Selfies - Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur 9783839436653

Generation Selfie: visual self-actualization through digital image and communication technologies is a central cultural

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German Pages 202 Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
I. Einführung
II. Kommodifizierung des Selbst
III. Faciales Regime – Defacement
IV. Literatur
V. Abbildungsnachweis
VI. Drucknachweis
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Selfies - Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur
 9783839436653

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Ramón Reichert Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

Digitale Gesellschaft Band 63

Ramón Reichert (Dr. phil. habil.) lehrt und forscht als Senior Researcher am Department für Kulturwissenschaften an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Zuvor ging er Lehr- und Forschungstätigkeiten in Basel, Berlin, Canberra, Fribourg, Helsinki, Sankt Gallen, Stockholm und Zürich nach und war langjähriger EU-Projektkoordinator. Sein aktuelles Forschungsprojekt »Visual Politics and Protest. Artistic Research Project on the visual framing of the Russia-Ukraine War on internet portals and social media« (2022-2024) beschäftigt sich mit der visuellen Politik von Gewalt, Konflikt und Widerstand.

Ramón Reichert

Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Wordley Calvo Stock/AdobeStock Korrektorat: Maren Fritsch, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839436653 Print-ISBN: 978-3-8376-3665-9 PDF-ISBN: 978-3-8394-3665-3 EPUB-ISBN: 978-3-7328-3665-9 Buchreihen-ISSN: 2702-8852 Buchreihen-eISSN: 2702-8860 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

I. I.1. I.2. I.3. I.4.

Einführung ....................................................................7 Bildkommunikation, Bildrepertoires und Bildgedächtnis..........................9 Digitale Ästhetik............................................................... 12 Strategien der Dissemination .................................................. 16 Methoden der digitalen Bildforschung .......................................... 19

Kommodifizierung des Selbst ............................................... 27 Bildmedien und Hashtagging als kommunikative Handlungen ................... 31 Bildkontrolle und Blickregime auf Instagram .................................. 42 Theorien des kommodifizierten Selbst ........................................ 45 Distinktion und soziales Kapital ............................................... 53 Rich Kids of Instagram ....................................................... 58 II.5.1. #Instafame: Ikonische Inszenierungen von Reichtum, Luxus und Prestige ................................................... 60 II.6. Selfie Wars: GoPro, Ego Shooter & Gamification ............................... 66 II.6.1. Ausnahmezustand und Authentizitätsregime .......................... 70 II.6.2. Der Kampf als mediale Erlebniswelt ................................... 72 II.6.3. Gamifizierung des Krieges ............................................ 73 II.7. Bildpraktiken der Selbstvermessung .......................................... 76 II.7.1. Verdatung des Körpers................................................ 76 II.7.2. Feedbackschleifen und soziale Kontrolle............................... 86 II.7.3. Vom Datenkörper zu Big Data ......................................... 89 II.8. Doing Memory: Das Selfie als kuratorische Praxis.............................. 92 II.8.1. Subjekt und Erinnerung ............................................... 95 II.8.2. Erinnerungsort Auschwitz-Birkenau ................................... 99 II.8.3. Staging History – Inszenierte Geschichte auf Instagram ................102 II.8.4. Szenografien einer Selbst-Kuratierung ................................107 II. II.1. II.2. II.3. II.4. II.5.

III. Faciales Regime – Defacement ............................................. 117 III.1. Prosopopeia ................................................................. 117 III.2. Faciales Regime..............................................................126

III.3. Thanatographien des Weiblichen............................................. 128 III.4. Defacement: Kritik der Gesichtserkennung ................................... 148 III.4.1. Dekonstruktionen des Facialen ........................................ 151 III.5. Bildpolitische Kollektive und die Abkehr vom Subjektzentrismus ...............155 III.5.1. Umbrüche des subjektzentrierten Bildhandelns am Beispiel der Iranproteste 2022 .....................................155 III.5.2. Instagram als Medium der politischen Kommunikation .................157 III.5.3. Bilder des Protests – Protest der Bilder ................................160 III.5.4. Selfie-Solidarisierung .................................................162 III.5.5. Selfies den Rücken kehren ............................................164 IV.

Literatur ....................................................................179

V.

Abbildungsnachweis ........................................................199

VI.

Drucknachweis..............................................................201

I. Einführung

Das Schlagwort »Selfie« charakterisiert ein zentrales Kulturmuster spätmoderner Gesellschaften im postdigitalen Zeitalter. Die sogenannte »Selfie-Generation« (Eler 2017) ist längst nicht nur Verstärker von Aufmerksamkeit innerhalb digitaler Ego-Netzwerke, sie übt einen maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung sozialer Rollenmodelle, Identitätsskripte und politischer Denkweisen aus. In Verknüpfung mit Hashtags, Hyperlinks und Retweets überformen Selfies die digitale Bildkultur und verändern die Bedeutung konventioneller Inhalte, sie kommodifizieren als warenförmige Bildinhalte die Online-Kommunikation der Selbstthematisierung und sie formen ein kollektives Bildgedächtnis für künftige Generationen. (Salomon/Brown 2019: 539–560; Bollmer 2021: 20–39) Aufgrund ihrer niedrigschwelligen Verwobenheit mit der Alltagskultur globalen Ausmaßes sind Selfies seit mehr als einer Dekade Gegenstand einer interdisziplinären Forschung geworden. Selfies wurden in Bezug auf neue Ausprägungen sozialer Gegenwartsphänomene analysiert (exemplarisch: Matich et al. zu queer-feministischer Selbstrepräsentation, 2022: 388–400), ihre Entwicklungen wurden kritisch beurteilt (Stichwort: »Smiling in Auschwitz«, Adriaansen 2022: 105–120) und politisch verortet (exemplarisch: GreenRiley et al. über »Selfie-Protests«, 2022: 203–215), aber häufig wurden den untersuchten Bildpraktiken und ihrer Akteure nicht zugestanden, dass sie das Medien- und Bildformat »Selfie« selbst kritisch-reflektierend dekonstruieren. Diese Beobachtung nimmt dieses Buch zum Anlass, nicht nur über Selfies als eine alternative Bildpraxis der Selbstdarstellung nachzudenken, sondern das Medium »Selfie« als Ermöglichung von einer kritischen Reflexion des Selbst und seiner Praktiken des Erzählens, Zeigens und Mitteilens in den Fokus zu rücken. Dabei wird es nicht nur um eine Verschiebung des Analyserahmens gehen, sondern in einigen Kapiteln dieses Buches wird versucht, die innovative Dynamik einer kritisch-reflexiven Distanzierung

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Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

vom Selfie-Kult auf der Grundlage der Praktiken der Mediennutzung selbst sicht- und sagbar zu machen. Selfies können als ein Indikator für den medialen, gesellschaftlichen und technischen Umbruch der Bildkommunikation verstanden werden. (Murray 2021) Diese tektonische Verschiebung innerhalb der zeitgenössischen Kommunikationskultur hat in den Kultur-, Medien- und Sozialwissenschaften zur weitverbreiteten Einsicht geführt, dass Bildern in spätmodernen Gesellschaften ein wesentlicher Beitrag zur Formierung von Gesellschaft und Subjektivität eingeräumt werden muss. (Sezgin 2018; Reckwitz 2019; Jurgenson 2019; Leaver et al. 2020) Während die Selbstdarstellung im Goffman’schen Sinn der face-to-faceInteraktion (Goffman 1959) zu den menschlichen Universalien gehört, kann die reflexive Wendung der Selbstdarstellung, nämlich die Selbstthematisierung, als ein kulturelles Spezifikum der digitalen Kommunikationsgesellschaft gedeutet werden. In diesem Zusammenhang wirft das vorliegende Buch die Frage auf, ob und auf welche Weise sich die Praktiken der Identitätskonstruktion im Rahmen der Ausweitung der neuen digitalen und interaktiven Medien verändern. Mit der fortschreitenden Technisierung und Mediatisierung der visuellen Kultur (Darley 2000; van Dijck 2008: 57–76) mittels Telekommunikation- und Vernetzungsmedien sind fließende Formen der Bildproduktion von persönlicher Information entstanden, die sich durch einen fließenden Übergang zwischen Medien, technischen Verfahren, sozialen Beziehungen, Diskursen und visuellen Stilen auszeichnen. (Doy 2004; Snickars/Vonderau 2012) Mit der technischen Mobilisierung der Bilder und der fortschreitenden Verallgemeinerung der Bildkompetenz haben sich neue Formen sozialer Netze und interaktive Medienöffentlichkeiten gebildet, die zur Entstehung einer breiten Autodidaktisierung der digitalen Bildkultur geführt haben. (Hjorth 2007: 227–238; Hjorth/Burgess/Richardson 2012) Vor diesem Hintergrund kann die bildliche Selbstthematisierung entlang der wechselseitigen Beziehungen zwischen den infrastrukturellen Möglichkeiten der digitalen Medien, den digitalen Methoden der Bildforschung und den ästhetischen Praktiken der Selbstthematisierung untersucht werden. (Lasén/Gómez-Cruz 2009: 205–215)

I. Einführung

I.1.

Bildkommunikation, Bildrepertoires und Bildgedächtnis

Es kann daher von der grundlegenden These ausgegangen werden, Bildpraktiken als kommunikative und medientechnologisch vernetzte Praktiken zu verstehen. Im Zentrum dieses Ansatzes steht eine visuelle Kommunikationsanalyse, die folgende Schwerpunkte aufweist: (1) Analyse der Bildkommunikation in technisch-medialen Enviroments. Die heutige Forschung zur historischen und kulturellen Bedeutung von Bildern geht von einem erweiterten Bildverständnis aus und integriert die Praktiken der Sichtbarmachung und des Sehens in ihre Analyse. (Lobinger 2015: 37–58) Das Forschungsprojekt ist in dieser Hinsicht praxeologisch ausgerichtet und untersucht die komplexe Überlagerung ikonischer, textbasierter und informatischer Bedeutungsgeflechte, die bei der Aufnahme, der Bearbeitung, der Veröffentlichung und der Verbreitung von Selfies auf Online-Plattformen, sozialen Netzwerkseiten und Sharing-Apps entstehen. (Tiidenberg 2018) Das Projekt erkundet die Wechselbeziehungen zwischen visuellen Datenobjekten, bildlichen und diskursiven Prozessen der Bedeutungskonstruktion und Metadaten, welche die »Klassifikation und Archivierung erleichtern und die Herkunft (Urheberschaft, Eigentumsrecht und Nutzungsbedingungen) anzeigen«. (Vgl. Rubinstein/Sluis 2013: 151, Übersetzung durch den Autor.) Als Schauplatz divergierender Blickweisen und Sehkulturen werden nicht nur Bildpraktiken im engeren Sinne untersucht, sondern auch die mit ihnen eng verknüpften Kategorisierungs-, Kodierungs- und Kommentierungsverfahren (Hashtags, Emojis, Threads, GIFs, Hyperlinks) und crossmedialen/multimodalen Verbreitungs- und Analysestrategien (Social Insight, SocialRank, Hootsuite, Iconosquare, Social Media Radar), welche die Nutzer von OnlinePlattformen und Messenger-Diensten durch ihr soziales Sichtbarsein und Gesehen-werden herstellen. Als bildbasiertes Handeln (Morelock/Narita 2021) sind Selfies in die Situierung von Subjekten der Technisierung in ein performatives Geschehen (Silvestri 2021: 275–287) eingebettet. Die performativen Aspekte des Handelns mit Bildern siedeln wir auf einer multimodalen Ebene an, welche die gesamte Bandbreite der Selfie-Kommunikation und des SelfieStorytellings in mobilen und multimedialen Kommunikationsnetzwerken (schriftbasierte Texte, Hashtags, Emojis, GIFs, Hyperlinks, Threads) abdecken soll. (Mendoza 2022: 1–12) (2) Bildrepertoires und Bildgedächtnis. Bildpraktiken sind immer auch visuelle Praktiken und Selfies beziehen sich immer auf visuelle Rollenmodelle und sind im Sinne einer endlosen Folge von Referenzbilder in Bedeutungsnetze

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Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

eingebunden. Entlang dieser Perspektivierung ist im Projekt eine Interpretationsanalyse angesiedelt, die digitale Selbstbilder im Produktions- als auch im Rezeptionskontext als kommunikatives Bildhandeln »deterritorialer Gemeinschaften« (Hepp 2008) untersucht und Selfies als temporalisierte und wählbare Handlungs-, Kommunikations- und Identifikationsmuster ansieht, die im breiten Spektrum objektivierender Selbstvermessung und individualisierter Selbstinspektion neue Formen medialer Subjektivität ermöglichen. Da sich Online-Plattformen, Messenger-Dienste und Soziale Netzwerkseiten in geschlossene Kommunikationsräume ausdifferenziert haben, erforschen wir visuelle Kommunikationsskripte zum Aufbau digitaler Identität (Senft 2013, die spezifische Bildrepertoires (Silverman 1997) und Gedächtniskulturen (Budge 2020: 3–16) in unterschiedlichen Online-Kommunikationsräumen hervorgebracht haben – z.B. theatrale Selbstinszenierungen auf Instagram und Facebook und reziproke Kommunikationsformen auf WhatsApp, Twitter und Snapchat. (Ebbrecht-Hartmann/Henig 2021: 213–235) (3) Stilkommunikationsanalyse. Im Mittelpunkt der Stilkommunikationsanalyse steht die vergleichende Analyse des bildlichen Ausdrucks im Kontext bildkompositorischer Gestaltungsweisen. (Bollmer 2020) Bei der Bildanalyse wird darauf Wert gelegt, dass die unterschiedlichen Bildformen und -stile nicht von einem »kategorial festgelegten Bildbegriff« abgeleitet werden, sondern heterogenen Bildpraktiken zugeordnet werden. Mit methodenoffenen Ansätzen der qualitativ orientierten Bildforschung können die formalästhetischen Stile der Hervorhebung, der Betonung, des Verbergens und Auslassens in der Kadrierung, der Bildgenres, der Handlungsepisoden, der Interaktionskonstellationen und die Ebene der Bild-Text- und Bild-Bild-Relationen auf geschlechts-, alters- und schichtspezifische Distinktionen bezogen werden, die spezifischen Stilräumen zugeordnet werden können. (Morse 2018) Die Studie exploriert fluide und translokale Beziehungsnetzwerke, um Veränderungen im Bildbestand und damit zusammenhängende Nutzungs-, Aneignungs- und Interaktionsmuster dokumentieren zu können. Dieser Ansatz ermöglicht die Kategorienbildung und eine mögliche Sondierung visueller Verwandtschaften, die sowohl synchron (im Vergleich mit anderen digitalen Selbstporträts auf Online-Plattformen) als auch diachron (im Vergleich mit kulturellen Bildrepertoires und historischen Referenzbildern) erschlossen werden können. So gesehen kann die Bildevidenz der Selfies nach ihren kulturellen und historischen Bedingtheiten befragt werden. Das Kernstück der vorliegenden Forschungsarbeit ist die systematische Verknüpfung der unterschiedlichen Theorie- und Methodenansätze: Wie kann

I. Einführung

der Einfluss von technisch-medialen Enviroments der Social-Media-Apps auf die Interaktions- und Verhandlungsorte subjektzentrierter Bildkommunikation methodisch nachgewiesen werden? (Helmond 2015: 1–11) Auf welche Weise schaffen plattformbasierte Bedingungen wie das Abonnenten-Prinzip oder die Hashtagging-Funktion globalisierte Kommunikationsräume (Bossio/McCosker 2021: 634–647) einer Bedeutungszunahme des kommunikativen Handelns mit Bildern, neue ikonische Inszenierungsstile (»Gesprächsbilder«, Halter 2015: 3) oder konventionelle Bildrepertoires und Geschlechterstereotypen? (Williams/Moody 2019: 366–384; Grindstaff/Valencia 2021: 733–750) Kann das Selfie-Phänomen als ein Paradigmenwechsel in der Entwicklung einer globalen Öffentlichkeit verstanden werden, wenn heute Selfies wie Emoticons zu einer ›Weltsprache‹ geworden sind und sich »erstmals in der Geschichte der Menschheit eine universal gültige Form der Kommunikation etabliert«? (Ullrich 2019 40) Das Ziel des Forschungsprojektes ist es, eine theoretisch begründete und empirisch gesicherte Studie durchzuführen, die aufzeigen kann, dass ein erweiterter Methodenrahmen aus Bild-, Medien- und Kommunikationswissenschaft zur systematischen Erforschung von Bildkulturen in den Sozialen Medien beitragen kann. In diesem Sinne distanziert sich das Konzept der bildlichen Selbstthematisierung von der Annahme einer hypostasierten Selbstbezüglichkeit, darin Medien lediglich als Werkzeuge zur Darstellung eines lebensweltlich bereits gegebenen Subjekts betrachtet werden. In Anlehnung an die Forschungsansätze zur »automedialen Biografie« (Dünne/Moser 2008) gestehen wir dem Medium eine konstituierende Bedeutung im Prozess der Subjektkonstitution zu und können daher nach einer sich medial im Aufnehmen, Speichern und Verbreiten konstituierenden Selbstbezüglichkeit fragen. Eine Identitäts- und Subjektforschung, die den Einfluss des Mediums auf den Vorgang der Subjektivierung als eigenständige Forschungsfrage und als wissenschaftliches Arbeitsfeld ansieht, lenkt den Blick auf das, was in den medialen Analysen der Subjektivität mit den Analysebegriffen »Dispositiv« (Engell 2000: 282) und »mediale Reflexivität« (Mersch 2008: 133) beschrieben wird. Sie lenkt den Blick auf die Medialität des Mediums und untersucht die Ermöglichung von historischen Erinnerungsorten und sozialen Bildkulturen mittels medialer Anordnungen, Verfahren und Formate. (Nora 1989; Galloway 2004) Die ästhetischen Praktiken der Identitätskonstruktion in Online-Medien medialisieren nicht nur individuelle Subjektentwürfe, sondern resemantisieren auch kollektive Erinnerungsorte (Wight/Stanley 2022: 1–15), die vermittels der Selfies als ›privatisierbar‹ in Aussicht gestellt werden. Die Studie von Samantha

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Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

Hinckley und Christin Zühlke stellt Reaktionen der Öffentlichkeit auf Selfies an Holocaust-Gedenkorten nach der Veröffentlichung in den sozialen Medien gegenüber und zielt darauf ab »Selfies als Mikro- als auch Makrogeschichten [zu betrachten], die Realität und virtuelle Realität und eine Verschiebung traditioneller Arten der Gedächtnisbildung beinhalten.« (Hinckley/Zühlke 2022: 4; Übersetzung durch den Autor) Die produktive Verknüpfung dieser beiden Ansätze bildet den methodischen und forschungsleitenden Kern der vorliegenden Selfie-Analyse.

I.2.

Digitale Ästhetik

Vor diesem Hintergrund können z.B. die ästhetischen Formen der Selbstinszenierung (self-staging), die das Selbst in den Mittelpunkt rücken und die mit Hilfe dieser Selbstdokumentation provozierte mediale Nähe (closeness) zum Aufnahmemedium (arm-length away) der Smartphone-Fotografie thematisiert werden. Die digitalen Medien der Selbstdokumentation vermittels der Smartphone-Technologien der permanenten Konnektivität und ihrer räumlichen Annotationen (Snapchat u.a.) eröffnen auch neuartige Handlungsräume für Selbstmodellierungen, insofern die Selbstbilder immer auch in digitale Gebrauchskontexte – Tracking (Robards et al. 2021: 2616–2633), Gamification (Bossetta 2022: 304–308) und Surveillance (Murray 2021: 1–19) – verwoben sind. Die kommerziell motivierte Adressierung der User als Produzenten ihres eigenen Selbstbildes (Do-it-yourself-Ästhetik) darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Selfies immer auch in digitalen Medienkulturen verortet werden und innerhalb der Ökonomien der digitalen Vernetzung vermittels der Clicks, Likes, Tags und Comments mit den Kulturtechniken des Benennens, Sammelns, Auswertens und Zählens verknüpft sind (vgl. den Aspekt der Medialisierung als Ritual und die damit einhergehende Standardisierung der Selbstdarstellung, z.B. #tbt, #after sex, #museumselfie). Auch die vereinfachten Möglichkeiten zur multimedialen Selbstveröffentlichung im Internet ermöglichen neue Formen infrastruktureller Aneignung und kollektiver Vernetzung. Kennzeichnend für die niedrigschwellige und zeitsparende Produktion von Selbstbildern ist die Kultur des Selbermachens. Diese Kultur des Selbermachens eröffnet nicht ein neues Wechselverhältnis von Praktiken des Selbstbezugs und medialen Technologien, sondern beeinflusst auch als ästhetisches Mittel die Repräsentationen des Selbst. Diese

I. Einführung

können als zusätzlicher Gegenstand der Untersuchung als bildkulturelle Elemente, Formen und Formate hinsichtlich ihrer historischen, kulturellen und medialen Subjektkonstruktion aufgefasst werden: »As an emblematic part of the social media’s increased »visual turn,« selfies provide opportunities for scholars to develop best practices for interpreting images online in rigorous ways.« (Senft 2013 Vor diesem Hintergrund können die Selfies hinsichtlich ihrer genrespezifischen Kultivierungsaspekte und ihrer Bezüge zu medienspezifischen Formaten untersucht werden. In diesem Sinne wurden Portfolios genre- und formatund medienspezifischer Bildkulturen erstellt, um daran anknüpfend die Frage aufzuwerfen, welchen netzwerkspezifischen Stellenwert Selfies in der Zirkulationssphäre von Social-Media-Plattformen aufweisen können. Das vorliegende Buch versteht sich daher sowohl als eine medien- und subjekttheoretische, bildkulturelle als auch eine kommunikationssoziologische Erweiterung der Arbeiten von Turkle (1995, 2012) und versteht Selfies als Ermöglichungen visueller Kommunikation, mit denen spezifische Handlungsorientierungen, bildästhetische Subjektmodelle und die soziale Integration für medialisierte Selbstthematisierungen bereitgestellt werden. Davon ausgehend wird hier das Verhältnis zu den medialen Handlungsund Ausdrucksmitteln, mit denen Individuen im Kontext gesellschaftlicher Anforderungen ihre eigene Subjektivität modellieren, untersucht werden. Die Diskussion um den erkenntnistheoretischen und sozialtheoretischen Status des Bildes, die unter verschiedenen Namen wie dem »Pictorial Turn«, dem »Iconic Turn«, dem »Visual Turn« oder den »Visual Methods« seit Anfang der 1990er Jahre intensiv geführt wird, soll im vorliegenden Buch in die Fragestellung münden, inwiefern Bilder und Bildmedien dazu beitragen, Personen bzw. Subjekte darzustellen, zu prägen und dadurch umzuformen. Dementsprechend können Selfies als Formate des Kommunizierens thematisiert werden und damit kann ein Zugang zu den institutionellen Verfestigungen kommunikativer Handlungen erschlossen werden. Mit dieser Prämisse lassen sich die rekurrenten Merkmale der Selfies auf der Ebene von bildästhetischen Konventionen, semantischen Kodierungen, medialen Dispositiven und stereotypen Interaktionsstrukturen eingehend beobachten. Was das Format der Selfies analytisch besonders reizvoll macht, ist der Umstand, dass die Analyse der kommunikativen Formen von Selfies 1) die durch Medientechniken veränderte Medialisierung des Selbst aufzeigen kann und 2) die individuellen Verflüssigungen technologischer Dispositive und sozialer Rahmungen zu problematisieren vermag. In diesem Sinne ist die

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Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

Geschichte der menschlichen Subjektivität eng mit den unterschiedlichen medialen Vermittlungsformen verknüpft und kann in mündliche, schriftliche, massenmediale und individualmediale Formen der Selbstthematisierung unterschieden werden. Mündliche Selbstthematisierungsformen zeichnen sich durch Kopräsenz und eine Interaktion des Face-to-Face aus, schriftliche Formen wie die Autobiographie und das Tagebuch sehen das Schreiben als substitutive Praxis für eine praktische Orientierung, oder machen das Handeln zum Schauplatz biografischer Rechtfertigung (Ricoeur 2002, 2004). Im Zuge der Pluralisierung der Massenmedien insbesondere durch ihre Privatisierung deutet sich eine neue Form der Selbstthematisierung an. Zunehmend wird das Private zu einer (Aufmerksamkeits-)Ressource, so dass die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen gesprengt werden. Die Intimsphäre, das persönliche Bekenntnis, die inszenatorische Selbstdarstellung u.a.m. werden zu Themen mehr oder weniger neuer massenmedialer Formate, die sich auf die interaktiven Online-Medien ausdehnen. In dieser Sichtweise können die digitalen Netzwerke immer auch als mediale Anordnungen verstanden werden, die auf die beteiligten Akteure institutionellen und normativen Druck ausüben, sich am Prozess der Selbstthematisierung zu beteiligen. Vor diesem Hintergrund wird die als mach- und planbar wahrgenommene Lebensgeschichte zum Gegenstand medialer Erzählstrategien, mit denen versucht wird, das eigene Leben vermittels narrativer Identitätsskripte, »multimedialer Medienformate« (Doy 2004; Reichert 2008: 47) und Formen genderbasierter Inszenierungen zu verorten. Alois Hahn bezeichnet die kommunikativen Institutionen der Selbstthematisierung als »Biografiegeneratoren« (Hahn 1987: 12) und verweist auf ihre Bedeutung für die praktischen Selbstverhältnisse der Individuen. Sowohl die individualisierten Arten der reflexiven Selbstdarstellung als auch jene Selbstthematisierungen, die durch institutionelle Vorgaben strukturiert sind, dienen einerseits der lebensweltlichen Orientierung in der alltäglichen Lebensführung, fungieren aber auch als gesellschaftlicher Mechanismus zur Normalisierung, Integration und sozialen Kontrolle. In diesem Sinne gehören automediale Dokumentationsverfahren wie die Selfies auch zu den kollektiv geteilten Leitbildern der Gegenwartsgesellschaft und können im Bezugsrahmen einer historisch langfristigen Etablierung kommunikativer Institutionen und Normen der Selbstthematisierung verortet werden. In dieser Hinsicht sind es nicht nur die Einzelnen, die sich selbst zum Thema von Kommunikation und damit zum Gegenstand des Wissens machen, sondern sozial habitualisierte Formen der Kommunikation, die das

I. Einführung

Individuum in ein bestimmtes Verhältnis zu anderen und dadurch zu sich selbst setzen. Das Subjekt kann also erst dann zu einem Vorbild des Handelns und zu einem Gegenstand des Wissens werden, wenn in einer Gesellschaft entsprechende institutionelle Rahmenbedingungen vorhanden sind, die das Subjekt im Allgemeinen als ursächliches Agens der Selbstthematisierung adressieren. Die stilistischen Merkmale der visuellen Selbstdarstellung verweisen demnach weniger auf eine Individualität von Subjekten, sondern auf historische und sozial bedingte Subjektivierungsweisen, die unter anderem an der Verwendung der Selfies ablesbar werden. Im Anschluss an diese Forschungen beabsichtigt das Buchprojekt zur Untersuchung bildbezogener Selbstthematisierung in den Sozialen Medien des Web 2.0, einen disziplinenübergreifenden Beitrag zur digitalen Nutzungsforschung zu leisten. Dieser Beitrag besteht (1) aus der datenkritischen Reflexion der gängigen Technologien, Ressourcen und Analyse-Tools der nativ-digitalen Webanalyse und der Social-Media-Analyse (van Dijck 2013), (2) aus der Entwicklung von methodologischen Grundlagen zur Analyse von Bildobjekten im Internet, mit denen quellenkritische Standards für visuelle Selbstthematisierungen entwickelt werden sollen und leitet sich (3) aus dem zeitdiagnostischen Anspruch ab, den Stellenwert der digitalen Bild- und Kommunikationsmedien bei der Herausbildung medial vermittelter Subjektivität zu elaborieren. Dabei handelt es sich um den Versuch der Erklärung für das Phänomen, dass durch Bild-Text-Verschränkungen besonders wirkungsvolle Evidenzeffekte erzeugt werden. In diesem Zusammenhang werden die technisch-medialen Infrastrukturen, die zunehmende Durchdringung von Bild, Text und Materialität durch Informations- und Verbreitungstechnologien und ihre multimodalen Kommunikationsformen ebenso in Betracht gezogen wie die nutzerbedingten Gebrauchskulturen. (Morse 2018; Corfman 2022: 101–186) Mediatisierte Kommunikation motiviert Individuen zur Selbstthematisierung und aktiviert personalisiertes Medienhandeln (Schultermandl 2022: 9–21). Diese These wird auch von Olu Jenzen (2022) gestützt, die sich mit der visuellen Selbstdarstellung in LGBTQ+-Jugendkulturen befasst hat und darauf verweist, dass LGBTQ+-Jugendliche ihre Identitätsarbeit plattformübergreifend kuratieren. Vor diesem Hintergrund können Selfies als visuelle Praxis von Jugendidentitätsarbeit, affektiver/phatischer Kommunikation, Gemeinschaftsbildung und Öffentlichkeitsvernetzung untersucht werden.

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Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

Weitere Studien zeigen im Fall der Internetkommunikation auf, dass sich im Kontext der gegenwärtigen gesellschaftlichen, medien- und technikbasierten Umbrüche Subjektbefragungen herausbilden, welche die Sozialen Netzwerkseiten als mediatisierte Interaktionsorte jugendkultureller Thematisierungen von fluiden Subjektentwürfen in bildkommunizierenden Experimentalkulturen nutzen. (Mazzarella 2022: 311–318; Sherry 2022: 97–110) So bedeutend diese partizipatorischen Kommunikationsstrukturen auch sein mögen, sollte man ihre ökonomischen und politischen Interdependenzen nicht vernachlässigen, sondern als formatbedingende Praxis der Selbstthematisierung betrachten, die möglicherweise wieder zur Herausbildung von gemeinsam geteilten Kodierungen und diskursiven Rahmungen von sozialen Dynamiken führen können. Mit einer deutlich erkennbaren Sensibilität für diesen technologischen wie sozialen Umbruch, der auch neue ästhetische Einsätze verlangt, können bildästhetische und mediendispositive Forschungsperspektiven zusammengeführt werden, um herauszufinden, inwiefern Selfies als performative Medien verstanden werden können.

I.3.

Strategien der Dissemination

In Anknüpfung an die performative Handlungstheorie von Erika Fischer-Lichte (2002; 2004) wird im Projektzusammenhang der Begriff des Performativen verwendet, um die prozessuale Aufführungs-, Vollzugs- und Transformationspraxis von visuellen Selbstthematisierungen aufzeigen zu können. In den vernetzten digitalen Kommunikationsräumen haben sich interaktive Mediensysteme und damit einhergehend kollektive und kollaborative Medienpraktiken der »Automedialität« (Dünne/Moser 2008) herausgebildet, die sämtliche Bereiche der Herstellung, Verbreitung, Nutzung und Bewertung von Medieninhalten umfassen. Aus performativer Perspektive kann folglich eine dynamische und sich provisorisch gebende Bedeutungsproduktion der Sozialen Medien des Web 2.0 freigelegt werden, mit welcher die Produktivität und die Prozessualität kollaborativer Praktiken in den Analysefokus einrückt. Im vorliegenden Buch wird es darum gehen, die visuellen Selbstthematisierungen im Kontext von drei unterschiedlichen Performativitätsstrategien methodologisch zu verorten: (1) In der Auseinandersetzung mit den von User/innen generierten Selfies geht es um die Frage, welche performative Rolle die Initiatoren von visuellen Uploads einnehmen. Welchen Stellenwert haben kollektive und kollaborative

I. Einführung

Rahmungsprozesse in Bezug auf die Bedeutungsproduktion, Ausverhandlung und Distribution von Selfies in Onlineportalen und Social Media-Formaten? (2) Die in der Internetkultur ausgeprägte Tendenz zur Resignifizierung und Reiteration von bereits bestehenden Inhalten (Mashup, Remix) verweist auf einen Aspekt des Performativen, der Ausdruck von kollaborativen Rahmungsprozessen ist, die sich keinem intersubjektiv kontrollierbaren Diskursfeld subsumieren lassen. In diesem Sinne erweist sich »die produktive Kraft des Performativen nicht einfach darin, etwas zu erschaffen, sondern darin, mit dem, was wir nicht selbst hervorgebracht haben, umzugehen«. (Krämer 1998: 48) So gesehen kann der performative Vollzug als Überschuss von Bedeutung verstanden werden, der nicht nur eine neue performative Rahmung realisiert, sondern rückwirkend auch den bereits bestehenden Inhalt modifiziert. (3) Performative Prozesse im Internet sind das Resultat technischer Ermöglichung. Speziell sind es die computergestützten Informations- und Kommunikationstechnologien, welche die Modi, die Geltung und die Verbreitung der von User/innen generierten Inhalte regulieren. Folglich sind die Netzmedien und ihr technisch generierter Handlungsvollzug an der Produktion von Sinn und Bedeutung maßgeblich beteiligt und müssen in die Methodologie der Untersuchung performativer Prozesse integriert werden. Ausgehend vom Befund, dass in einer performativen Gegenwartskultur Aufführungen, Inszenierungen und Rituale an Bedeutung gewinnen, kann folglich die Annahme vertreten werden, dass Bilder in der Inszenierung und Wahrnehmung des Subjekts eine immer stärkere Rolle spielen. In diesem szenisch-prozessualen Spannungsverhältnis zwischen den dinglich-medialen Konfigurationen, die mit den Smartphones und Tablets in alltägliche Medienpraktiken expandieren, und den Subjektentwürfen mischen sich individuelle mit kollektiven Bildern, die auf die kulturelle Dimension von Bildlichkeit, Performativität und Sozialität verweisen. In welchem Maße von einer »Ikonologie des Performativen« (Panofsky 1964) oder von einer ikonischen Analyse (Imdahl 1994: 300–324) gesprochen werden kann, die auf konstitutiv kulturellen oder kunst- oder kulturhistorischen Aspekte bzw. auf ihre sozialen und politischen Implikationen befragt werden kann (Bohnsack 2001), versucht das vorliegende Buch in struktureller, historischer und methodischer Hinsicht zu beantworten. Zur Sprache kommen dabei sowohl kulturspezifische wie kulturübergreifende Bildmuster szenischer Arrangements bedeutungsgeladener Gesten und Haltungen im Bild, die in kollektiven Bildräumen geteilt werden. In

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Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

dieser Hinsicht wird gleichermaßen die Performativität im Bild als auch das Bild als performatives Medium untersucht. Allerdings muss in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden, dass im Zeitalter der digitalen Vernetzungsmedien Bildlichkeit in den computerbasierten Medien weniger als etwas zu verstehen ist, dass der Repräsentation entspringt, sondern vielmehr aus der Pragmatik und der Performativität abgeleitet werden kann. Hierbei kann die Annahme verfolgt werden, dass allein schon das Auftreten der neuen Medien zu einem Wandel der kommunikativen Formen der Selbstthematisierung führt, dass sich also, um mit Mike Sandbothe zu sprechen, »das Bild nicht nur semantisch, sondern auch und vor allem pragmatisch, das heißt durch einen einfachen Mausklick auf andere Zeichen und vermittelt über diese auf virtuelle oder reale Handlungskontexte verweist.« (Sandbothe 2001: 193) Mit dieser Einschätzung verweist Sandbothe in einem doppelten Sinn darauf, dass wir im Gebrauch der Bilder immer etwas vollziehen und dass Bilder, die im Internet zirkulieren, immer auch Teil eines operativen Kodes sind, der die Aktion mit der Repräsentation irreduzibel überlagert. Vor dem Hintergrund dieses Forschungsstandes zur digitalen Bildkultur nimmt das Projekt in methodischer Hinsicht die Bildhaftigkeit sozialer Interaktionen zum Anlass, um die Gattungs- und Diskursanalyse visueller Kulturtechniken weiterzuentwickeln, indem es den ikonologischen mit einem technologisch-pragmatischen Ansatz verbindet und darauf verweist, dass die mobile und smarte Technikentwicklung im Bereich der fotografischen Aufzeichnung durch drahtlos vernetzte Smartphones und Tablets nebst weiterer mobiler Medien, die mit dem Internet eine neuartige Verbreitungsform aufweist, eine mediatisierte Ästhetik des Selbst etabliert. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass viele Formate, die mit den partizipativen Möglichkeiten der mobilen Netzwerkgesellschaft entstanden sind, technische, ökonomische und sozialstrukturelle Rahmenbedingungen für die Thematisierung von Subjekten geschaffen haben, was man als visuelle Kultur der Selbstthematisierung bezeichnen kann. Ein genaueres Verständnis dieses Verhältnisses kann aber erst gewonnen werden, wenn deutlich wird, auf welche Weise die visuelle Praxis und Ästhetik der fotografischen Selbstdarstellung mit der Vernetzungskultur der Sozialen Medien zusammenwirken. Die medialen Strukturen der Selbstthematisierungsformen sind nicht nur Resultate fortschreitender Technikentwicklung und individualisierter Kommunikationsformen, sondern resultieren in der historischen Perspektive ihrer Herausbildung aus technikbasierten Vorgaben von Organisations- und Regierungsformen des Sozialen, die gegenwärtig durch webbasierte Institu-

I. Einführung

tionen getragen wird, die es mit den im Folgenden dargestellten Methoden zu untersuchen gilt.

I.4.

