem Hintergedanken, dass dieser erste Versuch jedenfalls ungefährlich sei; denn gerade Jener dürfe die Unverschämtheit des Ehrlichen nicht züchtigen. 270. 10
D a s e w i g e K i n d . — Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgend einem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten! Wir nennen's und empfinden's freilich anders, aber gerade diess spricht dafür, dass es das Selbe ist — denn auch das 25 Kind empfindet das Spiel als seine Arbeit und das Märchen als seine Wahrheit. Die Kürze des Lebens sollte uns vor dem pedantischen Scheiden der Lebensalter bewahren — als ob jedes etwas Neues brächte — und ein Dichter einmal den Menschen von zweihundert Jahren, den der wirklich ohne Märchen und Spiel 3° lebt, vorführen.
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Menschliches, Allzumensthliches I I
271. J e d e P h i l o s o p h i e ist P h i l o s o p h i e eines Leb e n s a l t e r s . — Das Lebensalter, in dem ein Philosoph seine Lehre fand, klingt aus ihr heraus, er kann es nicht verhüten, so erhaben er sich auch über Zeit und Stunde fühlen mag. So bleibt Schopenhauer's Philosophie das Spiegelbild der hitzigen und schwermüthigen J u g e n d , — es ist keine Denkweise für ältere Menschen; so erinnert Plato's Philosophie an die mittlem dreissiger Jahre, wo ein kalter und ein heisser Strom auf einander zuzubrausen pflegen, so dass Staub und zarte Wölkchen und, unter günstigen Umständen und Sonnenblicken, ein bezauberndes Regenbogenbild entsteht.
272. V o m G e i s t e d e r F r a u e n . — Die geistige Kraft einer Frau wird am besten dadurch bewiesen, dass sie aus Liebe zu einem Manne und dessen Geiste ihren eigenen zum Opfer bringt, und dass trotzdem ihr auf dem neuen, ihrer Natur ursprünglich fremden Gebiete, wohin die Sinnesart des Mannes sie drängt, s o f o r t e i n z w e i t e r G e i s t nachwächst.
273E r h ö h u n g und E r n i e d r i g u n g im G e s c h l e c h t l i c h e n . — Der Sturm der Begierde reisst den Mann mitunter in eine Höhe hinauf, wo alle Begierde schweigt: dort wo er wirklich l i e b t und noch mehr in einem besseren Sein als besserem Wollen lebt. U n d wiederum steigt ein gutes Weib häufig aus wahrer Liebe bis hinab zur Begierde und e r n i e d r i g t sich dabei vor sich selber. Namentlich das Letztere gehört zu dem Herzbewegendsten, was die Vorstellung einer guten Ehe mit sich zu bringen vermag.
1. Vermischte M e i n u n g e n u n d Sprüche 2 7 1 — 2 7 7
495
274Das Weib erfüllt, der Mann verheisst. — Durch das Weib zeigt die N a t u r , w o m i t sie bis jetzt bei ihrer Arbeit am Menschenbilde fertig w u r d e ; durch den Mann zeigt sie, was sie dabei zu überwinden hatte, aber auch, was sie noch Alles mit dem Menschen v o r h a t . — Das v o l l k o m m e n e Weib jeder Zeit ist der Müssiggang des Schöpfers an jedem siebenten Tage der Cultur, das Ausruhen des Künstlers in seinem Werke.
275U m p f l a n z u n g . — H a t man seinen Geist verwendet, um über die Maasslosigkeit der Affecte H e r r zu werden, so geschieht es vielleicht mit dem leidigen Erfolge, dass man die Maasslosigkeit auf den Geist überträgt und fürderhin im Denken und Erkennenwollen ausschweift. 276. D a s L a c h e n a l s V e r r ä t h e r e i . — Wie und wann eine Frau lacht, das ist ein M e r k m a l ihrer Bildung: aber im Klange des Lachens enthüllt sich ihre N a t u r , bei sehr gebildeten Frauen vielleicht sogar der letzte unlösbare Rest ihrer N a t u r . — Desshalb wird der Menschenprüfer sagen wie H o r a z , aber aus verschiedenem G r u n d e : ridete puellae.
277A u s d e r S e e l e d e r J ü n g l i n g e . — Jünglinge wechseln, in Bezug auf die selbe Person, mit H i n g e b u n g und U n v e r schämtheit ab: weil sie im G r u n d e nur sich in dem A n d e r n verehren und verachten, und zwischen beiden Empfindungen, in Bezug auf sich selber, hin und her taumeln müssen, so lange sie noch nicht in der E r f a h r u n g das Maass ihres Wollens und K ö n nens gefunden haben.
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Menschliches, Allzumenschliches I I
278. Z u r V e r b e s s e r u n g d e r W e l t . — Wenn man den Unzufriedenen, Schwarzgalligen und Murrköpfen die Fortpflanzung verwehrte, so könnte man schon die Erde in einen 5 Garten des Glücks verzaubern. — Dieser Satz gehört in eine practische Philosophie für das weibliche Geschlecht.
279. S e i n e m G e f ü h l e n i c h t m i s s t r a u e n . — Die frauenhafte Wendung, man solle seinem Gefühle nicht miss1° trauen, bedeutet nicht viel mehr als: man solle essen, was Einem gut schmeckt. Diess mag auch, namentlich für maassvolle Naturen, eine gute Alltagsregel sein. Andere Naturen müssen aber nach einem andern Satze leben: „du musst nicht nur mit dem Munde, sondern auch mit dem Kopfe essen, damit dich nicht 1 5 die Naschhaftigkeit des Mundes zu Grunde richte."
280. G r a u s a m e r E i n f a l l d e r L i e b e . — Jede grosse Liebe bringt den grausamen Gedanken mit sich, den Gegenstand der Liebe zu tödten, damit er ein für alle Mal dem frevel20 haften Spiele des Wechsels entrückt sei: denn vor dem Wechsel graut der Liebe mehr als vor der Vernichtung.
281. T h ü r e n. — Das Kind sieht ebenso wie der Mann in Allem, was erlebt, erlernt wird, Thüren: aber Jenem sind es Z u 2$ g ä n g e , Diesem immer nur D u r c h g ä n g e .
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 2 7 8 — 2 8 5
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282.
M i t l e i d i g e F r a u e n . — Das Mitleiden der Frauen, welches geschwätzig ist, trägt das Bett des Kranken auf offenen Markt.
283.
F r ü h z e i t i g e s V e r d i e n s t . — Wer jung schon sich ein Verdienst erwirbt, verlernt gewöhnlich dabei die Scheu vor dem Alter und dem Aeltern, und schliesst sich damit, zu seinem grössten Nachtheil, von der Gesellschaft der Reifen, Reife Gebenden aus: so dass er trotz frühzeitigerem Verdienste länger als Andere grün, zudringlich und knabenhaft bleibt.
284.
B a u s c h - u n d B o g e n - S e e l e n . — Die Frauen und die Künstler meinen, dass wo man ihnen nicht widerspreche, man nicht widersprechen könne; Verehrung in zehn Puncten und stillschweigende Nichtbilligung in anderen zehn scheint ihnen neben einander unmöglich, weil sie Bausch- und BogenSeelen haben.
285.
J u n g e T a l e n t e . — In Hinsicht auf junge Talente muss man streng nach der Goethe'schen Maxime verfahren, dass man oft dem Irrthum nicht schaden dürfe, um der Wahrheit nicht zu schaden. Ihr Zustand ist gleich den Krankheiten der Schwangerschaft und bringt seltsame Gelüste mit sich: welche man ihnen, so gut es gehen will, befriedigen und nachsehen sollte, um der Frucht willen, die man von ihnen erhofft. Freilich muss man, als Krankenwärter dieser wunderlichen Kranken, die schwere Kunst der freiwilligen Selbst-Demüthigung verstehen.
498
Menschlichcs, Allzumenschliches I I
286. E k e l a n d e r W a h r h e i t . — Die Frauen sind so geartet, dass alle Wahrheit (in Bezug auf Mann, Liebe, Kind, Gesellschaft, Lebensziel) ihnen Ekel macht und dass sie sich an Jedem zu rächen suchen, welcher ihnen das Auge öffnet.
287. D i e Q u e l l e d e r g r o s s e n L i e b e . — Woher die plötzlichen Leidenschaften eines Mannes für ein Weib entstehen, die tiefen, innerlichen? Aus Sinnlichkeit allein am wenigsten: aber wenn der Mann Schwäche, Hülfsbedürftigkeit und zugleich Uebermuth in Einem Wesen zusammen findet, so geht Etwas in ihm vor, wie wenn seine Seele überwallen wollte: er ist im selben Augenblicke gerührt und beleidigt. Auf diesem Puncte entspringt die Quelle der grossen Liebe.
288. R e i n l i c h k e i t . — Man soll den Sinn für Reinlichkeit im Kinde bis zur Leidenschaft entfachen: später erhebt er sich, in immer neuen Verwandlungen, fast zu jeder Tugend hinauf und erscheint zuletzt, als Compensation alles Talentes, wie eine Lichtfülle von Reinheit, Massigkeit, Milde, Charakter, — Glück in sich tragend, Glück um sich verbreitend.
289. V o n e i t l e n a l t e n M ä n n e r n . — Der Tiefsinn gehört der Jugend, der Klarsinn dem Alter zu: wenn trotzdem alte Männer mitunter in der A r t der Tiefsinnigen reden und schreiben, so thun sie es aus Eitelkeit, in dem Glauben, dass sie damit den Reiz des Jugendlichen, Schwärmerischen, Werdenden, Ahnungs- und Hoffnungsvollen annehmen.
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 2 8 6 — 2 9 3
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290. B e n u t z u n g d e s N e u e n . — Männer benutzen NeuErlerntes oder -Erlebtes fürderhin als Pflugschar, vielleicht auch als Waffe: aber Weiber machen sofort daraus einen Putz für sich zurecht. 291. R e c h t haben bei den zwei G e s c h l e c h t e r n . — Giebt man einem Weibe zu, dass es Recht habe, so kann es sich nicht versagen, erst noch die Ferse triumphirend auf den Nacken des Unterworfenen zu setzen, — es rnuss den Sieg auskosten; während Mann gegen Mann sich in solchem Falle gewöhnlich des Rechthabens schämt. Dafür ist der Mann an das Siegen gewöhnt, das Weib erlebt damit eine Ausnahme.
292. E n t s a g u n g i m W i l l e n z u r S c h ö n h e i t . — Um schön zu werden, darf ein Weib nicht für hübsch gelten wollen: das heisst, es muss in neunundneunzig Fällen, wo es gefallen könnte, es verschmähen und hintertreiben, zu gefallen, um Ein Mal das Entzücken Dessen einzuernten, dessen Seelenpforte gross genug ist, um Grosses aufzunehmen.
293-
U n b e g r e i f l i c h , u n a u s s t e h l i c h . — Ein Jüngling kann nicht begreifen, das ein Aelterer seine Entzückungen, Gefühls-Morgenröthen, Gedanken-Wendungen und -Aufschwünge auch einmal durchlebt habe: es beleidigt ihn schon, zu denken, dass sie zweimal existirt hätten, — aber ganz feindselig stimmt es ihn, zu hören, dass, um f r u c h t b a r zu werden, er jene Blüthen verlieren, ihren Duft entbehren müsse.
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Menschliches, Allzumenschliches I I
294. P a r t e i m i t d e r M i e n e d e r D u l d e r i n . — Jede Partei, die sich die Miene der Dulderin zu geben weiss, zieht die Herzen der Gutmüthigen zu sich hinüber und gewinnt dadurch selber die Miene der Gutmüthigkeit, zu ihrem grössten Vortheil.
B e h a u p t e n s i c h e r e r a l s b e w e i s e n . — Eine Behauptung wirkt stärker als ein Argument, wenigstens bei der Mehrzahl der Menschen; denn das Argument weckt Misstrauen. Desshalb suchen die Volksredner die Argumente ihrer Partei durch Behauptungen zu sichern.
296. D i e b e s t e n H e h l e r . — Alle regelmässig Erfolgreichen besitzen eine tiefe Verschlagenheit darin, ihre Fehler und Schwächen immer nur als anscheinende Stärken zum Vorschein zu bringen: wesshalb sie dieselben ungewöhnlich gut und deutlich kennen müssen.
V o n Z e i t z u Z e i t . — Er setzte sich in das Stadtthor und sagte zu Einem, der hindurchgieng, diess eben sei das Stadtthor. Jener entgegnete, es sei das eine Wahrheit, aber man dürfe nicht zu viel Recht haben, wenn man Dank dafür haben wolle. Oh, antwortete er, ich will auch keinen Dank; aber von Zeit zu Zeit ist es doch sehr angenehm, nicht nur Recht zu haben, sondern auch Recht zu behalten.
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 2 9 4 — 3 0 0
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298. Die T u g e n d ist n i c h t von den D e u t s c h e n erf u n d e n . — Goethe's Vornehmheit und Neidlosigkeit, Beethoven's edle einsiedlerische Resignation, Mozart's A n m u t h und Grazie des Herzens, Händel's unbeugsame Männlichkeit und Freiheit unter dem Gesetz, Bach's getrostes und verklärtes Innenleben, welches nicht einmal nöthig hat, auf Glanz und E r folg zu verzichten, — sind denn diess d e u t s c h e Eigenschaften? — Wenn aber nicht, so zeigt es wenigstens, wonach Deutsche streben sollen und was sie erreichen können.
299. P i a f r a u s o d e r e t w a s A n d e r e s . — Möchte ich mich irren; aber mich dünkt, im gegenwärtigen Deutschland werde eine doppelte A r t von Heuchelei für J e d e r m a n n zur Pflicht des Augenblicks gemacht: man fordert ein Deutschthum aus reichspolitischer Besorgniss, und ein Christenthum aus socialer Angst, beides aber nur in Worten und Gebärden und namentlich im Schweigenkönnen. Der A n s t r i c h ist es, der jetzt so viel kostet, so hoch bezahlt w i r d : die Z u s c h a u e r sind es, derentwegen die N a t i o n ihr Gesicht in deutsch- und christenthümelnde Falten legt.
300. I n w i e f e r n auch im G u t e n das H a l b e m e h r s e i n k a n n a l s d a s G a n z e . — Bei allen Dingen, die auf Bestand eingerichtet werden und immer den Dienst vieler Personen erfordern, muss manches w e n i g e r G u t e zur R e g e l gemacht werden, obschon der Organisator das Bessere (und Schwerere) sehr gut kennt: aber er wird darauf rechnen, dass es nie an Personen fehle, welche der Regel entsprechen k ö n n e n , — und er weiss, dass das Mittelgut der K r ä f t e die Regel ist. —
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Menschliches, Allzumenschliches I I
Diess sieht ein Jüngling selten ein und glaubt dann, als Neuerer, Wunder wie sehr er im Rechte und wie seltsam die Blindheit der Andern sei. 301. D e r P a r t e i m a n n . — D e r ädite Parteimann lernt nicht mehr, er erfährt und richtet nur noch: während Solon, der nie Parteimahn war, sondern neben und über den Parteien oder gegen sie sein Ziel verfolgte, bezeichnender Weise der Vater jenes schlichten Wortes ist, in welchem die Gesundheit und U n ausschöpflichkeit Athen's beschlossen liegt: „alt werd' ich und immer lern* ich f o r t . " 302. W a s , n a c h G o e t h e , d e u t s c h i s t . — Es sind die wahrhaft Unerträglichen, von denen man selbst das Gute nicht annehmen mag, welche F r e i h e i t d e r G e s i n n u n g haben, aber nicht merken, dass es ihnen an G e s c h m a c k s - und Geistes-Freiheit fehlt. Gerade diess ist aber, nach Goethe's wohlerwogenem Urtheil, d e u t s c h . — Seine Stimme und sein Beispiel weisen darauf hin, dass der Deutsche m e h r s e i n müsse, als ein Deutscher, wenn er den andern N a t i o n e n nützlich, ja nur erträglich werden wolle — und i n w e l c h e r R i c h t u n g e r bestrebt sein solle, über sidi und ausser sich hinaus zu gehen. 303. W a n n es N o t h t h u t , s t e h e n zu b l e i b e n . — Wenn die Massen zu wüthen beginnen und die Vernunft sich verdunkelt, thut man gut, sofern man der Gesundheit seiner Seele nicht ganz sicher ist, unter einen T h o r w e g unterzutreten und nach dem Wetter auszuschauen.
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 3 0 0 — 3 0 4
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304. U m s t u r z g e i s t e r u n d B e s i t z g e i s t e r . — Das einzige Mittel gegen den Socialismus, das noch in eurer Macht steht, ist: ihn nicht herauszufordern, das heisst selber massig und genügsam leben, die Schaustellung jeder Ueppigkeit nach K r ä f t e n verhindern und dem Staate zu H ü l f e k o m m e n , wenn er alles Ueberflüssige und Luxus-Aehnliche empfindlich mit Steuern belegt. Ihr wollt diess Mittel nicht? Dann, ihr reichen Bürgerlichen, die ihr euch „liberal" nennt, gesteht es euch nur zu, eure eigene Herzensgesinnung ist es, welche ihr in den Socialisten so furchtbar und bedrohlich findet, in euch selber aber als unvermeidlich gelten lasst, wie als ob sie d o r t etwas Anderes wäre. H ä t t e t ihr, so wie ihr seid, euer V e r m ö g e n und die Sorge u m dessen Erhaltung nicht, diese eure Gesinnung würde euch zu Socialisten machen: nur der Besitz unterscheidet zwischen euch und ihnen. Euch müsst ihr zuerst besiegen, wenn ihr irgendwie über die Gegner eures Wohlstandes siegen wollt. — U n d wäre jener Wohlstand nur wirklich Wohlbefinden! Er wäre nicht so äusserlich und neidherausfordernd, er wäre mittheilender, wohlwollender, ausgleichender, nachhelfender. Aber das Unächte und Schauspielerische eurer Lebensfreuden, welche mehr im Gefühl des Gegensatzes (dass Andere sie nicht haben und euch beneiden) als im Gefühle der Kraft-Erfüllung und Kraft-Erhöhung liegen — eure Wohnungen, Kleider, Wägen, Schauläden, G a u m e n - und Tafel-Erfordernisse, eure lärmende Opernund Musikbegeisterung, endlich eure Frauen, g e f o r m t und gebildet, aber aus unedlem Metall, vergoldet, aber ohne Goldklang, als Schaustücke v o n euch gewählt, als Schaustücke sich selber gebend: — das sind die giftträgerischen Verbreiter jener Volkskrankheit, welche als socialistische Herzenskrätze sich jetzt immer schneller der Masse mittheilt, aber i n e u c h ihren ersten Sitz und Brüteherd hat. U n d wer hielte diese Pest jetzt noch auf? —
504
Menschliches, Allzumenschliches II
305.
T a c t i k d e r P a r t e i e n . — Wenn eine Partei merkt, dass ein bisheriger Zugehöriger aus einem unbedingten Anhänger ein bedingter geworden ist, so erträgt sie diess so wenig, dass sie, durch allerlei Aufreizungen und Kränkungen, versucht, jenen zum entschiedenen Abfall zu bringen und zum Gegner zu machen: denn sie hat den Argwohn, dass die Absicht, in ihrem Glauben etwas R e l a t i v - Werthvolles zu sehen, das ein Für und Wider, ein Abwägen und Ausscheiden zulässt, ihr gefährlicher sei als ein Gegnerthum in Bausch und Bogen. 30 6.
Z u r S t ä r k u n g v o n P a r t e i e n . — Wer eine Partei innerlich stärken will, biete ihr Gelegenheit, um ersichtlich u n g e r e c h t behandelt werden zu müssen: dadurch sammelt sie ein Capital guten Gewissens, das ihr vielleicht bis dahin fehlte. 307.
F ü r s e i n e V e r g a n g e n h e i t s o r g e n . — Weil die Menschen eigentlich nur alles Alt-Begründete, Langsam-Gewordene achten, so muss Der, welcher nach seinem Tode fortleben will, nicht nur für Nachkommenschaft, sondern noch mehr für eine V e r g a n g e n h e i t sorgen: wesshalb Tyrannen jeder Art (auch tyrannenhafte Künstler und Politiker) der Geschichte gern Gewalt anthun, damit diese als Vorbereitung und Stufenleiter zu ihnen hin erscheine. 308.
P a r t e i - S c h r i f t s t e l l e r . — Der Paukenschlag, mit welchem sich junge Schriftsteller im Dienste einer Partei so Wohlgefallen, klingt Dem, welcher nicht zur Partei gehört, wie Kettengerassel und erweckt eher Mitleiden als Bewunderung.
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 3 0 5 — 3 1 1
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309. G e g e n s i c h P a r t e i e r g r e i f e n . — Unsere Anhänger vergeben es uns nie, wenn wir gegen uns selbst Partei ergreifen: denn diess heisst, in ihren Augen, nicht nur ihre Liebe zurück5 weisen, sondern auch ihren Verstand blossstellen.
310. G e f a h r i m R e i c h t h u m . — N u r wer G e i s t hat, sollte B e s i t z haben: sonst ist der Besitz g e m e i n g e f ä h r l i c h . Der Besitzende nämlich, der von der freien Zeit, welche 10 der Besitz ihm gewähren könnte, keinen Gebrauch zu machen versteht, wird immer f o r t f a h r e n , nach Besitz zu streben: dieses Streben wird seine Unterhaltung, seine Kriegslist im Kampf mit der Langenweile sein. So entsteht zuletzt, aus mässigem Besitz, welcher dem Geistigen genügen würde, der eigent1$ liehe Reichthum: und zwar als das gleissende Ergebniss geistiger Unselbständigkeit und Armuth. N u n e r s c h e i n t er aber ganz anders, als seine armselige Abkunft erwarten lässt, weil er sich mit Bildung und Kunst maskiren kann: er kann eben die Maske k a u f e n . Dadurch erweckt er Neid bei den Aermeren und Ungebildeten — welche im Grunde immer die Bildung beneiden und in der Maske nicht die Maske sehen — und bereitet allmählich eine sociale Umwälzung vor: denn vergoldete R o heit und schauspielerisches Sich-Blähen im angeblichen „Genüsse der Cultur" giebt jenen den Gedanken ein „es liegt nur 2$ am Gelde", — während allerdings E t w a s am Gelde liegt, aber viel m e h r am Geiste. 311. F r e u d e i m G e b i e t e n u n d G e h o r c h e n . — Das Gebieten macht Freude wie das Gehorchen, ersteres wenn es 3° noch nicht zur Gewohnheit geworden ist, letzteres aber wenn
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Menschliches, A l l z u m e n s c h l i c h e s I I
es zur Gewohnheit geworden ist. Alte Diener unter neuen Gebietenden fördern sich gegenseitig im Freude machen.
312.
E h r g e i z d e s v e r l o r n e n P o s t e n s . — Es giebt einen Ehrgeiz des verlornen Postens, welcher eine Partei dahin drängt, sich in eine äusserste Gefahr zu begeben.
313W a n n E s e l n o t h t h u n . — Man wird die Menge nicht eher zum Hosiannah-Rufen bringen, bis man auf einem Esel in die Stadt einreitet.
3MP a r t e i - S i t t e . — Eine jede Partei versucht, das Bedeutende, das ausser ihr gewachsen ist, als unbedeutend darzustellen; gelingt es ihr aber nicht, so feindet sie es um so bitterer an, je vortrefflicher es ist.
3i5L e e r w e r d e n . — V o n Dem, der sidi den Ereignissen hingiebt, bleibt immer weniger übrig. Grosse Politiker können desshalb ganz leere Menschen werden und doch einmal voll und reich gewesen sein.
316.
E r w ü n s c h t e F e i n d e . — Die socialistischen Regungen sind den dynastischen Regierungen jetzt immer noch eher angenehm als furchteinflössend, weil sie durch dieselben R e c h t
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 3 1 1 — 3 1 8
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u n d S c h w e r t zu Ausnahme-Maassregeln in die H ä n d e bek o m m e n , mit denen sie ihre eigentlichen Schreckgestalten, die D e m o k r a t e n und Anti-Dynasten, treffen können. — Zu Allem, was solche Regierungen öffentlich hassen, haben sie jetzt eine heimliche Zuneigung und Innigkeit: sie müssen ihre Seele verschleiern. 317D e r B e s i t z b e s i t z t . — N u r bis zu einem gewissen G r a d e macht der Besitz den Menschen unabhängiger, freier; eine Stufe weiter — und der Besitz wird z u m H e r r n , der Besitzer z u m Sclaven: als welcher ihm seine Zeit, sein Nachdenken z u m O p f e r bringen muss und sich fürderhin zu einem Verkehr verpflichtet, an einen O r t angenagelt, einem Staate einverleibt f ü h l t : Alles vielleicht wider sein innerlichstes und wesentlichstes Bedürfniss. 318.
V o n d e r H e r r s c h a f t d e r W i s s e n d e n . — Es ist leicht, z u m Spotten leicht, das Muster zur Wahl einer gesetzgebenden Körperschaft aufzustellen. Zuerst hätten die R e d lichen und Vertrauenswürdigen eines Landes, welche zugleich irgendworin Meister und Sachkenner sind, sich auszuscheiden, durch gegenseitige Auswitterung und A n e r k e n n u n g : aus ihnen wiederum müssten sich, in engerer Wahl, die in jeder Einzelart Sachverständigen und Wissenden ersten Ranges auswählen, gleichfalls durch gegenseitige Anerkennung und Gewährleistung. Bestünde aus ihnen die gesetzgebende Körperschaft, so müssten endlich für jeden einzelnen Fall nur die Stimmen und Urtheile der speciellsten Sachverständigen entscheiden, und die Ehrenhaftigkeit a l l e r Uebrigen gross genug und einfach zur Sache des Anstandes geworden sein, die A b s t i m m u n g dabei auch nur Jenen zu überlassen: so dass im strengsten Sinne das Gesetz
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Menschliches, Allzumenschliches I I
aus dem Verstände der Verständigsten hervorgienge. — Jetzt stimmen Parteien ab: und bei jeder Abstimmung muss es Hunderte von beschämten Gewissen geben, — die der SchlechtUnterrichteten, Urtheils-Unfähigen, die der Nachsprechenden, Nachgezogenen, Fortgerissenen. Nichts erniedrigt die Würde jedes neuen Gesetzes so, als dieses anklebende Schamroth der Unredlichkeit, zu der jede Partei-Abstimmung zwingt. Aber, wie gesagt, es ist leicht, zum Spotten leidit, so Etwas aufzustellen: keine Macht der Welt ist jetzt stark genug, das Bessere zu verwirklichen, — es sei denn, dass der Glaube an die höchste N ü t z l i c h k e i t der W i s s e n s c h a f t und der Wiss e n d e n endlich auch dem Böswilligsten einleuchte und dem jetzt herrschenden Glauben an die Zahl vorgezogen werde. Im Sinne dieser Zukunft sei unsere Losung: „Mehr Ehrfurcht vor dem Wissenden! Und nieder mit allen Parteien!"
319V o m „Volke der D e n k e r " (oder des schlecht e n D e n k e n s ) . — Das Undeutliche, Schwebende, Ahnungsvolle, Elementarische, Intuitive — um für unklare Dinge auch unklare Namen zu wählen — was man dem deutschen Wesen nachsagt, wäre, w e n n es thatsächlich noch bestünde, ein Beweiss, dass seine Cultur um viele Schritte zurückgeblieben und noch immer von Bann und Luft des Mittelalters umschlossen wäre. — Freilich liegen in einer solchen Zurüdkgebliebenheit auch einige Vortheile: die Deutschen wären mit diesen Eigenschaften — wenn sie dieselben, nochmals gesagt, jetzt noch besitzen sollten — zu einigen Dingen, und namentlich zum Verständniss einiger Dinge, befähigt, zu welchen andere Nationen alle Kraft verloren haben. Und sicherlich geht viel verloren, wenn der M a n g e l a n V e r n u n f t — das heisst eben, das Gemeinsame in jenen Eigenschaften — verloren geht: aber hier giebt es auch keine Einbusse ohne den höchsten Gegengewinn,
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 3 1 8 — 3 2 0
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so dass jeder Grund zum Jammern fehlt, vorausgesetzt, dass man nicht wie Kinder und Leckerhafte die Früchte aller Jahreszeiten zugleich geniessen will.
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E u l e n n a c h A t h e n . — Die Regierungen der grossen Staaten haben zwei Mittel in den Händen, das Volk von sich abhängig zu erhalten, in Furcht und Gehorsam: ein gröberes, das Heer, ein feineres, die Schule. Mit Hülfe des ersteren bringen sie den E h r g e i z der höheren und die K r a f t der niede10 ren Schichten, soweit beide thätigen und rüstigen Männern mittlerer und minderer Begabung zu eigen zu sein pflegen, auf ihre Seite: mit Hülfe des andern Mittels gewinnen sie die b e g a b t e Armuth, namentlich die geistig-anspruchsvolle Halbarmuth der mittlem Stände für sich. Sie machen vor Allem aus den Lehrern allen Grades einen unwillkürlich nach „Oben" hin blickenden geistigen Hofstaat: indem sie der Privatschule und gar der ganz und gar missliebigen Einzelerziehung Stein über Stein in den Weg legen, sichern sie sich die Verfügung über eine sehr bedeutende Anzahl von Lehrstellen, auf welche sich nun fortwährend eine gewiss fünfmal grössere Anzahl von hungrig und unterwürfig blickenden Augen richten, als je Befriedigung finden können. Diese Stellungen dürfen ihren Mann aber nur k ä r g l i c h nähren: dann unterhält sich in ihm der Fieberdurst nach B e f ö r d e r u n g und schliesst ihn noch enger an die Ab25 sichten der Regierung an. Denn eine mässige Unzufriedenheit zu pflegen ist immer vortheilhafter als Zufriedenheit, die Mutter des Muthes, die Grossmutter des Freisinns und des Uebermuthes. Vermittelst dieses leiblich und geistig im Zaum gehaltenen Lehrerthums wird nun, so gut es gehen will, alle Jugend des 3° Landes auf eine gewisse, dem Staate nützliche und zweckmässig abgestufte Bildungshöhe gehoben: vor Allem aber wird jene Gesinnung fast unvermerkt auf die unreifen und ehrsüchtigen
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Geister aller Stände übertragen, dass nur eine vom Staate anerkannte und abgestempelte Lebensrichtung sofort g e s e l l s c h a f t l i c h e Auszeichnung mit sich führt. Die Wirkung dieses Glaubens an Staats-Prüfungen und -Titel geht so weit, dass selbst unabhängig gebliebenen, durch Handel oder Handwerk emporgestiegenen Männern so lange ein Stachel der Unbefriedigung in der Brust bleibt, bis auch ihre Stellung durch eine begnadigende Verleihung von Rang und Orden von Oben her bemerkt und anerkannt ist, — bis man „sich sehen lassen kann". Endlich verknüpft der Staat alle jene Hundert und Aberhundert ihm zugehöriger Beamtungen und Erwerbsposten mit der V e r p f l i c h t u n g , durch die Staatsschulen sich bilden und abzeichnen zu lassen, wenn man je in diese Pforten eingehen wolle: Ehre bei der Gesellschaft, Brod für sich, Ermöglichung einer Familie, Schutz von Oben her, Gemeingefühl der gemeinsam Gebildeten, — diess Alles bildet ein Netz von Hoffnungen, in welches jeder junge Mann hineinläuft: woher sollte ihm denn das Misstrauen angeweht sein! Ist zu guter Letzt gar noch bei Jedermann die Verpflichtung, einige Jahre S o l d a t zu sein, nach Ablauf weniger Generationen, zu einer gedankenlosen Gewohnheit und Voraussetzung geworden, auf welche hin man frühzeitig den Plan seines Lebens zurechtschneidet, so kann der Staat auch noch den Meistergriff wagen, Schule u n d Heer, Begabung, Ehrgeiz und Kraft durch Vortheile i n e i n a n d e r zu flechten, das heisst, den h ö h e r B e g a b t e n und G e b i l d e t e n durch günstigere Bedingungen zum Heere zu locken und mit dem Soldatengeiste des freudigen Gehorsams zu erfüllen: so dass er vielleicht dauernd zur Fahne schwört und durch seine Begabung ihr einen neuen, immer glänzenderen Ruf verschafft, — Dann fehlt Nichts weiter als Gelegenheit zu grossen Kriegen: und dafür sorgen, von Berufswegen, also in aller U n s c h u l d , die Diplomaten, sammt Zeitungen und Börsen: denn das „Volk", als Soldatenvolk, hat bei Kriegen immer ein gutes Gewissen, man braucht es ihm nicht erst zu machen.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 320—323
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321. D i e P r e s s e . — Erwägt man, wie auch jetzt noch alle grossen politischen Vorgänge sich heimlich und verhüllt auf das Theater schleichen, wie sie von unbedeutenden Ereignissen verdeckt werden und in ihrer N ä h e klein erscheinen, wie sie erst lange nach ihrem Geschehen ihre tiefen Einwirkungen zeigen und den Boden nachzittern lassen, — welche Bedeutung kann man da der Presse zugestehen, wie sie jetzt ist, mit ihrem täglichen A u f w a n d von Lunge, u m zu schreien, zu übertäuben, zu erregen, zu erschrecken, — ist sie mehr als der p e r m a n e n t e b l i n d e L ä r m , der die O h r e n u n d Sinne nach einer falschen Richtung ablenkt?
322. N a c h e i n e m g r o s s e n E r e i g n i s s . — E i n Volk und Mensch, dessen Seele bei einem grossen Ereigniss zu Tage gek o m m e n ist, fühlt gewöhnlich darauf das Bedürfniss nach einer K i n d e r e i oder R o h h e i t , eben so aus Scham als u m sich zu erholen.
3*3-
G u t d e u t s c h sein h e i s s t s i c h e n t d e u t s c h e n.— Das, worin man die nationalen Unterschiede findet, ist viel mehr, als man bis jetzt eingesehen hat, n u r der Unterschied verschiedener C u l t u r s t u f e n und z u m geringsten Theile etwas Bleibendes (und auch diess nicht in einem strengen Sinne). Desshalb ist alles Argumentiren aus dem National-Charakter so wenig verpflichtend f ü r Den, welcher an der U m s c h a f f u n g der Ueberzeugungen, das heisst an der Cultur arbeitet. Erwägt man zum Beispiel was Alles schon deutsch g e w e s e n i s t , so wird man die theoretische Frage: was i s t deutsch? sofort durch die Gegenfrage verbessern: „was ist j e t z t
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Menschliches, Allzumenschlidies II
deutsch?" — und jeder g u t e Deutsche wird sie practisch, gerade durch Ueberwindung seiner deutschen Eigenschaften, lösen. Wenn nämlich ein Volk vorwärts geht und wächst, so sprengt es jedesmal den Gürtel, der ihm bis dahin sein n a t i o 5 n a l e s Ansehen gab: bleibt es bestehen, verkümmert es, so schliesst sich ein neuer Gürtel um seine Seele; die immer härter werdende Kruste baut gleichsam ein Gefängniss herum, dessen Mauern immer wachsen. H a t ein Volk also sehr viel Festes, so ist diess ein Beweis, dass es versteinern will, und ganz und gar io M o n u m e n t werden möchte: wie es von einem bestimmten Zeitpuncte an das Aegypterthum war. Der also, welcher den Deutschen wohl will, mag für seinen Theil zusehen, wie er immer mehr aus dem, was deutsch ist, hinauswachse. D i e W e n d u n g z u m U n d e u t s c h e n ist desshalb immer das 'S Kennzeichen der Tüchtigen unseres Volkes gewesen.
324. A u s l ä n d e r e i e n . — Ein Ausländer, der in Deutschland reiste, missfiel und gefiel durch einige Behauptungen, je nach den Gegenden, in denen er sich aufhielt. Alle Schwaben, die 20 Geist haben — pflegte er zu sagen — sind kokett. — Die anderen Schwaben aber meinten noch immer, Uhland sei ein Dichter und Goethe unmoralisch gewesen. — Das Beste an den deutschen Romanen, welche jetzt berühmt würden, sei, dass man sie nicht zu lesen brauche: man kenne sie schon. — Der Berliner 25 erscheine gutmüthiger als der Süddeutsche, denn er sei allzu sehr spottlustig und vertrage desshalb Spott: was Süddeutschen nicht begegne. — Der Geist der Deutschen werde durch ihr Bier und ihre Zeitungen niedergehalten: er empfehle ihnen Thee und Pamphlete, zur Cur natürlich. — Man sehe sich, so rieth er, doch 3° die verschiedenen Völker des altgewordenen Europa daraufhin an, wie ein jedes eine bestimmte Eigenschaft des Alters besonders gut zur Schau trägt, zum Vergnügen für Die, welche vor dieser
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 323—324
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grossen Bühne sitzen: wie die Franzosen das Kluge und Liebenswürdige des Alters, die Engländer das Erfahrene und Zurückhaltende, die Italiäner das Unschuldige und Unbefangene mit Glück vertreten. Sollten denn die anderen Masken des Alters fehlen? Wo ist der hochmüthige Alte? Wo der herrschsüchtige Alte? Wo der habsüchtige Alte? — Die gefährlichste Gegend in Deutschland sei Sachsen und Thüringen: nirgends gäbe es mehr geistige Rührigkeit und Menschenkenntniss, nebst Freigeisterei, und Alles sei so bescheiden durch die hässliche Sprache und die eifrige Dienstbeflissenheit dieser Bevölkerung versteckt, dass man kaum merke, hier mit den geistigen Feldwebeln Deutschlands und seinen Lehrmeistern in G u t e m u n d Schlimmem zu t h u n zu haben. — Der H o c h m u t h der Norddeutschen werde durch ihren H a n g zu gehorchen, der der Süddeutschen durch ihren Hang, sich's bequem zu machen, in Schranken gehalten. — Es schiene ihm, dass die deutschen Männer in ihren Frauen ungeschickte, aber sehr von sich überzeugte Hausfrauen hätten: sie redeten so beharrlich gut von sich, dass sie fast die Welt und jedenfalls ihre Männer von der eigens deutschen HausfrauenTugend überzeugt hätten. — Wenn sich dann das Gespräch auf Deutschlands Politik nach Aussen u n d Innen wendete, so pflegte er zu erzählen — er nannte es: verrathen —, dass Deutschlands grösster Staatsmann nicht an grosse Staatsmänner glaube. — Die Z u k u n f t der Deutschen fand er b e d r o h t und bedrohlich: denn sie hätten verlernt, sich zu f r e u e n (was die Italiäner so gut verstünden), aber sich durch das grosse H a z a r d spiel von Kriegen und dynastischen Revolutionen an die E m o t i o n g e w ö h n t , folglich würden sie eines Tages die Erneute haben. Denn diess sei die stärkste Emotion, welche ein Volk sich verschaffen könne. — Der deutsche Socialist sei eben desshalb am gefährlichsten, weil ihn keine b e s t i m m t e N o t h treibe; sein Leiden sei, nicht zu wissen, was er wolle; so werde er, wenn er auch viel erreiche, doch noch im Genüsse vor Begierde verschmachten, ganz wie Faust, aber vermuthlich wie ein sehr
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Menschliches, Allzumenschliches I I
pöbelhafter Faust. „Den F a u s t - T e u f e l nämlich, rief er zuletzt, von dem die gebildeten Deutschen so geplagt wurden, hat Bismarck ihnen ausgetrieben: nun ist der Teufel aber in die Säue gefahren und schlimmer als je vorher."
3*5-
M e i n u n g e n . — Die meisten Menschen sind Nichts und gelten Nichts, bis sie sich in allgemeine Ueberzeugungen und öffentliche Meinungen eingekleidet haben, nach der SchneiderPhilosophie: Kleider machen Leute. Von den Ausnahme-Menschen aber muss es heissen: e r s t d e r T r ä g e r m a c h t d i e T r a c h t ; hier hören die Meinungen auf, öffentlich zu sein, und werden etwas Anderes als Masken, Putz und Verkleidung.
326.
Z w e i A r t e n d e r N ü c h t e r n h e i t . — U m Nüchternheit aus Erschöpfung des Geistes nicht mit Nüchternheit aus Mässigung zu verwechseln, muss man darauf Acht haben, das die erstere übellaunig, die andere frohmüthig ist.
327V e r f ä l s c h u n g d e r F r e u d e . — Keinen Tag länger eine Sache gut heissen als sie uns gut scheint, und vor Allem: k e i n e n T a g f r ü h e r , — das ist das einzige Mittel, sich die F r e u d e ächt zu erhalten: die sonst allzuleicht fade und faul im Geschmacke wird und jetzt für ganze Schichten des Volkes zu den verfälschten Lebensmitteln gehört.
328.
Der
T u g e n d - B o c k . — Beim Allerbesten, was Einer
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 324—332
515
thut, suchen Die, welche ihm wohlwollen, aber seiner That nicht gewachsen sind, schleunigst einen Bock, u m ihn zu schlachten, wähnend, es sei der Sündenbock — aber es ist der Tugend-Bock.
3*9S o u v e r ä n i t ä t . — Auch das Schlechte ehren und sich zu ihm bekennen, wenn es Einem g e f ä l l t , und keinen Begriff davon haben, wie man sich seines Gefallens schämen könne, ist das Merkmal der Souveränität, im Grossen und Kleinen.
330.
Der W i r k e n d e ein P h a n t o m , k e i n e W i r k l i c h k e i t . — Der bedeutende Mensch lernt allmählich, dass er, s o f e r n er w i r k t , ein P h a n t o m in den Köpfen Anderer ist, und geräth vielleicht in die feine Seelenqual, sich zu fragen, ob er das P h a n t o m von sich zum B e s t e n seiner Mitmenschen nicht aufrecht erhalten müsse.
331N e h m e n u n d g e b e n . — Wenn man von Einem das Geringste weg (oder vorweg) genommen hat, so ist er blind dafür, dass man ihm viel Grösseres, ja das Grösste gegeben hat.
33 2 D e r g u t e A c k e r . — Alles Abweisen und Negiren zeigt einen Mangel an Fruchtbarkeit an: im Grunde, wenn wir nur gutes Ackerland wären, d ü r f t e n wir Nichts unbenützt u m k o m men lassen und in jedem Dinge, Ereignisse und Menschen willkommenen Dünger, Regen oder Sonnenschein sehen.
516
Menschliches, Allzumenschliches II
333-
V e r k e h r a l s G e n u s s . — H ä l t sich Einer, mit entsagendem Sinne, absichtlich in der Einsamkeit, so kann er sich dadurch den Verkehr mit Menschen, selten genossen, zum Lekkerbissen machen.
334-
O e f f e n t l i c h z u l e i d e n v e r s t e h e n . — Man muss sein Unglück affichiren und von Zeit zu Zeit hörbar seufzen, sichtbar ungeduldig sein: denn Hesse man die Andern merken, wie sicher und glücklich in sich man trotz Schmerz und Entbehrung ist, wie neidisch und böswillig würde man sie machen! — Aber wir müssen Sorge dafür tragen, dass wir unsre Mitmenschen nicht verschlechtern; überdies würden sie uns in jenem Falle harte Steuern auferlegen, und unser ö f f e n t l i c h e s Leiden ist jedenfalls auch unser p r i v a t e r Vortheil.
335-
W ä r m e i n d e n H ö h e n . — Auf den H ö h e n ist es wärmer als man in den Thälern meint, namentlich im Winter. Der Denker weiss, was alles diess Gleichniss besagt.
336.
D a s G u t e w o l l e n , d a s S c h ö n e k ö n n e n . — Es genügt nicht, das G u t e zu üben, man muss es gewollt haben und, nach dem W o r t des Dichters, die Gottheit in seinen W i l l e n aufnehmen. Aber das S c h ö n e darf man nicht wollen, man muss es k ö n n e n , in Unschuld und Blindheit, ohne alle Neubegier der Psyche. Wer seine Laterne anzündet, u m vollk o m m e n e Menschen zu finden, der achte auf diess Merkmal: es sind die, welche immer u m des Guten willen handeln u n d
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 3 3 3 — 3 3 9
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immer dabei das Schöne erreichen, ohne daran zu denken. Viele der Besseren und Edleren bleiben nämlich, aus U n v e r m ö g e n und Mangel der schönen Seele, mit allem ihren guten Willen und ihren guten Werken, unerquicklich und hässlich anzusehen; sie stossen zurück und schaden selbst der Tugend durch das widrige Gewand, welches ihr schlechter Geschmack derselben anlegt.
337G e f a h r d e r E n t s a g e n d e n . — M a n muss sich hüten, sein Leben auf einen zu schmalen G r u n d von Begehrlichkeit zu gründen: denn wenn m a n den Freuden entsagt, welche Stellungen, Ehren, Genossenschaften, Wollüste, Bequemlichkeiten, Künste mit sich bringen, so kann ein Tag k o m m e n , w o man merkt, statt der W e i s h e i t , durch diese Verzichtleistung den L e b e n s - U e b e r d r u s s z u m Nachbarn erlangt zu haben.
338.
L e t z t e M e i n u n g ü b e r M e i n u n g e n . — Entweder verstecke m a n seine Meinungen, oder m a n verstecke sich hinter seine Meinungen. Wer es anders macht, der kennt den Lauf der Welt nicht oder gehört z u m Orden der heiligen Tollkühnheit.
339„ G a u d e a m u s i g i t u r " . — Die Freude muss auch f ü r die sittliche N a t u r des Menschen auferbauende und ausheilende K r ä f t e enthalten: wie k ä m e es sonst, dass unsere Seele, sobald sie im Sonnenschein der Freude ruht, sich unwillkürlich gelobt „ g u t sein!" „ v o l l k o m m e n w e r d e n ! " und dass dabei ein Vorgefühl der Vollkommenheit, gleich einem seligen Schauder, sie erfasst?
518
Menschliches, Allzumenschliches I I
340. A n e i n e n G e l o b t e n . — So lange man dich lobt, glaube nur immer, dass du noch nicht auf deiner eigenen Bahn, sondern auf der eines A n d e r n bist.
341. D e n M e i s t e r l i e b e n . — Anders liebt der anders der Meister den Meister.
Gesell,
342.
A l l z u s c h ö n e s u n d M e n s c h l i c h e s . — „Die N a tur ist zu schön für dich armen Sterblichen" — so empfindet man nicht selten: aber ein paarmal, bei einem innigen A n schauen alles Menschlichen, seiner Fülle, Kraft, Zartheit, Verflochtenheit, war es mir zu Muthe, als ob ich sagen müsste, in aller D e m u t h : „auch der M e n s c h ist zu schön f ü r den betrachtenden Menschen!" — und zwar nicht etwa nur der moralische Mensch, sondern jeder.
343-
B e w e g l i c h e H a b e u n d G r u n d b e s i t z . — Wenn Einen das Leben einmal recht räuberhaft behandelt hat, und an Ehren, Freuden, Anhang, Gesundheit, Besitz aller A r t nahm, was es nehmen konnte, so entdeckt man vielleicht hinterdrein, nach dem ersten Schrecken, dass man r e i c h e r ist, als zuvor. D e n n jetzt erst weiss man, was Einem so zu eigen ist, dass keine R ä u berhand daran zu rühren v e r m a g : und so geht man vielleicht aus aller Plünderung und Verwirrung mit der Vornehmheit eines grossen Grundbesitzers hervor.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 340—347
519
344-
U n f r e i w i l l i g e I d e a l f i g u r e n . — Das peinlichste Gefühl, das es giebt, ist, zu entdecken, dass man immer f ü r etwas Höheres genommen wird als man ist. Denn man muss sich dabei 5 eingestehen: irgend Etwas an dir ist Lug und Trug, dein Wort, dein Ausdruck, deine Gebärde, dein Auge, deine H a n d l u n g — u n d dieses trügerische Etwas ist so nohtwendig wie deine sonstige Ehrlichkeit, hebt aber deren Wirkung und W e r t h f o r t w ä h rend auf.
10
345-
I d e a l i s t u n d L ü g n e r . — Man soll sich auch von dem schönsten Vergnügen — dem, die Dinge in's Ideal zu heben — nicht tyrannisiren lassen: sonst trennt sich eines Tages die Wahrheit von uns mit dem bösen W o r t e „du Lügner von G r u n d i j aus, was habe ich mit dir zu schaffen!"
346.
M i s s v e r s t a n d e n w e r d e n . — Wenn man als Ganzes missverstanden wird, so ist es unmöglich, ein einzelnes Missverstandenwerden von Grund aus zu heben. Diess muss man 20 einsehen, u m nicht überflüssig Kraft in seiner Vertheidigung zu verschwenden.
347-
D e r W a s s e r t r i n k e r s p r i c h t . — Trinke deinen Wein nur weiter, der dich dein Leben lang gelabt hat, — was 25 geht es dich an, dass ich ein Wassertrinker sein muss? Sind Wein u n d Wasser nicht friedfertige, brüderliche Elemente, die ohne Vorwurf bei einander wohnen?
520
Menschliches, Allzumensdiliches I I
348.
A u s d e m L a n d e d e r M e n s c h e n f r e s s e r . — In der Einsamkeit frisst sich der Einsame selbst auf, in der Vielsamkeit fressen ihn die Vielen. N u n wähle.
349I m G e f r i e r p u n c t d e s W i l l e n s . — „Endlich einmal k o m m t sie doch, die Stunde, die dich in die goldene Wolke der Schmerzlosigkeit einhüllen w i r d : w o die Seele ihre eigene Müdigkeit geniesst und glücklich im geduldigen Spiele mit ihrer Geduld den Wellen eines See's gleicht, die an einem ruhigen Sommertage, im Widerglanze eines buntgefärbten A b e n d h i m mels, am U f e r schlürfen, schlürfen und wieder stille sind — ohne Ende, ohne Zweck, ohne Sättigung, ohne Bedürfniss, — ganz R u h e , die sich am Wechsel freut, ganz Zurückebben und Einfluthen in den Pulsschlag der N a t u r . " Diess ist E m p f i n d u n g und R e d e aller K r a n k e n : erreichen sie aber jene Stunden, so k o m m t , nach k u r z e m Genüsse, die Langeweile. Diese aber ist der Thauwind f ü r den eingefrorenen Willen: er erwacht, bewegt sich und zeugt wieder Wunsch auf Wunsch. — Wünschen ist ein Anzeichen von Genesung oder Besserung.
350.
D a s v e r l e u g n e t e I d e a l . — Ausnahmsweise k o m m t es vor, dass Einer das Höchste erst dann erreicht, wenn er sein Ideal verleugnet: denn diess Ideal trieb ihn bisher zu heftig an, so dass er in der Mitte der jedesmaligen Bahn ausser A t h e m k a m und stehen bleiben musste.
351. Verrätherische
Neigung.
— Man beachte es als
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 3 4 8 — 3 5 5
521
Merkmal eines neidischen, aber höherstrebenden Menschen, wenn er sich von dem Gedanken angezogen fühlt, dass es dem Vortrefflichen gegenüber nur eine R e t t u n g giebt: Liebe.
352T r e p p e n - G l ü c k . — Wie der Witz mancher Menschen nicht mit der Gelegenheit' gleichen Schritt hält, so dass die Gelegenheit schon durch die Türe hindurch ist, während der Witz noch auf der Treppe steht: so giebt es bei Andern eine A r t von Treppen-Glück, welches zu langsam läuft, u m der schnellfüssigen Zeit immer zur Seite zu sein: das Beste, was sie von einem Erlebniss, einer ganzen Lebensstrecke zu geniessen bekommen, fällt ihnen erst lange Zeit hinterher zu, oft nur als ein schwacher gewürzter Duft, welcher Sehnsucht erweckt u n d Trauer, — als ob es möglich gewesen wäre, irgendwann in diesem Element sich recht satt zu trinken. N u n aber ist es zu spät.
3 53-
W ü r m e r . — Es spricht nicht gegen die Reife eines Geistes, dass er einige W ü r m e r hat.
354-
D e r s i e g r e i c h e S i t z . — Eine gute H a l t u n g zu Pferd stiehlt dem Gegner den Muth, dem Zuschauer das Herz, — wozu willst du erst noch angreifen? Sitze wie Einer, der gesiegt hat. 355-
G e f a h r i n d e r B e w u n d e r u n g . — Man kann aus allzugrosser Bewunderung f ü r fremde Tugenden den Sinn f ü r seine eigenen und, durch Mangel an Uebung, zuletzt diese selbst verlieren, ohne die fremden dafür zum Ersatz zu erhalten.
522
Menschliches, Allzumenschliches I I
356.
N u t z e n d e r K r ä n k l i c h k e i t . — Wer oft k r a n k ist, hat nicht n u r einen viel grösseren Genuss am Gesundsein, wegen seines häufigen Gesundwerdens: sondern auch einen höchst geschärften Sinn f ü r Gesundes und Krankhaftes in Werken u n d Handlungen, eigenen und fremden: so dass zum Beispiel gerade die kränklichen Schriftsteller — und darunter sind leider fast alle grossen — in ihren Schriften einen viel sicherern und gleichmässigeren Ton der Gesundheit zu haben pflegen, weil sie besser als die körperlich Robusten, sich auf die Philosophie der seelischen Gesundheit und Genesung und ihre Lehrmeister: Vormittag, Sonnenschein, Wald und Wasserquelle verstehen.
357-
U n t r e u e , Bedingung der Meisterschaft. — Es hilft Nichts: Jeder Meister hat n u r Einen Schüler — und der wird ihm untreu, — denn er ist zur Meisterschaft auch bestimmt.