Methoden der digitalen Bildforschung

Die Bildforschung richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Frage, welchen Stellenwert Bilder als eigenständige Medien bei der Konstitution von Bedeutungsgeschehen in Bezug auf Subjektivität aufweisen können. (Sachs-Hombach 2003: 157–190; Mitchell 1986, 2005; Bredekamp 2010: 25–56) Die Bildforschung zur visuellen Selbstthematisierung im Web 2.0 nimmt diese Grundproblematik der Visuellen Kultur zum Ausgangspunkt, um das gegenwärtige Verhältnis von Bild und Subjekt mittels digitaler Methoden zu erforschen. (Lehner 2021b) Die hier avisierte Bildforschung verortet ihre bildwissenschaftlichen Fragestellungen grundsätzlich an der Schnittstelle von Bildhandeln und Bildästhetik und knüpft an die Forschungsmethode der Intervisualität an: »In the […] visual image, intertextuality is not simply a matter of interlocking texts but of interacting and interdependent modes of visuality that I shall call intervisuality.« (Mirzoeff 1998: 209) Diese Sichtweise verfolgt den methodischen Anspruch, Intervisualität als eine spezifische Art der Intermedialität der visuellen Medien aufzufassen und versteht das Selbst als eine Transformation von Darstellungs- und Wahrnehmungskonventionen, die den Beteiligten eine Medienreflexion im Mediengebrauch zugesteht. Daher kann die bildliche Selbstthematisierung immer auch als eine reflektierende Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Möglichkeit von medialisierter Subjektivität angesehen werden. Dieser Forschungsansatz integriert schließlich eine der zentralen Grundannahmen bildpragmatischer Ansätze, die sich mit dem Wahrnehmungs- und Handlungsgeschehen zwischen Bild und Betrachter beschäftigen (Barthes 1985, 1990) und wirft folgende Fragen auf: (1) Inwiefern vollziehen Bildproduzenten an und mit Bildern Handlungen und (2) Wie erlangen Bilder in dinglich-medialen Beziehungsgefügen Handlungspotential und auf welche Weise werden sie zu Agenten von bestimmten Bildpraktiken? (3) Kann die Agency der Bilder, d.h. ihre Handlungsfähigkeit, mit Hilfe der genuinen Verfahrensweisen digitaler Medien erhoben werden? Die Eingrenzung des Gegenstands und die Erstellung des Quellenkorpus soll stufenweise auf zwei Ebenen umgesetzt werden. Auf der Basis von Daten, die (automatisch) durch Software erhoben werden, sollen die medialen Bedingungen der Möglichkeit von digitaler Subjektivierung diagnostiziert

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und anhand der Nutzung des Internets kulturelle Veränderungen und gesellschaftliche Sachverhalte thematisiert werden. Der Quellenkorpus wird mit Hilfe von genuin digitalen Tools aus öffentlich zugänglichen Datenbeständen der Plattformen Facebook, Twitter, Imgur, Reddit, Snapchat, Instagram, Google+, Flickr, Pinterest, Foursquare und Tumblr erhoben. Datensamples werden auf der Grundlage von digitalen Nutzungspraktiken auf sozialen Plattformaktivitäten erschlossen, wenn Bildinhalte beispielsweise mit Likes, Favs, Retweets, Links, Hashtags, Reports oder Mentions konnotiert werden. Da analoge Methoden, die zur Erforschung interpersonaler oder Massenkommunikation entwickelt wurden (wie zum Beispiel Online-Fragebögen), nicht einfach auf die Kommunikationspraktiken im Social Net übertragen werden können, machen wir uns die computergestützten Verfahren zunutze, um große Mengen von digitalen Kommunikationsdaten zu erheben, zu filtern, aufzubereiten und zu modellieren. Zur Analyse der digitalen Bildkommunikation gehört dementsprechend auch die Berücksichtigung der Speicherungs-, Thesaurierungs-, und Feedbackstrukturen, die in unterschiedlichen Bereichen der Alltags- und Populärkultur zur Anwendung kommen. Feedbacksysteme, Leistungsvergleiche, Qualitätsrankings, Monitoring, Matching, Benchmarking, statistische Kontrollen, flexible Prozesssteuerungen, Selbsterfahrungskatalysatoren, Zufriedenheitsmessungen – systemisch-kybernetische Kontrollfunktionen und Beobachtungszusammenhänge wechselseitiger Bewertung und Beurteilung sind Funktionselemente der Medientechnologie des Web 2.0. (Murray 2021) Dabei sollte auch berücksichtigt werden, dass unterschiedliche Plattformen zur Verbreitung von Videos eine sozialstrukturelle Ungleichheitsdimension aufweisen: Akteure verbreiten ihre Selbstdarstellungen je nach Klassen- und Bildungslage beispielsweise durch unterschiedliche Social Networking Sites. Eine weitere Herausforderung bestand in der Erforschung des visuellen Materials in der forschungspragmatischen Sichtung und Auswahl der unübersehbaren Menge von öffentlich zugänglichem Bildmaterial. Um dieses Problem zu lösen, wurden nur visuelle Artefakte in die Analyse einbezogen, die von ihren Herstellern explizit oder von ihrem Publikum implizit als Selbstthematisierungen bezeichnet werden. Folglich wurden nur öffentlich zugängliche und damit frei verfügbare Selfies ausgesucht, für die eine Autorschaft beansprucht wird, in denen die Protagonisten also sich selbst thematisierten. Angesichts der Verbreitung der erörterten Darstellungsformen des Selbst sollte über die Frage Aufschluss gewonnen werden, auf welche Weise die Figurationen der digitalen Bildpraktiken als neue Signifikationsprozesse des Selbst interpretiert werden können.

I. Einführung

Für die Erschließung eines umfassenden und heterogenen Bildkorpus wurden sowohl die Methoden der seriellen als auch der exemplarischen Bildanalyse herangezogen. Die Thesenbildung der digitalen Bildforschung hat sich die theoretischen und methodischen Angebote von verwandten Disziplinen nutzbar gemacht. Ihre Grundlagen wurden aus der interdisziplinären Methodenreflexion zur Visualitätsforschung in den Forschungskontexten der visualisierten »Intertextualität« (Mirzoeff 2002: 24), der »Intermedialität« und ihren multimodalen Beziehungen von Kommunikationsformen und deren Zeichensystemen (Mitchell 1995: 5), »Interdiskursivität« (Parr 2020: 234–237), der »Interpiktorialität« (Iskenmeier 2013) und der »Interikonizität« mit ihren Referenzen materieller Abbilder auf andere Präbilder im Sinne des ikonischen Zeichens (Bosch 2022: 1–16) bezogen. Die Bildquellen und ihre Bild-Bild-Bezüge stehen im Zentrum der Untersuchung und sollen nicht mehr illustrativ, sondern aus interdisziplinärer Multiperspektive analytisch entlang von Fallstudien beschrieben werden. Untersucht werden das Verhältnis zu medien-, kunst- und kulturtheoretischen Konzepten – wie dem der Intertextualität, der Intermedialität oder der Interikonizität –, die methodischen Implikationen des Begriffs der Interpiktorialität sowie die historisch und medial spezifischen Ausprägungen interpiktorialer Verweise von der Fotografie zum Bewegtbild, von der bildenden Kunst zum technischen Bild u.v.a.m. Im historischen Vergleich macht die digitale Bildforschung festgelegte Semantiken, ikonographische Darstellungskonventionen sowie Aspekte von Materialität und Medium sichtbar. Für eine perspektivenreiche Theorie der Interikonizität erscheint aber die klassische Motivgeschichte als zu eng gefasst. Vielmehr muss sie offen sein für eine Vielfalt möglicher Bedeutungen und Bezüge, um einer bloßen Rekanonisierung von »Schlüsselbildern«, die zu einer kulturellen Institutionalisierung von visuellen Alltagspraktiken führt, zu entgehen. Folglich muss eine Interikonizität also in der Lage sein, Verbindungen zu beschreiben, die auf anderen Ebenen als der formalen und der visuellen angesiedelt ist. In diesem Sinne geht es in der seriellen Bildanalyse nicht um die Konstruktion einer akademischen kunst- und kulturgeschichtlichen Filiation des Selfie zum Vorbild, sondern um die heuristische Bildfindung einer grundsätzlichen Unabgeschlossenheit und medialen Vielfältigkeit von digitalen Objekten, das die multiplen Verbindungen anerkennt, die nicht nur im künstlerischen oder gebrauchsgrafischen Zusammenhang kursierte, sondern auf ein alltäglich-bildbezogenes Handeln in der Peergroup-Kommunikation auf In-

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ternet-Plattformen eingeht, das die interpiktoriale Transformation zwischen high und low integriert. Es ist daher notwendig, Aspekte wie Material, Medium und insbesondere Medienwechsel zu betrachten. Auch dies ist ein Beispiel dafür, dass es nicht ausreicht, auf einer formalen Ebene Bild und Vorbild zu ermitteln und es dabei bewenden zu lassen. Daher müssen auch massenmediale und populärkulturelle Bildlichkeiten einbezogen werden. (Lehner 2021a) Gemeinsam mit der visuellen Diskursanalyse konzentriert sich die digitale Bildforschung auf umfassende Bildkorpora statt auf einzelne ikonische Darstellungen, um (a) ein Netzwerk von sozial geteilten Motivgruppen und Darstellungsweisen zu generieren, die (b) vergleichend in ihrer historischen Dimension kontextualisiert werden sollen. Das Vorgehen der seriellen Fotoanalysen ist daher auf einer diachronen Ebene und auf einer synchronen Ebene angesiedelt: (1) Im diachronen Vergleich können die intertextuellen, intermedialen und intervisuellen Bezüge der Bilder, die in der Bedeutungskonstitution wesentlich sind, miteinander vergleichbar werden. Die Bildanalyse orientiert sich an der Ikonizität des Dargestellten und untersucht Selfies als sozial geteilte und historisch tradierte Referenzbilder, mit deren Wiedererkennen sie bestimmte Erinnerungsinhalte aktualisieren. Es sollen neben den Bezugsverhältnissen von Bildmotiven, Bildreihen, Stilanlehnungen auch Formen der Zitierung signifikanter Gesten und prägnanter Figurenkonstellationen über die Gestaltähnlichkeit von Figuren auch stilistische Anlehnungen an Epochen und Dramaturgien des Visuellen nachgewiesen werden. (2) Der synchrone Vergleich der seriellen Bildforschung rekonstruiert hingegen die sozialen Netzwerkbeziehungen des plattformspezifischen Bildmaterials und setzt diese miteinander in Beziehung. Der hiermit zur Anwendung kommende kontrastierende Vergleich differenziert Bilder und bildbezogenes Handeln aus unterschiedlichen Netzkulturen der PeergroupKommunikation. Schließlich sollen die dem Forschungsdesign entsprechenden Datensamples mit Hilfe einer Überprüfung an erweiterten Bildbeständen und einer nachträglichen Kontexterhebung zur Sicherung unterschiedlicher Perspektiven sondiert werden. Die mediale Ermöglichung und Anordnung digitaler Objekte liefert aber kein Abbild des menschlichen Verhaltens oder sozialer Sachverhalte jenseits ihrer Software. Eine datenzentrierte Perspektive vernachlässigt daher den Beitrag der Nutzer im Umgang mit dem Medium. Denn Daten sind immer auch das Ergebnis sozial und kulturell ausdifferenzierter Gebrauchsweisen (Gi-

I. Einführung

telman/Jackson 2013). Um den Umgang der Objekte mit dem Medium, den die Nutzer mit Hilfe ihrer Reflexivität einbringen, erheben zu können, benötigen wir also eine zweite Forschungsperspektive zur Erstellung und Erhebung des Quellenkorpus. Begleitend zur seriellen Bildanalyse erforschen wir in exemplarischen Case Studies daher die visuellen Diskurse des reflexiven Self Staging. Die in unserem Forschungsdesign festgelegte Methodologie der digitalen Bilderhebung geht davon aus, dass Mediendispositive und technische Infrastrukturen zwar die digitale Bildproduktion maßgeblich formieren, aber auch Kommunikationsräume eines reflexiven Bildgebrauchs eröffnen. Michael Koliska und Jessica Roberts zeigen in ihrer Studie »Reimagining Selfies as Thirdspace« (2021: 1–10), dass Akteure, die Selfies herstellen und verbreiten, Bedeutungsherstellungsprozesse in Gang setzen, die Orte involvieren. Die in Selfies abgebildeten Orte sind mit einem affektiven Begehren aufgeladen, sich mit einem spezifischen Ort zu assoziieren. Selfies treffen folglich eine Aussage, die diesen Ort und die mit ihm verbundene dominante Bedeutung in Frage stellt. Sie schaffen eine neue Bedeutung in Bezug auf den Ort und das Selbst, das sich diesen Ort auf eine radikal subjektive Weise aneignet. Koliska und Roberts argumentieren, dass digitale Akteure mit Hilfe ihrer visuellen Aufzeichnungs-, Speicherund Verbreitungsmedien das kollektiv geteilte Bildrepertoire von kulturell bedeutsamen Orten transformieren. Sie tragen zur Konstruktion von Orten bei und werden motiviert, sich selbst an diesen Orten einzubringen. Dabei entwickeln sie alternative oder personalisierte Perspektiven dieser Orte und vermischen diese geographische Repräsentation mit ihren (radikal subjektiven) Erzählungen und Darstellungsweisen. In Bezug auf eine reflexive Metaebene setzen sich Selfie-Diskurse mit den dominanten Bedeutungen historisch bedeutsamer Erinnerungsorte auseinander und versuchen, minoritäre, dissidente oder oppositionelle Bedeutungsverschiebungen zu entwickeln. Die praxeologische Befragung der Bilder distanziert sich von einer Vermessung des Sozialen und befasst sich mit der Reflexivität der sozialen Akteure auf sozialen Netzwerkseiten und versucht, deren Reflexivität möglicher Ordnungen oder möglicher Konsequenzen in der ästhetischen Praxis der Bildproduktion zu verorten. Dieser Ansatz vermag aufzuzeigen, inwiefern Selfies auf Reflexionsformen verweisen, die nicht immer eindeutig lesbar sind, nicht auf die formale Genauigkeit repräsentativer Aussagen hochgerechnet werden können und eher auf die Erzeugung spieltaktischer Effekte und experimenteller Situationen seitens der Bildproduzenten verweisen.

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Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

In einem letzten Schritt geht es darum, auch diese Beobachterrolle abzustreifen und Reflexionsformen in die Bildanalyse einzuführen. In den Einzelbildanalysen rekurrieren wir auf die der antiken Rhetorik entnommenen Figur der Ekphrasis (vgl. Barthes 1988: 33; Mitchell 2008) als der genauen Beschreibung eines Bildes, die eine imaginative Doppelung als performative, verschiebende Wirkung schaffen soll. Da Selfies in den Kommunikationsräumen des Social Net in vielschichtige Text-Bild-Hybridbildungen eingebettet sind, bietet die Theorie der Ekphrasis, die in der Intermedialitätsdiskussion zu einem bevorzugten Gegenstand geworden ist, einen vielversprechenden Ansatz. (Vgl. das Konzept der »Imagetexte« in Mitchell 1994; ähnlich der Begriff des »Ikonotextes« in Wagner 1995 und 1996: 1–40) In ausführlichen Bildbesprechungen sollen drei Formen einer imaginativen Bedeutungsverschiebung erprobt werden: (1) in der Auseinandersetzung mit ihren paratextuellen Rahmungen (Bildüberschriften, Bildkommentare u.a.) verorten wir Bildbrüche und übertragen das Intertextualitätskonzept auf hypertextuelle Text-Bild- und Bild-Text-Konstellationen im Internet; (2) in der Weiterentwicklung des Barthes’schen Konzeptes des »punctum« (1989: 35f.) verschieben wir die Aufmerkamkeit auf Details der visuellen Peripherie, um eine konventionalisierte Bildhermeneutik zu vermeiden und (3) damit auf einen produktiven Bedeutungsüberschuss hinzuarbeiten – was das Bild jeweils nicht zeigt. Infolgedessen können normalisierende und hierarchische, aber auch widersprüchliche Wirkungsmechanismen spezifischer Repräsentationspraxen herausgearbeitet werden. (Vaquero-Canestro 2022: 541–561) Die Untersuchung kommt mit der Beantwortung der folgenden Fragestellungen zum Abschluss. Es werden folgende Merkmale berücksichtigt: (1) Die Bildanalyse versucht, die infrastrukturellen Vorgaben der Selbstthematisierung freizulegen und integriert dabei in ihre Analyse die medialen Dispositive mediatisierter Kommunikation und die Monopole der Datenverarbeitung, welche mit ihren spezifischen Anwendungs- und Interaktionsformen die Bildpraktiken des Selbst prägen; sie sondiert (2) die Methoden der nativ-digitalen Bildforschung als Ermöglichung und Herstellung von Forschungsperspektiven und Wissensordnungen; und sie analysiert (3) die ästhetischen Konventionen, die das Selbst als Topoi spezifischer Merkmale, Stile und Typen fassbar machen und thematisiert sie schließlich

I. Einführung

(4) die individuellen Spiel- und Freiräume und die soziale Bedeutungsdynamik der Deutungs- und Ausverhandlungsprozesse, die in der Zirkulationssphäre automedialer Selbstpraktiken immer wieder aufs Neue erprobt werden. Punkte (1)-(4) teilen die gemeinsame Grundannahme, dass die Selbstthematisierungen eine große Relevanz für ein sozial- und kulturwissenschaftliches Verständnis der Strukturen, Prozesse und Konsequenzen des informationsgesellschaftlichen Wandels moderner Gesellschaften darstellen.

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II. Kommodifizierung des Selbst

Die konzernorientierte Ausrichtung von Online-Plattformen, MessengerDiensten und Sozialen Medien und die damit einhergehende Ökonomisierung der sozialen Vernetzung und die Kommerzialisierung des Teilens in der Share Economy haben den Stellenwert der Selbstdarstellungskultur weitreichend verändert. Die Einsicht, dass auf den Aufmerksamkeitsmärkten der Online-Kommunikation audiovisuellen Inhalten eine wachsende kommunikative und ökonomische Bedeutung zukommt, wurde bereits in der Ära des Web 1.0 formuliert. (Goldhaber 1997) Der Aufstieg der Sozialen Medien Facebook (2004), YouTube (2005), Twitter (2006) und Instagram (2010) wurde anfänglich begleitet von Visionen einer partizipatorischen, herrschaftsfreien Vernetzung. Heute befinden sich digitale Environments wie Instagram in einer postpartizipatorischen Umbruchphase des »Platform Capitalism« (Srnicek 2017; McMillan 2020: 441–449): Professionalisierungstendenzen und ausdifferenzierte Klassenstrukturen haben die einstigen ›Community‹-Portale in hierarchisierende ›Influencer-Follower-Modelle‹ verwandelt. Heute dominierende ›Influencer-Follower-Modelle‹ folgen dem klassischen Prinzip der medialen Verbreitung von Medieninhalten von oben nach unten, ihr Feedback ist unidirektional, die Influencer kommunizieren massenmedial nach der Logik one-to-many, empfangen zwar Kommentare, bleiben aber in der Regel unerreichbar und antworten nicht. (Leaver et al. 2020) Eine neue Repräsentationskultur des sozialen Aufstiegs und der Macht des Geldes ist entstanden, die sich von den Visionen eines alternativen Wirtschaftssystems des kostenfreien Gemeinguts und der ehrenamtlichen Zusammenarbeit distanziert. Soziale Medien werden als Inbegriff des »kommunikativen Kapitalismus« (Dean 2009, des »algorithmischen Managements« (O’Meara 2019: 9) und des »Überwachungskapitalismus« (Zuboff 2019) angesehen. Shoshana Zuboff (2019) kritisiert die Herstellung digitaler Subjekte als entdemokratisierende Tendenz von oben. Anstelle staatlicher Überwachung

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Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

rückt Big Tech und damit einhergehend die Erfassung von Nutzungsdaten in kapitalintensiven Unternehmen. Die auf betrieblicher Ebene forcierte Datenkapitalisierung betrachtet Nutzungsaktivitäten als Verhaltensprodukte. Zuboffs Analyse der digitalen Gesellschaft hat die Tendenz, Überwachung nach dem Modell von top-down zu modellieren. Ein fortgeschrittener Kapitalismus von Lebensstilen führt aber dazu, dass die beteiligten Akteure die Kapitalisierung ihres eigenen Lebens von unten vorantreiben und mit positiven Affekten aufladen. Abbildung 1 zeigt den Inszenierungsaufwand für improvisierte und spontan wirkende Selfies. Die Figur des Influencers kommuniziert auf Sozialen Medien mit Alleinstellungs- und Unterscheidungsmerkmalen, kurz: USP, unique selling points. USP bezeichnet im Marketing herausragende Leistungsmerkmale, wodurch Influencer ihre Produkte von ihrer Konkurrenz abheben. In der vernetzten Gesellschaft der Gegenwart bestimmen materielle Werte den sozialen Status, erfahren mediale Inszenierungen von monetärem Reichtum und sozialem Prestige eine hohe Aufmerksamkeit. Welche Kommunikationsfunktionen übernehmen Bilder in Online-Communities, wenn sie als Mittel für die Repräsentation von Sozialprestige eingesetzt werden? Soziale Medien, insbesondere Plattformen zum Teilen von Bildern wie Instagram, haben die Rahmenbedingungen gesellschaftlicher Sichtbarkeit maßgeblich verändert. Der über eine Reichweite von 1,44 Milliarden Nutzer/innen (Quelle: Meta’s advertising tools, Juli 2022) verfügende OnlineDienst Instagram hat eine neue Realität im Alltag entstehen lassen: »Die Plattform Instagram […] wird in vielfältiger Weise genutzt: als Ort beiläufiger Dokumentation des eigenen Lebens, als künstlerisches Medium und virtuelle Galerie, als Archiv oder Tagebuch, als DIY-Plattform und Community-Ratgeber, als Outlet etablierter Medienunternehmen wie auch als kommerzieller Werbe- und Vertriebskanal. Die Accounts sind hinsichtlich des Phänomens Influencerin repräsentativ. Sie zeigen variantenreich, aber auch in einer gewissen Monotonie typische Inhalte, die immer einen entscheidenden Ausgangs- und Mittelpunkt haben. Es ist die Person der Influencerin selbst, die im Zentrum des Accounts und seiner Inhalte steht. Um diese zentrale Figur herum gruppiert sich dann eine Vielzahl von Themen wie Fitness, Gesundheit, Ernährung, Geschmack, Mode, Kultur, Luxus, Genuss, Reisen und Entrepreneurship.« (Löwe 2019: 28)

II. Kommodifizierung des Selbst

Abb. 1: Bildunterschrift: »Seen in Strasbourg. Influencer pretends to use a selfie stick as entourage shoots. They were there for at least 30 minutes«, 2017.

Quelle: Reddit, Instagram Reality

Im Jahr 2022 nutzten annähernd 18 % aller Menschen weltweit Instagram. Da das Unternehmen die Nutzung seiner Plattform auf Personen ab 13 Jahren beschränkt, wird die ›berechtigte‹ Nutzungsrate von Instagram wahrscheinlich sogar noch höher sein, als diese Zahlen vermuten lassen. (Quelle: www.st atista.com) In Bezugnahme auf die Bildinszenierung von sozialem Status und kulturellem Prestige hat das weltweit agierende Unternehmen Instagram medial wirksame Dispositive (Fotos, Stories) zur Durchsetzung von erfolgsorientierten Lebensstilen und Identitätsskripten vorgegeben:

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Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

»Instagram connects seamlessly to late-capitalist ideological rationalities. Organized around notions of entrepreneurialism and aspiration, it forms a neoliberal wonderland. Accounts focus on messages of self-optimization, archives of people who already seem to live their best lives – aspiring and inspiring. The same logic underpins the platform’s mixing of friends’ and celebrities’ images, ridding them of their contexts and merging them into a stream of imagery instead. This context collapse creates a perfect visualization of the meritocracy myth: Instagram presents every account as having the same opportunity to be successful in the attention economy.« (Prins 2020: 1048) Die zahllosen Selbstinszenierungen, die auf Instagram geteilt werden, machen sich die Macht des Zuschauerblicks zunutze. Mit ihren Selfies richten sie die Kamera auf sich selbst und fordern Aufmerksamkeit für ihre Selbstthematisierungen. (Mahoney 2022: 519–535) Unter Berücksichtigung der normativen Grenzen, die von einer kapitalistischen Ausbeutung des eigenen Selbst und Instagrams eigenen Regeln und Vorschriften auferlegt werden, kann die Frage aufgeworfen werden, auf welche Weise jugendliche Selbstdarstellungen in die neoliberale Logik von Rivalitäts- und Konkurrenzbeziehungen, sozialer Distinktion und marktförmigem Verhalten involviert sind. »Selfies, then, represent a particular articulation of capital, in which image and in-formation possess value in several different ways – both on the side of the person taking a selfie, who manufactures an image that is of particular worth when it comes to attention and visibility, maintaining personal relationships via the circulation of images, and on the side of social media platforms, who can use selfies as evidence to judge ›engagement‹ and attention, targeting advertisements toward a range of potential consumers who follow or otherwise interact with the person taking selfies. There are, of course, numerous potential side-effects that ›escape‹ the boundaries of a totalizing and restrictive definition of immaterial labor.« (Bollmer 2021: 24) Bevor konkret auf die einzelnen Fallbeispiele eingegangen werden kann, wird in einem ersten Schritt (1) der Stellenwert des Bildes und des Hashtagging in der Online-Kommunikation herausgearbeitet, (2) darauffolgend kann die visuelle Inszenierung von Status und Prestige methodologisch verortet werden, um in einem weiteren Schritt (3) Prozesse der sozialen Differenzierung auf Instagram aufzuzeigen. In diesem Zusammenhang kann eine Theorieperspektive erarbeitet werden, die es ermöglichen soll, die prägende Wirkung der Foto-

II. Kommodifizierung des Selbst

Sharing-App Instagram als ein technisch-mediales Management-Tool zur Herstellung von sozialer Vertikalität und Asymmetrie zu problematisieren.

II.1.

Bildmedien und Hashtagging als kommunikative Handlungen

Die breite Popularität und die hohe Verbreitungsdichte der mobilen Aufnahme- und Verbreitungsmedien von Smartphone und Sozialen Medien sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich die medialen Formen und Strategien der audiovisuellen Dokumentation eng mit Praktiken der Alltagskultur verzahnen konnten. Die Mediengeschichte der zeitbasierten Bildmedien – von der Erfindung der Camera Obscura bis zur massenhaften Verbreitung der Action-Cam – zeigt, dass das Leben, der Alltag und das Selbst immer wieder aufs Neue von Medien erfasst, geformt und verändert werden. (Doy 2004) Medien erschöpfen sich nicht nur in ihrem Gebrauch, sondern werden Teil der eigenen Lebensführung, verändern Identitätsentwürfe und soziale Beziehungen, durchdringen weite Bereiche des privaten Alltags. Sie durchdringen die sozialen, medialen und diskursiven Felder und erlauben »kapillare Machtausübungen« (Foucault 1983: 171) bis in die elementarsten Handlungssituationen und intimsten Bereiche des Lebens. Den Medien dieser neuartigen Vermessung des Alltagslebens, das sind die audiovisuellen Medien Fotografie, Film, Video, wurde lange Zeit der Anspruch der Dokumentation von Objektivität, Neutralität und Faktizität zugeschrieben. (Daston/Galison 1992: 81–128) Sie wurden als Medien dokumentarischer Strategien angesehen und zur Authentifizierung und Evidenzverstärkung der Erfahrungswelt des Einzelnen eingesetzt. Die Verbreitung der mobilen Amateurkamera, Instant-Kamera und der Digitalkamera am Ende des 20. Jahrhunderts sorgte dafür, dass immer mehr banale Dinge und Situationen des Alltags fotografiert wurden. (van Dijck 2008: 58) Die Schnappschussfotografie formte die Bildkultur der Gegenwart, sie wurde als »spontan« und »intuitiv« titulierte Schnappschussfotografie mit referentieller Autorität aufgeladen und diente oft zur Legitimation von Lebensnähe und Wirklichkeitsbezug. (Starl 1995) Der Aufstieg des Web 2.0 war eng mit der Aufwertung authentischer Medienerfahrung und der Schnappschussästhetik verknüpft, weil sich Online-Plattformen wie YouTube oder MySpace hauptsächlich als Produktionsorte von Amateurästhetik verstanden und sich vom professionellen Erscheinungsbild traditioneller Medien abgrenzen wollten. Mit der umstandslosen Bedienung und ihrer hohen In-

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Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

tegrationsfähigkeit in den Alltag können die mobilen Smartphone-Kameras große Mengen von Bildern aufnehmen und in Echtzeit auf Community-Portalen teilen. Mit seiner semiprofessionellen Filtersoftware veredelt Instagram die technisch-mediale Konstellation der Low-Tech-Ästhetik und schafft damit einen neuen digitalen Mittelstand, die nicht nur Personen, Gegenstände und Sujets vor der Kamera, sondern auch die Bildgestaltung und die taxonomische Bildsortierung mittels Hashtags als Distinktionserwerb versteht, der darin besteht, sich selbst aufzuwerten und sich von anderen abzugrenzen. Diese kuratorische Bildpraxis der Selbstausstellung wurde nicht von Instagram genuin erfunden, sondern ist als eine Fortführung etablierter Bildpraktiken zu verstehen, die eng mit dem Aufstieg bildbasierter Netzwerkseiten zusammenhängt: »Communicative capitalism subsumes communication into digital networks premised on access and immediacy. Almost any feeling, image, or thought can be shared with another, instantly added to the larger flow of feelings, images, and thoughts. In this setting of ubiquitous media, where we are enjoined to participate, contribute, and share – and where we enjoy participating, contributing, and sharing – the means of literary and artistic production, reproduction, and distribution have converged. The technologies we use to communicate and create push our ideas and images into networks and onto screens. That the camera is a phone tells us that images are for communicating.« (Dean 2009: 41) Die enge Verflechtung von Smartphone und Sozialen Medien hat diese Praxis der Schnappschussfotografie aber um eine entscheidende Dimension erweitert. Denn sie hat dazu geführt, dass die Handyfotografie als ein soziales Metamedium eingesetzt werden konnte. Versehen mit Technologien der Vernetzung konnte sich der Stellenwert von Fotografien und Videos maßgeblich ändern: »Our new relationship is less about witness, evidence and document and much more about experience, sharing and streaming.« (Mayes 2012) Heute werden die mit automatischer Pixeltechnologie und optischer Bildstabilisierung aufgenommenen Handyfotos in erster Linie als »communicative tools« (Brook 2013) eingesetzt. Wer heute sein Smartphone als fotografischen Apparat benutzt, sieht sich mit neuen Erwartungshaltungen und Rollenmodellen konfrontiert, die aus dem Umstand entstehen, dass Fotos heute auf OnlinePlattformen in Echtzeit sozial geteilt werden können: »We think about how we will share something, and whom we will share it with, as we consume it.« (Konnikova 2013) Indem Aspekte des Social Sharing in die Aufnahme, Auswahl

II. Kommodifizierung des Selbst

und Bearbeitung der Fotomotive einfließen, haben sich die Rollenverhältnisse der Bildmedien und ihr Bezug zur Dokumentation des Lebens des Einzelnen maßgeblich verändert. Um die Anschlusskommunikation sozial geteilter Bilder zu optimieren, zielt das Hashtagging (das ist die Verschlagwortung des audiovisuellen Materials) auf eine publikumswirksame Kontextualisierung des Bildmaterials ab: »Was html-links für das statische Web sind #Hashtags (+ @persönlicher Adressierung) für Social Media – erst sie verbinden die Postings zu einem Ganzen, machen social sozial.« (Janowitz 2016) Mit den Hashtags wird die öffentliche Kommunikation und Wahrnehmung in Echtzeit kodiert und in Speichermedien archiviert. Das Hashtagging erlaubt nicht nur die Kodierung von audiovisuellem Material, sondern verspricht als »Gradmesser des öffentlichen Interesses« (ebd.) einen Zugriff auf das kollektive Gedächtnis digitaler Kommunikationsgemeinschaften. Ursprünglich wurden Schlagworte nach dem #-Symbol in der Twitter-Nutzung eingeführt, um die Kontextsuche von einzelnen Tweets zu verbessern. Die freie Verschlagwortung von Inhalten im Internet mittels Hashtagging stellt ein Metadaten-Verfahren der anonymen Kollaboration dar, die James Surowiecki als »the wisdom of crowds« (Surowiecki 2004) bezeichnet. Mit dieser Merkmalsbestimmung bezeichnet er auch eine Multiplizierung einer kollektiven Mediennutzung von digitalen Speichern und Netzwerken, welche die Archive und Sammlungen des Wissens in dynamische Aggregatzustände verwandelt, die sich mit jeder neuen Benutzung verändern und anders anordnen. Der Neologismus ›Folksonomies‹ bezeichnet das Phänomen einer neuartigen digitalen Kulturtechnik: die ›freie‹ Verschlagwortung von Inhalten im Internet. ›Folksonomies‹ stellen eine populäre Wissenspraxis dar, die in kulturelle Prozesse eingreift und Wissensanordnungen transformiert. Eine anonyme und dynamische Kollaboration bei der Erstellung von Inhalten sorgt dafür, dass sich die Anzahl der Einträge kontinuierlich vervielfältigt und die Vergleichbarkeit der verschiedenen Einträge permanent erhöht. Diese kollektive Inhaltserschließung eines Dokumentinhalts nennt Thomas Vander Wal »Broad Folksonomy« (Vander Wal 2007) und bezeichnet damit die Praxis vieler verschiedener Nutzer/innen, ein Dokument mit frei gewählten Tags zu versehen. Folksonomies können folglich als Speicherort kollektiver und kollaborativer Bedeutungsproduktion angesehen werden. Auf Instagram ist es möglich, die Fotos und Videos mit Hashtags zu versehen, um Suchvorgänge zu erleichtern und Zugehörigkeiten zu Bilderkategorien und Communities herzustellen. Das Hashtagging verweist auf eine

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vielschichtige Praxis der Markierung von Bildinhalten. Mit ihrer taktischen Verwendung von Schlagworten versuchen Nutzer/innen ihr Imagedesign zu optimieren, »especially using the most popular hashtags on Instagram, can lead to a flood of new likes and followers.« (Titlow 2012) Arrivierte Hashtags verfügen über einen sozialen Aufmerksamkeitswert und bieten eine gute Möglichkeit, das öffentliche Interesse an die hochgeladenen Bilder zu knüpfen. Mit den Hashtags wird also versucht, die öffentliche Rezeption auf eine bestimmte Weise zu lenken und sich bestimmte Gruppen näher zu erschließen. Mit Hashtags wie #instafamous, #instarich, #luxurylife, #luxurylifestyle u.v.a.m. können allgemeine Adressierungsformen etabliert werden; mit Luxury Brands #instarolex, #instaprada oder #instavuitton konnotierte Hashtags vermitteln Markenbewusstsein und Markenaffinität; mit jugendsprachlichen Hasthags wie #fail, #yolo oder #spoilern können gruppenspezifische Adressierungen eingeleitet werden. Die Praxis des Hashtagging zeigt auf, dass sich in der digitalen Moderne die Möglichkeiten der Anschlusskommunikation wesentlich erweitert haben und ko-soziale Environments geschaffen haben, die mit Hilfe der technischen Infrastruktur sozialer Medien neue Praktiken digitaler Vergemeinschaftung geschaffen haben. (Kozinets 2015: 23–52) Soziale Netzwerke wie Instagram bieten eine maßgebliche Orientierung für die jugendliche Identitätsarbeit und sind in den letzten Jahren zu bedeutenden Plattformen der Selbstdarstellung aufgestiegen: »We explored the aesthetic and affective labor of producing selfies as well as the centrality of filtering to these practices. These discussions indicate a fluid and evolving techno-social ecology where the introduction of selfie filters initially encouraged playful and conspicuous forms of editing, driven by the novelty they afforded but has shifted toward subtler, ambient forms of editing that have become deeply naturalized. As filtering shifted from ›play‹ to allowing for the curation of a ›natural aesthetic,‹ a series of ontological ambiguities have emerged such that the distinctions between edited and non-edited, natural and a ›natural aesthetic‹ within social media visuality ceases to be self-evident, requiring new forms of theorizing in relation to the tensions and ruptures this generates. The evidentiary nature of photos has become unsettled in the proliferation of edited images, producing intense looking practices and affective engagements issuing from the simultaneous credulity and skepticism of the eye, the identity work that selfies afford and the peer relations that constitute the context of looking.« (Lavrence/Cambre 2020: 22)

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In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welchen Stellenwert Reichtumsinszenierungen für jugendliche Nutzer/innengruppen aufweisen und auf welche Weise diese versuchen, mit Hilfe von Bildinszenierungen und Hashtagging Zugehörigkeiten zur medialen Inszenierung von Reichtum und sozialem Prestige auszubilden. In diesem Zusammenhang können bereits mit selektiven Sondierungen des jugendlichen Hashtagging Verschiebungen in den biografischen Kernnarrationen festgestellt werden (Highfield/Leaver 2014), wenn in Betracht gezogen wird, dass sich das Food Styling und die Food Photography bei Kindern und Jugendlichen zu einem populären Vergnügen entwickelt hat: »The high use of social media among youth, coupled with smartphone ownership, has spawned the production and distribution of photos online. One particular genre of photos stands out as novel: food photos. Advancements in technologies have given users the ability to endow images with enhanced emotion and awe, turning food photos into food porn.« (Abril, Tyson/Morefield 2022) Die breite Popularität und die hohe Verbreitungsdichte der mobilen Aufnahme- und Verbreitungsmedien von Smartphone und der Online-Plattform Instagram haben maßgeblich dazu beigetragen, dass Essen in der digitalen Gesellschaft ein medialer Vorgang ist, mit welchem das Essen mit Abwesenden geteilt wird. Für viele Besucher von Restaurants kann ein Essen nicht beginnen, ohne vorher aus der Ego-Perspektive ein Foto des Essens zu machen und es in den sozialen Medien zu teilen. Digitale Medien bieten neue Wege zur Erzeugung und Verteilung von Bildern der Herstellung, der Zubereitung und des Konsums von Nahrungsmitteln und Essen. Heute ist die Vielzahl von lebensmittelbezogenen Blogs, Vlogs, Diskussionsforen, mobilen Apps, Social-Media-Kanälen und SharingPlattformen beinahe unübersehbar. Auf der anderen Seite haben sich globale Kommunikationsräume herausgebildet, die ein extrem weites und breit gestreutes Publikum erreichen können. Eine dieser weltweit agierenden Bildplattformen ist Instagram, das heute als eines der beliebtesten Portale für die Bildkommunikation der digital vernetzten Ernährungskultur gilt. Das heute weitverbreitete Schlagwort ›Camera eats first‹ beschreibt das globale Phänomen, bei dem Menschen Fotos von ihren Mahlzeiten mit Smartphone-Kameras machen, bevor sie selbst essen, gefolgt vom Hochladen ihrer Fotografien in die sozialen Medien. Wenn Akteur/innen subjektzentrierte Fotos machen, bevor sie essen, dann entstehen daraus spezifische (Handlungs-)Situationen, in denen sie sich auf bestimmte Objekte und Konventionen beziehen. Diese stützen eine legitime und verwertbare Inszenierung,

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Ästhetisierung und Medialisierung eines ›gelungenen Essens‹ und verweisen gleichzeitig auf einen kollektiven Raum, wobei sie über die Zuweisung von Wertigkeiten die Regeln sozialer Anerkennung und medialer Aufmerksamkeit beeinflussen. Das Ernährungshandeln und das Ernährungsverhalten in online vernetzten Kommunikationsräumen und seine Einbettung in lebensweltliche Kontexte individueller Selbsterfahrungen kann als Indiz dafür genommen werden, dass die Suche nach Distinktionsvorteilen eine feststehende Orientierungsgröße der jugendlichen Identitätsarbeit darstellt. (Reichert/Cappel/ Kappler 2022: 215–239) In der alltäglichen Identitätsarbeit von Jugendlichen ist die Bestätigung von außen und die Anerkennung von anderen ein wichtiger Bestandteil. Auf Instagram werden diese Bausteine von Lebensgestaltung und Handlungsfähigkeit erprobt, indem sie der Anerkennung durch andere, das ist soziale Kontrolle in P2P-Netzwerken, unterworfen wird. Digitale Medien bieten neue Wege zur Erzeugung und Verteilung von Bildern der Herstellung, der Zubereitung und des Konsums von Nahrungsmitteln und Essen. Heute ist die Vielzahl von lebensmittelbezogenen Blogs, Vlogs, Diskussionsforen, mobilen Apps, Social-Media-Kanälen und SharingPlattformen beinahe unübersehbar. Auf der anderen Seite haben sich globale Kommunikationsräume herausgebildet, die ein extrem weites und breit gestreutes Publikum erreichen können. Eine dieser weltweit agierenden Bildplattformen ist Instagram, das heute als eines der beliebtesten Portale für die Bildkommunikation der digital vernetzten Ernährungskultur gilt. Das Fotografieren von Nahrungsmitteln und Essen und das Hochladen dieser Bilder in den sozialen Medien werden heute häufig mit dem Neologismus ›Foodstagramming‹ umschrieben. Damit wird auf den Online-Dienst Instagram verwiesen, der Elemente des Mikrobloggings und der Fotoplattform verbindet. Mit seiner geolokalisierenden Softwarearchitektur erfasst Instagram weltweite Ernährungstrends und gilt in zahlreichen Studien zum Gesundheitsmanagement als aussagekräftiger Indikator der empirischen Sozialwissenschaft. In den Prozessen kollektiver Beteiligung, die durch eine Sichtbarmachung von kollektiver Teilhabe, Zustimmung und Abstimmungsverhalten Signalwert erhält, kann sich eine situative Konvention etablieren, die legitimierend und normativ sein kann. Die technisch-medialen Dispositive der Plattform tragen also auch dazu bei, dass sich Konventionen dauerhaft fixieren können. Auf Instagram müssen die beteiligten Akteure also gemeinsam herausfinden, nach welcher ›Logik‹ sie ein Essen posten können, das Zustimmung erfährt, auch

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wenn es mit bestimmten Normen der Essensdarstellung brechen sollte. Indem sie sich mit den Zustimmungswerten (den Aufrufen, den Likes und den Kommentaren) auseinandersetzen, versuchen sie, die Konventionen zu ermitteln, welche die Wertigkeit ihrer Inhalte beeinflussen. In diesem Zusammenhang implizieren die online verbreiteten Bildinhalte und ihre Rezeptionsgemeinschaften Potenziale für gesundheitssoziologische Steuerungsregulative. Konkret haben sie die Förderung eines gesünderen Lebensmittelkonsums und den Kampf gegen Fettleibigkeit im Blick und vertreten dabei einen mehrfachen Stakeholder-Ansatz, bei dem politische Entscheidungsträger/innen, Ernährungswissenschaftler/innen, Verbraucherverbände, Influencer/innen und die Nahrungsmittelindustrie zusammenwirken. In ihrer Schlussfolgerung plädieren sie dafür, digitale Plattformen und Umgebungen als gesundheitspolitisch relevante Medien zur Verhaltensbeeinflussung und Verhaltenssteuerung von Ernährungsgewohnheiten zu betrachten. Häufig geht die sozialregulative Forschung von normativen Prämissen aus und verspricht in ihren Studien, Fehlentwicklungen und Unzulänglichkeiten objektiv einschätzen und pädagogisch ausgleichen zu können. Dabei kommt oft die verstehende Seite der Forschung zu kurz, die nach den Wechselbeziehungen zwischen Bildwirkung und Lebensführung fragt. In diesen Studien wurde jedoch nur begrenzt darauf geachtet, inwiefern Bildgestaltung, Referenzbilder, Bildmotive und -sujets, visuelle Stereotypen und Adressierungen zur Bildbedeutung beitragen und wie normativ festgelegt wird, was als Fehlentwicklung und was als positive Entwicklung zu verstehen sei. In diesem Zusammenhang kann auf die unterschiedlichen Praktiken einer ›karnevalistischen‹ Essensinszenierung aufmerksam gemacht werden, die sich in einem parodierenden, ironisierenden Bezug zur Darstellung von Nahrungsmitteln, Essen und Kochen im Internet situieren. Die in Online-Beiträgen und Stories geteilte Kritik an digitalen Esskulturen ist vielschichtig und bezieht alle möglichen Formen der Repräsentationskritik mit ein. So geht es nicht nur um eine Kritik an der visuellen Inszenierung, sondern auch um eine kritische Sondierung der sozialen, geschlechtlichen, politischen, ethischen und ökonomischen Rolle von Nahrungsmitteln und ihrer Zubereitung. So gesehen kann versucht werden, ein besseres Verständnis für die Rolle der digitalen Essenskultur bei der Erzeugung, Bewahrung und kritischen Distanzierung von Identitätsskripten zu entwickeln. Somit kann von einer sozialregulativen Medienpädagogik abgerückt werden, die weder ›falsches‹ Essen anprangert noch richtiges Essen normativ anordnet, sondern nach dem Zusammenhang von Essen, Medien, Gesellschaft und Lebensführung fragt.

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Vor diesem Hintergrund erweisen sich die auf Instagram geteilten Food Pics als eine Bedingung ihrer medialen Ermöglichung und gesellschaftlichen Kodierung. In diesem Sinne firmiert das auf Instagram mediatisierte Essen als ein gemeinsam geteilter Schauplatz von Strategien der Subjektivierung, die um den Erwerb und die Ausverhandlung bestimmter Distinktionsvorteile ringen. Indem Instagram rivalisierende Bildinhalte anbietet, befinden sich die Menschen, wenn sie essen und posten, in einem andauernden Wettbewerb mit anderen Essensbildern und versuchen, die Art und Weise, wie sie und was sie essen, auf den Marktwert von Essensbildern abzustimmen. Zur Ermittlung des virtuellen Marktwerts hat Instagram mit dem Hashtagging einige Verfahren entwickelt, um die Bildernachfrage zu evaluieren. Vor diesem Hintergrund kann in enger Anlehnung an die Theorie der sozialen Unterscheidung von Pierre Bourdieu (1982, 1985) der Frage nachgegangen werden, wie Distinktion medial konstruiert und im sozialen Aneignungsprozess auf Online-Plattformen reproduziert wird. Denn Food-Bilder in sozialen Medien stellen einen starken Bezug zur Werbeästhetik her. Die werbeaffine Food-Fotografie hat ihre Funktion der informativen, sachlichen Repräsentation verloren, um Wissen mit Gemeinschaften zu teilen. Aufgrund der intrinsischen Rivalitätsbeziehungen sozial geteilter Inhalte auf Online-Plattformen und Sozialen Medien kann das kulinarische Bilderhandeln als kulturelles Kapital betrachtet werden. Lebensmittel werden nicht weniger als Nahrung angesehen, sondern vorrangig als Symbol für den sozialen Status. In diesem Sinne fungiert Instagram als eine Plattform des Erwerbs von distinktiven Merkmalen. Die Tatsache, dass sich das Profil von Lifestyle, Prestige und Status nicht ausschließlich aus eigenen Kräften aus sich selbst heraus und über ihre subjektiven Selbstdeutungen konstituieren kann, wird von Charles Taylor thematisiert, der die soziale Prägung und den dialogischen Charakter der individuellen Identitätskonstruktion betont: »Die Entdeckung der eigenen Identität heißt nicht, dass ich als isoliertes Wesen sie entschlüssele, sondern gemeint ist, dass ich sie durch den teils offen geführten, teils verinnerlichten Dialog mit anderen aushandele […]. Meine eigene Identität ist entscheidend abhängig von meinen dialogischen Beziehungen zu anderen.« (Taylor 1999 54) Dementsprechend setzt die individuelle Identitätsentwicklung die Anerkennung der anderen mittels ihrer normativ-evaluativer Überzeugungen, Normen und Bewertungen voraus. Genres, die früher der sozialen Welt der Erwachsenen vorbehalten waren, wie etwa die fotografische Dokumentation des guten Lebens, die um das Essen, das Design, die Freizeitakti-

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vitäten und Konsumobjekte kreisten, erobern auf Instagram auch jugendliche Modelle alltäglicher Identitätsarbeit. Dementsprechend rücken Fragen der richtigen Konsumgestaltung heute früher in den Fokus prospektiver Identitätsentwürfe von Jugendlichen, die ihre Inszenierungen der Wohlstandsund Konsumästhetik dafür einsetzen, um von anderen anerkannt und positiv bewertet zu werden. Identität kann hier als ein individuelles Rahmenkonzept verstanden werden, innerhalb dessen Individuen ihre Erfahrungen interpretieren und die dabei in Gang gesetzte Selbstreflexion die Basis für die Identitätsarbeit bildet. (Mahoney 2022: 519–535) Im Rahmen dieser Identitätsarbeit »versucht das Subjekt, situativ stimmige Passungen zwischen inneren und äußeren Erfahrungen zu erzählen und unterschiedliche Teilidentitäten zu verknüpfen.« (Keupp 1999: 60) Im Unterschied zur Ontologie der Identitätsfindung haben konstruktivistische Ansätze ihren Ausgangspunkt in der Identitätserfindung und behaupten, dass eine gelungene Identitätsfindung auf einem narrativen Projekt beruhe. Konstruktivistische Subjekttheorien setzen also einen narrativen Rahmen voraus, der auch als normative Anforderung an das Subjekt zu verstehen ist: es soll sich selbst verstehen, sich anderen mitteilen und so seinen narrativen Faden in das Gesamtgewebe einer Kultur, die auch eine Erzählung ist, verflechten. Das Erzählen über sich selbst ist mehr als bloß ein Akt der partikulären Selbstbehauptung: Wer heute nicht mehr bereitwillig von sich erzählen möchte, gilt in einer sich ausweitenden Bekenntniskultur als asoziales Subjekt. (Burkart 2006: 18) Eine sich ausweitende Bekenntniskultur meint, dass das digitale Regime des Plattformkapitalismus von seinen Subjekten fordert, andauernd präsent zu sein, andauernd zu posten, liken, sich selbst permanent zu äußern, verfügbar zu sein. Der Aufstieg der Online-Plattformen ist eng verknüpft mit einem kapitalistischen Zeitregime. Seine Prinzipien sind die Kommodifizierung und die rationale Verwertung von Zeit, die unaufhörliche Beschleunigung und die Verwaltung von Zukunft. Instagram repräsentiert eine neoliberale Ausbeutungslogik des Zeitregimes: das Subjekt ist andauernd verfügbar, seine Kommodifizierung ist endlos und integriert alle möglichen Aspekte seines Alltagslebens, denn jeder Aspekt seines Lebens ist prinzipiell vermarktbar. (Wienberg/Buddeberg 2020: 33–58) Die Kommodifizierung schreibt sich auch nach Jodi Dean in die Bildästhetik der Selfies ein: » A selfie is not a portrait; it’s not an image of the unique and irreplaceable. It’s an instance of how one is like many, equal to any other. I would even say

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that the selfie demonstrates further the emancipation of the commonality of the object from the commodity form. To be common and reproducible is no longer a primary characteristic of the commodity – especially in a context where commodities are inscribed with individuality (personalized sneakers, designer this and that). To be common and reproducible is a characteristic of each of us, a realization we enact with every selfie and hashtag, even when we may not be fully aware that we are doing it.« (Dean 2021: 357–370) In diesem Sinne ist das Selfie »keine Fotografie im traditionellen Sinne des Einfrierens eines Moments und dessen Verfügbarmachung bis in alle Ewigkeit.« (Rubinstein 2015: 172) Mit dem Auftauchen des Selfies etabliert sich eine neue Dimension des fotografischen Bildgebrauchs, die auf das Engste mit dem Teilen, der Verbreitung und der Verteilung des visuellen Materials verbunden ist: »While the sociological or communications studies-based approach is useful in terms of quantitative analysis around the social function of imagesharing, the selfie’s relation to a continuum of artistic self-imaging practices also demands close attention to the images themselves. There have even been those who suggest that the best way to understand selfies is in fact not to look at the selfie as a representational image of but as a ›sociotechnical phenomenon‹ that speaks to larger matters of mediated digital communication. From a conventional media and communications studies perspective, this might make a certain sense.« (Soraya Murray 2021: 139) Mit dem Selfie-Upload auf Online-Plattformen und Sozialen Netzwerkseiten verändert sich der Gebrauchscharakter der Fotografie auf maßgebliche Weise. Das soziale Teilen und Verbreiten von digitalen Fotografien macht den memorialen Aspekt der Fotografie als Speichermedium weitgehend obsolet. Es geht nicht mehr darum, einen Zeitmoment fotografisch zu konservieren, um ihn aufzubewahren und zu tradieren, sondern es geht beim Hochladen eher darum, das Selfie in eine zeitlich beschleunigte Zirkulationssphäre einzubringen. Damit ändert sich der Umgang mit fotografischer Temporalität schlagartig. Das Selfie dient nicht mehr der Einkapselung der Vergangenheit und ihrer Überlieferung für künftige Generationen, sondern das Selfie wird der Außenwelt ausgeliefert. Im Unterschied zur traditionellen Amateurfotografie der biografischen Bilanzierung, die außeralltägliche Ereignisse fotografisch konserviert hat, um sie im Medium Buch chronologisch geordnet für die Nachwelt zu sammeln, können Selfies instantan geteilt und verbreitet werden und bereits weni-

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ge Augenblicke nach ihrer Herstellung eine weltweite Öffentlichkeit erreichen, wenn sie auf Follower-Netzwerken und niedrigschwellig zugänglichen OnlinePlattformen geteilt werden. Die Online-Dissemination digitaler Bilder verändert die zeitliche Dimension der fotografischen Selbstthematisierung: Selfies wollen nicht bewahrt, sondern beschleunigt werden, indem sie von ihrem Bildproduzenten verbreitet werden. Selfies werden nicht in singulären Abzügen in Fotoalben verwahrt, wie es in der analogen Amateurkultur vorherrschend war, sondern der sozialen Zirkulationssphäre überantwortet. In diesem Sinne orientiert sich die Funktions- und Zweckbestimmung der Selfies an der Verbreitung und der augenblicklichen Veröffentlichung. Im Unterschied zum Bewahrcharakter des Selbstporträts der fotografischen Tradition ist das Kennzeichen des Selfies die Beschleunigung, die Akzeleration: »Die Fotografie war schon immer eine distributive Kunstform, nichts anderes als eine Fotokopie, aber in der traditionellen Auffassung ist die horizontale Verbreitung des Bildes, die ihm innewohnende Möglichkeit vervielfacht, kopiert und reproduziert zu werden, immer nebensächlich im Vergleich zu dessen Inhalt.« (Rubinstein 2015: 172) Das Wesen des Selfies ist nicht der Bildinhalt, sondern seine Eigenschaft, sozial geteilt und verbreitet zu werden. In erster Linie ist das Selfie also ein Medium der Distribution, der Reproduktion und der Akzeleration: »Das Teilen des Selfies ist sein Inhalt, und in diesem Vorgang des Teilens wird unser eigenes ›Ich‹ verkompliziert, problematisiert und als Beziehung zu anderen wahrgenommen.« (Rubinstein 2015: 172) Neben die soziale Beschleunigung der Selbstthematisierung tritt die technisch-mediale Möglichkeit, das eigene Selbst andauernd zu überarbeiten. Die visuelle Kommunikation des Selbst basiert weniger auf einem Schnappschuss, der das situative Selbst im Zeitmoment festhält, sondern vielmehr auf einer fluiden Komposition des Selbst. Selfies mögen in einem situativen Setting entstehen, aber nach dem Schnappschuss startet eine Postproduktion, die das Aufgenommene filtert und verbreitet: »Identifizierbar sind nämlich eine Reihe von Techniken in der Herstellung der beobachteten Selfies, die ich mit dem Begriff der Artifizialisierung zusammenfassen möchte. Das heißt, in der Genese der Selfies finden sich zahlreiche Momente der Vermittlung und Modifizierung, die die Direktheit der Fotografie überschreiben und Künstlichkeit an deren Stelle setzten. Diese Artifizialisierung in der Selfie-Produktion wirkt [...] als ein Mittel der Personalisierung, weil sie den Gestaltungsprozess unter aktiver Beteiligung der abgebildeten Person transportiert.« (Pittroff 2022: 89)

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II.2.

Bildkontrolle und Blickregime auf Instagram

Der Online-Dienst Instagram ist einer der populärsten Online-Plattformen der digitalen Gegenwart. Er kombiniert Elemente des Mikrobloggings und der audiovisuellen Kommunikation und ermöglicht Nutzer/innen die rasche und einfache Aufnahme und Verbreitung der Momentaufnahmen ihres Lebens mit Hilfe einer simplifizierten Filtersoftware: »Filters instantly transform a picture taken today into a faded 1970s Polaroid or grainy 1950s black-andwhite snapshot. Photos taken using the Instagram app are square, like Kodak Instamatic and Polaroid photos, rather than rectangular, the latter the result of the 16:9 ratio used by most mobile cameras.« (Marwick 2015: 144) Instagram wurde 2010 von Kevin Systrom und Mike Krieger in San Francisco entwickelt und am 6. Oktober des gleichen Jahres im App Store als Anwendung veröffentlicht. (Instagram/About us, 2016) In den folgenden Jahren konnte sich die Anwendung als eines der am raschesten wachsenden Netzwerke etablieren und gilt heute als die populärste Plattform der digitalen Bildkommunikation. Bilder und Videos gelten als eine maßgebende soziale Währung mobiler und sozial vernetzter Mediennutzer/innen. Wie ökonomisches Kapital lassen sich heute Bilder und Videos mittels der Community-Bildung akkumulieren und bilden die neuen Machtregeln im Social Net. Die maßgeblichen Treiber des Datenverkehrs sind Bildmedien. Sie etablieren neue Formen von digitaler Visibilität und Wahrnehmungsverlust, sie ermöglichen die Herausbildung digitaler Aufmerksamkeitszentren und sie schaffen neue Möglichkeiten, gesellschaftlichen Einfluss und politische Wirksamkeit herzustellen. Fotos auf Instagram sind Bilder, die sozial geteilt werden. Der Umstand, dass es sich um Bilder der Veröffentlichung handelt, beeinflusst die Produktion, die Selektion und die Zirkulation der Bilder. Mit ihren öffentlich sichtbar gemachten Bildern versuchen Nutzer/innen das Bild, das andere von ihnen haben (sollen) zu kontrollieren und zu steuern. Mit der von Instagram angebotenen Filtersoftware können Nutzer/innen ihren Fotografien einen bestimmten Stil verleihen und ihr ästhetisches Erscheinungsbild steuern. Mit Hilfe von unterschiedlichen Bearbeitungsinstrumenten werden Nutzer/innen als Manager ihrer eigenen Informationskontrolle adressiert, wenn sie Inhalte und PrivacyEinstellungen bearbeiten können. Zusätzlich erhalten die Nutzer/innen Möglichkeiten, ihre hochgeladenen Fotos mit Metakommentaren zu versehen, um die Bilder ästhetisch und narrativ aufzuwerten: »Instagram has given people greater control over the live stories they construct online. Although filters are not required for posting a photo on Instagram, people can use filters to slightly

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alter reality, thereby visually communicating to their friends and followers a certain tone or a feeling that is, in itself, a reflection of who they are.« (Best 2015: 63) Dieser in empirischen Studien herausgearbeitete Kontrollaspekt birgt allerdings die Gefahr eines vereinheitlichenden Technikoptimismus, wenn nicht im Gegenzug die Frage aufgeworfen wird, inwiefern die digitalen Technologien der Herstellung, Auswertung, Bearbeitung und Verbreitung von Bildern Formen der Selbsterfahrung und der Selbstthematisierung verändern. Eine zu enge Sicht auf die Kontrollmöglichkeiten der Bildkommunikation suggeriert, dass die beteiligten Subjekte ihre Selbstbilder vollständig unter Kontrolle haben. Im Folgenden möchte ich näher auf diese Frage der Kontrolle des eigenen Selbstbildes eingehen, zum einen, weil Instagram die Bildkontrolle als eine Werbebotschaft und ein Mission Statement kommuniziert, zum anderen, weil die Darstellung und Veröffentlichung des eigenen Selbstbildes (Stichwort: ›Selfie‹) zu einer der Schlüsselfragen der digitalen Bildkommunikation der Gegenwart aufgestiegen ist.

Abb. 2: »Social Media Star: The Hot Trend of Influencer Marketing«, 1. August 2022.

Quelle: Consumer $ense with Dr. Audrey Guskey

Die Bilder, die Subjekte von sich selbst anfertigen und in sozialen Netzwerken veröffentlichen, unterliegen immer bestimmten Regeln und Norm-

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erwartungen, die im bildkulturellen Feld herrschen. Die mit den digitalen Aufzeichnungs-, Speicherungs-, Verbreitungs- und Kommunikationsmedien entstandene Möglichkeit, ästhetische Formen der kollektiven Selbstinszenierung massenhaft zu erschließen, kann mit Kaja Silverman als ein digitales Bildrepositorium aufgefasst werden: »Der Bildschirm oder das kulturelle Bildrepertoire ist jedem von uns eigen – ganz ähnlich wie die Sprache. Also folgt unsere Wahrnehmung eines anderen Menschen oder eines Objekts zwangsläufig bestimmten Darstellungsparametern, deren Anzahl zwar hoch, aber letztlich doch begrenzt ist. Mit dem Begriff ›Bildschirm‹ bezeichne ich die ganze Bandbreite der zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbaren Darstellungsparameter; diejenigen unter ihnen, die sich fast zwangsläufig aufdrängen, nenne ich das ›Vor-Gesehene‹.« (Silverman 1997: 58) Damit meint Silverman kollektive Wahrnehmungsmuster, die das Körperbild prägen: die Produktion und Reproduktion dieses kollektiv verbindlichen Blickregimes verläuft aber nicht nach dem Muster top-down, sondern verlangt von den Subjekten die andauernde Bereitschaft, sich an der Herstellung der Körperund Selbstbilder aktiv zu beteiligen. Die sozialen Medien im Internet haben Beteiligungsformen und -chancen vervielfältigt und existieren nur dann, wenn (möglichst) viele Nutzer/innen bereitwillig ihre Inhalte als Zeichen gesellschaftlicher Anerkennung und sozialer Machtdemonstration hochladen. Auch wenn soziale Medien die Formen der gesellschaftlichen Anerkennung und der sozialen Macht auf ihre Weise formalisieren und regeln, kann das Ansehen, die Begünstigung und die Geltung von Dingen, Stil und Verhalten sozialer Distinktion nur dann erfolgreich eingesetzt werden, wenn diese Elemente vor dem Hintergrund eines gemeinsam geteilten Repertoires von Darstellungsparametern in Szene gesetzt werden. Der Distinktionsvorteil von bestimmten Instagram-Profilen bewegt sich also stets innerhalb eines kulturellen Musters, das von einem Kollektiv als überlegen anerkannt wird. Diese Indikatoren sozialer Distinktion sind vielschichtig und können mit exklusiven Konsum- oder Bildungsgütern konnotiert sein. Neben der sozialen Welt der Dinge, denen Merkmalsfähigkeit zugeschrieben wird, werden auf Instagram soziale Distinktionen auch in Eigenschaften gesucht, die dem eigenen Körper inhärieren. Das privilegierte Suchbild individualisierter Distinktion stellt das Porträt und das Gesichtsbild dar. In diesem Sinne firmiert das auf Instagram mediatisierte Gesicht als ein gemeinsamer Schauplatz von Strategien der Subjektivierung, die um den Erwerb und die Ausverhandlung bestimmter Distinktionsvorteile ringen. Die entscheidende Frage ist: welche Inhalte eignen sich mehr oder weniger

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für die multimediale Inszenierung von sozialem Prestige und Autorität? Vor diesem Hintergrund soll in enger Anlehnung an die Theorie der sozialen Unterscheidung von Pierre Bourdieu der Frage nachgegangen werden, wie Distinktion medial konstruiert und im sozialen Aneignungsprozess auf Online-Plattformen reproduziert wird.

II.3. Theorien des kommodifizierten Selbst In ihrer Studie The Society of the Selfie (2021) beschreiben Jeremiah Morelock und Felipe Narita wie sich Menschen in sozialen Medien an einer Vielzahl von Metriken orientieren, um ihr »Humankapital« aufzubauen. Sie untersuchen die Strategien von Nutzer/innen, elektronische Doubles für das Design einer »professionellen« Identität (Narrativ: beruflicher Erfolg) aufzubauen, um die gewünschte Anerkennung von anderen zu erhalten. Vor diesem Hintergrund beschreiben sie die Funktionsweisen des neoliberalen Kapitalismus, den sie als Basis für die Kommodifizierung des Selbst identifizieren: »If neoliberal capitalism were our sole axis of analysis, perhaps the term ›society of the self‹ would be a little more fitting. Yet the hegemonic force of self-interest coincides today with the saturation of life by social media, and there is no better sign than the selfie of the contemporary love affair between self-obsession and social media. It is a very large element in social life as well, as indicated by the many jokes about it, the criticisms of it on the grounds of narcissism and the celebration of it on the grounds of self-expression. It is frequently also an inadvertent admission of social estrangement, e.g., the picturetaker is the self rather than a friend or family member. Likewise, the picture is often of the self (alone) in some spectacular context. And finally, the picture is posted online, for others not present to witness, with the hope that members of an invisible audience will see the picture taker as living an interesting and exciting life, and indicating as much by clicking ›like‹ and adding to the counter.« (Morelock/Narita 2021: 5) Vor diesem Hintergrund etablieren sie ihren Theorieansatz des »neoliberalen Impression Managements«, das sie in Anlehnung an die Konzepte von Erich Fromm, Erving Goffman und Michel Foucault entwickeln (9). Von Erich Fromm übernehmen sie die Idee, dass viele Menschen im modernen Kapitalismus eine »Marketingorientierung« aufweisen. In seiner Analyse der kapitalistischen

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Gesellschaft führt Fromm den Nachweis, dass sich Menschen an einem »Persönlichkeitsmarkt« orientieren und versuchen, sich für andere als attraktiv, kompetent und erfolgreich darzustellen. Von Erving Goffman übernehmen sie ihre Theorie des »Impression Management«. (ebd.) Für Goffman inszenieren Menschen bevorzugt eine Identität, die auf einem Markt für Lebensentwürfe nachgefragt wird. Sie tun dies mit einer Vielzahl von Inhalten, von den Wörtern, die sie verwenden, bis hin zur Kleidung, die sie tragen: »In the society of the selfie the situation is more complicated. Goffman took for granted that co-presence involved people being in embodied, organic proximity (i.e., having access to the other’s immediate verbal and non-verbal signals). Decades ago, when he wrote the above quote, it may have been more possible to establish a firm division between co-presence and embodiment on one side, and their opposites on the other side. Back then, the telephone may have been one of the only partial exceptions to this division. With social media, exceptions abound. The chatroom, or chat window is without all organic bodily signals, but communication generally flows in real time, not unlike a conversation in-person or over telephone. With the capacity to record short audio clips and video clips to send over DM (direct message), an additional organic component is added, even if some of the rhythm of back-and-forth communication is distorted in the act of recording. Video chat, now having exploded in popularity due to the COVID-19 crisis, adds in a strong visual dimension, where it is even possible to simulate (or digitally facilitate) eye contact.« (Morelock/Narita 2021: 40) Als dritten Anknüpfungspunkt haben Morelock und Narita die Machtheorie von Michel Foucault gewählt. Er begreift die neoliberale Wirtschaftskultur als Orientierungswissen für Menschen. Sie konnotiert Menschsein mit einer andauernden Selbstverbesserung. Der Neoliberalismus macht aus der Selbstoptimierung eine ontologische Kategorie, die dem Menschen zugehörig ist. Nutzer/innen, die insgeheim eine neoliberale Gesinnungsethik teilen, versuchen ihr Humankapital (persönliche Vermögenswerte wie Bildung, Ausbildung, Ansehen usw.) zu teilen. Sie entwerfen eine spektakuläre Version ihrer selbst, sie sehen sich als Unternehmer ihrer selbst, sie entwickeln einen Stolz als Vermarkter ihres eigenen Lebens. Sie versuchen, ›objektive‹ Indikatoren (Likes, Follower, Shares) für ihren eigenen Wert zu sammeln:

II. Kommodifizierung des Selbst

»The world of social media renders sociality dependent on images – digitized shapes, sounds, movement and colours that are embedded in the surfaces disseminated on screens. This condition is the result of a long process of socioeconomic development encompassing the growing dominance of sociotechnical apparatuses over the production of human relations. The saturation of the social world with media and images is especially preeminent in the age of the internet, but this sort of condition was well known decades before.« (Morelock/Narita 2021: 15) In diesem Zusammenhang können die spektakuläre Version des Selbst und Aspekte der Gewinnerzielung als öffentlicher Ausdruck der persönlichen Selbstmarke überlagert werden. An dieser Schnittstelle kommen die Selfies ins Spiel. Sie bilden das bevorzugte Kommunikationsformat für die Kommodifizierung des Selbst: »As a mode of digital self-presentation, selfies – particularly those created and posted on Instagram – occupy a complex position in discourses of authenticity and commodification.« (Maguire 2019: 23) Die Kommodifizierung des Selbst impliziert eine Stabilisierung von bestimmten Werten und Normen, die in die spektakuläre Version des Selbst eingeschrieben sind. Emma Maguire vertritt in ihrer Analyse den Ansatz der Mehrfachunterdrückungshypothese (triple oppression) und meint damit die Diskriminierung von geschlechtlicher, ethnischer und klassenspezifischer Zugehörigkeit: »By preserving the ruse of authenticity, communities also preserve traditional labour and class divisions (because only those with the resources can afford to launch careers as influencers), as well as gender and race norms (where feminine beauty and whiteness continue to be valued and traded as commodities). Accepting the value of authenticity means playing within the bounds of traditionally oppressive power structures.« (Maguire 2019: 23) Vor diesem Hintergrund spielen Selfies auf Instagram eine einflussreiche Rolle, denn sie verfügen über ein subversives Potenzial an Selbstinszenierungsstrategien. Selfies können die Mehrfachunterdrückungshypothese im Modus der Geschlechterperformativität erschüttern, wenn sie das Selbst nicht als ontologische Instanz verkörpern, sondern als eine Maske interpretieren, die getragen oder abgenommen werden kann. Entscheidend ist hier, dass nicht ein starkes Selbst mit Hilfe der Selfies in Szene gesetzt wird, um evident zu machen, dass es starke Frauen, starke Ethnien und starke Vertreter/innen

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der sozial benachteiligten Schichten gibt, sondern ein visuell subversiver Akt kann dann entstehen, wenn das Blicken selbst und die vom Bildakt ausgehende Identifikation selbst in Frage gestellt wird. Ein Counter-Selfie ist dann subversiv, wenn das problematische Verhältnis zum dominanten Sehen und zum Sichtbaren, zum Bild und zur Bildwerdung von Frauen, Minderheiten, sozialen Klassen und Ethnien selbst kritisch reflektiert und sagbar werden kann. In seiner Studie »Counter-Selfies and the Real Subsumption of Society« (2021: 20–39) untersucht Grant Bollmer die unterschiedlichen Spielarten der Kommodifizierung der digitalen Selbstdarstellung auf Online-Plattformen und referiert dabei auf die erweiterten marxistischen Marktmodelle, die marktähnliches Verhalten auch in Bezug auf soziale Interaktionen untersuchen: »Selfies, in documenting presence, attempt to valorize one’s identity as that which can possibly be exploited by capital, rather than an act dedicated toward a contribution to the ›general intellect‹ or a common body of gestures and images to be shared. While certainly there exists some collective, egalitarian motivation in ›sharing‹ through the dissemination of an image, it’s difficult to claim that these practices have a political valiance because of their ›wastefulness‹ or because of their ›pointlessness,‹ if merely because they obviously have a point. Selfies contribute to both the goal of ›becoming an influencer‹ and to the goal of being identified, tracked, and ›known‹ by social media metrics. In short, the option presented via social media is to perform personal value through the dis-semination and management of self-images, documenting oneself in front of interesting (or, often, bland and quotidian) backgrounds (that are not phenomenologically experienced) for the sake of brand management and target marketing, or to potentially become ›surplus population,‹ outside of the boundaries of capitalism, unable to be reabsorbed, abandoned as ›life‹ that has no exploitable function.« (Bollmer 2021: 30) In seiner kritischen Sondierung der Kommodifizierung von sozial geteilten Inhalten auf Online-Plattformen und Sozialen Medien nimmt Bollmer Bezug auf die Kapitalismusanalyse von Karl Marx und referiert auf die von ihm getroffene Unterscheidung von formaler und realer Subsumption. Die formale Subsumption ist weisungsgebunden und der direkten Kontrolle unterworfen, die reale Subsumption folgt den Gesetzen des Marktes. Das Argument von Bollmer ist also, dass Selfie-Produzenten die Grenzen der Sozialität unter Bedingungen der realen Subsumtion der Kommunikation durch das Kapital sowohl

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verstehen – als auch anerkennen. Durch die Übernahme individualistischer Taktiken versäumen auch Vertreter kritischer Bildpraktiken, die Vielfalt der entfremdeten Arbeit angemessen zu erfassen, die von Social-Media-Plattformen eingesetzt wird, und gehen stattdessen davon aus, dass das richtige Sehen bereits eine Art reflektierte Einsicht in die Funktionsweisen der Unternehmenspraktiken der unternehmenskonzentrierten sozialen Medien sein kann. Auf Social Media gibt es kein reflektiertes Sehen auf der Ebene konsumorientierter Bildlichkeit (das ist das, was wir auf Instagram sehen), weil das reflektierte Sehen über die Visualität des Front-End hinausgehen muss, um die Datenpraktiken des Back-End miteinbeziehen zu können: »Selfies, then, represent a particular articulation of capital, in which image and in-formation possess value in several different ways – both on the side of the person taking a selfie, who manufactures an image that is of particular worth when it comes to attention and visibility, maintaining personal relationships via the circulation of images, and on the side of social media platforms, who can use selfies as evidence to judge ›engagement‹ and attention, targeting advertisements toward a range of potential consumers who follow or otherwise interact with the person taking selfies. There are, of course, numerous potential side-effects that ›escape‹ the boundaries of a totalizing and restrictive definition of immaterial labour.« (Bollmer 2021: 24) Folglich bleibt eine kritische Visualität auf Online-Plattformen prekär und ambivalent, weil sie die Regeln der Kommodifizierung nicht aufheben kann, auch wenn sie die Regeln der realen Subsumption, die mit den Bildinhalten verknüpft sind, ansprechen würde, könnte diese Intervention die Marktaffinität der geteilten Inhalte nicht aufheben. An dieser Stelle könnte man den Einwand erheben, dass Vertreter der kritischen Visualität, Bollmer nennt sie »CounterSelfies«, einen Bewusstwerdungsprozess (awareness) anregen könnten, doch auch wenn dieser erfolgreich sein würde, könnte diese Intervention sich von der eigenen Datafizierung und Metrisierung nicht befreien. In diesem Zusammenhang entwickelt Bollmer Kriterien einer begrifflichen Dichotomie, die er auf die herrschenden Machtformen der digitalen Gesellschaft bezieht. Im Dialog mit Modellen der gesellschaftlichen Zeitdiagnose führt er die Relation von »Transparenz« und »Opazität« ein und prüft ihre Wirksamkeit in Bezug auf Phänomene der digitalen Kultur:

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»Digital culture seems marked by an intensification of visibility for the purposes of surveillance, legitimated by a demand for ›transparency‹. For theorist Byung-Chul Han, transparency is a term that characterizes the present and its flattened ›positivity‹, where dialectical complexities are eliminated through visibility to rectify an absence of trust. Suggestions to refuse this politics of visibility often argue for a turn to invisibility or inexistence. […] Invisibility too easily disregards the politics of race, gender, and sexuality, and instead suggests a turn to Édouard Glissant’s conceptualization of opacity. Opacity does not refuse visibility, but strategically negotiates a relational politics and poetics that is neither visible nor invisible.« (Bollmer 2021: 32) Politischer Aktivismus in der Transparenzgesellschaft ist allgemein sichtbar geworden. Sichtbarkeit ist nicht nur als Figur des Ausgeliefertseins an die Betreiber der digitalen Infrastrukturen (das sind nach Marx die Besitzer der Produktionsmittel) zu denken, denn die Sichtbarmachung kann auch auf eine alternative Verbreitung politischer Inhalte hinweisen, die in dominanten Mediensystemen unterdrückt werden. Jedoch ist die Sichtbarmachung nicht gleichbedeutend mit einer absoluten Transparenz und dies in mehrfacher Hinsicht. Betrachtet man die Ebene der technisch-medialen Datenverarbeitung sämtlicher Inhalte auf Online-Plattformen und Sozialen Medien, dann sind diese immer auch von Unsichtbarkeit, Intransparenz und Opazität betroffen, wenn ihre Verwobenheit mit den Geschäftsmodellen der konzernorientierten Betreiber der digitalen Environments in Betracht gezogen wird. Generell können digitale Environments in nicht-kompatible Bereiche der Anwendungs- und Analyseschichten gegliedert werden: erstens, Kommunikationsräume der Mediennutzung im Front-End-Bereich und zweitens, Bereiche der informatischen Verdatung, das ist die Speicherung und Verarbeitung personenbezogener Daten im Back-End-Bereich der Sozialen Netzwerkseiten. Betrachtet man die exklusive Back-End-Struktur des Internets, dann zeigt sich ein asymmetrisches Verhältnis zwischen der Benutzeroberfläche im Front-End und dem von Informatiker/innen verwalteten Datenraum im BackEnd-Bereich. Da in diesem vom Host verwalteten Backoffice alle Prozesse der Datenverarbeitung und -weitergabe zusammenlaufen, wird diese Wissensund Beteiligungskluft in der datenkritischen Literatur unter den Leitbegriffen ›Digital Divide‹ und ›Participatory Gap‹ diskutiert. In diesem Zusammenhang kritisiert Lev Manovich die sozialen Auswirkungen gegenwärtiger Massendatenforschung, welche das Datenwissen einseitig kumuliert und verteilt und zu Machtasymmetrien zwischen For-

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schern innerhalb und außerhalb der Netzwerke führen könnte: »Nur SocialMedia-Unternehmen haben Zugang zu wirklich großen sozialen Daten – insbesondere zu Transaktionsdaten. Ein Anthropologe, der für Facebook arbeitet, oder ein Soziologe in den Diensten von Google wird Zugang zu solchen Daten haben, die übrige wissenschaftliche Community hingegen nicht.« (Manovich 2001: 70) Dieses ungleiche Verhältnis festigt die Stellung der sozialen Netzwerke als computerbasierte Kontrollmedien, die sich Datenwissen entlang einer vertikalen und eindimensionalen Netzkommunikation aneignen: (1) Sie ermöglichen einen kontinuierlichen Fluss von Daten; (2) sie sammeln und ordnen diese Daten; und (3) sie etablieren geschlossene Wissens- und Kommunikationsräume für Expert/innen und ihre Expertisen, welche die kollektiven Daten zu Informationen verdichten und interpretieren. Um den kommodifizierten Zugriff auf das digitale Subjekt theoretisch zu modellieren, hat Olga Goriunova den Begriff des Selfies als Datenkonvolut eingeführt: »[D]igital subjects are constructed by matching, correlating, modelling, as well as how they become enactive. The ways of pulling data together into a digital subject is often presented as a logic of fact, where data is equated with documentary evidence. Instead, I propose the notion of the distance in which digital subjects are produced. Indexicality comes from outside of data, whereas the regard for the thick distance becomes a mark of the form of knowledge. I conclude by arguing for a posthumanities approach that establishes the distance while allowing for different subjects to be called upon.« (Goriunova 2019: 125) Die mediengebundenen Ausdrucks- und Handlungsmöglichkeiten als eine reflexive Kommunikation des Selbst über sich stellen ein zentrales Kulturmuster der spätmodernen Gesellschaft dar. Eine Identitäts- und Subjektforschung, die den Einfluss des Mediums auf den Vorgang der Subjektivierung als eigenständige Forschungsfrage und als wissenschaftliches Arbeitsfeld ansieht, lenkt den Blick auf das, was in den medialen Analysen der Subjektivität mit dem Analysebegriff technisch-mediales »Dispositiv« beschrieben wird und stellt einen Bezug her zwischen medialen Anordnungen, Verfahren und Formaten mit Medienreflexionen, Subjektentwürfen und Kommunikationspraktiken. Die produktive Verknüpfung dieser beiden Ansätze bildet den methodischen Kern von Goriunovas Konzept des »digitalen Subjekts«. Sie geht von der Grundthese aus, dass digitale Infrastrukturen wie die ubiquitäre Informationsverarbeitung, eine rechnerbasierte Mobilität im Sinne selbstorganisierender ad-hoc-Netze und kontextorientierter Softwaresys-

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teme aufzeigen, dass Mediengebrauch nicht länger als ›Unterwerfung‹ und ›Anpassungsleistung‹ einer ursprünglichen Subjektivität angesehen werden muss, weil Subjektivität selbst schon hergestellt ist und das Netz bereits zu den gängigen Metaphern zählt, mit denen Subjekte und ihr Verhalten als zeitgemäß beschrieben wird. In dieser Sichtweise können die digitalen Netzwerke als mediale Anordnungen verstanden werden, die auf die beteiligten Akteure institutionellen und normativen Druck ausüben, sich am Prozess der Subjektivierung zu beteiligen: »The digital subject is a mutable construction that is always in the process of being assembled, and at the same time, it has a capacity to acquire enough consistency to become active, transducing various actions on persons back to them. Its ontological uniqueness perhaps lies in a way of capturing something in humans, and in coming back to them, through encounters, events, and processes of mobilisation. If the digital subject is produced within computational infrastructures that inscribe within themselves degrees of plasticity, what is it capable of, as an outside to the self, acting on the self? If its ontology is one of making, of epistemology, what are the relations between knowledge practices that make it up and the environments within which it constantly evolves and acts? What is foundational to it: mathematical logic, philosophical groundings of computer science, concrete practices, the capitalist search for value, assumptions, errors, episodes of violence, metaphors, or fictions? What are its ecologies: apparatuses of power, of subjectification, of knowledge, of automated reason?« (Goriunova 2019: 128) Ergänzend zu der von Lev Manovich geäußerten Datenkritik haben danah boyd und Kate Crawford ihre Forschungen am technisch-infrastrukturellen Aufbau der Netzwerkkommunikation weitergeführt und auf die hierarchisch und pyramidal angeordnete Schichtung der Sozialen Medien bezogen: »The current ecosystem around Big Data creates a new kind of digital divide: the Big Data rich and the Big Data poor.« (boyd/Crawford 2011) Ergänzend zu ihren luziden Analysen zur digitalen Ökonomie eröffnen sie aber auch für die künftige Datenkritik eine vielversprechende Perspektive, indem sie sich von einem zentralen Glaubensgrundsatz des Informationsmanagements distanzieren, der die Entwicklung der digitalen Gesellschaften der Spätmoderne von der zunehmenden Nutzung digitaler Medien und ihrer Großdaten abhängig sieht.