358.
N i e u m s o n s t . — Im Gebirge der Wahrheit kletterst du nie umsonst: entweder du kommst schon heute weiter hinauf oder du übst deine Kräfte, u m morgen höher steigen zu können.
359-
V o r g r a u e n F e n s t e r s c h e i b e n . — Ist denn Das, was ihr durch diess Fenster von der Welt seht, so schön, dass ihr durchaus durch kein anderes Fenster mehr blicken wollt, — ja selbst Andere davon abzuhalten den Versuch macht?
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 3 5 6 — 3 6 4
523
360.
A n z e i c h e n s t a r k e r W a n d l u n g e n . — Es ist ein Zeichen, wenn man von lange Vergessenen oder Todten träumt, dass man eine starke Wandlung in sich durchlebt hat und dass der Boden, auf dem man lebt, völlig umgegraben worden ist: da stehen die Todten auf und unser Alterthum wird Neuthum.
361.
A r z n e i d e r S e e l e . — Still-liegen und Wenig-denken ist das wohlfeilste Arzneimittel für alle Krankheiten der Seele und wird, bei gutem Willen, von Stunde zu Stunde seines Gebrauchs angenehmer.
362.
Z u r R a n g o r d n u n g d e r G e i s t e r . — Es ordnet dich tief unter Jenen, dass du die Ausnahmen festzustellen suchst, Jener aber die Regel.
363.
D e r F a t a l i s t . — Du m u s s t an das Fatum glauben, — dazu kann die Wissenschaft dich zwingen. Was dann aus diesem Glauben bei dir herauswächst — Feigheit, Ergebung oder Grossartigkeit und Freimuth — das legt Zeugniss von dem Erdreich ab, in welches jenes Samenkorn gestreut wurde; nicht aber vom Samenkorn selbst, denn aus ihm kann Alles und Jedes werden.
364.
G r u n d v i e l e r V e r d r i e s s l i c h k e i t . — Wer im Leben das Schöne dem Nützlichen vorzieht, wird sich gewiss zu-
524
Menschliches, Allzumenschliches I I
letzt, wie das Kind, welches Zuckerwerk dem Brode vorzieht, den Magen verderben und sehr verdriesslich in die Welt sehen.
365.
U e b e r m a a s s a l s H e i l m i t t e l . — Man kann sich seine eigene Begabung dadurch wieder schmackhaft machen, dass man längere Zeit die entgegengesetzte übermässig verehrt und geniesst. Das Uebermaass als Heilmittel zu gebrauchen ist einer der feineren Griffe in der Lebenskunst.
366.
„W o l l e e i n S e l b s t . " — Die thätigen erfolgreichen N a turen handeln nicht nach dem Spruche „kenne dich selbst", sondern wie als ob ihnen der Befehl vorschwebte: w o l l e ein Selbst, so w i r s t du ein Selbst. — Das Schicksal scheint ihnen immer noch die Wahl gelassen zu haben; während die Unthätigen und Beschaulichen darüber nachsinnen, wie sie jenes Eine Mal, beim Eintritt in's Leben, gewählt h a b e n .
367.
W o m ö g l i c h o h n e A n h a n g l e b e n . — Wie wenig Anhänger zu bedeuten haben, begreift man erst, wenn man aufgehört hat, der Anhänger seiner Anhänger zu sein.
368.
S i c h v e r d u n k e l n . — Man muss sich zu verdunkeln verstehen, um die Mückenschwärme allzulästiger Bewunderer loszuwerden.
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 364—373
525
369. L a n g e w e i l e . — Es giebt eine Langeweile der feinsten und gebildetsten Köpfe, denen das Beste, was die Erde bietet, schaal geworden ist: gewöhnt daran, ausgesuchte und immer ausgesuchtere Kost zu essen und vor der gröberen sich zu ekeln, sind sie in Gefahr, Hungers zu sterben, — denn des Allerbesten ist nur Wenig da, und mitunter ist es unzugänglich oder steinhart geworden, so dass es auch gute Zähne nicht mehr beissen können.
370. D i e G e f a h r i n d e r B e w u n d e r u n g . — Die Bewunderung einer Eigenschaft oder Kunst kann so stark sein, dass sie uns abhält, nach ihrem Besitz zu streben.
37 1 -
W a s m a n v o n d e r K u n s t w i l l . — Der Eine will vermittelst der Kunst sich seines Wesens freuen, der Andere will mit ihrer H ü l f e zeitweilig über sein Wesen hinaus, von ihm weg. Nach beiden Bedürfnissen giebt es eine doppelte A r t von Kunst und Künstlern.
372A b f a l l . — Wer von uns abfällt, beleidigt damit vielleicht nicht uns, aber sicherlich unsere Anhänger.
373-
N a c h d e m T o d e . — Wir finden es gewöhnlich erst lange nach dem Tode eines Menschen unbegreiflich, dass er fehlt: bei ganz grossen Menschen oft erst nachjahrzehnden. Wer
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Menschliches, Allzumenschliches II
ehrlich ist, meint bei einem Todesfalle gewöhnlich, dass eigentlich nicht viel fehle und das der feierliche Leichenredner ein Heuchler sei. Erst die N o t h lehrt das Nöthig-sein eines Einzelnen, und das rechte Epitaph ist ein später Seufzer.
374-
I m H a d e s l a s s e n . — Viele Dinge muss man im Hades halbbewussten Fühlens lassen und nicht aus ihrem Schatten-Dasein erlösen wollen, sonst werden sie, als Gedanke und Wort, unsere dämonischen Herrn und verlangen grausam nach unserm Blute. 375-
N ä h e d e s B e t t l e r t h u m s . — Audi der reichste Geist hat gelegentlich den Schlüssel zu der Kammer verloren, in der seine aufgespeicherten Schätze ruhen und ist dann dem Aermsten gleich, der betteln muss, um nur zu leben.
376.
K e t t e n - D e n k e r . — Einem, der viel gedacht hat, erscheint jeder neue Gedanke, den er hört oder liest, sofort in Gestalt einer Kette. 377-
M i t l e i d . — In der vergoldeten Scheide des Mitleides steckt mitunter der Dolch des Neides.
378.
W a s i s t G e n i e ? — Ein hohes Ziel u n d die Mittel dazu wollen.
1. Vermischte M e i n u n g e n u n d Sprüche 3 7 3 — 3 8 2
527
379E i t e l k e i t d e r K ä m p f e r . — Wer keine H o f f n u n g hat, in einem K a m p f e zu siegen, oder ersichtlich unterlegen ist, will umsomehr, dass die A r t seines K ä m p f e n s bewundert werde.
380.
Das philosophische Leben wird missged e u t e t . — In dem Augenblicke, wo J e m a n d anfängt mit der Philosophie Ernst zu machen, glaubt alle Welt das Gegentheil davon. 381.
N a c h a h m u n g . — Das Schlechte gewinnt durch die Nachahmung an Ansehen, das G u t e verliert dabei, — namentlich in der Kunst. 382.
L e t z t e L e h r e d e r H i s t o r i e . — „Ach, dass ich damals gelebt h ä t t e ! " — das ist die R e d e thörichter und spielerischer Menschen. Vielmehr wird man, bei jedem Stück Geschichte, das man e r n s t l i c h betrachtet hat, und sei es das gelobteste L a n d der Vergangenheit, zuletzt ausrufen: „ n u r nicht dahin wieder zurück! Der Geist jener Zeit würde mit der Last von hundert A t m o s p h ä r e n auf dich drücken, des G u t e n und Schönen an ihr würdest du dich nicht erfreuen, ihr Schlimmes nicht verdauen k ö n n e n . " — Zuverlässig wird die Nachwelt ebenso über unsre Zeit urtheilen: sie sei unausstehlich, das Leben in ihr unlebebar gewesen. — U n d doch hält es Jeder in seiner Zeit aus? — J a und zwar desshalb, weil der Geist seiner Zeit nicht nur a u f ihm liegt, sondern auch i n ihm ist. D e r Geist der Zeit leistet sich selber Widerstand, trägt sich selber.
528
Menschliches, Allzumenschliches I I 383.
G r o s s h e i t a l s M a s k e . — Mit Grossheit des Benehmens erbittert man seine Feinde, mit Neid, den man merken lässt, versöhnt man sie sich beinahe: denn der Neid vergleicht, setzt gleich, er ist eine unfreiwillige und stöhnende A r t von Bescheidenheit. — O b wohl hier und da, des erwähnten Vortheils halber, der Neid als Maske vorgenommen worden ist, von Solchen, welche nicht neidisch waren? Vielleicht; sicherlich aber wird Grossheit des Benehmens oft als Maske des Neides gebraucht, von Ehrgeizigen, welche lieber Nachtheile erleiden und ihre Feinde erbittern wollen, als merken lassen, dass sie sich innerlich ihnen gleich setzen.
384.
U n v e r z e i h l i c h . — Du hast ihm eine Gelegenheit gegeben, Grösse des Charakters zu zeigen, und er hat sie nicht benutzt. Das wird er dir nie verzeihen.
385.
G e g e n - S ä t z e . — Das Greisenhafteste, was je über den Menschen gedacht worden ist, steckt in dem b e r ü h m t e n Satze „das Ich ist immer hassenswerth"; das Kindlichste in dem noch berühmteren „liebe deinen Nächsten, wie dich selbst". — Bei dem einen hat die Menschenkenntniss aufgehört, bei dem andern noch gar nicht angefangen.
386.
D a s f e h l e n d e O h r . — „Man gehört noch zum Pöbel, so lange man immer auf Andere die Schuld schiebt; man ist auf der Bahn der Weisheit, wenn man immer nur sich selber verantwortlich macht; aber der Weise findet Niemanden schuldig, we-
1. Vermischte M e i n u n g e n und Sprüche 3 8 3 — 3 8 9
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der sich noch A n d e r e . " — Wer sagt diess? — Epiktet, v o r achtzehnhundert Jahren. — Man hat es gehört, aber vergessen. — N e i n , man hat es nicht gehört und nicht vergessen: nicht jedes D i n g vergisst sich. Aber man hatte das O h r nicht dafür, das O h r Epiktet's. — So hat er es also sich selber in's Ohr gesagt? — So ist es: Weisheit ist das Gezischel des Einsamen mit sich auf vollem Markte.
387. Fehler des S t a n d p u n c t e s , nicht des Auges. — M a n sieht sich selber immer einige Schritte zu nah; und den Nächsten immer einige Schritte zu fern. So k o m m t es, dass man ihn zu sehr in Bausch und Bogen beurtheilt und sich selber zu sehr nach einzelnen gelegentlichen unbeträchtlichen Zügen und Vorkommnissen.
388. D i e I g n o r a n z i n W a f f e n . — Wie leicht nehmen wir es, ob ein A n d r e r von einer Sache weiss oder nicht weiss, — während er vielleicht schon bei der Vorstellung Blut schwitzt, dass man ihn hierin f ü r unwissend halte. J a , es giebt ausgesuchte N a r r e n , welche immer mit einem vollen Köcher von Bannflüchen und Machtsprüchen einhergehen, bereit, J e d e n niederzuschiessen, der merken lässt, es gebe Dinge, worin ihr Urtheil nicht in Betracht k o m m e .
389. A m T r i n k t i s c h d e r E r f a h r u n g . — Personen, welche aus angeborener Mässigkeit jedes Glas halbausgetrunken stehen lassen, wollen nicht zugeben, dass jedes Ding in der Welt seine N e i g e und H e f e habe.
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Menschliches, Allzumenschlidies I I
390. S i n g v ö g e l . — Die Anhänger eines grossen Mannes pflegen sich zu blenden, um sein Lob besser singen zu können.
5
391N i c h t g e w a c h s e n . — Das Gute missfällt uns, wenn wir ihm nicht gewachsen sind.
392D i e R e g e l a l s M u t t e r o d e r a l s K i n d . — Ein anderer Zustand ist der, welcher die Regel gebiert, ein anderer 10 der, welchen die Regel gebiert.
393K o m ö d i e . — Wir ernten mitunter Liebe und Ehre f ü r Thaten oder Werke, welche wir längst wie eine H a u t von uns abgestreift haben: da werden wir leicht verführt, die KomödianJ 5 ten unserer eigenen Vergangenheit zu machen und das alte Fell noch einmal über die Schultern zu werfen — und nicht nur aus Eitelkeit, sondern auch aus Wohlwollen gegen unsere Bewunderer.
394F e h l e r d e r B i o g r a p h e n . — Die kleine Kraft, welche N o t h thut, einen Kahn in den Strom hineinzustossen, soll nicht mit der K r a f t dieses Stromes, der ihn fürderhin trägt, verwechselt werden: aber es geschieht fast in allen Biographien.
1. Vermischte Meinungen u n d Sprüche 3 9 0 — 3 9 8
531
395-
N i c h t z u t h e u e r k a u f e n . — Was man zu theuer kauft, verwendet man gewöhnlich auch noch schlecht, weil ohne Liebe und mit peinlicher Erinnerung, — und so hat man einen doppelten Nachtheil davon.
3
96.
Welche P h i l o s o p h i e immer der G e s e l l s c h a f t n o t h t h u t . — Der Pfeiler der gesellschaftlichen Ordnung ruht auf dem Grunde, dass ein Jeder auf Das, was er ist, thut und erstrebt, auf seine Gesundheit oder Krankheit, seine Armuth oder Wohlstand, seine Ehre oder Unansehnlichkeit, mit Heiterkeit hinblickt und dabei empfindet „ i c h t a u s c h e d o c h m i t K e i n e m " . — Wer an der Ordnung der Gesellschaft bauen will, möge nur immer diese Philosophie der heiteren Tauschablehnung und Neidlosigkeit in die Herzen einpflanzen.
397-
A n z e i c h e n d e r v o r n e h m e n S e e l e . — Eine vornehme Seele ist die nicht, welche der höchsten Aufschwünge fähig ist, sondern jene, welche sich wenig erhebt und wenig fällt, aber i m m e r in einer freieren durchleuchteteren Luft und Höhe wohnt.
398. D a s G r o s s e u n d s e i n B e t r a c h t e r . — Die beste Wirkung des Grossen ist, dass es dem Betrachter ein vergrösserndes und abrundendes Auge einsetzt.
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Menschliches, Allzumenschliches II
3 99S i c h g e n ü g e n l a s s e n . — Die erlangte Reife des Verstandes bekundet sich darin, dass man dorthin, wo seltene Blumen unter den spitzigsten Dornenhecken der Erkenntniss stehen, nicht mehr geht und sich an Garten, Wald, Wiese und Ackerfeld genügen lässt, in Anbetracht wie das Leben für das Seltene und Aussergewöhnliche zu kurz ist.
400.
V o r t h e i l i n d e r E n t b e h r u n g . — Wer immerdar in der Wärme und Fülle des Herzens und gleichsam in der Sommerluft der Seele lebt, kann sich jenes schauerliche Entzücken nicht vorstellen, welches winterlichere Naturen ergreift, die ausnahmsweise von den Strahlen der Liebe und dem lauen Anhauche eines sonnigen Februartages berührt werden.
401.
R e c e p t f ü r d e n D u l d e r . — Dir wird die Last des Lebens zu schwer? — So musst du die Last deines Lebens vermehren. Wenn der Dulder endlich nach dem Flusse Lethe dürstet und sucht, — so muss er zum H e l d e n werden, um ihn gewiss zu finden. 402.
D e r R i c h t e r . — Wer Jemandes Ideal geschaut hat, ist dessen unerbittlicher Richter und gleichsam sein böses Gewissen.
403.
N u t z e n d e r g r o s s e n E n t s a g u n g . — Das Nützlichste an der grossen Entsagung ist, dass sie uns jenen Tugend-
1. Vermischte Meinungen und Sprüche 3 9 9 — 4 0 8
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stolz mittheilt, vermöge dessen wir von da an leicht viele kleine Entsagungen von uns erlangen.
404. W i e d i e P f l i c h t G l a n z b e k o m m t . — Das Mittel, um deine eherne Pflicht im Auge von Jedermann in Gold zu verwandeln, heisst: halte immer etwas mehr, als du versprichst.
405. G e b e t z u M e n s c h e n . — „Vergieb uns unsere Tugenden" — so soll man zu Menschen beten.
406. S c h a f f e n d e u n d G e n i e s s e n d e . — Jeder Geniessende meint, dem Baume habe es an der Frucht gelegen; aber ihm lag am Samen. — Hierin besteht der Unterschied zwischen allen Schaffenden und Geniessenden.
407. D e r R u h m a l l e r G r o s s e n . — Was ist am Genie gelegen, wenn es nicht seinem Betrachter und Verehrer solche Freiheit und Höhe des Gefühls mittheilt, dass er des Genie's nicht mehr bedarf! — S i c h ü b e r f l ü s s i g m a c h e n — das ist der Ruhm aller Großen.
408. D i e H a d e s f a h r t . — Audi ich bin in der Unterwelt gewesen, wie Odysseus, und werde es noch öfter sein; und nicht nur Hammel habe ich geopfert, um mit einigen Todten reden
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zu können, sondern des eignen Blutes nicht geschont. Vier Paare waren es, welche sich mir, dem Opfernden nicht versagten: Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer. Mit diesen muss ich mich auseinandersetzen, wenn ich lange allein gewandert bin, von ihnen will ich mir Recht und Unrecht geben lassen, ihnen will ich zuhören, wenn sie sich dabei selber untereinander Recht und U n recht geben. Was ich auch nur sage, beschliesse, f ü r mich u n d andere ausdenke: auf jene Acht hefte ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich geheftet. — Mögen die Lebenden es mir verzeihen, wenn s i e mir mitunter wie die Schatten v o r k o m m e n , so verblichen und verdriesslich, so unruhig und ach! so lüstern nach Leben: während Jene mir dann so lebendig scheinen, als ob sie nun, n a c h dem Tode, n i m m e r m e h r lebensmüde werden könnten. Auf d i e e w i g e L e b e n d i g k e i t aber k o m m t es an: was ist am „ewigen Leben" und überhaupt am Leben gelegen!
Zweite Abtheilung: Der Wanderer und sein Schatten.
Zweiter und letzter Nachtrag zu der früher erschienenen
Gedankensammlung
„Menschliches,
A l l z u m e n s c h l i c h e s . Ein Buch f ü r freie Geister." [Zur Erstausgabe
1880]
Der Schatten: Da ich dich so lange nicht reden hörte, so möchte ich dir eine Gelegenheit geben. Der Wanderer: Er redet — wo? und wer? Fast ist es mir, als hörte ich mich selber reden, nur mit noch schwächerer Stimme 5 als die meine ist. Der Schatten: (nach einer Weile): Freut es dich nicht, Gelegenheit zum Reden zu haben? Der Wanderer: Bei Gott und allen Dingen, an die ich nicht glaube, mein Schatten redet; ich höre es, aber glaube es nicht. Der Schatten: Nehmen wir es hin und denken wir nicht weiter darüber nach, in einer Stunde ist Alles vorbei. Der Wanderer: Ganz so dachte ich, als ich in einem Walde bei Pisa erst zwei und dann fünf Kameele sah. Der Schatten: Es ist gut, dass wir Beide auf gleiche Weise M nachsichtig gegen uns sind, wenn einmal unsere Vernunft stille steht: so werden wir uns auch im Gespräche nicht ärgerlich werden und nicht gleich dem Andern Daumenschrauben anlegen, falls sein Wort uns einmal unverständlich klingt. Weiss man gerade nicht zu antworten, so genügt es schon, Etwas zu 20 sagen: das ist die billige Bedingung, unter der ich mich mit Jemandem unterrede. Bei einem längeren Gespräche wird auch der Weiseste einmal zum Narren und dreimal zum Tropf.
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Menschliches, Allzumenschliches I I
Der Wanderer: Deine Genügsamkeit ist nicht schmeichelhaft f ü r Den, welchem du sie eingestehst. Der Schatten: Soll ich denn schmeicheln? Der Wanderer: Ich dachte, der menschliche Schatten sei seine Eitelkeit; diese würde aber nie fragen: „soll ich denn schmeicheln?" Der Schatten: Die menschliche Eitelkeit, soweit ich sie kenne, fragt auch nicht an, wie ich schon zweimal that, ob sie reden dürfe: sie redet immer. Der Wanderer: Ich merke erst, wie unartig ich gegen dich bin, mein geliebter Schatten: ich habe noch mit keinem W o r t e gesagt, wie sehr ich mich f r e u e , dich zu hören u n d nicht blos zu sehen. D u wirst es wissen, ich liebe den Schatten, wie ich das Licht liebe. Damit es Schönheit des Gesichts, Deutlichkeit der Rede, Güte und Festigkeit des Charakters gebe, ist der Schatten so nöthig wie das Licht. Es sind nicht Gegner: sie halten sich vielmehr liebevoll an den H ä n d e n , und wenn das Licht verschwindet, schlüpft ihm der Schatten nach. Der Schatten: U n d ich hasse das Selbe, was du hassest, die Nacht; ich liebe die Menschen, weil sie Lichtjünger sind, und freue mich des Leuchtens, das in ihrem Auge ist, wenn sie erkennen und entdecken, die unermüdlichen Erkenner und Entdecker. Jener Schatten, welchen alle Dinge zeigen, wenn der Sonnenschein der Erkenntniss auf sie fällt, — jener Schatten bin ich auch. Der Wanderer: Ich glaube dich zu verstehen, ob du dich gleich etwas schattenhaft ausgedrückt hast. Aber du hattest Recht: gute Freunde geben einander hier u n d da ein dunkles W o r t als Zeichen des Einverständnisses, welches f ü r jeden Dritten ein Räthsel sein soll. U n d wir sind gute Freunde. Desshalb genug des Vorredens! Ein paar h u n d e r t Fragen drücken auf meine Seele, und die Zeit, da du auf sie antworten kannst, ist vielleicht nur kurz. Sehen wir zu, worüber wir in aller Eile und Friedfertigkeit mit einander zusammenkommen.
2. Der Wanderer und sein Schatten
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Der Schatten: Aber die Schatten sind schüchterner, als die Menschen: du wirst Niemandem mittheilen, wie wir zusammen gesprochen haben! Der Wanderer: W i e wir zusammen gesprochen haben? Der Himmel behüte mich vor langgesponnenen schriftlichen Gesprächen! Wenn Plato weniger Lust am Spinnen gehabt hätte, würden seine Leser mehr Lust an Plato haben. Ein Gespräch, das in der Wirklichkeit ergötzt, ist, in Schrift verwandelt und gelesen, ein Gemälde mit lauter falschen Perspectiven: Alles ist zu lang oder zu kurz. — Doch werde ich vielleicht mittheilen dürfen, w o r ü b e r wir übereingekommen sind? Der Schatten: Damit bin ich zufrieden; denn Alle werden darin nur deine Ansichten wiedererkennen: des Schattens wird Niemand gedenken. Der Wanderer: Vielleicht irrst du, Freund! Bis jetzt hat man in meinen Ansichten mehr den Schatten wahrgenommen, als mich. Der Schatten: Mehr den Schatten, als das Licht? Ist es möglich? Der Wanderer: Sei ernsthaft, lieber Narr! Gleich meine erste Frage verlangt Ernst. —
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1. V o m B a u m d e r E r k e n n t n i s s. — Wahrscheinlichkeit, aber keine Wahrheit: Freisdieinlichkeit, aber keine Freiheit, — diese beiden Früchte sind es, derentwegen der Baum der Erkenntniss nicht mit dem Baum des Lebens verwechselt werden kann. 2.
D i e V e r n u n f t d e r W e l t . — Dass die Welt n i c h t der Inbegriff einer ewigen Vernünftigkeit ist, lässt sich endgültig dadurch beweisen, dass jenes S t ü c k W e l t , welches wir kennen — ich meine unsre menschliche Vernunft —, nicht allzu vernünftig ist. Und wenn s i e nicht allezeit und vollständig weise und rationell ist, so wird es die übrige Welt auch nicht sein; hier gilt der Schluss a minori ad majus, a parte ad totum, und zwar mit entscheidender Kraft. 3-
„ A m A n f a n g w a r " . — Die Entstehung verherrlichen — das ist der metaphysische Nachtrieb, welcher bei der Betrachtung der Historie wieder ausschlägt und durchaus meinen macht, am Anfang aller Dinge stehe das Werthvollste und Wesentlichste. 4-
M a a s s f ü r d e n W e r t h d e r W a h r h e i t . — Für die Höhe der Berge ist die Mühsal ihrer Besteigung durchaus kein Maassstab. Und in der Wissenschaft soll es anders sein! — sagen uns Einige, die für eingeweiht gelten wollen —, die Mühsal um
2. D e r W a n d e r e r u n d sein Schatten 1 — 5
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die Wahrheit soll gerade über den Werth der Wahrheit entscheiden! Diese tolle Moral geht von dem Gedanken aus, dass die „Wahrheiten" eigentlich Nichts weiter seien, als T u r n geräthschaften, an denen wir uns wacker müde zu arbeiten hät5 ten, — eine Moral für Athleten und Festturner des Geistes.
io
15
25
3°
5S p r a c h g e b r a u c h u n d W i r k l i c h k e i t . — Es giebt eine erheuchelte Missachtung aller der Dinge, welche thatsächlich die Menschen am wichtigsten nehmen, a l l e r n ä c h s t e n D i n g e . M a n sagt z u m Beispiel „ m a n isst nur, u m zu leben", — eine verfluchte L ü g e , wie jene, welche von der Kinderzeugung als der eigentlichen Absicht aller Wollust redet. U m g e kehrt ist die Hochschätzung der „wichtigsten D i n g e " fast niemals ganz ächt: die Priester und Metaphysiker haben uns zwar auf diesen Gebieten durchaus an einen heuchlerisch übertreibenden S p r a c h g e b r a u c h gewöhnt, aber das Gefühl doch nicht u m g e s t i m m t , welches diese wichtigsten Dinge nicht so wichtig nimmt, wie jene verachteten nächsten Dinge. — Eine leidige Folge dieser doppelten Heuchelei aber ist immerhin, dass man die nächsten Dinge, z u m Beispiel Essen, Wohnen, Sich-Kleiden, Verkehren, nicht z u m Object des stätigen unbefangenen und a l l g e m e i n e n Nachdenkens und Umbildens macht, sondern, weil diess für herabwürdigend gilt, seinen intellectuellen und künstlerischen Ernst davon abwendet; so dass hier die Gewohnheit und die Frivolität über die Unbedachtsamen, namentlich über die unerfahrene J u g e n d leichten Sieg haben: während andererseits unsere fortwährenden Verstösse gegen die einfachsten Gesetze des Körpers und Geistes uns Alle, Jüngere und Aeltere, in eine beschämende Abhängigkeit und Unfreiheit bringen, — ich meine in jene im G r u n d e überflüssige Abhängigkeit von Aerzten, Lehrern und Seelsorgern, deren Druck jetzt immer noch auf der ganzen Gesellschaft liegt.
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Menschliches, Allzumenschliches I I
6. Die
irdische
Gebrechlichkeit
und
ihre
H a u p t u r s a c h e . — M a n trifft, wenn man sich umsieht, immer auf Menschen, welche ihr Lebenlang Eier gegessen haben, ohne zu bemerken, dass die länglichten die wohlschmeckendsten sind, welche nicht wissen, dass ein G e w i t t e r dem U n t e r l e i b f ö r derlich ist, dass Wohlgerüche in kalter klarer Luft am stärksten riechen, dass unser Geschmackssinn an verschiedenen Stellen des Mundes ungleich ist, dass jede Mahlzeit, bei der man gut spricht oder gut h ö r t , dem Magen Nachtheil bringt. M a n mag mit diesen Beispielen für den Mangel an Beobachtungssinn nicht zufrieden sein, um so m e h r möge man zugestehen, dass die a l l e r nächsten
D i n g e v o n den Meisten sehr schlecht gesehen,
sehr selten beachtet werden. U n d ist diess gleichgültig? — M a n erwäge doch, dass aus diesem Mangel sich f a s t a l l e
leib-
l i c h e n u n d s e e l i s c h e n G e b r e c h e n der Einzelnen ableiten: nicht zu wissen, was uns förderlich, was uns schädlich ist, in der Einrichtung der Lebensweise, Vertheilung des Tages, Zeit und Auswahl des Verkehres, in B e r u f und Müsse, Befehlen und Gehorchen, N a t u r - und Kunstempfinden, Essen, Schlafen und N a c h d e n k e n ; i m K l e i n s t e n u n d
Alltäglichsten
u n w i s s e n d zu sein und keine scharfen Augen zu haben
—
das ist es, was die E r d e für so Viele zu einer „Wiese des U n h e i l s " macht. Man sage nicht, es liege hier wie überall an der menschlichen U n v e r n u n f t : vielmehr — Vernunft genug und übergenug ist da, aber sie wird f a l s c h gerichtet und k ü n s t l i c h von jenen kleinen und allernächsten Dingen
abgelenkt.
Priester und Lehrer, und die sublime Herrschsucht der Idealisten jeder A r t , der gröberen und feineren, reden schon dem Kinde ein, es k o m m e auf etwas ganz Anderes an: auf das H e i l der Seele, den Staatsdienst, die Förderung der Wissenschaft, oder auf Ansehen und Besitz, als die Mittel, der ganzen Menschheit Dienste zu erweisen, während das Bedürfniss des Einzelnen, seine grosse und kleine N o t h innerhalb der vierundzwanzig
2 . D e r W a n d e r e r und sein Schatten 6 — 7
543
Tagesstunden etwas Verächtliches oder Gleichgültiges sei. — Sokrates schon wehrte sich mit allen Kräften gegen diese hochmüthige Vernachlässigung des Menschlichen zu Gunsten des Menschen und liebte es, mit einem Worte Homer's, an den wirklichen Umkreis und Inbegriff alles Sorgens und Nachdenkens zu mahnen: Das ist es und nur Das, sagt er, „was mir zu Hause an Gutem und Schlimmem begegnet".
7-
Z w e i T r o s t m i t t e l . — Epikur, der Seelen-Beschwichtiger des späteren Alterthums, hatte jene wundervolle Einsicht, die heutzutage immer noch so selten zu finden ist, dass zur Beruhigung des Gemüths die Lösung der letzten und äussersten theoretischen Fragen gar nicht nöthig sei. So genügte es ihm, Solchen, welche „die Götterangst" quälte, zu sagen: „Wenn es Götter giebt, so bekümmern sie sich nicht um uns," — anstatt über die letzte Frage, ob es Götter überhaupt gebe, unfruchtbar und aus der Ferne zu disputiren. Jene Position ist viel günstiger und mächtiger: man giebt dem Andern einige Schritte vor und macht ihn so zum Hören und Beherzigen gutwilliger. Sobald er sich aber anschickt, das Gegentheil zu beweisen — dass die Götter sich um uns bekümmern —, in welche Irrsale und Dorngebüsche muss der Arme gerathen, ganz von selber, ohne die List des Unterredners, der nur genug Humanität und Feinheit haben muss, um sein Mitleiden an diesem Schauspiele zu verbergen. Zuletzt kommt jener Andere zum Ekel, dem stärksten Argument gegen jeden Satz, zum Ekel an seiner eigenen Behauptung: er wird kalt und geht fort mit der selben Stimmung, wie sie auch der reine Atheist hat: „was gehen mich eigentlich die Götter an! Hole sie der Teufel!" — In anderen Fällen, namentlich wenn eine halb physische, halb moralische Hypothese das Gemüth verdüstert hatte, widerlegte er nicht diese Hypothese, sondern gestand ein, dass es wohl so sein könne: aber es
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Menschliches, Allzumensdilidies I I
gebe n o c h e i n e z w e i t e Hypothese, um die selbe Erscheinung zu erklären; vielleicht könne es sich auch noch anders verhalten. D i e M e h r h e i t der Hypothesen genügt auch in unserer Zeit noch, zum Beispiel über die H e r k u n f t der Gewissens5 bisse, um jenen Schatten v o n der Seele zu nehmen, der aus dem Nachgrübeln über eine einzige, allein sichtbare und dadurch hundertfach überschätzte Hypothese so leicht entsteht. — Wer also Trost zu spenden wünscht, an Unglückliche, Uebelthäter, Hypochonder, Sterbende, möge sich der beiden beruhigenden io Wendungen Epikur's erinnern, welche auf sehr viele Fragen sich anwenden lassen. In der einfachsten F o r m würden sie etwa lauten: erstens, gesetzt es verhält sich so, so geht es uns Nichts an; zweitens: es kann so sein, es kann aber auch anders sein.
8. ij
I n d e r N a c h t . — Sobald die Nacht hereinbricht, verändert sich unsere Empfindung über die nächsten Dinge. Da ist der Wind, der wie auf verbotenen Wegen umgeht, flüsternd, wie Etwas suchend, verdrossen, weil er's nicht findet. Da ist das Lampenlicht, mit trübem, röthlichem Scheine, ermüdet blik20 kend, der Nacht ungern widerstrebend, ein ungeduldiger Sclave des wachen Menschen. Da sind die Athemzüge des Schlafenden, ihr schauerlicher Tact, zu dem eine immer wiederkehrende Sorge die Melodie zu blasen scheint, — w i r hören sie nicht, aber wenn die Brust des Schlafenden sich hebt, so fühlen wir uns geschnürten Herzens, und wenn der A t h e m sinkt und fast in's Todtenstille erstirbt, sagen wir uns „ruhe ein Wenig, du armer gequälter Geist!" — w i r wünschen allem Lebenden, weil es so gedrückt lebt, eine ewige R u h e ; die Nacht überredet zum Tode. — Wenn die Menschen der Sonne entbehrten und mit Mond3° licht und Oel den Kampf gegen die Nacht führten, welche Philosophie würde um sie ihren Schleier hüllen! Man merkt es ja dem geistigen und seelischen Wesen des Menschen schon zu sehr an,
2. Der Wanderer und sein Schatten 7 — 9
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wie es durch die Hälfte Dunkelheit und Sonnen-Entbehrung, von der das Leben umflort wird, im Ganzen verdüstert ist.
9-
W o die L e h r e v o n der F r e i h e i t des W i l l e n s e n t s t a n d e n i s t . — Ueber dem Einen steht die N o t h w e n d i g k e i t in der Gestalt seiner Leidenschaften, über dem Andern als Gewohnheit zu hören und zu gehorchen, über dem Dritten als logisches Gewissen, über dem Vierten als Laune und muthwilliges Behagen an Seitensprüngen. Von diesen Vieren wird aber gerade da die F r e i h e i t ihres Willens gesucht, wo Jeder von ihnen am festesten gebunden ist: es ist, als ob der Seidenwurm die Freiheit seines Willens gerade im Spinnen suchte. Woher kommt diess? Ersichtlich daher, dass Jeder sich dort am meisten für frei hält, wo sein L e b e n s g e f ü h l am grössten ist, also, wie gesagt, bald in der Leidenschaft, bald in der Pflicht, bald in der Erkenntniss, bald im Muthwillen. Das, wodurch der einzelne Mensch stark ist, worin er sich belebt fühlt, meint er unwillkürlich, müsse auch immer das Element seiner Freiheit sein: er rechnet Abhängigkeit und Stumpfsinn, Unabhängigkeit und Lebensgefühl als nothwendige Paare zusammen. — Hier wird eine Erfahrung, die der Mensch im gesellschaftlich-politischen Gebiete gemacht hat, fälschlich auf das allerletzte metaphysische Gebiet übertragen: dort ist der starke Mann auch der freie Mann, dort ist lebendiges Gefühl von Freud und Leid, Höhe des Hoffens, Künheit des Begehrens, Mächtigkeit des Hassens das Zubehör der Herrschenden und Unabhängigen, während der Unterworfene, der Sclave, gedrückt und stumpf lebt. — Die Lehre von der Freiheit des Willens ist eine Erfindung h e r r s c h e n d e r Stände.
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Menschliches, Allzumenschliches II
10. K e i n e n e u e n K e t t e n f ü h l e n . — Solange wir nicht f ü h l e n , dass wir irgend w o v o n abhängen, halten wir uns f ü r unabhängig: ein Fehlschluss, welcher zeigt, wie stolz 5 und herrschsüchtig der Mensch ist. Denn er nimmt hier an, dass er unter allen Umständen die Abhängigkeit, sobald er sie erleide, merken und erkennen müsse, u n t e r der Voraussetzung, dass er in der Unabhängigkeit f ü r g e w ö h n l i c h lebe u n d sofort, wenn er sie ausnahmsweise verliere, einen Gegensatz der io Empfindung spüren werde. — Wie aber, wenn das Umgekehrte wahr wäre: dass er i m m e r in vielfacher Abhängigkeit lebt, sich aber f ü r f r e i hält, wo er den Druck der Kette aus langer Gewohnheit n i c h t m e h r s p ü r t ? N u r an den n e u e n Ketten leidet er noch: — „Freiheit des Willens" heisst eigent'5 lieh Nichts weiter, als keine neuen Ketten fühlen.
n. Die F r e i h e i t des Willens u n d die I s o l a t i o n d e r F a c t a . — Unsere gewohnte ungenaue Beobachtung n i m m t eine G r u p p e von Erscheinungen als Eins und nennt sie 20 ein Factum: zwischen ihm und einem andern Factum denkt sie sich einen leeren R a u m hinzu, sie i s o 1 i r t jedes Factum. In Wahrheit aber ist all unser Handeln u n d Erkennen keine Folge von Facten u n d leeren Zwischenräumen, sondern ein beständiger Fluss. N u n ist der Glaube an die Freiheit des Willens gerade 2$ mit der Vorstellung eines beständigen, einartigen, ungetheilten, untheilbaren Fliessens unverträglich: er setzt voraus, dass j e d e e i n z e l n e H a n d l u n g i s o l i r t u n d u n t h e i l b a r ist; er ist eine A t o m i s t i k im Bereiche des Wollens und Erkennens. — Gerade so wie wir Charaktere ungenau verstehen, so machen 3° wir es mit den Facten: wir sprechen von gleichen Charakteren, gleichen Facten: b e i d e g i e b t e s n i c h t . N u n loben u n d tadeln wir aber nur unter dieser falschen Voraussetzung, dass
2. D e r W a n d e r e r und sein Schatten 10—12
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es g l e i c h e Facta gebe, dass eine abgestufte O r d n u n g von G a t t u n g e n der Facten vorhanden sei, welcher eine abgestufte W e r t h o r d n u n g entspreche: also wir i s o 1 i r e n nicht n u r das einzelne Factum, sondern auch wiederum die G r u p p e n von angeblich gleichen Facten (gute, böse, mitleidige, neidische Handlungen u.s.w.) — beide Male irrthümlich. — Das Wort und der Begriff sind der sichtbarste G r u n d , wesshalb wir an diese Isolation von H a n d l u n g e n - G r u p p e n glauben: mit ihnen b e z e i c h n e n wir nicht nur die Dinge, wir meinen ursprünglich durch sie das W e s e n derselben zu erfassen. Durch Worte und Begriffe werden wir jetzt noch f o r t w ä h r e n d v e r f ü h r t , die Dinge uns einfacher zu denken, als sie sind, getrennt von einander, untheilbar, jedes an und f ü r sich seiend. Es liegt eine philosophische Mythologie in der S p r a c h e versteckt, welche alle Augenblicke wieder herausbricht, so vorsichtig man sonst auch sein mag. Der Glaube an die Freiheit des Willens, das heisst der g l e i c h e n Facten und der i s o 1 i r t e n Facten, — hat in der Sprache seinen beständigen Evangelisten u n d Anwalt.
12.
D i e G r u n d i r r t h ü m e r . — Damit der Mensch irgend eine seelische Lust oder Unlust empfinde, muss er von einer dieser beiden Illusionen beherrscht sein: e n t w e d e r glaubt er an die G l e i c h h e i t gewisser Facta, gewisser Empfindungen: dann hat er durch die Vergleichung jetziger Zustände mit früheren und durch Gleich- oder Ungleichsetzung derselben (wie sie bei aller Erinnerung Statt findet) eine seelische Lust oder Unlust; o d e r er glaubt an die W i l l e n s - F r e i h e i t , etwa wenn er denkt „diess hätte ich nicht t h u n müssen," „dies hätte anders auslaufen können," und gewinnt daraus ebenfalls Lust oder U n lust. Ohne die I r r t h ü m e r , welche bei jeder seelischen Lust und Unlust thätig sind, würde niemals ein Menschenthum entstanden sein, — dessen G r u n d e m p f i n d u n g ist u n d bleibt, dass der
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Menschliches, Allzumensdiliches I I
Mensch der Freie in der Welt der Unfreiheit sei, der ewige W u n d e r t h ä t e r , sei es dass er gut oder böse handelt, die erstaunliche Ausnahme, das Ueberthier, der Fast-Gott, der Sinn der Schöpfung, der Nichthinwegzudenkende, das Lösungswort J des kosmischen Räthsels, der grosse Herrscher über die N a t u r und Verächter derselben, das Wesen, das seine Geschichte W e l t g e s c h i c h t e nennt! — Vanitas vanitatum homo.
13Z w e i m a l s a g e n . — Es ist gut, eine Sache sofort Ja doppelt auszudrücken und ihr einen rechten und einen linken Fuss zu geben. Auf Einem Bein kann die Wahrheit zwar stehen; mit zweien aber wird sie gehen und herumkommen.
14.
D e r M e n s c h , d e r K o m ö d i a n t d e r W e l t . — Es 15 müsste geistigere Geschöpfe geben, als die Menschen sind, blos um den H u m o r ganz auszukosten, der darin liegt, dass der Mensch sich f ü r den Zweck des ganzen Weltendaseins ansieht, und die Menschheit sich ernstlich nur mit Aussicht auf eine Welt-Mission zufrieden giebt. H a t ein G o t t die Welt geschaffen, 20 so schuf er den Menschen zum A f f e n G o t t e s , als fortwährenden Anlass zur Erheiterung in seinen allzulangen Ewigkeiten. Die Sphärenmusik um die Erde herum wäre dann wohl das Spottgelächter aller übrigen Geschöpfe um den Menschen herum. Mit dem S c h m e r z kitzelt jener gelangweilte Unsterbliche 2$ sein Lieblingsthier, um an den tragisch-stolzen Gebärden und Auslegungen seiner Leiden, überhaupt an der geistigen E r findsamkeit des eitelsten Geschöpfes seine Freude zu haben — als Erfinder dieses Erfinders. Denn wer den Menschen zum Spaasse ersann, hatte mehr Geist, als dieser, und auch mehr 30 Freude am Geist. — Selbst hier noch, w o sich unser Menschen-
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t h u m einmal freiwillig demüthigen will, spielt uns die Eitelkeit einen Streich, indem wir Menschen wenigstens in d i e s e r Eitelkeit etwas ganz Unvergleichliches und Wunderhaftes sein möchten. Unsere Einzigkeit in der Welt! ach, es ist eine gar zu unwahrscheinliche Sache! Die Astronomen, denen mitunter wirklich ein erdentrückter Gesichtskreis zu Theil wird, geben zu verstehen, dass der T r o p f e n L e b e n in der Welt f ü r den gesammten Charakter des ungeheuren Ozeans von Werden und Vergehen ohne Bedeutung ist; dass ungezählte Gestirne ähnliche Bedingungen zur Erzeugung des Lebens haben wie die Erde, sehr viele also, — freilich kaum eine Handvoll im Vergleich zu den unendlich vielen, welche den lebenden Ausschlag nie gehabt haben oder von ihm längst genesen sind; dass das Leben auf jedem dieser Gestirne, gemessen an der Zeitdauer seiner Existenz, ein Augenblick, ein Aufflackern gewesen ist, mit langen, langen Zeiträumen hinterdrein, — also keineswegs das Ziel und die letzte Absicht ihrer Existenz. Vielleicht bildet sich die Ameise im Walde ebenso stark ein, dass sie Ziel u n d Absicht der Existenz des Waldes ist, wie wir diess thun, wenn wir an den Untergang der Menschheit in unserer Phantasie fast unwillkürlich den Erduntergang a n k n ü p f e n : ja wir sind noch bescheiden, wenn wir dabei stehen bleiben und zur Leichenfeier des letzten Menschen nicht eine allgemeine Welt- u n d G ö t t e r d ä m m e r u n g veranstalten. Der unbefangenste A s t r o n o m selber kann die Erde ohne Leben kaum anders empfinden, als wie den leuchtenden und schwebenden Grabhügel der Menschheit.
ijB e s c h e i d e n h e i t d e s M e n s c h e n . — Wie wenig Lust genügt den Meisten, u m das Leben gut zu finden, wie bescheiden ist der Mensch!
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Menschliches, Allzumenschliches I I
16. W o r i n G l e i c h g ü l t i g k e i t n o t h t h u t . — Nichts wäre verkehrter, als abwarten wollen, was die Wissenschaft über die ersten und letzten Dinge einmal endgültig feststellen wird, und bis dahin auf die h e r k ö m m l i c h e Weise denken (und namentlich glauben!) — wie diess so oft angerathen wird. Der Trieb, auf diesem Gebiete durchaus n u r S i c h e r h e i t e n haben zu wollen, ist ein r e l i g i ö s e r N a c h t r i e b , nichts Besseres, — eine versteckte und nur scheinbar skeptische Art des „metaphysischen Bedürfnisses," mit dem Hintergedanken verkuppelt, dass noch lange Zeit keine Aussicht auf diese letzten Sicherheiten vorhanden, und bis dahin der „Gläubige" im Recht ist, sich um das ganze Gebiet nicht zu kümmern. Wir haben diese Sicherheiten um die alleräussersten Horizonte gar nicht n ö t h i g , um ein volles und tüchtiges Menschenthum zu leben: ebenso wenig als die Ameise sie nöthig hat, um eine gute Ameise zu sein. Vielmehr müssen wir uns darüber in's Klare bringen, woher eigentlich jene fatale Wichtigkeit kommt, die wir jenen Dingen so lange beigelegt haben, und dazu brauchen wir die H i s t o r i e der ethischen und religiösen Empfindungen. Denn nur unter dem Einfluss dieser Empfindungen sind uns jene allerspitzesten Fragen der Erkenntniss so erheblich und furchtbar geworden: man hat in die äussersten Bereiche, w o h i n noch das geistige Auge dringt, ohne i n s i e einzudringen, solche Begriffe wie Schuld und Strafe (und zwar ewige Strafe!) hineinverschleppt: und diess um so unvorsichtiger, je dunkler diese Bereiche waren. Man hat seit Alters mit Verwegenheit dort phantasirt, wo man Nichts feststellen konnte, und seine Nachkommen überredet, diese Phantasien für Ernst und Wahrheit zu nehmen, zuletzt mit dem abscheulichen Trumpfe: dass Glaube mehr werth sei, als Wissen. Jetzt nun thut in Hinsicht auf jene letzten Dinge nicht Wissen gegen Glauben noth, sondern G l e i c h g ü l t i g k e i t gegen Glauben und angebl i c h e s W i s s e n auf jenen Gebieten! — A l l e s Andere muss
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uns näher stehen, als Das, was man uns bisher als das Wichtigste vorgepredigt hat: ich meine jene Fragen: wozu der Mensch? Welches Loos hat er nach dem Tode? Wie versöhnt er sich mit Gott? und wie diese Curiosa lauten mögen. Ebensowenig, wie diese Fragen der Religiösen, gehen uns die Fragen der philosophischen Dogmatiker an, mögen sie nun Idealisten oder Materialisten oder Realisten sein. Sie allesammt sind darauf aus, uns zu einer Entscheidung auf Gebieten zu drängen, wo weder Glauben noch Wissen noth thut; selbst für die grössten Liebhaber der Erkenntniss ist es nützlicher, wenn um alles Erforschbare und der Vernunft Zugängliche ein umnebelter trügerischer Sumpfgürtel sich legt, ein Streifen des Undurchdringlichen, Ewig-Flüssigen und Unbestimmbaren. Gerade durch die Vergleichung mit dem Reich des Dunkels am Rande der WissensErde steigt die helle und nahe, nächste Welt des Wissens stets im Werthe. — Wir müssen wieder g u t e N a c h b a r n d e r n ä c h s t e n D i n g e werden und nicht so verächtlich wie bisher über sie hinweg nach Wolken und Nachtunholden hinblicken. In Wäldern und Höhlen, in sumpfigen Strichen und unter bedeckten Himmeln — da hat der Mensch als auf den Culturstufen ganzer Jahrtausende allzulange gelebt, und dürftig gelebt. Dort hat er die Gegenwart und die Nachbarschaft und das Leben und sich selbst v e r a c h t e n g e l e r n t — und wir, wir Bewohner der l i c h t e r e n Gefilde der Natur und des Geistes, bekommen jetzt noch, durch Erbschaft, Etwas von diesem Gift der Verachtung gegen das Nächste in unser Blut mit.
17T i e f e E r k l ä r u n g e n . — Wer die Stelle eines Autors „tiefer erklärt", als sie gemeint war, hat den Autor nicht erklärt, sondern v e r d u n k e l t . So stehen unsre Metaphysiker zum Texte der Natur; ja noch schlimmer. Denn um ihre tiefen Erklärungen anzubringen, richten sie sich häufig den Text erst
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daraufhin zu: das heisst, sie v e r d e r b e n ihn. U m ein curioses Beispiel für Textverderbniss und Verdunkelung des Autors zu geben, so mögen hier Schopenhauer's Gedanken über die Schwangerschaft der Weiber stehen. Das Anzeichen des steten Daseins des Willens zum Leben in der Zeit, sagt er, ist der Coitus; das Anzeichen des diesem Willen auf's Neue zugesellten, die Möglichkeit der Erlösung offen haltenden Lichtes der Erkenntniss, und zwar im höchsten Grade der Klarheit, ist die erneuerte Menschwerdung des Willens zum Leben. Das Zeichen dieser ist die Schwangerschaft, welche daher frank und frei, ja stolz einhergeht, während der Coitus sich verkriecht wie ein Verbrecher. Er behauptet, dass j e d e s W e i b , wenn beim Generationsact überrascht, vor Scham vergehn möchte, aber „ i h r e S c h w a n g e r s c h a f t , ohne eine Spur von Scham, j a , m i t e i n e r A r t S t o l z , z u r S c h a u t r a g t . " Vor Allem lässt sich dieser Zustand nicht so leicht m e h r zur Schau tragen, als er sieb selber zur Schau trägt; indem Schopenhauer aber gerade n u r die Absichtlichkeit des zur-Schau-Tragens hervorhebt, bereitet er sich den Text vor, damit dieser zu der bereit gehaltenen „Erklärung" passe. Sodann ist Das, was er über die Allgemeinheit des zu erklärenden Phänomens sagt, nicht wahr: er spricht von „jedem Weibe": viele, namentlich die jüngeren Frauen, zeigen aber in diesem Zustande, selbst vor den nächsten Anverwandten, oft eine peinliche Verschämtheit; und wenn Weiber reiferen und reifsten Alters, zumal solche aus dem niederen Volke, in der That sich auf jenen Zustand Etwas zu Gute thun sollten, so geben sie wohl damit zu verstehen, dass sie n o c h von ihren Männern begehrt werden. Dass bei ihrem Anblick der Nachbar und die Nachbarin oder ein vorübergehender Fremder sagt oder denkt: „sollte es möglich sein — " , dieses Almosen wird von der weiblichen Eitelkeit bei geistigem Tiefstande immer noch gern angenommen. Umgekehrt würden, wie aus Schopenhauer's Sätzen zu folgern wäre, gerade die klügsten und geistigsten Weiber am meisten über ihren Zustand öffentlich
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frohlocken: sie haben ja die meiste Aussicht, ein Wunderkind des Intellects zu gebären, in welchem „der Wille" sich zum allgemeinen Besten wieder einmal „verneinen" kann; die dummen Weiber hätten dagegen allen Grund, ihre Schwangerschaft noch 5 schamhafter zu verbergen, als Alles, was sie verbergen. — Man kann nicht sagen, dass diese Dinge aus der Wirklichkeit genommen sind. Gesetzt aber, Schopenhauer hätte ganz im Allgemeinen darin Recht, dass die Weiber im Zustande der Schwangerschaft eine Selbstgefälligkeit mehr zeigen, als sie sonst zeigen, so läge doch eine Erklärung näher zur Hand, als die seinige. Man könnte sich ein Gackern der Henne auch v o r dem Legen des Eies denken, des Inhaltes: Seht seht! ich werde ein Ei legen! ich werde ein Ei legen!
18.
ij
D e r m o d e r n e D i o g e n e s . — Bevor man den Menschen sucht, muss man die Laterne gefunden haben. — Wird es die Laterne des Cynikers sein müssen? —
I m m o r a l i s t e n . — Die Moralisten müssen es sich jetzt 20 gefallen lassen, Immoralisten gescholten zu werden, weil sie die Moral seciren. Wer aber seciren will, muss tödten: jedoch nur, damit besser gewusst, besser geurtheilt, besser gelebt werde; nicht, damit alle Welt secire. Leider aber meinen die Menschen immer noch, dass jeder Moralist auch durch sein gesammtes Han2J dein ein Musterbild sein müsse, welches die Anderen nachzuahmen hätten; sie verwechseln ihn mit dem Prediger der Moral. Die älteren Moralisten secirten nicht genug und predigten allzuhäufig: daher rührt jene Verwechselung und jene unangenehme Folge für die jetzigen Moralisten.
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Menschliches, Allzumenschliches I I 20.