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II.4. Distinktion und soziales Kapital In Anlehnung an die theoretischen Überlegungen Pierre Bourdieus, der in seiner großangelegten Sozialstudie La distinction (Die feinen Unterschiede, 1982) die konkreten Ausprägungen von geschmacklichen Präferenzen als Folge des jeweiligen sozialen Status thematisierte (Bourdieu 1982, kann die gestalterische Aufwertung von Bildinhalten auf Instagram untersucht werden, mit der Jugendliche ihre kulturellen Distinktionen zur Schau stellen, um sich von anderen Individuen und Gruppen abzugrenzen. Wenn Bourdieu festhält, dass »das Streben nach Distinktion Trennungen schafft« (Bourdieu 1985: 21), dann deutet er damit nicht die Gefahr eines brüchiger werdenden sozialen Bandes an, sondern spricht damit eine spezifische Qualität der Vernetzung an, die gegeben sein muss, wenn Distinktion als legitim und plausibel anerkannt werden möchte. In diesem Sinne schafft die Distinktionsarbeit, das heißt »ihrer Fähigkeit, sich durch Entscheidungen, Inszenierungen und Innovationen als selbstbewusstes Praxisfeld zu konstituieren« (Kelleter 2014: 32), eine spezifische Qualität der Netzwerkbeziehung, die wesentlich in der Anerkennung der Distinktion besteht. Bourdieu interpretiert das gesellschaftliche System als einen »sozialen Raum« (Bourdieu 1985: 13f.) und grenzt sich mit dieser Konzeption von der Vorstellung säuberlich getrennter Sozialgruppen ab. Insofern sind der soziale Raum und seine Regeln der Zugehörigkeit und der Abgrenzung wichtiger als die Annahme einer Gruppenmentalität, welche den Raum ihrer Identitätsbildung überdauert. Für Bourdieu besteht der soziale Raum aus unterschiedlichen Dimensionen, die er als drei unterschiedliche Ausprägungen definiert (Bourdieu 1998: 98f.): Kapitalvolumen (herrschende, mittlere und untere Klasse verfügen über unterschiedliches ökonomisches Kapital von Einkommen und Vermögen), Kapitalart (neben dem erwähnten ökonomischen Kapital unterscheidet Bourdieu zwischen dem kulturellen [verinnerlichtes Kapital der Bildung, objektives Kapital der Bücher, institutionalisiertes Kapital der Diplome und Zeugnisse], sozialen [Zugehörigkeit zu einer Gruppe] und symbolischen Kapital [Legitimierung des kulturellen Kapitals, d.i. Prestige, Reputation, Gratifikation]) und das Beziehungsgefüge zwischen sozialer Position und Lebensstilen. Selbstdarstellungen auf Online-Plattformen und Community-Portalen können ökonomisches und kulturelles Kapital entweder als Mitnahmeeffekte (z.B. die an soziologischen Kriterien festzumachende Kategorie der Prominenz) oder in Form einer subjektiven Stilisierung des Lebens (z.B. subjektive Glamour-Inszenierungen) kommunizieren. Die Rele-

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vanz der Stellung innerhalb sozialer Netzwerkbeziehungen bewegt sich für die gewöhnlichen Inszenierungen von Status und Prestige im Spannungsfeld von sozialem und symbolischem Kapital. Für die Aufrechterhaltung des sozialen Kapitals sind kontinuierliche Investitionen zur Produktion und Reproduktion des Beziehungsnetzes notwendig. Das symbolische Kapital entsteht mit der expliziten oder impliziten Anerkennung der Überhöhungen des Lebensvollzugs, wenn Bildinszenierungen gelikt, positiv kommentiert, verlinkt oder auch nur geklickt werden. Im Raum der sozialen Netzwerke werden die sozialen Differenzen mittels Distinktionen kommuniziert – übertragen auf die Bildkommunikation handelt es sich um Bildinhalte, mit denen ein spezifischer Abstand, ein Unterschied mittels spezifischen Lebensstilen (kulturelle Vorlieben, Freizeitverhalten, Markenbekenntnisse, kulinarische Präferenzen etc.) markiert wird. Den Bildinszenierungen von Status und Prestige inhärieren Distinktionszeichen, mit denen Unterschiede gesetzt werden. Ihre Setzung muss nicht zwingend absichtsvoll geschehen, denn die »Distinktion impliziert nicht notwendig […] ein bewusstes Streben nach Distinktion. […] Jede Praxis ist sichtbar, gleichviel ob sie vollzogen wurde, um gesehen zu werden, oder nicht; sie ist distinktiv, Unterschied setzend, gleichviel ob jemand mit ihr die Absicht verfolgt oder nicht, sich bemerkbar zu machen, sich auffällig zu benehmen, sich abzusetzen, distinguiert zu handeln.« (Bourdieu 1985: 21) In der Dynamik der sozialen Vernetzung bilden die räumlichen Positionen fluide Aggregatzustände und lassen sich nicht exakt klassifizieren und dauerhaft vermessen. Die Zeichen der Distinktion stellen perzeptive Unterschiede dar und speisen sich aus unaufhörlich wechselnden Bildinszenierungen samt ihren paratextuellen Rahmungen und aus den veränderlichen Beziehungen innerhalb der jeweiligen Netzwerkbeziehungen. Dennoch bilden sie Orientierungspunkte für die symbolische Dimension des sozialen Handelns, das Stilisierungsmöglichkeiten des Lebens und Lebensstile als Repertoire von Handlungsressourcen eröffnet. Vor diesem Theorie-Hintergrund untersucht Jonathan Schroeder (2021) das kommodifizierte Selfie als eine ästhetische Praxis, die auf visuelle Coups abzielt. Dabei handelt es sich um Alleinstellungsmerkmale, die Aufmerksamkeit triggern sollen, um Clicks zu generieren: »I draw upon conceptions of the selfie as commodity form and aesthetic practice to analyze the selfie as a complex and provocative visual element in contemporary branding. The selfie’s incessant focus on identity mirrors the corporate embrace of identity as a core branding component. Further, as

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selfies generally appear within branded social media platforms, the logic of branding pulses through them, as they serve to draw attention to websites, capture data, and create clickstreams. Considering how brands appropriate, deploy, and promote selfies provides insight into the flows between high and low forms of visual culture into how photography – and self-portraiture – interacts with, supports, and enhances corporate strategy, and how visual trends articulate certain assumptions about consumer culture and social media. I argue that digital self-portraiture cannot be understood without reference to branding and strategic communication.« (Schroeder 2021: 166) Schroeder geht es nicht nur um den mimetischen Aspekt der Kommerzialisierung des privaten Selfies, sondern für ihn ist das Selfie ein Bildsujet, dass selbst ein Aufmerksamkeitsträger geworden ist, also eine Art Bildformel, ein Bestandteil des kollektiven Bildgedächtnisses, dass global geteilt wird und daher für die Werbebranche von großem Interesse ist, wenn es darum geht, eine international wirksame Markenkommunikation zu initiieren: »Selfies serve branding in several ways. Organizations utilize selfies and a selfie aesthetic in their campaigns, producing selfie-infused imagery to lend a contemporary, and often ›authentic‹ appearance to their advertising. To show someone taking a selfie, or indeed to take one yourself, indicates a contemporaneity, a being in the moment. The selfie has also been deployed to harness consumer engagement with brands, via hashtag themes that ask for user-generated selfies on a selected theme.« (Schroeder 2021: 173) Selfies können folglich als potenzielle Erzeuger und Mitgestalter von Markenbotschaften betrachtet werden, denn Marken und Produkte spielen eine maßgebliche Rolle in Selfies. Als visueller Ausdruck von Intimität, Dialogizität und Authentizität rufen Selfies Verbraucheremotionen hervor, die zu einer größeren Kundenbindung führen und zur Interaktivität mit den beworbenen Marken beitragen. Selfies werden instrumentalisiert, um die Interaktivität zwischen Marken und Zielgruppen zu mobilisieren. Für die werbeaffine Instrumentalisierung der Selbstdarstellung wird der Begriff Marken-Selfie-Posting verwendet. Das Marken-Selfie-Posting stärkt die Glaubwürdigkeit von Markenbedeutungen auf digitalen Plattformen, sein Ziel ist es zu vermitteln, dass Konsument/innen nicht nur passive Empfänger von Botschaften sind, sondern auch als potenzielle Erzeuger und Mitgestalter von Markenbotschaften dienlich sein können: »From a brand communication perspective, selfies can pre-

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sent a ›slice of life‹ or a visual testimonial within branding campaigns. Brands draw on the dueling codes and conventions of popular, home photography, as well as the artistic self-portrait, transforming the ubiquitous selfie into a powerful and persuasive strategic communication tool.« (Schroeder 2021: 174) Die Annahme, dass Distinktionen außerhalb der Welt von Instagram immer schon existiert haben und mit dem Online-Dienst bloß eine neue Bühne vorfinden, blendet die maßgebliche Rolle von Medien als Konstrukteure von sozialer Differenz aus. Daher distanziert sich die folgende Analyse von der Annahme einer hypostasierten Selbstbezüglichkeit, darin Medien lediglich als Werkzeuge zur Darstellung eines lebensweltlich bereits gegebenen Subjekts betrachtet werden und thematisiert den medialen Konstruktionsprozess von kommunikativen Prozessen, die ein Spannungsverhältnis zwischen Technologie und Kultur aufbauen: »…constituted by the interplay between interactive functionalities configured at the software level and the invocation and appropriation of various software functionalities to achieve specific purposes in and through users’ actual communicative practices.« (Lomborg 2011: 48) In Anlehnung an die Forschungsansätze zur autobiografischen Medialität (Dünne/Moser 2008) kann dem Medium eine konstituierende Bedeutung im Prozess der Subjektkonstitution zugestanden werden und die Frage nach einem sich medial im Aufnehmen, Speichern und Verbreiten konstituierenden Selbstbezugs aufgeworfen werden. Ace Lehner hat in diesem Zusammenhang das Konzept einer transvisuellen Analyse entwickelt, mit welchem essentialistische Annahmen einer äußerlichen Übereinstimmung von Bild (Repräsentation) und Selbstbild (Identifikation) problematisiert werden können: »Transvisual praxis facilitates an opening up of new ways of apprehending photography’s relationship to assumed truth, revealing that the indexicality associated with photographs is similar to essentialist beliefs about assuming that the exteriority of a subject matches their self-identification, which are western ideological constructions that need to be decolonized, and trans-self-image forwards praxis and methods that facilitate such reworkings.« (Lehner 2021b: 79) Mit diesem Ansatz sollen nicht die Einstellungen von Nutzer/innen widerlegt werden, indem sie bloßgestellt werden, sondern er kann den Blick dafür schärfen, dass Selfies nur bedingt auf ein Selbst verweisen. Selfies und Selbst haben demnach nur eine lose Koppelung, ein Selfie kann als ein Rollenspiel, ein Experiment, ein Spiel verstanden werden und kann von verbindlichen Identitätsskripten abgelöst werden. Eine transvisuell orientierte

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Selfie-Forschung lenkt begleitend den Blick auf die Medialität des Mediums und untersucht die Ermöglichung von historischen Erinnerungsorten und sozialen Bildkulturen mittels medialer Anordnungen, Verfahren und Formate. (Nora 2005; Galloway 2004) In Verbindung mit Hashtags, Geotags und Captions resemantisieren Selfies bestehende Systeme der Verschlagwortung von Inhalten und beeinflussen kollektives Wissen. In Anknüpfung an Andreas Hepps Definition der Mediatisierung als Konzept, »um die Wechselbeziehung zwischen medienkommunikativem und soziokulturellem Wandel kritisch zu analysieren« (Hepp 2014: 191) untersucht das folgende Kapitel die Konstruktion soziokultureller Merkmale und Unterschiede durch medienvermittelte Kommunikation. Distinktionen gelten also nicht ein für allemal als eine feststehende Eigenschaft, die von allen Rezipientinnen und Rezipienten verstanden wird. Vor dem Hintergrund dieser Problematik geht die pragmatische Medientheorie davon aus, dass soziale und kulturelle Distinktionen nicht einfach gegeben sind, sondern dass ihre Glaubwürdigkeit und ihre Plausibilität wesentlich von ihrem Verstehen abhängig sind, die darauf basiert, dass Zuschauer/innen mit audiovisuellen Inhalten einen Wahrnehmungsvertrag eingehen, der den Repräsentationsmodus des Distinktiven als authentisch, dokumentarisch, fiktional strukturiert und den Lektüremodus festlegt. (Hattendorf 1999) Hierzu ein Beispiel. Auf Instagram nutzen Inszenierungen von sozialen Distinktionen dokumentarische Authentisierungsstrategien, um den Wahrnehmungsvertrag zwischen den Eliten und dem Online-Publikum zu stabilisieren. Diese Authentisierungsstrategien beziehen sich hauptsächlich auf evidenzbasierte Fotografien, die ›vor Ort‹ hergestellt werden und die verdeutlichen sollen, dass die im Bild Dargestellten tatsächlich die Besitzer dieses Autos sind, dass sich die Dargestellten tatsächlich im titulierten Privatjet befinden oder dass die dargestellten Personen tatsächlich Zugang zu Geld, Gütern und Besitztümern haben, die in den Kommentaren und mit den entsprechenden Hashtags in Aussicht gestellt wurden. Die genannten Bildstrategien, -elemente und -sujets werden eingesetzt, um den dokumentarisierenden Wahrnehmungsvertrag des ›So ist es!‹ zu stabilisieren. In diesem Sinne sind Bildmedien und Hashtagging hochgradig performativ aufgeladen, weil sie sich in einem andauernden Verdrängungswettbewerb um Aufmerksamkeit befinden.

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II.5.

Rich Kids of Instagram

Seit 2012 können Instagram-Nutzer/innen weltweit den Hashtag #rkoi verwenden, um Fotos ihres verschwenderischen Lebensstils zu dokumentieren. Diese jugendlichen Medienpraktiken von demonstrativem Konsum aus verschiedenen Ländern bildete in der Folge den Aufhänger für eine Reality-TVShow mit dem gleichnamigen Titel und wurde von Channel 4 in sechs Folgen ausgestrahlt. Im Vergleich zu anderen Social-Media-Plattformen ist Instagram für Konsument/innen attraktiver, da es ihnen die Möglichkeit bietet, mehr Aktionen durchzuführen. Empirische Studien zeigen, dass der Interaktionsgrad von Verbraucher/innen mit Marken auf Instagram weitaus höher ist als auf Facebook oder Twitter. Influencer-Marketing spiegelt eine Praxis wider, bei der Influencer/innen die Einstellungen, Entscheidungen und Verhaltensweisen ihres Follower-Publikums beeinflussen können. Instagram definiert nach der Studie von Simona Vinerean (2019) Influencer als »Markenbotschafter«, welche »die Ersten sind, die neue Trends ausprobieren, und deren Wissen über Luxus unübertroffen ist […]. Diese Macht, Marken einem Publikum von Verbrauchern vorzustellen, das ist oft komplementär zu den eigenen Instagram-Followern dieser Marke und das macht sie sehr begehrt.« (Vinerean 2019: 149; eigene Übersetzung) Die Wohlstandsinszenierungen der »Rich Kids of Instagram« demonstrieren exklusive Konsumaktivitäten und Luxus-Lifestyles in den sozialen Medien – oft durch stilisierte und inszenierte ›Selfies‹. Dieses Netzphänomen speist sich aus der populären Ästhetik von Reichtumsdarstellungen, mit denen reiche Jugendliche ihre Konsumwelten – luxuriöse Reisen, Autos, Privatflugzeuge, Yachten, Designermode, Schmuck u.ä. – zur Schau stellen. Um ihre ökonomischen Alleinstellungsmerkmale zu plausibilisieren, achten sie in ihren Bildinszenierungen darauf, sich selbst in Bezug mit elitären Gebrauchsgegenständen zu setzen. Mit diesen Selbstdarstellungen beglaubigen sie den Besitz und die Verfügbarkeit der von ihnen gezeigten Luxusgüter. In der rezenten Literatur wird Luxus als etwas definiert, dass sehr selten ist, von hoher Qualität, sehr teuer, exklusiv ist, ein hohes Prestige repräsentiert und einen emotionalen/hedonistischen Wert darstellt. (Michaelidou et al. 2021: 6) In den Studien zur Reichtums- und Wohlstandsinszenierung auf Instagram wird auf die Demokratisierung des Luxus hingewiesen, die dazu führt, dass unter anderem auch die Nachfrage nach seiner Bildkommunikation gestiegen ist:

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»With the increasing ›democratization of luxury‹ due to globalization and a growing demand for prestige products and services at affordable prices, alternative conceptualizations of luxury have emerged. These include […] unconventional luxury, and collaborative luxury consumption, which challenge key characteristics of traditional luxury, such as being expensive and exclusive. Despite the concept of luxury expanding to include ›day trippers‹ (or excursionists) – that is, the bottom end of the wealth pyramid – there is a paucity of research on the concept of luxury and what it means for the top of the wealth pyramid, that is, the ultrawealthy.« (Ebd.: 7) Diese ausschließlich auf einer audiovisuell-symbolischen Ebene stattfindende Repräsentation von ökonomischem und sozialem Kapital wird zusätzlich aufgewertet und verstärkt mit dem Feedback der Follower, die als Fans von Besitz und Standesdünkel spezifische Diskurs- und Wertungsmuster reproduzieren, um der Reichtumsinszenierung zu seiner Anerkennung zu verhelfen: »Consumer behavior has arguably undergone three recent shifts: from material purchases to immaterial experiences, from signaling wealth and status through consumption to signaling self-identity, and to a state of higher consumption visibility because of the rise of social media.« (Cohen et al. 2022: 1479)

Abb. 3: Clarisse Lafleur on Rich Kids of Instagram, 2016.

Quelle: Popkorn TV

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Das öffentliche Zeigen von Konsum und Luxusgütern spielt generell eine entscheidende Rolle bei der Stärkung des Selbstwertgefühls von Verbrauchern, im Kontext des Distinktionserwerbs durch das öffentliche Ausstellen wird der soziale Status für andere signalisiert. Im Fall der »Rich Kids of Instagram« geht es nicht darum Gebrauchsbedürfnisse zu befriedigen, sondern darum den Besitz und die Verfügbarkeit teurer Gegenstände zu inszenieren. Im Zentrum dieser Inszenierungen steht weniger unmittelbare Bedürfnisbefriedigung durch das Luxusgut, sondern vielmehr die demonstrative Inszenierung ihres Seltenheitswertes, der nur bewahrt werden kann, wenn er nicht verbraucht, also im eigentlichen Sinne konsumiert wird.

II.5.1. #Instafame: Ikonische Inszenierungen von Reichtum, Luxus und Prestige Die Reichtums- und Wohlstandsinszenierungen, die mit Hilfe der Selfies beglaubigt werden und vom privilegierten Subjekt verkörpert werden, werden in der Literatur in zwei maßgebliche Narrative gegliedert. (von Wachenfeldt 2021: 99–118) Eine personengebundene Intention ist dann gegeben, wenn ein hedonistisches Genießen des Luxus unmittelbar an die Person gebunden ist, eine relationale und interaktive Intention tritt dann in Erscheinung, wenn Luxus als Distinktion markiert wird, mit dem eine bestimmte soziale Positionierung innerhalb einer gesellschaftlichen Rangordnung angestrebt wird – in diesem Fall bestimmt sein Besitz die Zugehörigkeit zu einer elitären Gruppe. Das luxuriöse Privileg (Dinge, Orte, Erfahrungen, Ereignisse) erscheint in diesem Narrativ als Eintrittskarte in einen erlesenen Klub der Superreichen. Indem es einen bestimmten Geldwert verkörpert, erscheint es denjenigen, die es in ihrer Verfügungsgewalt haben, als etwas ›Objektives‹, mit dem man den sozialen Abstand und die privilegierte soziale Position messen kann. Die Inszenierungen der neuen Ungleichheit auf sozialen Netzwerkseiten sind hochkomplex, sie involvieren unterschiedliche Formen der Kapitalbildung und sind keineswegs auf die Zuschaustellung ökonomischen Kapitals und sozialer Herkunft beschränkt; sie können unterschiedliche Ausprägungen annehmen, zum Beispiel die sozial exkludierende Form des »Mobilitätskapitals«, das von den Jet-Set-Eliten für sich beansprucht wird: »The ability to convey flexibility through a geographically mobile luxury consumer lifestyle has become increasingly important in the ascension of social hierarchies. Social capital generation has to an extent become based

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on one’s power to cultivate global networks and become mobile. This is reflected by the concept of ›mobility capital.‹ […] Mobility capital is primarily amassed from experiences of living and traveling abroad and has become one of the strongest markers of power and distinction in contemporary societies. Mobility capital is signaled, leveraged, and amplified through social media.« (Cohen et al. 2022: 1481) Der Hashtag #littlemoneybigfun bietet eine Plattform für die parodistische Kritik am Medienphänomen der »Rich Kids of Instagram«. In diesem Fall verfolgen Elitenkulturen des kreativ-künstlerischen Intellektualismus andere Strategien der Selbstdarstellung, die sich von der bildästhetischen Gestaltung bis zum Hashtagging erstrecken. Folglich lassen sich die Praktiken der Distinktion und des Distinktionserwerbs in alle Richtungen verfolgen. Diese Erweiterung der Perspektive ist außerordentlich relevant, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass Instagram nicht auch eine Plattform sein kann, die einen Kommunikationsraum für kritikfähige und selbstreflexive Praktiken bietet. Kritiker monieren, dass mit Medienparodien noch keine tiefergehende Gesellschaftskritik formuliert wird, sondern »der allgemeinen Bedeutung von Intensivierung und Beschleunigung in der postmodernen Kultur« (Bleicher 2006: 38) entspräche. Die parodistische Auseinandersetzung mit der medialen Vermittlung von Reichtum auf Instagram rekurriert hier auf postmoderne Kritikformen der Wiederverwertung von bereits bestehenden Medieninhalten (Sampling, Recycling). So gesehen kann auch zugestanden werden, dass »diese Neukombinationen die kritische Beschäftigung mit dem bereits [Dargestellten] ermöglichen« (ebd.: 39) und eine kritische Neubewertung hegemonialer Bildinszenierungen und Selbstthematisierungen ermöglichen. Paula von Wachenfeldt hat ausgewählte Accounts der »Rich Kids of Instagram« (RKOI) mit Unterstützung der Methoden der digitalen Ethnographie ausgewertet. Im Fokus standen die Online-Räume der beteiligten Instagrammer, die inhaltliche Schwerpunktsetzung lag im Bereich der visuellen Inszenierung von Mode. Der Anspruch der Studie war es, das digitale Storytelling in seiner gesamten Bandbreite zu untersuchen. Dabei ging es darum, das Kuratieren der Bilder der Luxusvermittlung sowohl auf der Bild-, als auch auf der Textebene über einen längeren Zeitraum nachvollziehbar zu machen und die unterschiedlichen Posts miteinander zu vergleichen: »The standardized and sustained activities of the RKOI allow the digital community to dive into a world of sumptuousness and material comfort

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in which a self-conscious identity is created. The luxury fashion brands that are a recurrent theme in the selfies become an intimate part of the self-identity, and more precisely of the branded self-identity. Bryan Bubbly posted ›Travelling light‹ on 6 March 2018, while surrounded by six Louis Vuitton bags. A few days later on 16 March 2018, he posted a picture from Dubai where he is dressed in Gucci from top to toe. Champagne and brands like Versace, Gucci, Louis Vuitton, and Chanel are recurrent bodily adornments, along with furs. Additionally, a major part of the TV show contains moments where the participants take selfies that display their satisfaction with their own bodies. The post ›All #balmain everything‹ showed a sensual selfie of Daria Radionova (29 June 2018), while in another one she wrote ›Should I cut my hair short?‹ while in reality the answer was obvious, as Daria clearly had beautiful long hair (3 June 2018).« (von Wachenfeldt 2021: 106) Diese Protokolle der Luxusvermittlung zeigen die Redundanz von Erfahrungen mit luxuriösen Gebrauchsgegenständen und die Erhebungen zeigen auch, dass die Selbstinszenierungen teilweise mit einem hohen professionellen Aufwand betrieben werden. Die in der Kritik stehende ›überflüssige‹ Darstellung von Luxus stellt nach von Wachenfeldt die eigentliche Grundlage von Luxus als etwas Besonderes und Raffiniertes dar. Die Abhängigkeit vom Bild und von der Bildinszenierung liefert aber auch ein Indiz dafür, dass der konkrete Warenkörper, das Konsumobjekt, den Status nicht befriedigen kann, es bedarf erst seiner Verlebendigung durch das digitale Storytelling, durch die Bildinszenierungen, damit der Luxusgegenstand lebendig ist. Wird er nicht durch das Bild vermittelt und in der Öffentlichkeit ausgestellt, ist er ein toter Körper, denn seine Existenz scheint darin zu bestehen, gezeigt zu werden. Erst wenn er ins Bild gesetzt ist, wird er lebendig und kann seine soziale Macht über andere ausspielen, bleibt er im Geheimen und verborgen im Privaten, verliert er seine Macht und scheint seinen Wert einzubüßen, der nur darin zu bestehen scheint, soziale Abgrenzung und Hierarchie herzustellen.

II. Kommodifizierung des Selbst

Abb. 4: RKOI, 2016.

Quelle: Instagram

Die neue Medienpräsenz von sozialer Ungleichheit gleicht einer Machtdemonstration der neuen globalen Geldelite und wirft viele Fragen auf. Warum erfreut sich das zur Schau gestellte Bedürfnis nach konsumorientierter Abgrenzung so großer Beliebtheit beim Publikum? Welchen Stellenwert haben diese Inszenierungen des sozialen Aufstiegs und des guten Lebens bei der Herausbildung von jugendkulturellen Identitätsentwürfen? Übernehmen die Bilder vom demonstrativen Konsum und der Macht des Geldes die Funktion medialer Vorbilder, denen das Versprechen von Selbstwert und sozialer Anerkennung zugeschrieben wird? Vor diesem Hintergrund hat die weitverbreitete Re-Approbiation von sozialen Mehrwert-Inszenierungen dazu geführt, dass Jugendliche in ihren performativen Akten versuchen, ökonomische Macht und demonstrativen Konsum mit dem Abbild ihrer Konsumgewohnheiten und Gebrauchsgegenstände unter Beweis zu stellen. Diese Schaustellung für andere wirkt nicht nur performativ auf diese, sondern wirkt auch selbstbezüglich auf den Ausführenden selbst zurück und formt sein Selbstverständnis. Oft taucht in diesem Zusammenhang die Frage auf, warum in jugendlichen Nutzungskulturen die Affinität zu Geldbesitz und Konsum derart ostentativ zur Schau gestellt wird. Die angeberische und prahlerische Demonstration von Lifestyle und Markenbewusstsein speist sich aus dem Umstand, dass jugendliche Glamour- und

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Celebrity-Inszenierungen (vgl. Senft 2013: 346–354) über keine legitime Anerkennung und keine soziale Stellung verfügen und sich diese Anerkennung erst vermittels ihrer Medienpräsenz erwerben müssen. Im Unterschied zum ökonomischen Reichtum muss die symbolische Anerkennung immer wieder aufs Neue hergestellt werden, sie überdauert nur kurze Zeit und befindet sich in einem andauernden Konkurrenzverhältnis mit Aufsteigern und Alteingesessenen. Insofern reißt der Strom rivalisierender Inszenierungen, die erst in der Online-Aufmerksamkeit der Likes ihren symbolischen Wert erhalten, nie ab. Daher befindet sich die mediale Inszenierung von prestigegesättigter und konsumorientierter Subjektivität in einem agonalen Widerstreit mit rivalisierenden Entwürfen privater Lebenswelten. Die Verbindung von Selfie-Aufnahmen und mit der Demonstration von Überfluss und Luxus hat auf Foto-Sharing-Plattformen eine gesteigerte Aufmerksamkeit für eine sich ausbreitende Self-Branding-Bewegung hinterlassen. So gesehen hat sich ein Luxusblick als visuelle Rechtfertigung von Luxuskonsum, generellen Konsumismus und affirmativen Kapitalismus etablieren können, der nicht nur auf einer individuell-persönlichen Ebene für ein erfolgreiches und geglücktes Leben steht, sondern für die Stabilisierung einer neo-feudalen Ökonomie steht. Die Selbstdarstellungen von Besitz und Luxusleben kann als eine direkte Affirmation ökonomischer und sozialer Ungleichheit verstanden werden, konkret wird die Akkumulation von Ressourcen im Besitz eines immer kleineren Teils der Gesellschaft als erstrebenswert beworben. Damit wird die Konzentration von Reichtum und Wohlstand auf privilegierte Gruppen mit der Werbesprache von »sexy« und »geil« aufgewertet. Die direkte Anerkennung der Werte und Normen einer neo-feudalen Gesellschaftsordnung ist in den Figurenkonstellationen der »Rich Kids of Instagram« intrinsisch angelegt: um einen Protagonisten in der Bildmitte scharen sich weitere Figuren, die ihn anerkennend anblicken, sexualisierte Frauenkörper, die den wohlhabenden Helden im Bildzentrum mit ihren Blicken aufwerten. Instagram ist aber nicht nur eine Top-down-Bühne für die Darstellung der Reichen und Super-Reichen, sondern verbreitet Bildrepertoires und Rollenangebote, die jugendliche Nutzer/innen untereinander in P2P-Communities kommunizieren. Die Microblogging- und Foto-Plattform hat einen weltweiten Aufmerksamkeitsmarkt für Selbstthematisierungen in Konsumwelten in Gang gesetzt und hat sich zu einem populären Format der prestigeträchtigen und glamourösen Life-Style-Inszenierung entwickelt: »Thus Instafame is not egalitarian but rather reinforces an existing hierarchy of fame, in which the

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iconography of glamour, luxury, wealth, good looks, and connections is reinscribed in a visual digital medium.« (Marwick 2015: 137–160) Die auf Instagram beliebten Inszenierungsformen demonstrativen Konsums und glamourösen Lifestyles tragen dazu bei, die Stabilität der sozialen Unterschiede zwischen Schichten und Milieus zu sichern. Reiche und SuperReiche spielen nicht nur auf Instagram die Rolle von kollektiven Role Models, in den letzten Jahren haben sie das mediale Interesse der Öffentlichkeit erregt und stehen selbst als Celebrities vor der Kamera in TV-Serien (»Keeping Up with the Kardashians« [Start: 2007], »Rich Kids of Beverly Hills« [Start: 2014]) und im Reality-TV (Die von RTL II seit 2011 ausgestrahlte Serie »Die Geissens« zeigt die Millionärsfamilie Robert und Carmen Geiss in der Hauptrolle). Soraya Murray (2021) macht darauf aufmerksam, dass die Selfie-Kritik oft mit unzulässigen Kategorien von Jugend und Jugendlichkeit operiert. Oft wird das Selfie als Synonym für jugendlichen Medienkonsum gesetzt, nämlich mit der Argumentation der unzulässigen Verallgemeinerung. Damit wird einer gesamten Generation ein allgemeines Verhalten unterstellt, das als ›typisch‹ gesetzt wird, diese Setzung unter Generalverdacht homogenisiert eine soziale Gruppe und wird – ohne empirischen Nachweis – zur Stabilisierung des eigenen Ressentiments postuliert: »Often discussed as a negative consequence of capitalist consumer-based consumption the selfie appears to represent a critique of youth who have become subsumed within a troubling consumerist fixation with the superficiality of self-imaging and the cult of personality. […] The internet and especially the rise of social media have served to bolster the globalized reach of advanced computer capitalism – and the rise of self-branding has been particularly rapacious, encouraging an often-distorted notions of subjectivity and individual success that are subsumed by a consumerist logic.« (Murray 2021: 91f.) Dem Mehrwert der Bilder inhärieren unterschiedliche Strategien, die sich im breiten Spannungsfeld zwischen Massengeschmack und elitären Alleinstellungsmerkmalen bewegen. Mit der sozialen Ausdifferenzierung von OnlineProfilen haben sich Merkmale sozialer Polarisierung etablieren können. Mediale Inszenierungen von Herkunft, Status und Einkommensungleichheiten zählen heute zu den populärsten Sujets auf Instagram und tragen zur Feudalisierung der sozialen Netzwerke bei: »Die visuelle Inszenierung von Reichtum auf Instagram kreist um eine möglichst realistische und detailgetreue Abbildung materieller Güter, Posen und Insignien ökonomischer Macht.« (Titton

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2014: 189) Der Hype um die »Rich Kids of Instagram« und die gefeierte Zurschaustellung von exklusiven Erlebnisqualitäten könnte folglich als ein Indiz dafür angesehen werden, dass nach der Peer-to-Peer-Ära der Geschmacksnivellierung eine neue Ära der populärkulturellen Evolution beginnt, die sich durch Bedürfnisse nach einer neuen Ungleichheit und kulturellen Abgrenzung von anderen auszeichnet.

II.6. Selfie Wars: GoPro, Ego Shooter & Gamification Action-Cams im Point-of-View-Modus (POV) markieren einen neuen Wendepunkt in der Gamifizierung des Krieges und des gewalttätigen Extremismus: »[…] the unconventional modus operandi – namely the livestreaming of violent acts – that may inspire subsequent imitations of gamified attacks.« (Lakhani/Wiedleitzka 2022: 2) Ein UNESCO-Bericht aus dem Jahr 2018 beschreibt, wie »das 21. Jahrhundert die Waffe von Informationen in einem beispiellosen Ausmaß erlebt hat.« (Ireton/Posetti 2018: 15) Leistungsstarke neue Technologien haben die Manipulation und Herstellung von Inhalten einfach gemacht, und soziale Netzwerke verstärken den von beteiligten Staaten, populistischen Politikern und waffenliefernden Unternehmen verbreiteten Informationskrieg: »Meanwhile, the Oxford Internet Institute refers to contemporary forms of influence warfare as computational propaganda, while other researchers have examined the rising threat of ›information aggressors‹ and ›information wars‹ – sometimes aimed at persuasion, often morphing into vicious cyberbullying. Books, research articles, and reports have been published over the last decade describing the age of weaponized narrative, media manipulation, or information disorder. Throughout these digital influence wars, the attacker wins (and the target loses) by successfully influencing the target to think and do things that benefit the attacker’s political, social, or other goals.« (Forest 2021: 16) Sebastian Deterding hat den Begriff der »Gamification« maßgeblich geprägt. Seine vielzitierte Definition meint die Eingliederung von spielerischen Elementen und Funktionen in nicht-spielerische Kontexte, alltägliche Prozesse und Objekte (Deterding 2011: 9–15). Diese Eingliederung des Spiels in die Lebenswirklichkeit der Nutzer/innen verläuft aber nicht als ein eindimensionales und lineares Popularisierungsprogramm, das gleichsam von oben

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nach unten verordnet und durchgesetzt wird, sondern eröffnet prozessorientierte Spielräume, die im Aushandlungsprozess der beteiligten Akteure und ihrer divergierenden Rollen und Interessen am Spiel situativ und selektiv entstehen. Die gamifizierte Repräsentation kriegerischer und gewaltextremistischer Handlungen ist nicht als medialisierte Ausführung überindividueller Normen oder passiver Aneignung zu verstehen, sondern sie räumt insbesondere mit POV-Inszenierungen den Individuen die Möglichkeit ein, ihr eigenes Erleben in den Mittelpunkt der Aufzeichnung zu stellen. Es haben sich neue Praktiken digitaler Medien im Alltagseinsatz herausgebildet, die mit Beteiligungsperspektiven die Nachfrage nach Unmittelbarkeit und Realitätsnähe auf den Bildermärkten befriedigen. Gamifizierte Kriegsbilder in der Perspektive der Ego-Shooter sind populär und breiten sich auf Videoplattformen und Sozialen Netzwerkseiten aus: »First Person GoPro videos provided another tool in their growing hybridwarfare toolbox. […] The application of video game culture to the propaganda videos of the opposing forces in both Syria and Iraq has been given impetus by the affordances embedded in the internet and streaming platforms, such as YouTube, and their proliferation.« (Martino 2021: 38) Die Bilder, die sowohl von staatlichen als auch nichtstaatlichen Akteuren in Syrien generiert und dann über digitale Streaming-Plattformen und das Internet verbreitet werden, setzen denselben Prozess der Demokratisierung politischer Propaganda fort, den soziale Medien ermöglicht haben. Sowohl der Konflikt im Irak als auch in Syrien sind für Martino Beispiele für eine hybride Kriegsführung, die auch medialisierte Formen militärischer Gewalt benutzt, um den digitalen Informationskrieg im Internet für die Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu instrumentalisieren. Die GoPro-Kameratechnik wird jedoch nicht nur zur subjektiven Aufwertung von Schauwerten eingesetzt, sondern auch von neutralen Akteuren im Kriegsgeschehen, welche die GoPro als neutralen Kamerablick instrumentalisieren, wenn subjektive Handlungen gesetzt werden. Hier wird unterstellt, dass die Kamera auf dem Helm als ein unabhängiger Beobachter fungiert, wenn Einsätze im Kriegsgebiet durchgeführt werden. Im Fall der weißen Helme, die in Rettungseinsätzen in Syrien aktiv sind, wird die Subjektive der GoPro als objektivierende Instanz eingesetzt, um die Umstände des Rettungseinsatzes später rekonstruieren zu können. Die First-Person-Perspektive dominiert heute die Verbreitung von Bildern des Krieges im Netz. Ursprünglich wurden Ego-Shooter im Freizeitbereich

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entwickelt und setzen sich aus den vier folgenden Komponenten zusammen: Computer, Film, Fernsehen und Militärtechnologie, wobei letztere die vorherigen drei informiert. Der Computer ist sowohl Produktionswerkzeug als auch Konsumraum. Kino und Fernsehen liefern den visuellen Stil und den narrativen Kontext Ego-Shooters, während das militärische Ethos die ideologische Grundlage für das Genre liefert. Mobile Technologie ist ein grundlegender Bestandteil der Erfahrung von Soldaten an der Front und bietet eine andauernde Konnektivität für militärische Kommunikation. In diesem Zusammenhang haben Studien die jeweiligen Bildermärkte und Zielgruppen für Kriegsbilder eingehend untersucht. (Horbyk 2020) Kriegsbilder im Internet befinden sich in einer permanenten Rivalität mit anderen Bildern des Krieges und so befinden sich die Akteure kriegerischer Auseinandersetzungen auch in einem Krieg der Bilder, der durch den unaufhörlichen Strom immer neuer Bilder angeheizt wird. Vor diesem Hintergrund geht es schon lange nicht mehr um passive Teilnahme an einem Kriegsschauplatz, sondern vielmehr um die Frage, wie man am meisten von einem Kriegsschauplatz ›profitieren‹ kann, um am meisten von ihm als Vermarktungspotential ›herauszuholen‹. Die Kameras werden auf Helmen und Waffen von Kombattanten, auf Panzerfahrzeugen, Kanonen oder Flugzeugen befestigt und sie zeigen gamifizierte Bilder militärischer und terroristischer Kampfhandlungen. Ihr bevorzugter Drehort ist der Tatort in actu, an dem es zur unmittelbaren Begegnung mit dem Feind/den Opfern kommt. Im Internet kann das Genre der neuen Kriegsbilder u.a. mit den Hashtags #GoPro #Combat #Footage erschlossen werden. Trotz inhaltlicher Ausdifferenzierung hat sich die Ego-Perspektive als beliebteste Einstellung des zeitgenössischen Krieges manifestieren können. Sie regelt das geteilte Kriegserlebnis, mit ihr können sich sowohl die Produzenten als auch die Rezipienten identifizieren. Heute stellt der POV-Shot das sozial geteilte Bildrepertoire und das digitale Bildgedächtnis der Generation Instagram, TikTok, Discord oder Twitch. Zur Steigerung des Schauwertes werden mit der auf dem Helm montierten GoPro-Miniaturkamera Ego-Perspektiven des Krieges und des gewalttätigen Extremismus per Livestreaming im Internet verbreitet. (Pop 2019: 52–74) Dabei referieren sie auf Bilderwelten, die vom Spielen mit Ego-Shootern und gamifizierten Environments bekannt sind:

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Abb. 5: Ein Weißhelm-Mitglied trägt ein verwundetes Mädchen nach russischen Luftangriffen auf Urum al-Kubra, eine Stadt westlich von Aleppo, Syrien, 6. November 2016.