N i c h t z u v e r w e c h s e l n . — Die Moralisten, welche die grossartige, mächtige, aufopfernde Denkweise, etwa bei den Helden Plutarch's, oder den reinen, erleuchteten, wärmeleiten$ den Seelenzustand der eigentlich guten Männer und Frauen, als schwere Probleme der Erkenntniss behandeln und der H e r k u n f t derselben nachspüren, indem sie das Complicirte in der anscheinenden Einfachheit aufzeigen u n d das Auge auf die Verflechtung der Motive, auf die eingewobenen zarten Begriffsio Täuschungen u n d die von Alters her vererbten, langsam gesteigerten Einzel- und Gruppen-Empfindungen richten, — diese Moralisten sind am meisten gerade von denen v e r s c h i e d e n , mit denen sie doch am meisten v e r w e c h s e l t werden: von den kleinlichen Geistern, die an jene Denkweise und Seelenzustände überhaupt nicht glauben und ihre eigne Armseligkeit hinter dem Glänze von Grösse und Reinheit versteckt wähnen. Die Moralisten sagen: „hier sind Probleme", und die Erbärmlichen sagen: „hier sind Betrüger und Betrügereien"; sie 1 e u g n e n also die E x i s t e n z gerade dessen, was jene zu e r k l ä r e n beflissen sind.
21.
D e r M e n s c h a l s d e r M e s s e n d e . — Vielleicht hat alle Moralität der Menschheit in der ungeheuren inneren Aufregung ihren Ursprung, welche die Urmenschen ergriff, als sie 2J das Maass und das Messen, die Wage und das Wägen entdeckten (das W o r t „Mensch" bedeutet ja den Messenden, er hat sich nach seiner grössten Entdeckung b e n e n n e n wollen!). Mit diesen Vorstellungen stiegen sie in Bereiche hinauf, die ganz unmessbar und unwägbar sind, aber es ursprünglich nicht zu sein 3° schienen.
2. D e r W a n d e r e r und sein Schatten 2 0 — 2 2
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22. P r i n c i p d e s G l e i c h g e w i c h t s . — Der Räuber u n d der Mächtige, welcher einer G e m e i n d e verspricht, sie gegen den R ä u b e r zu schützen, sind wahrscheinlich im G r u n d e ganz ähnliche Wesen, nur dass der zweite seinen V o r t h e i l anders, als der erste erreicht: nämlich durch regelmässige A b g a b e n , welche die G e m e i n d e an ihn entrichtet, u n d nicht m e h r durch B r a n d schatzungen. (Es ist das nämliche Verhältniss wie zwischen H a n delsmann u n d Seeräuber, welche lange Zeit ein u n d die selbe Person sind: w o ihr die eine F u n c t i o n nicht räthlich scheint, da ü b t sie die andere aus. Eigentlich ist ja selbst jetzt noch alle K a u f m a n n s - M o r a l n u r die V e r k l ü g e r u n g der S e e r ä u b e r - M o r a l : so wohlfeil wie möglich k a u f e n — w o m ö g l i c h f ü r Nichts, als die U n t e r n e h m u n g s k o s t e n — , so theuer wie möglich v e r k a u f e n . ) D a s Wesentliche ist: jener Mächtige verspricht, gegen den R ä u ber G l e i c h g e w i c h t zu halten; darin sehen die Schwachen eine Möglichkeit, zu leben. D e n n entweder müssen sie sich selber z u einer g l e i c h w i e g e n d e n Macht Z u s a m m e n t h u n oder sich einem Gleichwiegenden u n t e r w e r f e n (ihm f ü r seine Leistungen D i e n s t e leisten). D e m letzteren V e r f a h r e n w i r d gern der V o r z u g gegeben, weil es im G r u n d e z w e i gefährliche Wesen in Schach h ä l t : das erste durch das zweite u n d das zweite durch den Gesichtspunct des V o r t h e i l s ; letzteres hat nämlich seinen G e w i n n d a v o n , die U n t e r w o r f e n e n gnädig oder leidlich zu behandeln, d a m i t sie nicht nur sich, s o n d e r n auch ihren Beherrscher ernähren k ö n n e n . Thatsächlich k a n n es dabei i m m e r noch h a r t u n d g r a u s a m g e n u g zugehen, aber verglichen m i t der f r ü h e r i m m e r möglichen völligen V e r n i c h t u n g a t h m e n die Menschen schon in diesem Z u s t a n d e auf. — D i e G e m e i n d e ist im A n f a n g die O r g a n i s a t i o n der Schwachen z u m G l e i c h g e w i c h t m i t g e f a h r d r o h e n d e n Mächten. Eine O r g a n i s a t i o n z u m Uebergewicht w ä r e räthlicher, w e n n m a n dabei so stark w ü r d e , u m die G e g e n m a c h t auf einmal zu v e r n i c h t e n : u n d handelt es sich u m einen einzelnen mächtigen Schadenthuer, so w i r d
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diess gewiss v e r s u c h t. Ist aber der Eine ein S t a m m h a u p t oder hat er grossen Anhang, so ist die schnelle, entscheidende Vernichtung unwahrscheinlich und die dauernde lange F e h d e zu gewärtigen: diese aber bringt der Gemeinde den am wenigsten wünschbaren Zustand mit sich, weil sie durch ihn die Zeit verliert, f ü r ihren Lebensunterhalt mit der nöthigen Regelmässigkeit zu sorgen, und den E r t r a g aller Arbeit jeden Augenblick bedroht sieht. Desshalb zieht die Gemeinde v o r , ihre Macht zu Vertheidigung und Angriff genau auf die H ö h e zu bringen, auf der die Macht des gefährlichen Nachbars ist, und ihm zu verstehen geben, dass in ihrer Wagschale jetzt gleichviel E r z liege: w a r u m wolle man nicht gut Freund mit einander sein? — G l e i c h g e w i c h t ist also ein sehr wichtiger Begriff f ü r die älteste Rechts- und Morallehre; Gleichgewicht ist die Basis der Gerechtigkeit. Wenn diese in roheren Zeiten sagt „ A u g e u m Auge, Zahn u m Z a h n " , so setzt sie das erreichte Gleichgewicht voraus und will es v e r m ö g e dieser Vergeltung e r h a l t e n : sodass, wenn jetzt der Eine sich gegen den Andern vergeht, der Andere keine Rache der blinden Erbitterung mehr nimmt. Sondern v e r m ö g e des jus talionis wird das Gleichgewicht der gestörten Machtverhältnisse w i e d e r h e r g e s t e l l t : denn ein Auge, ein A r m m e h r ist in solchen Urzuständen ein Stück Macht, ein Gewicht mehr. — Innerhalb einer Gemeinde, in der Alle sich als gleichgewichtig betrachten, ist gegen Vergehungen, das heisst gegen Durchbrechungen des Princips des Gleichgewichtes, S c h a n d e und S t r a f e da: Schande, ein Gewicht, eingesetzt gegen den übergreifenden Einzelnen, der durch den Uebergriff sich Vortheile verschafft hat, durch die Schande nun wieder Nachtheile erfährt, die den früheren Vortheil aufheben und ü b e r w i e g e n . Ebenso steht es mit der Strafe: sie stellt gegen das Uebergewicht, das sich jeder Verbrecher zuspricht, ein viel grösseres Gegengewicht auf, gegen Gewaltthat den Kerkerzwang, gegen den Diebstahl den Wiederersatz und die Strafsumme. So wird der Frevler e r i n n e r t , dass er mit seiner
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H a n d l u n g a u s der Gemeinde und deren Moral-V o r t h e i l e n ausschied: sie behandelt ihn wie einen Ungleichen, Schwachen, ausser ihr Stehenden; desshalb ist Strafe nicht nur Wiedervergeltung, sondern hat ein M e h r , ein Etwas von der H ä r t e 5 d e s N a t u r z u s t a n d e s ; an d i e s e n will sie eben e r innern. 23Ob die A n h ä n g e r der Lehre vom f r e i e n Will e n s t r a f e n d ü r f e n ? — Die Menschen, welche von Berufswegen richten und strafen, suchen in jedem Falle festzustellen, ob ein Uebelthäter überhaupt f ü r seine That verantwortlich ist, ob er seine Vernunft anwenden k o n n t e , ob er aus G r ü n d e n handelte und nicht unbewusst oder im Zwange. Straft man ihn, so straft man, dass er die schlechteren Gründe den I S besseren vorzog: welche er also g e k a n n t haben muss. Wo diese Kentniss fehlt, ist der Mensch nach der herrschenden Ansicht unfrei und nicht verantwortlich: es sei denn, dass seine U n kenntniss, zum Beispiel seine ignorantia legis, die Folge einer absichtlichen Vernachlässigung des Erlernens ist; dann hat er also schon damals, als er nicht lernen wollte was er sollte, die schlechteren G r ü n d e den besseren vorgezogen, und muss jetzt die Folge seiner schlechten Wahl büssen. Wenn er dagegen die besseren G r ü n d e nicht gesehen hat, etwa aus Stumpf- u n d Blödsinn, so pflegt man nicht zu strafen: es hat ihm, wie man sagt, 2 5 die Wahl gefehlt, er handelte als Thier. Die absichtliche Verleugnung der besseren Vernunft ist jetzt die Voraussetzung, die man beim strafwürdigen Verbrecher macht. Wie kann aber Jemand absichtlich unvernünftiger sein, als er sein muss? Woher die E n t scheidung, wenn die Wagschalen mit guten und schlechten Mo3° tiven belastet sind? Also nicht vom I r r t h u m , von der Blindheit her, nicht von einem äusseren, auch von keinem inneren Zwange her (man erwäge übrigens, dass jeder sogenannte „äussere Zwang" Nichts weiter ist, als der innere Zwang der Furcht und
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des Schmerzes). Woher? fragt man immer wieder. Die V e r n u n f t soll also nicht die Ursache sein, weil sie sich nicht gegen die besseren Gründe entscheiden könnte? Hier nun ruft man den „freien Willen" zu Hülfe: es soll das v o l l e n d e t e B e l i e b e n entscheiden, ein Moment eintreten, wo kein Motiv wirkt, wo die That als Wunder geschieht, aus dem Nichts heraus. Man straft diese angebliche B e l i e b i g k e i t , in einem Falle, wo kein Belieben herrschen sollte: die Vernunft, welche das Gesetz, das Verbot und Gebot kennt, hätte gar keine Wahl lassen dürfen, meint man, und als Zwang und höhere Macht wirken sollen. Der Verbrecher wird also bestraft, weil er vom „freien Willen" Gebrauch macht, das heisst weil er ohne Grund gehandelt hat, wo er nach Gründen hätte handeln sollen. Aber w a r u m that er diess? Diess eben darf nicht einmal mehr g e f r a g t werden: es war eine That ohne „darum", ohne Motiv, ohne Herkunft, etwas Zweckloses und Vernunftloses. — E i n e s o l c h e T h a t d ü r f t e m a n a b e r , nach der ersten oben vorangeschickten Bedingung aller Strafbarkeit, a u c h n i c h t s t r a f e n ! Auch jene Art der Strafbarkeit darf nicht geltend gemacht werden, als wenn hier Etwas n i c h t gethan, Etwas unterlassen, von der Vernunft n i c h t Gebrauch gemacht sei; denn unter allen U m ständen geschah die Unterlassung o h n e A b s i c h t ! und nur die absichtliche Unterlassung des Gebotenen gilt als strafbar. Der Verbrecher hat zwar die schlechteren Gründe den besseren vorgezogen, aber o h n e Grund und Absicht: er hat zwar seine Vernunft nicht angewendet, aber nicht, u m sie nicht anzuwenden. Jene Voraussetzung, die man beim strafwürdigen Verbrecher macht, dass er seine Vernunft absichtlich verleugnet habe, — gerade sie ist bei der Annahme des „freien Willens" aufgehoben. Ihr d ü r f t nicht strafen, ihr Anhänger der Lehre vom „freien Willen", nach euern eigenen Grundsätzen nicht! — Diese sind aber im Grunde Nichts, als eine sehr wunderliche BegriffsMythologie; und das Huhn, welches sie ausgebrütet hat, hat abseits von aller Wirklichkeit auf seinen Eiern gesessen.
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Z u r B e u r t h e i l u n g des V e r b r e c h e r s u n d sein e s R i c h t e r s . — Der Verbrecher, der den ganzen Fluss der Umstände kennt, findet seine That nicht so ausser der O r d n u n g 5 und Begreiflichkeit, wie seine Richter und Tadler; seine Strafe aber wird ihm gerade nach dem Grade von E r s t a u n e n zugemessen, welches jene beim Anblick der T h a t als einer Unbegreiflichkeit befällt. — Wenn die Kenntniss, welche der Vertheidiger eines Verbrechers von dem Fall und seiner Vorgeschichte 10 hat, weit genug reicht, so m ü s s e n die sogenannten Milderungsgründe, welche er der Reihe nach vorbringt, endlich die ganze Schuld hinwegmildern. Oder, noch deutlicher: der Vertheidiger wird schrittweise jenes verurtheilende und Strafe zumessende E r s t a u n e n m i l d e r n und zuletzt ganz auf15 heben, indem er jeden ehrlichen Zuhörer zu dem inneren Geständniss nöthigt: „er musste so handeln, wie er gehandelt hat; wir würden, wenn wir straften, die ewige Nothwendigkeit bestrafen." — Den Grad der Strafe abmessen nach dem G r a d d e r K e n n t n i s s , welchen man von der Historie eines Veras brechens hat o d e r ü b e r h a u p t g e w i n n e n k a n n , — streitet diess nicht wider alle Billigkeit? —
D e r T a u s c h u n d d i e B i l l i g k e i t . — Bei einem Tausche würde es nur dann ehrlich und rechtlich zugehen, wenn Jeder der beiden Tauschenden so viel verlangte, als ihm seine Sache werth scheint, die Mühe des Erlangens, die Seltenheit, die aufgewendete Zeit u. s. w. in Anschlag gebracht, nebst dem Affectionswerthe. Sobald er den Preis i n H i n s i c h t a u f d a s B e d ü r f n i s s d e s A n d e r n macht, ist er ein feinerer 3° Räuber und Erpresser. — Ist Geld das eine Tauschobject, so ist zu erwägen, dass ein Frankenthaler in der H a n d eines reichen Erben, eines Tagelöhners, eines Kaufmannes, eines Studenten
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ganz verschiedene Dinge sind: Jeder wird, je nachdem er fast Nichts oder Viel that, ihn zu erwerben, Wenig oder Viel dafür empfangen dürfen, — so wäre es billig: in Wahrheit steht es bekanntlich umgekehrt. In der grossen Geldwelt ist der Thaler $ des faulsten Reichen gewinnbringender, als der des Armen und Arbeitsamen.
2 6. R e c h t s z u s t ä n d e a l s M i t t e l . — Recht, auf Verträgen zwischen G l e i c h e n beruhend, besteht, solange die Macht io Derer, die sich vertragen haben, eben gleich oder ähnlich ist; die Klugheit hat das Recht geschaffen, um der Fehde und der n u t z l o s e n Vergeudung zwischen ähnlichen Gewalten ein Ende zu machen. Dieser aber ist e b e n s o e n d g ü l t i g ein Ende gemacht, wenn der eine Theil entschieden s c h w ä c h e r , 15 als der andere, g e w o r d e n ist: dann tritt Unterwerfung ein und das Recht h ö r t a u f , aber der Erfolg ist der selbe wie der, welcher bisher durch das Recht erreicht wurde. Denn jetzt ist es die K l u g h e i t des Ueberwiegenden, welche die Kraft des Unterworfenen zu s c h o n e n und nicht nutzlos zu vergeuden anräth: und oft ist die Lage des Unterworfenen günstiger, als die des Gleichgestellten war. — Rechtszustände sind also zeitweilige M i t t e l , welche die Klugheit anräth, keine Ziele. —
E r k l ä r u n g d e r S c h a d e n f r e u d e . — Die Schaden25 freude entsteht daher, dass ein Jeder in mancher ihm wohl bewussten Hinsicht sich schlecht befindet, Sorge oder Reue oder Schmerz hat: der Schaden, der den Andern betrifft, stellt diesen ihm g l e i c h , er versöhnt seinen Neid. — Befindet er gerade sich selber gut, so sammelt er doch das Unglück des Nächsten als 3° ein Capital in seinem Bewusstsein auf, um es bei einbrechendem
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eigenen Unglück gegen dasselbe einzusetzen; auch so hat er „Schadenfreude." Die auf Gleichheit gerichtete Gesinnung wirft also ihren Maassstab aus auf das Gebiet des Glücks u n d des Zufalls: Schadenfreude ist der gemeinste Ausdruck über den Sieg u n d die Wiederherstellung der Gleichheit, auch innerhalb der höheren Weltordnung. Erst seitdem der Mensch gelernt hat, in anderen Menschen seines Gleichen zu sehen, also erst seit Begründung der Gesellschaft, giebt es Schadenfreude.
28. D a s W i l l k ü r l i c h e im Z u m e s s e n d e r S t r a f e n . — Die meisten Verbrecher kommen zu ihren Strafen wie die Weiber zu ihren Kindern. Sie haben zehn- und h u n d e r t m a l das Selbe gethan, ohne übele Folgen zu spüren: plötzlich k o m m t eine Entdeckung und hinter ihr die Strafe. Die Gewohnheit sollte doch die Schuld der That, derentwegen der Verbrecher gestraft wird, entschuldbarer erscheinen lassen; es ist ja ein H a n g entstanden, dem schwerer zu widerstehen ist. Anstatt dessen, wird er, wenn der Verdacht des gewohnheitsmässigen Verbrechens vorliegt, härter gestraft; die Gewohnheit wird als G r u n d gegen alle Milderung geltend gemacht. Eine vorherige musterhafte Lebensweise, gegen welche das Verbrechen u m so fürchterlicher absticht, sollte die Schuldbarkeit verschärft erscheinen lassen! Aber sie pflegt die Strafe zu mildern. So wird Alles nicht nach dem Verbrecher bemessen, sondern nach der Gesellschaft u n d deren Schaden und Gefahr: frühere Nützlichkeit eines Menschen wird gegen seine einmalige Schädlichkeit eingerechnet, frühere Schädlichkeit zur gegenwärtig entdeckten addirt, u n d demnach die Strafe am höchsten zugemessen. Wenn man aber dergestalt die Vergangenheit eines Menschen mit straft oder mit belohnt (diess im ersten Fall, wo das Weniger-Strafen ein Belohnen ist), so sollte man noch weiter zurückgehen und die U r sache einer solchen oder solchen Vergangenheit strafen und be-
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lohnen, ich meine Eltern, Erzieher, die Gesellschaft u . s . w . ; in vielen Fällen wird man dann die R i c h t e r irgendwie bei der Schuld betheiligt finden. Es ist willkürlich, beim Verbrecher stehen zu bleiben, wenn man die Vergangenheit straft: m a n $ sollte, wenn man die absolute Entschuldbarkeit jeder Schuld nicht zugeben will, bei jedem einzelnen Fall stehn bleiben u n d nicht weiter zurückblicken: also die Schuld i s o 1 i r e n und sie gar nicht mit der Vergangenheit in V e r k n ü p f u n g bringen, — sonst wird man zum Sünder gegen die Logik. Zieht vielmehr, «o ihr Willens-Freien, den nothwendigen Schluss aus eurer Lehre von der „Freiheit des Willens" und decretirt kühnlich: „ k e i n e That hat eine Vergangenheit."
29. D e r N e i d u n d s e i n e d l e r e r B r u d e r . — Wo die 15 Gleichheit wirklich durchgedrungen und dauernd begründet ist, entsteht jener, im Ganzen als unmoralisch geltende Hang, der im Naturzustande kaum begreiflich wäre: der N e i d . Der Neidische fühlt jedes Hervorragen des Anderen über das gemeinsame Maass und will ihn bis dahin herabdrücken — oder sich bis 10 dorthin erheben: woraus sich zwei verschiedene Handlungsweisen ergeben, welche Hesiod als die böse u n d die gute Eris bezeichnet hat. Ebenso entsteht im Zustande der Gleichheit die Indignation darüber, dass es einem Anderen u n t e r seiner Würde und Gleichheit schlecht ergeht, einem Zweiten über sei2 J ner Gleichheit gut: es sind diess Affecte e d l e r e r N a t u r e n . Sie vermissen in den Dingen, welche von der Willkür des Menschen unabhängig sind, Gerechtigkeit und Billigkeit, das heisst: sie verlangen, dass jene Gleichheit, die der Mensch anerkennt, nun auch von der N a t u r und dem Zufall anerkannt werde; sie zür3° nen darüber, dass es den Gleichen nicht gleich ergeht.
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30.
N e i d d e r G ö t t e r . — Der „Neid der Götter" entsteht, wenn der niedriger Geachtete sich irgendworin dem Höheren gleichsetzt (wie Ajax) oder durch Gunst des Schicksals ihm gleichgesetzt w i r d (wie Niobe als überreich gesegnete Mutter). Innerhalb der g e s e l l s c h a f t l i c h e n Rangordnung stellt dieser Neid die Forderung auf, dass ein Jeder kein Verdienst ü b e r seinem Stande habe, auch dass sein Glück diesem gemäss sei und namentlich dass sein Selbstbewusstsein jenen Schranken nicht entwachse. Oft erfährt der siegreiche General den „Neid der Götter", ebenso der Schüler, der ein meisterliches Werk schuf.
3iE i t e l k e i t als N a c h t r i e b des u n g e s e l l s c h a f t l i c h e n Z u s t a n d e s . — Da die Menschen ihrer Sicherheit wegen sich selber als einander g l e i c h gesetzt haben, zur Gründung der Gemeinde, diese Auffassung aber im Grunde wider die Natur des Einzelnen geht und etwas Erzwungenes ist, so machen sich, je mehr die allgemeine Sicherheit gewährleistet ist, neue Schösslinge des alten Triebes nach Uebergewicht geltend: in der Abgränzung der Stände, in dem Anspruch auf Berufs-Würden und -Vorrechte, überhaupt in der Eitelkeit (Manieren, Tracht, Sprache u. s. w.). Sobald einmal die Gefahr des Gemeinwesens wieder fühlbar wird, drücken die Zahlreicheren, welche ihr Uebergewicht nicht im Zustande der allgemeinen Ruhe durchsetzen konnten, wieder den Zustand der Gleichheit hervor: die absurden Sonderrechte und Eitelkeiten verschwinden auf einige Zeit. Stürzt aber das Gemeinwesen ganz zusammen, geräth Alles in Anarchie, so bricht sofort der Naturzustand, die unbekümmerte, rücksichtslose Ungleichheit hervor, wie diess auf Korkyra geschah, nach dem Berichte des Thukydides. Es giebt weder ein Naturrecht, noch ein Naturunrecht.
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32. B i l l i g k e i t . — Eine Fortbildung der Gerechtigkeit ist die Billigkeit, entstehend unter Solchen, welche nicht gegen die Gemeinde-Gleichheit Verstössen: es wird auf Fälle, wo das Gesetz Nichts vorschreibt, jene feinere Rücksicht des Gleichgewichts übertragen, welche vor- und rückwärts blickt, und deren Maxime ist „wie du mir, so ich dir". Aequum heisst eben „es ist g e m ä s s u n s e r e r G l e i c h h e i t ; diese mildert auch unsere kleinen Verschiedenheiten zu einem Anschein von Gleichheit herab und will, dass wir Manches uns nachsehen, was wir nicht m ü s s t e n."
33E l e m e n t e d e r R a c h e . — Das Wort „Rache" ist so schnell gesprochen: fast scheint es, als ob es gar nicht mehr enthalten könne, als Eine Begriffs- und Empfindungswurzel. Und so bemüht man sich immer noch, dieselbe zu finden: wie unsere Nationalökonomen noch nicht müde geworden sind, im Worte „Werth" eine solche Einheit zu wittern und nach dem ursprünglichen Wurzel-Begriff des Werthes zu suchen. Als ob nicht alle Worte Taschen wären, in welche bald Diess, bald Jenes, bald Mehreres auf einmal gesteckt worden ist! So ist auch „Radie" bald Diess, bald Jenes, bald etwas sehr Zusammengesetztes. Man unterscheide einmal jenen abwehrenden Zurückschlag, den man fast unwillkürlich auch gegen leblose Gegenstände, die uns beschädigt haben (wie gegen bewegte Maschinen), ausführt: der Sinn unserer Gegenbewegung ist, dem Beschädigen Einhalt zu thun, dadurch dass wir die Maschine zum Stillstand bringen. Die Stärke des Gegenschlags muss mitunter, um diess zu erreichen, so stark sein, dass er die Maschine zertrümmert; wenn dieselbe aber zu stark ist, um vom Einzelnen sofort zerstört werden zu können, wird dieser doch immer noch den heftigsten Schlag ausführen, dessen er fähig ist, — gleichsam als einen letzten Ver-
2. D e r W a n d e r e r u n d sein Schatten 3 2 — 3 3
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such. So benimmt man sich auch gegen schädigende Personen bei der unmittelbaren Empfindung des Schadens selber; will man diesen Act einen Rache-Act nennen, so mag es sein; nur erwäge man, dass hier allein die S e l b s t - E r h a l t u n g ihr Vernunft5 Räderwerk in Bewegung gesetzt hat, und dass man im Grunde nicht an den Schädiger, sondern nur an sich dabei denkt: wir handeln so, o h n e wieder schaden zu wollen, sondern nur, um noch mit Leib und Leben d a v o n z u k o m m e n . — Man braucht Z e i t , wenn man von sich mit seinen Gedanken zum 10 Gegner übergeht und sich fragt, auf welche Weise er am empfindlichsten zu treffen ist. Diess geschieht bei der zweiten Art von Rache: ein Nachdenken über die Verwundbarkeit und Leidensfähigkeit des Andern ist ihre Voraussetzung; man will wehe thun. Dagegen sich selber gegen weiteren Schaden sichern, liegt hier so wenig im Gesichtskreis des Rachenehmenden, dass er fast regelmässig den weiteren eignen Schaden zu Wege bringt und ihm sehr oft kaltblütig vorher entgegensieht. War es bei der ersten Art von Rache die Angst vor dem zweiten Schlage, welche den Gegenschlag so stark wie möglich machte: so ist hier fast völlige Gleichgültigkeit gegen Das, was der Gegner thun w i r d ; die Stärke des Gegenschlags wird nur durch Das, was er uns gethan h a t , bestimmt. — Was hat er denn gethan? Und was nützt es uns, wenn er nun leidet, nachdem wir durch ihn gelitten haben? Es handelt sich um eine W i e d e r h e r s t e l l u n g : während der Rache-Act erster Art nur der S e l b s t - E r h a l t u n g dient. Vielleicht verloren wir durch den Gegner Besitz, Rang, Freunde, Kinder, — diese Verluste werden durch die Rache nicht zurückgekauft, die Wiederherstellung bezieht sich allein auf einen N e b e n v e r l u s t bei allen den erwähnten Ver3° lusten. Die Rache der Wiederherstellung bewahrt nicht vor weiterem Schaden, sie macht den erlittenen Schaden nicht wieder gut, — ausser in Einem Falle. Wenn unsere E h r e durch den Gegner gelitten hat, so vermag die Rache sie w i e d e r h e r z u s t e l l e n . Sie hat aber in jedem Falle einen Schaden erlitten,
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wenn man uns absichtlich ein Leid z u f ü g t e : denn der Gegner bewies damit, dass er uns nicht f ü r c h t e t e . Durch die Rache beweisen wir, dass wir auch ihn nicht fürchten: darin liegt die Ausgleichung, die Wiederherstellung. (Die Absicht, den völligen Mangel an F u r c h t zu zeigen, geht bei einigen Personen so weit, dass ihnen die Gefährlichkeit der Rache f ü r sie selbst (Einbusse der Gesundheit oder des Lebens, oder sonstige Verluste) als eine unerlässliche Bedingung jeder Rache gilt. Desshalb gehen sie den Weg des Duells, obschon die Gerichte ihnen den A r m bieten, u m auch so Genugthuung f ü r die Beleidigung zu erhalten: sie nehmen aber die gefahrlose Wiederherstellung ihrer Ehre nicht als genügend an, weil sie ihren Mangel an Furcht nicht beweisen kann.) — Bei der ersterwähnten A r t der Rache ist es gerade die Furcht, die den Gegenschlag ausführt: hier dagegen ist es die Abwesenheit der Furcht, welche, wie gesagt, durch den Gegenschlag s i c h b e w e i s e n w i l l . — Nichts scheint also verschiedener, als die innere Motivirung der beiden Handlungsweisen, die mit Einem W o r t „ R a c h e " benannt werden: und t r o t z d e m k o m m t es sehr häufig vor, dass der Rache-Uebende in Unklarheit ist, was ihn eigentlich zur T h a t bestimmt hat; vielleicht, dass er aus Furcht und u m sich zu erhalten den Gegenschlag führte, hinterher aber, als er Zeit hatte, über den Gesichtspunct der verletzten Ehre nachzudenken, selber sich einredet, seiner Ehre halber sich gerächt zu haben: — dieses M o t i v ist ja jedenfalls v o r n e h m e r , als das andere. Dabei ist noch wesentlich, ob er seine Ehre in den Augen der Anderen (der Welt) beschädigt sieht oder nur in den Augen des Beleidigers: im letztern Falle wird er die geheime Rache vorziehen, im erstem aber die öffentliche. J e nachdem ersieh stark oder schwach in die Seele des Thäters und der Zuschauer hineindenkt, wird seine Rache erbitterter oder zahmer sein; fehlt ihm diese A r t Phantasie ganz, so wird er gar nicht an Rache denken; denn das G e f ü h l der „ E h r e " ist dann bei ihm nicht vorhanden, also auch nicht zu verletzen. Ebenso wird er nicht an Rache denken, wenn
2. Der Wanderer und sein Schatten 3 3 — 3 4
5
10
!
5
2°
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er den Thäter und die Zuschauer der That v e r a c h t e t : weil sie ihm keine Ehre geben können, als Verachtete, und demnach auch keine Ehre nehmen können. Endlich wird er auf Rache in dem nicht ungewöhnlichen Falle verzichten, dass er den Thäter liebt: freilich büsst er so in dessen Augen an Ehre ein und wird vielleicht der Gegenliebe dadurch weniger würdig. Aber auch auf alle Gegenliebe Verzicht leisten, ist ein Opfer, welches die Liebe zu bringen bereit ist, wenn sie dem geliebten Wesen nur nicht w e h e t h u n m u s s : diess hiesse sich selber mehr wehe thun, als jenes Opfer wehe thut. — Also: Jedermann wird sich rächen, er sei denn ehrlos oder voll Verachtung oder voll Liebe gegen den Schädiger und Beleidiger. Auch wenn er sich an die Gerichte wendet, so will er die Rache als private Person: n e b e n b e i aber noch, als weiterdenkender vorsorglicher Mensch der Gesellschaft, die Rache der Gesellschaft an Einem, der sie nicht e h r t . So wird durch die gerichtliche Strafe sowohl die Privatehre als auch die Gesellschaftsehre w i e d e r h e r g e s t e l l t : das heisst — Strafe ist Rache. — Es giebt in ihr unzweifelhaft auch noch jenes andere, zuerst beschriebene Element der Rache, insofern durch sie die Gesellschaft ihrer S e l b s t - E r h a l t u n g dient und der N o t h w e h r halber einen Gegenschlag führt. Die Strafe will das w e i t e r e Schädigen verhüten, sie will a b s c h r e c k e n . Auf diese Weise sind wirklich in der Strafe beide so verschiedene Elemente der Rache verknüpft, und diess mag vielleicht am meisten dahin wirken, jene erwähnte Begriffsverwirrung zu unterhalten, vermöge deren der Einzelne, der sich rächt, gewöhnlich nicht weiss, was er eigentlich will.
343°
D i e T u g e n d e n d e r E i n b u s s e . — Als Mitglieder von Gesellschaften glauben wir gewisse Tugenden nicht ausüben zu dürfen, die uns als Privaten die grösste Ehre und einiges Vergnügen machen, zum Beispiel Gnade und Nachsicht gegen Ver-
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fehlende aller Art, — überhaupt jede Handlungsweise, bei welcher der Vortheil der Gesellschaft durch unsere Tugend leiden würde. Kein Richter-Collegium darf sich v o r seinem Gewissen erlauben, gnädig zu sein: dem K ö n i g , a l s e i n e m E i n z e l 5 n e n , hat man diess Vorrecht aufbehalten; man freut sich, wenn er Gebrauch davon macht, z u m Beweise, dass m a n gern gnädig sein möchte, aber durchaus nicht als Gesellschaft. Diese erkennt somit nur die ihr vortheilhaften oder mindestens unschädlichen Tugenden an (die ohne Einbusse oder gar mit Zinsen geübt werden, z u m Beispiel Gerechtigkeit). J e n e Tugenden der Einbusse können demnach i n d e r G e s e l l s c h a f t nicht entstanden sein, da noch jetzt, innerhalb jeder kleinsten sich bildenden Gesellschaft der Widerspruch gegen sie sich erhebt. Es sind also Tugenden unter Nicht-Gleichgestellten, erfunden von dem 15 Ueberlegenen, Einzelnen, es sind H e r r s c h e r - T u g e n d e n , mit dem Hintergedanken, „ich bin mächtig genug, u m mir eine ersichtliche Einbusse gefallen zu lassen, diess ist ein Beweis meiner Macht" — also mit S t o l z verwandte Tugenden.
35-
20
C a s u i s t i k d e s V o r t h e i l s. — Es gäbe keine Casuistik der Moral, wenn es keine Casuistik des Vortheils gäbe. D e r freieste und feinste Verstand reicht oft nicht aus, zwischen zwei Dingen so zu wählen, dass der grössere Vortheil nothwendig bei seiner Wahl ist. In solchen Fällen wählt man, weil m a n wählen 25 muss, und hat hinterdrein eine A r t Seekrankheit der Empfindung.
36. Z u m H e u c h l e r w e r d e n . — Jeder Bettler wird z u m Heuchler; wie Jeder, der aus einem Mangel, aus einem N o t h 3° stand (sei diess ein persönlicher oder ein öffentlicher) seinen Be-
2. Der Wanderer und sein Schatten 3 4 — 3 9
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ruf macht. — Der Bettler empfindet den Mangel lange nicht so, wie er ihn empfinden m a c h e n muss, wenn er vom Betteln leben will.
37E i n e A r t C u l t u s d e r L e i d e n s c h a f t e n . — Ihr Düsterlinge und philosophischen Blindschleichen redet, um den Charakter des ganzen Weltwesens anzuklagen, von dem f u r c h t b a r e n C h a r a k t e r der menschlichen Leidenschaften. Als ob überall, wo es Leidenschaft gegeben hat, es auch Furchtbarkeit gegeben hätte! Als ob es immerfort in der Welt diese Art von Furchtbarkeit geben müsste! — Durch eine Vernachlässigung i m K l e i n e n , durch Mangel an Selbstbeobachtung und Beobachtung Derer, welche erzogen werden sollen, habt ihr selber erst die Leidenschaften zu solchen Unthieren anwachsen lassen, dass euch jetzt schon beim Worte „Leidenschaft" Furcht befällt! Es stand bei euch und steht bei uns, den Leidenschaften ihren furchtbaren Charakter zu n e h m e n und dermaassen vorzubeugen, dass sie nicht zu verheerenden Wildwassern werden. — Man soll seine Versehen nicht zu ewigen Fatalitäten aufblasen; vielmehr wollen wir redlich mit an der Aufgabe arbeiten, die Leidenschaften der Menschheit allesammt in Freudenschaften umzuwandeln.
38.
G e w i s s e n s b i s s . — Der Gewissensbiss ist, wie der Biss des Hundes gegen einen Stein, eine Dummheit.
39U r s p r u n g d e r R e c h t e . — Die Rechte gehen zunächst auf H e r k o m m e n zurück, das Herkommen auf ein einmali-
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Menschliches, Allzumenschliches I I
ges A b k o m m e n . Man war irgendwann einmal beiderseitig mit den Folgen des getroffenen Abkommens zufrieden und wiederum zu träge, um es förmlich zu erneuern; so lebte man fort, wie wenn es immer erneuert worden wäre, und allmählich, als die Vergessenheit ihre Nebel über den Ursprung breitete, glaubte man einen heiligen, unverrückbaren Zustand zu haben, auf dem jedes Geschlecht weiterbauen m ü s s e . Das Herkommen war jetzt Z w a n g , auch wenn es den Nutzen nicht mehr brachte, dessentwegen man ursprünglich das Abkommen gemacht hatte. — Die S c h w a c h e n haben hier ihre feste Burg zu allen Zeiten gefunden: sie neigen dahin, das einmalige Abkommen, die Gnadenerweisung, zu v e r e w i g e n .
40. D i e B e d e u t u n g d e s V e r g e s s e n s in d e r m o r a l i s c h e n E m p f i n d u n g . — Die selben Handlungen, welche innerhalb der ursprünglichen Gesellschaft zuerst die Absicht auf gemeinsamen N u t z e n eingab, sind später von anderen Generationen auf andere Motive hin gethan worden: aus Furcht oder Ehrfurcht vor Denen, die sie forderten und anempfahlen, oder aus Gewohnheit, weil man sie von Kindheit an um sich hatte thun sehen, oder aus Wohlwollen, weil ihre Ausübung überall Freude und zustimmende Gesichter schuf, oder aus Eitelkeit, weil sie gelobt wurden. Solche Handlungen, an denen das Grundmotiv, das der Nützlichkeit, v e r g e s s e n worden ist, heissen dann m o r a l i s c h e : nicht etwa, weil sie aus jenen a n d e r e n Motiven, sondern weil sie n i c h t aus bewusster Nützlichkeit gethan werden. — Woher dieser H a s s gegen den Nutzen, der h i e r sichtbar wird, wo sich alles lobenswerthe Handeln gegen das Handeln um des Nutzens willen förmlich abschliesst? — Offenbar hat die Gesellschaft, der Heerd aller Moral und aller Lobsprüche des moralischen Handelns, allzu lange und allzu hart mit dem Eigen-Nutzen und Eigen-Sinne
2. Der Wanderer und sein Schatten 39—41
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des Einzelnen zu kämpfen gehabt, um nicht zuletzt j e d e s a n d e r e Motiv sittlich höher zu taxiren, als den Nutzen. So entsteht der Anschein, als ob die Moral n i c h t aus dem Nutzen herausgewachsen sei: während sie ursprünglich der GesellschaftsNutzen ist, der grosse Mühe hatte, sich gegen alle die PrivatNützlichkeiten durchzusetzen und in höheres Ansehen zu bringen.
41.
D i e E r b r e i c h e n d e r M o r a l i t ä t . — Es giebt auch im Moralischen einen E r b reichthum: ihn besitzen die Sanften, Gutmüthigen, Mitleidigen, Mildthätigen, welche Alle die gute H a n d l u n g s w e i s e , aber nicht die Vernunft (die Quelle derselben) von ihren Vorfahren her mitbekommen haben. Das Angenehme an diesem Reichthum ist, dass man von ihm fortwährend darreichen und mittheilen muss, wenn er überhaupt empfunden werden soll, und dass er so unwillkürlich daran arbeitet, die Abstände zwischen moralisch-reich und -arm geringer zu machen: und zwar, was das Merkwürdigste und Beste ist, n i c h t zu Gunsten eines dereinstigen Mittelmaasses zwischen arm und reich, sondern zu Gunsten eines a l l g e m e i n e n Reich- und Ueberreich-werdens. — So wie hier geschehen ist, lässt sich etwa die herrschende Ansicht über den moralischen Erbreichthum zusammenfassen: aber es scheint mir, dass dieselbe mehr in majorem gloriam der Moralität, als zu Ehren der Wahrheit aufrecht erhalten wird. Die Erfahrung mindestens stellt einen Satz auf, welcher, wenn nicht als Widerlegung, jedenfalls als bedeutende Einschränkung jener Allgemeinheit zu gelten hat. Ohne den erlesensten Verstand, so sagt die Erfahrung, ohne die Fähigkeit der feinsten Wahl und einen s t a r k e n H a n g z u m M a a s s h a l t e n , werden die Moralisch-Erbreichen zu Verschwendern der Moralität: indem sie haltlos sich ihren mitleidigen, mildthätigen, versöhnenden, beschwichtigen-
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Menschliches, A l l z u m e n s d i l i c h e s I I
den Trieben überlassen, machen sie alle Welt u m sich nachlässiger, begehrlicher u n d sentimentaler. Die Kinder solcher höchst moralischen Verschwender sind daher leicht — und wie leider zu sagen ist, bestenfalls — angenehme schwächliche Taugenichtse. 42. Der R i c h t e r und die M i l d e r u n g s g r ü n d e . — „Man soll auch gegen den Teufel honett sein und seine Schulden bezahlen", sagte ein alter Soldat, als man ihm die Geschichte Faustens etwas genauer erzählt hatte, „Faust gehört in die Hölle!" — „Oh, ihr schrecklichen Männer!" rief seine Gattin aus, „wie ist das nur möglich! Er hat ja Nichts gethan, als keine Tinte im Tinfenfass gehabt! Mit Blut schreiben ist freilich eine Sünde, aber desshalb soll ein so schöner Mann doch nicht brennen?" 43-
P r o b l e m d e r P f l i c h t z u r W a h r h e i t . — Pflicht ist ein zwingendes, zur T h a t drängendes Gefühl, das wir gut nennen u n d f ü r undiscutirbar halten (— über Ursprung, Gränze u n d Berechtigung desselben wollen wir nicht reden und nicht geredet haben). Der Denker hält aber Alles f ü r geworden und alles Gewordene f ü r discutirbar, ist also der Mann ohne Pflicht, — solange er eben nur Denker ist. Als solcher würde er also auch die Pflicht, die Wahrheit zu sehen und zu sagen, nicht anerkennen und diess Gefühl nicht fühlen; er fragt: woher k o m m t sie? wohin will sie?, aber diess Fragen selber wird von ihm als fragwürdig angesehen. H ä t t e diess aber nicht zur Folge, dass die Maschine des Denkers nicht mehr recht arbeitet, wenn er sich beim Acte des Erkennens wirklich u n v e r p f l i c h t e t f ü h l e n könnte? Insofern scheint hier zur H e i z u n g das selbe Element nöthig zu sein, das vermittelst der Maschine
2. D e r W a n d e r e r u n d sein Schatten 41—45
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untersucht werden soll. — Die Formel würde vielleicht sein: a n g e n o m m e n , es gäbe eine Pflicht, die Wahrheit zu erkennen, wie lautet die Wahrheit dann in Bezug auf jede andere A r t von Pflicht? — A b e r ist ein hypothetisches Pflichtgefühl nicht 5 ein Widersinn? — 44S t u f e n d e r M o r a l . — Moral ist zunächst ein Mittel, die Gemeinde überhaupt zu erhalten und den Untergang von ihr abzuwehren; sodann ist sie ein Mittel, die Gemeinde auf einer io gewissen H ö h e und in einer gewissen Güte zu erhalten. Ihre Motive sind F u r c h t und H o f f n u n g : und zwar um so derbere, mächtigere, gröbere, als der Hang zum Verkehrten, Einseitigen, Persönlichen noch sehr stark ist. Die entsetzlichsten Angstmittel müssen hier Dienste thun, so lange noch keine mil1 5 deren wirken wollen und jene doppelte A r t der Erhaltung sich nicht anders erreichen lässt (zu ihren allerstärksten gehört die Erfindung eines Jenseits mit einer ewigen Hölle). Da muss es Foltern der Seele geben und Henkersknechte dafür. Weitere Stufen der Moral, und also Mittel zum bezeichneten Zwecke sind die 20 Befehle eines Gottes (wie das mosaische Gesetz); noch weitere und höhere die Befehle eines absoluten Pflichtbegriffs mit dem „du sollst", — Alles noch ziemlich grob zugehauene, aber b r e i t e Stufen, weil die Menschen auf die feineren, schmäleren, ihren Fuss noch nicht zu setzen wissen. Dann k o m m t eine Moral der N e i g u n g , des G e s c h m a c k s , endlich die der E i n s i c h t , — welche über alle illusionären Motive der Moral hinaus ist, aber sich klar gemacht hat, wie die Menschheit lange Zeiten hindurch keine anderen haben durfte.
3°
45M o r a l des M i t l e i d e n s im M u n d e d e r U n m ä s s i g e n. — Alle Die, welche sich selber nicht genug in der Ge-
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Menschliches, Allzumenschliches I I
walt haben und die Moralität nicht als fortwährende, im Grossen und Kleinsten geübte Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung kennen, werden unwillkürlich zu Verherrlichern der guten, mitleidigen, wohlwollenden Regungen, jener instictiven Moralität, welche keinen Kopf hat, sondern nur aus Herz und hülfreichen Händen zu bestehen scheint. Ja es ist in ihrem Interesse, eine Moralität der Vernunft zu verdächtigen und jene andere zur alleinigen zu machen.
46.
K l o a k e n d e r S e e l e . — Auch die Seele muss ihre bestimmten Kloaken haben, wohin sie ihren Unrath abfliessen lässt: dazu dienen Personen, Verhältnisse, Stände oder das Vaterland oder die Welt oder endlich — für die ganz Hoffährtigen (ich meine unsere lieben modernen „Pessimisten") — der liebe Gott.
47Eine Art von Ruhe und Beschaulichkeit.— Hüte dich, dass deine Ruhe und Beschaulichkeit nicht der des Hundes vor einem Fleischerladen gleicht, den die Furcht nicht vorwärts und die Begierde nicht rückwärts gehen lässt: und der die Augen aufsperrt, als ob sie Münder wären.
48.
D a s V e r b o t o h n e G r ü n d e . — Ein Verbot, dessen Grund wir nicht verstehen oder zugeben, ist nicht nur für den Trotzkopf, sondern auch für den Erkenntnissdurstigen fast ein Geheiss: man lässt es auf den Versuch ankommen, um so zu erfahren, w e s s halb das Verbot gegeben ist. Moralische Verbote,
2. Der W a n d e r e r u n d sein Schatten 45—51
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wie die des Dekalogs, passen nur f ü r Zeitalter der unterworfenen Vernunft: jetzt würde ein Verbot „du sollst nicht tödten", „du sollst nicht ehebrechen", ohne G r ü n d e hingestellt, eher eine schädliche, als eine nützliche Wirkung haben.
49C h a r a k t e r b i l d . — Was ist das f ü r ein Mensch, der von sich sagen kann: „ich verachte sehr leicht, aber hasse nie. An jedem Menschen finde ich sofort Etwas heraus, das zu ehren ist u n d dessentwegen ich ihn ehre; die sogenannten liebenswürdigen Eigenschaften ziehen mich wenig an."
50.
M i t l e i d e n u n d V e r a c h t u n g . — Mitleiden äussern wird als ein Zeichen der Verachtung empfunden, weil man ersichtlich aufgehört hat, ein Gegenstand der F u r c h t zu sein, sobald Einem Mitleiden erwiesen wird. Man ist unter das N i veau des Gleichgewichts hinabgesunken, während schon jenes der menschlichen Eitelkeit nicht genugthut, sondern erst das Hervorragen und Furchteinflössen der Seele das erwünschteste aller Gefühle giebt. Desshalb ist es ein Problem, wie die S c h ä t z u n g des Mitleides aufgekommen ist, ebenso wie erklärt werden muss, w a r u m jetzt der Uneigennützige gelobt wird: ursprünglich wird er v e r a c h t e t oder als tückisch g e fürchtet.
5iK l e i n s e i n k ö n n e n . — Man muss den Blumen, Gräsern und Schmetterlingen auch noch so nahe sein wie ein Kind, das nicht viel über sie hinwegreicht. Wir Aelteren dagegen sind über sie hinausgewachsen und müssen uns zu ihnen herablassen;
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ich meine, die Gräser h a s s e n uns, wenn wir unsere Liebe f ü r sie bekennen. — Wer an a l l e m Guten Theil haben will, muss auch zu Stunden klein zu sein verstehen.
I n h a l t d e s G e w i s s e n s . — Der Inhalt unseres Gewissens ist Alles, was in den Jahren der Kindheit von uns ohne G r u n d regelmässig g e f o r d e r t wurde, durch Personen, die wir verehrten oder fürchteten. V o m Gewissen aus wird also jenes Gefühl des Müssens erregt („dieses muss ich thun, dieses lassen"), welches nicht fragt: w a r u m muss ich? — In allen Fällen, wo eine Sache mit „weil" und „warum" gethan wird, handelt der Mensch o h n e Gewissen; desshalb aber noch nicht wider dasselbe. — Der Glaube an Autoritäten ist die Quelle des Gewissens: es ist also nicht die Stimme Gottes in der Brust des Menschen, sondern die Stimme einiger Menschen im Menschen.
53Ueberwindung d e r L e i d e n s c h a f t e n . — Der Mensch, der seine Leidenschaften überwunden hat, ist in den Besitz des fruchtbarsten Erdreiches getreten: wie der Colonist, der über die Wälder und Sümpfe H e r r geworden ist. Auf dem Boden der bezwungenen Leidenschaften den Samen der guten geistigen Werke s ä e n , ist dann die dringende nächste Aufgabe. Die Ueberwindung selber ist nur ein M i t t e l , kein Ziel; wenn sie nicht so angesehen wird, so wächst schnell allerlei U n kraut und Teufelszeug auf dem leergewordenen fetten Boden auf, u n d bald geht es auf ihm voller und toller zu, als je vorher.
54G e s c h i c k z u m D i e n e n . — Alle sogenannten praktischen Menschen haben ein Geschick z u m Dienen: das eben
2. Der Wanderer und sein Schatten 51—57
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macht sie praktisch, sei es für Andere oder für sich selber. Robinson besass noch einen besseren Diener, als Freitag war: das war Crusoe. 55-
G e f a h r der S p r a c h e f ü r die h e i t . — Jedes Wort ist ein Vorurtheil.
geistige
Frei-
$6.
G e i s t u n d L a n g e w e i l e . — Das Sprüchwort: „Der Magyar ist viel zu faul, um sich zu langweilen", giebt zu denken. Die feinsten und thätigsten Thiere erst sind der Langenweile fähig. — Ein Vorwurf für einen grossen Dichter wäre die L a n g e w e i l e G o t t e s am siebenten Tage der Schöpfung.
57I m V e r k e h r m i t d e n T h i e r e n. — Man kann das Entstehen der Moral in unserem Verhalten gegen die Thiere noch beobachten. Wo Nutzen und Schaden n i c h t in Betracht kommen, haben wir ein Gefühl der völligen Unverantwortlichkeit; wir tödten und verwunden zum Beispiel Insecten oder lassen sie leben und denken für gewöhnlich gar Nichts dabei. Wir sind so plump, dass schon unsere Artigkeiten gegen Blumen und kleine Thiere fast immer mörderisch sind: was unser Vergnügen an ihnen gar nicht beeinträchtigt. — Es ist heute das Fest der kleinen Thiere, der schwülste Tag des Jahres: es wimmelt und krabbelt um uns, und wir zerdrücken, ohne es zu wollen, a b e r a u c h ohne Acht zu geben, bald hier, bald dort ein Würmchen und gefiedertes Käferchen. — Bringen die Thiere uns Schaden, so erstreben wir auf jede Weise ihre V e r n i c h t u n g , die Mittel sind oft grausam genug ohne dass wir diess
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eigentlich wollen: es ist die Grausamkeit der Gedankenlosigkeit. N ü t z e n sie, so b e u t e n wir sie a u s : bis eine feinere Klugheit uns lehrt, dass gewisse Thiere f ü r eine andere Behandlung, nämlich f ü r die der Pflege und Zucht reichlich lohnen. Da erst entsteht Verantwortlichkeit. Gegen das Hausthier wird die Quälerei gemieden; der eine Mensch empört sich, wenn ein anderer unbarmherzig gegen seine Kuh ist, ganz in Gemässheit der primitiven Gemeinde-Moral, welche den g e m e i n s a m e n N u t zen in Gefahr sieht, so oft ein Einzelner sich vergeht. Wer in der Gemeinde ein Vergehen w a h r n i m m t , fürchtet den indirecten Schaden f ü r sich: und wir fürchten f ü r die Güte des Fleisches, des Landbaues und der Verkehrsmittel, wenn wir die Hausthiere nicht gut behandelt sehen. Zudem erweckt der, welcher roh gegen Thiere ist, den Argwohn, auch roh gegen schwache, ungleiche, der Rache unfähige Menschen zu sein; er gilt als unedel, des feineren Stolzes ermangelnd. So entsteht ein Ansatz von moralischem Urtheilen und Empfinden: das Beste t h u t nun der Aberglaube hinzu. Manche Thiere reizen durch Blicke, Töne u n d Gebärden den Menschen an, sich i n s i e h i n e i n z u d i c h t e n , und manche Religionen lehren im Thiere unter Umständen den Wohnsitz von Menschen- und Götterseelen sehen: wesshalb sie überhaupt edlere Vorsicht, ja ehrfürchtige Scheu im Umgange mit den Thieren anempfehlen. Auch nach dem Verschwinden dieses Aberglaubens wirken die von ihm erweckten Empfindungen f o r t und reifen und blühen aus. — Das Christent h u m hat sich bekanntlich in diesem P u n k t e als arme und zurückbildende Religion bewährt.
j8.