Quelle: The New York Review

»This is evident in various materials produced by the attackers, including – similar to the Christchurch assailant – manifestos, FPS live-streams of their attacks, and reactions by users to their attacks on online spaces like 8chan (or subsequent spaces since it has been shut down), Telegram etc. For example, as found in most videogames, the Halle shooter had a list of ›objectives‹ and ›achievements‹ in his manifesto that he hoped to unlock. Gamification publicizes the attack to a wider audience, blurs the line between ›shitposting‹ and violent extremism, and appeals to a wider and potentially younger audience, amongst other considerations. Gamification also enables people to blur boundaries between the real and virtual world and for some is a way to structure reality.« (Lakhani/Wiedlitzka 2022: 12)

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Abb. 6: Ukraine War – Ukrainian Special Forces Operate Deep In Russian Held Territory. GoPro Helmet Cam.

Quelle: YouTube

Mit Hilfe von Action-Cams und Videostreaming-Verfahren erreichen Terror und bewaffnete Konflikte als Ergebnis der Allgegenwart von Liveness und niedrigschwellig verfügbaren Inhalten heute eine globale Öffentlichkeit auf Social-Media-Plattformen. Die breite Verwendung der GoPro-Technologie durch staatliche und nichtstaatliche Akteure hat heute einen gamifizierten Kampfraum geschaffen. Die Verbreitung von ego-zentrierten Bildern des Kampfgeschehens aus der Perspektive der unmittelbar am Kampf beteiligten Akteure erfüllt einen alten Medientraum der ultimativen Verlebendigung des Krieges. Dieser Medientraum lebt in den Soldaten weiter, die mehr riskieren, wenn sie wissen, dass die Kamera läuft oder dass ihre Bilder live im Netz übertragen werden. Soldaten befinden sich heute nicht nur im Kampf mit dem Feind, denn sie kämpfen auf dem Schlachtfeld auch einen Kampf um Aufmerksamkeit. Militärische Akteure kämpfen darum, im Internet wahrgenommen zu werden, sie kämpfen im Wahrnehmungskapitalismus um Likes, wenn sie versuchen, aufsehenerregende Bilder von Überleben, Tod und Gewalt zu posten.

II.6.1. Ausnahmezustand und Authentizitätsregime Die GoPro im Krieg verknüpft zwei wesentliche Elemente: sie verkörpert erstens die traditionell mediale Befriedigung realitätsnaher Kriegsdarstellung; und zweitens schafft sie eine neue Bühne für die Selbstinszenierung eines

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individualisierten Kriegsheroen, der bereit ist, seine persönliche Erfahrung mit einem digitalen Publikum zu teilen. Damit erweitern die mobilen Kriegskameras das von Paul Virilio beschriebene Bündnis von Krieg und Kino (1986) um einen entscheidenden Punkt. Die am Kampfplatz verwendeten mobilen Miniaturkameras zeigen Krieg ausschließlich aus subjektiver Perspektive und verweisen auf die technikgestützte Medialisierung spontan gelebter Lebenswirklichkeit. Individuelle Erfahrungen sind aber selbst vermittelt und können daher immer schon als »Momente einer durch Begriffe und durch Sprache vermittelten Auseinandersetzung mit der Realität, mit der Gesellschaft« (Negt/Kluge 1972: 34) verstanden werden. In diesem Fall verweist das GoPro Combat Footage nicht auf eine unverstellte Wahrheit des Krieges, sondern vielmehr auf Formen kollektiv geteilter Bildpraktiken und eröffnet eine popularisierende Anschlusskommunikation an die Action-Cam-Ästhetik der First-Person-Perspektive und der Ego-Shooter-Games, die beide die Action als zentralen Imperativ einer gelungenen Medienhandlung nahelegen. Dieser Imperativ lautet: Action, Action, Action! Die daraus resultierende Dominanz des Bewegungsbildes minimiert nicht nur Diskursfähigkeit und Reflexivität. Die Faszination der GoPro-Aufnahmen beruht vor allem auf der neuartigen Ästhetik, mit den Augen eines anderen sehen zu können und transportiert damit einhergehend das – in der Mediengeschichte nicht unbekannte – Begehren nach (medial hergestellter) Nähe-Erfahrung. Die GoPro im Krieg steht aber weniger für die Liveness der Fernsehgesellschaft, am Krieg als passiver Zuschauer teilzunehmen, sondern für ein neues Partizipationsregime, das Krieg vor allem als Präsenzerfahrung einer radikalen Subjektivität feiert. Auf dem Spiel stehen nicht nur die Verhandlungen einer neuen Bildkultur, sondern neue Formen der Subjektivierung. Dementsprechend kann die GoPro im Krieg auch als eine neue Form der digitalen Bildkommunikation gelesen werden. Nach Giorgio Agamben ist das zentrale Merkmal des Ausnahmezustandes der neuen Kriege, dass er »die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat« (2004: 72f.) aufhebt und damit einhergehend ein »nacktes Leben« erschafft, über das der Souverän uneingeschränkt verfügen kann. Genau an dieser Schnittstelle verortet sich das mediale Setting der GoPro, die alle Kriege der Gegenwart mit einer visuellen Signatur durchdringt. Die GoPro nivelliert die Differenz zwischen öffentlich und privat und schafft ein »nacktes Leben«, das bereit ist, sich überall und jederzeit dem Tod hinzugeben – sowohl als Täter, als auch als Opfer. Die GoPro vermittelt diese grundsätzliche Bereitschaft, in jedem Augenblick mit dem Tod konfrontiert zu sein. Damit öffnet die GoPro den Blick auf

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das Reale des Ereignisses und suggeriert dem Zuseher: in jedem Moment der Übertragung ist es möglich, dass der Tod in die Ordnung des Blicks einbricht und seine Wahrnehmung stört, unterbricht und auslöscht. Die Präsenz dieses von Agamben beschriebenen »nackten Lebens« trägt maßgeblich zur Faszination des GoPro Combat Footage bei. Offensichtlich möchte es Fenster zur Realität des Krieges sein, im Reflexionsprozess zeigt sich aber, dass es hergestellt ist und dass auch das »nackte Leben« kulturell kodiert ist.

II.6.2. Der Kampf als mediale Erlebniswelt Mediale Stile von Präsenzerfahrungen (Point of View, Single-Shot, personalisiertes Hashtagging etc.) gelten heute als Leitwährung auf Sozialen Netzwerkseiten. Die Unmittelbarkeit des Gesehenen ist zwar so nah am Kriegsgeschehen wie nie zuvor, hinterlässt aber eine Krise der Bedeutung des Gezeigten, das in seiner brutalen Realität oft nur eine Schockwirkung zu entfesseln vermag. Wie bereits Roland Barthes in seinen Mythen des Alltags (1964) beschrieb, unterdrückt der von einem Bild ausgehende Schock eine kritische Reflexion, weil er ausschließlich auf eine phatische Kommunikation ausgelegt ist, die versucht, Emotionen zu adressieren. Angesichts der auf Online-Video-Plattformen verbreiteten Kriegsvideos muss der Zusammenhang von Krieg und Medien neu definiert werden. Die GoPro popularisiert das taktische Bild des Krieges als Frontkampf und rückt den Frontkämpfer in der Nachfolge von Ernst Jünger (Der Kampf als inneres Erlebnis, 1922) als Subjekt des Krieges in das Zentrum kriegerischer Erlebniswelten. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine subkulturelle Aufwertung des Krieges, wenn wir mit dem scheinbar »genuinen« Blick des Soldaten den Krieg miterleben können. Andererseits ist uns diese Ego-Perspektive vertraut, wenn wir in Betracht ziehen, dass freizeitorientierte Action-Cam-Videos und Shooter-Games auf der Point-of-View-Ästhetik basieren. In diesem Sinne geht es weniger um die visuelle Entbergung subjektiver Erfahrung im Krieg, sondern um Pop-Wars, die von Kriegsteilnehmern als Chance gesehen werden, auf Online-Plattformen endlich breitenwirksam wahrgenommen zu werden. Anstelle von Krieg und Kino geht es heute um einen entscheidenden Medienwechsel vom Kino zu gamifizierten Bildformen, d.h. um den strategischen Zusammenhalt von Krieg, Action und Gaming. Der Pop-Krieg der Gegenwart beginnt an der Spielkonsole und vereinigt sich auf den Plattformen, wo Kriegshandlungen als Adventure Gaming, als Augmented Reality oder als Game Thru

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Sessions auf Twitch angesehen werden. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Krieg als ein levelbasiertes Spiel angesehen werden kann, das Leben kostet und Kollateralschäden verursacht. Auf Videoplattformen häufen sich Videos von Soldaten, die GoPros tragen und mit einem letalen Schuss hingestreckt werden. Die Kamera bleibt on und filmt nicht den Tod des Soldaten, sondern den Zusammenbruch der Bewegung und ihrer Wahrnehmung: der leere Kamerablick ist der neue Code für den Tod – auf den einschlägigen Plattformen hat sich ein eigenes Genre herausgebildet, dass GoPro War Thru Sessions zeigt, die mit dem Tod des Kombattanten enden, während die Kamera immer noch im Standby-Modus weiterfilmt. Mit der breiten Popularität der Ego-Perspektive – vom Selfie bis zum Shooter – verändert sich auch die visuelle Kultur des Krieges, indem die Point-ofView-Perspektive des Krieges als Wiedererkennungsmerkmal von dokumentarischer Evidenz gilt und dem Krieg eine neue Bildersprache verleiht.

II.6.3. Gamifizierung des Krieges Die Herstellung von möglichst realitätsgetreuen Bildern des Frontgeschehens ist kein neues Phänomen. Alle zeitbasierten Bilder-Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts sind gekennzeichnet vom Hunger der Medien, den Krieg aus nächster Nähe zu dokumentieren. Der vieldiskutierte Einsatz von Embedded-Journalists während des Irak-Krieges 2003 zielte nicht nur auf eine mediale Verlebendigung des Kriegsgeschehens, sondern diente in erster Linie der Erfüllung eines strategischen Kriegsziels, nämlich die Bilderproduktion vom Krieg militärisch einzubetten und damit auch inhaltlich kontrollieren zu können. Die Medienlogik der Action-Cams geht noch einen Schritt weiter. Sie bilden scheinbar eine unauflösliche Einheit mit dem Körper des Soldaten und eröffnen ein Fenster zur Welt ihrer unmittelbaren Kriegserfahrung. Das Authentizitätsregime der Action-Cams zielt auf ihre Präsenzerfahrung und verspricht, ein Bild des Krieges zu zeigen, dass sich medial unvermittelt präsentiert. Andererseits werden diese Kriegsbilder heute auf Online-Plattformen geteilt, kommentiert und in interpretatorische Kontexte eingebettet. Sharing is caring! Geteilt wird die Erfahrung eines taktischen Körpers, der permanent vom Überleben gezeichnet ist, der andere mit dem Tod bedroht und selbst vom Tod bedroht wird. Diese radikalen Wahrnehmungsbilder des Krieges verbreiten sich in Echtzeit auf Online-Plattformen und entsprechen der Logik von walkthroughs auf Gamer-Plattformen wie Twitch. Wir können Soldaten

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und paramilitärische Kämpfer beobachten, die Action-Cams auf ihren Helmen befestigen und in Kampfhandlungen bei laufender Kamera verwickelt sind. Die Kriegsteilnehmer übertragen spezifische Sehvorgänge: das Spähen nach dem Feind, das Visieren, das Sichern nach allen Seiten. Dieses taktische Sehen im Feld steht für visuelle Nähe zum kriegerischen Handeln und ist zum beliebten Schauwert auf Sozialen Medien und Online-Videoportalen aufgestiegen. Mit der veränderten Medialität des Krieges verändert sich auch sein Aufmerksamkeitswert, der sich aus taktisch-subjektiven Aufnahmen und situativen Konstellationen zusammensetzt. Die Ego-Perspektive der ActionCams rückt an die Stelle der strategischen Totale die Unübersichtlichkeit des Feldes. Damit fügt sie sich in eine visuelle Kultur des szenischen Spannungsaufbaus ein, die uns aus dem Suspense-Kino und der Labyrinthstruktur von Ego-Shootern bekannt ist. In beiden populären Formaten geht es um die Inszenierung von Blickangst, die im Wesentlichen mit dem Fehlen von Weitsicht und mit dem Entzug von Umsicht operiert. Der Krieg um die Bilder wird heute auf Videoportalen und Sozialen Netzwerkseiten geführt. Dabei geht es nicht nur um die Bildinhalte. Im Unterschied zu analogen Bildern des Krieges sind digitale Bilder in Vernetzungsmedien mit einer Vielzahl von Codes, Protokollen und Datenaggregationen verknüpft, die den gesamten Kontext von Produktion, Distribution und Rezeption der Videoinhalte beeinflussen. Online-Videos sind mit einer Vielzahl von popularisierenden Paradaten verknüpft, die – neben den Metadaten – zur weiterführenden oder vertiefenden Bestimmung von Videoinhalten genutzt werden können. Im Unterschied zu den Metadaten, die als Daten über Daten beschrieben werden (z.B. als Beschreibungen über bestimmte Werte-Beziehungen, Informationen über Variablen-Bezeichnungen), entstehen immer auch Paradaten im Prozess der Videoherstellung und Videorezeption. Der Umstand, dass Videoinhalte mit Hilfe bestimmter paratextueller Verfahren, die der eigentlichen Rezeption vorausgehen, versehen sind, hat Gérard Genette im literaturtheoretischen Zusammenhang bereits in Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (1982) beobachten können. In diesem Werk hat Genette intertextuelle Verfahren untersucht und Textteile herausgearbeitet, die zusammen mit dem Text auftreten (griech.: para = neben), aber nicht eigentlich zum Text gehören. Im Kontext des gegenwärtigen Syrien-Krieges wurden zahlreiche GoPro-Videoaufnahmen von teilnehmenden Kriegsparteien mit einem Teaserbild versehen, das eine Ego-Shooter-Aufnahme zeigt. Zu sehen ist eine Waffe im Bildvordergrund, die von einem Soldaten getragen wird. Teaser (to tease ›anlocken‹; ›reizen‹) werden als zusätzliche Medienangebote zur Len-

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kung von Aufmerksamkeit eingesetzt und operieren mit Formen der Verknappung von visueller Information. Das Vorschaubild des Bildteasers verleiht Videoprodukten eine Art Schaufenster, um den Reiz zu maximieren, das Video anzuklicken. Man nennt diese Methode der Herstellung von Aufmerksamkeit ›Clickbaiting‹, deren Ziel es ist, weiterführende Beiträge mit hohen Klickraten aufzuwerten, damit diese öfter in Suchvorgängen von sozialen Netzwerken geteilt werden. Was macht den Erfolg von Bildteasern von GoPro-Videos des Syrienkriegs aus? In erster Linie waren Videos erfolgreich, die es verstanden haben, Wahrnehmungsfeld und Schussfeld in einer Einstellung zu verschmelzen. Damit nehmen sie explizit Bezug auf die von First-Person-Shootern bekannte Bildfeldeinstellung der subjektiven Kamera: a guy with a gun. Mit dieser Bezugnahme rufen die Videos der GoPro-Kriege explizit eine Pop-Ikone der Ego-Shooter-Games auf, um ihrerseits popkulturelle Wiedererkennungseffekte der First-Person-Perspektive herzustellen und auf den Syrien-Konflikt zu übertragen. So unterschiedlich die Videos auch sein mögen, alle Videos versuchen, einen visuellen Anschluss an die Ego-Shooter herzustellen. Die untersuchten Videobilder etablieren immer auch Elemente der Gamifikation, die dem männlich dominierten Ego-Shooter entnommen werden. Damit erhält das digitale Bild Ego-Kriege ein männliches Rollenmodell, welches in der Popkultur des First-Person-Shooters verortet wird. Videos und Gaming Culture bilden folglich ein Hybrid: das mediale Beteiligungsdispositiv der GoPro-Action-Cam wird in der bereits anerkannten Ego-Perspektive des subjektzentrierten Gamings lokalisiert, um die Wiedererkennung mit einer popkulturellen Ikone, das ist die Ego-Shooter-Perspektive, herzustellen. Das Fallbeispiel des Einzelbild-Teasers hat genau diese Kriterien erfüllt: die subjektive Kameraperspektive des eingefrorenen Point of Shooting ist plastisch genug, um eine Anschlusskommunikation an die Ego-Shooter-Community herzustellen. Die Ego-Shooter-Perspektive ist über den engeren Zusammenhang hinausgehend mittlerweile eine popkulturelle Ikone, die in der medialen Berichterstattung oft als visuelle Synekdoche für ›Killerspiele‹ gesetzt wird. Die Action-Cam-Bilder der gegenwärtigen Kriege können mit diesem Einzelbild-Teaser also eine breit gestreute Rezeptionserwartung adressieren. Andererseits zeigt der Einzelbild-Teaser des Ego-Shooters, dass sein Referenzbild aus stereotypen Elementen besteht, die andauernd reproduziert werden können (subjektive Blickperspektive, Waffe, Feindwahrnehmung) und auf die Herstellung einer gemeinsamen Identität zwischen konfligierenden Sichtweisen abzielen.

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Folgt man dieser Auffassung, dann können auf Online-Plattformen verbreitete Kriegsvideos nicht nur auf werkimmanente Videoinhalte reduziert werden. Freilich können wir in der Analyse auktoriale Strategien nachweisen, mit denen die Videos mit Lenkungserwartungen versehen werden: Titel, Teaser, Tags und andere Lektürehinweise werden auktorial gesetzt und können nicht direkt modifiziert werden. Es ist aber auch dafür argumentiert worden, dass eine umfassende Theorie der Praxis des Online-Video-Sharing sich mit den digitalen Zäsuren der Medien- und Bildkultur auseinandersetzt, die im Spannungsfeld technisch-medialer Dispositive, der Praxis der Online-VideoNutzung und des Webvideo-Minings im Back-End-Bereich der Plattformbetreiber entstehen und an deren Schnittstellen Bilder evoziert werden, deren soziale und politische Wirkmächtigkeit wir nicht außer Acht lassen dürfen.

II.7.

Bildpraktiken der Selbstvermessung

Dieses Kapitel thematisiert bildbezogene Körperdarstellungen in OnlineKommunikation mit dem Fokus auf ›Fitness‹. ›Fitness‹ kann als ein LebensstilProdukt historischer, politischer, sozialer, kultureller und zeitlicher Fokusverschiebungen verstanden werden, die mit aktuellen Vorstellungen von biometrischen Wissensstrategien, neoliberaler Leistungsfähigkeit und körperlichem Perfektionismus in der Waren- und Konsumgesellschaft verbunden sind. Fitness-Selfies werden nicht von oben nach unten verordnet, sie entstehen intrinsisch motiviert an der Schwelle zwischen dem Privaten und sozialen Erwartungen, die von nahestehenden Bezugsgruppen anerkannt werden. So gesehen, sind Fitnesspraktiken und ihre Evidenzpraktiken der Sichtbarmachung, an deren Spitze das Selfie steht, ein Ergebnis einer positiven Selbstdisziplin.

II.7.1.

Verdatung des Körpers

Fitness-Selfies stehen für eine Mikroverteilung der Macht, sie demonstrieren in Summe eine Form der Selbstdisziplin, die sich kollektiv durchgesetzt hat, sie formieren pars pro toto ein neoliberales Leistungsdispositiv. Das Buch Pain Generation, Social Media, Feminist Activism, and the Neoliberal Selfie (2021) von L. Ayu Saraswati bietet eine aufschlussreiche Analyse, wie soziale Medien die Betonung der Produktivität und des Selbst durch den Neoliberalismus neu einschreiben und verstärken. In diesem Kontext legt sie die Art und Weise offen, in

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der neoliberales Denken und die Parameter der sozialen Medien Körperbilder modellieren, die mittels kommodifizierter Anreizsysteme über Soziale Medien permanent geteilt werden. Fitness-Selfies stehen aber auch für einen affirmativen Umgang mit der kontinuierlichen Infiltration von Internettechnologien in das alltägliche Leben, sie legitimieren die Verdatung der Körper mittels mikrosensorischer Aufzeichnungs- und Speichermedien: »Die Fitness- und Gesundheitsindustrie erfährt seit Mitte der 2000er Jahre eine fortschreitende gesellschaftliche Beliebtheit und hat sich innerhalb der vergangenen fünf Jahre im Trendverlauf ebenfalls in die Sportlandschaft von Jugendlichen eingegliedert. Ein gesunder und sportlich aktiver Lebensstil wird von der Gesellschaft in Zusammenhang mit dem Erreichen persönlicher Ziele und einem generell erfolgreichen Lebensverlauf gesetzt. Für Außenstehende bleibt die körperliche Verfasstheit oft einziges Bewertungskriterium, um zu entscheiden, ob die Relation zwischen Sportlichkeit und Erfolg für das beurteilte Individuum adäquat erscheint und – für Heranwachsende noch relevanter – ob auf Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zur jugendkulturellen Gruppe entschieden werden kann.« (Bindel/Theis 2020: 7) Für die Beobachtung und Beurteilung von Außenstehenden bilden daher Selfies ein geeignetes Kommunikationsmedium, um die im Fitnesssport verankerten Leistungsziele und die damit verknüpften Beziehungen zwischen Körperbild, Selbstobjektivierung, Selbstwertgefühl mit der Community zu teilen. Die Studie von Caso et al. (2020) hat aufgezeigt, dass Medien und Gleichaltrige, aber nicht familiärer Druck, positiv mit der Verinnerlichung von Körperidealen assoziiert waren, die wiederum positiv mit Selbstobjektivierung assoziiert war. (538) In Bezug auf die Konsequenzen der Selbstobjektivierung für die Nutzung von Sozialen Medien, einschlägigen Plattformen und Foren zeigten die Ergebnisse der Studie, dass die Selbstobjektivierung positiv mit der für die Online-Kommunikation verbrachten Zeit, der Häufigkeit des Postens und Bearbeitens von Selfies assoziiert war. (541f.) Daher wurde seitens der Autor/innen der Studie der Schluss gezogen, dass die Objektivierungstheorie auf den Kontext bildbezogener Verhaltensweisen im Rahmen der Onlinekommunikation ausgeweitet werden kann. (548) »Body image is defined as the mental picture of one’s body, an attitude about the physical self, appearance, and state of health. Body image is not only about how individuals view their own bodies, but also how others

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see them, and it directly affects self-esteem. A disapproving, dissatisfied picture of one’s body image is often referred to in the literature as either body ›image disturbance‹, ›body dissatisfaction‹ or ›body image concern‹. These terms are interchangeably used to describe when a person’s body image is negatively perceived.« (Chatzopoulou et al. 2020: 1272) Im Zentrum der Bildkommunikation von Fitness-Selfies stehen Fitness-Tracker. (Abb. 7 und 8) Sie sind sowohl Teil der Bildinszenierung als auch Referenz in der schrift- oder verbalsprachlichen Kommentierung, wenn auf die Resultate der biometrischen Verdatung des Körpers erläuternd eingegangen wird. FitnessSelfies bilden eine personalisierende Schnittstelle zwischen den objektivierten Datenerhebungen (Bewegungs-, Aktivitäts-, Schlaf- oder Gesundheitsdaten, unter anderem Schrittanzahl, die zurückgelegte Strecke, verbrannte Kalorien, Gewicht, Herzfrequenz, Schlafphasen, aktive Minuten, Daten der Live Coaching Services u.a.) und subjektiven Habitualisierungen von fitnessorientierten Handlungen. Im Fokus der subjektiven Habitualisierung stehen affektive Praktiken, die in demonstrativen Zeigehandlungen versuchen, ein körperpositives Bild zu entwerfen. (Hynnä-Granberg 2022: 1363–1378)

Abb. 7: Run Selfie mit Ergebnisprotokoll und Messwerten.

Quelle: Instagram

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In ihrer Studie zur Kommodifizierung der Body-Positivity-Bewegung heben Kyla Brathwaite und David DeAndrea hervor, dass Unternehmen und Nutzer sozialer Medien die positive Einstellung zum Körper im Rahmen der Body-Positivity-Bewegung zunehmend aus eigennützigen Gründen oder aus wirtschaftlichen Gründen zur Ware gemacht haben: »Instagram has become a breeding ground for physique and appearance-focused photo communities that have been organized through hashtags such as #thinspiration and #fitspiration.« (Vendemia/Brathwaite/DeAndrea 2022: 28) Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf die Bestätigung empirischer Studien, dass die mit diesen Hashtags verknüpften Bilder, die in sozialen Medien geteilt werden, Wahrnehmungen des eigenen Körperbildes maßgeblich beeinflussen und auch negative Auswirkungen auf die Körperzufriedenheit, die Stimmung und das Selbstwertgefühl ihrer Follower haben können: »The body positivity movement on social media challenges traditional appearance ideals – such as needing to be young, thin, and without physical flaws – and encourages the increased representation and normalization of people with traditionally marginalized bodies.« (Ebd.) Vor diesem Hintergrund etablieren Fitness-Selfies ein Regime normativer Aussagesysteme, welche die Attraktivität des Körpers, die Selbst-Objektifizierung, die Stigmatisierung übergewichtiger Körper und die Diskriminierung von Körpern, die von Schönheitsidealen abweichen, kommerziell und produktorientiert bewerben: »Although the body-positive themes that companies promote may seem noble, often such ad campaigns are not inclusive and still push a narrative of what acceptable beauty is. Content analyses supported this assertion with over a third of ›body positive‹ posts being classified as promoting commercial products or being self-promotional, indicating a change of focus from body-positive ideals to consumption practices.« (Ebd.) Mikrosensorische Aufzeichnungs- und Speichermedien wie die FitnessDevices Endomondo Pro, Runkeeper, Runtastic, Nike+ Running, miCoach, MapMyRun sind nur einige von zahlreichen auf dem Markt befindlichen Gadgets, die individuelle Körperpraktiken in ein dichtes Netzwerk quantifizierender Verdatung überführen. Der Begriff der Verdatung bezeichnet mediale Verfahren und Praktiken, die für die Speicherung und Verarbeitung personenbezogener Wissensbestände eingesetzt werden. In diesem Zusammenhang bedienen sich Fitness-Apps einer Vielzahl von Techniken und Medien. Sie entwickeln Handlungsanweisungen und Orientierungswissen, die das Monitoring und Mapping körperlicher Aktivitäten mit Körperdisziplinierungen und Selbstpraktiken verknüpfen und erstrecken sich von

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statistischen Auswertungen mittels Kurven, Korrelationen, Prozentwerten, Balkendiagrammen und Tabellen, vom Coaching bis zu Fitness-Testverfahren und detaillierten Plänen zur Gewichtsreduktion. Die Verdatung von Körperund Verhaltensfunktionen zielt auf die Herstellung eines Individuums »[that] becomes a knowable, calculable and administrable object«. (Shove et al. 2012: 100) Dabei durchlaufen die Kulturtechniken des Messens unterschiedliche Verfahren, um Individuen und ihre Körper in Zahlen oder Einheiten zu verwandeln: »Quantification relies on data collection, followed by visualization of this data and cross-referencing, in order to discover correlations, and provide feedback to modify behaviour.« (Whitson 2013: 167)

Abb. 8: Run Selfie mit biometrischer Auswertung und zurückgelegter Laufstrecke.

Quelle: Fitbit

II. Kommodifizierung des Selbst

Die Fitness-Tracker sind mit einer Vielzahl von Aktivitätssensoren ausgestattet, um sportliche Leistungen und körperliche Befindlichkeiten in Echtzeit vermessbar zu machen. Ihre Messdaten umfassen zurückgelegte Distanzen, Zeit, Geschwindigkeit, Herzfrequenz, Hydration, Kalorienverbrauch u.a.m. Vor seiner Inbetriebnahme muss das physikalische Trägermedium zunächst auf seinen Nutzer abgestimmt werden, der aufgefordert wird, mit seinen Körperdaten einen personenbezogenen Vermessungsvorgang einzuleiten: Schrittlänge, Größe, Gewicht und Alter bilden Profildaten zur Verbesserung der Reliabilität der Daten. Die mittels der Fitness-Devices erhobenen biometrischen Daten können von ihren Nutzern mittels numerischer Messgrößen und Datenvisualisierungen erschlossen und zum Zweck der Selbstformung und Selbstdarstellung angeeignet werden. Durch die stabiler und schneller werdenden Mobilfunknetze sind viele Menschen mit ihren mobilen Endgeräten auch permanent mit dem Internet verbunden, was der Konnektivität einen zusätzlichen Schub verleiht. Die Wearables der Selbstvermessung (z.B. Smartwatches, Datenbrillen oder Aktivitätstracker) entfalten ihren informationsästhetischen Mehrwert aber erst in Verbindung mit der Einrichtung von Ludic Interfaces, die hergestellt werden, um die Datenvisualisierungen mit spieltypischen Elementen und Mechaniken anzureichern. (Lupton 2014a: 12) Die spielerischen Umgebungen der Tracking-Tools werden mit dem Ziel, das Verhalten von Menschen zu beeinflussen, gleichermaßen für die Wissensvermittlung (game based learning) und die Nutzungsmotivation der User eingesetzt. Ein zentrales Element der Vermittlung spieleähnlicher Anwendungen, die mit Technologien und Design aus dem Unterhaltungssoftwarebereich entwickelt werden, stellt das Dashboard dar. Es sorgt nicht nur für eine übersichtliche Auswertung der erhobenen Daten, sondern ermittelt auch Normabweichungen, Leistungsunterschreitungen oder erreichte Zielvorgaben. Das Dashboard, das in BrowserAnwendungen erreichbar ist, bündelt mehrere funktionale Elemente der digitalen Selbstvermessung: (1) Es stellt eine Anzeige im Sinne einer Mensch-Maschine-Schnittstelle dar, versammelt operationalisierbare Körperdaten in Echtzeitübertragung und macht sie mittels bildgebender Verfahren der popularisierenden Informationsvisualisierung evident. Die Daten werden bilddidaktisch in navigatorischen Geovisualisierungen, thematischen Kartografien, Balkendiagrammen respektive tabellarischen Rangordnungen und in anwendungsnahen Use-Cases-Diagrammen in Form von Tachometern, Thermometern, Ampel- und ScoringSäulen dargestellt. Um die Lesbarkeit der jeweiligen Zahlenwerte zu erleich-

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tern, sind numerische Repräsentationen oft auch mit didaktischen Annotationen versehen, die grafisch, farblich, figurativ oder akustisch aufbereitet werden. Damit werden die Daten zusätzlich vermittelt und in überschaubare und hierarchisch geordnete Grenzzonen, Zielbereiche oder Mittelwerte eingebettet. (2) Das Dashboard fungiert auch als eine mediatisierte Datenbank, archiviert die personalisierten Körperdaten und ermöglicht die statistische Evaluation von durchschnittlichen Leistungswerten in Korrelation mit dem Benchmarking von Orientierungs- oder Zielgrößen, die individuell oder auch in Gruppenbeziehungen dargestellt werden können. Mit den Datenbankfunktionen des Dashboards können Fitness- und Gesundheitsdaten operativ verwaltet und miteinander vernetzt werden: Gewicht, Körperfettanteil, Herzfrequenz, Kalorienverbrauch, Blutdruck oder Blutzuckerwerte und die Aufnahme von Nahrungsmitteln und Wasser können in die Bio-Datenbank integriert werden. (3) Das Dashboard fungiert außerdem als offenes Kontrollmedium und verweist damit auf den Aspekt der subjekttransformativen Selbstpraktiken, wenn es etwa darum geht, die Überbietung oder das Verfehlen von vereinbarten Leistungszielen aufzuzeigen, um Verhaltensänderungen zu monieren. Ian Bogost beschreibt diese Art der körper- und verhaltenskodierenden Anweisungen und Empfehlungen als »prozedurale Rhetorik« (Bogost 2007: 9) und rekurriert mit Janet Murray (2000: 71) auf die spielerische Konstruktion eines Start- und Zielszenarios, das es dem Spielenden erlaubt, sich innerhalb definierter Regelvorgaben zu verwirklichen: »The player literally fills in the mission portion of the syllogisms by interacting with the application, but that action is constrained by the rules.« (Ebd.: 34) Ergänzend zu den bilddidaktischen Vereinfachungen ihrer Informationsanalyse ist das entscheidende Grundproblem der von Bogost beschriebenen Gamification von medialen Anwendungen in der asymmetrischen Beziehung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren zu suchen. Die Spielregeln sind einseitig programmiert und können von den Nutzern nur ausgeführt, selbst aber nicht mehr modifiziert werden, um den Aufbau und den Verlauf des Spieles zu beeinflussen. Mit seiner Ausrufung eines »ludic turn« räumt Joost Raessens dem Spielenden einen zentralen Stellenwert in postmodernen Gesellschaftsstrukturen ein. (Raessens 2012: 13) Diesem Protagonisten der Gegenwartsgesellschaft verleiht er den Status eines »Homo Ludens 2.0« (ebd.) und setzt damit eine anthropologische Konstante, welche die heterogenen Praktiken des Spielens

II. Kommodifizierung des Selbst

sozial und kulturell entdifferenziert. Die Gamifizierung der digitalen Environments vermag zwar für divergierende Interessen einen gemeinsamen Bezugspunkt darstellen, etabliert aber in derselben Weise neue Asymmetrien in sämtlichen Bereichen der spielerischen Mediennutzung. In diesem Zusammenhang verweisen Kritiker der Gamification auf die autoritären Strukturen spielerischer Environments und persuasiver Interaktion und machen die strategischen Zusammenhänge zwischen technischer Infrastruktur, Datenakkumulation und ökonomischer Verwertbarkeit sichtbar. Die Annahme, dass man mit sogenannten Badges (Abzeichen) seine Errungenschaften ›erspielen‹ kann, verweist aber letztlich weniger auf eine freiheitliche und selbstbestimmte Art und Weise des Spielens, sondern vielmehr auf die Vorstellungen von Marketingmanagern, das Gameplay mit bestimmten Unternehmenszielen zur Deckung zu bringen. Folglich können die Badges nur dann erworben werden, wenn ein bestimmter Wert als Zielvorgabe erreicht wird. Diese in Szene gesetzten Leitwerte werden nicht nur genutzt, um Verhalten als veränderbar zu plausibilisieren, sondern fordern von den Nutzenden eine technische Anpassungsleistung, sich an den Messwerten abzuarbeiten. Der Zielwert firmiert weniger als Maß der individuellen Selbstverwirklichung, sondern vielmehr als ein formales Handlungsdiktat, das erst dann seine Befehlsform aufgibt, wenn sein vorgeschriebener Zielwert erreicht wird. Adrian Rosenthal, leitender Angestellter bei MSLGermany schreibt in seinem Blog »Self-tracking« über die formale Autorität der Strukturvorgaben spielerischer Gratifikationen: »Um mein Tagesziel von 3.800 Fuelpunkten zu erreichen, bin ich schon vor Mitternacht noch 20 Minuten auf der Stelle gerannt. Zudem achte ich bewusster darauf, mehr zu gehen bzw. zu laufen: Wäre ich früher nicht auf die Idee gekommen, 30 Minuten zu einer Verabredung zum Abendessen zu laufen, mache ich das mittlerweile regelmäßig.« (Rosenthal 2014) Diese Selbstbeschreibung verdeutlicht, dass von Nutzern das Abarbeiten von Zielvorgaben und die formale Einhaltung von Spielenormen über die subjektbezogene Verhaltensänderung gestellt werden, die darauf abzielt, dass Subjekte ihr gesamtes Alltagshandeln reflektieren und umstellen. Im Folgenden werden die Subjektivierungsprozesse näher betrachtet, die sich aus der Überlagerung von Messtechnik, Informationsarchitektur und Bildpraktiken (Selfies) herausbilden. In bildbasierten Social-Media-Netzwerken wie Instagram werden die Körper der Verbraucher ständig zur Schau gestellt. In Anbetracht der Popularität von Social Media bei Jugendlichen

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und der Macht von bildbasierten Inhalten, die Benutzer/innen teilen, ist es wichtig zu untersuchen, auf welchen medialen Rahmungen das Verhalten, Körperbilder sozial zu teilen, basiert. Ein zunehmender Trend der Bildkommunikation in sozialen Medien besteht darin, sexualisierte, körperpositive Inhalte zu verbreiten, um dominante Schönheitsideale zu stabilisieren und beteiligte Akteure zu unterstützen, Selbstvertrauen und Wertschätzung für ihren Körper zu entwickeln. In diesem Zusammenhang forcieren Fitness-Selfies die visuelle Dissemination von sexuell objektivierten Body-Positive-Selfies, die in Verbindung mit der biometrischen Verdatung des Körpers immer auch Aspekte der Körperüberwachung beinhalten – verknüpft mit rivalisierenden Bewertungen und Orientierungen an Schönheitsnormen. In diesem Zusammenhang kann die These gestärkt werden, dass der gesellschaftlichen Akzeptanz einer dauerpräsenten Verdatung des menschlichen Körpers eine Verlängerung medialer Technologien ins Subjekt zu Grunde liegt. Die von den Nutzern verwendeten Formen technischer Aufzeichnung und Verbreitung überschreiten die Handlungsanweisungen der Gadgets, indem sie die Selftracking-Devices auch für datenbasierte Selbstinszenierungen umfunktionieren. Denn die erweiterten Anwendungen der Fitness-Devices beinhalten unterschiedliche Medien der Selbstdokumentation. Dabei handelt es sich um Tagebücher, kalendarische Medien, Chroniken und Kurvendiagramme, die Maßeinheiten und Orientierungsparameter für die individuelle Bilanzierung schaffen und den Nutzern einen »Spielraum der Selbstpraxis« (Dünne/Moser 2008: 13) eröffnen. Diese Eingliederung des Spiels in die Lebenswirklichkeit der Nutzer wurde von Ian Bogost als strategische Finte eines »marketing bullshit« gebrandmarkt, »to capture the wild, coveted beast that is videogames and to domesticate it for use in the grey, hopeless wasteland of big business.« (Bogost 2011) Die Gamifizierung verläuft aber nicht als ein eindimensionales und lineares Popularisierungsprogramm, das gleichsam von oben nach unten verordnet und durchgesetzt wird, sondern eröffnet prozessorientierte Spielräume, die im Aushandlungsprozess der beteiligten Akteure und ihrer divergierenden Rollen und Interessen am Spiel situativ und selektiv entstehen. Wenn der Anspruch besteht, das Self-Tracking nicht als bloße Ausführung überindividueller Normen oder passiver Aneignung zu verstehen, ist es notwendig, einen differenzierten Begriff sozialer Praxis zu entwickeln. Dieser räumt den Individuen die grundlegende Möglichkeit ein, sich als reflektierende Subjekte im Mediengebrauch zu entwerfen. Diese Sichtweise sorgt dafür, dass

II. Kommodifizierung des Selbst

die Anwendungen als offen für ihre Umkehrung oder Veränderung gedacht werden können. Versteht man Gamification nicht als einen sozial verdeckten Dezisionismus von Spielregeln und Anordnungen, sondern als einen wechselseitigen, multilateralen und verteilten Effekt der Netzwerkdynamik, dann können die spielerischen Elemente und Funktionen der digitalen Fitnessund Gesundheitsanwendungen als »boundary objects« (Star/Griesemer 1989: 387–420) freigelegt werden, die Möglichkeitsbedingungen von Kommunikation entwickeln und dabei festgelegte Bedeutungskontexte transformieren können: »Boundary objects are one way that the tension between divergent viewpoints may be managed. […] The tension is itself collective, historical, and partially institutionalized.« (Bowker/Star 1999: 292) Das Analysewerkzeug der boundary objects erlaubt es, den Handlungsdeterminismus in Kommunikationsprozessen aufzubrechen und alle möglichen Übersetzungen und Vermischungen digitalisierter Körperlichkeit in Betracht zu ziehen, die von den gelegentlichen boundary objects im Gestus einer losen Kopplung zusammen gehalten werden. In diesem Sinne kann etwa gefragt werden, inwiefern die Vermittlungen von Biodaten Grenzobjekte (z.B. numerische Notationen, Geovisualisierungen, digitale Objekte, Computerprogramme) hervorbringen, welche die funktionalen Interessen der Beteiligten repräsentieren. Als gemeinsame Referenzpunkte etablieren die Grenzobjekte eine gemeinsam geteilte und stabile Ordnung von Informationen und unterstützen die Verhandlungen und Wissenstransformationen, wenn es darum geht, Self-Tracking im Kontext von verständigungs- und verstehensorientierten Kommunikationskulturen zu vermitteln (die diesbezügliche Bandbreite reicht von Dashboard-Anwendungen bis zu Online-Foren). Schließlich kann das ›Aufleveln‹ oder das ›Score-Hunting‹ innerhalb der gamifizierenden Informationsästhetik als bereits ausverhandelte Durchgangspunkte in einem verhaltensmoderierenden Orientierungsraum beschrieben werden, die unterschiedliche Anwender als ein kollektives Gedächtnis teilen, ohne dass sie sich untereinander verständigen müssen. Die Biodaten, die Self-Tracker in den Kommunikationsprozessen des Social Net herstellen, stammen von Handelnden, die nicht nur handeln, sondern in ihrer Praxis auch fortwährend anzeigen, was sie tun. Dementsprechend eröffnen Biodaten weniger ein Fenster zu faktischen Körperwelten, sondern gehen aus sozialen Interaktionen hervor, mit denen Handelnde ihre Handlungen für sich selbst und andere Handelnde wahrnehmbar machen. In grundsätzlicher Hinsicht sind Daten weder gegeben noch vorhanden, sondern werden immer auch durch reflexive Weise in den Handlungen selbst erzeugt. An der

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Schnittstelle von reflexiver Selbstthematisierung und sozialer Feedbacktechnologien siedeln sich die Grenzobjekte der digitalen Selbstvermessung auf Online-Plattformen an: Sie bilden die Voraussetzungen für Standardisierungen, Routinen und kooperativer Körperkontrolle mittels eines »stabilized way of acting« (Miettinen/Virkkunen 2005: 437), der es den Self-Trackern ermöglicht, neue Informationen auf der Grundlage festgelegter Abläufe zu erstellen.

II.7.2. Feedbackschleifen und soziale Kontrolle Byron Reeves und Leighton Reid bringen noch einen weiteren Aspekt der Gamification zur Sprache, indem sie den Zusammenhang von Datenvisualisierung und Feedbacktechnologie hinsichtlich ihrer verhaltensmoderierenden Funktionen thematisieren: »Game interfaces set a new bar for feedback. At any one time, Helen sees progress bars, zooming numbers, and status gauges, all in a well-organized dashboard that lets players know how things are going, good or bad.« (Reeves/Read 2009: 71) Sie machen deutlich, dass die Implementierung von Feedbacktechnologien darauf ausgerichtet ist, auf das Verhalten der Nutzer in actu einzuwirken: »Quick feedback creates immediacy and contingency in the interactions. When you make a new move, you know quickly whether the action was right or wrong. The close connection between behaviour and feedback increases the likelihood that the reinforcement will be effective.« (Ebd.: 72) In Anlehnung an Reeves und Reid kann der Stellenwert von Feedbackschleifen sowohl für die Mensch-Maschine-Schnittstellen als auch für ihre sozialen Erweiterungen herausgearbeitet werden. Mobile Sportund Fitness-Tracker sind miniaturisierte Computeranwendungen, die hauptsächlich für das körperliche Training ihrer Benutzer eingesetzt werden. Sie verfügen über eine Vielzahl biometrischer Feedbackschleifen und entwickeln eine Vielzahl multimedialer Anweisungen, welche ihre Benutzer dazu bringen sollen, sich auf bestimmte Weise mit den Zahlenwerten auseinander zu setzen. Zeitverlaufsdiagramme, Audiosignale, Szenario-Charts, Mittelwertberechnungen, Fortschritts-, Zielwert- und Regressionsanalysen übernehmen selbst Handlungsinitiativen, indem sie Handlungsziele festsetzen und eigenständige Reaktionen der Benutzer einfordern. Als Medien der körperlichen Übung sind sie daher mit diversen Funktionen des Feedbacks ausgestattet, die ein dichtes Netz der Verdatung und der Kontrolle des Körpers etablieren. Dieses digitale Geflecht aus technischer Kontrolle, Selbstkontrolle und sozialer Kontrolle zielt darauf ab, beim Benutzer Fähigkeiten der Selbstthematisierung und der Selbstführung zu entwickeln.

II. Kommodifizierung des Selbst

Die Lauf-App Couch to 5K operiert mit einer automatisierten Feedbacktechnologie, die eng an die Wissenspraxis der Zielwertanalyse angelehnt ist. Ihr Coaching-Feedback ist unidirektional ausgerichtet und gibt die wichtigsten Leistungsparameter beim Laufen aus (z.B. die Laufzeit pro Strecke). Der Benutzer ist mit einer Voice Over konfrontiert, die mit einem automatischen Script aktiviert wird und ausschließlich Protokollsätze aussendet (z.B. »2 Minuten bis zum Erreichen der Zielvorgabe«). Erst wenn die Nutzer die Leistungsvorgaben erreichen, die Schrittzähler und GPS ermitteln, werden sie vom Audio-Coach über das Erreichen des Ziels informiert. Beim Ziel-Distanz-Lauf berichtet das Audio-Feedback nach jeder Runde über die vom Computer berechnete Endzeit und bewertet die Zeitvolumen bis zur Zielvorgabe entweder positiv oder negativ. Die in ein technisches Verhältnis integrierte Befehlsstruktur von Coach und Sportler ist in diesem Fall nicht spielerisch, sondern einseitig und asymmetrisch gestaltet und basiert aus der Sicht des Sportlers auf einem Verhältnis der körperlichen Disziplinierung. Abweichendes Verhalten oder das Verfehlen der selbstoptimierenden Verhaltensänderung wird vom System als Zielverfehlung aufgefasst und zieht Formen der negativen Gratifikation nach sich, wenn traurige Smileys und rot gefärbte Fortschrittsbalken aufgezeigt werden. Der Modus der Ziel-DistanzLäufe operiert mit Zwischenzielen und Endzielen, die vom Nutzer selbst definiert werden. Daraus sollen sich idealiter kurz- und längerfristige Lernziele für den Nutzer ergeben. Lauf-Apps wie Nike+ Running oder Runtastic verknüpfen Sensordaten mit Lokalisierungstechnologien auf unterschiedlichen Medienkanälen zur Herstellung einer Cheering-Funktion. Ihre Einbindung in das erweiterte Internet der mobilen Environments ermöglicht es, dass User ihren Lauf online auf Facebook posten können und in ihren Kopfhörern die Likes und die Kommentare ihrer Freunde in Echtzeit vernehmen können. Dieses Feedback ist bidirektional angeordnet, impliziert neue Möglichkeiten für den Umgang mit Raum, Zeit und Körper und eignet sich in besonderer Weise für die Inszenierung von Liveness und Kopräsenz. In ihrer Eigenschaft als Distributionsmedien ermöglichen sie eine Verbindung zwischen unterschiedlichen Orten und erzeugen eine virtuelle Ko-Präsenz von Beobachtern, die von ihrer physischen Anwesenheit entbunden sind. Die Konnektivität des Social Net bietet die Möglichkeit, individuelle Datensamples zu veröffentlichen und auf multi-agentielle Kollektive zu verteilen. Per LiveTracking können die Sportler ihre mittels Geo-Tagging ermittelte Position mit Freunden in sozialen Netzwerken (Facebook, G+, Twitter) und auf diversen

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Fitnessportalen teilen. Mittels einer bei Runtastic verfügbaren CheeringFunktion ist es den Nutzern möglich, in Echtzeitverbindungen mit bis zu fünf Sekunden langen Anfeuerungen motiviert zu werden. Schließlich können sie via Social Media auch die Statistiken ihrer eigenen sportlichen Aktivitäten teilen und den Routen anderer Läufer folgen, um etwa die Bestzeit eines Freundes in Angriff zu nehmen. Dieser gamifizierte Fitness-Diskurs geht davon aus, dass sich die Vergesellschaftung im Netz gleichbedeutend mit einer Art positiv aufgeladener Konkurrenz verstehen lassen kann. Mittels Geolokalisierung werden die Nutzer vom Standort befreundeter Läufer in Kenntnis gesetzt. Die zum Nike Fuelband dazugehörige App zeigt auch die Aktivitäten befreundeter Kontakte an: über ein Leader-Board wird angezeigt, wer heute bereits die meisten Badgets erreicht hat, wann bestimmte Meilensteine erreicht worden sind, wer in der Woche vorne liegt und wer im vergangenen Monat am aktivsten war. Mit diesen symbolischen Formen der Gratifikation wird ein sozial geteilter Kommunikationsraum verfügbar gemacht, der es den Nutzern erlauben soll, ihre individualisierten Messwerte mit anderen Nutzerwerten zu vergleichen. Das mobile Fitnessmonitoring integriert das Feedback also bereits in den Mediengebrauch, um die Nutzer in den konkreten Handlungssituationen flexibler adressieren zu können: »Statt sein Verhalten unmittelbar zu reglementieren, was einen enormen Kontrollaufwand nach sich zöge, […] werden Rückkopplungsschleifen installiert, die dem Einzelnen Normabweichungen signalisieren […]. Das ›Führen der Führungen‹, welches Foucault als elementare Formel der Machtausübung identifizierte, erhält hier die Gestalt der Steuerung durch feedbackgeleitete Selbststeuerung.« (Bröckling 2007: 239) Durch ihre Kompatibilität mit den Kommunikationsmedien des Web 2.0 sorgen mikrosensorische Anwendungen schließlich dafür, dass sich die Privatsphäre des Einzelnen und seine körperlichen Aktivitäten und Gewohnheiten (1) in die Kommunikationsräume der Mediennutzung im Front-EndBereich und (2) in die informatische Verdatung, das ist die Speicherung und Verarbeitung personenbezogener Daten im Back-End-Bereich der Sozialen Netzwerkseiten, verschiebt. (Das auf einem Server installierte Programm wird bei Client-Server-Anwendungen mit dem Begriff ›Back-End‹ umschrieben. Das im Bereich der Client-Anwendung laufende Programm wird als ›FrontEnd‹ bezeichnet.) Das über das Web verbreitete Körperwissen der digitalen Selbstvermessung stärkt nicht nur die Selbstermächtigung der informierten Laien in Online-Foren, sondern schafft auch neue Beobachtungsanordnungen für körperbezogene Expertisen der Kommunikationsinformatik und Back-

II. Kommodifizierung des Selbst

End-Technologien in Zusammenarbeit mit Gesundheitsbehörden, Arbeitgebern und Versicherungen. Die von Bogost und Raessens geäußerte Kritik an der Programmlogik, der die User zu folgen haben, ist nur auf einen Teilbereich der digitalen Selbstvermessung übertragbar. Ihre Perspektivierung der medialen Environments von gamifizierten Anwendungen schließt eine Annahme von reflexiven Freiräumen und prozessorientierten Aushandlungsprozessen dezidiert aus, die sich besonders dann ergeben, wenn die User bereit sind, auf Online-Plattformen ihre Aufzeichnungen mit anderen zu teilen. Diese Praktiken der reflexiven Selbstthematisierung sind in der Lage, lose Kopplungen der Selbstvermessung zu etablieren. In diesem Sinne kann das Self-Tracking im ambivalenten Spannungsfeld von Subjektivierung und Entsubjektivierung verortet werden. (Vgl. Foucault 1993: 27) An dieser Schnittstelle zwischen Subjektivierung und Entsubjektivierung können Self-Tracker als medienkulturelle Form ambivalenter Selbstpraktiken aufgefasst werden, die ein Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdführung eröffnen. Wenn ambivalente Selbstpraktiken aus den prozessorientierten Spielräumen der Sozialen Medien hervorgehen, dann sind Subjektivierung und Entsubjektivierung als Praktiken anzusehen, die uns eher widerfahren, als dass sie von uns beherrscht und kontrolliert werden würden. Inwiefern darin Entgrenzung zu einer Subjektivierungsform zu werden vermag, muss folglich offenbleiben.

II.7.3. Vom Datenkörper zu Big Data Abschließend möchte ich der Frage nachgehen, welche Technologien, Praktiken, Materialitäten und Epistemologien bestimmte Akteure der Großforschung verknüpfen, um Bio- und Verhaltensdaten erzeugen und verwalten zu können und auf welche Weise die Organisation, Analyse und Repräsentation personenbezogener Daten für soziotechnische und ökonomische Verwertungskontexte modelliert werden. Bevor auf das Verhältnis zwischen einer Generierung von Daten und einer Gewinnung von Wissen aus den Daten näher eingegangen werden kann, muss eine relevante Unterscheidung zwischen nutzergenerierten Inhalten und transaktionalen Daten getroffen sein. Die digitale Selbstvermessung besteht nicht nur aus den unstrukturierten Datenmengen, welche die Techniknutzer als Inhalte eigenständig herstellen, wenn sie diese etwa mittels mobiler Endgeräte oder sozialer Medien kommunizieren. Beim Self-Tracking werden auch große Mengen transaktionaler Daten erzeugt, wenn sich die Nutzer mit GPS verorten, Cookies herunterladen,

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Logdateien nutzen oder sich in Netzwerke einloggen. Alleine mit den GPSDaten von Handys können Lokationsdaten und Aktivitätsmuster für die Erhebung von Häufungen im Datenraum berechnet werden. Freilich kann nivellierend eingewendet werden, dass auch nutzergenerierte Daten für transaktionale Auswertungen im Zusammenspiel von vermessenden Apparaturen und Netzwerken verwendet werden können. Im Unterschied zu transaktionalen Datenvolumina können die von Nutzern generierten Daten jedoch beliebig oft editiert, kommentiert und reflexiv (weiter-)verarbeitet werden. In diesem Zusammenhang schlägt die Soziologin Deborah Lupton eine erweiterte Perspektive auf die Modi des Self-Monitorings vor, indem sie den Stellenwert persuasiver Medien im Prozess der Subjektkonstitution herausstreicht. Sie untersucht die Einbettung der Fitness-Devices in spezifische Dispositive der Macht und differenziert zwischen pushed, imposed und exploited Self-Tracking: »Pushed self-tracking represents a mode that departs from the private selftracking mode in that the initial incentive for engaging in self-tracking comes from another actor or agency. […] Imposed self-tracking involves the imposition of self-tracking practices upon individuals by others primarily for these others’ benefit. […] Exploited self-tracking refers to the ways in which individuals’ personal data are repurposed for the benefit of others. Exploited self-tracking is often marketed to consumers as a way for them to benefit personally, whether by sharing their information with others as a form of communal self-tracking or by earning points or rewards.« (Lupton 2014b) Das pushed self-tracking verortet sie exemplarisch in den Anwendungsbereichen der Präventivmedizin und der Patientenüberwachung. Dort wird das mobile Gesundheitsmonitoring seit einigen Jahren unter den Begriffen ›Telecare‹ und ›Ambient Assisted Living‹ aufgegriffen und zielt darauf ab, Menschen aufzufordern, ihre biometrischen Daten zu überwachen, um bestimmte Gesundheitsziele zu erreichen. Die populären Health-TrackingPlattformen Google Fit und Apple Health Kit sorgen für eine zunehmende Verflechtung von digitalen Medien mit dem häuslichen Umfeld des Alltags: mobile Verortungstechniken, sensorbasiertes Körpermonitoring, technische Assistenzsysteme im Wohnumfeld und Systeme der digitalen Verwaltung von Arzt- und Laboruntersuchungen sollen eine permanente Selbst- und Fremdbeobachtung sicherstellen. Die italienische Versicherungsgruppe Generali hat in Europa das Telemonitoring bei ihren Lebens- und Krankenversiche-

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rungen eingeführt. Dieses Gesundheits- und Fitnessmonitoring funktioniert mit der App Vitality, die Schritte zählt, sportliche Aktivitäten misst und den elektronischen Nachweis von Gesundheitsbemühungen mit günstigeren Versicherungstarifen belohnt. Die multiplen Beobachtungsanordnungen der Sensor- und Informationstechnik lösen die Oppositionen zwischen dem physischen und medialen Raum auf und sind beispielhaft für die Normalisierung von Fitnesskörpern/Pathologisierung von Risikokörpern als »mediale Konstrukte«. (Klein 2008: 211) Das imposed self-tracking geht noch einen Schritt weiter. Im Falle von Corporate Wellness-Programmen werden die Mitarbeiter verpflichtet, Trackingarmbänder zu tragen und müssen dem Arbeitgeber die ermittelten Gesundheits- und Aktivitätsdaten übergeben. (Till 2014: 446–462) Mit dem Konzept der Work-Life-Balance, das Arbeits- und Privatleben miteinander in Beziehung setzt, können Unternehmen ein detailliertes Abbild von Lebensgewohnheiten erstellen und individuellen Merkmalsträgern zuweisen. Gemeinsam mit den Datenanalysten Dacadoo berechnet die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) einen Healthscore für jedes ihrer Mitglieder. Diese Datenportfolios geben statistisch Aufschluss über Korrelationen zwischen den gesundheitlichen Beschwerden und den Lebensgewohnheiten der Mitglieder und lassen eine personalisierte Analyse des Krankheits-Risikos zu, das künftig über individualisierte Versicherungstarife abgestuft werden soll. Die US-Krankenversicherung United Healthcare bietet einen Preisnachlass an, wenn die Versicherten nachweisen können, dass sie täglich eine bestimmte Anzahl an Schritten absolvieren. Das exploited self-tracking kann als Sammelbegriff für die weitreichende Ökonomisierung von Biodaten verstanden werden. Einige Einzelhändler, zum Beispiel Walgreens, die größte Apothekenkette in den USA, haben bereits damit begonnen, tragbare Geräte als Teil ihrer customer loyalty programs einzusetzen. Kunden, die regelmäßig ihre persönlichen Fitness-Daten auf der Plattform hochladen, werden mit Produktermäßigungen belohnt. Die gesammelten Daten können dann von den Einzelhändlern für ihr Marketing verwendet werden und an Dritte verkauft werden. Fazit. An der Schnittstelle von digitalen Mediensystemen und bioinformatischen Wissensmedien haben Fitness-Tracker maßgeblich dazu beigetragen, den Körper als Medienobjekt »geregelter Gestaltung« (Bourdieu 1992: 206) und »numerischer Ausdrucksformen« (Manovich 2001: 27) zu betrachten. Die Konvergenz von mobilen Medien, Sensornetzwerken, GPS-gestützten Lokalisierungen, automatischen Identifikationsverfahren, digitalen Datenvi-

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sualisierungen und Social Web-Anwendungen hat dazu geführt, dass biometrische Apparate, Technologien und Visualisierungen einen gesellschaftlichen Trend der digitalen Selbstvermessung ausgelöst und dabei neue Formen von Steuerungs- und Kontrollwissen entwickelt haben. Immer mehr Nutzer kommen auf diesem Wege mit der Sensortechnologie, Tracking-Apps und Self-Tracking-Communities auf Online-Plattformen in Verbindung: »Sensing technologies and apps for the smart phone industry alone have spawned a rapidly expanding market as new sensing frontiers unfold.« (Swan 2009: 494) Die Analyse der mit dem Self-Tracking verknüpften Nutzungskultur der Gamification und der sozialen Netzwerke hat aufgezeigt, dass mit der Einbeziehung der reflexiven Selbstthematisierung in sämtliche Bereiche des SelfTrackings die Arbeit am Körper als Prozess (und nicht als abgeschlossenes Werk) in den Vordergrund rückt. Wenn Melanie Swan unter der digitalen Selbstvermessung eine Sammlung von Daten über die eigene Person versteht, die freiwillig und in kontinuierlichen Abständen erhoben werden, dann verweist sie damit auf diese prozessorientierten und dynamischen Formen der Selbstbezüglichkeit, die Anwender auf eine bestimmte Art und Weise transformieren und produktiv machen sollen. Der skizzierte Druck einer präventions- und sicherheitsorientierten Gesundheitsgesellschaft, die Sicherung der Gesundheit nicht nur durch kollektive Rahmenbedingungen, sondern auch durch eine eigenverantwortliche Anstrengung im alltäglichen sozialen Leben zu gewährleisten, führt zu umfassenden Verhaltens- und Lebensstilmodifikationen durch Self-Tracking, Quantified Self und Life Logging, die für neue gesellschaftliche Normerwartungen stehen. In diesem Kontext firmieren Fitness-Selfies auch als allegorische Darstellungen einer digitalen Kontrollgesellschaft und als Aussage zugerichteter Körperlichkeit und Körperdiskurse, die das Private und Persönliche überborden.

II.8. Doing Memory: Das Selfie als kuratorische Praxis Ein Selfie einer jungen Frau namens »Princess Breanna«, welches sie im ehemaligen deutschen Vernichtungslager Auschwitz aufgenommen und am 20. Juni 2014 auf Twitter hochgeladen hat, initiierte in der Folge eine jahrelang lodernde, internationale Debatte um den öffentlichen Stellenwert von privaten Fotografien, die an Erinnerungsorten hergestellt und in der Öffentlichkeit verbreitet werden. Fünf Jahre später, 2019, erinnert sich Yaël Debelle

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im NZZ-Magazin an dieses geschichtsträchtige Selfie und problematisiert im Rückblick individuelle und gemeinschaftliche Online-Erinnerungs- und Trauma-Verarbeitung: »Wie sich die Erinnerungskultur durch Social Media verändert.« (NZZ Magazin, 25.01.2019) Dieser Beitrag markiert einen weiteren Höhepunkt in der Moralisierung der öffentlichen Kommunikation, dass individuelles Aneignen von Erinnerung per se die Institutionen der öffentlichen Gedenkkultur negativ beeinflussen würde.

Abb. 9: Bildunterschrift: »Selfie in the Auschwitz Concentration Camp«, 20. Juni 2014.

Quelle: Twitter

In der medienöffentlichen Wahrnehmung firmieren Gedenkstätten als materialisierte Orte von geschichtlicher Deutungshoheit, die Erinnerung organisieren und deren kanonisierter Bedeutungsrahmen vertikal und topdown vermittelt wird. Demgegenüber widerspricht dieser Auffassung von Gedenkkultur die Inszenierung privater Selbstbilder. Selfies wird oft pauschal unterstellt, dass sie Gedächtnisräume kollektiver Identitätsstiftung auf ›unangemessene‹ Weise resemantisieren würden und sich über normative Erinnerungspostulate hinwegsetzen. Doch es handelt sich nicht um vereinzelte Besucher/innen, die mit ihren ›respektlosen‹ Selfies Erinnerungsorte in situ entwürdigen, sondern um die Allgegenwärtigkeit visueller Inhalte, die von

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unterschiedlichen Nutzer/innen in Verknüpfung mit Hashtags und geomedialem Tagging in sozialen Medien gepostet werden. In diesem Sinne können sie als eine »Erinnerungskultur der Vielen« (Praske 2021) verstanden werden, denn ihre Aktivitäten ereignen sich dezentral, ohne Absprache und ohne gemeinsame Absicht, aber unterm Strich sind ihre Praktiken wirkmächtig und verändern das kollektive Gedächtnis und die online verfügbare Wissenskultur.

Abb. 10: Bildunterschrift: »Chilling scenes at Aushwitz – Birkenau Camps«, 5. Januar 2023.

Quelle: Instagram

Seit dem Selfie-Gate von 2014 haben sich in unterschiedlichen Fachrichtungen zeitgeschichtlicher Forschungen, allen voran in den Memory Studies, den Holocaust Studies und den Genocide Studies Bemühungen verstärkt, theoretische Perspektivierungen auf digitale visuelle Kulturpraktiken zu entwickeln. Selfies figurieren in diesem Zusammenhang als kulturell einflussreiche Praktiken, denen die betont nicht negativ konnotierte Fähigkeit zugestanden wird, den kollektiven Zugang zu Geschichte und Gedächtnis nachhaltig zu verändern. Digitale Medien haben die Art und Weise verändert, wie Erinnerungen

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gesammelt, gespeichert, verarbeitet und geteilt werden. Personalisierter Newsfeed und kollektiv evaluierte Trending Topics haben in sozialen Medien ein Algorithmen-basiertes Gedächtnis etabliert, in welchem Biopics, Geodaten, Rahmenerzählungen in Feedbackschleifen mit kollektiven Interaktionen Erinnerungsprozesse in Gang setzen. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich dieses Kapitel mit der Relevanz des Bildes für die Repräsentation des Vergangenen, sondiert die Unterschiede zwischen individuellem Erinnern und kollektivem Gedächtnis und untersucht in einem Fallbeispiel detailliert die kuratorischen Erinnerungspraktiken eines Besuchers am Gedenkort Auschwitz-Birkenau, die im Dezember 2022 auf der Video- und Foto-Sharing-Plattform Instagram veröffentlicht wurden.

II.8.1. Subjekt und Erinnerung In seinem Spätwerk Gedächtnis. Geschichte. Vergessen verweist der französische Philosoph Paul Ricoeur auf den Stellenwert des Bildes in der Darstellung des Vergangenen und behauptet, dass seit der antiken Philosophie die maßgeblichen Theorien des Gedächtnisses die Annahme tradieren, dass »die Repräsentation des Vergangenen […] die eines Bildes« ist. (2004: 23) Mit Bezug auf Karl Jaspers versteht Ricoeur Auschwitz als »Grenzbegriff« (335) und weist darauf hin, dass die »Erinnerungsarbeit« am Holocaust die Grenzen zwischen dem Objektiv-Sichtbaren und dem Subjektiv-Sagbaren auflöst. Auch wenn die Spuren des Holocaust faktisch und irreduzibel sind, bleiben sie Spuren des Abwesenden und bedürfen immer wieder aufs Neue einer interpretatorischen Leistung, nämlich der Erinnerungsarbeit als Spurensuche, die von der Beteiligung der Fähigkeiten des spurenlesenden Subjekts abhängig ist: »Drei Merkmale lassen sich demnach hinsichtlich der Erinnerung festhalten: Anwesenheit, Abwesenheit und Vorzeitigkeit. Diesen drei Merkmalen werden verschiedene Entitäten zugewiesen: Die Anwesenheit ist jene des Bildes selbst, aber eines Bildes, das sich als Spur, Abdruck oder Zeichen der abwesenden Sache gibt. Unter diesen verwandten Ausdrücken verbirgt sich eine unermessliche Problematik, die durch die Metapher des Abdruckes, den das Siegel im Wachs hinterlässt, veranschaulicht wird: Während der Abdruck anwesend ist, ist das Eindrücken des Siegels es nicht mehr. Damit kommen wir zum zweiten Merkmal der Erinnerung: die Abwesenheit. Diese Abwesenheit kann die einer Fiktion, einer Fantasie, einer Halluzination oder eines realen Ereignisses sein. Auf diese Weise werden wir unvermittelt vor das beunru-

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higende Problem der Grenzziehung zwischen Gedächtnis und Einbildung, Erinnerung und Fiktion gestellt. Zu dieser Frage hat die Rhetorik auf einer anderen Ebene ihren Teil beizutragen. Das dritte und entscheidende Merkmal des Rätsels der Darstellung der Vergangenheit ist das Gefühl der zeitlichen Distanz, der Entfernung, die in unserer Sprache durch das Tempus der Verben oder durch Zeitbestimmungen wie ›zuvor‹ oder ›vor‹ ihren Ausdruck findet. Damit haben wir das Rätsel des Rätsels formuliert. Es besteht darin, dass die Vergangenheit im Bild als Zeichen des Abwesenden anwesend ist, eines Abwesenden, das, auch wenn es nicht mehr ist, doch gewesen ist. Es ist dieses Gewesensein, auf das die Erinnerung abzielt, und es ist dessen Rückkehr, der sie treu bleiben möchte.« (Ricoeur 2002: 4f.) Diese Arbeit am Erinnern erschöpft sich nicht in einer vertikalen Dynamik von oben nach unten, sondern verläuft kooperativ und kollaborativ und generiert folglich diverse Interpretationsgemeinschaften, die im Austausch untereinander Erinnerungskulturen gestaltend weiterentwickeln. In seiner Erinnerungstheorie hat Ricoeur immer wieder auf die Problematik verwiesen, wenn ein ›kollektives Gedächtnis‹ von oben nach unten verordnet wird, er hat auf die Macht aufmerksam gemacht, die entsteht, wenn die gesellschaftliche Bedeutung von Erinnerung von einem privilegierten Zentrum aus vermittelt wird, wenn ein kulturelles Gedächtnis als ›kanonisch‹ manifest gemacht wird und wenn Erinnerung zur Pflicht wird. Damit hat Ricoeur dieser Position nicht automatisch einen radikal subjektiven Erinnerungsbegriff entgegengesetzt, sondern er wollte bloß für die Problematik eines Super-Gedächtnisses sensibilisieren, das sich gegenüber einer geschichtlichen Weiterentwicklung hermetisch abschließen würde. Ricoeur hat in seinen Ausführungen zum kulturellen Gedächtnis immer wieder betont, dass es das einzelne Subjekt ist, das sich aktiv und prozessorientiert erinnert. Diese lebensweltliche Verankerung der Erinnerung darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Subjekt im Erinnerungshandeln immer auch auf gemeinschaftlich geteilte Medien des Erinnerns (Narrative, Figuren, Bilder, Stereotypen, Muster u.a.) zurückgreift, dass kollektiv geteilt und kollaborativ erarbeitet wurde. Damit können eine privatsprachliche Begründung und ein radikaler Subjektivismus distanziert werden. So gesehen entfällt damit auch die Subjekt/Objekt-Dichotomie des subjektiven Erinnerns und objektiven Gedächtnisses, denn beide Positionen können als Wechselverhältnis verstanden werden. In Bezug auf die Praktiken der Selbstinszenierung und ihrem Produkt, den Selfies, bedeutet dies, dass Selfies

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kollektive Erinnerungsorte nicht von unten korrumpieren, sondern ein erweitertes kuratorisches Verhältnis zu ihnen aufspannen. Selfies lassen sich nicht darauf reduzieren, ein Ausdruck radikalisierter lebensweltlicher Subjektivität zu sein, Selfies beziehen sich immer auch auf ein Außen und sind in diesem Sinne als Selbst-Entwürfe zu verstehen. Ihr Charakter des Entwerfens kann vom Umstand abgeleitet werden, dass sie sich den Gedenkraum, in dem sie sich entwerfen, nicht vollständig aneignen können. Sie interagieren als zeitliche Spur innerhalb des Erinnerungsortes und können zwar seine Bedeutung temporär verschieben, geraten aber in die zeitliche Dynamik medialer Alterungsprozesse und nachlassender Aufmerksamkeit. In seinem 1964 posthum veröffentlichten Schriftkonvolut Sichtbares und Unsichtbares entwickelt Maurice Merleau-Ponty ein chiastisches Denken der Spurensuche des sinnlich Gegebenen. Im dialektisch konzipierten Deutungsprozess ist die Sinnbildung weder vorgeprägtes Sinn-Sein noch spontan gesetztes Sinn-Erfinden. Die Konstitution von Sinn ist nicht Sinn-Setzung, sondern Sinn-Verstehen. Somit ist der Verstehensprozess nicht ein bloß rezeptiver Vorgang, innerhalb dessen ein vorgegebener Sinn (die Spur) bloß erkannt werden würde. Für ihn ist das Subjekt kein synthetisierender Akteur, der auf eine fertige Bedeutung trifft, sondern es ereignet sich zwischen ihnen eine situative Synthese, die das Subjekt einerseits stiftet, andererseits stößt es in der Wahrnehmungssituation auf diesen Sinn. Dieser dialektische Ansatz kritisiert die Annahme, dass der Wahrnehmungsgegenstand ein Produkt der SynthesisLeistung durch das Subjekt der Wahrnehmung ist. Somit kann an die Stelle der klassisch intentionalen Subjektkonzeption, das ein Subjekt annimmt, dessen Aufmerksamkeit sich auf etwas richtet, aufgegeben werden – zugunsten einer Vermengung und Vermischung des Wahrnehmens und des Wahrgenommenen, die auf kein stabiles Innen oder Außen mehr abhebt. Dieser chiastische Sinn der Sinne erhebt aber keinen Wahrheitsanspruch, sondern bleibt partikular, bezieht sich auf Situatives und Partikuläres und privilegiert einen brüchigen Sinn. Diese Brüchigkeit und Unvollständigkeit der Schwellenerfahrung und der damit assoziierten Subjekt-Werdung ermöglicht ein Denken, das in seiner eigenen Textstruktur aggregatähnlich werden kann. Wenn wir versuchen, Erfahrungen zu beschreiben, dann tun wir das immer in anderen symbolischen, bildlichen und medialen Registern, haben also keinen unmittelbaren Zugriff, sondern müssen immer Übersetzungen durchführen, die nur bestimmte Aspekte der Erfahrung hervorheben – aber nie die Erfahrung in ihrer Einheitlichkeit und Abgeschlossenheit.

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In Das Selbst als ein Anderer (1996) arbeitet Ricoeur heraus, dass dem SichErinnernden das Erinnern nicht einfach nur widerfährt, sondern eine Handlung verkörpert. Eingebettet in einem Handlungsrahmen stellt das Erinnern eine Fähigkeit dar, die dem handelnden Menschen zugestanden werden kann. (210ff.) In diesem Sinne sind Selfies auch Teil dieses Handlungsrahmens, sie erzählen über Menschen, die versuchen, sich mit einer bestimmten Erinnerung auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang kann daran erinnert werden, dass die bisherige Medienberichterstattung über Selfies an Erinnerungsorten beinahe ausschließlich negativ, skandalisierend und moralisierend war (vgl. Douglas 2020: 384–399). In ihrer negativen Grundeinstellung wurden Selfies als durchgehend negativ beschrieben, die Erinnerungsorte wurden allgemein als positiv ausgewiesen. Da sich aber Individuen mittels intersubjektiver Beziehungen und Assoziationen bestimmen, sollte der Begriff des kollektiven Gedächtnisses in Hinsicht auf die Art und Weise verstanden werden, wie im Vorgang des SichErinnerns Beziehungsnetzwerke zwischen Individuen und den Gemeinschaften, denen sie angehören, geschaffen werden. Maurice Halbwachs, Pionier der kollektiven Gedächtnisforschung, hat in seinem 1925 erstmals veröffentlichten Buch Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen auf den sozialen Bezugsrahmen von individueller Erinnerung hingewiesen und darauf aufmerksam gemacht, dass sich eine kulturelle Praxis des Erinnerns jenseits sozialer Zugehörigkeit nicht stabilisieren kann. (14f.) Einem Selfie ohne sozialer Anschlusskommunikation droht der Gedächtnisverlust. Dementsprechend hat Halbwachs das Konzept des kollektiven Gedächtnisses als interaktives Konzept entwickelt und argumentiert, dass individuelle Erinnerungen nur im Kontext einer sozialen Gruppe verstanden werden können, die er mittels Zeit und Raum periodisiert. Die heutige Gedächtnisforschung distanziert sich von der raumzeitlichen Verbindlichkeit eines als werkhistorisch abgeschlossen gedachten KollektivGedächtnisses und betont die Bedeutung der Medien für die Gestaltung kollektiver Erinnerungen. Kultur und individuelles Gedächtnis werden ständig durch die Technologien des Gedächtnisses produziert und vermittelt. Die Ausgangsfrage der sozial interagierenden und medial vermittelnden Erinnerungsproduktion hat sich in der digitalen Ethnografie weitgehend durchgesetzt: »[C]ollective memory is best shaped at the intersection of the media memory and the public memory agendas, the moment when the past events most salient in the media also become those perceived as most important by individuals.« (Dobrin 2020: 3)

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II.8.2. Erinnerungsort Auschwitz-Birkenau Auschwitz-Birkenau wurde ab den 1950er Jahren zu einem öffentlich zugänglichen Ort der Erinnerung und damit einhergehend zu einem Schauplatz der Medialisierung. Frühe Formen der visuellen Erinnerung setzen sich mit den überlieferten Kriegs-, Befreiungs- und Nachkriegsfotografien auseinander. Studien über die Amateurfotografie vor Ort haben aufgezeigt, dass Besucher/innen Orte fotografierten, die durch Kriegsfotografen berühmt wurden: das Tor »Arbeit macht frei«, die Stacheldrahtzäune und die Krematorien: »Starting in the 1950s, visitors took photos of areas made famous by war photographers: the Arbeit macht frei gate, the barbed wire fences, and the crematoria. These themes also entered public consciousness through popular media, with miniseries such as Holocaust, films such as Schindler’s List, and graphic novels such as Maus. The albums and snapshots on Flickr and Instagram, respectively, continued this trend in the digital age. Using familiar visual motifs, visitors filtered their experiences through the photos they took. They chose to apply photo filters, lightening or darkening the image, and selected which parts of AuschwitzBirkenau to present on social media. Their actions represented a filtered memory of the Holocaust. Social media was different from previous forms of mediatized memory as it not only allowed people of various backgrounds to post photos online but allowed the mass public to share their filtered memories of their experiences. Social media acted as a virtual exhibit of individual experiences relating to their experiences visiting Auschwitz-Birkenau.« (Fagen 2019: 101) In ihrer Untersuchung Hashtag Holocaust: Negotiating Memory in the Age of Social Media rekonstruiert Erica Fagen die medialen Umbrüche bei der Medialisierung des Erinnerungsortes Auschwitz-Birkenau. Am 2. Juli 1947 wurde das Museum Auschwitz nach einem Beschluss des polnischen Parlaments gegründet und die erste Ausstellung wurde zeitgleich in Baracken des Stammlagers gezeigt. Die ersten Besucher/innen, die das ehemalige Vernichtungslager betraten, waren bereits mit den Fotografien vertraut, die mit der Befreiung und der Nachkriegsdokumentation veröffentlicht wurden. Die Begegnung mit dem Holocaust vor Ort bezog sich bereits in der jüngsten Nachkriegszeit auf gefilterte Erinnerungen, die in der Presseöffentlichkeit zirkulierten. Mit der gesellschaftlichen Relevanz der Sozialen Medien verändert sich der Status der Erinnerung in ihrem Bezug zur Geschichte, denn die Bilder, die

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in Auschwitz-Birkenau aufgenommen werden, erreichen in Verbindung mit Hashtags und geographischer Lokalisierung eine globale Öffentlichkeit. Als aktuelles Phänomen eröffnet Erinnerung auf Sozialen Medien eine dynamische und fluide Verbindung zur Zeitgeschichte. Durch die unüberschaubaren Multiplikatoren wird Erinnerung fragmentiert und pluralisiert. Die Hashtags überschreiben ›offizielle‹ Erinnerungsmonopole und jeder, der mit Ortsangaben und Schlüsselbegriffen seine Schnappschüsse zuordnet, trägt dazu bei, dass Erinnerung ein heterogener, ständig sich verändernder Strom von Impressionen ist. Die Möglichkeit, den Aufenthalt in Auschwitz-Birkenau beliebig zu gestalten, narrativ zu rahmen und sozial zu teilen, verdeutlicht, dass die Geschichte allen gehört, jeder kann Erinnerung auf seine Weise kuratieren und sich selbst in diese Erinnerung einbringen. (Vgl. Obrist 2014) Pierre Nora macht darauf aufmerksam, dass die Behauptung, »es gäbe eine wahre Vergangenheit, der man sich bedingungslos unterordnen müsse« (1989:7), problematisch sei, weil sie dazu führen würde, dass die Verteidiger dieser historischen Wahrheit manipulativ vorgehen würden. Vor Ort manifestiert sich Auschwitz-Birkenau als materieller Träger eines kollektiven Gedächtnisses. In diesem ist das Lager als Denkmal verankert. Es bildet einen materialisierten Raum, in dem sowohl Geschichte als auch Erinnerung existieren können. Andererseits setzt sich Ausschwitz als Name aus den Bedeutungen zusammen, als symbolischer Ort der Erinnerung firmiert er als ein Sammelbecken von Erinnerungen, löst sich vom physischen Ort und öffnet sich ständig für die Erweiterungen seiner Bedeutungen. So gesehen entsteht ein kollektives Gedächtnis mittels der Aktivitäten kollektiver Gruppen und dieses soziale Gedächtnis wird aktualisiert von Individuen, die dieses kollektive Gedächtnis andauernd und in alle möglichen Richtungen weiterentwickeln. Vor diesem Hintergrund können heute auch Erinnerungspraktiken von Besucher/innen eingeordnet werden, die auf Sozialen Medien ihren Aufenthalt in Auschwitz-Birkenau kuratieren. Andererseits kann die Frage aufgeworfen werden, welchen Stellenwert das von Nutzer/innen angelegte Repositorium aufweist, welches sie auf Sozialen Medien und Film- und Video-Plattformen aufbewahren. Handelt es sich dabei um eine archivierte Erinnerung, also um Überreste von erlebter Geschichte?