N e u e S c h a u s p i e l e r . — Es giebt unter den Menschen keine grössere Banalität, als den Tod; zu zweit im Range steht die Geburt, weil nicht Alle geboren werden, welche doch sterben; dann folgt die Heirath. Aber diese kleinen abgespielten
2. Der W a n d e r e r und sein Schatten 57—60
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Tragikomödien werden bei jeder ihrer ungezählten und u n zählbaren A u f f ü h r u n g e n immer wieder von neuen Schauspielern dargestellt und hören desshalb nicht auf, interessirte Zuschauer zu haben: während man glauben sollte, dass die gesammte Zuschauerschaft des Erdentheaters sich längst, aus Ueberdruss daran, an allen Bäumen aufgehängt hätte. So viel liegt an neuen Schauspielern, so wenig am Stück.
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W a s i s t „ o b s t i n a t " ? — Der kürzeste Weg ist nicht der möglichst gerade, sondern der, bei welchem die günstigsten Winde unsere Segel schwellen: so sagt die Lehre der Schifffahrer. Ihr nicht zu folgen heisst o b s t i n a t sein: die Festigkeit des Charakters ist da durch D u m m h e i t verunreinigt.
6o. D a s W o r t „ E i t e l k e i t " . — Es ist lästig, dass einzelne Worte, deren wir Moralisten schlechterdings nicht entrathen können, schon eine A r t Sittencensur in sich tragen, aus jenen Zeiten her, in denen die nächsten und natürlichsten Regungen des Menschen verketzert wurden. So wird jene Grundüberzeugung, dass wir auf den Wellen der Gesellschaft viel mehr durch Das, was wir g e 11 e n , als durch Das, was wir s i n d , gutes Fahrwasser haben oder Schiffbruch leiden — eine Ueberzeugung, die f ü r alles Handeln in Bezug auf die Gesellschaft das Steuerruder sein muss — mit dem allgemeinsten Worte „Eitelkeit", „vanitas" bezeichnet und gebrandmarkt, eines der vollsten und inhaltreichsten Dinge mit einem Ausdruck, welcher dasselbe als das eigentlich Leere und Nichtige bezeichnet, etwas Grosses mit einem Deminutivum, ja mit den Federstrichen der Carricatur. Es hilft Nichts, wir müssen solche W o r t e gebrauchen, aber dabei unser O h r den Einflüsterungen alter Gewohnheit verschliessen.
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Menschliches, Allzumenschliches II
61. T ü r k e n f a t a l i s m u s . — D e r Türkenfatalismus hat den Grundfehler, dass er den Menschen und das F a t u m als zwei geschiedene Dinge einander gegenüberstellt: der Mensch, sagt er, könne dem F a t u m widerstreben, es zu vereiteln suchen, aber schliesslich behalte es immer den Sieg; wesshalb das Vernünftigste sei, zu resigniren oder nach Belieben zu leben. In Wahrheit ist jeder Mensch selber ein Stück F a t u m ; wenn er in der angegebenen Weise dem F a t u m zu widerstreben meint, so vollzieht sich eben darin auch das F a t u m ; der K a m p f ist eine Einbildung, aber ebenso jene Resignation in das F a t u m ; alle diese Einbildungen sind im F a t u m eingeschlossen. — Die Angst, welche die Meisten v o r der Lehre der Unfreiheit des Willens haben, ist die Angst vor dem Türkenfatalismus: sie meinen, der Mensch werde schwächlich, resignirt und mit gefalteten H ä n d e n v o r der Zukunft stehen, weil er an ihr Nichts zu ändern v e r m ö g e : oder aber, er werde seiner vollen Launenhaftigkeit die Zügel schiessen lassen, weil auch durch diese das einmal Bestimmte nicht schlimmer werden könne. Die Thorheiten des Menschen sind ebenso ein Stück F a t u m wie seine Klugheiten: auch jene A n g s t v o r dem Glauben an das F a t u m ist F a t u m . D u selber, armer Aengstlicher, bist die unbezwingliche Moira, welche noch über den G ö t t e r n thront, f ü r Alles, was da k o m m t ; du bist der Segen oder Fluch, und jedenfalls die Fessel, in welcher der Stärkste gebunden liegt; in dir ist alle Zukunft der MenschenWelt vorherbestimmt, es hift dir Nichts, wenn dir v o r dir selber graut.
62. A d v o c a t d e s T e u f e l s . — „ N u r durch eigenen Schaden wird m a n k l u g , nur durch fremden Schaden wird man g u t " , — so lautet jene seltsame Philosophie, welche alle M o r a lität aus dem Mitleiden und alle Intellectualität aus der Isolation
2. Der W a n d e r e r und sein Schatten 6 1 — 6 6
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des Menschen ableitet: damit ist sie unbewusst die Sachwalterin aller irdischen Schadhaftigkeit. Denn das Mitleiden hat das Leiden nöthig, und die Isolation die Verachtung der Anderen.
63.
D i e m o r a l i s c h e n C h a r a k t e r m a s k e n . — In den Zeiten, da die Charaktermasken der Stände für endgültig fest, gleich den Ständen selber, gelten, werden die Moralisten verführt sein, auch die m o r a l i s c h e n Charaktermasken für absolut zu halten und sie so zu zeichnen. So ist Molière als Zeitgenosse der Gesellschaft Ludwig's XIV. verständlich; in unserer Gesellschaft der Uebergänge und Mittelstufen würde er als ein genialer Pedant erscheinen.
64.
D i e v o r n e h m s t e T u g e n d . — In der ersten Aera des höheren Menschenthums gilt die Tapferkeit als die vornehmste der Tugenden, in der zweiten die Gerechtigkeit, in der dritten die Mässigung, in der vierten die Weisheit. In welcher Aera leben wir? In welcher lebst du?
65.
W a s v o r h e r n ö t h i g i s t . — Ein Mensch, der über seinen Jähzorn, seine Gali- und Rachsucht, seine Wollust nicht Meister werden will und es versucht, irgendworin sonst Meister zu werden, ist so dumm wie der Ackermann, der neben einem Wildbach seine Aecker anlegt, ohne sidi gegen ihn zu schützen.
66.
W a s i s t W a h r h e i t ? — S c h w a r z e r t (Melanchthon) :
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„Man predigt oft seinen Glauben, wenn man ihn gerade verloren hat und auf allen Gassen sucht, — und man predigt ihn dann nicht am schlechtesten!" — L u t h e r : Du redest heut' wahr wie ein Engel, Bruder! — S c h w a r z e r t: „Aber es ist der Gedanke deiner Feinde, und sie machen auf dich die Nutzanwendung." — L u t h e r : So war's eine Lüge aus des Teufels Hinterm.
67. G e w o h n h e i t d e r G e g e n s ä t z e . — Die allgemeine ungenaue Beobachtung sieht in der Natur überall Gegensätze (wie z. B. „warm und kalt"), wo keine Gegensätze, sondern nur Gradverschiedenheiten sind. Diese schlechte Gewohnheit hat uns verleitet, nun auch noch die innere Natur, die geistig-sittliche Welt, nach solchen Gegensätzen verstehen und zerlegen zu wollen. Unsäglich viel Schmerzhaftigkeit, Anmaassung, Härte, Entfremdung, Erkältung ist so in die menschliche Empfindung hineingekommen, dadurch dass man Gegensätze an Stelle der Uebergänge zu sehen meinte.
68. O b m a n v e r g e b e n k ö n n e ? — Wie k a n n man ihnen überhaupt vergeben, wenn sie nicht wissen, was sie thun! Man h a t gar Nichts zu vergeben. — Aber w e i s s ein Mensch jemals v ö l l i g , was er thut? Und wenn diess immer mindestens f r a g l i c h bleibt, so haben also die Menschen einander nie Etwas zu vergeben, und Gnade-üben ist für den Vernünftigsten ein unmögliches Ding. Zu allerletzt: w e n n die Uebelthäter wirklich gewusst hätten, was sie thaten, — so würden wir doch nur dann ein Recht zur V e r g e b u n g haben, wenn wir ein Recht zur Beschuldigung und Strafe hätten. Diess aber haben wir nicht.
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69.
H a b i t u e l l e S c h a m . — Warum empfinden wir Scham, wenn uns etwas Gutes und Auszeichnendes erwiesen wird, das wir, wie man sagt, „nicht verdient haben"? Es scheint uns dabei, dass wir uns in ein Gebiet eingedrängt haben, wo wir nicht hingehören, wo wir ausgeschlossen sein sollten, gleichsam in ein Heiliges oder Allerheiligstes, welches für unsern Fuss unbetretbar ist. Durch den Irrthum Anderer sind wir doch hineingelangt: und nun überwältigt uns theils Furcht, theils Ehrfurcht, theils Ueberraschung, wir wissen nicht, ob wir fliehen, ob wir des gesegneten Augenblickes und seiner Gnaden-Vortheile gemessen sollen. Bei aller Scham ist ein Mysterium, welches durch uns entweiht oder in der Gefahr der Entweihung zu sein scheint; alle G n a d e erzeugt Scham. — Erwägt man aber, dass wir überhaupt niemals Etwas „verdient haben", so wird, im Fall man dieser Ansicht innerhalb einer christlichen Gesammt-Betrachtung der Dinge sich hingiebt, das Gefühl der S c h a m h a b i t u e l l : weil einem Solchen Gott f o r t w ä h r e n d zu segnen und Gnade zu üben scheint. Abgesehen von dieser christlichen. Auslegung, wäre aber auch für den völlig gottlosen Weisen, der an der gründlichen Unverantwortlichkeit und Unverdienstlichkeit alles Wirkens und Wesens festhält, jener Zustand der h a b i t u e l l e n S c h a m möglich: wenn man ihn behandelt, a l s o b er diess und jenes verdient habe, so scheint er sich in eine höhere Ordnung von Wesen eingedrängt zu haben, welche überhaupt Etwas v e r d i e n e n , welche frei sind und ihres eigenen Wollens und Könnens Verantwortung wirklich zu tragen vermögen. Wer zu ihm sagt „du hast es verdient", scheint ihm zuzurufen „du bist kein Mensch, sondern ein Gott". 70. D e r u n g e s c h i c k t e s t e E r z i e h e r . — Bei Diesem sind auf dem Boden seines Widerspruchsgeistes alle seine wirk-
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liehen Tugenden angepflanzt, bei Jenem auf seiner Unfähigkeit, Nein zu sagen, als auf seinem Zustimmungsgeiste; ein Dritter hat alle seine Moralität aus seinem einsamen Stolze, ein Vierter die seine aus seinem starken Geselligkeitstriebe aufwachsen lassen. Gesetzt nun, durch ungeschickte Erzieher und Zufälle wären bei diesen Vieren die Samenkörner der Tugenden nicht auf den Boden ihrer Natur ausgesäet worden, welcher bei ihnen die meiste und fetteste Erdkrume hat: so wären sie ohne Moralität und schwache unerfreuliche Menschen. Und wer würde gerade der ungeschickteste aller Erzieher und das böse Verhängniss dieser vier Menschen gewesen sein? Der moralische Fanatiker, welcher meint, dass das Gute nur aus dem Guten, auf dem Guten wachsen könne. 7iS c h r e i b a r t d e r V o r s i c h t . — A : Aber, wenn A l l e diess wüssten, so würde es den M e i s t e n schädlich sein. Du selber nennst diese Meinungen gefährlich für die Gefährdeten, und doch theilst du sie öffentlich mit? B : Ich schreibe so, dass weder der Pöbel, noch die populi, noch die Parteien aller Art mich lesen mögen. Folglich werden diese Meinungen nie öffentliche sein. A : Aber wie schreibst du denn? B : Weder nützlich noch angenehm — für die genannten Drei.
7*G ö t t l i c h e M i s s i o n ä r e . — Auch Sokrates fühlt sich als göttlichen Missionär: aber ich weiss nicht, was für ein Anflug von attischer Ironie und Lust am Spaassen auch selbst hierbei noch zu spüren ist, wodurch jener fatale und anmaassende Begriff gemildert wird. Er redet ohne Salbung davon: seine Bilder, von der Bremse und dem Pferd, sind schlicht und unpriesterlich, und die eigentlich religiöse Aufgabe, wie er sie sich gestellt fühlt, den Gott auf hunderterlei Weise a u f d i e P r o b e z u s t e l -
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1 e n , o b er die Wahrheit geredet habe, lässt auf eine kühne und freimüthige Gebärde schliessen, mit der hier der Missionär seinem G o t t e an die Seite tritt. Jenes Auf-die-Probe-Stellen des Gottes ist einer der feinsten C o m p r o m i s s e zwischen F r ö m m i g keit und Freiheit des Geistes, welche je erdacht worden sind. — J e t z t haben wir auch diesen C o m p r o m i s s nicht mehr nöthig.
73E h r l i c h e s M a l e r t h u m . — Raffael, dem viel an der Kirche (sofern sie zahlungsfähig war), aber wenig, gleich den Besten seiner Zeit, an den Gegenständen des kirchlichen Glaubens gelegen war, ist der anspruchsvollen ekstatischen F r ö m m i g keit mancher seiner Besteller nicht einen Schritt weit nachgegangen: er hat seine Ehrlichkeit bewahrt, selbst in jenem Ausnahme-Bild, das ursprünglich für eine Processions-Fahne bestimmt war, in der Sixtinischen Madonna. Hier wollte er einmal eine Vision malen: aber eine solche, wie sie edle junge Männer ohne „ G l a u b e n " a u c h haben dürfen und haben werden, die Vision der zukünftigen Gattin, eines klugen, seelisch-vornehmen, schweigsamen und sehr schönen Weibes, das ihren Erstgeborenen im A r m e trägt. Mögen die Alten, die an das Beten und Anbeten gewöhnt sind, hier, gleich dem ehrwürdigen Greise zur Linken, etwas Uebermenschliches verehren: wir Jüngeren wollen es, so scheint Raffael uns zuzurufen, mit dem schönen Mädchen zur Rechten halten, welche mit ihrem auffordernden, durchaus nicht devoten Blicke den Betrachtern des Bildes sagt: „Nicht wahr? diese Mutter und ihr Kind — das ist ein angenehmer einladender Anblick?" Diess Gesicht und dieser Blick strahlt v o n der Freude in den Gesichtern der Betrachter wieder; der Künstler, der diess Alles erfand, geniesst sich auf diese Weise selber und giebt seine eigene Freude zur Freude der KunstEmpfangenden hinzu. — In Betreff des „heilandhaften" Ausdrucks im K o p f e eines Kindes hat Raffael, der Ehrliche, der kei-
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nen Seelenzustand malen wollte, an dessen Existenz er nicht glaubte, seine g l ä u b i g e n Betrachter auf eine artige Weise überlistet; er malte jenes Naturspiel, das nicht selten vorkommt, das Männerauge im Kindskopfe, und zwar das Auge des wackeren hülfereichen Mannes, der einen Nothstand sieht. Zu diesem Auge gehört ein Bart; dass dieser fehlt und dass zwei verschiedene Lebensalter hier aus Einem Gesichte sprechen, diess ist die angenehme Paradoxie, welche die Gläubigen sich im Sinne ihres Wunderglaubens gedeutet haben: so wie es der Künstler von ihrer Kunst des Deutens und Hineinlegens auch erwarten durfte. 74D a s G e b e t . — N u r unter zwei Voraussetzungen hatte alles Beten — jene noch nicht völlig erloschene Sitte älterer Zeiten — einen Sinn: es müsste möglich sein, die Gottheit zu bestimmen oder umzustimmen, und der Betende müsste selber am Besten wissen, was ihm n o t h thue, was f ü r ihn wahrhaft w ü n schenswerth sei. Beide Voraussetzungen, in allen anderen Religionen angenommen u n d hergebracht, wurden aber gerade v o m Christenthum geleugnet; wenn es t r o t z d e m das Gebet beibehielt, bei seinem Glauben an eine allweise u n d allvorsorgliche Vernunft in Gott, durch welche eben diess Gebet im G r u n d e sinnlos, ja gotteslästerlich wird, — so zeigte es auch darin wieder seine bewunderungswürdige Schlangen-Klugheit; denn ein klares Gebot „du sollst nicht beten" hätte die Christen durch die Langeweile zum Unchristenthum geführt. Im christlichen ora et labora vertritt nämlich das ora die Stelle des V e r g n ü g e n s : und was hätten ohne das ora jene Unglücklichen beginnen sollen, die sich das labora versagten, die Heiligen! — aber mit G o t t sich unterhalten, ihm allerlei angenehme Dinge abverlangen, sich selber ein Wenig darüber lustig machen, wie man so thöricht sein könne, noch Wünsche zu haben, t r o t z einem so vortrefflichen Vater, — das war f ü r Heilige eine sehr gute Erfindung.
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75E i n e h e i l i g e L ü g e . — Die Lüge, mit der auf den Lippen Arria starb (Paete, non dolet), verdunkelt alle Wahrheiten, die je von Sterbenden gesprochen wurden. Es ist die einzige heilige L ü g e , die berühmt geworden ist; während der Geruch der Heiligkeit sonst nur an I r r t h ü m e r n haften blieb.
76. D e r n ö t h i g s t e A p o s t e l . — Unter zwölf Aposteln muss immer einer hart wie ein Stein sein, damit auf ihm die neue Kirche gebaut werden könne.
77Was ist das V e r g ä n g l i c h e r e , der G e i s t oder d e r K ö r p e r ? — In den rechtlichen, moralischen und religiösen Dingen hat das Aeusserlichste, das Anschauliche, also der Brauch, die Gebärde, die Ceremonie am meisten D a u e r : sie ist der L e i b , zu dem immer eine n e u e S e e l e hinzukommt. Der Cultus wird wie ein fester Wort-Text immer neu ausgedeutet; die Begriffe und Empfindungen sind das Flüssige, die Sitten das Harte.
78. D e r G l a u b e an d i e K r a n k h e i t , als K r a n k h e i t . — Erst das Christenthum hat den Teufel an die Wand der Welt gemalt; erst das Christenthum hat die Sünde in die Welt gebracht. Der Glaube an die Heilmittel, welche es dagegen anbot, ist nun allmählich bis in die tiefsten Wurzeln hinein erschüttert: aber immer noch besteht der G l a u b e a n d i e K r a n k h e i t , welchen es gelehrt und verbreitet hat.
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79R e d e u n d S c h r i f t d e r R e l i g i ö s e n . — Wenn der Stil und Gesammtausdruck des Priesters, des redenden und schreibenden, nicht schon den r e l i g i ö s e n Menschen ankündigt, so braucht man seine Meinungen über Religion und zu Gunsten derselben nicht mehr ernst zu nehmen. Sie sind für ihren Besitzer selber k r a f t l o s gewesen, wenn er, wie sein Stil verräth, Ironie, Anmaassung, Bosheit, Hass und alle Wirbel und Wechsel der Stimmungen besitzt, ganz wie der unreligiöseste Mensch; — um wieviel kraftloser werden sie erst f ü r seine H ö r e r und Leser sein! Kurz, er wird dienen, dieselben unreligiöser zu machen.
80.
G e f a h r i n d e r P e r s o n . — Je mehr G o t t als Person f ü r sich galt, u m so weniger ist man ihm treu gewesen. Die Menschen sind ihren Gedankenbildern viel anhänglicher, als ihren geliebtesten Geliebten: desshalb opfern sie sich f ü r den Staat,die Kirche, und auch f ü r G o t t — sofern er eben i h r Erzeugniss, i h r G e d a n k e bleibt und nicht gar zu persönlich genommen wird. Im letzteren Falle hadern sie fast immer mit ihm: selbst dem Frömmsten e n t f u h r ja die bittere Rede „mein Gott, w a r u m hast du mich verlassen!"
81.
D i e w e l t l i c h e G e r e c h t i g k e i t . — Es ist möglich, die weltliche Gerechtigkeit aus den Angeln zu heben — mit der Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit und Unschuld Jedermannes: und es ist schon ein Versuch in gleicher Richtung gemacht worden, gerade auf G r u n d der entgegengesetzten Lehre von der völligen Verantwortlichkeit und Verschuldung Jedermannes. Der Stifter des Christenthums war es, der die weltliche Gerechtigkeit aufheben und das Richten u n d Strafen
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aus der Welt schaffen wollte. Denn er verstand alle Schuld als „Sünde", das heisst als Frevel a n G o 11 und n i c h t als Frevel an der Welt, andererseits hielt er Jedermann im grössten Maassstabe und fast in jeder Hinsicht für einen Sünder. Die Schuldigen sollen aber nicht die Richter ihres Gleichen sein: so urtheilte seine Billigkeit. A l l e Richter der weltlichen Gerechtigkeit waren also in seinen Augen so schuldig wie die von ihnen Verurtheilten, und ihre Miene der Schuldlosigkeit schien ihm heuchlerisch und pharisäerhaft. Ueberdiess sah er auf die Motive der Handlungen, und nicht auf den Erfolg, und hielt für die Beurtheilung der Motive nur einen Einzigen für scharfsichtig genug: sich selber (oder wie er sich ausdrückte: Gott).
82.
E i n e A f f e c t a t i o n b e i m A b s c h i e d e . — Wer sich von einer Partei oder Religion trennen will, meint, es sei nun für ihn nöthig, sie zu widerlegen. Aber diess ist sehr hochmüthig gedacht. Nöthig ist nur, dass er klar einsieht, welche Klammern ihn bisher an diese Partei oder Religion anhielten und dass sie es nicht mehr thun, was für Absichten ihn dahin getrieben haben und dass sie jetzt anderswohin treiben. Wir sind n i c h t aus s t r e n g e n E r k e n n t n i s s g r ü n d e n auf die Seite jener Partei oder Religion getreten: wir sollen diess, wenn wir von ihr scheiden, auch nicht a f f e c t i r e n .
83.
H e i l a n d u n d A r z t . — Der Stifter des Christenthums war, wie es sich von selber versteht, als Kenner der menschlichen Seele nicht ohne die grössten Mängel und Voreingenommenheiten und als Arzt der Seele dem so anrüchigen und laienhaften Glauben an eine Universalmedicin ergeben. Er gleicht in seiner Methode mitunter jenem Zahnarzte, der jeden Schmerz
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durch Ausreissen des Zahnes heilen will; so zum Beispiel indem er gegen die Sinnlichkeit mit dem Rathschlage ankämpft: „Wenn dich dein Auge ärgert, so reisse es aus." — Aber es bleibt doch noch der Unterschied, dass jener Zahnarzt wenigstens sein Ziel erreicht, die Schmerzlosigkeit des Patienten; freilich auf so plumpe Art, dass er lächerlich wird: während der Christ, der jenem Rathschlage folgt und seine Sinnlichkeit ertödtet zu haben glaubt, sich täuscht: sie lebt auf eine unheimliche vampyrische Art fort und quält ihn in widerlichen Vermummungen.
84.
D i e G e f a n g e n e n . — Eines Morgens traten die Gefangenen in den Arbeitshof; der Wärter fehlte. Die Einen von ihnen giengen, wie es ihre Art war, sofort an die Arbeit, Andere standen müssig und blickten trotzig umher. Da trat Einer vor und sagte laut: „Arbeitet, so viel ihr wollt oder thut Nichts: es ist Alles gleich. Eure geheimen Anschläge sind an's Licht gekommen, der Gefängnisswärter hat euch neulich belauscht und will in den nächsten Tagen ein fürchterliches Gericht über euch ergehen lassen. Ihr kennt ihn, er ist hart und nach trägerischen Sinnes. N u n aber merkt auf: ihr habt mich bisher verkannt; ich bin nicht, was ich scheine, sondern viel mehr: ich bin der Sohn des Gefängnisswärters und gelte Alles bei ihm. Ich kann euch retten, ich will euch retten; aber, wohlgemerkt, nur Diejenigen von euch, welche mir g l a u b e n , dass ich der Sohn des Gefängnisswärters bin; die Uebrigen mögen die Früchte ihres Unglaubens ernten." „Nun, sagte nach einigem Schweigen ein älterer Gefangener, was kann dir daran gelegen sein, ob wir es dir glauben oder nicht glauben? Bist du wirklich der Sohn und vermagst du Das, was du sagst, so lege ein gutes Wort für uns Alle ein: es wäre wirklich recht gutmüthig von dir. Das Gerede von Glauben und Unglauben aber lass' beiSeite!" „Und, rief ein jüngerer Mann dazwischen, ich glaub' es ihm auch nicht: er hat sich nur
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Etwas in den Kopf gesetzt. Ich wette, in acht Tagen befinden wir uns gerade noch so hier wie heute, und der Gefängnisswärter weiss N i c h t s . " „Und wenn er Etwas gewusst hat, so weiss er's nicht mehr", sagte der Letzte der Gefangenen, der jetzt erst in den H o f hinabkam; „der Gefängnisswärter ist eben plötzlich gestorben". — Holla, schrien Mehrere durcheinander, holla! Herr Sohn, Herr Sohn, wie steht es mit der Erbschaft? Sind wir vielleicht jetzt d e i n e Gefangenen? — „Ich habe es euch gesagt, entgegnete der Angeredete mild, ich werden Jeden freilassen, der an mich glaubt, so gewiss als mein Vater noch lebt". — Die Gefangenen lachten nicht, zuckten aber mit den Achseln und liessen ihn stehen.
85.
D e r V e r f o l g e r G o t t e s . — Paulus hat den Gedanken ausgedacht, Calvin ihn nachgedacht, dass Unzähligen seit Ewigkeiten die Verdammniss zuerkannt ist und dass dieser schöne Weltenplan so eingerichtet wurde, damit die Herrlichkeit Gottes sich daran offenbare; Himmel und Hölle und Menschheit sollen also da sein, — um die Eitelkeit Gottes zu befriedigen! Welche grausame und unersättliche Eitelkeit muss in der Seele Dessen geflackert haben, der so Etwas sich zuerst oder zuzweit ausdachte! — Paulus ist also doch Saulus geblieben, — d e r Verfolger Gottes.
86. S o k r a t e s . — Wenn Alles gut geht, wird die Zeit kommen, da man, um sich sittlich-vernünftig zu fördern, lieber die Memorabilien des Sokrates in die Hand nimmt, als die Bibel, und wo Montaigne und Horaz als Vorläufer und Wegweiser zum Verständniss des einfachsten und unvergänglichsten Mittler-Weisen, des Sokrates, benutzt werden. Zu ihm führen die
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Strassen der verschiedensten philosophischen Lebensweisen zurück, welche im Grunde die Lebensweisen der verschiedenen Temperamente sind, festgestellt durch Vernunft und Gewohnheit und allesammt mit ihrer Spitze hin nach der Freude am Le5 ben und am eignen Selbst gerichtet; woraus man schliessen möchte, dass das Eigenthümlichste an Sokrates ein Antheilhaben an allen Temperamenten gewesen ist. — Vor dem Stifter des Christenthums hat Sokrates die fröhliche Art des Ernstes und jene W e i s h e i t v o l l e r S c h e l m e n s t r e i c h e voraus, io welche den besten Seelenzustand des Menschen ausmacht. Ueberdiess hatte er den grösseren Verstand.
87.
G u t s c h r e i b e n l e r n e n . — Die Zeit des gut-Redens ist vorbei, weil die Zeit der Stadt-Culturen vorbei ist. Die letzte Gränze, welche Aristoteles der grossen Stadt erlaubte — es müsse der Herold noch im Stande sein, sich der ganzen versammelten Gemeinde vernehmbar zu machen —, diese Gränze kümmert uns so wenig, als uns überhaupt noch Stadtgemeinden kümmern, uns, die wir selbst über die Völker hinweg verstanden 20 werden wollen. Desshalb muss jetzt ein Jeder, der gut europäisch gesinnt ist, g u t u n d i m m e r b e s s e r s c h r e i b e n lernen: es hilft Nichts, und wenn er selbst in Deutschland geboren ist, wo man das schlecht-Schreiben als nationales Vorrecht behandelt. Besser schreiben aber heisst zugleich auch besser denken; 25 immer Mittheilenswertheres erfinden und es wirklich mittheilen können; übersetzbar werden für die Sprachen der Nachbarn; zugänglich sich dem Verständnisse jener Ausländer machen, welche unsere Sprache lernen; dahin wirken, dass alles Gute Gemeingut werde und den Freien Alles frei stehe; endlich, 3° jenen jetzt noch so fernen Zustand der Dinge v o r b e r e i t e n , wo den guten Europäern ihre grosse Aufgabe in die Hände fällt: die Leitung und Ueberwachung der gesammten Erdcultur. —
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Wer das Gegentheil predigt, sich n i c h t um das gut-Schreiben und gut-Lesen zu kümmern — beide Tugenden wachsen mit einander und nehmen mit einander ab —, der zeigt in der That den Völkern einen Weg, wie sie immer noch mehr n a t i o n a l $ werden können: er vermehrt die Krankheit dieses Jahrhunderts und ist ein Feind der guten Europäer, ein Feind der freien Geister.
88. D i e L e h r e v o m b e s t e n S t i l e . — Die Lehre vom Stil kann einmal die Lehre sein, den Ausdruck zu finden, vermöge dessen man j e d e Stimmung auf den Leser und Hörer überträgt; sodann die Lehre, den Ausdruck für die wünschenswertheste Stimmung eines Menschen zu finden, deren Mittheilung und Uebertragung also auch am meisten zu wünschen ist: 1 5 für die Stimmung des von Herzensgrund bewegten, geistig freudigen, hellen und aufrichtigen Menschen, der die Leidenschaften überwunden hat. Diess wird die Lehre vom besten Stile sein: er entspricht dem guten Menschen.
89. 20
A u f d e n G a n g A c h t g e b e n . — Der Gang der Sätze zeigt, ob der Autor ermüdet ist; der einzelne Ausdruck kann dessenungeachtet immer noch stark und gut sein, weil er für sich und früher gefunden wurde: damals als der Gedanke dem Autor zuerst aufleuchtete. So ist es häufig bei Goethe, der 25 zu oft dictirte, wenn er müde war.
90. S c h o n u n d n o c h . — A: „Die deutsche Prosa ist noch sehr jung: Goethe meint, dass Wieland ihr Vater sei." B: So
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Menschliches, Allzumenschlidies I I
jung und schon so hässlich! C : „ A b e r — soviel mir bekannt, schrieb schon der Bischof Ulfilas deutsche Prosa; sie ist also gegen fünfzehnhundert J a h r e alt." B : So alt, und noch so hässlich!
91-
O r i g i n a l - d e u t s c h . — Die deutsche Prosa, welche in der T h a t nicht nach einem Muster gebildet ist und wohl als originales Erzeugniss des deutschen Geschmacks zu gelten hat, dürfte den eifrigen Anwälten einer zukünftigen originalen deutschen Cultur einen Fingerzeig geben, wie etwa, ohne N a c h a h m u n g von Mustern, eine wirkliche deutsche Tracht, eine deutsche Geselligkeit, eine deutsche Zimmereinrichtung, ein deutsches Mittagsessen aussehen werde. — J e m a n d , der längere Zeit über diese Aussichten nachgedacht hatte, rief endlich in vollem Schrecken aus: „Aber, u m des H i m m e l s willen, vielleicht h a b e n wir schon diese originale Cultur, — man spricht nur nicht gerne d a v o n ! "
92V e r b o t e n e B ü c h e r . — N i e Etwas lesen, was jene arroganten Vielwisser und Wirrköpfe schreiben, welche die abscheulichste U n a r t , die der logischen Paradoxie, haben: sie wenden die l o g i s c h e n F o r m e n gerade dort an, w o Alles im G r u n d e frech improvisirt und in die L u f t gebaut ist. ( „ A l s o " soll bei ihnen heissen, „ d u Esel von Leser, für dich giebt es diess „ a l s o " nicht, — wohl aber f ü r mich" — worauf die A n t w o r t lautet: „ d u Esel von Schreiber, wozu schreibst du d e n n ? " )
93G e i s t z e i g e n . — Jeder, der seinen Geist zeigen will, lässt merken, dass er auch reichlich vom Gegentheil hat.
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Jene Unart geistreicher Franzosen, ihren besten Einfällen einen Zug von dédain beizugeben, hat ihren Ursprung in der Absicht, f ü r reicher zu gelten, als sie sind: sie wollen lässig schenken, gleichsam ermüdet vom beständigen Spenden aus übervollen Schatzhäusern.
94Deutsche und französische Litteratur. — Das Unglück der deutschen u n d französischen Litteratur der letzten h u n d e r t Jahre liegt darin, dass die Deutschen zu zeitig a u s der Schule der Franzosen gelaufen sind — u n d die Franzosen, späterhin, zu zeitig i n die Schule der Deutschen.
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U n s e r e P r o s a . — Keines der jetzigen Culturvölker hat eine so schlechte Prosa wie das deutsche; und wenn geistreiche und verwöhnte Franzosen sagen: es g i e b t keine deutsche Prosa, — so dürfte man eigentlich nicht böse werden, da es artiger gemeint ist, als wir's verdienen. Sucht man nach den Gründen, so k o m m t man zuletzt zu dem seltsamen Ergebniss, dass d e r D e u t s c h e n u r d i e i m p r o v i s i r t e P r o s a k e n n t und von einer anderen gar keinen Begriff hat. Es klingt ihm schier unbegreiflich, wenn ein Italiäner sagt, dass Prosa gerade um soviel schwerer sei als Poesie, um wieviel die Darstellung der nackten Schönheit f ü r den Bildhauer schwerer sei, als die der bekleideten Schönheit. U m Vers, Bild, R h y t h m u s und Reim hat man sich redlich zu bemühen, — das begreift auch der Deutsche und ist nicht geneigt, der Stegreifdichtung einen besonders hohen Werth zuzumessen. Aber an einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten? — es ist ihm, als ob man ihm Etwas aus dem Fabelland vorerzählte.
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96. D e r g r o s s e S t i l . — Der grosse Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt.
97A u s w e i c h e n . — Man weiss nicht eher, worin bei ausgezeichneten Geistern das Feine ihres Ausdrucks, ihrer Wendung liegt, wenn man nicht sagen kann, auf welches W o r t jeder mittelmässige Schriftsteller beim Ausdrücken der selben Sache u n vermeidlich gerathen sein würde. Alle grossen Artisten zeigen sich beim Lenken ihres Fuhrwerks zum Ausweichen, zum E n t gleisen geneigt, — doch nicht zum Umfallen.
98. E t w a s w i e B r o d . — Brod neutralisirt den Geschmack anderer Speisen, wischt ihn weg; desshalb gehört es zu jeder längeren Mahlzeit. In allen Kunstwerken muss es Etwas wie Brod geben, damit es verschiedene Wirkungen in ihnen geben könne: welche, unmittelbar und ohne ein solches zeitweiliges Ausruhen und Pausiren aufeinanderfolgend, schnell erschöpfen und Widerwillen machen würden, so dass eine l ä n g e r e Mahlzeit der Kunst unmöglich wäre.
99J e a n P a u l . — Jean Paul wusste sehr viel, aber hatte keine Wissenschaft, verstand sich auf allerlei Kunstgriffe in den Künsten, aber hatte keine Kunst, fand beinahe Nichts ungeniessbar, aber hatte keinen Geschmack, besass Gefühl und Ernst, goss aber, wenn er davon zu kosten gab, eine widerliche Thränenbrühe darüber, ja er hatte Witz, — aber leider f ü r seinen Heisshunger darnach viel zu wenig: wesshalb er den Leser gerade
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durch seine Witzlosigkeit zur Verzweiflung treibt. I m Ganzen war er das bunte starkriechende U n k r a u t , welches über Nacht auf den zarten Fruchtfeldern Schiller's und Goethe's aufschoss; er war ein bequemer guter Mensch, und doch ein Verhängniss, $ — ein Verhängniss im Schlafrock.
100. A u c h den G e g e n s a t z
zu s c h m e c k e n w i s s e n .
—
U m ein W e r k der Vergangenheit so zu geniessen, wie es seine Zeitgenossen empfanden, muss man den damals herrschenden Geschmack, gegen den es sich a b h o b , auf der Zunge haben.
101. Weingeist-Autoren.
—
Manche Schriftsteller
sind
weder Geist noch Wein, aber Weingeist: sie k ö n n e n in Flammen gerathen und geben dann W ä r m e .
15
102. Der Mittler-Sinn.
— D e r Sinn des Geschmacks, als
der wahre Mittler-Sinn, hat die anderen Sinne oft zu seinen Ansichten der Dinge überredet und ihnen seine Gesetze und G e w o h n h e i t e n eingegeben. Man kann bei Tische über die feines sten Geheimnisse der Künste Aufschlüsse erhalten: man beachte, was schmeckt, wann es schmeckt, wonach und wie lange es schmeckt.
103. L e s s i n g. — Lessing hat eine acht französische Tugend 25 und ist überhaupt als Schriftsteller bei den Franzosen am fleissigsten in die Schule gegangen: er versteht seine Dinge im Schau-
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laden gut zu ordnen und aufzustellen. Ohne diese wirkliche K u n s t würden seine Gedanken, so wie deren Gegenstände, ziemlich im Dunkel geblieben sein, und ohne dass die allgemeine Einbusse gross wäre. An seiner K u n s t haben aber Viele gelernt (namentlich die letzten Generationen deutscher Gelehrten) und Unzählige sich erfreut. — Freilich hätten jene Lernenden nicht nöthig gehabt, wie so oft geschehen ist, ihm auch seine unangenehme Ton-Manier, in ihrer Mischung von Zankteufelei und Biederkeit, abzulernen. Ueber den „Lyriker" Lessing ist man jetzt einmüthig: über den Dramatiker wird man es werden. —
104. U n e r w ü n s c h t e L e s e r . — Wie quälen den Autor jene braven Leser mit den dicklichten ungeschickten Seelen, welche immer, wenn sie woran anstossen, auch umfallen und sich jedesmal dabei wehe thun.
105. D i c h t e r - G e d a n k e n . — Die wirklichen Gedanken gehen bei wirklichen Dichtern alle verschleiert einher, wie die Aegypterinnen: nur das tiefe A u g e des Gedankens blickt frei über den Schleier hinweg. — Dichter-Gedanken sind im Durchschnitt nicht so viel werth als sie gelten: man bezahlt eben für den Schleier und die eigene Neugierde mit.
106. S c h r e i b t e i n f a c h u n d n ü t z l i c h . — Uebergänge, Ausführungen, Farbenspiele des Affects, — Alles das schenken wir dem Autor, weil wir diess mitbringen und seinem Buche zu Gute kommen lassen, falls er selber uns Etwas zu Gute thut.
2. D e r W a n d e r e r und sein Schatten 103—109
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107. W i e 1 a n d. — Wieland hat besser, als irgend Jemand, deutsch geschrieben und dabei sein rechtes meisterliches Genügen und Ungenügen gehabt (seine Uebersetzungen der Briefe Cicero's und des Lucian sind die besten deutschen Uebersetzungen); aber seine Gedanken geben uns Nichts mehr zu denken. Wir vertragen seine heitern Moralitäten eben so wenig wie seine heiteren Immoralitäten: beide gehören so gut zu einander. Die Menschen, die an ihnen ihre Freude hatten, waren doch wohl im G r u n d e bessere Menschen als wir, — aber auch u m ein gut Theil schwerfälligere, denen ein solcher Schriftsteller eben n o t h t h a t . — G o e t h e that den Deutschen nicht noth, daher sie auch von ihm keinen Gebrauch zu machen wissen. Man sehe sich die besten unserer Staatsmänner und Künstler daraufhin an: sie alle haben Goethe nicht zum Erzieher gehabt, — nicht haben können. 108. S e l t e n e F e s t e . — Körnige Gedrängtheit, R u h e und Reife, — wo du diese Eigenschaften bei einem A u t o r findest, da mache H a l t und feiere ein langes Fest mitten in der Wüste: es wird dir lange nicht wieder so wohl werden.
109. D e r S c h a t z d e r d e u t s c h e n P r o s a . — Wenn man von Goethe's Schriften absieht und namentlich von Goethe's Unterhaltungen mit Eckermann, dem besten deutschen Buche, das es giebt: was bleibt eigentlich von der deutschen Prosa-Litteratur übrig, das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden? Lichtenberg's Aphorismen, das erste Buch von Jung-Stilling's Lebensgeschichte, Adalbert Stifter's Nachsommer und Gottfried Keller's Leute von Seldwyla, — und damit wird es einstweilen am Ende sein.
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IIO. S c h r e i b s t i l u n d S p r e c h s t i l . — Die Kunst, zu schreiben, verlangt v o r Allem E r s a t z m i t t e l f ü r die Ausdrucksarten, welche nur der R e d e n d e hat: also für Gebärden, Accente, Töne, Blicke. Desshalb ist der Schreibstil ein ganz anderer, als der Sprechstil, und etwas viel Schwierigeres: — er will mit Wenigerem sich ebenso verständlich machen wie jener. Demosthenes hielt seine R e d e n anders, als wir sie lesen; er hat sie z u m Gelesenwerden erst überarbeitet. — Cicero's R e d e n sollten, z u m gleichen Zwecke, erst demosthenisirt werden: jetzt ist viel mehr römisches F o r u m in ihnen, als der Leser vertragen kann.
111. V o r s i c h t i m C i t i r e n . — Die jungen Autoren wissen nicht, dass der gute Ausdruck, der gute G e d a n k e sich nur unter Seinesgleichen gut ausnimmt, dass ein vorzügliches Citat ganze Seiten, ja das ganze Buch vernichten kann, indem es den Leser warnt und ihm zuzurufen scheint: „Gieb Acht, ich bin der Edelstein und rings u m mich ist Blei, bleiches, schmähliches Blei." Jedes Wort, jeder Gedanke will nur i n s e i n e r G e s e l l s c h a f t leben: das ist die Moral des gewählten Stils.
112. W i e s o l l m a n I r r t h ü m e r s a g e n ? — Mann kann streiten, ob es schädlicher sei, wenn Irrthümer schlecht gesagt werden oder so gut wie die besten Wahrheiten. Gewiss ist, dass sie im erstem Fall auf doppelte Weise dem K o p f e schaden und schwerer aus ihm zu entfernen sind; aber freilich wirken sie nicht so sicher wie im zweiten Falle: sie sind weniger anstekkend.
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113. B e s c h r ä n k e n u n d v e r g r ö s s e r n . — Homer hat den Umfang des Stoffes beschränkt, verkleinert, aber die einzelnen Scenen aus sich wachsen lassen und vergrössert — und 5 so machen es später die Tragiker immer von Neuem: jeder nimmt den Stoff in noch k l e i n e r e n Stücken, als sein Vorgänger, jeder aber erzielt eine r e i c h e r e Blüthenfülle innerhalb dieser abgegränzten umfriedeten Gartenhecken.
114. L i t t e r a t u r und M o r a l i t ä t sich e r k l ä r e n d . — Man kann an der griechischen Litteratur zeigen, durch welche Kräfte der griechische Geist sich entfaltete, wie er in verschiedene Bahnen gerieth und woran er schwach wurde. Alles das giebt ein Bild davon ab, wie es im Grunde auch mit der griechi1 5 sehen M o r a l i t ä t zugegangen ist und wie es mit jeder Moralität zugehen wird: wie sie erst Zwang war, erst Härte zeigte, dann allmählich milder wurde, wie endlich Lust an gewissen Handlungen, an gewissen Conventionen und Formen entstand, und daraus wieder ein Hang zur alleinigen Ausübung, zum 20 Alleinbesitz derselben: wie die Bahn sich mit Wettbewerbenden füllt und überfüllt, wie Uebersättigung eintritt, neue Gegenstände des Kampfes und Ehrgeizes aufgesucht, veraltete in's Leben erweckt werden, wie das Schauspiel sich wiederholt und die Zuschauer des Zuschauens überhaupt müde werden, weil nun der ganze Kreis durchlaufen scheint — und dann kommt ein Stillestehen, ein Ausathmen: die Bäche verlieren sich im Sande. Es ist das Ende da, wenigstens e i n Ende. 10
115. Welche Gegenden dauernd erfreuen. — 3° Diese Gegend hat bedeutende Züge zu einem Gemälde, aber
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ich kann die Formel für sie nicht finden, als Ganzes bleibt sie mir unfassbar. Ich bemerke, dass alle Landschaften, die mir dauernd zusagen, unter aller Mannichfaltigkeit ein einfaches geometrisches Linien-Schema haben. Ohne ein solches mathematisches Substrat wird keine Gegend etwas künstlerisch Erfreuendes. Und vielleicht gestattet diese Regel eine gleichnisshafte Anwendung auf den Menschen.
Ii 6.
V o r l e s e n . — Vorlesen können setzt voraus, dass man v o r t r a g e n könne: man hat überall blasse Farben anzuwenden, aber die Grade der Blässe in genauen Proportionen zu dem immer vorschwebenden und dirigirenden, voll und tief gefärbten Grundgemälde, das heisst nach dem V o r t r a g e der selben Partie, zu bestimmen. Also muss man dieses letzteren mächtig sein.
117. D e r d r a m a t i s c h e S i n n . — Wer die feineren vier Sinne der Kunst nicht hat, sucht Alles mit dem gröbsten, dem fünften zu verstehen: diess ist der dramatische Sinn.
118. H e r d e r . — Herder ist Alles das nicht, was er von sich wähnen machte (und selber zu wähnen wünschte): kein grosser Denker und Erfinder, kein neuer treibender Fruchtboden mit einer urwaldfrischen unausgenutzten Kraft. Aber er besass in höchstem Maasse den Sinn der Witterung, er sah und pflückte die Erstlinge der Jahreszeit früher, als alle Anderen, welche dann glauben konnten, er habe sie wachsen lassen: sein Geist war zwischen Hellem und Dunklem, Altem und Jungem und
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überall dort wie ein Jäger auf der Lauer, wo es Uebergänge, Senkungen, Erschütterungen, die Anzeichen inneren Quellens und Werdens gab: die Unruhe des Frühlings trieb ihn umher, aber er selber war der Frühling nicht! — Das ahnte er wohl zu Zeiten, und wollte es doch sich selber nicht glauben, er, der ehrgeizige Priester, der so gern der Geister-Papst seiner Zeit gewesen wäre! Diess ist sein Leiden: er scheint lange als Prätendent mehrerer Königthümer, ja eines Universalreiches, gelebt zu haben und hatte seinen Anhang, welcher an ihn glaubte: der junge Goethe war unter ihm. Aber überall, wo zuletzt Kronen wirklich vergeben wurden, gieng er leer aus: Kant, Goethe, sodann die wirklichen ersten deutschen Historiker und Philologen nahmen ihm weg, was er sich vorbehalten wähnte, — oft aber auch im Stillsten und Geheimsten n i c h t wähnte. Gerade wenn er an sich zweifelte, warf er sich gern die Würde und die Begeisterung um: diess waren bei ihm allzu oft Gewänder, die viel verbergen, ihn selber täuschen und trösten mussten. Er hatte wirklich Begeisterung und Feuer, aber sein Ehrgeiz war viel grösser! Dieser blies ungeduldig in das Feuer, dass es flackerte, knisterte und rauchte — sein S t i l flackert, knistert und raucht — aber er wünschte die g r o s s e Flamme, und diese brach nie hervor! Er sass nicht an der Tafel der eigentlich Schaffenden: und sein Ehrgeiz Hess nicht zu, dass er sich bescheiden unter die eigentlich Geniessenden setzte. So war er ein unruhiger Gast, der Vorkoster aller geistigen Gerichte, die sich die Deutschen in einem halben Jahrhundert aus allen Welt- und Zeitreichen zusammenholten. Nie wirklich satt und froh, war Herder überdiess allzu häufig krank; da setzte sich bisweilen der Neid an sein Bett, auch die Heuchelei machte ihren Besuch. Etwas Wundes und Unfreies blieb an ihm haften: und mehr als irgend einem unserer sogenannten Classiker geht ihm die einfältige wackere Mannhaftigkeit ab.
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119. G e r u c h d e r W o r t e . — Jedes Wort hat seinen Geruch: es giebt eine Harmonie und Disharmonie der Gerüche und also der Worte. 120. D e r g e s u c h t e S t i l . — Der gefundene Stil ist eine Beleidigung für den Freund des gesuchten Stils.
121. G e l ö b n i s s . — Ich will keinen Autor mehr lesen, dem man anmerkt, er wollte ein Buch machen: sondern nur jene, deren Gedanken unversehens ein Buch wurden.
122. D i e k ü n s t l e r i s c h e C o n v e n t i o n . — Dreiviertel Homer ist Convention; und ähnlich steht es bei allen griechischen Künstlern, die zu der modernen Originalitätswuth keinen Grund hatten. Es fehlte ihnen alle Angst vor der Convention; durch diese hiengen sie ja mit ihrem Publicum zusammen. Conventionen sind nämlich die für das Verständniss der Zuhörer e r o b e r t e n Kunstmittel, die mühvoll erlernte gemeinsame Sprache, mit welcher der Künstler sich wirklich m i 11 h e i I e n kann. Zumal wenn er, wie der griechische Dichter und Musiker, mit jedem seiner Kunstwerke s o f o r t siegen will — da er öffentlich mit einem oder zweien Nebenbuhlern zu ringen gewöhnt ist —, so ist die erste Bedingung, dass er s o f o r t auch v e r s t a n d e n werde: was aber nur durch die Convention möglich ist. Das, was der Künstler über die Convention hinaus erfindet, das giebt er aus freien Stücken darauf und wagt dabei sich selber daran, im besten Fall mit dem Erfolge, dass er
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eine neue Convention s c h a f f t . Für gewöhnlich wird das Originale angestaunt, mitunter sogar angebetet, aber selten verstanden; der Convention hartnäckig ausweichen heisst: nicht verstanden werden wollen. Worauf weist also die moderne Originalitätswuth hin?
123.
A f f e c t a t i o n d e r W i s s e n s c h a f 11 i c h k e i t b e i K ü n s t l e r n . — Schiller glaubte, gleich anderen deutschen Künstlern, wenn man Geist habe, dürfe man über allerlei schwierige Gegenstände auch wohl m i t d e r F e d e r i m p r o v i s i r e n. U n d nun stehen seine Prosa-Aufsätze da, — in jeder Beziehung ein Muster, wie man wissenschaftliche Fragen der Aesthetik und Moral n i c h t angreifen dürfe, — und eine Gefahr f ü r junge Leser, welche, in ihrer Bewunderung des Dichters Schiller, nicht den M u t h haben, v o m Denker und Schriftsteller Schiller gering zu denken. — Die Versuchung, welche den Künstler so leicht und so begreiflicherweise befällt, auch einmal über die gerade i h m verbotene Wiese zu gehen und in der W i s s e n s c h a f t ein W o r t mitzusprechen — der Tüchtigste nämlich findet zeitweilig sein H a n d w e r k und seine Werkstätte unausstehlich —, diese Versuchung bringt den Künstler so weit, aller Welt zu zeigen, was sie gar nicht zu sehen braucht, nämlich, dass es in seinem Denkzimmerchen eng und unordentlich aussieht — w a r u m auch nicht? er w o h n t ja nicht darin! —, dass die Vorrathsspeicher seines Wissens theils leer, theils mit Krimskrams gefüllt sind — w a r u m auch nicht? es steht diess sogar im G r u n d e dem Künstler-Kinde nicht übel an —, namentlich aber, dass selbst f ü r die leichtesten Handgriffe der wissenschaftlichen Methode, die selbst Anfängern geläufig sind, seine Gelenke zu ungeübt und schwerfällig sind — und auch dessen braucht er sich wahrlich nicht zu schämen! — Dagegen entfaltet er oftmals keine geringe Kunst darin, alle die Fehler, Unarten
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Menschliches, Allzumenschliches II
und schlechten Gelehrtenhaftigkeiten, wie sie in der wissenschaftlichen Zunft v o r k o m m e n , n a c h z u a h m e n , im Glauben, diess eben gehöre, wenn nicht zur Sache, so doch zum Schein der Sache; und diess gerade ist das Lustige an solchen KünstlerSchriften, dass hier der Künstler, ohne es zu wollen, doch t h u t , was seines Amtes ist: die wissenschaftlichen und unkünstlerischen N a t u r e n z u p a r o d i r e n . Eine andere Stellung zur Wissenschaft, als die parodische, sollte er nämlich nicht haben, soweit er eben der Künstler und n u r der Künstler ist.
124. D i e F a u s t - I d e e . — Eine kleine Nähterin wird v e r f ü h r t und unglücklidi gemacht; ein grosser Gelehrter aller vier Facultäten ist der Uebelthäter. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein? Nein, gewiss nicht! Ohne die Beihülfe des leibhaftigen Teufels hätte es der grosse Gelehrte nicht zu Stande gebracht. — Sollte diess wirklich der grösste deutsche „tragische Gedanke" sein, wie man unter Deutschen sagen hört? — Für Goethe war aber auch dieser Gedanke noch zu fürchterlich; sein mildes H e r z k o n n t e nicht umhin, die kleine Nähterin, „die gute Seele, die n u r einmal sich vergessen," nach ihrem unfreiwilligen Tode in die N ä h e der Heiligen zu versetzen; ja, selbst den grossen Gelehrten brachte er, durch einen Possen, der dem Teufel im entscheidenden Augenblick gespielt wird, noch zur rechten Zeit in den Himmel, ihn „den guten Menschen" mit dem „dunklen Drange": — d o r t im H i m m e l finden sich die Liebenden wieder. — Goethe sagt einmal, f ü r das eigentlich Tragische sei seine N a t u r zu conciliant gewesen.
I2J.