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Abb. 11: Hashtag »#fucknazis«, 4. Januar 2023.

Quelle: Instagram

Traditionell beschränkt sich die Gedenkkultur von Holocaust-Schauplätzen auf kuratierte Top-down-Prozesse der Erinnerungsproduktion vermittels offizieller und institutionalisierter Bildungseinrichtungen und Erinnerungsarchive. Jetzt beeinflussen neue Medien zunehmend die Art und Weise, wie die Erinnerung an den Holocaust von einem globalen Publikum dargestellt, verbreitet und konsumiert wird: »Now, new media increasingly impact the way the memory of the Holocaust is represented, disseminated, and consumed by transnational audiences.

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Contemporary Shoah online discourse consists of various bodies of intersecting mediated texts: social media (Twitter, Instagram, and Facebook); websites, blogs, and online archives; as well as video-sharing services that circulate user-generated content (e.g. YouTube). Simultaneously, interactive, augmented reality, or virtual reality technologies mediate the past in previously unimaginable ways. Additionally, as new media are not static, memory production in the digital age continues to evolve. While Web 2.0 from the beginning allowed for decentralised, democratised, and – often – text heavy mediation of Holocaust memory via websites and blogs, the more recent examples of online memory mediation present an increasingly image-centred content.« (Zalewska 2017: 97f.) Der Besuch von Gedenkstätten ist gegenwärtig sehr eng mit medialen Praktiken verwoben. Die Bandbreite von audiovisuellen Aufzeichnungen während des Aufenthalts ist weit gestreut und versammelt heterogene Mischungen aus Selbstinszenierungen, Körperpraktiken, diskursive Reflexionen, Erzählhandlungen, Bildbearbeitungen und Set Designs. Die Medialisierung von memorialen Environments durch private Besucher/innen kann man als ein hochkomplexes Phänomen kultureller Aneignung verstehen, indem Menschen auf vielfältige Weise versuchen, ihr Verhältnis zur Vergangenheit deutend darzustellen, zu erfahren, zu verhandeln und es damit auch vor einem Publikum aufführen können.

II.8.3. Staging History – Inszenierte Geschichte auf Instagram Unbestreitbar haben die neuen Medien neue Räume geschaffen, in denen Menschen auf der ganzen Welt kommunizieren, Identität aufbauen und über die Erinnerung an den Holocaust diskutieren können. Die scheinbar offene und demokratisierte Online-Diskussion über den Holocaust spiegelt jedoch nicht unbedingt die Komplexität und Nuancen der Holocaust-Erinnerung wider. (Vgl. Zalewska 2017: 105f.) Durch die Analyse der Anzahl der InstagramHashtags, die mit den drei am häufigsten besuchten, ehemaligen Nazi-Konzentrationslagern verbunden sind, die visuelle Inhalte begleiten, die auf den öffentlichen Profilen der Benutzer gepostet werden, kann aufgezeigt werden, dass Auschwitz-Birkenau den ersten Platz in diesem kollektiven visuellen Regime des digitalen Gedächtnisses einnimmt (s. Abb. 12).

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Abb. 12: Anzahl der Hastags in öffentlichen Posts mit Bezug auf die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau auf Instagram. Daten erhoben am 14. Oktober 2017.

Quelle: Zalewska (2017): 106.

Während ein Museum und eine Gedenkstätte wie Auschwitz-Birkenau weniger Kontrolle über die digitalen Online-Kommunikations- und Repräsentationskanäle ausüben kann, erweitert die rasante Verbreitung von digitalen Selbstbildern private Nutzungsräume und sorgt für eine bisher ungekannte Vermischung von Privatem und Öffentlichkeit. Diese neue Vermischung von persönlich kuratierten Erfahrungen und öffentlicher Wahrnehmung ist

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besonders augenfällig geworden an der Verbreitung von Selfies an Orten kollektiver Erinnerungskultur: »What makes the Auschwitz selfie both popular and controversial in the current digital generation? […] We have seen that the debate over Auschwitz selfies revolves around three major moments: in taking the selfie, the photographer performs an act that may disturb the shared demeanor and social solidarity of other bodily visitors, while seeking connections with a virtual community; they also adopt a mode of distraction, rather than intense concentration on the site. In framing the selfie, the aesthetic centering of the visitor’s face, the direct gaze toward the camera and the addition of filters and emojis may display the reflexivity as well as the narcissism of the selfie-takers. Sometimes, the humorous or distanced captions arouse the indignation of many, even as it makes the image more accessible to others. Finally, the diffusion of the image to other (touristic, dating, or entertainment) websites makes the images more interactive, but often more frivolous.« (Feldman/Musih 2022: 3) In ihrer ethnographischen Feldforschung zum Holocaust-Tourismus betrachten Jackie Feldman und Norma Musih Selfies als »Holocaust-Souvenirs«. (Ebd.) Die Fotografie spielt schon seit längerer Zeit eine große Rolle bei der Bedeutungsproduktion von Reisenden, dazu zählen Souvenirs wie Fotoalben, Postkarten und Bildbände. Selfies als »Holocaust-Souvenirs« unterstützen die Besucher/innen bei der Interpretation ihrer eigenen Aktivitäten vor Ort. Im Unterschied zu vorgefertigten Souvenirs als Massenware, stellen Selfies eine indexikalische Manifestation der eigenen Anwesenheit dar, sie bezeugen die Anwesenheit der eigenen Person und übernehmen dadurch die Augenzeugenschaft über den Besuch an der Gedenkstätte. Das Teilen der Selfies kann eine Möglichkeit eröffnen, Freunde und Bekannte für die Thematik zu sensibilisieren: »Moreover, selfies may extend the life span of experiences of touring or pilgrimage, most recently through the ›popping up‹ of old photos on social media and digital platforms on the anniversaries of their first recording.« (Feldman/Musih 2022: 2) Ähnlich argumentiert Robbert-Jan Adriaansen, wenn er darauf hinweist, dass »Holocaust-Selfies« nicht als statische Repräsentationen historischer Erinnerung, sondern als Ausdruck »spielerischer Identität« gelesen werden sollten:

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»As social media platforms are playing fields in which different representations of the self are mobilized and posited dynamically, conventional maxims of communication and (historical) representation – such as truth and clarity – are often postponed. This could be interpreted as deficient mode of historical representation; however, the analysis shows that the majority of ›Auschwitz selfies‹ represent or challenge acts of remembrance, rather than the historical events. It is the confusion of these two relationships that brings critics to dismiss the value of selfies altogether, whereas the acknowledgment opens up chances for reflection on the possibilities and limits of representing and understanding the Holocaust on social media.« (Adriaansen 2022: 105) Daniel Magilow, der auch über »Shoa Selfies« arbeitet, definiert dieses Genre der fotografischen Selbstthematisierung als Ausdruck von ›sozialer Fotografie‹ und übernimmt dabei die Begriffsdefinition des Medientheoretikers Nathan Jurgenson: »In media theorist Nathan Jurgenson’s definition, a social photograph is a digital image whose ›existence as a stand-alone media object is subordinate to its existence as a unit of communication.‹ Within social media streams, they contribute to the photographer’s ongoing narrative of selffashioning.« (Magilow 2021: 156) Die soziale Fotographie sieht er auch als typisch an für den Aufstieg dessen, was Diana Popescu als »Post-Witnessing« (2016: 274–288) bezeichnet, nämlich den Drang, »die Vergangenheit zu untersuchen, indem man eine reale und nicht nur eine imaginäre Entdeckungsreise unternimmt«. (Ebd.: 274) Mit der fortschreitenden Verbreitung von Social-Media-Plattformen ist die institutionelle Macht von Gedenk-, Begegnungsstätten und Museen, welche die offizielle Erinnerung an historische Ortsbezüge verwalten, erodiert. Vor diesem Hintergrund werden die als mach- und planbar wahrgenommenen Besuche an Erinnerungsorten zum Gegenstand medialer Erzählstrategien, mit denen versucht wird, die eigene Erfahrungen und Befindlichkeiten vermittels narrativer Rahmungen und multimedialer Medienformate mit Vergangenheitsinszenierungen zu verflechten. »Digitale Medien erlauben Besucher/innen beispielsweise, ihre emotionalen Erfahrungen durch Fotos, Videos, kommentierende Texte sowie Hashtags und Emojis zu artikulieren und mit anderen Menschen online zu teilen, wobei andere Personen wiederum Möglichkeiten zur weiteren Kommentierung, Verlinkung, Einbettung usw. haben. Dadurch werden Medien im Kontext von Heritage Sites zu Werkzeugen des ›digitalen Ku-

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ratierens‹ von Gefühlswissen des Historischen. Kuratierpraktiken sind (unter anderem) Praktiken des Hervorhebens, Auswählens, Sichtbar- und Unsichtbarmachens, Vergleichens, Juxtapositionierens, Kategorisierens, Einordnens, Situierens, Bewertens und des ästhetischen Gestaltens. Der Begriff des ›Kuratierens‹ wird als ethnografisches Konzept produktiv, insofern er erlaubt, diese unterschiedlichen Dimensionen der Gestaltung und Sichtbarmachung in Verflechtung zu denken und zu beschreiben.« (Bareither 2021: 351) Dabei stehen digitale Bilder »klar im Fokus der digitalen Kuratierpraktiken; durch das Aufnehmen, Bearbeiten, Kommentieren und Teilen dieser Bilder gestalten und artikulieren Besucher/innen ihr Gefühlswissen des Historischen.« (Bareither 2021: 353) In dieser Sichtweise können die digitalen Netzwerke immer auch als mediale Anordnungen verstanden werden, die auf die beteiligten Akteure institutionellen und normativen Druck ausüben, sich am Prozess der Selbstthematisierung zu beteiligen. Maria Zalewska weist darauf hin, dass die Allgegenwart von Social-Media-Content Einrichtungen wie das Museum Auschwitz-Birkenau dazu nötigen, die eigene institutionelle Präsenz auf Social-Media-Kanälen aufzuwerten und sich mit persönlichen Social-Media-Inhalten auseinanderzusetzen. (Vgl. Zaleswka 2017: 95–116) Die vereinfachten Möglichkeiten zur multimedialen Selbstveröffentlichung im Internet ermöglichen neue Formen der kollektiven Vernetzung von Bildern. Die Kultur des eigenständigen Kuratierens von Vergangenheit eröffnet nicht nur ein neues Wechselverhältnis von Praktiken des Selbstbezugs und medialen Technologien, sondern beeinflusst auch als ästhetisches Mittel die Repräsentationen des kulturellen Erinnerns von Gemeinschaften. Die technisch-mediale Verfügbarkeit von mobilen Aufzeichnungsmedien und Internet-Zugang hat eine Pluralität von Vergangenheitsinszenierungen eingeleitet: »Orte des Erinnerns ermöglichen Praktiken der Vergegenwärtigung von Vergangenheit, oder, wie es die Kulturanthropologin Sharon Macdonald nennt, des ›past presencing‹. Wenn wir diese Orte betreten, fordern sie uns auf, uns zur in sie eingeschriebenen Geschichte in Beziehung zu setzen.« (Bareither 2021: 351) Sharon Macdonald umschreibt mit ›past presencing‹ technisch-mediale, aber auch körperliche und affektive Praktiken der Vergegenwärtigung von Vergangenheit. In Bezug auf Selfies in ErinnerungsEnvironments kann von einer vielschichtigen Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ausgegangen werden, dann die Vergegenwärtigung von Vergangenheit bezieht sich nicht unmittelbar auf das Vergangene, son-

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dern ist selbst eingebettet in eine persönliche Rezeptionsgeschichte von Geschichte und ihren (kommodifizierten) Bilderwelten, die mitschwingend aktiviert wird, wenn Besucher/innen vor Ort Motive auswählen oder sich für eine bestimmte Pose entscheiden. Die Inszenierung von Vergangenheit durch Besucher/innen von Erinnerungsorten resemantisiert Gedächtnisräume institutionalisierter Gedenkpolitik und erzeugt den Anspruch, das Vergangenheit als ein Topos radikal subjektiver Aneignung angesehen werden kann. Die Privatisierung institutionalisierter und administrativ verwalteter Erinnerungsräume findet jedoch nicht in der Abgeschlossenheit vertraulich-diskreter Kommunikation statt, sondern wird im Licht der Öffentlichkeit geteilt. Die Möglichkeit, dass ›Holocaust-Selfies‹ öffentliche Aufmerksamkeit generieren, hat Auswirkungen auf die Bildund Körperpraktiken vor Ort, wenn die ausgewählten Sujets, Perspektiven und Selbst- und Körperinszenierungen möglichst fotogen sein sollen, um das Potential aufzuweisen, ›instagrammable‹ zu sein, d.h. auf Instagram mit der interessierten Community geteilt zu werden.

II.8.4. Szenografien einer Selbst-Kuratierung In einer exemplarischen Fallstudie begleiten wir die szenografischen und medialen Praktiken eines anonymisierten Instagram-Nutzers beim Gedenken an den Holocaust in Auschwitz-Birkenau. Das auf Instagram veröffentlichte Portfolio ist vielschichtig strukturiert und beinhaltet Bilder, Bildunterschriften, Hashtags und Kommentare, die mit einem Location-Tagging versehen wurden. Durch die Untersuchung dieser öffentlich zugänglichen Beiträge kann herausgefunden werden, inwiefern der namentlich anonymisierte Instagram-Nutzer seine Erfahrungen während des Besuchs der Gedenkstätte kuratiert hat. Sowohl Realname als auch Nickname, Account-Adresse und Herkunft wurden anonymisiert. Die Bildstrecke des Besuchs der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau wird von einem Selfie am Eingang in den Barackenbereich eröffnet. Die meisten Selfies werden mit einer persönlichen Standortbestimmung eingeführt, die variiert wird: »Hier bin ich«, »Das bin ich«, »Ich«. Der im Bild Dargestellte stellt sich vor, er führt ein öffentliches Tagebuch und bekennt in der Bilderläuterung, dass er 30 Jahre alt geworden ist und seinen Geburtstag in der Gedenkstätte feiern wird. Das Selfie wird am Tor des Stammlagers Ausschwitz aufgenommen, unterhalb des Schriftzugs »Arbeit macht frei« ist im Bildzentrum und in der Bildmitte klar und deutlich das Gesicht zu sehen. Das visuelle

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Tagebuch des Museumsbesuchs in Auschwitz-Birkenau ist sehr persönlich gestaltet. Der Erinnerungsort wird einem persönlichen Erzählbogen angepasst, es gibt kaum sachliche Informationen zum dargestellten Hintergrund. Die zynische Umschreibung der Toraufschrift und der tatsächliche Zweck der Lager, nämlich die Vernichtung der Delinquenten, wird nicht erwähnt.

Abb. 13: Der Besuch in Ausschwitz wird mit diesem Selfie eingeführt.Bildunterschrift: »Das bin ich. Heute. 30 Jahre. Ich feiere sie in Auschwitz-Birkenau.Von hier erhalte ich viele Emotionen.«

Die visuelle Thematisierung des Gedenkstätten-Tourismus wird in mehrere Teile aufgeteilt vorgetragen, es werden Szenen ausgewählt, die über einen hohen Wiedererkennbarkeitswert verfügen. Die Szenen an den medialen Schauplätzen werden aufwändig kuratiert, es wird darauf geachtet, dass keine anderen Passanten die Bildkomposition stören. Stets ist das die Bilderzählung stabilisierende Subjekt im Zentrum des Story Plots. Der gesamte Besuch wird dramaturgisch aufbereitet und verfügt über einen Anfang und ein Ende. Jedes Bild, das einer neuen Szene entspricht, entwirft einen neuen Aspekt und versucht, aufbauend auf den vorangegangenen Bildern, eine linear fortschreitende Geschichte zu erzählen, die einen Handlungsbogen und eine narrative Zuspitzung aufweist. Das einführende Foto der Selfie-Narration (Abb. 13) beginnt mit der schriftsprachlichen Kommentierung »Das bin ich«. Der Ich-Erzähler stellt sich persönlich vor und beginnt seine Geschichte des Besuchs in Auschwitz-

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Birkenau aus der Ich-Perspektive zu erzählen. Eine einzige Figur erzählt, Bild und Text sind eng miteinander verzahnt, Persönliches und Historisches überlagern sich. Zwei Erzählperspektiven bauen den Bilderbogen auf: die Perspektive des Ich-Erzählers und eine personale Erzählperspektive, bei der die Ich-Form weder im Bild noch im Text vorkommt. Die Instanz des IchErzählers gliedert sich in zwei unterschiedliche Ansätze, vorherrschend ist die Perspektive des erlebenden Erzählers, der biografische Merkmale und narrative Gefühle vermittelt, diese Perspektivierung der Geschichte wird ergänzt durch das erzählende Ich, dass das Blickfeld auf historische Situationen und Gegenstände lenkt, die unabhängig von der eigenen Geschichte sind. Bild und Text sind in Bezug auf die intime Beschreibung der Gefühlszustände getrennte Register, während im Bild das erlebende Selbst im Porträt direkt die möglichen Betrachter/innen adressiert, übernimmt der Text einordnende und personalisierende Funktionen und eröffnet einen Einblick in das Innere der erlebenden Figur. Das folgende Bild der Serie (Abb. 14) breitet Postkarten und Bücher im privaten Raum aus. Bilder dominieren das Setting. Die gekauften Postkarten werden virtuell an Freunde und Bekannte verschickt. Eine Grußbotschaft mit ikonischen Bildern. Holocaust mit Wiedererkennungswert: »Aus Auschwitz. Mit Liebe. An euch alle.« Diese hier ausgestellte Auswahl der offiziellen Medialisierung der Gedenkstätte verdeutlicht, dass der Erinnerungsort AuschwitzBirkenau zeitgeschichtlich relevanter Topos von Ästhetisierung geworden ist. Die Gedenkstätte verkauft Postkarten, die man an Freunde und Bekannte verschicken kann. Das Lagertor mit der Aufschrift »Arbeit macht frei« wird in unterschiedlichen Bildstimmungen im Postkartendruck zum Verkauf angeboten, die offizielle Medialisierung formt ein Bildrepertoire, dass von subjektzentrierten Reenactments reproduziert wird, um Anschlusskommunikation sicherzustellen. Selfies fungieren als heterogene Einstellungen, daher ist es relevant, die schriftsprachlichen Kontexte einzuarbeiten. Dieses Selfie zeigt einen Protagonisten, der eine reflexive Haltung verkörpert. Das Selfie vor dem Bus nach Auschwitz-Birkenau demonstriert, dass Kuratieren als eine erzählerische Einbettung des Gezeigten angesehen werden kann. Eine Chronologie der Erfahrung wird hier geschrieben. Und der Reflexionsprozess beginnt nicht erst am Erinnerungsort selbst, sondern bereits vorher, nämlich als Vorbereitung und Einstellung.

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Abb. 14: Präsentation der gekauften Bücher und Postkarten.Bildunterschrift: »Auswendig. Aus Auschwitz. Mit Liebe. An euch alle.«

In diesem Fall geht es um eine Einfühlung, die der Begegnung mit dem Erinnerungsort vorausgeht. Selfies dienen nicht nur der bilddokumentarischen Verortung im Sinne von »Hier bin ich«, sondern auch einer emotionalen Annäherung, unterwegs, auf der Reise. In diesem Sinne firmiert die Selfie-Narration als Element einer literarischen Fiktion der Selbst-Kuratierung. Ankerpunkt der historischen Reflexion ist eine biographische Reflexion, sie etabliert einen erlebenden Erzähler, der auf der Bild- und Textebene seine eigene privilegierte Position mit jener von Akteuren vergleich, die vor 75 Jahren gelebt haben. Hier kuratiert ein mitfühlendes Subjekt seine künftige Begegnung mit einem Erinnerungsort und relativiert seine eigene soziale Existenz. Diese Aussage wird mit Unterstützung eines Selfies getätigt und somit kann verdeutlicht werden, dass Selfies nicht zwingend Spiegelungen im Prozess der Betrachtung evozieren, sondern auch Protagonisten von Haltungen markieren können. Die hier ausgebreitete Selbst-Kuratierung bedient sich mikro-kuratorischer Szenografien, um Impressionen zu verarbeiten, die assoziativ, spontan und lebensweltlich vermittelt werden.

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Abb. 15: Abfahrt nach Auschwitz-Birkenau. Bildunterschrift: »›Ich habe meine 30 Jahre in Auschwitz gefeiert‹. Ein Satz, der vor 75 Jahren noch eine ganz andere Bedeutung hatte.«

Oft handelt es sich nicht in der Bildstrecke um Bilder, die komponiert und reflexiv durchdrungen werden, sondern um visuelles Rohmaterial, das unkontrolliert arrangiert wird, der Zugang zum Selbstbild und zum Historienbild erfolgt intuitiv und ohne ikonografisches Vorwissen, die Inszenierung des Selbst und seines Bezugs zum Vergangenen wird präikonografisch in Szene gesetzt: Geschichte ist keine soziale Konstruktion, sondern wird in actu erlebt, vorgefunden und das Subjekt, das sie als musealisierte Geschichte erlebt, reproduziert ihre Präsenz und legitimiert sie dadurch. Verstärkt wird diese Authentifizierung des erlebenden Ich-Erzählers durch die Low-TechÄsthetik der Aufnahme: die dargestellten Gegenstände und Kulissen sind unscharf, abgeschnitten und nur teilweise zu sehen, zwischen ihnen und dem Ich-Erzähler befinden sich Hindernisse, die das Beobachten beeinträchtigen, etwa die Lichtreflexionen von Glasscheiben, welche die Museumsobjekte beschützen.

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Das Kuratieren von Vergangenheit mittels Selfie-Narrationen bietet emotionale Schnittstellen qua inszenierter Präsenzerfahrungen, präikonografisches Pathos, Auschwitz als Authentizitäts-Kulisse für die Liveübertragung eines journal intime.

Abb. 16: Bildunterschrift: »Ich und die Gewänder der Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau«, Hashtags: #oswiecim #a uschwitz #birkenau #poland #polandtrip

Abb. 16 ist mit der von Instagram bereitgestellten Filtersoftware im Farbkontrast Schwarz/Weiß gestaltet worden. Das Selbst im Mittelpunkt des Bildes wird im Kommentar wörtlich aufgenommen und schriftlich bezeichnet: »Ich«. Die Bildunterschrift stellt die im Hintergrund befindlichen Gewänder der »Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau« mit der erlebenden Figur in einen Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ist räumlich motiviert, denn das Subjekt steht vor der Vitrine, in der die Häftlingsgewänder aufbewahrt werden. Ein inhaltlicher Zusammenhang wird in diesem Bild nicht hergestellt. Mit dem Bildhandeln wird die räumliche Situation im Museum Auschwitz in eine Szene gesetzt, in der das bildhandelnde Subjekt sich selbst in eine Figur in einem Setting verwandelt. Die szenografische Verwandlung des bildhandelnden Subjekts in eine Figur, die Teil des Bildes ist, wird im Prozess des Kommentierens als ein relationales Verhältnis thematisiert. Die Frage ist, ob sich die Figur selbst im Bild befindet, oder sich situativ zur

II. Kommodifizierung des Selbst

Szene verhält. Die im Kommentar betonte räumliche Distanzierung kann als Hinweis verstanden werden, dass die dargestellte Figur nicht im Bild aufgeht, weil die museale Aufbereitung der historischen Objekte auch als eine szenische Inszenierung von Abwesenheit (von Gewalt, Tod, Angst) verstanden werden kann. Die Figur kann aber auch aus einem anderen Grund nicht im Bild aufgehen, weil sie sich im Bildhandeln auch in ein Objekt verwandelt hat, das in mehrfacher Hinsicht für andere verfügbar geworden ist. Die Figur firmiert als ein Objekt der Betrachtung, einer öffentlichen Wahrnehmung, welche die private und intime Situation der Bildherstellung aufbricht, zusätzlich ist die dargestellte Figur Objekt einer technischen Verfügbarkeit, da das Bild kopiert und beliebig oft reproduziert und weiterverbreitet werden kann. Anders verfährt das Selfie mit der Bildunterschrift »Birkenau. Tor zu Hölle« (Abb. 17). Das Aufsuchen eines ikonischen Erinnerungsortes steht bei diesem Bildhandeln im Vordergrund. Einstellung und Sujet bekräftigen die Suche nach Ähnlichkeiten zwischen dem hergestellten Bild und dem architektonischen Ensemble des Vernichtungslagers. Die Bildunterschrift ist in diesem Fall wertend und dramatisierend, Mimik und Gestik des Dargestellten affirmieren zusätzlich diese Bildbeschreibung des erlebenden Subjekts. Die zentralperspektivische Gestaltung des Fotos referiert auf die Schwarz-Weiß-Aufnahme des polnischen Fotografen Stanislaw Mucha, der das Torhaus des KZ Auschwitz-Birkenau aus dem Inneren des Lagers im Februar/März 1945 nach der Befreiung aufgenommen hatte. Dieses bildlich tradierte Sujet der zentralperspektivischen Aufnahme der Tordurchfahrt repräsentiert eine Ausdruckskonvention, die im kollektiven Bildgedächtnis verankert ist und sehr häufig bei Besuchen reproduziert wird. Das hier untersuchte Auschwitz-Selfie ist von außenhalb des Lagers aufgenommen und spielt mit der Sogwirkung auf die Betrachter/innen. Bilddramaturgisch vermittelt das Foto einen Eindruck einer universell gültigen Bildmetapher, das Torhaus erscheint als Schwelle zwischen Leben und Tod. Mit Hilfe der zentralperspektivischen Gestaltung wird der Bildraum in einen Vordergrund, der für das Leben steht, den Betrachter/innen und die Zeigefigur im Bild (das Selfie-Gesicht) einnehmen, und einen Hintergrund geteilt, das hinter dem Torhaus befindliche Lager entzieht sich dem Blick der Betrachter/innen und markiert Tod und Gewalt. Schließlich verstärkt die Perspektive der in den Hintergrund verlaufenden Schienen die Ausweglosigkeit der Situation.

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Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

Abb. 17: Bildunterschrift: »Birkenau. Tor zur Hölle«

Abbildung 18 zeigt eine Vitrine aus den Innenräumen des Museums mit Blechdosen des Biozids Zyklon B, das zwischen 1942 und 1944 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau für den industriell organisierten Massenmord eingesetzt wurde. Dieses Foto stellt eine Ausnahme beim Kuratieren des Besuchs der Gedenkstätte dar, es enthält eine ausführliche Bildbeschreibung und keinen persönlichen Bezug. Im Unterschied zu den aufwändig inszenierten Selfie-Aufnahmen, die Einstellungsgröße, Winkel, Schärfe und den kompositorischen Bezug zwischen Figur und Hintergrund dramaturgisch reflektieren und bildästhetisch/narrativ einsetzen, bleibt dieses Bild Fragment, ein Schnappschuss, dessen Lichtreflexionen eine unprätentiöse Bildgestaltung zeigen.

II. Kommodifizierung des Selbst

Abb. 18: Bildunterschrift: »Zyklon B, ein Pestizid, das im 19. Jahrhundert in der Landwirtschaft und während des Zweiten Weltkriegs zur Vernichtung von Menschen in Gaskammern eingesetzt wurde. Gefangene wurden normalerweise unter dem Vorwand eines Duschraums in die Gaskammer gelockt. 4 kg von so etwas reichen aus, um 1000 Menschen zu vernichten.«

Abbildung 19 vermischt poetische Impressionen mit einem Datum, dem 27. Januar 1945. An diesem Tag traf die Rote Armee auf die verbliebenen Gefangenen von Auschwitz-Birkenau und befreite rund 7.000 schwer kranke Überlebende. Die marschfähigen Häftlinge wurden kurz vor der Befreiung vom SS-Wachpersonal aus dem Vernichtungslager Richtung Westen gewaltsam entführt worden. Daher konnte ein großer Teil der Gefangenen die Befreiung des Lagers nicht miterleben, sondern befand sich auf einem Todesmarsch, bei dem viele Gefangene gefoltert und erschossen wurden.

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Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

Abb. 19: Bildunterschrift: »Der Rand der Unendlichkeit. Wo die Zeit stehen geblieben ist und das Datum des 27. Januar 1945 für immer eingefroren ist.«

Dieses abschließende Beispiel eines Kuratierens von Erinnerung mit Hilfe von Selfies zeigt, dass die ins Bild gesetzte Figur eine Vielzahl von bildrhetorischen Funktionen übernimmt, intradiegetisch bezieht sie sich auf Situationen, Dinge und Zustände und tritt mit diesen in eine Beziehung, sie agiert im Bild als Figur und positioniert sich auf einer repräsentativen Ebene, extradiegetisch bezieht sie sich auf die Betrachter/innen und beginnt ein dialogisches und kuratorisches Verhältnis zum rezipierenden Publikum, in dieser Funktion führt sie durch die Ausstellung subjektzentrierten Erinnerns und changiert dabei mit unterschiedlichen Erzählperspektiven, einmal ist es das erlebende Subjekt, das als Figur für gesteigerte Immersion und Authentizität sorgt, in anderen Kontexten fällt das Subjekt aus dem Bild heraus und gleitet in ein visuelles Off, zieht sich zurück, rückt die Vergangenheit in das Bild und kuratiert ihre Überbleibsel und Fragmente als Protagonisten einer Geschichte, deren Dimensionen tiefer zu sein scheinen, als es das kuratierende Subjekt aus sich selbst heraus erklären könnte.

III. Faciales Regime – Defacement

III.1. Prosopopeia Die Figuren der Autorschaft und des Autobiografischen sind eng mit dem Selfie verbunden. Wer Selfies macht, möchte einen Moment festhalten und sich selbst für sich und andere darstellen. Selfies werden selbst gemacht, das fotografierende Subjekt nimmt die Doppelrolle von Regisseur/in und Schauspieler/in der Aufnahme ein, es möchte die Situation als Autor selbst erzählen und die autobiografische Szene eigenmächtig gestalten. In Anlehnung an Paul de Mans »Autobiografie als Maskenspiel« (1979: 131–146) kann dieses hier modellartig entworfene Set Design der Selbstthematisierung als Konstruktionsprozess untersucht werden. Polemisch hat de Man die Figuren des autobiografischen Maskenspiels dem Untertitel »Die Ideologie des Ästhetischen« in Verbindung gebracht. Damit meint er, dass ein Verständnis des Autors als souveräne Entität, die das mediale Geschehen der Aufzeichnung beherrscht und sich selbst authentisch und unvermittelt darstellen kann, eine uneingestandene Illusion ist, die er als »Ideologie« zu entlarven beabsichtigt. Nicht erst die mit Filtersoftware bearbeiteten Selfies verraten die bildrhetorischen Muster der Anschlussfähigkeit von Bildern an kanonisierte Vorlagen, auch die Strömungen des ästhetischen Purismus operieren mit rhetorischen Figuren, um die Wahrheit, Reinheit und Natürlichkeit der Bilder zu beglaubigen, indem sie ihre uploadeten Bilder mit dem Hashtag #nofilter versehen. Bei der Rhetorik von Bildern geht es im Kern darum, wie eine Person ihr Publikum überzeugen kann. Bereits antike Rhetoriker gingen davon aus, dass Redner üben müssten, mit der Stimme anderer zu sprechen, um überzeugende Redner vor Publikum zu werden. Diese rhetorische Figur der Sprechübung wurde als prosopopoeia bezeichnet. Bezogen auf Selfies meint das Verfahren der prosopopoeia, dass eine Selbstdarstellung immer auch für andere spricht, also

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ein Referenzwissen und Referenzbilder aufweist, und anschlussfähig ist für eine Vielzahl an vergleichbaren Bildern, die einen gemeinsamen Vorrat an Bildrepertoires aufweisen. (Pittroff 2022: 79–97) Übertragen auf das faciale Selfie bedeutet dies, dass das Gesicht als Teil eines Bedeutungssystems aufzufassen ist. Rhetorisch gesehen kann das Gesicht benutzt werden, um kognitive und emotionale Signifikanten zu kommunizieren. Der Gesichtsausdruck ist eingebettet in ein Repräsentationsmodell, in welchem Mimik und Gestik Zeichen für das darstellen, was eine Person sagen möchte. Erfasst wird das Gesicht im Selfie vom digitalen Bildmedium Fotografie, welches das Selbst wie durch ein Fenster erfasst. Die amerikanische Fotohistorikerin, Rosalind Krauss, hat diesen Fensterblick mit einer medial aufgezeichneten Spur des Augenblicks verglichen und damit ein maßgebliches Narrativ der Fotografie beschrieben, welches bis heute, in das Selfie-Zeitalter hinein, nachhallt. (Krauss 2018: 79) Eingerahmt in ein fotografisches Dispositiv, das einen Rahmen zur Welt des Abgebildeten in Aussicht stellt, funktioniert auch das Gesicht wie eine Benutzeroberfläche und manifestiert nach Peirce eine »indexikalische Beziehung« (1983: 64f.)1 zu den Denkakten und Gefühlszuständen einer Person, die mit dem Instrument seines Gesichts den Zugang zu dem ermöglicht, was darunter verborgen ist. Mit der Relation von Innen und Außen ist in das Gesicht bereits eine körperliche Kodierung eingeschrieben, die sich mit weiteren Dichotomien überlagert: Oberfläche und Tiefe, Nähe und Distanz, Selbst und Anderem. Bevor das Gesicht zu sprechen beginnt, ist es bereits Teil einer topologischen Anordnung, die das Individuelle und Persönliche transzendiert. Gilles Deleuze und Felix Guattari schärfen die Beobachtung, dass das Gesicht als eine »Ikone eines signifikanten Zeichenregimes« (Deleuze und Guattari 1997: 234) aufzufassen ist, das vom Künstler übersetzt werden muss, um auf das Gemachte des scheinbar ›natürlichen‹ Gesichtsausdrucks hinzuweisen. Sie verstehen das Gesicht nicht als Ausdruck von Natürlichkeit, Individualität und Persönlichkeit, sondern als etwas Konstruiertes, Hergestelltes, Künstliches: »A face, according to this model, is the face of a sender: it is individuating insofar as the face is connected to or contained by whoever has the face. It

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Als Index definiert Peirce ein Zeichen, »dessen zeichenkonstitutive Beschaffenheit in einer Zweiheit oder einer existentiellen Relation zu seinem Objekt liegt. Das indizierte Objekt muss tatsächlich vorhanden sein.« (Peirce 1983: 65).