G i e b t e s „ d e u t s c h e C l a s s i k e r " ? — Sainte-Beuve bemerkt einmal, dass zu der A r t einiger Litteraturen das W o r t
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„Classiker" durchaus nicht klingen wolle: wer werde zum Beispiel so leicht von „deutschen Classikern" reden! — Was sagen unsre deutschen Buchhändler dazu, welche auf dem Wege sind, die fünfzig deutschen Classiker, an die wir schon glauben sollen, noch um weitere fünfzig zu vermehren? Scheint es doch fast, als ob man eben nur dreissig Jahre lang todt zu sein und als erlaubte Beute öffentlich da zu liegen brauche, um unversehens plötzlich als Classiker die Trompete der Auferstehung zu hören! Und diess in einer Zeit und unter einem Volke, wo selbst von den sechs grossen Stammvätern der Litteratur fünf unzweideutig veralten oder veraltet sind, — o h n e dass diese Zeit und dieses Volk sich gerade d e s s e n zu schämen hätten! Denn jene sind vor den S t ä r k e n dieser Zeit zurückgewichen, — man überlege es sich nur mit aller Billigkeit! — Von Goethe, wie angedeutet, sehe ich ab, er gehört in eine höhere Gattung von L i teraturen, als „National-Litteraturen" sind: desshalb steht er auch zu seiner N a t i o n weder im Verhältniss des Lebens, noch des Neuseins, noch des Veraltens. N u r für Wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die Meisten ist er Nichts, als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Gränze hinüberbläst. Goethe, nicht nur ein guter und grosser Mensch, sondern eine C u 11 u r , Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen: wer wäre im Stande, in der deutschen Politik der letzten siebenzig Jahre zum Beispiel ein Stück Goethe aufzuzeigen! (während jedenfalls darin ein Stück Schiller, und vielleicht sogar ein Stückchen Lessing thätig gewesen ist). Aber jene andern Fünf! Klopstock veraltete schon bei Lebzeiten auf eine sehr ehrwürdige Weise: und so gründlich, dass das nachdenkliche Buch seiner späteren Jahre, die Gelehrten-Republik, wohl bis heutigen Tag von Niemandem ernst genommen worden ist. Herder hatte das Unglück, dass seine Schriften immer entweder neu oder veraltet waren; für die feineren und stärkeren Köpfe (wie für Lichtenberg) war zum Beispiel selbst Herder's Hauptwerk, seine Ideen zur Geschichte
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der Menschheit, sofort beim Erscheinen etwas Veraltetes. Wieland, der reichlich gelebt und zu leben gegeben hat, kam als ein kluger Mann dem Schwinden seines Einflusses durch den Tod zuvor. Lessing lebt vielleicht heute noch, — aber unter jungen und immer jüngeren Gelehrten! Und Schiller ist jetzt aus den Händen der Jünglinge in die der Knaben, aller deutschen Knaben gerathen! Es ist ja eine bekannte Art des Veraltens, dass ein Buch zu immer unreiferen Lebensaltern hinabsteigt. — Und was hat diese Fünf zurückgedrängt, sodass gut unterrichtete und arbeitsame Männer sie nicht mehr lesen? Der bessere Geschmack, das bessere Wissen, die bessere Achtung vor dem Wahren und Wirklichen; also lauter Tugenden, welche gerade durch jene Fünf (und durch zehn und zwanzig Andere weniger lauten Namens) erst wieder in Deutschland a n g e p f l a n z t worden sind, und welche jetzt als hoher Wald über ihren Gräbern neben dem Schatten der Ehrfurcht auch etwas vom Schatten der Vergessenheit breiten. — Aber C l a s s i k e r sind nicht A n p f 1 a n z e r von intellectuellen und litterarischen Tugenden, sondern V o l l e n d e r und höchste Lichtspitzen derselben, welche über den Völkern stehen bleiben, wenn diese selber zu Grunde gehen: denn sie sind leichter, freier, reiner als sie. Es ist ein hoher Zustand der Menschheit möglich, wo das Europa der Völker eine dunkle Vergessenheit ist, wo Europa aber noch in dreissig sehr alten, nie veralteten Büchern 1 e b t : in den Classikern.
126. I n t e r e s s a n t , a b e r n i c h t s c h ö n . — Diese Gegend verbirgt ihren Sinn, aber sie hat einen, den man errathen möchte: wohin ich sehe, lese ich Worte und Winke zu Worten, aber ich weiss nicht, wo der Satz beginnt, der das Räthsel aller dieser Winke löst, und werde zum Wendehals darüber, zu untersuchen, ob von hier oder von dort aus zu lesen ist.
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127. G e g e n d i e S p r a c h - N e u e r e r . — In der Sprache neuern oder alterthümeln, das Seltene und Fremdartige vorziehen, auf Reichthum des Wortschatzes anstatt auf Beschränkung trachten, ist immer ein Zeichen des ungereiften oder verderbten Geschmacks. Eine edele Armuth, aber innerhalb des unscheinbaren Besitzes eine meisterliche Freiheit zeichnet die griechischen Künstler der Rede aus: sie wollen w e n i g e r haben, als das Volk hat — denn dieses ist am reichsten in Altem und Neuem — aber sie wollen diess Wenige b e s s e r haben. Man ist schnell mit dem Aufzählen ihrer Archaismen und Fremdartigkeiten fertig, aber kommt nicht zu Ende im Bewundern, wenn man für die leichte und zarte Art ihres Verkehrs mit dem Alltäglichen und scheinbar längst Verbrauchten in Worten und Wendungen ein gutes Auge hat.
128. Die t r a u r i g e n und die e r n s t e n A u t o r e n . — Wer zu Papier bringt was er l e i d e t , wird ein trauriger Autor: aber ein e r n s t e r , wenn er uns sagt, was er l i t t und wesshalb er jetzt in der Freude ausruht. 129. G e s u n d h e i t d e s G e s c h m a c k s . — Wie kommt es, dass die Gesundheiten nicht so ansteckend sind wie die Krankheiten — überhaupt, und namentlich im Geschmack? Oder giebt es Epidemien der Gesundheit? —
130. V o r s a t z . — Kein Buch mehr lesen, das zu gleicher Zeit geboren und (mit Tinte) getauft wurde.
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131. D e n G e d a n k e n v e r b e s s e r n . — Den Stil verbessern — das heisst den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter! — Wer diess nicht sofort zugiebt, ist auch nie davon zu überzeugen.
132. C l a s s i s c h e B ü c h e r . — Die schwächste Seite jedes classischen Buches ist die, dass es zu sehr in der Mutterprache seines Autors geschrieben ist.
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S c h l e c h t e B ü c h e r . — Das Buch soll nach Feder, Tinte und Schreibtisch verlangen: aber gewöhnlich verlangen Feder, Tinte und Schreibtisch nach dem Buche. Desshalb ist es jetzt so wenig mit Büchern. 134. S i n n e s g e g e n w a r t . — Das Publicum wird, wenn es über Gemälde nachdenkt, dabei zum Dichter, und wenn es über Gedichte nachdenkt, zum Forscher. Im Augenblick, da der Künstler es anruft, fehlt es ihm immer am r e c h t e n Sinn, nicht also an der Geistes-, sondern an der Sinnesgegenwart.
135G e w ä h l t e G e d a n k e n . — Der gewählte Stil einer bedeutenden Zeit wählt nicht nur die Worte, sondern auch die Gedanken aus, — und zwar beide aus dem U e b l i c h e n und H e r r s c h e n d e n : die gewagten und allzufrischriechenden Gedanken sind dem reiferen Geschmack nicht minder zuwider,
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als die neuen tollkühnen Bilder und Ausdrücke. Später riecht Beides — der gewählte Gedanke und das gewählte Wort — leicht nach Mittelmässigkeit, weil der Geruch des Gewählten sich schnell verflüchtigt und dann nur noch das Uebliche und Alltägliche daran geschmeckt wird.
136.
H a u p t g r u n d der V e r d e r b n i s s des Stils. — Mehr Empfindung für eine Sache z e i g e n wollen, als man wirklich h a t , verdirbt den Stil, in der Sprache und in allen Künsten. Vielmehr hat alle grosse Kunst die umgekehrte Neigung: sie liebt es, gleich jedem sittlich bedeutenden Menschen, das Gefühl auf seinem Wege anzuhalten und nicht ganz an's Ende laufen zu lassen. Diese Scham der halben Gefühls-Sichtbarkeit ist zum Beispiel bei Sophokles auf das Schönste zu beobachten; und es scheint die Züge der Empfindung zu verklären, wenn diese sich selber nüchterner giebt, als sie ist.
13 7Zur Entschuldigung der schwerfälligen S t i l i s t e n . — Das Leicht-Gesagte fällt selten so schwer in's Gehör, als die Sache wirklich wiegt — das liegt aber an den schlecht geschulten Ohren, welche aus der Erziehung durch Das, was man bisher Musik nannte, in die Schule der höheren Tonkunst, das heisst der R e d e , übergehen müssen.
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V o g e l p e r s p e c t i v e . — Hier stürzen Wildwasser von mehreren Seiten einem Schlünde zu: ihre Bewegung ist so stürmisch und reisst das Auge so mit sich fort, dass die kahlen und bewaldeten Gebirgshänge ringsum nicht abzusinken, sondern
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wie h i n a b z u f l i e h e n scheinen. Man wird beim Anblick angstvoll gespannt, als ob etwas Feindseliges hinter alledem verborgen liege, vor dem Alles flüchten müsse, und gegen das uns der Abgrund Schutz verliehe. Diese Gegend ist gar nicht zu malen, es sei denn, dass man wie ein Vogel in der freien Luft über ihr schwebe. Hier ist einmal die sogenannte Vogelperspective nicht eine künstlerische Willkür, sondern die einzige Möglichkeit. 139-
G e w a g t e V e r g l e i c h u n g e n . — Wenn die gewagten Vergleichungen nicht Beweise v o m Muthwillen des Schriftstellers sind, so sind sie Beweise seiner ermüdeten Phantasie. In jedem Falle aber sind sie Beweise seines schlechten Geschmackes.
140.
I n K e t t e n t a n z e n . — Bei jedem griechischen Künstler, Dichter und Schriftsteller ist zu fragen: welches ist der n e u e Z w a n g , den er sich auferlegt u n d den er seinen Zeitgenossen reizvoll macht (sodass er Nachahmer findet)? Denn was man „Erfindung" (im Metrischen zum Beispiel) nennt, ist immer eine solche selbstgelegte Fessel. „In Ketten tanzen", es sich schwer machen u n d dann die Täuschung der Leichtigkeit darüber breiten, — das ist das Kunststück, welches sie uns zeigen wollen. Schon bei H o m e r ist eine Fülle von vererbten Formeln und epischen Erzählungsgesetzen wahrzunehmen, i n n e r h a l b deren er tanzen musste: und er selber schuf neue Conventionen f ü r die Kommenden hinzu. Diess war die Erziehungs-Schule der griechischen Dichter: zuerst also einen vielfältigen Zwang sich auferlegen lassen, durch die früheren Dichter; sodann einen neuen Zwang hinzuerfinden, ihn sich auferlegen und ihn anmuthig besiegen: sodass Zwang und Sieg bemerkt und bewundert werden.
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141. F ü l l e d e r A u t o r e n . — Das Letzte, was ein guter A u t o r b e k o m m t , ist Fülle; wer sie mitbringt, wird nie ein guter A u t o r werden. Die edelsten Rennpferde sind mager, bis sie von ihren Siegen a u s r u h e n dürfen.
142. K e u c h e n d e H e l d e n . — Dichter und Künstler, die an Engbrüstigkeit des Gefühls leiden, lassen ihre Helden am meisten keuchen: sie verstehen sich auf das leichte A t h m e n nicht.
143. D e r H a l b - B l i n d e . — Der Halb-Blinde ist der T o d feind aller Autoren, welche sich gehen lassen. Diese sollten seinen Ingrimm kennen, mit dem er ein Buch zuschlägt, aus welchem er merkt, dass sein Verfasser fünfzig Seiten braucht, u m fünf Gedanken mitzutheilen: jenen I n g r i m m darüber, den Rest seiner Augen fast ohne Entgelt in G e f a h r gebracht zu haben. — Ein Halb-Blinder sagte: a l l e Autoren haben sich gehen lassen. — „Auch der heilige G e i s t ? " — Auch der heilige Geist. Aber der d u r f t e es; er schrieb für die Ganz-Blinden.
144. D e r S t i l d e r U n s t e r b l i c h k e i t . — Thukydides sowohl wie Tacitus, — beide haben beim Ausarbeiten ihrer Werke an eine unsterbliche Dauer derselben gedacht: diess würde, wenn m a n es sonst nicht wüsste, schon aus ihrem Stile zu errathen sein. D e r Eine glaubte seinen Gedanken durch Einsalzen, der A n d e r e durch Einkochen Dauerhaftigkeit zu geben; und Beide, scheint es, haben sich nicht verrechnet.
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Menschliches, Allzumensdiliches I I
145-
G e g e n B i l d e r u n d G l e i c h n i s s e . — Mit Bildern und Gleichnissen überzeugt man, aber beweist nicht. Desshalb hat man innerhalb der Wissenschaft eine solche Scheu vor Bildern und Gleichnissen; man will hier gerade das Ueberzeugende, das G l a u b l i c h - Machende n i c h t und fordert vielmehr das kälteste Misstrauen auch schon durch die Ausdrucksweise und die kahlen Wände heraus: weil das Misstrauen der Prüfstein für das Gold der Gewissheit ist. 146. V o r s i c h t . — Wem es an gründlichem Wissen gebricht, der mag sich in Deutschland ja hüten, zu schreiben. Denn der gute Deutsche sagt da nicht: „er ist unwissend", sondern: „er ist von zweifelhaftem Charakter." — Dieser übereilte Schluss macht übrigens den Deutschen alle Ehre.
147. B e m a l t e G e r i p p e . — Bemalte Gerippe: das sind jene Autoren, welche Das, was ihnen an Fleisch abgeht, durch künstliche Farben ersetzen möchten.
148. D e r g r o s s a r t i g e S t i l u n d d a s H ö h e r e . — Man lernt es schneller grossartig schreiben, als leicht und schlicht schreiben. Die Gründe davon verlieren sich in's Moralische.
149. S e b a s t i a n B a c h . — Sofern man Bach's Musik n i c h t als vollkommener und gewitzigter Kenner des Contrapunctes
2. D e r W a n d e r e r und sein Schatten 1 4 5 — 1 5 2
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und aller Arten des fugirten Stiles hört, und demgemäss des eigentlichen artistischen Genusses entrathen muss, wird es uns als Hörern seiner Musik zu Muthe sein (um uns grandios mit Goethe auszudrücken), als ob wir dabei wären, w i e G o t t d i e W e l t s c h u f . Das heisst: wir fühlen, dass hier etwas Grosses im Werden ist, aber noch nicht ist: unsere g r o s s e moderne Musik. Sie hat schon die Welt überwunden, dadurch dass sie die Kirche, die Nationalitäten und den Contrapunct überwand. In Bach ist noch zu viel crude Christlichkeit, crudes Deutschthum, crude Scholastik; er steht an der Schwelle der europäischen (modernen) Musik, aber schaut sich von hier nach dem Mittelalter um. 150.
H ä n d e l . — Händel, im Erfinden seiner Musik kühn, neuerungssüchtig, wahrhaft, gewaltig, dem Heroischen zugewandt und verwandt, dessen ein V o l k fähig ist, — wurde bei der Ausarbeitung oft befangen und kalt, ja an sich selber müde; da wendete er einige erprobte Methoden der Durchführung an, schrieb schnell und viel, und war froh, wenn er fertig war, — aber nicht in der Art froh, wie es Gott und andere Schöpfer am Abende ihres Werktags gewesen sind.
IJI.
H a y d n . — Soweit sich Genialität mit einem schlechthin g u t e n Menschen verbinden kann, hat Haydn sie gehabt. Er geht gerade bis an die Gränze, welche die Moralität dem Intellect zieht; er macht lauter Musik, die „keine Vergangenheit" hat. 152.
B e e t h o v e n u n d M o z a r t . — Beethoven's Musik erscheint häufig wie eine tiefbewegte B e t r a c h t u n g beim un-
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erwarteten Wiederhören eines längst verloren geglaubten Stückes „Unschuld in T ö n e n " ; es ist Musik ü b e r Musik. Im Liede der Bettler und Kinder auf der Gasse, bei den eintönigen Weisen wandernder Italiäner, beim Tanze in der Dorfschenke oder in den Nächten des Carnevals, — da entdeckte er seine „Melodien": er trägt sie wie eine Biene zusammen, indem er bald hier bald dort einen Laut, eine kurze Folge erhascht. Es sind ihm verklärte E r i n n e r u n g e n aus der „besseren Welt": ähnlich wie Plato es sich von den Ideen dachte. — Mozart steht ganz anders zu seinen Melodien: er findet seine Inspirationen nicht beim H ö r e n von Musik, sondern im Schauen des Lebens, des bewegtesten s ü d l ä n d i s c h e n Lebens: er träumte immer von Italien, wenn er nicht d o r t war.
153-
R e c i t a t i v . — Ehemals war das Recitativ trocken; jetzt leben wir in der Zeit des n a s s e n R e c i t a t i v s : e s i s t in's Wasser gefallen, und die Wellen reissen es, wohin sie wollen.
154.
„ H e i t e r e " M u s i k . — H a t man lange die Musik entbehrt, so geht sie nachher wie ein schwerer Südwein allzuschnell in's Blut und hinterlässt eine narkotisch betäubte, halbwache, schlaf-sehnsüchtige Seele; namentlich t h u t diess gerade die h e i t e r e Musik, welche zusammen Bitterkeit und Verwundung, Ueberdruss u n d Heimweh giebt u n d Alles wie in einem verzuckerten Giftgetränk wieder und wieder zu schlürfen nöthigt. Dabei scheint der Saal der heiter rauschenden Freude sich zu verengern, das Licht an Helle zu verlieren und bräuner zu werden: zuletzt ist es Einem zu Muthe, als ob die Musik wie in ein Gefängniss hineinklinge, wo ein armer Mensch vor Heimweh nicht schlafen kann.
2. D e r W a n d e r e r und sein Schatten 152—156
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15 5-
F r a n z S c h u b e r t . — Franz Schubert, ein geringerer Artist als die andern grossen Musiker, hatte doch von Allen den grössten E r b r e i c h t h u m an Musik. Er verschwendete ihn mit voller H a n d und aus gütigem H e r z e n : sodass die Musiker noch ein paar Jahrhunderte an seinen Gedanken und Einfällen zu z e h r e n haben werden. In seinen Werken haben wir einen Schatz von u n v e r b r a u c h t e n Erfindungen; Andere werden ihre Grösse im Verbrauchen haben. — D ü r f t e man Beethoven den idealen Zuhörer eines Spielmannes nennen, so hätte Schubert darauf ein Anrecht, selber der ideale Spielmann zu heissen.
156.
M o d e r n s t e r V o r t r a g d e r M u s i k . — Der grosse tragisch-dramatische Vortrag in der Musik b e k o m m t seinen Charakter durch Nachahmung der Gebärden des g r o s s e n S ü n d e r s , wie ihn das Christenthum sich denkt und wünscht: des langsam schreitenden, leidenschaftlich Grübelnden, des von Gewissensqual H i n - und Hergeworfenen, des entsetzt Fliehenden, des entzückt Haschenden, des verzweifelt Stillestehenden — und was sonst Alles die Merkmale des grossen Sünderthums sind. N u r unter der Voraussetzung des Christen, dass alle Menschen grosse Sünder sind und gar Nichts thun, als sündigen, liesse es sich rechtfertigen, jenen Stil des Vortrags auf a l l e Musik anzuwenden: insofern die Musik das Abbild alles menschlichen Thuns und Treibens wäre, und als solches die Gebärdensprache des grossen Sünders fortwährend zu sprechen hätte. Ein Zuhörer, der nicht genug Christ wäre, u m diese Logik zu verstehen, d ü r f t e freilich bei einem solchen Vortrage erschreckt ausrufen: „ U m des Himmels willen, wie ist denn die Sünde in die Musik gekommen!"
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Menschliches, Allzumenschliches II
IJ7F e l i x M e n d e l s s o h n . — Felix Mendelssohn's Musik ist die Musik des guten Geschmacks an allem Guten, was dagewesen ist: sie weist immer hinter sich. Wie könnte sie viel „Vorsieh", viel Zukunft haben! — Aber hat er sie denn haben w o 1 1 e n ? Er besass eine Tugend, die unter Künstlern selten ist, die der Dankbarkeit ohne Nebengedanken: auch diese Tugend weist immer hinter sich.
IJ8.
E i n e M u t t e r d e r K ü n s t e . — In unserem skeptischen Zeitalter gehört zur eigentlichen D e v o t i o n fast ein brutaler Heroismus des E h r g e i z e s ; das fanatische Augenschliessen und Kniebeugen genügt nicht mehr. Wäre es nicht möglich, dass der Ehrgeiz, in der Devotion der letzte für alle Zeiten zu sein, der Vater einer letzten katholischen Kirchenmusik würde, wie er schon der Vater des letzten kirchlichen Baustils gewesen ist? (Man nennt ihn Jesuitenstil.)
159F r e i h e i t in F e s s e l n — e i n e f ü r s t l i c h e F r e i h e i t . — Der letzte der neueren Musiker, der die Schönheit geschaut und angebetet hat, gleich Leopardi, der Pole Chopin, der Unnachahmliche — alle vor und nach ihm Gekommenen haben auf diess Beiwort kein Anrecht — Chopin hatte die selbe fürstliche Vornehmheit der Convention, welche Raffael im Gebrauche der herkömmlichen einfachsten Farben zeigt, — aber nicht in Bezug auf Farben, sondern auf die melodischen und rhythmischen Herkömmlichkeiten. Diese Hess er gelten, a l s g e b o r e n i n d e r E t i q u e t t e , aber wie der freieste und anmuthigste Geist in diesen Fesseln spielend und tanzend — und zwar o h n e sie zu verhöhnen.
2. Der Wanderer und sein Schatten 157—163
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160. C h o p i n ' s B a r c a r o l e . — Fast alle Zustände und Lebensweisen haben einen s e l i g e n Moment. D e n wissen die guten Künstler herauszufischen. So hat einen solchen selbst das 5 Leben am Strande, das so langweilige, schmutzige, ungesunde, in der Nähe des lärmendsten und habgierigsten Gesindels sich abspinnende; — diesen seligen Moment hat Chopin, in der Barcarole, so zum Ertönen gebracht, dass selbst Götter dabei gelüsten könnte, lange Sommerabende in einem Kahne zu liegen.
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161. R o b e r t S c h u m a n n . — Der „Jüngling", wie ihn die romantischen Liederdichter Deutschlands und Frankreichs um das erste Drittel dieses Jahrhunderts träumten, — dieser Jüngling ist vollständig in Sang und Ton übersetzt worden — durch Robert Schumann, den ewigen Jüngling, so lange er sich in voller eigner Kraft fühlte: es giebt freilich Momente, in denen seine Musik an die ewige „alte Jungfer" erinnert.
162. D i e d r a m a t i s c h e n S ä n g e r . — „Warum singt dieser 20 Bettler?" — Er versteht wahrscheinlich nicht zu jammern. — „Dann thut er Recht: aber unsere dramatischen Sänger, welche jammern, weil sie nicht zu singen verstehen — thun sie auch das Rechte?" 163. 25
D r a m a t i s c h e M u s i k . — Für Den, welcher nicht sieht, was auf der Bühne vorgeht, ist die dramatische Musik ein Unding; so gut der fortlaufende Commentar zu einem verloren gegangenen Texte ein Unding ist. Sie verlangt ganz eigentlich, dass man auch die Ohren dort habe, wo die Augen stehen; da-
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mit ist aber an Euterpe Gewalt geübt: diese arme Muse will, dass man ihre Augen und Ohren dort stehen lasse, w o alle anderen Musen sie auch haben. 164.
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S i e g u n d V e r n ü n f t i g k e i t . — Leider entscheidet auch bei den ästhetischen Kriegen, welche Künstler mit ihren Werken und deren Schutzreden erregen, zuletzt die Kraft, und nicht die Vernunft. Jetzt nimmt alle Welt als historische Tatsache an, dass Gluck im K a m p f e mit Piccini R e c h t gehabt 10 habe: jedenfalls hat er g e s i e g t ; die K r a f t stand auf seiner Seite. 165. V o m P r i n c i p e des V o r t r a g s in d e r M u s i k . — Glauben denn wirklich die jetzigen Künstler des musikalischen I S Vortrags, das höchste Gebot ihrer Kunst sei, jedem Stück so viel H o c h r e l i e f zu geben, als nur möglich ist, und es um jeden Preis eine d r a m a t i s c h e Sprache reden zu lassen? Ist diess zum Beispiel auf Mozart angewendet, nicht ganz eigentlich eine Sünde wider den Geist, den heiteren, sonnigen, zärtlichen, 20 leichtsinnigen Geist Mozart's, dessen Ernst ein gütiger und nicht ein furchtbarer Ernst ist, dessen Bilder nicht aus der Wand herausspringen wollen, um die Anschauenden in Entsetzen und Flucht zu jagen. Oder meint ihr, Mozartische Musik sei gleichbedeutend mit „Musik des steinernen Gastes"? U n d nicht nur 25 Mozartische, sondern alle Musik? — A b e r ihr entgegnet, die grössere W i r k u n g spreche zu Gunsten eures Princips — und ihr hättet Recht, wofern nicht die Gegenfrage übrig bliebe, a u f w e n da gewirkt worden sei, und auf wen ein vornehmer Künstler überhaupt nur wirken w o l l e n d ü r f e ! Niemals 3° auf das V o l k ! Niemals auf die Unreifen! Niemals auf die E m p findsamen! Niemals auf die Krankhaften! V o r Allem aber: niemals auf die Abgestumpften!
2. D e r W a n d e r e r und sein Schatten 1 6 3 — 1 6 8
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166. M u s i k v o n h e u t e . — Diese modernste Musik, mit ihren starken Lungen und schwachen Nerven, erschrickt immer zuerst vor sich selber.
5
167.
W o d i e M u s i k h e i m i s c h i s t . — Die Musik erlangt ihre grosse Macht nur unter Menschen, welche nicht discutiren können oder dürfen. Ihre Förderer ersten Ranges sind desshalb Fürsten, welche wollen, dass in ihrer N ä h e nicht viel kritisirt, 10 ja, nicht einmal viel gedacht werde; sodann Gesellschaften, welche, unter irgend einem Drucke (einem fürstlichen oder religiösen) sich an das Schweigen gewöhnen müssen, aber u m so stärkere Zaubermittel gegen die Langeweile des Gefühls suchen (gewöhnlich die ewige Verliebtheit und die ewige Musik); drit15 tens ganze Völker, in denen es keine „Gesellschaft" giebt, aber u m so mehr Einzelne mit einem H a n g zur Einsamkeit, zu halbdunklen Gedanken und zur Verehrung alles Unaussprechlichen: es sind die eigentlichen Musikseelen. — Die Griechen, als ein red- und streitlustiges Volk, haben desshalb die Musik nur als Z u k o s t zu Künsten vertragen, über welche sich wirklich streiten und reden lässt: während über die Musik sich k a u m reinlich d e n k e n lässt. — Die Pythagoreer, jene Ausnahme-Griechen in vielen Stücken, waren, wie verlautet, auch grosse Musiker: die selben, welche das fünfjährige Schweigen, aber n i c h t die 25 Dialektik erfunden haben.
168.
S e n t i m e n t a l i t ä t i n d e r M u s i k . — M a n sei der ernsten und reichen Musik noch so gewogen, u m so mehr vielleicht wird man in einzelnen Stunden von dem Gegenstück der3° selben überwunden, bezaubert und fast hinweggeschmolzen; ich
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meine: von jenen allereinfachsten italiänischen Opern-Melismen, welche, trotz aller rhythmischen Einförmigkeit und harmonischen Kinderei, uns mitunter wie die Seele der Musik selber anzusingen scheinen. Gebt es zu oder nicht, ihr Pharisäer des guten Geschmacks: es i s t so, und mir liegt jetzt daran, dieses Räthsel, dass es so ist, zum Rathen aufzugeben und selber ein Wenig daran herumzurathen. — Als wir noch Kinder waren, haben wir den Honigseim vieler Dinge zum ersten Mal gekostet, niemals wieder war der Honig so gut wie damals, er verführte zum Leben, zum längsten Leben, in der Gestalt des ersten Frühlings, der ersten Blumen, der ersten Schmetterlinge, der ersten Freundschaft. Damals — es war vielleicht um das neunte Jahr unseres Lebens — hörten wir die erste Musik, und das war die, welche wir zuerst v e r s t a n d e n , die einfachste und kindlichste also, welche nicht viel mehr als ein Weiterspinnen des Ammenliedes und der Spielmannsweise war. (Man muss nämlich auch für die geringsten „Offenbarungen" der Kunst erst v o r b e r e i t e t und e i n g e l e r n t werden: es giebt durchaus keine „unmittelbare" Wirkung der Kunst, so schön auch die Philosophen davon gefabelt haben.) An jene ersten musikalischen Entzückungen — die stärksten unseres Lebens — knüpft unsere Empfindung an, wenn wir jene italiänischen Melismen hören: die Kindes-Seligkeit und der Verlust der Kindheit, das Gefühl des Unwiederbringlichsten als des köstlichsten Besitzes, — das rührt dabei die Saiten unsrer Seele an, so stark wie es die reichste und ernsteste Gegenwart der Kunst allein nicht vermag. — Diese Mischung ästhetischer Freude mit einem moralischen Kummer, welche man gemeinhin jetzt „Sentimentalität" zu nennen pflegt, etwas gar zu hoffährtig, wie mir scheint, — es ist die Stimmung Faustens am Schlüsse der ersten Scene — diese „Sentimentalität" der Hörenden kommt der italiänischen Musik zu Gute, welche sonst die erfahrenen Feinschmecker der Kunst, die reinen „Aesthetiker", zu ignoriren lieben. — Uebrigens wirkt fast jede Musik erst von da an z a u b e r h a f t , wo
2. Der Wanderer und sein Schatten 168—170
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wir aus ihr die Sprache der eigenen V e r g a n g e n h e i t reden hören: und insofern scheint dem Laien alle alte Musik immer besser zu werden, und alle eben geborene nur wenig werth zu sein: denn sie erregt noch keine „Sentimentalität", welche, wie gesagt, das wesentlichste Glücks-Element der Musik für Jeden ist, der nicht rein als Artist sich an dieser Kunst zu freuen vermag. 169. A l s F r e u n d e d e r M u s i k . — Zuletzt sind und bleiben wir der Musik gut, wie wir dem Mondlicht gut bleiben. Beide wollen ja nicht die Sonne verdrängen, — sie wollen nur, so gut sie es können, unsere N ä c h t e erhellen. Aber nichtwahr? scherzen und lachen dürfen wir trotzdem über sie? Ein Wenig wenigstens? Und von Zeit zu Zeit? Ueber den Mann im Monde! Ueber das Weib in der Musik!
170. D i e K u n s t in d e r Z e i t d e r A r b e i t . — Wir haben das Gewissen eines a r b e i t s a m e n Zeitalters: diess erlaubt uns nicht, die besten Stunden und Vormittage der Kunst zu geben, und wenn diese Kunst selber die grösste und würdigste wäre. Sie gilt uns als Sache der Müsse, der Erholung: wir weihen ihr die R e s t e unserer Zeit, unserer Kräfte. — Diess ist die allgemeinste Thatsache, durch welche die Stellung der Kunst zum Leben verändert ist: sie hat, wenn sie ihre g r o s s e n Zeit- und Kraft-Ansprüche an die Kunst-Empfangenden macht, das Gewissen der Arbeitsamen und Tüchtigen g e g e n sich, sie ist auf die Gewissenlosen und Lässigen angewiesen, welche aber, ihrer Natur nach, gerade der g r o s s e n Kunst nicht zugethan sind und ihre Ansprüche als Anmaassungen empfinden. Es dürfte desshalb mit ihr zu Ende sein, weil ihr die Luft und der freie Athem fehlt: oder — die grosse Kunst versucht, in einer Art
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Vergröberung und Verkleidung, in jener anderen L u f t heimisch zu werden (mindestens es in ihr auszuhalten), die eigentlich nur f ü r die k l e i n e Kunst, f ü r die K u n s t der Erholung, der ergötzlichen Zerstreuung das natürliche Element ist. Diess geschieht jetzt allerwärts; auch die Künstler der grossen K u n s t versprechen Erholung und Zerstreuung, auch sie wenden sich an den E r müdeten, auch sie bitten ihn u m die Abendstunden seines A r beitstages, — ganz wie die unterhaltenden Künstler, welche zufrieden sind, gegen den schweren Ernst der Stirnen, das Versunkene der Augen einen Sieg errungen zu haben. Welches ist nun der Kunstgriff ihrer grösseren Genossen? Diese haben in ihren Büchsen die gewaltsamsten Erregungsmittel, bei denen selbst der H a l b t o d t e noch zusammenschrecken muss; sie haben Betäubungen, Berauschungen, Erschütterungen, Thränenk r ä m p f e : mit diesen überwältigen sie den Ermüdeten und bringen ihn in eine übernächtige Ueberlebendigkeit, in ein Aussersich-sein des Entzückens und des Schreckens. D ü r f t e man, wegen der Gefährlichkeit ihrer Mittel, der grossen Kunst, wie sie jetzt, als O p e r , Tragödie und Musik, lebt, — d ü r f t e man ihr als einer arglistigen Sünderin zürnen? Gewiss nicht: sie lebte ja selber hundertmal lieber in dem reinen Element der morgendlichen Stille und wendete sich an die erwartenden, unverbrauchten, kraftgefüllten Morgen-Seelen der Zuschauer und Zuhörer. D a n ken wir ihr, dass sie es vorzieht, so zu leben, als davonzufliehen: aber gestehen wir uns auch ein, dass f ü r ein Zeitalter, welches einmal wieder freie, volle Fest- und Freudentage in das Leben einführt, u n s e r e grosse Kunst unbrauchbar sein wird.
171. Die A n g e s t e l l t e n der W i s s e n s c h a f t und die A n d e r e n . — Die eigentlich tüchtigen und erfolgreichen Gelehrten könnte man insgesammt als „Angestellte" bezeichnen. Wenn, in jungen Jahren, ihr Scharfsinn hinreichend geübt, ihr
2. Der Wanderer und sein Schatten 1 7 0 — 1 7 1
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Gedächtniss gefüllt ist, wenn Hand und Auge Sicherheit gewonnen haben, so werden sie von einem älteren Gelehrten auf eine Stelle der Wissenschaft angewiesen, wo ihre Eigenschaften Nutzen bringen können; späterhin, nachdem sie selber den Blick für die lückenhaften und schadhaften Stellen ihrer Wissenschaft erlangt haben, stellen sie sich von selber dorthin, wo sie noth thun. Diese Naturen allesammt sind um der Wissenschaft willen da: aber es giebt seltnere, selten gelingende und völlig ausreifende Naturen, „um derentwillen die Wissenschaft da ist" — wenigstens scheint es ihnen selber so — : oft unangenehme, oft eingebildete, oft querköpfige, fast immer aber bis zu einem Grade zauberhafte Menschen. Sie sind nicht Angestellte, und auch nicht Ansteller, sie bedienen sich dessen, was von Jenen erarbeitet und sichergestellt worden ist, in einer gewissen fürstenhaften Gelassenheit und mit geringem und seltenem Lobe: gleichsam als ob Jene einer niedrigem Gattung von Wesen angehörten. Und doch haben sie eben nur die gleichen Eigenschaften, wodurch diese Anderen sich auszeichnen, und diese mitunter sogar ungenügender entwickelt: obendrein ist ihnen eine B e s c h r ä n k t h e i t eigentümlich, die Jenen fehlt, und derentwegen es unmöglich ist, sie an einen Posten zu stellen und in ihnen nützliche Werkzeuge zu sehen, — sie können nur i n i h r e r e i g e n e n L u f t , auf ihrem eigenen Boden leben. Diese Beschränktheit giebt ihnen ein, was Alles von einer Wissenschaft „zu ihnen gehöre", das heisst, was sie in ihre Luft und Wohnung heimtragen können; sie wähnen immer ihr zerstreutes „Eigenthum" zu sammeln. Verhindert man sie, an ihrem eigenen Neste zu bauen, so gehen sie wie obdachlose Vögel zu Grunde; Unfreiheit ist für sie Schwindsucht. Pflegen sie einzelne Gegenden der Wissenschaft in der Art jener Anderen, so sind es doch immer nur solche, wo gerade die ihnen nöthigen Früchte und Samen gedeihen; was geht es sie an, ob die Wissenschaft, im Ganzen gesehen, unangebaute oder schlecht gepflegte Gegenden hat? Es fehlt ihnen jede u n p e r s ö n l i c h e Theilnahme an einem Pro-
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blem der Erkenntniss: wie sie selber durch und durch Person sind, so wachsen auch alle ihre Einsichten und Kenntnisse wieder zu einer Person zusammen, zu einem lebendigen Vielfachen, dessen einzelne Theile von einander abhängen, in einander greifen, gemeinsam ernährt werden, das als Ganzes eine eigne Luft und einen eignen Geruch hat. — Solche Naturen bringen, mit diesen ihren p e r s o n e n h a f t e n Erkenntniss-Gebilden, jene T ä u s c h u n g hervor, dass eine Wissenschaft (oder gar die ganze Philosophie) fertig sei und am Ziele stehe; das L e b e n in ihrem Gebilde übt diesen Zauber aus: als welcher zu Zeiten sehr verhängnissvoll f ü r die Wissenschaft und irreführend f ü r jene vorhin beschriebenen, eigentlich tüchtigen Arbeiter des Geistes gewesen ist, zu andern Zeiten wiederum, als die D ü r r e u n d die E r m a t t u n g herrschten, wie ein Labsal und gleich dem Anhauche einer kühlen erquicklichen Raststätte gewirkt hat. — Gewöhnlich nennt man solche Menschen P h i l o s o p h e n .
172. A n e r k e n n u n g d e s T a l e n t s . — Als ich durch das Dorf S. gieng, fieng ein Knabe aus Leibeskräften an, mit der Peitsche zu knallen, — er hatte es schon weit in dieser Kunst gebracht und wusste es. Ich warf ihm einen Blick der Anerkennung zu, — im Grunde that mir's b i t t e r w e h e . — So machen wir es bei der Anerkennung vieler Talente. Wir thun ihnen wohl, wenn sie uns wehe thun.
L a c h e n u n d L ä c h e l n . — Je freudiger u n d sicherer der Geist wird, umsomehr verlernt der Mensch das laute Gelächter; dagegen quillt ihm ein geistiges Lächeln f o r t w ä h r e n d auf, ein Zeichen seines Verwunderns über die zahllosen versteckten Annehmlichkeiten des guten Daseins.
2. Der Wanderer und sein Schatten 171—177
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174.
U n t e r h a l t u n g d e r K r a n k e n . — Wie man bei seelischem Kummer sich die Haare rauft, sich vor die Stirn schlägt, die Wange zerfleischt, oder gar wie Oedipus die Augen ausbohrt: so ruft man gegen heftige körperliche Schmerzen mitunter eine heftige bittere Empfindung zu Hülfe, durch Erinnerung an Verleumder und Verdächtiger, durch Verdüsterung unserer Zukunft, durch Bosheiten und Dolchstiche, welche man im Geiste gegen Abwesende schleudert. Und es ist bisweilen dabei wahr: dass ein Teufel den andern austreibt, — aber man hat dann den andern. — Darum sei den Kranken jene andere Unterhaltung anempfohlen, bei der sich die Schmerzen zu mildern scheinen: über Wohlthaten und Artigkeiten nachzudenken, welche man Freund und Feind erweisen kann.
175M e d i o c r i t ä t a l s M a s k e . — Die Mediocrität ist die glücklichste Maske, die der überlegene Geist tragen kann, weil sie die grosse Menge, das heisst die Mediocren, nicht an Maskirung denken lässt —: und doch nimmt er sie gerade ihretwegen vor, — um sie nicht zu reizen, ja nicht selten aus Mitleid und Güte.
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D i e G e d u l d i g e n . — Die Pinie scheint zu horchen, die Tanne zu warten; und beide ohne Ungeduld: — sie denken nicht an den kleinen Menschen unter sich, den seine Ungeduld und seine Neugierde auffressen.
Die besten
177S c h e r z e . — Der Scherz ist mir am
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willkommensten, der an Stelle eines schweren, nicht unbedenklichen Gedankens steht, zugleich als Wink mit dem Finger und Blinzeln des Auges.
178. 5
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Z u b e h ö r a l l e r V e r e h r u n g . — Ueberall, wo die Vergangenheit verehrt wird, soll man die Säuberlichen und Säubernden nicht einlassen. Der Pietät wird ohne ein Wenig Staub, Unrath und Unflath nicht wohl.
179D i e g r o s s e G e f a h r d e r G e l e h r t e n . — Gerade die tüchtigsten und gründlichsten Gelehrten sind in der Gefahr, ihr Lebensziel immer niedriger gesteckt zu sehen und, im Gefühle davon, in der zweiten Hälfte ihres Lebens immer missmuthiger und unverträglicher zu werden. Zuerst schwimmen sie mit breiten Hoffnungen in ihre Wissenschaft hinein und messen sich kühnere Aufgaben zu, deren Ziele mitunter durch ihre Phantasie schon vorweggenommen werden: dann giebt es Augenblicke wie im Leben der grossen entdeckenden Schifffahrer, — Wissen, Ahnung und Kraft heben einander immer höher, bis eine ferne neue Küste zum ersten Male dem Auge aufdämmert. Nun erkennt aber der strenge Mensch von Jahr zu Jahr mehr, wie viel daran gelegen ist, dass die Einzelaufgabe des Forschers so beschränkt wie möglich genommen werde, damit sie o h n e R e s t gelöst werden könne und jene unerträgliche Vergeudung von Kraft vermieden werde, an welcher frühere Perioden der Wissenschaft litten: alle Arbeiten wurden zehnmal gemacht, und dann hatte immer noch der Elfte das letzte und beste Wort zu sagen. Je mehr aber der Gelehrte dieses Räthsel-Lösen ohne Rest kennen lernt und übt, um so grösser wird auch seine Lust daran: aber ebenso wächst auch die Strenge seiner Ansprüche in
2. D e r W a n d e r e r u n d sein Schatten 1 7 7 — 1 8 1
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Bezug auf Das, was hier „ohne R e s t " genannt ist. E r legt Alles bei Seite, was in diesem Sinne unvollständig bleiben muss, er gewinnt einen Widerwillen und eine Witterung gegen das H a l b Lösbare, — gegen Alles, was nur im Ganzen und Unbestimmteren eine A r t Sicherheit ergeben kann. Seine J u g e n d p l ä n e zerfallen v o r seinem Blicke: k a u m bleiben einige K n o t e n und K n ö t chen daraus übrig, an deren E n t k n ü p f u n g jetzt der Meister seine Lust hat, seine Kraft zeigt. U n d nun, mitten in dieser so nützlichen, so rastlosen Thätigkeit überfällt ihn, den Aeltergewordenen, plötzlich und dann öfter wieder ein tiefer Missmuth, eine A r t Gewissensqual: er sieht auf sich hin, wie auf einen Verwandelten, als ob er verkleinert, erniedrigt, z u m kunstfertigen Z w e r g e n geschaffen wäre, er beunruhigt sich darüber, ob nicht das meisterliche Walten im Kleinen eine Bequemlichkeit sei, eine Ausflucht v o r der Mahnung zur Grösse des Lebens und Gestaltens. Aber er kann nicht mehr h i n ü b e r , — die Zeit ist um.
180. D i e L e h r e r i m Z e i t a l t e r d e r B ü c h e r . — Dadurch dass die Selbst-Erziehung und Verbrüderungs-Erziehung allgemeiner wird, muss der Lehrer in seiner jetzt gewöhnlichen F o r m fast entbehrlich werden. Lernbegierige Freunde, die sich zusammen ein Wissen aneignen wollen, finden in unserer Zeit der Bücher einen kürzeren und natürlicheren Weg, als „Schule" und „ L e h r e r " sind.
181. Die E i t e l k e i t als die g r o s s e N ü t z l i c h k e i t . — Ursprünglich behandelt der starke Einzelne nicht nur die N a t u r , sondern auch die Gesellschaft und die schwächeren Einzelnen als Gegenstand des Raub-Baues: er nützt sie aus, so viel er kann, und geht dann weiter. Weil er sehr unsicher lebt, wechselnd zwischen
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Menschliches, Allzumensdiliches I I
Hunger und Ueberfluss, so tödtet er mehr Thiere, als er verzehren kann, und plündert und misshandelt die Menschen mehr, als nöthig wäre. Seine Machtäusserung ist eine Racheäusserung zugleich gegen seinen pein- und angstvollen Zustand: sodann will er für mächtiger gelten, als er ist, und missbraucht desshalb die Gelegenheiten: der Furchtzuwachs, den er erzeugt, ist sein Machtzuwachs. Er merkt zeitig, dass nicht Das, was er i s t , sondern Das, was er g i l t , ihn trägt oder niederwirft: hier ist der Ursprung der E i t e l k e i t . Der Mächtige sucht mit allen Mitteln Vermehrung des G l a u b e n s an seine Macht. — Die Unterworfenen, die vor ihm zittern und ihm dienen, wissen wiederum, dass sie genau so viel werth sind als sie ihm g e l t e n : wesshalb sie auf diese Geltung hinarbeiten und nidit auf ihre eigene Befriedigung an sich. Wir kennen die Eitelkeit nur in den abgeschwächtesten Formen, in ihren Sublimirungen und kleinen Dosen, weil wir in einem späten und sehr gemilderten Zustande der Gesellschaft leben: ursprünglich ist sie die g r o s s e N ü t z 1 i c h k e i t , das stärkste Mittel der Erhaltung. Und zwar wird die Eitelkeit um so grösser sein, je klüger der Einzelne ist: weil die Vermehrung des Glaubens an Macht leichter ist, als die Vermehrung der Macht selber, aber nur für D e n , der Geist hat, — oder, wie es für Urzustände heissen muss, der l i s t i g und h i n t e r h a l t i g ist.
182.
W e t t e r z e i c h e n d e r C u l t u r . — Es giebt so wenig entscheidende Wetterzeichen der Cultur, dass man froh sein muss, für seinen Haus- und Gartengebrauch wenigstens Ein untrügliches in den Händen zu haben. U m zu prüfen, ob Jemand zu uns gehört oder nicht — ich meine zu den freien Geistern —, so prüfe man seine Empfindung für das Christenthum. Steht er irgendwie anders zu ihm als k r i t i s c h , so kehren wir ihm den Rücken: er bringt uns unreine Luft und schlechtes Wetter.
2. Der Wanderer und sein Schatten 181—184
631
— U n s e r e Aufgabe ist es nicht mehr, solche Mensdien zu lehren, was ein Scirocco-Wind ist; sie haben Mosen und die Propheten des Wetters und der Aufklärung: wollen sie diese nicht hören, so —
183.
Z ü r n e n u n d s t r a f e n h a t s e i n e Z e i t . — Zürnen und strafen ist unser Angebinde von der Thierheit her. Der Mensch wird erst mündig, wenn er diess Wiegengeschenk den Thieren zurückgiebt. — Hier liegt einer der grössten Gedanken vergraben, welche Mensdien haben können, der Gedanke an einen Fortschritt aller Fortschritte. — Gehen wir einige Jahrtausende mit einander vorwärts, meine Freunde! Es ist s e h r v i e l Freude noch den Menschen vorbehalten, wovon den gegenwärtigen noch kein Geruch zugeweht ist! Und zwar dürfen wir uns diese Freude versprechen, ja als etwas Nothwendiges verheissen und beschwören, im Fall nur die Entwickelung der menschlichen Vernunft n i c h t s t i l l e s t e h t ! Einstmals wird man die l o g i s c h e Sünde, welche im Zürnen und Strafen, einzeln oder gesellschaftsweise geübt, verborgen liegt, n i c h t m e h r ü b e r ' s H e r z bringen: einstmals, wenn Herz und Kopf so nahe bei einander zu wohnen gelernt haben, wie sie jetzt noch einander ferne stehen. Dass sie n i c h t m e h r s o f e r n e stehen, wie ursprünglich, ist beim Blick auf den ganzen Gang der Menschheit ziemlich ersichtlich; und der Einzelne, der ein Leben innerer Arbeit zu überschauen hat, wird mit stolzer Freude sich der überwundenen Entfernung, der erreichten Annäherung bewusst werden, um daraufhin noch grössere Hoffnungen wagen zu dürfen.
184.
Abkunft
der
„ P e s s i m i s t e n " . — Ein Bissen guter
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Menschliches, Allzumenschliches II
Nahrung entscheidet oft, ob wir mit hohlem Auge oder hoffnungsreich in die Zukunft schauen: diess reicht in's Höchste und Geistigste hinauf. Die Unzufriedenheit und Welt-Schwärzerei ist dem gegenwärtigen Geschlechte von den ehemaligen H u n gerleidern her v e r e r b t . Auch unsern Künstlern und Dichtern merkt man häufig an, wenn sie selber auch noch so üppig leben, dass sie von keiner guten Herkunft sind, dass sie von unterdrückt lebenden und schlecht genährten Vorfahren Mancherlei in's Blut und Gehirn mitbekommen haben, was als Gegenstand und gewählte Farbe in ihrem Werke wieder sichtbar wird. Die Cultur der Griechen ist die der Vermögenden, und zwar der Altvermögenden: sie lebten ein paar Jahrhunderte hindurch b e s s e r , als wir (in jedem Sinne besser, namentlich viel einfacher in Speise und Trank): da wurden endlich die Gehirne so voll und fein zugleich, da floss das Blut so rasch hindurch, einem freudigen hellen Weine gleich, dass das Gute und Beste bei ihnen nicht mehr düster, verzückt und gewaltsam, sondern schön und sonnenhaft heraustrat.
185.
V o m v e r n ü n f t i g e n T o d e . — Was ist vernünftiger, die Maschine stillzustellen, wenn das Werk, das man von ihr verlangte, ausgeführt ist, — oder sie laufen zu lassen, bis sie von selber stille steht, das heisst bis sie verdorben ist? Ist Letzteres nicht eine Vergeudung der Unterhaltungskosten, ein Missbrauch mit der Kraft und Aufmerksamkeit der Bedienenden? Wird hier nicht weggeworfen, was anderswo sehr noth thäte? Wird nicht selbst eine Art Missachtung gegen die Maschinen überhaupt verbreitet, dadurch, dass viele von ihnen so nutzlos unterhalten und bedient werden? — Ich spreche vom unfreiwilligen (natürlichen) und vom freiwilligen (vernünftigen) Tode. Der natürliche Tod ist der von aller Vernunft unabhängige, der eigentlich u n v e r n ü n f t i g e Tod, bei dem die erbärmliche Substanz der
2. Der Wanderer und sein Schatten 1 8 4 — 1 8 6
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Schale darüber bestimmt, wie lange der Kern bestehen soll oder nicht: bei dem also der verkümmernde, oft kranke und stumpfsinnige Gefängnisswärter der Herr ist, der den Punct bezeichnet, wo sein vornehmer Gefangener sterben soll. Der natürliche Tod ist der Selbstmord der Natur, das heisst die Vernichtung des vernünftigen Wesens durch das unvernünftige, welches an das erstere gebunden ist. Nur unter der religiösen Beleuchtung kann es umgekehrt erscheinen: weil dann, wie billig, die höhere Vernunft (Gottes) ihren Befehl giebt, dem die niedere Vernunft sich zu fügen hat. Ausserhalb der religiösen Denkungsart ist der natürliche Tod keiner Verherrlichung werth. — Die weisheitsvolle Anordnung und Verfügung des Todes gehört in jene jetzt ganz unfassbar und unmoralisch klingende Moral der Zukunft, in deren Morgenröthe zu blicken ein unbeschreibliches Glück sein muss.
iS6.
Z u r ü c k b i l d e n d . — Alle Verbrecher zwingen die Gesellschaft auf frühere Stufen der Cultur zurück, als die ist, auf welcher sie gerade steht: sie wirken zurückbildend. Man denke an die Werkzeuge, welche die Gesellschaft der Nothwehr halber sich schaffen und unterhalten muss: an den verschmitzten Polizisten, den Gefängnisswärter, den Henker; man vergesse den öffentlichen Ankläger und den Advocaten nicht; endlich frage man sich, ob nicht der Richter selber und die Strafe und das ganze Gerichtsverfahren in ihrer Wirkung auf die Nicht-Verbrecher viel eher niederdrückende, als erhebende Erscheinungen sind; es wird eben nie gelingen, der Nothwehr und der Rache das Gewand der Unschuld umzulegen; und so oft man den Menschen als ein Mittel zum Zwecke der Gesellschaft benutzt und opfert, trauert alle höhere Menschlichkeit darüber.
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Menschliches, Allzumenschliches II 187.
K r i e g a l s H e i l m i t t e l . — Matt und erbärmlich werdenden Völkern mag der Krieg als Heilmittel anzurathen sein: falls sie nämlich durchaus noch fortleben wollen: denn es giebt für die Völker-Schwindsucht auch eine Brutalitäts-Cur. Das ewige Leben-wollen und Nicht-sterben-können ist aber selber schon ein Zeichen von Greisenhaftigkeit der Empfindung: je voller und tüchtiger man lebt, um so schneller ist man bereit, das Leben für eine einzige gute Empfindung dahin zu geben. Ein Volk, das so lebt und empfindet, hat die Kriege nicht nöthig.
188.
Geistige und leibliche Verpflanzung als H e i l m i t t e l . — Die verschiedenen Culturen sind verschiedene geistige Klimata, von denen ein jedes diesem oder jenem Organismus vornehmlich schädlich oder heilsam ist. Die H i s t o r i e im Ganzen, als das Wissen um die verschiedenen Culturen, ist die H e i 1 m i 11 e 11 e h r e , nicht aber die Wissenschaft der Heilkunst selber. Der A r z t ist erst recht noch nöthig, der sich dieser Heilmittellehre bedient, um Jeden in sein ihm gerade erspriessliches Klima zu senden — zeitweilig oder auf immer. In der Gegenwart leben, innerhalb einer einzigen Cultur, genügt nicht als allgemeines Recept, dabei würden zu viele höchst nützliche Arten von Menschen aussterben, die in ihr nicht gesund athmen können. Mit der Historie muss man ihnen L u f t machen und sie zu erhalten suchen; auch die Menschen zurückgebliebener Culturen haben ihren Werth. — Dieser Cur der Geister steht zur Seite, dass die Menschheit in leiblicher Beziehung darnach streben muss, durch eine medicinische Geographie dahinterzukommen, zu welchen Entartungen und Krankheiten jede Gegend der Erde Anlass giebt, und umgekehrt welche Heilfactoren sie bietet: und dann müssen allmählich Völker, Familien und Einzelne so lange und so anhaltend verpflanzt werden,
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bis m a n über die angeerbten physischen Gebrechen H e r r geworden ist. Die ganze Erde wird endlich eine S u m m e von Gesundheits-Stationen sein.
189.
S
10
J
5
20
25
3°
Der B a u m der M e n s c h h e i t und die V e r n u n f t . — D a s , was ihr als Uebervölkerung der Erde in greisenhafter Kurzsichtigkeit fürchtet, giebt dem Hoffnungsvolleren eben die grosse A u f g a b e in die H a n d : die Menschheit soll einmal ein B a u m werden, der die ganze Erde überschattet, mit vielen Milliarden von Blüthen, die alle neben einander Früchte werden sollen, und die Erde selbst soll zur Ernährung dieses Baumes vorbereitet werden. Dass der jetzige n o c h k l e i n e Ansatz dazu an Saft und Kraft zunehme, dass in unzähligen Canälen der Saft zur Ernährung des Ganzen und des Einzelnen umströme, — aus diesen und ähnlichen A u f g a b e n ist der M a a s s s t a b zu entnehmen, ob ein jetziger Mensch nützlich oder unnütz ist. Die A u f g a b e ist unsäglich gross und k ü h n : wir Alle wollen dazu thun, dass der B a u m nicht vor der Zeit verfaule! D e m historischen K o p f e gelingt es wohl, das menschliche Wesen und Treiben sich im Ganzen der Zeit so vor die Augen zu stellen, wie uns Allen das Ameisen-Wesen mit seinen kunstvoll gethürmten H a u f e n vor Augen steht. Oberflächlich beurtheilt, würde auch das gesammte Menschenthum gleich dem Ameisent h u m von „Instinct" reden lassen. Bei strengerer P r ü f u n g nehmen wir wahr, wie ganze Völker, ganze Jahrhunderte sich abmühen, neue Mittel ausfindig zu machen und a u s z u p r o b i r e n , w o m i t m a n einem grossen menschlichen Ganzen und zuletzt dem grossen Gesammt-Fruchtbaume der Menschheit wohlthun könne; und was auch immer bei diesem Ausprobiren die Einzelnen, die Völker und die Zeiten f ü r Schaden leiden, durch diesen Schaden sind jedesmal Einzelne k l u g geworden, und von ihnen aus strömt die Klugheit langsam auf die Maass-
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Menschliches, Allzumenschliches I I
regeln ganzer Völker, ganzer Zeiten über. Auch die Ameisen irren und vergreifen sich; die Menschheit kann recht wohl durch Thorheit der Mittel verderben und verdorren, vor der Zeit, es giebt weder für jene, noch für diese einen sicher führenden Instinct. Wir müssen vielmehr der grossen A u f g a b e in's G e s i c h t s e h e n , die Erde für ein Gewächs der grössten und freudigsten Fruchtbarkeit v o r z u b e r e i t e n , — einer A u f gabe der Vernunft f ü r die Vernunft!
190. D a s L o b des U n e i g e n n ü t z i g e n und sein U r s p r u n g . — Zwischen zwei nachbarlichen Häuptlingen war seit Jahren H a d e r : man verwüstete einander die Saaten, führte Heerden weg, brannte Häuser nieder, mit einem unentschiedenen Erfolge im Ganzen, weil ihre Macht ziemlich gleich war. Ein Dritter, der durch die abgeschlossene Lage seines Besitzthums von diesen Fehden sich fern halten konnte, aber doch G r u n d hatte, den T a g zu fürchten, an dem einer dieser händelsüchtigen Nachbarn entscheidend z u m Uebergewicht k o m m e n würde, trat endlich zwischen die Streitenden, mit Wohlwollen und Feierlichkeit: und im Geheimen legte er auf seinen Friedensvorschlag ein schweres Gewicht, indem er jedem Einzelnen zu verstehen gab, fürderhin gegen Den, welcher sich wider den Frieden sträube, mit dem Andern gemeinsame Sache zu machen. Man k a m vor ihm zusammen, man legte zögernd in seine H a n d die H ä n d e , welche bisher die Werkzeuge und allzu oft die U r sache des Hasses gewesen waren, — und wirklich, man versuchte es ernstlich mit dem Frieden. Jeder sah mit Erstaunen, wie plötzlich sein Wohlstand, sein Behagen wuchs, wie man jetzt am Nachbar einen kaufs- und verkaufsbereiten Händler, anstatt eines tückischen oder offen höhnenden Uebelthäters hatte, wie selbst, in unvorhergesehenen Nothfällen, man sich gegenseitig aus der N o t h ziehen konnte, anstatt, wie es bisher geschehen,
2. D e r W a n d e r e r und sein Schatten 189—190
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diese N o t h des Nachbars auszunutzen u n d auf's Höchste zu steigern; ja es schien, als ob der Menschenschlag in beiden Gegenden sich seitdem verschönert hätte: denn die Augen hatten sich erhellt, die Stirnen sich entrunzelt, Allen war das Ver5 trauen zur Z u k u n f t zu eigen geworden, — und Nichts ist den Seelen und Leibern der Menschen förderlicher, als diess Vertrauen. Man sah einander alle Jahre am Tage des Bündnisses wieder, die Häuptlinge sowohl wie deren Anhang, und zwar vor dem Angesicht des Mittlers: dessen Handlungsweise man, je 10 grösser der N u t z e n war, den man ihr verdankte, immer mehr anstaunte und verehrte. Man nannte sie u n e i g e n n ü t z i g , — man hatte den Blick viel zu fest auf den eigenen, zeither eingeernteten Nutzen gerichtet, um von der Handlungsweise des Nachbars mehr zu sehen, als dass sein Zustand in Folge derselben sich nicht so verändert habe, wie der eigene: er war vielmehr der selbe geblieben, und so schien es, dass Jener den N u t z e n nicht im Auge gehabt habe. Z u m ersten Male sagte man sich, dass die Uneigennützigkeit eine Tugend sei: gewiss mochten im Kleinen und Privaten sich oftmals bei ihnen ähnliche Dinge ereignet haben, aber man hatte das Augenmerk f ü r diese Tugend erst, als sie zum ersten Male in ganz grosser Schrift, lesbar f ü r die ganze Gemeinde, an die Wand gemalt wurde. Erkannt als Tugenden, zu Namen gekommen, in Schätzung gebracht, zur Aneignung anempfohlen, sind die moralischen Eigenschaften erst 25 von dem Augenblicke an, da sie s i c h t b a r über Glück und Verhängniss ganzer Gesellschaften entschieden haben: dann ist nämlich die Höhe der Empfindung und die Erregung der inneren schöpferischen Kräfte bei V i e l e n so gross, dass man dieser Eigenschaft Geschenke bringt, v o m Besten, was Jeder hat. Der 3° Ernste legt ihr seinen Ernst zu Füssen, der Würdige seine Würde, die Frauen ihre Milde, die Jünglinge alles Hoffnungs- und Zukunftsreiche ihres Wesens: der Dichter leiht ihr Worte und Namen, reiht sie in den Reigentanz ähnlicher Wesen ein, giebt ihr einen Stammbaum, und betet zuletzt, wie es Künstler thun,
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das Gebilde seiner Phantasie als neue Gottheit an, — er 1 e h r t sie anbeten. So wird eine Tugend, weil die Liebe und die Dankbarkeit Aller an ihr arbeitet, wie an einer Bildsäule, zuletzt eine A n s a m m l u n g des Guten und Verehrungswürdigen, eine Art Tempel und göttliche Person zugleich. Sie steht fürderhin als einzige Tugend da, als ein Wesen für sich, was sie bis dahin nicht war, und übt die Rechte und die Macht einer geheiligten Uebermenschlichkeit aus. — Im späteren Griechenland standen die Städte voll von solchen vergottmenschlichten Abstractis (man verzeihe das absonderliche Wort um des absonderlichen Begriffs willen); das Volk hatte sich auf seine Art einen platonischen „Ideenhimmel" inmitten seiner Erde hergerichtet, und ich glaube nicht, dass dessen Inwohner weniger lebendig empfunden wurden, als irgend eine althomerische Gottheit.
191. D u n k e l - Z e i t e n . — „Dunkel-Zeiten" nennt man solche in Norwegen, da die Sonne den ganzen Tag unter dem Horizonte bleibt: die Temperatur fällt dabei fortwährend langsam. — Ein schönes Gleichniss für alle Denker, welchen die Sonne der Menschheits-Zukunft zeitweilig verschwunden ist.
192. D e r P h i l o s o p h d e r U e p p i g k e i t . — Ein Gärtchen, Feigen, kleine Käse und dazu drei oder vier gute Freunde, — das war die Ueppigkeit Epikur's.
D i e E p o c h e n d e s L e b e n s . — Die eigentlichen Epochen im Leben sind jene kurzen Zeiten des Stillstandes, mitten innen zwischen dem Aufsteigen und Absteigen eines regie-
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renden Gedankens oder Gefühls. Hier ist wieder einmal S a t t h e i t da: alles Andere ist D u r s t und H u n g e r — oder Ueberdruss. 194. D e r T r a u m . — Unsere T r ä u m e sind, wenn sie einmal ausnahmsweise gelingen und v o l l k o m m e n werden — für gewöhnlich ist der T r a u m eine Pfuscher-Arbeit — , symbolische Scenen- und Bilder-Ketten an Stelle einer erzählenden DichterSprache, sie umschreiben unsere Erlebnisse oder Erwartungen oder Verhältnisse mit dichterischer Kühnheit und Bestimmtheit, dass wir dann morgens immer über uns erstaunt sind, wenn wir uns unserer T r ä u m e erinnern. Wir verbrauchen im T r ä u m e n zu viel Künstlerisches — und sind desshalb am Tage oft zu arm daran. 195N a t u r u n d W i s s e n s c h a f t . — G a n z wie in der N a t u r , werden auch in der Wissenschaft die schlechteren, unfruchtbareren Gegenden zuerst gut angebaut, — weil hierfür eben die Mittel der a n g e h e n d e n Wissenschaft ungefähr ausreichen. Die Bearbeitung der fruchtbarsten Gegenden setzt eine sorgsam entwickelte ungeheure Kraft v o n Methoden, gewonnene Einzel-Resultate und eine organisirte Schaar von Arbeitern, gut geschulten Arbeitern, voraus; — diess Alles findet sich erst spät zusammen. — Die Ungeduld und der Ehrgeiz greifen oft zu früh nach diesen fruchtbarsten Gegenden; aber die Ergebnisse sind dann gleich Null. In der N a t u r würden sich solche Versuche dadurch rächen, dass die Ansiedler verhungerten.
196. Einfach
leben.
—
Eine
einfache
Lebensweise
ist
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jetzt schwer: dazu t h u t viel mehr Nachdenken und Erfindungsgabe noth, als selbst sehr gescheute Leute haben. Der Ehrlichste von ihnen wird vielleicht noch sagen: „ich habe nicht die Zeit, darüber so lange nachzudenken. Die einfache Lebensweise ist f ü r mich ein zu vornehmes Ziel; ich will warten, bis Weisere, als ich bin, sie gefunden haben."
197S p i t z e n u n d S p i t z c h e n . — Die geringere Fruchtbarkeit, die häufige Ehelosigkeit und überhaupt die geschlechtliche Kühle der höchsten und cultivirtesten Geister, sowie der zu ihnen gehörenden Classen, ist wesentlich in der Oekonomie der Menschheit; die Vernunft erkennt und macht Gebrauch davon, dass bei einem äussersten Puñete der geistigen Entwickelung die Gefahr einer n e r v ö s e n Nachkommenschaft sehr gross ist: solche Menschen sind S p i t z e n der Menschheit, — sie dürfen nicht weiter in Spitzchen auslaufen.
198. K e i n e N a t u r m a c h t S p r ü n g e . — Wenn der Mensch sich noch so stark fortentwickelt und aus einem Gegensatz in den andern überzuspringen scheint: bei genaueren Beobachtungen wird man doch die V e r z a h n u n g e n auffinden, wo das neue Gebäude aus dem älteren herauswächst. Diess ist die Aufgabe des Biographen: er muss nach dem Grundsatze über das Leben denken, dass keine N a t u r Sprünge macht.
199. Z w a r r e i n l i c h . — Wer sich mit reingewaschenen Lumpen kleidet, kleidet sich zwar reinlich, aber doch lumpenhaft.
2. Der W a n d e r e r und sein Schatten 196—203
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200. D e r E i n s a m e s p r i c h t . — Man erntet als Lohn f ü r vielen Ueberdruss, Missmuth, Langeweile — wie diess alles eine Einsamkeit ohne Freunde, Bücher, Pflichten, Leidenschaften mit sich bringen muss — jene Viertelstunden tiefster Einkehr in sich und die N a t u r . Wer sidi völlig gegen die Langeweile verschanzt, verschanzt sich audi gegen sich selber: den kräftigsten Labetrunk aus dem eigenen innersten Born wird er nie zu trinken bekommen.
201.
F a l s c h e B e r ü h m t h e i t . — Ich hasse jene angeblichen Naturschönheiten, welche im Grunde n u r durch das Wissen, namentlich das geographische, Etwas bedeuten, an sich aber dem schönheitsdurstigen Sinne dürftig bleiben: z u m Beispiel die Ansicht des Montblanc von Genf aus — etwas Unbedeutendes ohne die zu H ü l f e eilende Gehirnfreude des Wissens; die näheren Berge dort sind alle schöner und ausdrucksvoller, — aber „lange nicht so hoch", wie jenes absurde Wissen, zur Abschwächung, hinzufügt. Das Auge widerspricht dabei dem Wissen: wie soll es sich im Widersprechen wahrhaft freuen können!
202.
V e r g n ü g u n g s - R e i s e n d e . — Sie steigen wie Thiere den Berg hinauf, d u m m und schwitzend; man hatte ihnen zu sagen vergessen, dass es unterwegs schöne Aussichten gebe.
203. Z u v i e l u n d z u w e n i g . — Die Mensdien durchleben jetzt alle zu viel und durchdenken zu wenig: sie haben Heisshunger u n d Kolik zugleich und werden desshalb immer mage-
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Menschliches, Allzumenschliches II
rer, soviel sie auch essen. — Wer jetzt sagt: „ich habe Nichts erlebt" — ist ein D u m m k o p f .
204. E n d e u n d Z i e l . — Nicht jedes Ende ist das Ziel. Das Ende der Melodie ist nicht deren Ziel; aber t r o t z d e m : hat die Melodie ihr Ende nicht erreicht, so hat sie auch ihr Ziel nicht erreicht. Ein Gleichniss. 205. N e u t r a l i t ä t d e r g r o s s e n N a t u r . — Die Neutralität der grossen N a t u r (in Berg, Meer, Wald und Wüste) gefällt, aber n u r eine kurze Zeit: nachher werden wir ungeduldig. „Wollen denn diese Dinge gar nichts zu u n s sagen? Sind w i r f ü r sie nicht da?" Es entsteht das Gefühl eines crimen laesae majestatis humanae. 206. D i e A b s i c h t e n v e r g e s s e n . — Man vergisst über der Reise gemeinhin deren Ziel. Fast jeder Beruf wird als Mittel zu einem Zwecke gewählt und begonnen, aber als letzter Zweck fortgeführt. Das Vergessen der Absichten ist die häufigste Dummheit, die gemacht wird.
207. S o n n e n b a h n d e r I d e e . — Wenn eine Idee am H o r i z o n t e eben aufgeht, ist gewöhnlich die Temperatur der Seele dabei sehr kalt. Erst allmählich entwickelt die Idee ihre Wärme, und am heissesten ist diese (das heisst sie t h u t ihre grössten Wirkungen), wenn der Glaube an die Idee schon wieder im Sinken ist.
2. Der Wanderer und sein Schatten 203—209
643
208. W o d u r c h m a n A l l e w i d e r s i c h h ä t t e . — Wenn jetzt Jemand zu sagen wagte: „wer nicht für mich ist, der ist wider mich", so hätte er sofort Alle wider sich. — Diese Empfindung macht unserm Zeitalter Ehre. 209. S i c h d e s R e i c h t h u m s s c h ä m e n . — Unsere Zeit verträgt nur eine einzige Gattung von Reichen, solche, welche sich ihres Reichthums s c h ä m e n . Hört man von Jemandem „er ist sehr reich", so hat man dabei sofort eine ähnliche Empfindung wie beim Anblick einer widerlich anschwellenden Krankheit, einer Fett- oder Wassersucht: man muss sich gewaltsam seiner Humanität erinnern, um mit einem solchen Reichen so verkehren zu können, dass er von unserm Ekelgefühle Nichts merkt. Sobald er aber gar sich Etwas auf seinen Reichthum zu Gute thut, so mischt sich zu unserm Gefühle die fast mitleidige Verwunderung über einen so hohen Grad der menschlichen Unvernunft: sodass man die Hände gen Himmel erheben und rufen möchte „armer Entstellter, Ueberbürdeter, hundertfach Gefesselter, dem jede Stunde etwas Unangenehmes bringt o d e r b r i n g e n k a n n , in dessen Gliedern j e d e s Ereigniss von zwanzig Völkern nachzuckt, wie magst du uns glauben machen, dass du dich in deinem Zustande wohlfühlst! Wenn du irgendwo öffentlich erscheinst, — so wissen wir, dass es eine Art Spiessruthenlaufen ist, unter lauter Blicken, welche für dich nur kalten Hass oder Zudringlichkeit oder schweigsamen Spott haben. Dein Erwerben mag leichter sein, als das der Anderen: aber es ist ein überflüssiges Erwerben, welches wenig Freude macht, und dein B e w a h r e n alles Erworbenen ist jedenfalls j e t z t ein mühseligeres Ding, als irgend ein mühseliges Erwerben. Du leidest f o r t w ä h r e n d , denn du verlierst fortwährend. Was nützt es dir, dass man dir immer neues künstliches Blut zuführt:
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Menschliches, Allzumenschliches I I
desshalb t h u n doch die Schröpfköpfe nicht weniger weh, die auf deinem Nacken sitzen, beständig sitzen! — Aber, um nicht unbillig zu werden, es ist schwer, vielleicht unmöglich f ü r dich, n i c h t reich zu sein: du m u s s t bewahren, m u s s t neu er5 werben, der vererbte H a n g deiner N a t u r ist das Joch über dir, — aber desshalb täusche uns nicht und s c h ä m e dich ehrlich und sichtlich des Joches, das du trägst; da du ja im Grunde deiner Seele müde und unwillig bist, es zu tragen. Diese Scham schändet nicht." 10
210.
A u s s c h w e i f u n g i n d e r A n m a a s s u n g . — Es giebt so anmaassende Menschen, dass sie eine Grösse, welche sie öffentlich bewundern, nicht anders zu loben wissen, als indem sie dieselbe als Vorstufe u n d Brücke, die zu i h n e n f ü h r t , dari j stellen. 211. A u f d e m B o d e n d e r S c h m a c h . — Wer den Menschen eine Vorstellung nehmen will, t h u t sich gewöhnlich nicht genug damit, sie zu widerlegen und den unlogischen 2° Wurm, der in ihr sitzt, herauszuziehen, vielmehr wirft er, nachdem der W u r m getödtet ist, die ganze Frucht auch noch in den Koth, um sie den Menschen unansehnlich zu machen und Ekel vor ihr einzuflössen. So glaubt er das Mittel gefunden zu haben, die bei widerlegten Vorstellungen so gewöhnliche „Wiederauf25 erstehung am dritten Tage" unmöglich zu machen. — Er irrt sich, denn gerade auf dem B o d e n d e r S c h m a c h , inmitten des Unflathes, treibt der Fruchtkern der Vorstellung schnell neue Keime —. Also: ja nicht verhöhnen, beschmutzen, was man endgültig beseitigen will, sondern es achtungsvoll a u f E i s 3° l e g e n , immer und immer wieder, in Anbetracht, dass Vorstellungen ein sehr zähes Leben haben. Hier muss man nach der Maxime handeln: „Eine Widerlegung ist keine Widerlegung".
2. D e r W a n d e r e r und sein Schatten 209—213
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212. L o o s d e r M o r a l i t ä t . — Da die Gebundenheit der Geister abnimmt, ist sicherlich die Moralität (die vererbte, überlieferte, instincthafte Handlungsweise n a c h m o r a l i s c h e n S G e f ü h l e n ) ebenfalls in Abnahme: nicht aber die einzelnen Tugenden, Massigkeit, Gerechtigkeit, Seelenruhe, — denn die grösste Freiheit des bewussten Geistes f ü h r t einmal schon unwillkürlich zu ihnen hin und räth sie sodann auch als n ü t z l i c h an.
10
213.
Der F a n a t i k e r des M i s s t r a u e n s und seine B ü r g s c h a f t . — D e r A l t e : D u willst das Ungeheure wagen und die Menschen im Grossen belehren? W o ist deine Bürgschaft? — P y r r h o n : Hier ist sie: ich will die Menschen 15 vor mir selber warnen, ich will alle Fehler meiner N a t u r öffentlich bekennen und meine Uebereilungen, Widersprüche und Dummheiten vor aller Augen blosstellen. H ö r t nicht auf mich, will ich ihnen sagen, bis ich nicht eurem Geringsten gleich geworden bin, und noch geringer bin, als er; sträubt euch gegen die Wahrheit, solange ihr nur könnt, aus Ekel vor Dem, der ihr Fürsprecher ist. Ich werde euer Verführer und Betrüger sein, wenn ihr noch den mindesten Glanz von Achtbarkeit und Würde an mir wahrnehmt. — D e r A l t e : D u versprichst zu viel; du kannst diese Last nicht tragen. — P y r r h o n : So will ich auch diess den Menschen sagen, dass ich zu schwach bin und nicht halten kann, was ich verspreche. Je grösser meine Unwürdigkeit, u m so mehr werden sie der Wahrheit misstrauen, wenn sie durch meinen Mund geht. — D e r A l t e : Willst Du denn der Lehrer des Misstrauens gegen die Wahrheit sein? — P y r r h o n : Des Miss3° trauens, wie es noch nie in der Welt war, des Misstrauens gegen Alles und Jedes. Es ist der einzige Weg zur Wahrheit. Das rechte Auge darf dem linken nicht trauen, und Licht wird
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eine Zeitlang Finsterniss heissen müssen: diess ist der Weg, den ihr gehen müsst. Glaubt nicht, dass er euch zu Fruchtbäumen und schönen Weiden führe. Kleine harte Körner werdet ihr auf ihm finden, — das sind die Wahrheiten: Jahrzehende lang werdet ihr die Lügen händevoll verschlingen müssen, u m nicht Hungers zu sterben, ob ihr schon wisset, dass es Lügen sind. Jene Körner aber werden gesäet und eingegraben, und vielleicht, vielleicht giebt es einmal einen Tag der Ernte: Niemand darf ihn v e r s p r e c h e n , er sei denn ein Fanatiker. — D e r A l t e : Freund! Freund! Auch deine Worte sind die des Fanatikers! — P y r r h o n : Du hast Recht! Ich will gegen alle Worte misstrauisch sein. — D e r A l t e : Dann wirst du schweigen müssen. — P y r r h o n : Ich werde den Menschen sagen, dass ich. schweigen muss und dass sie meinem Schweigen misstrauen sollen. — D e r A 11 e : Du trittst also von deinem U n t e r nehmen zurück? — P y r r h o n : Vielmehr, — du hast mir eben das T h o r gezeigt, durch welches ich gehen muss. — D e r A l t e : Ich weiss nicht —: verstehen wir uns jetzt noch völlig? — P y r r h o n : Wahrscheinlich nicht. — D e r A l t e : Wenn du dich nur selber völlig verstehst! — P y r r h o n dreht sich u m und lacht. — D e r A l t e : Ach Freund! Schweigen u n d Lachen, — ist das jetzt deine ganze Philosophie? — P y r r h o n : Es wäre nicht die schlechteste. —
214.
E u r o p ä i s c h e B ü c h e r . — Man ist beim Lesen von Montaigne, Larochefoucauld, Labruyere, Fontenelle (namentlich der dialogues des morts) Vauvenargues, C h a m p f o r t dem Alterthum näher, als bei irgend welcher Gruppe von sechs Autoren anderer Völker. Durch jene Sechs ist der G e i s t d e r l e t z t e n J a h r h u n d e r t e der a l t e n Zeitrechnung wieder erstanden, — sie zusammen bilden ein wichtiges Glied in der grossen noch fortlaufenden Kette der Renaissance. Ihre Bücher
2. Der Wanderer und sein Schatten 2 1 3 — 2 1 5
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erheben sich über den Wechsel des nationalen Geschmacks und der philosophischen Färbungen, in denen für gewöhnlich jetzt jedes Buch schillert und schillern muss, u m b e r ü h m t zu werden: sie enthalten m e h r w i r k l i c h e
G e d a n k e n , als alle Bücher
deutscher Philosophen z u s a m m e n g e n o m m e n : Gedanken von der A r t , welche Gedanken macht, und die — ich bin in V e r legenheit zu Ende zu definiren; genug dass es mir A u t o r e n zu sein scheinen, welche weder für Kinder nodh für Schwärmer geschrieben haben, weder für Jungfrauen noch für
Christen,
weder für Deutsche noch für — ich bin wieder in Verlegenheit, meine Liste zu schliessen. — U m aber ein deutliches L o b zu sagen: sie wären, griechisch geschrieben, auch von Griechen verstanden worden. Wie viel hätte dagegen selbst ein Plato von den Schriften unserer besten deutschen D e n k e r , zum Beispiel Goethe's, Schopenhauer's, überhaupt verstehen k ö n n e n , von dem Widerwillen zu schweigen, welchen ihre Schreibart ihm erregt haben würde, nämlich das Dunkle, Uebertriebene und gelegentlich wieder Klapperdürre, — Fehler, an denen die G e nannten noch am Wenigsten von den deutschen D e n k e r n und doch noch allzuviel leiden (Goethe, als D e n k e r , hat die W o l k e lieber u m a r m t , als billig ist, und Schopenhauer wandelt nicht ungestraft fast fortwährend unter Gleichnissen der Dinge, statt u n t e r den Dingen selber). — Dagegen, welche Helligkeit und zierliche B e s t i m m t h e i t bei jenen Franzosen! Diese Kunst hätten auch die feinohrigsten Griechen gutheissen müssen, und Eines würden sie sogar bewundert und angebetet haben, den französischen W i t z des Ausdrucks: so Etwas l i e b t e n sie sehr, ohne gerade darin besonders stark zu sein.
215. Mode
u n d m o d e r n . — Ueberall, w o noch die Unwis-
senheit, die Unreinlichkeit, der Aberglaube im Schwange sind, wo der V e r k e h r lahm, die Landwirthschaft armselig, die Prie-
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sterschaft mächtig ist, da finden sich auch noch die N a t i o n a l t r a c h t e n . Dagegen herrscht die M o d e , wo die Anzeichen des Entgegengesetzten sich finden. Die Mode ist also neben den T u g e n d e n des jetzigen Europa zu finden: sollte sie wirklich deren Schattenseite sein? — Zunächst sagt die m ä n n l i c h e Bekleidung, welche modisch und nicht mehr national ist, von Dem, der sie trägt, aus, dass der Europäer nicht als E i n z e l n e r , noch als S t a n d e s - und V o l k s g e n o s s e a u f f a l l e n will, dass er sich eine absichtliche D ä m p f u n g dieser Arten von Eitelkeit zum Gesetz gemacht hat; dann dass er arbeitsam ist und nicht viel Zeit z u m Ankleiden und Sich-putzen hat, auch alles Kostbare und Ueppige in Stoff und Faltenwurf im Widerspruch mit seiner Arbeit findet; endlich dass er durch seine Tracht auf die gelehrteren und geistigeren Berufe als d i e hinweist, welchen er als europäischer Mensch am nächsten steht oder stehen möchte: während durch die noch vorhandenen Nationaltrachten der Räuber, der H i r t oder der Soldat als die wünschbarsten und tonangebenden Lebensstellungen hindurchschimmern. Innerhalb dieses Gesammtcharakters der männliehen Mode giebt es dann jene kleinen Schwankungen, welche die Eitelkeit der jungen Männer, der Stutzer und Nichtsthuer der grossen Städte hervorbringt, also D e r e r , w e l c h e a l s e u r o p ä i s c h e M e n s c h e n n o c h n i c h t reif g e w o r d e n s i n d . — Die europäischen Frauen sind diess n o c h v i e l w e n i g e r , wesshalb die Schwankungen bei ihnen viel grösser sind: sie wollen auch das Nationale nicht, und hassen es, als Deutsche, Franzosen, Russen an der Kleidung erkannt zu werden, aber als Einzelne wollen sie sehr gern auffallen; ebenso soll Niemand schon durch ihre Bekleidung in Zweifel gelassen werden, dass sie zu einer angeseheneren Classe der Gesellschaft (zur „guten" oder „hohen" oder „grossen" Welt) gehören, und zwar wünschen sie nach dieser Seite hin gerade um so mehr voreinzunehmen, als sie nicht oder kaum zu jener Classe gehören. Vor Allem aber will die junge Frau Nichts tragen, was die etwas
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ältere trägt, weil sie durch den Verdacht eines höheren Lebensalters im Preise zu fallen glaubt: die ältere wiederum möchte durch jugendlichere Tracht so lange täuschen, als es irgend angeht, — aus welchem Wettbewerb sich zeitweilig immer Moden ergeben müssen, bei denen das eigentlich Jugendliche ganz unzweideutig und unnachahmlich sichtbar wird. Hat der Erfindungsgeist der jungen Künstlerinnen in solchen Blosstellungen der Jugend eine Zeitlang geschwelgt oder, um die ganze Wahrheit zu sagen: hat man wieder einmal den Erfindungsgeist älterer höfischer Culturen, sowie den der noch bestehenden Nationen, und überhaupt den ganzen costümirten Erdkreis zu Rathe gezogen und etwa die Spanier, die Türken und Altgriechen zur Inscenirung des schönen Fleisches zusammengekoppelt, so entdeckt man endlich immer wieder, dass man sich doch nicht zum Besten auf seinen Vortheil verstanden habe, dass, um auf die Männer Wirkung zu machen, das Versteckenspielen mit dem schönen Leibe glücklicher sei, als die nackte und halbnackte Ehrlichkeit; und nun dreht sich das Rad des Geschmackes und der Eitelkeit einmal wieder in entgegengesetzter Richtung: die etwas älteren jungen Frauen finden, dass ihr Reich gekommen sei, und der Wettkampf der lieblichsten und absurdesten Geschöpfe tobt wieder von Neuem. Je m e h r aber die Frauen innerlich zunehmen und nicht mehr unter sich, wie bisher, den unreifen Altersclassen den Vorrang zugestehen, desto geringer werden diese Schwankungen ihrer Tracht, desto einfacher ihr Putz: über welchen man billigerweise nicht nach antiken Mustern das Urtheil sprechen darf, also n i c h t nach dem Maassstab der Gewandung südländischer See-Anwohnerinnen, sondern in Berücksichtigung der klimatischen Bedingungen der mittleren und nördlichen Gegenden Europa's, derer nämlich, in welchen jetzt der geist- und formerfindende Genius Europa's seine liebste Heimath hat. — Im Ganzen wird also gerade n i c h t das W e c h s e l n d e das charakteristische Zeichen der M o d e und des M o d e r n e n sein, denn gerade der Wechsel
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Menschliches, Allzumenschliches I I
ist etwas Rückständiges und bezeichnet die noch u n g e r e i f t e n männlichen und weiblichen E u r o p ä e r : sondern die Ablehnung der nationalen, ständischen und individuellen Eitelkeit. D e m entsprechend ist es zu loben, weil es kraft- und zeitersparend ist, wenn einzelne Städte und Gegenden Europa's für alle übrigen in Sachen der Kleidung denken und erfinden, in Anbetracht dessen, dass der Formensinn nicht J e d e r m a n n geschenkt zu sein pflegt: auch ist es wirklich kein allzu hochfliegender Ehrgeiz, wenn z u m Beispiel Paris, so lange jene Schwankungen noch bestehen, es in Anspruch nimmt, der alleinige Erfinder und Neuerer in diesem Reiche zu sein. Will ein Deutscher, aus H a s s gegen diese Ansprüche einer französischen Stadt, sich anders kleiden, z u m Beispiel so wie Albrecht Dürer sich trug, so möge er erwägen, dass er dann ein C o s t ü m hat, welches ehemalige Deutsche trugen, welches aber die Deutschen ebensowenig erfunden haben, — es hat n i e eine Tracht gegeben, welche den Deutschen als Deutschen bezeichnete; übrigens m a g er zusehen, wie er aus dieser Tracht herausschaut und ob etwa der ganz moderne K o p f nicht mit all seiner Linien- und Fältchenschrift, welche das neunzehnte Jahrhundert hineingrub, gegen eine Dürerische Bekleidung Einsprache thut. — Hier, wo die Begriffe „ m o d e r n " und „europäisch" fast gleich gesetzt sind, wird unter E u r o p a viel mehr an Länderstrecken verstanden, als das geographische E u r o p a , die kleine Halbinsel Asien's, umfasst: namentlich gehört A m e r i k a hinzu, soweit es eben das Tochterland unserer Cultur ist. Andererseits fällt nicht einmal ganz E u r o p a unter den Cultur-Begriff „ E u r o p a " ; sondern nur alle jene Völker und Völkertheile, welche im Griechen-, R ö m e r - , Juden- und Christenthum ihre gemeinsame Vergangenheit haben.
216. D i e „ d e u t s c h e T u g e n d " . — Es ist nicht zu leugnen, dass v o m Ausgange des vorigen Jahrhunderts an ein S t r o m
2. D e r Wanderer und sein Schatten 2 1 5 — 2 1 6
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moralischer Erweckung durch Europa floss. Damals erst wurde die Tugend wieder beredt; sie lernte es, die ungezwungenen Gebärden der Erhebung, der Rührung finden, sie schämte sich ihrer selber nicht mehr und ersann Philosophien und Gedichte zur eigenen Verherrlichung. Sucht man nach den Quellen dieses Stromes: so findet man einmal Rousseau, aber den mythischen Rousseau, den man sich nach dem Eindrucke seiner Schriften — fast könnte man wieder sagen: seiner mythisch ausgelegten Schriften — und nach den Fingerzeigen, die er selber gab, erdichtet hatte (er und sein Publicum arbeiteten beständig an dieser Idealfigur). Der andere Ursprung liegt in jener Wiederauferstehung des stoisch-grossen Römerthums, durch welche die Franzosen die Aufgabe der Renaissance auf das Würdigste weitergeführt haben. Sie giengen von der Nachschöpfung antiker Formen mit herrlichstem Gelingen zur Nachschöpfung antiker Charaktere über: sodass sie ein Anrecht auf die allerhöchsten Ehren immerdar behalten werden, als das Volk, welches der neueren Menschheit bisher die besten Bücher und die besten Menschen gegeben hat. Wie diese doppelte Vorbildlichkeit, die des mythischen Rousseau und die jenes wiedererweckten R ö mergeistes, auf die schwächeren Nachbarn wirkte, sieht man namentlich an Deutschland: welches in Folge seines neuen und ganz ungewohnten Aufschwunges zu Ernst und Grösse des Wollens und Sich-beherrschens zuletzt vor seiner eigenen neuen Tugend in Staunen gerieth und den Begriff „deutsche Tugend" in die Welt warf, wie als ob es nichts Ursprünglicheres, Erbeigeneres geben könnte, als diese. Die ersten grossen Männer, welche jene französische Anregung zur Grösse und Bewusstheit des sittlichen Wollens auf sich überleiteten, waren ehrlicher und vergassen die Dankbarkeit nicht. Der Moralismus Kant's — woher kommt er? Er giebt es wieder und wieder zu verstehen: von Rousseau und dem wiedererweckten stoischen R o m . Der Moralismus Schiller's: gleiche Quelle, gleiche Verherrlichung der Quelle. Der Moralismus Beethoven's in Tönen: er ist das ewige
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Menschliches, Allzumenschlidies I I
Loblied Rousseau's, der antiken Franzosen und Schiller's. Erst „der deutsche J ü n g l i n g " vergass die Dankbarkeit, inzwischen hatte m a n ja das O h r nach den Predigern des Franzosenhasses hingewendet: jener deutsche Jüngling, der eine Zeitlang mit mehr Bewusstheit, als man bei andern Jünglingen f ü r erlaubt hält, in den V o r d e r g r u n d trat. Wenn er nach seiner Vaterschaft spürte, so mochte er mit Recht an die N ä h e Schiller's, Fichte's und Schleiermacher's denken: aber seine Grossväter hätte er in Paris, in Genf suchen müssen, und es war sehr kurzsichtig, zu glauben, was er glaubte: dass die Tugend nicht älter als dreissig Jahre sei. Damals gewöhnte m a n sich daran, zu verlangen, dass beim Worte „deutsch" auch noch so nebenbei die Tugend mitverstanden werde, — und bis auf den heutigen T a g hat man es noch nicht völlig verlernt. — Nebenbei bemerkt, jene genannte moralische Erweckung hat f ü r d i e E r k e n n t n i s s der moralischen Erscheinungen, wie sich fast errathen lässt, nur Nachtheile und rückschreitende Bewegungen zur Folge gehabt. Was ist die ganze deutsche Moralphilosophie, von K a n t an gerechnet, mit allen ihren französischen, englischen und italiänischen Ausläufern und Nebenzüglern? Ein halbtheologisches Attentat gegen Helvetius, ein Abweisen der lange und mühsam erkämpften Freiblicke oder Fingerzeige des rechten Weges, welche er zuletzt gut ausgesprochen und zusammengebracht hat. Bis auf den heutigen T a g ist Helvetius in Deutschland der best beschimpfte aller guten Moralisten und guten Menschen.
21 / . C l a s s i s c h u n d r o m a n t i s c h . — Sowohl die classisch als auch die romantisch gesinnten Geister — wie es diese beiden Gattungen immer giebt — tragen sich mit einer Vision der Zukunft: aber die ersteren aus einer S t ä r k e ihrer Zeit heraus, die letzteren aus deren S c h w ä c h e .
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218. D i e M a s c h i n e a l s L e h r e r i n . — Die Maschine lehrt durch sich selber das Ineinandergreifen von Menschenhaufen, bei Actionen, wo Jeder nur Eins zu thun hat: sie giebt das Mu5 ster der Partei-Organisation und der Kriegsführung. Sie lehrt dagegen nicht die individuelle Selbstherrlichkeit: sie macht aus Vielen e i n e Maschine, und aus jedem Einzelnen ein Werkzeug zu e i n e m Zwecke. Ihre allgemeinste Wirkung ist, den N u t z e n der Centralisation zu lehren. 10
219.
N i c h t s e s s h a f t . — M a n w o h n t gerne in der kleinen Stadt; aber von Zeit zu Zeit treibt gerade sie uns in die einsamste unenthüllteste N a t u r : dann nämlich, wenn jene uns einmal wieder zu durchsichtig geworden ist. Endlich gehen wir, u m 1 5 uns wieder von dieser N a t u r zu e r h o l e n , in die grosse Stadt. Einige Züge aus derselben — und wir errathen den Bodensatz ihres Bechers, — der Kreislauf, mit der kleinen Stadt am Anfange, beginnt von N e u e m . — So leben die Modernen: welche in Allem etwas z u g r ü n d l i c h sind, u m s e s s h a f t zu sein 20 wie die Menschen anderer Zeiten.
220. R e a c t i o n gegen die M a s c h i n e n - C u l t u r . — Die Maschine, selber ein Erzeugniss der höchsten Denkkraft, setzt bei den Personen, welche sie bedienen, fast nur die niede25 ren gedankenlosen K r ä f t e in Bewegung. Sie entfesselt dabei eine Unmasse Kraft überhaupt, die sonst schlafen läge, das ist wahr; aber sie giebt nicht den Antrieb zum Höhersteigen, zum Bessermachen, z u m Künstlerwerden. Sie macht t h ä t i g und e i n f ö r m i g , — das erzeugt aber auf die Dauer eine Gegenwir3° kung, eine verzweifelte Langeweile der Seele, welche durch sie nach wechselvollem Müssiggange dürsten lernt.
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Menschliches, Allzumenschliches I I
221. D i e G e f ä h r l i c h k e i t d e r A u f k l ä r u n g . — Alles das Halbverrückte, Schauspielerische, Thierisch-Grausame, Wollüstige, namentlich Sentimentale und Sich-selbst-Berauschende, was zusammen die eigentlich revolutionäre S u b s t a n z ausmacht und in Rousseau, v o r der Revolution, Fleisch und Geist geworden war, — dieses ganze Wesen setzte sich mit perfider Begeisterung noch d i e A u f k l ä r u n g auf das fanatische H a u p t , welches durch diese selber wie in einer verklärenden Glorie zu leuchten begann: die Aufklärung, die im G r u n d e jenem Wesen so f r e m d ist und, für sich waltend, still wie ein Lichtglanz durch Wolken gegangen sein würde, lange Zeit zufrieden damit, nur die Einzelnen umzubilden: sodass sie nur sehr langsam auch die Sitten und Einrichtungen der Völker umgebildet hätte. J e t z t aber, an ein gewaltsames und plötzliches Wesen gebunden, wurde die A u f k l ä r u n g selber gewaltsam und plötzlich. Ihre Gefährlichkeit ist dadurch fast grösser geworden, als die befreiende und erhellende Nützlichkeit, welche durdi sie in die grosse Revolutionsbewegung kam. Wer diess begreift, wird auch wissen, aus welcher Vermischung m a n sie herauszuziehen, v o n welcher Verunreinigung m a n sie zu läutern hat: u m dann, a n s i c h s e l b e r , das W e r k der A u f k l ä r u n g f o r t z u s e t z e n und die Revolution nachträg'-ich in der G e b u r t zu ersticken, ungeschehen zu machen.
222. D i e L e i d e n s c h a f t i m M i t t e l a l t e r . — Das Mittelalter ist die Zeit der grössten Leidenschaften. Weder das Altert h u m noch unsere Zeit hat diese Ausweitung der Seele: ihre R ä u m l i c h k e i t war nie grösser und nie ist mit längeren Maassstäben gemessen worden. Die physische Urwald-Leiblichkeit von Barbarenvölkern und die überseelenhaften, überwachen, allzuglänzenden Augen v o n christlichen Mysterien-
2. Der Wanderer und sein Schatten 2 2 1 — 2 2 5
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J ü n g e r n , das Kindlichste, Jüngste und ebenso das Ueberreifste, Altersmüdeste, die R o h h e i t des Raubthiers und die Verzärtelung und Ausspitzung des spätantiken Geistes, — Alles diess k a m damals an Einer Person nicht selten zusammen: da musste, J wenn Einer in Leidenschaft gerieth, die Stromschnelle des G e müthes gewaltiger, der Strudel verwirrter, der Sturz tiefer sein, als je. — W i r neueren Menschen dürfen m i t der Einbusse zufrieden sein, welche hier gemacht worden ist.
223. 10
Rauben
und
s p a r e n . — Alle geistigen Bewegungen
gehen vorwärts, in Folge deren die Grossen zu r a u b e n , Kleinen zu s p a r e n
die
hoffen k ö n n e n . Desshalb gieng zum Bei-
spiel die deutsche R e f o r m a t i o n vorwärts.
224. J
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Fröhliche
S e e l e n . — W e n n auf T r u n k , T r u n k e n h e i t
und eine übelriechende A r t von Unflätherei auch nur v o n ferne hingewinkt wurde, dann wurden die Seelen der älteren D e u t schen fröhlich, — sonst waren sie verdrossen; aber dort hatten sie ihre A r t von Verständniss-Innigkeit.
225. D a s a u s s c h w e i f e n d e A t h e n . — Selbst als der Fischm a r k t Athen's seine D e n k e r und Dichter b e k o m m e n hatte, besass die griechische Ausschweifung i m m e r noch ein idyllischeres und feineres Aussehen, als es je die römische oder die deutsche 2$ Ausschweifung hatte. Die S t i m m e IuvenaPs hätte d o r t wie eine hohle T r o m p e t e geklungen: ein artiges und fast kindliches G e lächter hätte i h m geantwortet.
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226. K l u g h e i t d e r G r i e c h e n . — D a das Siegen- und H e r vorragenwollen ein unüberwindlicher Zug der N a t u r ist, älter und ursprünglicher, als alle Achtung und Freude der Gleichstellung, so hatte der griechische Staat den gymnastischen und musischen Wettkampf innerhalb der Gleichen sanctionirt, also einen T u m m e l p l a t z abgegränzt, w o jener Trieb sich entladen konnte, ohne die politische O r d n u n g in Gefahr zu bringen. Mit dem endlichen Verfalle des gymnastischen und musischen Wettkampfes gerieth der griechische Staat in innere U n r u h e und Auflösung.
22 7. „ D e r e w i g e E p i k u r . " — E p i k u r hat zu allen Zeiten gelebt und lebt noch, unbekannt Denen, welche sich Epikureer nannten und nennen, und ohne R u f bei den Philosophen. Auch hat er selber den eigenen N a m e n vergessen: es war das schwerste Gepäck, welches er je abgeworfen hat.
228. S t i l d e r U e b e r l e g e n h e i t . — Studentendeutsch, die Sprechweise des deutschen Studenten, hat ihren U r s p r u n g unter den nicht-studierenden Studenten, welche eine A r t von Uebergewicht über ihre ernsteren Genossen dadurch zu erlangen wissen, dass sie an Bildung, Sittsamkeit, Gelehrtheit, O r d n u n g , Mässigung alles Maskeradenhafte aufdecken und die Worte aus jenen Bereichen zwar fortwährend ebenso im M u n d e führen, wie die Besseren, Gelehrteren, aber mit einer Bosheit im Blicke und einer begleitenden Grimasse. In dieser Sprache der Ueberlegenheit — der einzigen, die in Deutschland original ist — reden nun unwillkürlich auch die Staatsmänner und die Zeitungs-Kritiker: es ist ein beständiges ironisches Citiren, ein un-
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ruhiges, unfriedfertiges Schielen des Auges nach rechts und links, ein Gänsefüsschen- und Grimassen-Deutsch.
229. D i e V e r g r a b e n e n . — Wir ziehen uns in's Verborgene zurück: aber nicht aus irgend einem persönlichen Missmuthe, als ob uns die politischen und socialen Verhältnisse der Gegenwart nicht genugthäten, sondern weil wir durch unsere Zurückziehung Kräfte sparen und sammeln wollen, welche s p ä t e r einmal der C u l t u r ganz n o t h t h u n werden, je mehr diese Gegenwart d i e s e Gegenwart ist und als solche i h r e Aufgabe erfüllt. Wir bilden ein Capital und suchen es sicher zu stellen: aber, wie in ganz gefährlichen Zeiten, dadurch dass wir es vergraben.
230. T y r a n n e n d e s G e i s t e s . — In unserer Zeit würde man Jeden, der so streng der Ausdruck Eines moralischen Zuges wäre, wie die Personen Theophrast's und Moliere's es sind, f ü r k r a n k halten, u n d von „fixer Idee" bei ihm reden. Das Athen des dritten Jahrhunderts würde uns, wenn wir dort einen Besuch machen dürften, wie von N a r r e n bevölkert erscheinen. Jetzt herrscht die Demokratie der B e g r i f f e in jedem Kopfe, — v i e l e z u s a m m e n sind der H e r r : e i n einzelner Begriff, der H e r r sein w o l l t e , heisst jetzt, wie gesagt, „fixeldee". Diess ist u n s e r e Art, die Tyrannen zu morden, — wir winken nach dem Irrenhause hin.
231. G e f ä h r l i c h s t e A u s w a n d e r u n g . — In Russland giebt es eine Auswanderung der Intelligenz: man geht über die
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Gränze, u m gute Bücher zu lesen und zu schreiben. So wirkt man aber dahin, das v o m Geiste verlassene Vaterland immer mehr z u m vorgestreckten Rachen Asiens zu machen, der das kleine E u r o p a verschlingen möchte.
232. D i e S t a a t s - N a r r e n . — Die fast religiöse Liebe z u m Könige gieng bei den Griechen auf die Polis über, als es mit dem K ö n i g t h u m zu Ende war. U n d weil ein Begriff mehr Liebe erträgt, als eine Person, und namentlich dem Liebenden nicht so oft vor den K o p f stösst, wie geliebte Menschen es thun (— denn je mehr sie sich geliebt wissen, desto rücksichtsloser werden sie meistens, bis sie endlich der Liebe nicht mehr würdig sind, und wirklich ein Riss entsteht), so war die Polis- und Staats-Verehrung grösser, als irgend je vorher die Fürsten-Verehrung. Die Griechen sind die S t a a t s - N a r r e n der alten Geschichte, — in der neueren sind es andere Völker.
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33G e g e n die V e r n a c h l ä s s i g u n g der Augen. — O b man nicht bei den gebildeten Classen Englands, welche die Times lesen, alle zehn J a h r e eine A b n a h m e der Sehkraft nachweisen könnte?
234. G r o s s e W e r k e u n d g r o s s e r G l a u b e . — jener hatte die grossen Werke, sein Genosse aber hatte den grossen Glauben an diese Werke. Sie waren unzertrennlich: aber ersichtlich hieng der Erstere völlig v o m Zweiten ab.
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D e r G e s e l l i g e . — „Ich b e k o m m e mir nicht g u t " sagte J e m a n d , u m seinen H a n g zur Gesellschaft zu erklären. „ D e r Magen der Gesellschaft ist stärker, als der meinige, er verträgt mich."
236. A u g e n s c h l i e s s e n d e s G e i s t e s . — Ist m a n geübt und gewohnt, über das Handeln nachzudenken, so muss man doch beim Handeln selber (sei dieses selbst nur Briefschreiben oder Essen und Trinken) das innere A u g e schliessen. J a im Gespräch mit Durchschnittsmenschen muss man es verstehen, mit geschlossenen Denker-Augen zu d e n k e n , — um nämlich das Durchschnittsdenken zu erreichen und zu begreifen. Dieses Augen-Schliessen ist ein fühlbarer, mit Willen vollziehbarer Act.
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D i e f u r c h t b a r s t e R a c h e . — Wenn man sich an einem Gegner durchaus r ä c h e n will, so soll man so lange warten, bis m a n die ganze H a n d voll Wahrheiten und Gerechtigkeiten hat und sie gegen ihn ausspielen kann, mit Gelassenheit: sodass Rache üben mit Gerechtigkeit üben zusammenfällt. Es ist die furchtbarste A r t der Rache, denn sie hat keine Instanz über sich, an die noch appellirt werden könnte. So rächte sich Voltaire an Piron, mit fünf Zeilen, die über dessen ganzes Leben, Schaffen und Wollen richten: soviel Worte, soviel Wahrheiten; so rächte sich der Selbe an Friedrich dem Grossen (in einem Briefe an ihn von Ferney aus).
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238. L u x u s - S t e u e r . — Man kauft in den Läden das N ö t h i g e und Nächste und muss es theuer bezahlen, weil man mitbezahlt, was dort auch feil steht, aber nur selten seine Abnehmer hat: das L u x u s h a f t e und Gelüstartige. So legt der L u x u s dem Einfachen, der seiner enträth, doch eine fortwährende Steuer auf.
239. W a r u m d i e B e t t l e r n o c h l e b e n . — Wenn alle Almosen nur aus Mitleiden gegeben würden, so wären die Bettler allesammt verhungert. 240. W a r u m die B e t t l e r noch Almosenspenderin ist die Feigheit.
l e b e n . — Die grösste
241. Wie der D e n k e r ein G e s p r ä c h b e n u t z t . — Ohne Horcher zu sein, kann m a n viel hören, wenn man versteht, gut zu sehen, doch sich selber f ü r Zeiten aus den Augen zu verlieren. Aber die Menschen wissen ein Gespräch nicht zu benutzen; sie verwenden bei Weitem zu viel A u f m e r k s a m k e i t auf Das, was sie sagen und entgegnen wollen, während der wirkliche H ö r e r sich oft begnügt, vorläufig zu antworten und Etwas als Abschlagszahlung der Höflichkeit überhaupt zu s a g e n , dagegen mit seinem hinterhaltigen Gedächtnisse Alles davonträgt, was der Andere geäussert hat, nebst der A r t in T o n und Gebärde, w i e er es äusserte. — Im gewöhnlichen Gespräche meint Jeder der Führende zu sein, wie wenn zwei Schiffe, die neben einander fahren und sich hier und da einen kleinen Stoss geben, beiderseits im guten Glauben sind, ihr Nachbarschiff folge oder werde sogar geschleppt.
2. D e r W a n d e r e r und sein Schatten 2 3 8 — 2 4 6
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242. D i e K u n s t , s i c h z u e n t s c h u l d i g e n . — Wenn sich J e m a n d vor uns entschuldigt, so muss er es sehr gut machen: sonst k o m m e n wir uns selber leicht als die Schuldigen vor und haben eine unangenehme Empfindung.
243-
U n m ö g l i c h e r U m g a n g . — Das Schiff deiner Gedanken geht zu tief, als dass du mit ihm auf den Gewässern dieser freundlichen, anständigen, entgegenkommenden Personen fahren könntest. Es sind da der Untiefen und Sandbänke zu viele: du würdest dich drehen und wenden müssen und in fortwährender Verlegenheit sein, und Jene würden alsbald auch in Verlegenheit gerathen — über deine Verlegenheit, deren Ursache sie nicht errathen können.
244. F u c h s d e r F ü c h s e . — Ein rechter Fuchs nennt nicht nur die Trauben sauer, welche er nicht erreichen kann, sondern auch die, welche er erreicht und Anderen v o r w e g g e n o m m e n hat.
245-
I m n ä c h s t e n V e r k e h r e . — Wenn Menschen auch noch so eng zusammengehören: es giebt innerhalb ihres gemeinsamen Horizontes doch noch alle vier Himmelsrichtungen, und in manchen Stunden merken sie es.
246. D a s S c h w e i g e n d e s E k e l s . — D a macht J e m a n d als Denker und Mensch eine tiefe schmerzhafte U m w a n d l u n g durch
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Menschliches, Allzumenschliches II
und legt dann öffentlich Zeugniss davon ab. U n d die H ö r e r merken Nichts! glauben ihn noch ganz als den Alten! — Diese gewöhnliche Erfahrung hat manchem Schriftsteller schon Ekel gemacht: sie hatten die Intellectualität der Menschen zu hoch geachtet und gelobten sich, als sie ihren Irrthum wahrnahmen, das Schweigen an.
24 7G e s c h ä f t s - E r n s t . — Die Geschäfte manches Reichen und Vornehmen sind seine A r t A u s r u h e n s von allzulangem gewohnheitsmässigem M ü s s i g g a n g : er nimmt sie desshalb so ernst und passionirt, wie andere Leute ihre seltenen MusseErholungen und -Liebhabereien.
248. D o p p e l s i n n d e s A u g e s . — Wie das Gewässer zu deinen Füssen eine plötzliche schuppenhafte Erzitterung überläuft, so giebt es auch im menschlichen Auge solche plötzliche U n sicherheiten und Zweideutigkeiten, bei denen man sich fragt: ist's ein Schaudern? ist's ein Lächeln? ist's Beides?
249. P o s i t i v u n d n e g a t i v . — Dieser Denker braucht Niemanden, der ihn widerlegt: er genügt sich dazu selber.
250. D i e R a c h e d e r l e e r e n N e t z e . — Man nehme sich vor allen Personen in Acht, welche das bittere Gefühl des Fischers haben, der nach mühevollem Tagewerk am Abend mit leeren Netzen heimfährt.
2. D e r Wanderer und sein Schatten 246—255
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251.
S e i n R e c h t n i c h t g e l t e n d m a c h e n . — Machtausüben kostet Mühe und erfordert Muth. Desshalb machen so Viele ihr gutes, allerbestes Recht nicht geltend, weil diess Recht eine Art M a c h t ist, sie aber zu faul oder zu feige sind, es auszuüben. N a c h s i c h t und G e d u l d heissen die DeckmantelTugenden dieser Fehler. 252.
L i c h t t r ä g e r . — In der Gesellschaft wäre kein Sonnenschein, wenn ihn nicht die geborenen Schmeichelkatzen mit hineinbrächten, ich meine die sogenannten Liebenswürdigen.
25 3A m m i l d t h ä t i g s t e n . — Wenn der Mensch eben sehr geehrt worden ist und ein Wenig gegessen hat, so ist er am mildthätigsten.
Z u m L i c h t e . — Die Menschen drängen sich zum Lichte, nicht um besser zu sehen, sondern um besser zu glänzen. — Vor wem man glänzt, den lässt man gerne als Licht gelten.
255D e r H y p o c h o n d e r . — Der Hypochonder ist ein Mensch, der gerade genug Geist und Lust am Geiste besitzt, um seine Leiden, seinen Verlust, seine Fehler gründlich zu nehmen: aber sein Gebiet, auf dem er sich nährt, ist zu klein; er weidet es so ab, dass er endlich die einzelnen Hälmchen suchen muss. Dabei wird er endlich zum Neider und Geizhals, — und dann erst ist er unausstehlich.
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Menschliches, Allzumenschliches II
256. Z u r ü c k e r s t a t t e n . — Hesiod räth an, dem Nachbar, der uns ausgeholfen hat, mit gutem Maasse und womöglich reichlicher zurückzugeben, sobald wir es vermögen. Dabei hat nämlich der Nachbar seine Freude, denn seine einstmalige G u t müthigkeit trägt ihm Zinsen ein; aber auch Der, welcher zurückgiebt, hat seine Freude, insofern er die kleine einstmalige Demüthigung, sich aushelfen lassen zu müssen, durch ein kleines Uebergewicht, als Schenkender, zurückkauft.
257F e i n e r a l s n ö t h i g . — Unser Beobachtungssinn dafür, ob Andere unsere Schwächen wahrnehmen, ist viel feiner, als unser Beobachtungssinn f ü r die Schwächen Anderer: woraus sich also ergiebt, dass er feiner ist, als nöthig wäre. 258.
E i n e l i c h t e A r t v o n S c h a t t e n . — Dicht neben den ganz nächtigen Menschen befindet sich fast regelmässig, wie an sie angebunden, eine Lichtseele. Sie ist gleichsam der negative Schatten, den jene werfen.
259S i c h n i c h t r ä c h e n ? — Es giebt so viele feine Arten der Rache, dass Einer, der Anlass hätte, sich zu rächen, im G r u n de t h u n oder lassen kann, was er will: alle Welt wird doch nach einiger Zeit übereingekommen sein, dass er sich gerächt h a b e . Sich nicht zu rächen steht also kaum im Belieben eines Menschen: dass er es nicht w o l l e , darf er nicht einmal aussprechen, weil die Verachtung der Rache als eine sublime, sehr empfindliche Rache gedeutet und e m p f u n d e n wird. — Woraus sich ergiebt, dass man nichts U e b e r f l ü s s i g e s t h u n soll
2. D e r W a n d e r e r und sein Schatten 2 5 6 — 2 6 3
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260. I r r t h u m d e r E h r e n d e n . — Jeder glaubt einem Denker etwas Ehrendes und Angenehmes zu sagen, wenn er ihm zeigt, wie er von selber genau auf den selben Gedanken und 5 selbst auf den gleichen Ausdruck gerathen sei; und doch wird bei solchen Mittheilungen der Denker nur selten ergötzt, aber häufig gegen seinen Gedanken und dessen Ausdruck misstrauisch: er beschliesst im Stillen, beide einmal zu revidiren. — M a n muss, wenn man J e m a n d e n ehren will, sich vor dem Ausdruck der Uebereinstimmung hüten: sie stellt auf ein gleiches N i v e a u . — In vielen Fällen ist es die Sache der gesellschaftlichen Schicklichkeit, eine Meinung so anzuhören, als sei sie nicht die unsrige, ja als gienge sie über unsern H o r i z o n t hinaus: zum Beispiel wenn der Alte, Alterfahrene einmal ausnahmsweise den Schrein seiner J5 Erkenntnisse aufschliesst.
261.
20
B r i e f . — Der Brief ist ein unangemeldeter Besuch, der Briefbote der Vermittler unhöflicher Ueberfälle. Man sollte alle acht Tage eine Stunde z u m Briefempfangen haben und darnach ein Bad nehmen.
262. D e r V o r e i n g e n o m m e n e . — J e m a n d sagte: ich bin gegen mich v o r e i n g e n o m m e n v o n Kindesbeinen an: desshalb finde ich in jedem Tadel etwas Wahrheit und in jedem 25 Lobe etwas Dummheit. D a s L o b wird von mir gewöhnlich zu gering und der Tadel zu hoch geschätzt.
263. Weg
zur
Gleichheit.
— Einige Stunden
Bergstei-
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Menschliches, Allzumenschliches I I
gens machen aus einem Schuft und einem Heiligen zwei ziemlich gleiche Geschöpfe. Die Ermüdung ist der kürzeste W e g zur G l e i c h h e i t und B r ü d e r l i c h k e i t — und die F r e i h e i t wird endlich durch den Schlaf hinzugegeben.
5
264.
V e r l e u m d u n g . — K o m m t man einer eigentlich infamen Verdächtigung auf die Spur, so suche man ihren U r sprung nie bei seinen ehrlichen und einfachen F e i n d e n ; denn diese würden, wenn sie so Etwas über uns erfänden, als Feinde 10 keinen Glauben finden. Aber jene, denen wir eine Zeit lang am meisten genützt haben, welche aber, aus irgend einem Grunde im Geheimen sicher darüber sein dürfen, Nichts mehr von uns zu erlangen, — Solche sind im Stande, die Infamie in's Rollen zu bringen: sie finden Glauben, einmal weil man annimmt, dass sie Nichts erfinden würden, was ihnen selber Schaden bringen könnte; sodann weil sie uns näher kennen gelernt haben. — Z u m Tröste mag sich der so schlimm Verleumdete sagen: Verleumdungen sind Krankheiten Anderer, die an deinem Leibe ausbrechen; sie beweisen, dass die Gesellschaft Ein (moralischer) Körper ist, sodass du an d i r die C u r vornehmen kannst, die den Anderen nützen soll.
265. D a s K i n d e r - H i m m e l r e i c h . — Das Glück des Kindes ist ebenso sehr ein Mythus, wie das Glück der Hyperboreer, 25 von dem die Griechen erzählten. W e n n das Glück überhaupt auf Erden wohnt, meinten diese, dann gewiss möglichst weit von uns, etwa dort am Rande der Erde. Ebenso denken die älteren Menschen: w e n n der Mensch überhaupt glücklich sein kann, dann gewiss möglichst fern von u n s e r e m Alter, an 30 den Gränzen und Anfängen des Lebens. Für manchen Menschen
2. Der Wanderer und sein Schatten 2 6 3 — 2 6 7
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ist der Anblick der Kinder, d u r c h den Schleier dieses Mythus' hindurch, das grösste Glück, dessen er theilhaftig werden kann: er geht selber bis in den Vorhof des Himmelreichs, wenn er sagt „lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das $ Himmelreich." — Der Mythus v o m Kinder-Himmelreich ist überall irgendwie thätig, w o es in der modernen Welt Etwas von Sentimentalität giebt.
266. D i e U n g e d u l d i g e n . — Gerade der Werdende will 10 das Werdende nicht: er ist zu ungeduldig dafür. Der Jüngling will nicht warten, bis, nach langen Studien, Leiden und Entbehrungen, sein Gemälde von Menschen und Dingen voll werde: so nimmt er ein anderes, das fertig dasteht und ihm angeboten wird, auf Treu und Glauben an, als müsse es ihm die Linien 15 und Farben s e i n e s Gemäldes vorweg geben, er wirft sich einem Philosophen, einem Dichter an's Herz und muss nun eine lange Zeit Frohndienste thun und sich selber verläugnen. Vieles lernt er dabei: aber häufig vergisst ein Jüngling das Lernens- und Erkennenswertheste darüber: sich selber; er bleibt 20 Zeitlebens ein Parteigänger. Ach, es ist viel Langeweile zu überwinden, viel Schweiss nöthig, bis man seine Farben, seinen Pinsel, seine Leinwand gefunden hat! — U n d dann ist man noch lange nicht Meister seiner Lebenskunst, — aber wenigstens H e r r in der eigenen Werkstatt.
25
267.
E s g i e b t k e i n e E r z i e h e r . — N u r von Selbst-Erziehung sollte man als Denker reden. Die Jugend-Erziehung durch Andere ist entweder ein Experiment, an einem noch Unerkannten, Unerkennbaren vollzogen, oder eine grundsätzliche N i 30 vellirung, um das neue Wesen, welches es auch sei, den Gewohn-
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heiten und Sitten, welche herrschen, gemäss zu machen: in beiden Fällen also Etwas, das des Denkers unwürdig ist, das Werk der Eltern und Lehrer, welche Einer der verwegenen Ehrlichen nos ennemis naturels genannt hat. — Eines Tages, 5 wenn man längst, nach der Meinung der Welt, erzogen ist, e n t d e c k t man sich s e 1 b e r : da beginnt die A u f g a b e des Denkers, jetzt ist es Zeit, ihn zu H ü l f e zu rufen — nicht als einen Erzieher, sondern als einen Selbst-Erzogenen, der E r f a h r u n g hat.
268. 10
M i t l e i d e n m i t d e r J u g e n d . — Es jammert uns, wenn wir hören, dass einem Jünglinge schon die Zähne ausbrechen, einem Andern die Augen erblinden. Wüssten wir alles Unwiderrufliche und Hoffnungslose, das in seinem ganzen Wesen steckt, wie gross würde erst der J a m m e r sein! — Wesshalb 1 e i 15 d e n wir hierbei eigentlich? Weil die Jugend fortführen soll, was w i r unternommen haben, und jeder Ab- und Anbruch ihrer K r a f t u n s e r e m Werke, das in ihre H ä n d e fällt, zum Schaden gereichen will. Es ist der J a m m e r über die schlechte Garantie unserer Unsterblichkeit: oder, wenn wir uns nur als Vollstrecker der Menschheits-Mission fühlen, der J a m m e r darüber, dass diese Mission in schwächere H ä n d e , als die unsrigen sind, übergehen muss.
269. D i e L e b e n s a l t e r . — Die Vergleichung der vier Jahres25 Zeiten mit den vier Lebensaltern ist eine ehrwürdige Albernheit. Weder die ersten zwanzig, noch die letzten zwanzig Jahre des Lebens entsprechen einer Jahreszeit: vorausgesetzt dass man sich bei der Vergleichung nicht mit dem Weiss des Haares und Schnees und mit ähnlichen Farbenspielen begnügt. Jene ersten 3° zwanzig J a h r e sind eine Vorbereitung auf das Leben überhaupt,
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5
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auf das ganze Lebensjahr, als eine Art langen Neujahrstages; und die letzten zwanzig überschauen, verinnerlichen, bringen in Fug und Zusammenklang, was nur Alles vorher erlebt wurde: so wie man es, in kleinem Maasse, an jedem Sylvestertage mit dem ganzen verflossenen Jahre thut. Zwischen inne liegt aber in der That ein Zeitraum, welcher die Vergleichung mit den Jahreszeiten nahe legt: der Zeitraum vom zwanzigsten bis zum fünfzigsten Jahre (um hier einmal in Bausch und Bogen nach Jahrzehenden zu rechnen, während es sich von selber versteht, dass Jeder nach seiner Erfahrung diese groben Ansätze für sich verfeinern muss). Jene dreimal zehn Jahre entsprechen dreien Jahreszeiten: dem Sommer, dem Frühling und dem Herbste, — einen Winter hat das menschliche Leben nicht, es sei denn, dass man die leider nicht selten eingeflochtenen harten, kalten, einsamen, hoffnungsarmen, unfruchtbaren K r a n k h e i t s z e i t e n die Winterzeiten des Menschen nennen will. Die zwanziger Jahre: heiss, lästig, gewitterhaft, üppig treibend, müde machend, Jahre, in denen man den Tag am Abend, wenn er zu Ende ist, preist und sich dabei die Stirn abwischt: Jahre, in denen die Arbeit uns hart, aber nothwendig dünkt, — diese zwanziger Jahre sind der S o m m e r des Lebens. Die dreissiger dagegen sind sein F r ü h l i n g : die Luft bald zu warm, bald zu kalt, immer unruhig und anreizend, quellender Saft, Blätterfülle, Blüthenduft überall, viele bezaubernde Morgen und Nächte, die Arbeit, zu der der Vogelgesang uns weckt, eine rechte Herzensarbeit, eine Art Genuss der eigenen Rüstigkeit, verstärkt durch vorgeniessende Hoffnungen. Endlich die vierziger Jahre: geheimnissvoll, wie alles Stillestehende; einer hohen weiten BergEbene gleichend, an der ein frischer Wind hinläuft; mit einem klaren wolkenlosen Himmel darüber, welcher den Tag über und in die Nächte hinein immer mit der gleichen Sanftmuth blickt: die Zeit der Ernte und der herzlichsten Heiterkeit, — es ist der H e r b s t des Lebens.
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270. D e r G e i s t d e r F r a u e n in d e r j e t z i g e n G e s e l l s c h a f t . — Wie die Frauen jetzt über den Geist der Männer denken, erräth man daraus, dass sie bei ihrer Kunst des Schmükkens an Alles eher denken, als den Geist ihrer Züge oder die geistreichen Einzelnheiten ihres Gesichts noch besonders zu unterstreichen: sie verbergen Derartiges vielmehr und wissen sich dagegen, zum Beispiel durch Anordnung des Haars über der Stirn, den Ausdruck einer lebendig begehrenden Sinnlichkeit und Ungeistigkeit zu geben, gerade wenn sie diese Eigenschaften nur wenig besitzen. Ihre Ueberzeugung, dass der Geist bei Weibern die Männer erschrecke, geht so weit, dass sie selbst die Schärfe des geistigen Sinnes gern verleugnen und den Ruf der K u r z s i c h t i g k e i t absichtlich auf sich laden; dadurch glauben sie wohl die Männer zutraulicher zu machen: es ist, als ob sich eine einladende sanfte Dämmerung um sie verbreite.
271. G r o s s u n d v e r g ä n g l i c h . — Was den Betrachtenden zu Thränen rührt, das ist der schwärmerische Glückes-Blick, mit dem eine schöne junge Frau ihren Gatten ansieht. Man empfindet alle Herbst-Wehmuth dabei, über die Grösse sowohl, als über die Vergänglichkeit des menschlichen Glückes.
272. O p f e r - S i n n . — Manche Frau hat den intelletto del sacrifizio und wird ihres Lebens nicht mehr froh, wenn der Gatte sie nicht opfern will: sie weiss dann mit ihrem Verstände nicht mehr wohin? und wird unversehens aus dem Opferthier der Opferpriester selber.
2. Der Wanderer und sein Schatten 270—275 2
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73-
D a s U n w e i b l i c h e . — „Dumm wie ein Mann" sagen die Frauen: „feige wie ein Weib" sagen die Männer. Die Dummheit ist am Weibe das U n w e i b l i c h e .
274-
Männliches und weibliches Temperament u n d d i e S t e r b l i c h k e i t . — Dass das männliche Geschlecht ein schlechteres Temperament hat, als das weibliche, ergiebt sich auch daraus, dass die männlichen Kinder der Sterblichkeit mehr ausgesetzt sind, als die weiblichen, offenbar weil sie leichter „aus der H a u t fahren": ihre Wildheit und Unverträglichkeit verschlimmert alle Uebel leicht bis in's Tödtliche.
275-
D i e Z e i t d e r C y k l o p e n b a u t e n . — Die Demokratisirung Europa's ist unaufhaltsam: wer sich dagegen stemmt, gebraudit doch eben die Mittel dazu, welche erst der demokratische Gedanke Jedermann in die Hand gab, und macht diese Mittel selber handlicher und wirksamer: und die grundsätzlichsten Gegner der Demokratie (ich meine die Umsturzgeister) scheinen nur desshalb da zu sein, um durch die Angst, welche sie erregen, die verschiedenen Parteien immer schneller auf der demokratischen Bahn vorwärts zu treiben. N u n kann es Einem angesichts Derer, welche jetzt bewusst und ehrlich für diese Zukunft arbeiten, in der That bange werden: es liegt etwas Oedes und Einförmiges in ihren Gesichtern, und der graue Staub scheint auch bis in ihre Gehirne hineingeweht zu sein. Trotzdem: es ist möglich, dass die Nachwelt über dieses unser Bangen einmal lacht und an die demokratische Arbeit einer Reihe von Geschlechtern etwa so denkt, wie wir an den Bau von Steindämmen und Schutzmauern — als an eine Thätigkeit, die noth-
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wendig viel Staub auf Kleider u n d Gesichter breitet u n d unvermeidlich wohl auch die Arbeiter ein Wenig blödsinnig macht; aber wer würde desswegen solches T h u n ungethan wünschen? Es scheint, dass die Demokratisirung Europa's ein Glied in der Kette jener ungeheuren p r o p h y l a k t i s c h e n Maassr e g e l n ist, welche der Gedanke der neuen Zeit sind und mit denen wir uns gegen das Mittelalter abheben. Jetzt erst ist das Zeitalter der Cyklopenbauten! Endliche Sicherheit der Fundamente, damit alle Z u k u n f t auf ihnen ohne Gefahr bauen kann! Unmöglichkeit fürderhin, dass die Fruchtfelder der Cultur wieder über Nacht von wilden und sinnlosen Bergwässern zerstört werden! Steindämme und Schutzmauern gegen Barbaren, gegen Seuchen, gegen l e i b l i c h e u n d g e i s t i g e Verknecht u n g ! U n d diess Alles zunächst wörtlich und gröblich, aber allmählich immer höher und geistiger verstanden, sodass alle hier angedeuteten Maassregeln die geistreiche Gesammtvorbereitung des höchsten Künstlers der Gartenkunst zu sein scheinen, der sich dann erst zu seiner eigentlichen Aufgabe wenden kann, wenn jene vollkommen ausgeführt ist! — Freilich: bei den weiten Zeitstrecken, welche hier zwischen Mittel und Zweck liegen, bei der grossen, übergrossen, Kraft und Geist von Jahrhunderten anspannenden Mühsal, die schon n o t h thut, u m nur jedes einzelne Mittel zu schaffen oder herbeizuschaffen, darf man es den Arbeitern an der Gegenwart nicht zu hart anrechnen, wenn sie laut decretiren, die Mauer und das Spalier s e i schon der Zweck und das letzte Ziel; da ja noch Niemand den Gärtner und die Fruchtpflanzen sieht, u m d e r e n t w i l l e n das Spalier da ist.
Das R e c h t des a l l g e m e i n e n S t i m m r e c h t e s . — Das Volk hat sich das allgemeine Stimmrecht nicht gegeben, es hat dasselbe, überall, wo es jetzt in Geltung ist, empfangen u n d
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vorläufig angenommen: jedenfalls hat es aber das Recht, es wieder zurückzugeben, wenn es seinen Hoffnungen nicht genugthut. Diess scheint jetzt allerorten der Fall zu sein: denn wenn bei irgend einer Gelegenheit, wo es gebraucht wird, kaum Zwei$ drittel, ja vielleicht nicht einmal die Majorität aller Stimmberechtigten an die Stimm-Urne kommt, so ist diess ein Votum g e g e n das ganze Stimmsystem überhaupt. — Man muss hier sogar noch viel strenger urtheilen. Ein Gesetz, welches bestimmt, dass die Majorität über das Wohl Aller die letzte Entscheidung io habe, kann nicht auf der selben Grundlage, welche durch dasselbe erst gegeben wird, aufgebaut werden: es bedarf nothwendig einer noch breiteren, und diess ist die E i n s t i m m i g k e i t A l l e r . Das allgemeine Stimmrecht darf nicht nur der Ausdruck eines Majoritäten-Willens sein: das ganze Land muss es wollen. 'S Desshalb genügt schon der Widerspruch einer sehr kleinen Minorität, dasselbe als unthunlich wieder bei Seite zu stellen: und die N i c h t b e t h e i l i g u n g an einer Abstimmung ist eben ein solcher Widerspruch, der das ganze Stimmsystem zum Falle bringt. Das „absolute Veto" des Einzelnen oder, um nicht in's Kleinliche zu verfallen, das Veto weniger Tausende hängt über diesem System, als die Consequenz der Gerechtigkeit: bei jedem Gebrauche, den man von ihm macht, muss es, laut der Art von Betheiligung, erst beweisen, dass es noch z u Recht besteht.
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D a s s c h l e c h t e S c h l i e s s e n . — Wie schlecht schliesst man, auf Gebieten, wo man nicht zu Hause ist, selbst wenn man als Mann der Wissenschaft noch so sehr an das gute Schliessen gewöhnt ist! Es ist beschämend! Und nun ist klar, dass im 3° grossen Welttreiben, in Sachen der Politik, bei allem Plötzlichen und Drängenden, wie es fast jeder Tag heraufführt, eben dieses s c h l e c h t e S c h l i e s s e n entscheidet: denn Niemand ist
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völlig in dem zu Hause, was über Nacht neu gewachsen ist; alles Politisiren, auch bei den grössten Staatsmännern, ist Improvisiren auf gut Glück.
278.
P r ä m i s s e n d e s M a s c h i n e n - Z e i t a l t e r s . — Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Conclusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat.
D e r H e m m s c h u h d e r C u l t u r . — Wenn wir hören: dort haben die Männer nicht Zeit zu den productiven Geschäften; Waffenübungen und Umzüge nehmen ihnen den Tag weg, und die übrige Bevölkerung muss sie ernähren und kleiden, ihre Tracht aber ist auffallend, oftmals b u n t und voll Narrheiten; dort sind nur wenige unterscheidende Eigenschaften anerkannt, die Einzelnen gleichen einander mehr als anderwärts, oder werden doch als Gleiche behandelt; dort verlangt und giebt man Gehorsam ohne Verständniss: man befiehlt, aber man hütet sich, zu überzeugen; dort sind die Strafen wenige, diese wenigen aber sind hart und gehen schnell zum Letzten, Fürchterlichsten; d o r t gilt der Verrath als das grösste Verbrechen, schon die Kritik der Uebelstände wird nur von den Muthigsten gewagt; dort ist ein Menschenleben wohlfeil, und der Ehrgeiz n i m m t häufig die Form an, dass er das Leben in Gefahr bringt; — wer diess Alles hört, wird sofort sagen: „es ist das Bild einer b a r b a r i s c h e n , in G e f a h r s c h w e b e n d e n Gesellschaft." Vielleicht dass der Eine hinzufügt: „es ist die Schilderung Sparta's"; ein Anderer wird aber nachdenklich werden und vermeinen, es sei u n s e r m o d e r n e s M i l i t ä r w e s e n beschrieben, wie es inmitten unsrer andersartigen C u l t u r und Societät dasteht, als
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ein lebendiger Anachronismus, als das Bild, wie gesagt, einer barbarischen, in Gefahr schwebenden Gesellschaft, als ein posthumes Werk der Vergangenheit, welches f ü r die Räder der Gegenwart n u r den W e r t h eines Hemmschuhes haben kann. — Mitunter J t h u t aber auch ein Hemmschuh der Cultur auf das Höchste n o t h : wenn es nämlich zu schnell bergab oder, wie in diesem Falle vielleicht, b e r g a u f geht.
280. M e h r A c h t u n g v o r d e n W i s s e n d e n ! — Bei der Concurrenz der Arbeit und der Verkäufer ist das P u b l i c u m zum Richter über das H a n d w e r k gemacht: das hat aber keine strenge Sachkenntniss und urtheilt nach dem S c h e i n e der Güte. Folglich wird die Kunst des Scheines (und vielleicht der Geschmack) unter der Herrschaft der Concurrenz steigen, dai j gegen die Qualität aller Erzeugnisse sich verschlechtern müssen. Folglich wird, wofern nur die Vernunft nicht im Werthe fällt, irgendwann jener Concurrenz ein Ende gemacht werden und ein neues Princip den Sieg über sie davontragen. N u r der H a n d werksmeister sollte über das H a n d w e r k urtheilen, und das Publica cum abhängig sein vom Glauben an die Person des Urtheilenden u n d an seine Ehrlichkeit. Demnach keine anonyme Arbeit! Mindestens müsste ein Sachkenner als Bürge derselben dasein und s e i n e n N a m e n als Pfand einsetzen, wenn der N a m e des U r hebers fehlt oder klanglos ist. Die W o h l f e i l h e i t eines Werkes ist f ü r den Laien eine andere A r t Schein und Trug, da erst die D a u e r h a f t i g k e i t entscheidet, dass und inwiefern eine Sache wohlfeil ist; jene aber ist schwer und von dem Laien gar nicht zu beurtheilen. — Also: was Effect auf das Auge macht und wenig kostet, das b e k o m m t jetzt das Uebergewicht, — 3° und das wird natürlich die Maschinenarbeit sein. Hinwiederum begünstigt die Maschine, das heisst die Ursache der grössten Schnelligkeit und Leichtigkeit der Herstellung, auch ihrerseits 10
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Menschliches, Allzumenschliches I I
die v e r k ä u f l i c h s t e Sorte: sonst ist kein erheblicher Gewinn mit ihr zu machen; sie würde zu wenig gebraucht und zu oft stille stehen. Was aber am verkäuflichsten ist, darüber entscheidet das Publicum, wie gesagt: es muss das Täuschendste sein, das heisst Das, was einmal gut s c h e i n t und sodann auch wohlfeil s c h e i n t . Also auch auf dem Gebiete der Arbeit muss unser Losungswort sein: „Mehr Achtung vor den Wissenden!"
281.
D i e G e f a h r d e r K ö n i g e . — Die Demokratie hat es in der H a n d , ohne alle Gewaltmittel, nur durch einen stätig geübten gesetzmässigen Druck, das König- und Kaiserthum h o h l zu machen: bis eine Null übrig bleibt, vielleicht, wenn man w i l l , mit der Bedeutung jeder Null, dass sie, an sich Nichts, doch an die rechte Seite gestellt, die W i r k u n g einer Zahl verzehnfacht. Das Kaiser- und Königthum bliebe ein prachtvoller Zierrath an der schlichten und zweckmässigen Gewandung der Demokratie, das schöne Ueberflüssige, welches sie sich gönnt, der Rest alles historisch ehrwürdigen Urväterzierrathes, ja das Symbol der Historie selber, — und in dieser Einzigkeit etwas höchst Wirksames, wenn es, wie gesagt, nicht f ü r sich allein steht, sondern richtig g e s t e l l t wird. — U m der Gefahr jener Aushöhlung vorzubeugen, halten die Könige jetzt mit den Zähnen an ihrer Würde als K r i e g s f ü r s t e n fest: dazu brauchen sie Kriege, das heisst Ausnahmezustände, in denen jener langsame gesetzmässige Druck der demokratischen Gewalten pausirt.
282.
D e r L e h r e r e i n n o t h w e n d i g e s U e b e l . — So wenig wie möglich Personen zwischen den productiven Geistern und den hungernden und empfangenden Geistern! Denn die M i t t l e r w e s e n fälschen fast unwillkürlich die N a h r u n g , die
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sie vermitteln: sodann wollen sie zur Belohnung f ü r ihr Vermitteln zu viel f ü r s i c h , was also den originalen, productiven Geistern entzogen wird: nämlich Interesse, Bewunderung, Zeit, Geld und Anderes. — Also: man sehe immerhin den L e h 5 r e r als nothwendiges Uebel an, ganz wie den Handelsmann: als ein Uebel, das man so k l e i n wie möglich machen muss! — Wenn vielleicht die Noth der deutschen Zustände jetzt ihren Hauptgrund darin hat, dass viel zu Viele vom Handel leben und gut leben wollen (also dem Erzeugenden die Preise möglichst zu io verringern und dem Verzehrenden die Preise möglichst zu erhöhen suchen, um am möglichst grossen Schaden Beider den Vortheil zu haben): so kann man gewiss einen Hauptgrund der geistigen Nothstände in der Ueberfülle von Lehrern sehen: ihretwegen wird so wenig und so schlecht gelernt.
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283.
D i e A c h t u n g s s t e u e r . — Den uns Bekannten, v o n uns Geehrten, sei es ein Arzt, Künstler, Handwerker, der Etwas f ü r uns thut und arbeitet, bezahlen wir gern so hoch als wir können, oft sogar über unser Vermögen: dagegen bezahlt man 20 den Unbekannten so niedrig es nur angehen will; hier ist ein K a m p f , in welchem Jeder um den Fussbreit Landes kämpft und mit sich kämpfen macht. Bei der Arbeit des Bekannten f ü r u n s ist etwas U n b e z a h l b a r e s , die in seine Arbeit u n s e r t w e g e n hineingelegte Empfindung und Erfindung: wir 25 glauben das Gefühl hiervon nicht anders als durch eine A r t A u f o p f e r u n g unsererseits ausdrücken zu können. — Die stärkste Steuer ist die A c h t u n g s s t e u e r. Je mehr die Concurrenz herrscht und man von Unbekannten kauft, f ü r Unbekannte arbeitet, desto niedriger wird diese Steuer, während sie 3° gerade der Maassstab f ü r die H ö h e des menschlichen SeelenV e r k e h r e s ist.
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284.
D a s M i t t e l z u m w i r k l i c h e n F r i e d e n . — Keine Regierung giebt jetzt zu, dass sie das Heer unterhalte, um gelegentliche Eroberungsgelüste zu befriedigen; sondern der Vertheidigung soll es dienen. Jene Moral, welche die N o t h w e h r billigt, wird als ihre Fürsprecherin angerufen. Das heisst aber: sich die Moralität und dem Nachbar die Immoralität vorbehalten, weil er angriffs- und eroberungslustig gedacht werden muss, wenn unser Staat nothwendig an die Mittel der N o t h w e h r denken soll; überdiess erklärt man ihn, der genau ebenso wie unser Staat die Angriffslust leugnet und auch seinerseits das Heer vorgeblich nur aus Nothwehrgründen unterhält, durch unsere Erklärung, wesshalb wir ein Heer brauchen, f ü r einen Heuchler und listigen Verbrecher, welcher gar zu gern ein harmloses und ungeschicktes O p f e r ohne allen Kampf ü b e r f a l l e n möchte. So stehen nun alle Staaten jetzt gegen einander: sie setzen die schlechte Gesinnung des Nachbars und die gute Gesinnung bei sich voraus. Diese Voraussetzung ist aber eine I n h u m a n i t ä t , so schlimm und schlimmer als der Krieg: ja, im Grunde ist sie schon die A u f f o r d e r u n g und Ursache zu Kriegen, weil sie, wie gesagt, dem Nachbar die Immoralität unterschiebt und dadurch die feindselige Gesinnung und That zu provociren scheint. Der Lehre von dem Heer als einem Mittel der N o t h w e h r muss man ebenso gründlich abschwören, als den Eroberungsgelüsten. U n d es k o m m t vielleicht ein grosser Tag, an welchem ein V o l k , durch Kriege und Siege, durch die höchste Ausbildung der militärischen Ordnung und Intelligenz ausgezeichnet, und gewöhnt, diesen Dingen die schwersten O p f e r zu bringen, freiwillig ausruft: „ w i r z e r b r e c h e n d a s S c h w e r t " — und sein gesammtes Heerwesen bis in seine letzten Fundamente zertrümmert. S i c h w e h r l o s m a c h e n , w ä h r e n d m a n d e r W e h r h a f t e s t e w a r , aus einer H ö h e der Empfindung heraus, — das ist das Mittel zum w i r k l i c h e n Frieden, welcher immer auf einem Frieden der Gesinnung ruhen muss: wäh-
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rend der sogenannte bewaffnete Friede, wie er jetzt in allen Ländern einhergeht, der Unfriede der Gesinnung ist, der sich und dem Nachbar nicht traut und halb aus Hass, halb aus Furcht die Waffen nicht ablegt. Lieber zu G r u n d e gehen, als hassen und fürchten, und z w e i m a l l i e b e r z u G r u n d e g e h e n , a l s s i c h h a s s e n u n d f ü r c h t e n m a c h e n , — diess muss einmal auch die oberste .Maxime jeder einzelnen staatlichen Gesellschaft werden! — Unsern liberalen Volksvertretern fehlt es, wie bekannt, an Zeit z u m Nachdenken über die N a t u r des Menschen: sonst würden sie wissen, dass sie umsonst arbeiten, wenn sie für eine „allmähliche H e r a b m i n d e r u n g der Militärlast" arbeiten. Vielmehr: erst wenn diese A r t N o t h am grössten ist, wird auch die A r t G o t t am nächsten sein, die hier allein helfen kann. Der Kriegsglorien-Baum kann nur mit Einem Male, durch einen Blitzschlag zerstört werden: der Blitz aber k o m m t , ihr wisst es ja, aus der Wolke — und von der Höhe. —
285.
Ob der Besitz mit der G e r e c h t i g k e i t ausgeg l i c h e n w e r d e n k a n n . — Wird die Ungerechtigkeit des Besitzes stark empfunden — der Zeiger der grossen U h r ist einmal wieder an dieser Stelle —, so nennt man zwei Mittel, derselben abzuhelfen: einmal eine gleiche Vertheilung, und sodann die A u f h e b u n g des Eigenthums und den Zurückfall des Besitzes an die Gemeinschaft. Letzteres Mittel ist namentlich nach dem H e r z e n unserer Socialisten, welche jenem alterthümlichen J u d e n darüber gram sind, dass er sagte: du sollst nicht stehlen. Nach ihnen soll das siebente G e b o t vielmehr lauten: du sollst nicht besitzen. — Die Versuche nach dem ersten Recepte sind im Alterthum oft gemacht worden, zwar immer nur in kleinem Maassstabe, aber doch mit einem Misserfolg, der auch uns noch Lehrer sein kann. „Gleiche Ackerloose" ist leicht gesagt; aber wieviel Bitterkeit erzeugt sich durch die dabei nöthig
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werdende Trennung und Scheidung, durch den Verlust von altverehrtem Besitz, wieviel Pietät wird verletzt und geopfert! Man gräbt die Moralität um, wenn man die Gränzsteine u m gräbt. U n d wieder, wieviel neue Bitterkeit unter den neuen Besitzern, wiewiel Eifersucht und Scheelsehen, da es zwei wirklich gleiche Ackerloose nie gegeben hat, und wenn es solche gäbe, der menschliche Neid auf den Nachbar nicht an deren Gleichheit glauben würde. U n d wie lange dauerte diese schon in der Wurzel vergiftete und ungesunde Gleichheit! In wenigen Geschlechtern war durch Erbschaft hier das eine Loos auf fünf Köpfe, dort waren fünf Loose auf Einen Kopf gekommen: und im Falle man durch harte Erbschaftsgesetze solchen Missständen vorbeugte, gab es zwar noch die gleichen Ackerloose, aber dazwischen D ü r f tige und Unzufriedene, welche Nichts besassen, ausser der Missgunst auf die Anverwandten und Nachbarn und dem Verlangen nach dem U m s t u r z aller Dinge. — Will man aber nach dem z w e i t e n Recepte das Eigenthum der G e m e i n d e zurückgeben und den Einzelnen nur zum zeitweiligen Pächter machen, so zerstört man das Ackerland. Denn der Mensch ist gegen Alles, was er nur vorübergehend besitzt, ohne Vorsorge und Aufopferung, er verfährt damit ausbeuterisch, als Räuber oder als lüderlicher Verschwender. Wenn Plato meint, die Selbstsucht werde mit der Aufhebung des Besitzes aufgehoben, so ist ihm zu antworten, dass, nach Abzug der Selbstsucht, vom Mensehen jedenfalls nicht die vier Cardinaltugenden übrig bleiben werden, — wie man sagen muss: die ärgste Pest könnte der Menschheit nicht so schaden, als wenn eines Tages die Eitelkeit aus ihr entschwände. O h n e Eitelkeit und Selbstsucht — was sind denn die menschlichen Tugenden? Womit nicht von ferne gesagt sein soll, dass es nur N a m e n und Masken von jenen seien. Plato's utopistische Grundmelodie, die jetzt noch von den Socialisten fortgesungen wird, beruht auf einer mangelhaften Kenntniss des Menschen: ihm fehlte die Historie der moralischen Empfindungen, die Einsicht in den Ursprung der guten nütz-
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liehen Eigenschaften der menschlichen Seele. Er glaubte, wie das ganze Alterthum, an gut und böse wie an weiss und schwarz: also an eine radicale Verschiedenheit der guten und der bösen Menschen, der guten und der schlechten Eigenschaften. — Damit der Besitz fürderhin mehr Vertrauen einflösse und moralischer werde, halte man alle Arbeitswege zum k l e i n e n Vermögen offen, aber verhindere die mühelose, die plötzliche Bereicherung; man ziehe alle Zweige des Transports und H a n dels, welche der A n h ä u f u n g g r o s s e r Vermögen günstig sind, also namentlich den Geldhandel, aus den H ä n d e n der Privaten u n d Privatgesellschaften — und betrachte ebenso die Zuviel- wie die Nichts-Besitzer als gemeingefährliche Wesen.
286.
D e r W e r t h d e r A r b e i t . — Wollte man den Werth der Arbeit darnach bestimmen, wieviel Zeit, Fleiss, guter oder schlechter Wille, Zwang, Erfindsamkeit oder Faulheit, Ehrlichkeit oder Schein darauf verwendet ist, so kann der W e r t h niemals g e r e c h t sein; denn die ganze Person müsste auf die Wagschale gesetzt werden können, was unmöglich ist. Hier heisst es „Richtet nicht!" Aber der Ruf nach Gerechtigkeit ist es ja, den wir jetzt von Denen hören, welche mit der Abschätzung der Arbeit unzufrieden sind. D e n k t man weiter, so findet man jede Persönlichkeit unverantwortlich f ü r ihr Product, die Arbeit: ein V e r d i e n s t ist also niemals daraus abzuleiten, jede Arbeit ist so gut oder schlecht, wie sie bei der und der nothwendigen Constellation von Kräften und Schwächen, Kenntnissen und Begehrungen sein muss. Es steht nicht im Belieben des Arbeiters, o b er arbeitet; auch nicht, w i e er arbeitet. N u r die Gesichtspunete des N u t z e n s , engere und weitere, haben Werthschätzung der Arbeit geschaffen. Das, was wir jetzt Gerechtigkeit nennen, ist auf diesem Felde sehr wohl am Platz als eine höchst verfeinerte Nützlichkeit, welche nicht auf den M o m e n t nur
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Rücksicht n i m m t und die Gelegenheit ausbeutet, sondern auf Dauerhaftigkeit aller Zustände sinnt, u n d desshalb auch das Wohl des Arbeiters, seine leibliche und seelische Zufriedenheit in's Auge fasst, — d a m i t er u n d seine Nachkommen gut auch f ü r unsere Nachkommen arbeiten und noch auf längere Zeiträume, als das menschliche Einzelleben ist, hinaus zuverlässig werden. Die A u s b e u t u n g des Arbeiters war, wie man jetzt begreift, eine D u m m h e i t , ein Raub-Bau auf Kosten der Zukunft, eine Gefährdung der Gesellschaft. Jetzt hat man fast schon den Krieg: und jedenfalls werden die Kosten, u m den Frieden zu erhalten, u m Verträge zu schliessen u n d Vertrauen zu erlangen, n u n m e h r sehr gross sein, weil die Thorheit der Ausbeutenden sehr gross und langdauernd war.
287.
V o m S t u d i u m des G e s e l l s c h a f t s - K ö r p e r s . — Das Uebelste f ü r Den, welcher jetzt in Europa, namentlich in Deutschland, O e k o n o m i k und Politik studieren will, liegt darin, dass die thatsächlichen Zustände, anstatt die R e g e 1 n zu exemplificiren, die A u s n a h m e oder die U e b e r g a n g s und A u s g a n g s s t a d i e n exemplificiren. Man muss desshalb über das thatsächlich Bestehende erst hinwegsehen lernen und zum Beispiel den Blick fernhin auf N o r d a m e r i k a richten, — wo man die anfänglichen und normalen Bewegungen des gesellschaftlichen Körpers noch mit Augen s e h e n und aufsuchen kann, wenn man nur w i l l , — während in Deutschland dazu schwierige historische Studien oder, wie gesagt, ein Fernglas nöthig sind. 288.
I n w i e f e r n d i e M a s c h i n e d e m ü t h i g t . — Die Maschine ist unpersönlich, sie entzieht dem Stück Arbeit seinen Stolz, sein individuell G u t e s und F e h l e r h a f t e s , was an
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jeder Nicht-Maschinenarbeit klebt, — also sein Bisschen Humanität. Früher war alles Kaufen von Handwerkern ein A u s z e i c h n e n v o n P e r s o n e n , mit deren Abzeichen man sich umgab: der Hausrath und die Kleidung wurde dergestalt zur Symbolik gegenseitiger Werthschätzung und persönlicher Zusammengehörigkeit, während wir jetzt nur inmitten anonymen und unpersönlichen Sclaventhums zu leben scheinen. — Man muss die Erleichterung der Arbeit nicht zu theuer kaufen.
289. H u n d e r t j ä h r i g e Q u a r a n t ä n e . — Die demokratischen Einrichtungen sind Quarantäne-Anstalten gegen die alte Pest tyrannenhafter Gelüste: als solche sehr nützlich und sehr langweilig. 290. D e r g e f ä h r l i c h s t e A n h ä n g e r . — Der gefährlichste Anhänger ist Der, dessen Abfall die ganze Partei vernichten würde: also der beste Anhänger.
291. D a s S c h i c k s a l u n d d e r M a g e n . — Ein Butterbrod mehr oder weniger im Leibe des Jokey entscheidet gelegentlich über Wettrennen und Wetten, also über Glück und Unglück von Tausenden. — So lange das Schicksal der Völker noch von den Diplomaten abhängt, werden die Mägen der Diplomaten immer der Gegenstand patriotischer Beklemmung sein. Quousque tandem — 292. S i e g d e r D e m o k r a t i e . — Es versuchen jetzt alle poli-
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tischen Mächte, die Angst vor dem Socialismus auszubeuten, um sich zu stärken. Aber auf die Dauer hat doch allein die Demokratie den Vortheil davon: denn a l l e Parteien sind jetzt genöthigt, dem „Volke" zu schmeicheln u n d ihm Erleichterungen u n d Freiheiten aller A r t zu geben, wodurch es endlich omnipotent wird. Das Volk ist v o m Socialismus, als einer Lehre von der Veränderung des Eigenthumerwerbes, am entferntesten: u n d wenn es erst einmal die Steuerschraube in den H ä n den hat, durch die grossen Majoritäten seiner Parlamente, dann wird es mit der Progressivsteuer dem Capitalisten-, Kaufmannsund Börsenfürstenthum an den Leib gehen u n d in der That langsam einen Mittelstand schaffen, der den Socialismus wie eine überstandene Krankheit v e r g e s s e n darf. — Das praktische Ergebniss dieser um sich greifenden Demokratisirung wird zunächst ein europäischer Völkerbund sein, in welchem jedes einzelne Volk, nach geographischen Zweckmässigkeiten abgegränzt, die Stellung eines Cantons und dessen Sonderrechte innehat: mit den historischen Erinnerungen der bisherigen Völker wird dabei wenig noch gerechnet werden, weil der pietätvolle Sinn f ü r dieselben unter der neuerungssüchtigen und versuchslüsternen Herrschaft des demokratischen Princips allmählich von G r u n d aus entwurzelt wird. Die Correcturen der Gränzen, welche dabei sich nöthig zeigen, werden so ausgeführt, dass sie dem N u t z e n der grossen Cantone und zugleich dem des Gesammtverbandes dienen, nicht aber dem Gedächtnisse irgendwelcher vergrauten Vergangenheit; die Gesichtspuncte f ü r diese Correcturen zu finden wird die Aufgabe der zukünftigen D i p l o m a t e n sein, die zugleich Culturforscher, Landwirthe, Verkehrskenner sein müssen und keine Heere, sondern G r ü n d e und Nützlichkeiten hinter sich haben. D a n n erst ist die ä u s s e r e Politik mit der i n n e r e n unzertrennbar verk n ü p f t : während jetzt immer noch die letztere ihrer stolzen Gebieterin nachläuft und im erbärmlichen Körbchen die Stoppelähren sammelt, die bei der Ernte der ersteren übrig bleiben.
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293. Z i e l u n d M i t t e l d e r D e m o k r a t i e . — Die D e m o kratie will möglichst Vielen U n a b h ä n g i g k e i t schaffen und verbürgen, Unabhängigkeit der Meinungen, der Lebensart und des Erwerbs. D a z u hat sie nöthig, sowohl den Besitzlosen als den eigentlich Reichen das politische Stimmrecht abzusprechen: als den zwei unerlaubten Menschenclassen, an deren Beseitigung sie stätig arbeiten muss, weil Diese ihre A u f g a b e immer wieder in Frage stellen. Ebenso muss sie Alles verhindern, was auf die Organisation von Parteien abzuzielen scheint. Denn die drei grossen Feinde der Unabhängigkeit in jenem dreifachen Sinne sind die Habenichtse, die Reichen und die Parteien. — Ich rede v o n der D e m o k r a t i e als von etwas K o m m e n d e m . Das, was schon jetzt so heisst, unterscheidet sich von den älteren Regierungsf o r m e n allein dadurch, dass es mit n e u e n P f e r d e n f ä h r t : die Strassen sind noch die alten, und die R ä d e r sind auch noch die alten. — Ist die Gefahr bei d i e s e n Fuhrwerken des Völkerwohles wirklich geringer geworden?
294. D i e B e s o n n e n h e i t u n d d e r E r f o l g . — Jene grosse Eigenschaft der Besonnenheit, welche im G r u n d e die T u gend der Tugenden, ihre U r g r o s s m u t t e r und Königin ist, hat im gewöhnlichen Leben keineswegs immer den Erfolg auf ihrer Seite: und der Freier würde sich getäuscht finden, der nur des Erfolges wegen sich u m jene Tugend beworben hätte. Sie gilt nämlich unter den p r a k t i s c h e n Leuten f ü r verdächtig und wird mit der Hinterhältigkeit und heuchlerischen Schlauheit verwechselt: wem dagegen ersichtlich die Besonnenheit abgeht, — der Mann, der rasch zugreift und auch einmal danebengreift, hat das Vorurtheil für sich, ein biederer, zuverlässiger Geselle zu sein. Die praktischen Leute mögen also den Besonnenen nicht, er ist für sie, wie sie meinen, eine Gefahr. Andererseits n i m m t
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man den Besonnenen leicht als ängstlich, befangen, pedantisch, — die unpraktischen und geniessenden Leute gerade finden ihn unbequem, w e i l er nicht leichthin lebt wie sie, ohne an das Handeln und die Pflichten zu denken: er erscheint unter ihnen wie ihr leibhaftiges Gewissen, und der helle Tag wird bei seinem Anblick ihrem Auge bleich. Wenn ihm also der Erfolg und die Beliebtheit fehlen, so mag er sich immer zum Tröste sagen: „so hoch sind eben die S t e u e r n , welche du für den Besitz des köstlichsten Gutes unter Menschen zahlen musst, — er ist es werth!"
E t i n A r c a d i a e g o . — Ich sah hinunter, über HügelWellen, gegen einen milchgrünen See hin, durch Tannen und altersernste Fichten hindurch: Felsbrocken aller Art um mich, der Boden bunt von Blumen und Gräsern. Eine Heerde bewegte, streckte und dehnte sich vor mir; einzelne Kühe und Gruppen ferner, im schärfsten Abendlichte, neben dem Nadelgehölz; andere näher, dunkler; Alles in Ruhe und Abendsättigung. Die Uhr zeigte gegen halb sechs. Der Stier der Heerde war in den weissen schäumenden Bach getreten und gieng langsam widerstrebend und nachgebend seinem stürzenden Laufe nach: so hatte er wohl seine Art von grimmigem Behagen. Zwei dunkelbraune Geschöpfe, bergamasker Herkunft, waren die Hirten: das Mädchen fast als Knabe gekleidet. Links Felsenhänge und Schneefelder über breiten Waldgürteln, rechts zwei ungeheure beeiste Zacken, hoch über mir, im Schleier des Sonnenduftes schwimmend, — Alles gross, still und hell. Die gesammte Schönheit wirkte zum Schaudern und zur stummen Anbetung des Augenblicks ihrer Offenbarung; unwillkürlich, wie als ob es nichts Natürlicheres gäbe, stellte man sich in diese reine scharfe Lichtwelt (die gar nichts Sehnendes, Erwartendes, Vor- und Zurückblickendes hatte) griechische Heroen hinein; man musste
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wie Poussin und sein Schüler empfinden: heroisch zugleich und idyllisch. — U n d so haben einzelne Menschen auch g e l e b t , so sich dauernd in der Welt und die Welt in sich g e f ü h l t , und unter ihnen einer der grössten Menschen, der Erfinder einer heroisch-idyllischen A r t zu philosophiren: E p i k u r .
296. R e c h n e n u n d m e s s e n . — Viele Dinge sehen, mit einander erwägen, gegen einander abrechnen und aus ihnen einen schnellen Schluss, eine ziemlich sichere S u m m e bilden, — das macht den grossen Politiker, Feldherrn, K a u f m a n n : — also die Geschwindigkeit in einer A r t von Kopfrechnen. E i n e Sache sehen, in ihr das einzige M o t i v zum Handeln, die Richterin alles übrigen Handelns finden, macht den Helden, auch den Fanatiker, — also eine Fertigkeit im Messen mit einem Maassstabe.
297N i c h t u n z e i t i g s e h e n w o l l e n . — So lange man Etwas erlebt, muss man dem Erlebniss sich hingeben und die A u g e n schliessen, also nicht d a r i n schon den Beobachter machen. Das nämlich würde die gute Verdauung des Erlebnisses stören: anstatt einer Weisheit trüge m a n eine Indigestion davon.
298. A u s d e r P r a x i s d e s W e i s e n . — U m weise zu werden, muss m a n gewisse Erlebnisse erleben w o l l e n , also ihnen in den Rachen laufen. Sehr gefährlich ist diess freilich; mancher „Weise" wurde dabei aufgefressen.
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299. D i e E r m ü d u n g d e s G e i s t e s . — Unsere gelegentliche Gleichgültigkeit und Kälte gegen Menschen, welche uns als Härte und Charaktermangel ausgelegt wird, ist häufig nur eine 5 Ermüdung des Geistes: bei dieser sind uns die Anderen, wie wir uns selber, gleichgültig oder lästig.
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„ E i n s i s t N o t h . " — Wenn man klug ist, ist Einem allein darum zu thun, dass man Freude im Herzen habe. — Ach, setzte Jemand hinzu, wenn man klug ist, thut man am Besten, weise zu sein. 301.
E i n Z e u g n i s s d e r L i e b e . — Jemand sagte: „Ueber zwei Personen habe ich nie gründlich nachgedacht: es ist das 1$ Zeugniss meiner Liebe zu ihnen."
302. Wie m a n s c h l e c h t e A r g u m e n t e zu v e r b e s s e r n s u c h t . — Mancher wirft seinen schlechten Argumenten noch ein Stück seiner Persönlichkeit hinten nach, wie als ob jene 20 dadurch richtiger ihre Bahn laufen würden und sich in gerade und gute Argumente verwandeln Hessen; ganz wie die Kegelschieber auch nach dem Wurfe noch mit Gebärden und Schwenkungen der Kugel die Richtung zu geben suchen.
303. 25
D i e R e c h t l i c h k e i t . — Es ist noch wenig, wenn man in Bezug auf Rechte und Eigenthum ein Muster-Mensch ist;
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wenn man zum Beispiel als Knabe nie Obst in fremden Gärten nimmt, als Mann nicht über ungemähte Wiesen läuft, — um kleine Dinge zu nennen, welche, wie bekannt, den Beweis für diese Art von Musterhaftigkeit besser geben, als grosse. Es ist noch wenig: man ist dann immer erst eine „juristische Person", mit jenem Grad von Moralität, deren sogar eine „Gesellschaft", ein Menschen-Klumpen fähig ist.
304. M e n s c h ! — Was ist die Eitelkeit des eitelsten Menschen gegen die Eitelkeit, welche der Bescheidenste besitzt, in Hinsicht darauf, dass er sich in der Natur und Welt als „Mensch" fühlt!
305. N ö t h i g s t e G y m n a s t i k . — Durch den Mangel an kleiner Selbstbeherrschung bröckelt die Fähigkeit zur grossen an. Jeder Tag ist schlecht benutzt und eine Gefahr für den nächsten, an dem man nicht wenigstens einmal sich Etwas im Kleinen versagt hat: diese Gymnastik ist unentbehrlich, wenn man sich die Freude, sein eigener Herr zu sein, erhalten will.
306. S i c h s e l b e r v e r l i e r e n . — Wenn man erst sich selber gefunden hat, muss man verstehen, sich von Zeit zu Zeit zu v e r l i e r e n — und dann wieder zu finden: vorausgesetzt, dass man ein Denker ist. Diesem ist es nämlich nachtheilig, immerdar an Eine Person gebunden zu sein.
307. Wann
Abschied
nehmen
noth
thut.
—
Von
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dem, was du erkennen und messen willst, musst du Abschied nehmen, wenigstens auf eine Zeit. Erst wenn du die Stadt verlassen hast, siehst du, wie hoch sich ihre Thürme über die Häuser erheben.
5
308.
A m M i t t a g . — Wem ein thätiger und stürmereicher M o r gen des Lebens beschieden war, dessen Seele überfällt um den Mittag des Lebens eine seltsame Ruhesucht, die Monden und Jahre lang dauern kann. Es wird still um ihn, die Stimmen klin10 gen fern und ferner; die Sonne scheint steil auf ihn herab. Auf einer verborgenen Waldwiese sieht er den grossen Pan schlafend; alle Dinge der N a t u r sind mit ihm eingeschlafen, einen Ausdruck von Ewigkeit im Gesichte — so dünkt es ihm. E r will Nichts, er sorgt sich um Nichts, sein Herz steht still, nur sein i j Auge lebt, — es ist ein T o d mit wachen Augen. Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und soweit er sieht, ist Alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begraben. E r fühlt sich glücklich dabei, aber es ist ein schweres, schweres Glück. — Da endlich erhebt sich der Wind in den Bäumen, Mittag ist vor20 bei, das L e b e n reisst ihn wieder an sich, das Leben mit blinden Augen, hinter dem sein Gefolge herstürmt: Wunsch, Trug, Vergessen, Geniessen, Vernichten, Vergänglichkeit. U n d so k o m m t der Abend herauf, stürmereicher und thatenvoller als selbst der Morgen war. — Den eigentlich thätigen Menschen er»5 scheinen die länger währenden Zustände des Erkennens fast unheimlich und krankhaft, aber nicht unangenehm.
309. S i c h v o r s e i n e m M a l e r h ü t e n . — Ein grosser Maler, der in einem Portrait den vollsten Ausdruck und Augen3° blick, dessen ein Mensch fähig ist, enthüllt und niedergelegt hat,
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wird von diesem Menschen, wenn er ihn später im wirklichen Leben wiedersieht, fast immer nur eine Carricatur zu sehen glauben.
310. S
D i e z w e i G r u n d s ä t z e des n e u e n L e b e n s . — E r s t e r G r u n d s a t z : man soll das Leben auf das Sicherste, Beweisbarste hin einrichten: nicht wie bisher auf das Entfernteste, Unbestimmteste, Horizont-Wolkenhafteste hin. Z w e i t e r G r u n d s a t z : man soll sich die R e i h e n f o l g e des 10 Nächsten und Nahen, des Sicheren und weniger Sicheren feststellen, bevor man sein Leben einrichtet und in eine endgültige Richtung bringt.
311. G e f ä h r l i c h e R e i z b a r k e i t . — Begabte Menschen, 1 5 die aber träge sind, werden immer etwas gereizt erscheinen, wenn einer ihrer Freunde mit einer tüchtigen Arbeit fertig geworden ist. Ihre Eifersucht ist rege, sie schämen sich ihrer Faulheit — oder vielmehr, sie befürchten, der Thätige verachte sie gegenwärtig noch m e h r , als sonst. In dieser Stimmung kriti20 siren sie das neue Werk — und ihre Kritik wird zur Rache, zum höchsten Befremden des Urhebers.
312. Z e r s t ö r e n d e r I l l u s i o n e n . — Die Illusionen sind gewiss kostspielige Vergnügungen: aber das Zerstören der Illu25 sionen ist noch kostspieliger — als Vergnügen betrachtet, was es unleugbar f ü r manchen Menschen ist.
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Menschliches, Allzumensdillches I I
313D a s E i n t ö n i g e d e s W e i s e n . — Die K ü h e haben mitunter den Ausdruck der Verwunderung, die auf dem Wege zur F r a g e stehen bleibt. Dagegen liegt im Auge der höheren Intelligenz das nil admirari ausgebreitet wie die Eintönigkeit des wolkenlosen H i m m e l s .
3 T 4N i c h t z u l a n g e k r a n k s e i n . — M a n hüte sich, zu lange krank zu sein: denn bald werden die Zuschauer durch die übliche Verpflichtung, Mitleiden zu bezeigen, ungeduldig, weil es ihnen zu viel Mühe macht, diesen Zustand lange bei sich aufrecht zu erhalten — und dann gehen sie unmittelbar zur Verdächtigung eures Charakters über, mit dem Schlüsse: „ihr v e r d i e n t es, k r a n k zu sein, und wir brauchen uns nicht mehr mit Mitleiden anzustrengen."
3i5W i n k f ü r E n t h u s i a s t e n . — Wer gern hingerissen werden will und sich leicht nach O b e n tragen lassen möchte, soll zusehen, dass er nicht zu s c h w e r werde, das heisst zum Beispiel, dass er nicht viel lerne und namentlich von der Wissenschaft sich nicht e r f ü l l e n lasse. Diese macht schwerfällig! — nehmt euch in Acht, ihr Enthusiasten!
316. S i c h z u ü b e r r a s c h e n w i s s e n . — Wer sich selber sehen will, so wie er ist, muss es verstehen, sich selber zu ü b e r r a s c h e n , mit der Fackel in der H a n d . Denn es steht mit dem Geistigen so wie es mit dem Körperlichen steht: wer gewohnt
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ist, sich im Spiegel zu schauen, vergisst immer seine Hässlichkeit: erst durch den Maler b e k o m m t er den Eindruck derselben wieder. Aber er gewöhnt sich auch an das Gemälde und vergisst seine Hässlichkeit z u m zweiten Male. — Diess nach dem allgemeinen Gesetze, dass der Mensch das Unveränderlich-Hässliche n i c h t e r t r ä g t : es sei denn auf einen Augenblick; er vergisst es oder leugnet es in allen Fällen. — Die Moralisten müssen auf jenen Augenblick rechnen, u m ihre Wahrheiten vorbringen zu dürfen. 3i7M e i n u n g e n u n d F i s c h e . — Man ist Besitzer seiner Meinungen, wie man Besitzer von Fischen ist, — insofern man nämlich Besitzer eines Fischteiches ist. Man muss fischen gehen und Glück haben, — dann hat man s e i n e Fische, s e i n e Meinungen. Ich rede hier v o n lebendigen Meinungen, von lebendigen Fischen. A n d e r e sind zufrieden, wenn sie ein Fossilien-Cabinet besitzen — und, in ihrem K o p f e , „ U e b e r z e u g u n g e n . " —
318.
Anzeichen von Freiheit und Unfreiheit. — Seine nothwendigen Bedürfnisse so viel wie möglich selber befriedigen, wenn auch unvollkommen, das ist die Richtung auf F r e i h e i t v o n G e i s t u n d P e r s o n . Viele, auch überflüssige Bedürfnisse sich befriedigen lassen, und so v o l l k o m m e n als möglich, — erzieht zur U n f r e i h e i t . D e r Sophist Hippias, der Alles, was er trug, innen und aussen, selbst erworben, selber gemacht hatte, entspricht eben damit der Richtung auf höchste Freiheit des Geistes und der Person. Nicht darauf k o m m t es an, dass Alles gleich gut und v o l l k o m m e n gearbeitet ist: der Stolz flickt schon die schadhaften Stellen aus.
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Menschliches, Allzumensdilidies I I
319S i c h s e l b e r g l a u b e n . — In unserer Zeit misstraut man Jedem, der an sich selber glaubt; ehemals genügte es, um an sich glauben zu machen. Das Recept, um j e t z t Glauben zu 5 finden, heisst: „Schone dich selber nicht! Willst du deine Meinung in ein glaubwürdiges Licht setzen, so zünde zuerst die eigene Hütte an!"
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R e i c h e r u n d ä r m e r z u g l e i c h . — Ich kenne einen Menschen, der als Kind schon sich gewöhnt hatte, gut von der Intellectualität der Menschen zu denken, also von ihrer wahren Hingebung in Bezug auf geistige Dinge, ihrer uneigennützigen Bevorzugung des als wahr Erkannten und dergleichen, dagegen von seinem eigenen K o p f e (Urtheil, Gedächtniss, Geistesgegenwart, Phantasie) bescheidene, ja niedrige Begriffe zu haben. E r machte sich Nichts aus sich, wenn er sich mit Anderen verglich. N u n wurde er im Laufe der Jahre erst einmal und dann hundertfach gezwungen, in diesem Puñete umzulernen, — man sollte denken zu seiner grossen Freude und Genugthuung. Es gab auch in der That Etwas davon; aber „doch ist, wie er einmal sagte, eine Bitterkeit der bittersten A r t beigemischt, welche ich im früheren Leben nicht kannte: denn seit ich die Menschen und mich selber in Hinsicht auf geistige Bedürfnisse gerechter schätze, scheint mir mein Geist weniger nütze; ich glaube damit kaum noch etwas Gutes erweisen zu können, weil der Geist der Anderen es nicht anzunehmen versteht: ich sehe jetzt die schreckliche Kluft zwischen dem Hülfreichen und dem Hülfebedürftigen immer vor mir. Und so quält midi die Noth, meinen Geist f ü r mich haben und allein geniessen zu müssen, so weit er geniessbar ist. Aber g e b e n ist seliger als h a b e n : und was ist der Reichste in der Einsamkeit einer Wüste!"
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321. W i e m a n a n g r e i f e n s o l l . — Die Gründe, um derentwillen man an Etwas glaubt oder nicht glaubt, sind bei den allerseltensten Menschen überhaupt so stark, a l s s i e s e i n k ö n n e n . Für gewöhnlich hat man, um den Glauben an Etwas zu erschüttern, durchaus nicht nöthig, ohne Weiteres das schwerste Geschütz des Angriffs vorzufahren; bei Vielen führt es schon zum Ziele, wenn man den Angriff mit etwas Lärm macht: sodass oft Knallerbsen genügen. Gegen sehr eitle Personen reicht die M i e n e des allerschwersten Angriffs aus: sie sehen sich sehr ernst genommen — und geben gern nach. 322. T o d . — Durch die sichere Aussicht auf den Tod könnte jedem Leben ein köstlicher, wohlriechender Tropfen von Leichtsinn beigemischt sein — und nun habt ihr wunderlichen Apotheker-Seelen aus ihm einen übelschmeckenden Gift-Tropfen gemacht, durch den das ganze Leben widerlich wird! 323R e u e . — Niemals der Reue Raum geben, sondern sich sofort sagen: diess hiesse ja der ersten Dummheit eine zweite zugesellen. — Hat man Schaden gestiftet, so sinne man darauf, Gutes zu stiften. — Wird man wegen seiner Handlungen gestraft, dann ertrage man die Strafe mit der Empfindung, damit schon etwas Gutes zu stiften: man schreckt die Anderen ab, in die gleiche Thorheit zu verfallen. Jeder gestrafte Uebelthäter darf sich als Wohlthäter der Menschheit fühlen. 324. Z u m D e n k e r w e r d e n . — Wie kann Jemand zum Denker werden, wenn er nicht mindestens den dritten Theil jeden Tages ohne Leidenschaften, Menschen und Bücher verbringt?
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Menschliches, Allzumenschliches I I
3*5D a s b e s t e H e i l m i t t e l . — Etwas Gesundheit ab und zu ist das beste Heilmittel des Kranken.
326.
N i c h t a n r ü h r e n ! — Es giebt schreckliche Menschen, welche ein Problem, anstatt es zu lösen, f ü r Alle, welche sich mit ihm abgeben wollen, verfitzen und schwerer lösbar machen. Wer es nicht versteht, den Nagel auf den Kopf zu treffen, soll ja gebeten sein, ihn gar nicht zu treffen.
3*7D i e v e r g e s s e n e N a t u r . — Wir sprechen von N a t u r und vergessen uns dabei: wir selber sind N a t u r , quand même —. Folglich ist N a t u r etwas ganz Anderes als Das, was wir beim N e n n e n ihres Namens empfinden.
328.
T i e f e u n d L a n g w e i l i g k e i t . — Bei tiefen Menschen wie bei tiefen Brunnen dauert es lange bis Etwas, das in sie fällt, ihren G r u n d erreicht. Die Zuschauer, welche gewöhnlich nicht lange genug warten, halten solche Menschen leicht f ü r unbeweglich und h a r t — oder auch f ü r langweilig.
3*9W a n n es Z e i t i s t , s i c h T r e u e z u g e l o b e n . — Man verläuft sich m i t u n t e r in eine geistige Richtung, welcher unsre Begabung widerspricht; eine Zeit lang kämpft man heroisch wider die Fluth und den Wind an, im G r u n d e gegen sich selbst: man wird müde, keucht; was man vollbringt, macht
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Einem keine rechte Freude, man meint zu viel bei diesen Erfolgen eingebüsst zu haben. Ja, man v e r z w e i f e l t an seiner Fruchtbarkeit, an seiner Zukunft, mitten im Siege vielleicht. Endlich, endlich k e h r t man u m — u n d jetzt weht der Wind i n unser Segel und treibt uns in u n s e r Fahrwasser. Welches Glück! Wie s i e g e s g e w i s s fühlen wir uns! Jetzt erst wissen wir, was wir sind und was wir wollen, jetzt geloben wir uns Treue und d ü r f e n es — als Wissende.
330.
W e t t e r p r o p h e t e n . — Wie die Wolken uns verrathen, wohin hoch über uns die Winde laufen, so sind die leichtesten und freiesten Geister in ihren Richtungen vorausverkündend f ü r das Wetter, das k o m m e n wird. Der Wind im Thale und die Meinungen des Marktes von H e u t e bedeuten Nichts f ü r Das, was k o m m t , sondern nur f ü r Das, was war.
33i-
S t ä t i g e B e s c h l e u n i g u n g . — Jene Personen, welche langsam beginnen und schwer in einer Sache heimisch werden, haben nachher mitunter die Eigenschaft der stätigen Beschleunigung, — sodass zuletzt Niemand weiss, wohin der Strom sie noch reissen kann.
332. D i e g u t e n D r e i . — Ruhe, Grösse, Sonnenlicht, — diese drei umfassen Alles, was ein Denker wünscht und auch von sich f o r d e r t : seine H o f f n u n g e n u n d Pflichten, seine Ansprüche im Intellectuellen und Moralischen, sogar in der täglichen Lebensweise und selbst im Landschaftlichen seines Wohnsitzes. Ihnen entsprechen einmal e r h e b e n d e Gedanken, sodann b e r u -
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Menschliches, Allzumenschliches II
h i g e n d e, drittens a u f h e l l e n d e , — viertens aber Gedanken, welche an allen drei Eigenschaften Antheil haben, in denen alles Irdische zur Verklärung kommt: es ist das Reich, wo die grosse D r e i f a l t i g k e i t d e r F r e u d e herrscht.
333-
F ü r d i e „ W a h r h e i t " s t e r b e n . — Wir würden uns für unsere Meinungen nicht verbrennen lassen: wir sind ihrer nicht so sicher. Aber vielleicht dafür, dass wir unsere Meinungen haben dürfen und ändern dürfen.
334-
S e i n e T a x e h a b e n . — Wenn man gerade so viel g e l t e n will, als man i s t , muss man Etwas sein, das s e i n e T a x e hat. Aber nur das Gewöhnliche hat eine Taxe. Somit ist jenes Verlangen entweder die Folge einsichtiger Bescheidenheit — oder dummer Unbescheidenheit.
335-
M o r a l f ü r H ä u s e r b a u e r . — Man muss die Gerüste wegnehmen, wenn das Haus gebaut ist.
336.
S o p h o k l e i s m u s . — Wer hat mehr Wasser in den Wein gegossen als die Griechen! Nüchternheit und Grazie verbunden — das war das Adels-Vorrecht des Atheners zur Zeit des Sophokles und nach ihm. Mache es nach, wer da kann! Im Leben und Schaffen!
2. D e r W a n d e r e r und sein Schatten 332—339
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337-
Das Heroische. man Grosses t h u t (oder ohne sich im Wettkampf len. Der Heros trägt die Gränzbezirk immer mit
— Das Heroische besteht darin, dass Etwas in grosser Weise n i c h t thut), m i t Anderen, v o r Anderen zu fühEinöde und den heiligen unbetretbaren sich, wohin er auch gehe.
338.
D o p p e l g ä n g e r e i d e r N a t u r . — In mancher N a t u r Gegend entdecken wir uns selber wieder, mit angenehmem Grausen; es ist die schönste Doppelgängerei. — Wie glücklich muss Der sein können, welcher jene Empfindung gerade hier hat, in dieser beständigen sonnigen Octoberluft, in diesem schalkhaft glücklichen Spielen des Windzuges von f r ü h bis Abend, in dieser reinsten Helle und mässigsten Kühle, in dem gesammten anmuthig ernsten Hügel-, Seen- und Wald-Charakter dieser Hochebene, welche sich ohne Furcht neben die Schrecknisse des ewigen Schnees hingelagert hat, hier, wo Italien und Finnland zum Bunde zusammengekommen sind und die H e i m a t h aller silbernen Farbentöne der N a t u r zu sein scheint: — wie glücklich Der, welcher sagen kann: „es giebt gewiss viel Grösseres und Schöneres in der N a t u r , d i e s s aber ist mir innig und vertraut, blutsverwandt, ja noch mehr."
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L e u t s e l i g k e i t d e s W e i s e n . — Der Weise wird unwillkürlich mit den andern Menschen leutselig umgehen, wie ein Fürst, und sie, trotz aller Verschiedenheit der Begabung, des Standes und der Gesittung, leicht als gleichartig behandeln: was man, sobald es bemerkt wird, ihm sehr übel nimmt.
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Menschliches, Allzumenschliches I I
340.
G o l d . — Alles, was Gold ist, glänzt nicht. Die sanfte Strahlung ist dem edelsten Metalle zu eigen.
341.
R a d u n d H e m m s c h u h . — Das Rad und der H e m m schuh haben verschiedene Pflichten, aber auch eine gleiche: einander wehe zu thun. 342.
S t ö r u n g e n d e s D e n k e r s . — Auf Alles, was den Denker in seinen Gedanken unterbricht (stört, wie man sagt), muss er friedfertig hinschauen, wie auf ein neues Modell, das zur T h ü r hereintritt, um sich dem Künstler anzubieten. Die Unterbrechungen sind die Raben, welche dem Einsamen Speise bringen.
343V i e l G e i s t h a b e n . — Viel Geist haben erhält j u n g : aber man muss es ertragen, damit gerade f ü r ä l t e r zu gelten, als man ist. Denn die Menschen lesen die Schriftzüge des Geistes ab als Spuren der L e b e n s e r f a h r u n g , das heisst des Vielund Schlimm-gelebt-habens, des Leidens, Irrens, Bereuens. Also: man gilt ihnen f ü r älter sowohl, als f ü r s c h l e c h t e r , als man ist, wenn man viel Geist hat und zeigt.
344W i e m a n s i e g e n m u s s . — Man soll nicht siegen wollen, wenn man n u r die Aussicht hat, um eines H a a r e s B r e i t e seinen Gegner zu überholen. Der gute Sieg muss den Besiegten freudig stimmen, er muss etwas Göttliches haben, welches die B e s c h ä m u n g erspart.
2. Der W a n d e r e r und sein Schatten 3 4 0 — 3 4 9
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345W a h n d e r ü b e r l e g e n e n G e i s t e r . — Die überlegenen Geister haben Mühe, sich von einem Wahne frei zu machen: sie bilden sich nämlich ein, dass sie bei den Mittelmässigen Neid erregen und als Ausnahme empfunden werden. Thatsächlich aber werden sie als Das empfunden, was überflüssig ist und was man, wenn es fehlte, nicht entbehren würde.
346.
F o r d e r u n g d e r R e i n l i c h k e i t . — Dass man seine Meinungen wechselt, ist für die einen Naturen ebenso eine Forderung der Reinlichkeit, wie die, dass man seine Kleider wechselt: für andere Naturen aber nur eine Forderung ihrer Eitelkeit. 347A u c h e i n e s H e r o s w ü r d i g . — Hier ist ein Heros, der Nichts gethan hat als den Baum geschüttelt, sobald die Früchte reif waren. Dünkt euch diess zu wenig? So seht euch den Baum erst an, den er schüttelte.
348.
W o r a n d i e W e i s h e i t z u m e s s e n i s t . — Der Zuwachs an Weisheit lässt sich genau nach der Abnahme an Galle bemessen. 349D e n I r r t h u m u n a n g e n e h m s a g e n . — Es ist nicht nach Jedermanns Geschmack, dass die Wahrheit angenehm gesagt werde. Möge aber wenigstens Niemand glauben, dass der Irrthum zur Wahrheit werde, wenn man ihn u n a n g e n e h m sage.
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3JO.
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D i e g o l d e n e L o o s u n g . — Dem Menschen sind viele Ketten angelegt worden, damit er es verlerne, sich wie ein Thier zu gebärden: und wirklich, er ist milder, geistiger, freudiger, besonnener geworden, als alle Thiere sind. N u n aber leidet er noch daran, dass er so lange seine Ketten trug, dass es ihm so lange an reiner Luft und freier Bewegung fehlte: — diese Ketten aber sind, ich wiederhole es immer und immer wieder, jene schweren und sinnvollen Irrthümer der moralischen, der religiösen, der metaphysischen Vorstellungen. Erst wenn auch die K e t t e n - K r a n k h e i t überwunden ist, ist das erste grosse Ziel ganz erreicht: die Abtrennung des Menschen von den Thieren. — N u n stehen w i r mitten in unserer Arbeit, die Ketten abzunehmen und haben dabei die höchste Vorsicht nöthig. N u r d e m v e r e d e l t e n M e n s c h e n darf d i e F r e i h e i t d e s G e i s t e s gegeben werden; ihm allein naht d i e E r l e i c h t e r u n g d e s L e b e n s und salbt seine Wunden aus; er zuerst darf sagen, dass er um der F r e u d i g k e i t willen lebe und um keines weiteren Zieles willen; und in jedem anderen Munde wäre sein Wahlspruch gefährlich: F r i e d e n u m m i c h u n d ein W o h l g e f a l l e n an a l l e n n ä c h s t e n D i n g e n . — Bei diesem Wahlspruch f ü r Einzelne gedenkt er eines alten grossen und rührenden Wortes, welches A l l e n galt, und das über der gesammten Menschheit stehen geblieben ist als ein Wahlspruch und Wahrzeichen, an dem Jeder zu Grunde gehen soll, der damit zu zeitig sein Banner schmückt, — an dem das Christenthum zu Grunde gieng. Noch immer, so scheint es, i s t es n i c h t Z e i t , dass es a l l e n Menschen jenen Hirten gleich ergehen dürfe, die den Himmel über sich erhellt sahen und jenes Wort hörten: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen an einander." — Immer nodi ist es d i e Z e i t der Einzelnen.
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Der Schatten: Von Allem, was du vorgebracht hast, hat mir Nichts m e h r gefallen, als eine Verheissung: ihr wollt wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden. Diess wird auch uns armen Schatten zu Gute kommen. Denn, gesteht es nur ein, ihr habt bisher uns allzugern verleumdet. Der Wanderer: Verleumdet? Aber warum habt ihr euch nie vertheidigt? Ihr hattet ja unsere Ohren in der Nähe. Der Schatten: Es schien uns, als ob wir euch eben zu nahe wären, um von uns selber reden zu dürfen. Der Wanderer: Delicat! sehr delicat! Ach, ihr Schatten seid „bessere Menschen" als wir, das merke ich. Der Schatten: Und doch nanntet ihr uns „zudringlich", — uns, die wir mindestens Eines gut verstehen: zu schweigen und zu warten — kein Engländer versteht es besser. Es ist wahr, man findet uns sehr, sehr oft in dem Gefolge des Menschen, aber doch nicht in seiner Knechtschaft. Wenn der Mensch das Licht scheut, scheuen wir den Menschen: so weit geht doch unsere Freiheit. Der Wanderer: Ach, das Licht scheut noch viel öfter den Menschen, und dann verlasst ihr ihn auch. Der Schatten: Ich habe dich oft mit Schmerz verlassen: es ist mir, der ich wissbegierig bin, an dem Menschen Vieles dunkel geblieben, weil ich nicht immer um ihn sein kann. Um den Preis der vollen Menschen-Erkenntniss möchte ich auch wohl dein Sclave sein.
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Menschliches, Allzumenschliches I I
Der Wanderer: Weisst du denn, weiss ich denn, ob du damit nicht unversehens aus dem Sclaven zum Herrn würdest? Oder zwar Sclave bliebest, aber als Verächter deines Herrn ein Leben der Erniedrigung, des Ekels führtest? Seien wir Beide mit der Freiheit zufrieden, so wie sie dir geblieben ist — dir u n d mir! Denn der Anblick eines Unfreien würde mir meine grössten Freuden vergällen; das Beste wäre mir zuwider, wenn es Jemand mit mir theilen m ü s s t e , — ich will keine Sclaven um mich wissen. Desshalb mag ich auch den Hund nicht, den faulen, schweifwedelnden Schmarotzer, der erst als Knecht der Menschen „hündisch" geworden ist und von dem sie gar noch zu rühmen pflegen, dass er dem Herrn treu sei und ihm folge wie sein — Der Schatten: Wie sein Schatten, so sagen sie. Vielleicht folgte ich dir heute auch schon zu lange? Es war der längste Tag, aber wir sind an seinem Ende, habe eine kleine Weile noch Geduld. Der Rasen ist feucht, mich fröstelt. Der Wanderer: Oh, ist es schon Zeit zu scheiden? Und ich musste dir zuletzt noch wehe thun; ich sah es, du wurdest dunkler dabei. Der Schatten: Ich erröthete, in der Farbe, in welcher ich es vermag. Mir fiel ein, dass ich dir oft zu Füssen gelegen habe wie ein Hund, und dass du dann — Der Wanderer: Und könnte ich dir nicht in aller Geschwindigkeit noch Etwas zu Liebe thun? Hast du keinen Wunsch? Der Schatten: Keinen, ausser etwa den Wunsch, welchen der philosophische „Hund" vor dem grossen Alexander hatte: gehe mir ein Wenig aus der Sonne, es wird mir zu kalt. Der Wanderer: Was soll ich thun? Der Schatten: Tritt unter diese Fichten und schaue dich nach den Bergen um; die Sonne sinkt. Der Wanderer: — Wo bist du? Wo bist du?
Nachwort
Menschliches, Allzumenschliches I Die aphoristische oder jedenfalls fragmentarische Form, in der sich Menschliches, Allzumenschliches darbietet, ist ein Novum, das dieses Werk Nietzsches eindeutig von den vorhergegangenen abhebt. Der Vergleich der Inhalte bestätigt diesen spontanen, beim ersten Lesen gewonnenen Eindruck; im übrigen haben die Biographen und Interpreten Nietzsches stets mit Nachdruck auf diesen Einschnitt hingewiesen. Es fiel auch nicht schwer, dafür eine Erklärung im persönlichen Bereich zu finden, in erster Linie in der Abkühlung (die später zum Bruch werden sollte) der Freundschaft mit Wagner. Übereilt, ja unrichtig ist dagegen die Behauptung, Menschliches, Allzumenschliches sei durch diese Fakten bedingt. Bei genauerem Hinsehen läßt sich ihnen eher eine katalysierende Wirkung zuschreiben. Mit anderen Worten: Menschliches, Allzumenschliches ist nicht als Reaktion auf eine stark von Wagner beeinflußte Weltsicht zu verstehen, begünstigt durch das Brüchigwerden der Freundschaft, sondern als Ausdruck einer neuen geistigen Reife, die durch die Beziehung zu Wagner zunächst gefördert, zum Schluß jedoch behindert worden war. Hier wie in anderen Schriften läßt sich in Nietzsches Denken jenseits der antinomischen, widersprüchlichen, heterogenen Äußerungen eine innere Übereinstimmung entdecken, ein durchgehender Faden, an Hand dessen sich die krassesten Gegensätze zum stufenweisen Ausdruck einer einheitlichen Persönlichkeit ordnen, deren Reichtum anders nicht ans Licht kommen konnte. Der auffallendste Gegensatz zwischen den in Menschliches, Allzumenschliches und den vorhergehenden Werken vertretenen Anschauungen betrifft die Stellung von Wissenschaft und Kunst. Der Primat, der
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Nachwort
Unzeitgemässen in der Periode der Geburt der Tragödie und der Betrachtungen der Kunst zugestanden wurde, wird jetzt mit klaren Worten auf die Wissenschaft übertragen. Aber ist das wirklich eine Absage? In Menschliches, Allzumenschliches heißt es etwas rätselhaft: „ D e r wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwicklung des künstlerischen." (Aph. 222) U n d genau genommen schwört Nietzsche Wagner (der in Menschliches, Allzumenschliches überhaupt nicht genannt wird) nicht ausdrücklich ab; das, was sich uns bietet, ist ein ruhiges über ihn Hinausgehen. Wagner war wütend, als er sich das Buch, das Nietzsche ihm zugesandt hatte, vornahm. E r hat es nie zu Ende gelesen, und wahrscheinlich fand in diesem Moment sein Bruch mit Nietzsche statt. E r war darauf eingestellt gewesen, das Werk eines Jüngers zu lesen, und fand diesen Jünger nun plötzlich seiner Vormundschaft entwachsen. Tatsächlich bezeichnet Menschliches, Allzumenschliches den Übergang von einer einseitigen und eingeengten Phase in Nietzsches Denken, in der sich Originales und Übernommenes noch nicht deutlich voneinander trennen lassen, zu einer neu gewonnenen Unabhängigkeit, zur Auflösung einer inneren Disharmonie durch eine philosophische Vertiefung, die ihn plötzlich eine unabhängige Sprache finden läßt und sein Denken zu einer Weite führt, die all das harmonisch umschließt, was ihm zuerst unvereinbar erschienen war. Aber was bedeutet für Nietzsche Wissenschaft? Sicher nicht Wissenschaft im antiken Sinn, also ein System von Behauptungen, die sich auf universale Prinzipien gründen, fest miteinander verkettet sind und von denen die einen mit Hilfe der anderen abgeleitet und bewiesen werden. Aber auch nicht Wissenschaft im modernen Sinn, also Erkenntnisse, gewonnen aus dem Sammeln, der Induktion, dem Experiment und dann ebenfalls in den deduktiven Mechanismus überführt — wenn, wie es scheint, die Thesen und Erörterungen in Menschliches, Allzumenschliches von Nietzsche als Beispiele wissenschaftlicher Tätigkeit gedacht sind. Bereits hier und noch ausgeprägter in den späteren Schriften entwickelt Nietzsche eine gedrängte Kritik des logischen und deduktiven Denkens, und die aphoristische Form selbst, die er in Menschliches, Allzumenschliches einführt, deutet auf sein Mißtrauen hinsichtlich der Ergiebigkeit von Beweisketten. Man kann sogar einen paradoxen Gegensatz feststellen zwischen der Prosa von Richard Wagner in Bayreuth, in der Nietzsche zum Lobpreis der Kunst und der Lei-
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denschaft in ausgeklügelter, fast penibler Weise zu erklären, abzuleiten und zu beweisen versucht, und der von Menschliches, Allzumenschliches, in welcher der Vorrang der Wissenschaft oder allgemein der Vernunft in aufblitzenden Erkenntnissen oder allenfalls in Überlegungen abgehandelt wird, bei denen die Gedanken sehr viel mehr koordiniert als subordiniert erscheinen. Unter wissenschaftlicher Fähigkeit versteht Nietzsche vor allem die Fähigkeit zum Urteil, zu einem Urteil, dessen Bestandteile sich nicht durch eine der Vernunft aller Menschen inhärente Notwendigkeit zusammenfügen, sondern durch ein Band, das zu erfassen nicht allen gegeben ist. Damit erreicht er das Wesentliche im Begrenzten. Was dieses Urteil auszeichnet, ist seine Konkretheit: Subjekt und Prädikat werden direkt dem intuitiven, sinnlichen Bereich entnommen oder sind Bestimmungen ethischer Natur, die sich auf die Wurzeln des Angenehmen und des Schmerzlichen, des Wünschenswerten und des Vermeidbaren berufen; und soweit sie abstrakt sein müssen, sind sie keine logischen Universalien, sondern ethische oder jedenfalls auf eine zukünftige Welt bezogene. Zur Verwirklichung dieser „Wissenschaft", die wahrlich dem Spiel nähersteht als der Notwendigkeit (weshalb Nietzsche behauptet, die Wissenschaft sei dazu bestimmt, die Kunst weiterzuführen), ist jedoch eine äußerste Ausweitung des Untersuchungsfeldes nötig. Da dieses lebendig, im Werden begriffen sein soll, muß die ganze Menschheitsgeschichte konsultiert werden. Das bedeutet den Abschied von der Metaphysik, die den Glauben an das „Objekt" postuliert, an die Substanz, im allgemeinen an das Unveränderliche, und überdies, von der formalen Seite her, an die Systematik. Für Nietzsche wird die Metaphysik fast ausschließlich von Schopenhauer repräsentiert, der auf jeder Seite von Menschliches, Allzumenschliches gegenwärtig ist und gegen den hier noch kein Groll zu spüren ist, sondern nur ein melancholisches SichEntfernen. Schwierig ist es, Nietzsches neue Position zu charakterisieren, und sicher befindet man sich dabei nicht auf dem rechten Weg, wenn man die Haltung dieses Buches und der folgenden, Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft, als positivistisch bezeichnet. Die positivistische Betrachtungsweise ist einzig auf das systematische und deduktive Denken ausgerichtet. Aber man wird Nietzsche auch nicht gerechter, wenn man ihn völlig aus dem Bereich der Philosophie herauslöst (es sei denn, um ihm die Gaben
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Nachwort
eines hervorragenden Psychologen oder Moralisten zuzuerkennen) und ihn als Historiker abstempelt. Trotz der Analogien und Übereinstimmungen mit Historikern ersten Ranges, wie Burckhardt und Taine oder sogar Machiavelli und Thukydides, fehlt ihm etwas, was diese besessen haben, und sei es nur die erschöpfende Kenntnis der Tatsachen, das methodische Sammeln des Materials. Dafür besitzt Nietzsche anderes, was sich bei diesen nicht findet. Genau das ist der springende Punkt. Das konkrete Urteil, das in Menschliches, Allzumenschliches zutage tritt, ist eine Entscheidung, vielleicht eine Eroberung, typisch philosophischer Art und verdient die gleiche Einschätzung wie eine neue heuristische Methode. Das allein genügt, um Nietzsche einen Platz in der Geschichte der Philosophie zu sichern. Es ist schwierig, ihm Vorläufer zuzuschreiben (vielleicht müßte man Heraklit nennen), und es steht fest, daß bis heute noch keine Fortsetzer aufgetaucht sind. Nietzsches Position ist in der Tat nicht irrationalistisch, und um ihr die Rationalität abzusprechen, muß die Philosophie ihr gutes Recht demonstrieren, abstrakte Vorstellungen deduktiv miteinander zu verbinden (was später auch von den sich als antimetaphysisch bezeichnenden Philosophen praktiziert wurde), und dabei in jedem Fall Nietzsches Kritik an der demonstrativen Vernunft widerlegen. Müssen wir also in Nietzsches Aphorismus den Ausdruck eines rationalen oder sogar wissenschaftlichen Erkennens sehen? Wenn wir die Betrachtung über die Urteilsfähigkeit des erkennenden Individuums, das bei rechtem Gebrauch darin den Schlüssel zum Verständnis des Lebens finden soll, auf die gesamte Menschheit ausweiten, die aus dem falschen Gebrauch (dem Irrtum) Nahrung für ihren Glauben, ihre Leidenschaften und Torheiten bezieht, scheint die Antwort des Autors klar. Die Instinkte, die scheinbare Unmittelbarkeit des Willens (das ist der tödliche Angriff gegen Schopenhauer), erwachsen aus den ursprünglichen Werturteilen des Menschen. Der Instinkt ist dem Intellekt untergeordnet, folgt ihm und wird von ihm determiniert. Der Irrtum des Urteils bedingt die Unnatürlichkeit des Instinktes, und diese wiederum die Perversion des Glaubens. Es ist letztlich der sokratische Zug in Nietzsches Seele, der hier siegt. Doch es muß daran erinnert werden, daß dies nur eine Station in Nietzsches Denken ist, auch wenn sie sich durch die Werke der folgenden Jahre festigen und nicht mehr in Vergessenheit geraten
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wird. Der organische Zusammenhang mit der vorausgegangenen Epoche kann so deutlicher in Erscheinung treten. Die Entschiedenheit von Menschliches, Allzumenschliches in Form und Inhalt setzt die Gegensätzlichkeit selbst gelebter Erfahrungen voraus. Auf der einen Seite die Beschäftigung mit der Antike, der passionierte Fleiß eines frühreifen Altphilologen, die reiche Sammlung an historischem Material, das Uberdenken der Gegenwart und die Loslösung von ihr; auf der anderen Seite das unmittelbare Eintauchen in den wagnerischen Rausch, die Befreiung der unbeschwerten, künstlerischen, improvisatorischen Triebe, der Bereich des Gefühls, der Modernität, des Pessimismus und der Dekadenz. Aus beiden Erfahrungsbereichen zieht Nietzsche sich erschreckt zurück; einmal angesichts der Beschränktheit der Philologen, der Versteinerung des Geistes unter toten Dingen, zum anderen vor dem Fanatismus, den verrückten Ansichten der Gegenwart, den Gefahren der Unmittelbarkeit und der Aussicht, sich in einer Masse von Jüngern zu verlieren. Aber soweit es ihn selbst betraf, mußten diese Instinkte erhalten bleiben, und nach mühevollen Jahren findet er endlich seine Form der Unabhängigkeit. An Hand der nachgelassenen Fragmente aus der Periode von Menschliches, Allzumenschliches (s. Bd. 8, S. 287—486) läßt sich die Entwicklung dieser Themen aus der Nähe verfolgen. Das heißt: näher an der Person Nietzsches, denn diese in ihrer chronologischen Folge vorgelegten Texte belegen die einzelnen Gedanken und Seelenzustände jener zwei Jahre. Wir nehmen so an der fast täglichen Diskussion mit Schopenhauer teil. Auch Wagner kehrt hier häufig wieder; die Gedanken über ihn enthüllen eine unerbittliche, kritische Vertiefung, zeigen jedoch keine Animosität. Daneben finden wir Arbeitsentwürfe und Lebensprogramme, zusammen mit autobiographischen Notizen, poetische Ansätze, alles in einer meditativen Atmosphäre, ohne Heftigkeit — und schließlich, in statu nascendi, die Ausbildung des Begriffs „freier Geist".
Menschliches, Allzumenschliches II Die in wenig mehr als einem Jahr niedergeschriebenen Vermischten Meinungen und Sprüche und Der Wanderer und sein Schatten sind im Schaffen Nietzsches Zeugnisse eines Rückzugs auf sich
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selbst: Das ist ein zyklisch wiederkehrender Seelenzustand in seinem Leben, auch wenn es, wie in diesem Fall, manchmal kaschiert wird. Die Gegenstände regen ihn nicht an, und die Menschen haben ihn allein gelassen, so daß sich der Autor mehr für sich selbst zu interessieren vermag — wie hier der Wanderer, der gezwungen ist, mit seinem Schatten zu sprechen. Im Gespräch mit sich spricht man leichter von sich. Das wird nicht ohne weiteres deutlich, denn wir finden uns mit Objekten konfrontiert, mit konkreten Themen aus der Geschichte, der Kunst und der Moral. Im übrigen ist diese Periode unbestritten die unparteiischste, wissenschaftlichste, kurz die objektivste in Nietzsches gesamtem Schaffen. Paradoxerweise wird diese Objektivität jedoch — und es ist gar nicht leicht, den Mechanismus zu erkennen — durch Konzentration auf sich und innere Schau erreicht. Und das ist vielleicht eine List Nietzsches, seine eigenste Art, objektiv zu sein. Er gibt es selbst zu: „Meine Art, Historisches zu berichten, ist eigentlich, eigene Erlebnisse bei Gelegenheit vergangener Zeiten und Menschen zu erzählen. Nichts Zusammenhängendes - einzelnes ist mir aufgegangen, anderes nicht. Unsere Litterarhistoriker sind langweilig, weil sie sich zwingen, über alles zu reden und zu urtheilen, auch wo sie nichts erlebt haben." (Bd. 8, 30 [60]) Ohne die nachgelassenen Fragmente (Bd. 8) wäre es schwierig, diese produktive Haltung in Nietzsches Entwicklung wiederzufinden. Die Notizbücher von 1878-1879 sind voll von persönlichen, rasch hingeschriebenen Erinnerungen aus seiner Kindheit oder frühen Jugend. Häufig finden sich auch Erinnerungen an Landschaften oder bestimmte örtlichkeiten. Aus den tiefen Eindrücken der eigenen Vergangenheit bezieht Nietzsche den Impuls, Meinungen und Urteile über die Vergangenheit des Menschen zu äußern. Die Fesseln der gewohnten Darstellungsweisen werden gesprengt, selbst die Gefühle zum Schweigen gebracht: Augenblicke traumhafter Erinnerung befreien den Geist, bringen ihn zur Hellsichtigkeit. Das ist das genaue Gegenstück zu dem, was in der Geburt der Tragödie als „apollinischer" Zustand bezeichnet wurde. Die Welt, die aus einer solchen Sicht entsteht, bleibt gespenstisch, und die Hadesfahrt, mit der die Vermischten Meinungen und Sprüche enden, ist nicht nur ein Zeugnis für den dominierenden Seelenzustand des Verfassers, sondern auch für seine schattenhafte Philosophie, zumindest in dieser Phase: eine schweigsame Philosophie,
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in der die „Objekte" ihre Körperlichkeit verlieren, und die zu einem Menschen paßt, der gerade jetzt den Ruf und das Schicksal der Einsamkeit entdeckt hat. Ein rätselhaftes Fragment aus dem Nachlaß dieser Epoche deutet in diese Richtung: „Wir gleichen den lebenden Thieren auf dem Schild des Häphest — aesthetische Phänomene aber grausam!" (Bd. 8, 30 [42]) Im übrigen werden die konkreten Fragen, in denen solche Grübeleien ihren Niederschlag finden, nur angeschnitten und sofort wieder aufgegeben, unterbrochen, in der Schwebe gelassen, ohne sie in irgendeiner Weise systematisch zu entfalten. Die behandelten Gegenstände entstammen entweder dem Themenbereich von Menschliches, Allzumenschliches I, zu dem Nietzsche selbst erklärte, er wolle ihm eine Fortsetzung geben, oder der Erweiterung moralischer Probleme, die zur Morgenröthe hinführt. Einzelne Themen werden mit besonderer Beharrlichkeit vorgetragen, zum Beispiel die Freiheit des Willens, die strafende Gerechtigkeit und die Theorie des Verbrechers; in anderen Fällen finden sich, wie beim Begriff der Rache, angedeutete und zersplitterte Vorwegnahmen. Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Methode (das uns vor allem wegen seiner erzieherischen Wirkung aus der Nähe interessiert) ist die Vertiefung, zeitliche Ausweitung und neue Darstellung des Triebs zur „Unzeitgemäßheit". Die historische und psychologische Sprache wird zum Instrument, um eine unzeitgemäße Vision zu vermitteln; eine Vision, die dem Leser für gewöhnlich schwer zugänglich bleibt, allein schon durch die Tatsache, daß der, der sie zum Ausdruck bringt, zwangsläufig von den Bildern, Begriffen und Personen der Gegenwart absehen muß. Nietzsche entgeht dieser Gefahr (das heißt dem Desinteresse seiner Zeitgenossen), und indem er vorgibt, ganz in die Gegenwart eingetaucht zu sein, realisiert er gerade darin die Distanz von der Gegenwart. Das ist eines seiner Geheimnisse, eine seiner geheimnisvollsten Leistungen; und seine Kunst, durch das Unzeitgemäße zu fesseln, gelangt gerade in dieser Zeit zu ihrer Perfektion. In der Basler Periode hatte Nietzsche versucht, eine unzeitgemäße Position auf einem direkteren Weg auszudrücken, indem er die weit zurückliegende und unwiederbringliche Erfahrung der griechischen Tragödie zum Modell erhob. Der radikale Bruch mit der Gegenwart war die Voraussetzung für diese Flucht ins antike Griechenland, aber die Glaubwürdigkeit dieses Unterfangens wurde schon bald ge-
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trübt durch die Vermengung mit der Wagnerschen Musikauffassung, also mit etwas, das, wie Nietzsche später selbst einmal erklärte, zu diesem Zeitpunkt die Quintessenz des „Zeitgemäßen" war. Sich von der eigenen Zeit gerade deshalb zu lösen, weil man ihr zu sehr anhängt, das könnte man mit Fug und Recht von den Basler Schriften sagen — so wie für die jetzt betrachtete Periode vielleicht die Charakterisierung möglich wäre: sich mit einem wachen Blick auf die Gegenwart aus ihr in die Tiefe zu entfernen. Hier kann man von „Nietzsche als Erzieher" sprechen. Das Leben des Menschen wird, mit dem Auge Schopenhauers, als eine unwandelbare Naturgegebenheit angesehen, aber seine Erscheinung in der Zeit, kurz die Geschichte, ist nicht Schein, sondern die einzige Realität, die uns gewährt wird. Nietzsche versucht, sich und seine Leser von der eigenen Zeit loszulösen; das tut er als Philosoph, ja das ist es, was den philosophischen Blick überhaupt ausmacht. Aber die Realität besteht darin, die gegenwärtige Zeit zu leben und zu beurteilen, und zwar nicht durch die Vorstellungen der Gegenwart und die von ihr gestellten Probleme, sondern indem man bei all dem die „Last" der Vergangenheit auf sich nimmt; das bedeutet, um Jahrhunderte und Jahrtausende nach rückwärts zu gehen und sich dabei einen neuen Blick, den klaren Blick der Vergangenheit, zu erwerben. In Menschliches, Allzumenschliches II ist diese Position neu gewonnen, und wie der damit einhergehende Seelenzustand die Erschöpfung eines „Genesenden" ist, so ist der expressive Grundton mild, flüsternd, gebrochen, sanft. Der Schriftsteller der akzentuierten Mannigfaltigkeit, der Umkehrungen und Umstürze, kann hier in einem Zwischenmoment erlebt werden, in einer der seltenen Pausen der Ausgewogenheit, in denen der seinem Wesen immanente Radikalismus unter Kontrolle gehalten wird, eingetaucht in eine Atmosphäre der Erkenntnis. Sein unzeitgemäßer Trieb, der sich bald in heftigen Fehden entladen sollte (schon in Morgenröthe wird man auf schärfere Akzente stoßen, obwohl man dort einen weiteren Augenblick der Objektivität findet, der jedoch durch einen weniger innerlichen Impuls bedingt ist), beruft sich jetzt oft auf Epikur und Epiktet. Typisch für diese Phase ist die Vorliebe für das Bild, mit dem Xenophon die Gestalt des Sokrates beschrieben hat: Es handelt sich, wie bekannt, um die „vernünftige", fast sanfte Interpretation einer Figur, die sonst in Nietzsches Leben einen
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extremen und fatalen Aspekt seines Radikalismus verkörpert. Im übrigen bewegt sich in den Schriften aus dieser Zeit sogar Nietzsches Kritik am Christentum in kontemplativ zurückhaltenden Bahnen. So beginnt der 84. Aphorismus aus Der Wanderer und sein Schatten: „Eines Morgens traten die Gefangenen in den Arbeitshof; der Wärter fehlte. Die Einen von ihnen giengen, wie es ihre Art war, sofort an die Arbeit, Andere standen müssig und blickten trotzig umher. Da trat Einer vor und sagte laut: .Arbeitet, so viel ihr wollt oder thut Nichts: es ist Alles gleich. Eure geheimen Anschläge sind an's Licht gekommen, der Gefängnisswärter hat euch neulich belauscht und will in den nächsten Tagen ein fürchterliches Gericht über euch ergehen lassen. Ihr kennt ihn, er ist hart und nachträgerischen Sinnes. Nun aber merkt auf: ihr habt mich bisher verkannt; ich bin nicht, was ich scheine, sondern viel mehr: ich bin der Sohn des Gefängnisswärters und gelte Alles bei ihm. Ich kann euch retten, ich will euch retten; aber, wohlgemerkt, nur Diejenigen von euch, welche mir glauben, dass ich der Sohn des Gefängnisswärters bin; die Uebrigen mögen die Früchte ihres Unglaubens ernten'." (S. 590) Giorgio Colli
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung
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Menschliches, Allzumenschliches 1
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An Stelle einer Vorrede Vorrede Erstes Hauptstück. Von den ersten und letzten Dingen (i-34) Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen (35-107) Drittes Hauptstück. Das religiöse Leben (108-144) • • Viertes Hauptstück. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller (145-223) Fünftes Hauptstück. Anzeichen höherer und niederer Cultur (224-292) Sechstes Hauptstück. Der Mensch im Verkehr (293-376) Siebentes Hauptstück. Weib und Kind (377-437) • • • Achtes Hauptstück. Ein Blick auf den Staat (438-482). Neuntes Hauptstück. Der Mensch mit sich allein (483 bis 638) Unter Freunden. Ein Nachspiel
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141 187 239 265 285 317 365
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Inhal:
Menschliches, Allzumenschliches n Vorrede Erste Abtheilung: Vermischte Meinungen und Sprüche Zweite Abtheilung: Der Wanderer und sein Schatten . Nachwort
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