III. Faciales Regime – Defacement

is socializing insofar as it has the capacity to hold meanings that are ascribable to the face’s owner, and insofar as those meanings can be seen and interpreted by others (receivers). Ultimately, the face is an instrument whose primary purpose is that of communicating; we cannot dissociate the face of the sender from the system of meaning implied by that face’s messages being sent to a receiver. We can also be certain that the face allows us to understand what is going on in somebody.« (Rushton 2002: 221)

Abb. 20: »Faces in objects – Things look back at you. Everyday objects that appear to have human emotions. Anthropomorphism is a big word for these pictures. If you have an object in your house that looks like a face send us a picture of it.«

Quelle: WTFace.com 2015

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Das Gesicht ist für Deleuze und Guattari aber auch ein rhetorisches Medium der Überzeugung, der Beeinflussung, mit dem »Macht ausgeübt werden kann«. (1997: 241) Zahlreiche Influencer operieren daher heute mit den Techniken des ›Impression Management‹, um ihre mit dem Gesicht (Sender) kommunizierten Werbebotschaften an Follower (Empfänger) optimieren zu können: »Scholars in marketing have identified new dimensions of props and identity tags as extensions of self and sought to find commercial value in understanding their use in aiding self-presentation.« (Shulman 2022: 27f) Wenn Influencer ihr Gesicht als mediales Vehikel instrumentell einsetzen, um bestimmte Bedeutungszusammenhänge zu transportieren, dann nutzen sie ihr Gesicht als historisch und kulturell zusammengesetzte Bedeutungsfläche. Deleuze und Guattari bezeichnen diesen Prozess als »Facialisierung«: »Während das Gesicht einen Körper braucht, ist der Körper nicht auf das Gesicht reduzierbar. Dies bedeutet, dass der Körper dem Gesicht entkommen kann, aber es bedeutet auch, dass der Körper gleichermaßen durch die schwarzen Löcher und weißen Wände des Gesichts territorialisiert werden kann. Mit anderen Worten, wenn der Kopf einer Gesichtsbehandlung unterzogen werden kann, kann dies auch der ganze Körper tun. Gesichtsbehandlung ist nicht, wie wir vielleicht denken, mit einem Magritte-Gemälde verwandt, in dem die Brüste zu Augen und das Schamhaar einer Frau zu einem Bart wird (wie in dem berüchtigten Gemälde mit dem Titel ›The Rape‹ von 1935). Die Gesichtsbehandlung ist nicht anthropomorph. Stattdessen bezieht es sich auf die Transformation eines Intensitätsfeldes des Körpers in ein System von Oberflächen und Löchern, die bedeuten und subjektivieren. Die Gesichtsbehandlung des Körpers ist daher eine Einschränkung dessen, was der Körper tun kann, und territorialisiert seine Ströme, um die Vielstimmigkeit des Körpers in einer einheitlichen, codierten Identität einzufangen.« (1997: 170) Vor diesem Hintergrund können Selfies als komplexe Spielarten der rhetorischen Figur der prosopopeia verstanden werden, mit der Bildern die Eigenschaft zugestanden wird, den Charakter einer Person zu verlebendigen und für das dargestellte Individuum zu sprechen. (Blankfield 2022: 1–15) Die Figur der prosopopeia oder der fictio personae macht darauf aufmerksam, dass Bilder als sprechend oder zu anderen menschlichen Verhalten fähig in Szene gesetzt werden, um mit Betrachtern auf eine bestimmte Weise zu interagieren. Die hier angesprochene Handlungsmächtigkeit der Bilder kann als ein erster Hinweis verwendet werden, um die Aspekte der Bedeutungskonstruktion bei der Reprodukti-

III. Faciales Regime – Defacement

on von bildkulturellen Referenzen, sozialen Distinktionen und medialen Dispositiven vorerst anzuzeigen und später verhandeln zu können. In ihrer Studie »Face-ing Immigration: Prosopopeia and the ›MuslimArab-Middle Eastern‹ Other« macht Johanna Hartelius darauf aufmerksam, dass das Verfahren der prosopopeia als Versuch verstanden werden kann, Gesichter zu kodieren, um sie sich auf eine bestimmte Weise anzueignen: »Public rhetorics impose a mask, an intelligible signifier onto the unknowable Other.« (Hartelius 2013: 311) Etymologisch gesehen setzt sich das Wort prosopopeia aus dem Griechischen prospon poien zusammen und thematisiert den performativen Aspekt der Maskierung: sich eine Maske verleihen oder ein bestimmtes Gesicht aufsetzen (prosopon). Das Aufsetzen eines bestimmten Gesichts verweist auf eine Maske, die wir uns aneignen, um mit anderen (besser) kommunizieren zu können. (Marino 2021: 318–337) Insofern steht das rhetorische Verfahren der Aneignung eines bestimmten Gesichts in einem näher zu bestimmenden Verhältnis zu Praktiken der visuellen Kommunikation und ihren medialen Vorbildern, die in mimetischen und gestischen Anschlusskommunikationen erprobt werden. Das visuelle Verfahren, sich ein bestimmtes Gesicht aufzusetzen, verweist allgemein auf das sozial konstruierte Prinzip, wenn man sein Gesicht zeigt. Denn das, was man zeigt, ist nicht das wahre Gesicht, nämlich als natürliches Antlitz eines Individuums, sondern es ist das, was sich zeigen lässt, nämlich unter den Bedingungen des Sozialen, des Politischen oder des Historischen. In diesem Sinne steht die Praxis des prosopon für das Gemachte des Gesichts, der Aspekt, jemanden ein Gesicht zu verleihen bedeutet, einer Person ein Gesicht aufzusetzen. Dieser Akt kann als Verfahren verstanden werden, konventionelle Merkmale von Gesichtlichkeit (z.B. visuelle Stereotype) zu konstruieren, um sich das andere Gesicht, das Gesicht des anderen, anzueignen. Sein Gesicht zu zeigen, indem man ein Selfie macht, kann dann als Prosopopöe, als Personifizierung aufgefasst werden, wenn die Bedingung akzeptiert wird, dass es kein vollkommen spontanes, natürliches Gesicht geben kann, das vollkommen abgekoppelt von Signifizierungen, Kodes, Erwartungen, Rollen, Repertoires existieren würde. Im Zusammenhang mit biografischen Selbstthematisierungen kann das Verfahren der prosopopeia genauer auf den Aspekt der Gesichtlichkeit bezogen werden, um damit den konstruierten Aspekt herauszustreichen, der entsteht, wenn jemand sich ein Gesicht verleihen möchte, oder wenn jemand sich mit der Bedrohung auseinandersetzen muss, das Gesicht zu verlieren. In dieser Spannung zwischen dem Zeigen des Gesichts und seinem drohenden Verlust eröff-

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net die prosopopeia ein ästhetisches Spiel »with the giving and the taking away of faces, with face and deface, figure, figuration and disfiguration.« (de Man 1984: 76)

Abb. 21: Giambattista Della Porta, Neapel 1586, Österreichische Nationalbibliothek.

Quelle: ÖNB, Bildarchiv

Paul de Man macht darauf aufmerksam, dass die der prosopopeia zugeschriebenen Verfahren der Verlebendigung nicht darauf abzielen, einen bereits vorhandenen Wesenszug des Dargestellten stärker zu akzentuieren, mit dem Ziel, diesen sichtbar werden zu lassen. Im Gegenteil. Mit der visuellen Verlebendigung eines Individuums wird dieses nicht einfach abgebildet, sondern es wird in visuelle Verfahren der Darstellung überführt, die zum Bei-

III. Faciales Regime – Defacement

spiel darauf angelegt sind, bestimmte Charaktermerkmale und Wesenszüge stärker hervortreten zu lassen. Diese im Porträt verdichtete Sichtbarkeit trägt nach de Man nicht dazu bei, ein ›Mehr‹ an Subjektivität zu zeigen, sondern ermöglicht erst seine Dekonstruktion, die bereits dem Akt seiner Herstellung, seiner Konstruktion eingeschrieben sind. In diesem Sinne können die bilddokumentarischen Formen der Selfies als eine Technik beschrieben werden, mit Hilfe derer etwas nicht Lebendigem, nämlich dem Bild, eine individuelle Ausdrucksweise des Persönlichen verliehen werden soll. Sie bezeichnen eine visuelle Praxis, mit der Individualität eine bestimmte Art der Zweideutigkeit und der Inkohärenz erhalten soll. Diese Einschätzung widerspricht der gängigen Ansicht, dass Selfies ein besonderes Nahverhältnis zum Betrachter unterhalten und Signale des Authentischen, Spontanen und Intimen vermitteln. Mit der Figur der prosopopeia wollen wir diese Merkmale keineswegs ignorieren, sondern nur eine Perspektive eröffnen, die das Authentische, Spontane und Intime nicht gleich der bestechenden Kohärenz der Digitalfotografie unterordnet, sondern die Ambivalenzen befragt, die bei der Medialisierung des Individuums in Gang gesetzt werden. (Reichert 2019a: 141–155) Die Vermittlung von Individualität erfolgt zweistufig und bezieht sowohl die inhaltliche Ebene der Repräsentation als auch die performative Ebene der Akteure mit ein, die sich mit dem Repräsentierten in eine Beziehung des Wahren, Evidenten und Legitimen setzen. Ihre zentrale Rolle bei Selbstthematisierungen in den Sozialen Medien des Web 2.0 hat aber nicht nur ein faciales Regime der Gesichtserkennung etabliert, sondern auch Praktiken der Überwachten, das heißt Prozesse der Demediatisierung und der bildkritischen Gesichtsauflösung in Gang gesetzt, mit denen ästhetische Strategien und Dominanzverhältnisse visueller Identitätskonstruktionen thematisiert werden können. In diesem Sinne kreist das faciale Regime zwischen den Polen der uneinholbaren Sehnsucht nach einer darstellenden Gegenwart, die Jean Francois Lyotard die »tragische Struktur des Ereignisses« (Lyotard 1986: 97) nennt, und den Kulturtechniken des visuellen Wissens, die versuchen, das Gesicht in eine sozial und politisch kolonisierbare Aufzeichnungsfläche zu verwandeln. Die epistemische Stärke und politische Kraft der visuellen Kultur könnte darin festgemacht werden, die Gouvernementalität des Gesichts als mediales Aufschreibesystem von personaler Identität, sozialer Norm und politischer Manipulation bildkritisch zu untersuchen.

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Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

Abb. 22: Operative Schönheitszonen, »The New Face«, New York,6. August 2008.

Quelle : www.standard.co.uk

Sieht man das Gesicht als historisches Aufzeichnungs-, Speicher- und Verbreitungsmedium von Erkennungsmerkmalen, Identifizierungsprozeduren und Vermessungstechniken an, dann kann es folgerichtig nicht mehr als unvermittelter Ausdruck von persönlicher Einzigartigkeit und individueller Nähe angesehen werden: »War für die Anthropologie seit Kant das Gesicht zentrales Erkennungs- und Identifizierungsmerkmal der Welt- und Menschenkenntnis bis hin zu rassistischen und kriminalanthropologischen Aus- und Eingrenzungen, so legitimierten sich diese fotografischen Geometrisierungen, Vermessungen und Normalisierungen des Gesichts trotz der Maskierung durch Natur« (Käuser 2013: 31). Wenn das Gesicht als eine his-

III. Faciales Regime – Defacement

torisch produzierte und sozial konstruierte Kommunikationskultur geltend gemacht wird, dann kann es nicht mehr ›unschuldig‹ für eine ahistorische und anthropologisch gültige Konstante einer Face-to-Face-Interaktion einstehen. Die Kulturtheoretiker Ulrich Raulff und Thomas Macho haben eingewandt, dass für die Annahme einer radikalsubjektiven und lebensweltlichen Einbettung von Porträts sowohl historische als auch ethnologische Beweise fehlen, um eine anthropologische Konstante überzeugend in Aussicht stellen zu können (vgl. Raulff 1984: 46–58; Macho 1996: 87–108). In Anlehnung an die hier zitierten Theorien zur ›facialen‹ Gesellschaft vermag die Präsenz von Gesichtsbildern in der digitalen Gegenwartsgesellschaft auf spezifische Medientechniken zurückgeführt werden, die eine konjunkturelle Entwicklung des Porträts überhaupt erst ermöglicht haben. So kann die Entstehung der facialen Gesellschaft auf die Verbreitung der Massenmedien zurückgeführt werden – von der Rotationspresse des 19. Jahrhunderts bis zu den ›Retweet‹-Ketten als Verbreitungsmechanismus für Selbstbilder. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Geschichte des Gesichts als eine Geschichte seiner medialen Ermöglichung und gesellschaftlichen Kodierung, die sich in den unterschiedlichen Darstellungen des Gesichts widerspiegeln. So gesehen hat der mediale, gesellschaftliche und technische Wandel der bildbezogenen Selbstthematisierung in unterschiedlichen Feldern der wissenschaftlichen Forschung zur Einsicht geführt, dass das Bildhandeln und die Bildkommunikation als Ausdruck eines sozialen Handelns im Wandlungsprozess aufgefasst werden kann. In diesem Sinne wird bildhaften Darstellungsformen die Wirkmächtigkeit zugestanden, soziales Handeln zu konstituieren. (Vgl. Sachs-Hombach 2003). Vor diesen Hintergrund kann die Frage aufgeworfen werden, ob und auf welche Weise die digitalen und interaktiven Medien Kulturmuster der spätmodernen Gesellschaft bereitstellen, mit denen sich Subjekte in Kommunikationsprozessen als Handelnde reflektieren und dabei versuchen, sich von sozialen Rollenerwartungen zu distanzieren. Diese These korreliert mit maßgeblichen Positionen der Bildkulturwissenschaft, die von einer grundsätzlichen Performativität des Visuellen ausgehen und dem Subjekt die Rolle zugestehen, die visuelle Kultur der Gegenwart mit Hilfe mobiler Medien, Tagging-Tools und Echtzeit-Kommunikation maßgeblich zu beeinflussen.

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III.2. Faciales Regime Selfies sind nichts Neues. In ihnen überlagern sich alte und neue Bildkulturen. Als Selbstporträts verweisen sie auf eine jahrhundertelange Tradition, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt, wenn die Mumienporträts aus römischer Zeit in Betracht gezogen werden. In der Blütezeit der italienischen Renaissance wurde dem Porträt die Bedeutung eines Charakterbildes gegeben. Diese Bildkultur war eng geknüpft an den Aufstieg des Individuums. Auch städtische Adelsfamilien und Herrschaftshäuser waren Auftraggeber, nicht mehr nur die Kirche. Die Hauptmotive früherer Porträtkulturen kreisen nicht nur um die Selbstbezüglichkeit der Dargestellten. Selbstdarstellungen dienten etwa zur Standesrepräsentation und wurden zur bilddokumentarischen Legitimation von Herrschaft und Macht eingesetzt. Damit gehen Porträts weit über einen selbstdarstellerischen Gebrauch hinaus. (Cipolletta 2020: 93–115) Es gab auch immer schon Künstler, die sich mit Hilfe des Spiegels selbst gezeichnet haben. Porträtbilder verweisen auf mehr oder weniger exklusive Bildpraktiken, die sowohl Praktiken der Selbsterkundung als auch Praktiken der Selbstvermarktung miteinschließen (siehe die Porträts von Dürer oder Rembrandt). Auch in der Fotografie hat es Selbstporträts seit Anbeginn – also seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – gegeben. Damals fand eine schrittweise Demokratisierung des Porträts statt, die ihren vorläufigen Höhepunkt mit der Erfindung der handlichen Kodak-Kamera (1888) nahm – eine Trendwende, da von da an die Kamera leicht zu bedienen und kostengünstig war. Mit der breiten Erschließung von Konsumentenmärkten konnten sich bald Amateurkulturen herausbilden. Die verfügbare Kamera im Eigenheim etablierte neue Bildpraktiken: die erotische Fotografie erlebte einen ungeahnten Boom und intime Selbstporträts vor dem Spiegel wurden zum begehrten Tauschobjekt in Flirtbeziehungen. Einer der Vorläufer der Selfie-Bilderproduktion ist auch in der von Andy Warhol stark geförderten Polaroid-Bewegung zu sehen. Warhol wollte, dass das Bild zirkuliert, veröffentlicht und vermittels sozialer Netzwerke geteilt wird. Er hat mit seinen Star-Polaroids die Demokratisierung visueller Reproduktion und Überlieferung stark in den Vordergrund gerückt, denn das Format war billig und stand nicht für Kunstfotografie. Damit hat Warhol nicht nur die Amateurästhetik des Low-Tech-Selfies vorweggenommen, sondern auch ihre Verbreitungslogik durch Social Media.

III. Faciales Regime – Defacement

Unter dem weitverbreiteten Schlagwort ›Selfies‹ können wir Formen der visuellen Selbstthematisierung verstehen, mit der sich eine Person oder auch mehrere Personen (›Gruppenselfie‹) explizit zum Thema der Aufnahme machen. Selfies werden üblicherweise mit einer Digitalkamera oder einem Smartphone von der eigenen Hand aufgenommen und in den Teilöffentlichkeiten von Online-Netzwerken des Internets verbreitet. In dieser Engführung können die digitalen Netzwerke immer auch als mediale Anordnungen verstanden werden, die auf die beteiligten Akteure institutionellen und normativen Druck ausüben, sich am Prozess der Selbstthematisierung zu beteiligen. Diese Ansicht wird auch von Birgit Richard (2008) gestützt, die sich mit der visuellen Selbstdarstellung insbesondere in Jugendkulturen befasst hat. Mit ihren Selfies rücken sich zwar die Einzelnen ins Bildzentrum, aber als sozial geteilte Bilder müssen sie sich auch bestimmten Rollenerwartungen, Körpernormen und Schönheitsidealen unterordnen. In dieser Hinsicht gehören Selfies zu den kollektiv geteilten Leitbildern der Gegenwartsgesellschaft und können im Bezugsrahmen einer historisch langfristigen Etablierung kommunikativer Institutionen und Normen der Selbstthematisierung verortet werden. Folglich sind es nicht nur die Einzelnen, die sich selbst zum Thema von Kommunikation und damit zum Gegenstand des Wissens machen, sondern sozial habitualisierte Formen der Kommunikation, die das Individuum in ein bestimmtes Verhältnis zu anderen und dadurch zu sich selbst setzen. Dementsprechend fungieren Selfies als gesellschaftlicher Mechanismus zur Normalisierung und Integration von sozialer Kontrolle. Sie verkörpern ein sozial habitualisiertes Verhalten und kulturelle Kodes, mit welchen handelnde Subjekte versuchen, Anerkennung und Gruppenzugehörigkeit zu gewinnen. Folgt man dieser Denkfigur, kann man Realbild und Klarname, die beide auf den sozialen Netzwerkseiten weit verbreitet sind, als Remediatisierung von Identitätsnachweisen ansehen: »Crucially, what has changed for the contemporary facial regime that both images and interprets the human subject is that we are not simply dealing with a ramping up of techniques of governance derived from the nineteenth century. The human is now not simply to be subjected to techniques of management but itself becomes a technique via its enmeshing with technologies of the moving image.« (Rozenblatt 2016: 2) In diesem Kontext kann die Frage aufgeworfen werden, ob und inwiefern die sogenannten ›Anti-Selfies‹ die Visibilität des Selbst implizit oder explizit

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als Schauplatz sozialer Normalisierung oder kultureller Homogenisierung thematisieren. In dieser Perspektivierung würden die Anti-Selfies auf sozial habitualisierte Formen der Kommunikation, die das Individuum in ein bestimmtes Verhältnis zu anderen und dadurch zu sich selbst setzen, Bezug nehmen. Die hier anschließende Frage ist auch, ob und inwiefern den Counter-Selfies eine bildkritische oder repräsentationspolitische Dimension inhäriert ist, in welchem Bezug sie zu den institutionellen Rahmenbedingungen des reflexiven Selbst stehen und wie sie mit den technisch-medialen Infrastrukturen der Selbstthematisierung umgehen. Ausgehend von dieser Problemstellung soll hier weder mit dem Begriff Defacement noch mit dem erweiterten Begriff der De-Medialisierung eine dichotome Gegenüberstellung zwischen dem Gesicht und seiner Auflösung behauptet werden, sondern vielmehr nach den Ambivalenzen und gemeinsamen Bezügen von Facialisierung und De-Facialisierung gefragt werden.

III.3. Thanatographien des Weiblichen Am 20. Mai 2013 zeigte das Time Magazin auf seinem Cover eine junge Frau, die ein Selfie von sich macht. Die auf dem Bauch liegende Figur hält in ihrer leicht abgewinkelten linken Hand ein Smartphone, auf welches sie von unten nach oben blickt. Ihre Geste (Medienpraxis der Regisseurin hinter der Kamera) und ihre Mimik (Selbstinszenierung als Schauspielerin vor der Kamera) erzählen uns, dass sie in diesem Augenblick ein Selfie produziert und gleichzeitig innerhalb dieser Handlung ein Bild werden wird. Sie wird in diesem Moment sowohl Produzentin als auch Konsumentin digitaler Bildmedien. Dementsprechend nimmt sie eine vielschichtige Rolle ein, sie nimmt die Rolle der Autorin ein, die das von ihr geschaffene Werk kuratiert, firmiert aber auch als Subjekt und Objekt der Aufnahme und innerhalb dieses Beziehungsnetzes inszeniert sie ein Bild von sich selbst und für andere, sie trifft eine Vielzahl von Entscheidungen und sondiert Kamerawinkel, Abstand zu Kamera, Pose, Gesichtsausdruck u.v.m. Im Bildvordergrund und im Zentrum dieses in der Entstehung befindlichen Bildes befindet sich ihr Gesicht, der restliche Körper wird im Bildhintergrund aufgenommen. Das Cover-Girl macht ein sogenanntes Selfie-Gesicht und lächelt sanft in ihr mobiles Aufnahme-, Speicher- und Verbreitungsmedium. Sie verkörpert mit ihrer bunten Kleidung (ein blau-weiß gestreiftes Shirt und eine zitronengelbe Hose) und

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den Ballerinas Jugendlichkeit, ihre Füße hat sie spielerisch-kokettierend übereinandergelegt. Auf den ersten Blick zeigt das Titelblatt eine alltägliche Szene, die junge Frau posiert für ein Selfie, hat ihre Haare vor den Schultern abgelegt und lächelt in die Kamera, sie möchte sich von ihrer besten Seite zeigen und kann dieses Bild mit dem Smartphone online sozial teilen. Über dem Bild der jungen Fotografin schwebt die Hauptüberschrift in weißen Lettern: in großen Buchstaben überragt eine dreifache Wiederholung alle anderen Textbotschaften: »ME ME ME«. Verknüpft wird diese rufende Textzeile mit einer periodisierenden Verallgemeinerung: »Generation«. Liest man Bild und Text zusammen, dann behandelt die Coverstory des Time Magazin in seiner Ausgabe ein soziales Phänomen, nämlich die »ME ME ME Generation«. Die weibliche Figur repräsentiert diese Generation, die Headline beschreibt und entziffert gleichzeitig den Frauenkörper. Durch die Wiederholung und die Großbuchstaben wird dem »Me« ein Insistieren zugeordnet, eine Eigenschaft, die mit Dringlichkeit, Bedrängnis, Aufmerksamkeit in Verbindung gebracht wird. Die Untertitel erklären und verdeutlichen die Hauptunterschrift: »Millennials are lazy, entitled narcissists who still live with their parents«; »Why they’ll save us all«. Die Untertitel erklären die insistierende Headline, sie operieren mit abwertenden Vorurteilen (»are lazy«), sie schaffen Verallgemeinerungen und stellen eine soziale Gruppe unter Generalverdacht (»Millennials are narcissists«) und geben insinuierte Abhängigkeitsverhältnisse der Lächerlichkeit preis (»who still live with their parents«). Als Autor dieser Unterstellungen firmiert »Joel Stein«, ein männlicher Autor, der mit dem Covertext gleichermaßen den weiblichen Körper beschreibt. Entlang dieser Signifizierung entsteht eine Zweiteilung zwischen einem männlichen Autor und Schöpfer von Bedeutungszusammenhängen und der weiblichen Figur der unteren Bildhälfte, die von der Schrift unterworfen wird. Dieser Zweiteilung im Bildraum entsprechen topologische Asymmetrien und Dichotomien, die sich folgendermaßen anordnen lassen: männlich/weiblich; oben/unten; geistig/körperlich; immateriell/materiell. Die Schrift schwebt über dem liegenden Frauenkörper, der Autor des Textes bleibt außerhalb des Bildes, die Frau als Bild wird gezeigt, in Verbindung mit der negativen Konnotation einer ganzen Generation wird der Frauenkörper im Bild moralisch verurteilt. Die das untere Drittel der Bildfläche dominierende Schrift schreibt sich als materielle Praxis der durch den Autor männlich konnotierten Macht in den Frauenkörper als Einschreibefläche ein.

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Abb. 23: »The Me Me Me Generation«, Time Magazin, 20. Mai 2013.

Quelle: https://content.time.com

Die moralische Verwerfung, von sich selbst ein Bild zu machen, ist auf der Coverabbildung gedoppelt. Einerseits wird das Machen des Bildes verurteilt, das ist die eigentliche Bilddiegese, auf der anderen Seite wird die Frau als Bild verworfen, schließlich wird auf einer dritten Ebene die Frau als Bild abgewertet, nämlich durch den Umstand, dass die Frau als Bild eine Generation verkörpert. Indem die Frauenfigur die Kollektivverallgemeinerung einer »narzisstischen Generation« verkörpert, erfüllt sie die Eigenschaft einer Allegorie. Als allegorische Darstellung nimmt sie ein politisch instrumentalisiertes Körperbild auf sich, indem sie eine kollektive Identität zu verkörpern hat. Das

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Coverbild des Time Magazin ist in eine strategische Operation eingebettet. Aufgabe der Bildebene ist es, die Textebene zu stabilisieren und rechtfertigen. Um dies zu erreichen, sind die Merkmale des Frauenkörpers so angeordnet, dass sie ein Stereotyp ergeben, der den Generalverdacht, dass die Generation der Millennials narzisstisch ist, stützen kann. Folglich besteht die Aufgabe des Bilddesigns darin, ein Bild zu evozieren, dass eine narzisstische Frau zeigt, die für eine ganze Generation einstehen kann. (Vgl. zur allegorischen Bildwirkung in Bezug auf die Darstellung sozialer Entitäten, Bork-Petersen 2022: 101–127) Übrigens, ohne Anspruch auf eine faktische Widerlegung von Ressentiments und Vorurteilen leisten zu wollen, haben empirische Studien zum Zusammenhang von Narzissmus und Selfie-Posting-Verhalten die in der Medienberichterstattung weit verbreiteten Geschlechterstereotypen der weiblichen ›Gefallsucht‹ widerlegt und kommen – exemplarisch verkürzt – zu folgenden Ergebnissen: »The results indicated that the correlations between attitudes, intentions, behaviours, and narcissism are significant for men, but not for women. The results also indicated gender differences in online behaviour with women spending more time on social media and selfie-posting.« (Arpaci 2018: 74) Zurück zur Bildanalyse. Das Cover behauptet nicht, dass alle Frauen narzisstisch sind, sondern mit dem Coverbild soll eine Allegorie narzisstischen Verhaltens dargestellt werden, das typisch und musterhaft ist: es soll ein ›typisches‹ Rollenverhalten zeigen, mit dem man »Narzissmus« erkennen kann. Bei einem Coverbild handelt es sich um eine Bildästhetik, die auf eine rasche Wiedererkennbarkeit im Rezeptionskontext abzielt. Das erste Manöver der Machtausübung des Körperregimes besteht darin, eine Frau als Bild auszuwählen und den Frauenkörper in das Cover einzuschreiben und diese Bildinszenierung in der Folge mit der negativen Eigenschaft »Narzissmus« zu verknüpfen. Narzissmus ist ein traditionelles Thema moralisierender Bildgestaltung und war früher unter den Begriffen ›Eitelkeit‹, ›Einbildung‹ und ›Hochmut‹ geläufig. Historische Stoffbearbeitungen von ›Eitelkeit‹ wurden mit dem Begriff der Vanitas popularisiert. Die Vanitas-Malerei ist ein allegorisches Bildgenre, das von der niederländischen Stilllebenkunst des 16. und 17. Jahrhunderts popularisiert wurde und die Betrachter/innen an die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens und die Bedeutungslosigkeit irdischen Glücks erinnern sollte. Bilddiskurse des Memento-mori inventarisieren Objekte, die sowohl Leben als auch Tod symbolisieren, wie Schädel, verwelkte Blumen, saftige

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und/oder verrottende Lebensmittel, Wein, zerbrochene Spiegel, brennende und erloschene Kerzen, Bücher und Musikinstrumente. Diese Objekte werden innerhalb der Gemälde symbolisch verwendet, um Dualitäten aufzubauen. Dabei operieren diese Vanitas-Bilder mit binären Beziehungen, um zum Nachdenken über die Vergänglichkeit des Lebens anzuregen. Darstellungen der Vanitas und des Memento-mori werden bereits in früheren kunstgeschichtlichen Epochen gemalt und verweisen auf den traditionellen Bilddiskurs der christlichen Ikonographie und insbesondere auf den der katholischen Theologie, in welchem Eitelkeit als Hauptsünde gegeißelt und wiederholt mit Frauenfiguren in Verbindung gebracht wird. Eitelkeit führt als einer der sieben Hauptsünden den Sündenkatalog an, weil das Interesse an der eigenen Körperlichkeit die Liebe des Menschen zu Gott ablenken und alle anderen Sünden verstärken würde. In dem hier dargestellten Coverbild der »ME ME ME Generation« wird »Narzissmus« mit der Metapher des Spiegels in eine zusammenhängende Argumentation gebracht. Neben seiner Funktion als Aufnahmemedium stellt das Smartphone einen Spiegel dar, in dem sich die junge Frau spiegelt. Ähnlich wie im Vanitas-Genre, das eine bildstrategische Referenz darstellt, spielt der Spiegel im Aufbau der Bild-Text-Argumentation eine große Rolle und symbolisiert in Verbindung mit der Selfie-Pose der jungen Frau das CoverThema des Narzissmus. »Die drei Lebensalter und der Tod« (1509/10) des deutschen Reformationskünstlers Hans Baldung Grien (1484–1545), der die Vergänglichkeit (Vanitas) irdischen Vergnügens (Voluptas) während des Übergangs vom römisch-katholischen zum protestantischen Christentum hervorhob, zeigt im Bildzentrum eine junge Frau, die sich selbst im Spiegel bewundert. Mit der linken Hand berührt sie ihr Haar und unterstreicht damit ihre Selbstliebe. Hinter ihrem Rücken, von ihr unbemerkt, hat sich der die Vergänglichkeit einmahnende Tod aufgestellt und hält über dem Kopf der Frauenfigur eine Sanduhr, um an die Kernidee der mittelalterlichen Vanitas zu erinnern: Alles ist vergänglich, nichts hält ewig. Grien platziert die Frau als Signifikanten des vergänglichen Lebens (Vanitas) und des irdischen Vergnügens (Voluptas), die von einer männlichen Darstellung des Todes adressiert wird. Der Tod wird im 16. Jahrhundert als Individuum und Autor/Schöpfer des Memento-mori dargestellt. Das Time Magazin von 2013 übernimmt diese strukturelle Bildlogik: der männliche Autor (Text, Off-Space) entlarvt die Eitelkeit einer sozialen Gruppe, welche von einer Frau im Bild/als Bild verkörpert wird. Stellvertretend für das soziale Verhalten, den Gruppenhabitus, trägt sie die Fallerzählung und steht

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als Einschreibefläche für den Text des männlichen Autors zur Verfügung. (Vgl. von Flemming zur »Vanitas als kulturelle Wiederholung« 2022: 1–30) Zwischen beiden Bildern gibt es eine entscheidende Gemeinsamkeit, nämlich die visuelle Überzeugung, dass Elemente des Persuasiven, nämlich die von beiden Bildern geteilte Vorstellung, dass erotisch aufgeladene Bilder, oder etwas genauer: konkret thanatologische Allegorien von Frauen als Vanitas und Voluptas aufgrund ihrer Ikonizität eine überzeugende Kommunikation in Gang setzen können und Einstellungen verändern können. (Welch 2019:17-36) Der nackte Frauenkörper rückt durch die innerbildliche Lichtführung des Gemäldes als Primärfokus in den Vordergrund. Seine Brüste sind entblößt, um Schauwerte basierend auf Erotisierung und Objektifizierung zu steigern. Andererseits wird er vom Tod radikal entwertet, denn ihre körperliche Schönheit wird als vergänglich beschrieben und ihre Eitelkeit wird als Trugbild (Spiegelung) entlarvt. Die Frau wird als Subjekt dargestellt, das sich ausschließlich über ihren Körper definiert, der Spiegel firmiert hier als Trugbild der (nach innen gerichteten) Einbildung, und nicht als eine äußere Instanz für Erkenntnis und Einsicht. Der Spiegel firmiert im Bezugsverhältnis zur nackten Frau im dramatisch-hell ausgeleuchteten Bildzentrum als Vanitas-Symbol. (Janson 1985: 51–54; Goscilo 2010: 288) Grien markiert 3 Dinge mit roter Farbe: den Apfel, die verbotene Frucht im Paradiesgarten, die Eva Adam anbot und damit den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies einleitete, der Spiegel und die Sanduhr, die hierarchisch über allem steht. Der Apfel liegt, achtlos weggeworfen, auf dem Boden, abgeleitet vom Lateinischen malum (dt. ›Übel‹), erst nach der Benennung von Theologen des frühen 5. Jahrhunderts n. Chr. ersetzte der Apfel die ›Frucht‹ in der Einheitsübersetzung der Bibel. Der Apfel verdeutlicht, dass die Frauenfigur in der Nachfolge Evas und der Erbsünde steht. Die Frauenfigur bleibt ohne Entwicklung und statisch, auch wenn sie unterschiedliche Lebensalter durchläuft, hat sie als ältere Frau keine Erkenntnis über sich erlangt und versucht immer noch, den Tod aufzuhalten. Die statische Simultandarstellung gesteht der Frau keine Entwicklung zu, dennoch ist ihr Schicksal vorbestimmt. Indem sie sich über ihre Körperlichkeit definiert, verkörpert sie das Materielle. Sie ist ontologisch als Sündenfall definiert, unten links ist eine Amor-Figur aufgestellt, in Verbindung mit dem Apfel steht die Frau für die Erbsünde, in ihrem Wesen dann für die Hauptsünde der Eitelkeit. Der hinter Eva stehende Tod hält den Schleier (den Nabel, die Lebensschnur) in der Hand und regiert Raum (Schleier) und Zeit (Sanduhr), er dominiert auch das Körperregime, mit vollem Haar und muskulösem Körper

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markiert er die männliche Position, die geistig das Vergängliche reflektiert (im Unterschied zum weiblichen Spiegel als Einsicht). Damit ergibt sich folgende Gegenüberstellung: Frau (materiell, körperlich, vergänglich, sündhaft, entwertet) versus Mann (geistig, immateriell, wiederkehrend, tugendhaft, mahnend). Auch das Vanitas-Sujet wird in der Berichterstattung des Time Magazin dazu verwendet, um vermittels des Frauenkörpers als Bildobjekt vergleichbare Dualitäten auszudrücken.

Abb. 24: Hans Baldung Grien, »Die drei Lebensalter und der Tod«, 1509/10, Kunsthistorisches Museum in Wien.

Quelle: https://www.khm.at

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Die Spiegelmetaphorik geht auf die antiken Mythen von Medusa und Narziss zurück und bildet in der westlichen Kunst ein vielschichtiges Bildrepositorium: »In art of the late Middle Ages and the Renaissance, mirror-gazing that conveyed the vices of pride, vanity, and lust co-existed with allegories in which mirrors symbolized diametrically opposite qualities–truth, justice, and prudence (one of the cardinal virtues), as in the Prudence of Giotto (1306), Grien (1529), and Pieter Brueghel the Elder (1559), as well as Veronese’s Prudence & Manly Virtue (1560–61). Giovanni Bellini’s painting (c.1490) of a nude holding a convex mirror that faces the viewer displays the contrariness of the mirror’s symbolism through its ascribed bipartite title of Prudence (or Vanity).« (Goscilo 2010: 294) Die das Selbst reflektierenden Fähigkeiten des Spiegels wurden von Malern häufig verwendet, um Bild- und Blickräume zu erweitern und mit der Identifikation ihrer Figuren spielen zu können. Sie haben die Möglichkeiten der Spiegelungen erprobt, um mit Hilfe von perspektivischen Verschiebungen und räumlichen Brechungen die Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Bildfiguren zu thematisieren. So konnten sie in ihren Gemälden unterschiedliche Metabilder der Figur herausarbeiten. 1. Das mimetische Bild, das sich eine Figur von sich selbst macht; 2. Das intradiegetische Bild, das sich eine andere Figur von ihr macht; 3. Das extradiegetische Bild, das sich die Betrachter/innen von der Figur machen kann. Die Spiegelrhetorik, die das Motiv der weiblichen Identifikation mit dem eigenen Spiegelbild entwickelt, zählt zu einer der populärsten Bildgestaltungselemente in der westlichen Malerei: »Narcissus notwithstanding, the mirror’s identification with women occurred early on in art, as in literature. That hardy convention may be traced to Venus, the goddess of beauty and sexual love, whom artists throughout the Renaissance and the Baroque (Titian [1555], Rubens [1608, 1615], Vouet [1628–39, 1640], Velázquez [1649–51]) repeatedly cast as a nude mirror-gazer at her toilette, usually attended by the devil, putti, or her wayward offspring, Cupid/Eros. Conflating beauty, vanity, and sexuality, Venus symbolized the seductively illicit and, in a Christian framework, the sinful.« (Goscilo 2010: 292) Das Gemälde der flämischen Künstlerin Clara Peeters mit dem Titel »Vanitas« (1610) zeigt ein Selbstporträt der Künstlerin. Peeters stellt sich als jugendli-

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che Schönheit dar, die mit Schmuck, Geldmünzen und goldenen Tischobjekten umgeben ist. Diese Attribute von Reichtum und Wohlstand werden gemeinsam mit den verwelkten Blumen arrangiert, um auf die Zerbrechlichkeit des Lebens, der körperlichen Schönheit, des jugendlichen Alters hinzuweisen. Der gesamte Bildraum ist von Spiegelungen durchdrungen, die umgefallene Obstschale, die den Zerfall der Ordnung andeutet und der Weinkelch sind reflektierende Oberflächen, aber auch die menschliche Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit markierende Seifenblase (homo bulla) reflektiert den Innenraum und ist als eine Anspielung auf die entblößten Brüste zu verstehen.

Abb. 25: Clara Peeters, »Vanitas«, 1610, Museo del Prado in Madrid.

Quelle: www.bridgemanart.com

Die weibliche Figur blickt jedoch nicht zentral in den Spiegel, sondern richtet sich auf etwas, dass im Bild abwesend ist. Damit verlässt sie ihren Handlungsraum, ihr Blick gleitet in eine unbekannte Ferne. Eine Ferne, die keinen Handlungsimpuls mehr setzen kann, versetzt die Subjekte in einen erstarrten Zustand, ein aus dem Zeitstrom herausgelöster Augenblick. Ein aus dem gegenwartsbezogenen Handlungsraum herausgefallenes Subjekt, das in die Ferne blickt und verharrt, wird häufig von Malern an Fenster- und Türrahmen gemalt (ein Bild im Bild, ein Bild, das aus dem Bild/der Repräsentation selbst herausgefallen ist), sie warten, handeln nicht, la petite mort, ein kleiner Kontroll-

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verlust im Alltagshandeln, Bildformeln für ein melancholisches Gefühl. Die Bildfigur der Homo Bulla, die von dem gleichnamigen Kupferstich von Hendrick Goltzius (1594) überliefert ist, referiert auf das lateinische Sprichwort, welches besagt, dass alles menschliche Leben vergänglich sei wie eine Seifenblase.

Abb. 26: Hendrick Goltzius, »Homo bulla«, 1594, National Gallery of Art in Washington DC.

Quelle: https://www.nga.gov

Als beliebtes Bildmotiv von Vanitas-Allegorien etablierten sich seit Jahrhunderten die sogenannten Toilette-Szenen, die eine dem zeitgemäßen Schönheitsideal entsprechende Frau vor dem Spiegel zeigten. In seiner moralischen Verwendung wurde der Spiegel in den Allegorien der Sünden stets

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negativ eingesetzt und konnotierte ›Unkeuschheit‹, ›Eitelkeit‹ und ›Stolz‹, die an die ›Schönheit‹, ›Jugendlichkeit‹ und ›Selbstverliebtheit‹ der Frau gekoppelt waren. Dabei überwog die ›selbstgefällige Eigenbetrachtung‹ die kontemplative Funktion des ›Sich-Widerspiegelns‹. Durch die Verknüpfung der VanitasAllegorie mit dem Spiegelmotiv wurde ein Frauenbild entworfen, in dem sich ein ›eitler‹ Selbstbezug als schöner Schein entlarven sollte. Spiegelszenen kommunizierten stets auch eine normative Vanitas-Idee: Die in den Spiegel blickende Frau gelangt zu der Erkenntnis, dass er als Medium keines ihrer Bilder speichern kann. Diese Versuchsanordnung leitet das Motiv der Vergänglichkeit vom Scheitern ab, ein Bild der Frau herzustellen, das Bestand hat. Die in der Medienberichterstattung über die sogenannte ›Generation Selfie‹ eingesetzten Stereotypien einer typisch weiblich konnotierten Medienpraxis lagern sich um die Figur der Naiven an und spielen auf die Ikonographie der Vanitas und das vieldeutige Symbol des Spiegels an, wie sie von den schönen Künsten seit der Antike tradiert werden: »Nicht nur Wissenschaften und Künste, Staats- und Tugendideale, sondern auch Orts-, Raum- oder Zeit-Vorstellungen wurden jahrhundertlang in Körperbildern – und damit zwangsläufig geschlechtsspezifisch repräsentiert und propagiert. Die ›Ikonologien‹ […] wie sie seit dem 16. Jahrhundert publiziert wurden, haben die Übersetzungscodes von Zeichen und Bedeutung systematisch reguliert und die allegorischen Rätsel lexikalisch verfügbar gemacht. So wurde ein Arsenal von geläufigen Personifikationen zusammengestellt, andere wurden neu geschaffen.« (Schade et al. 1994: 3) Die Allegorie als literarisches und visuelles Verfahren ist seit der griechischen und römischen Antike bekannt. Der Begriff ›Allegorie‹ bedeutet wörtlich ›Anderssagen‹ (lateinisch alia oratio; griechisch allos, anders und agoreúein, in der Öffentlichkeit sagen) und meint eine ›andere‹ Bedeutungsschicht, die parallel zur wörtlichen Bedeutung existiert. In allgemeiner Hinsicht kann die Allegorie als eine sinnliche oder verstandesmäßige Verbildlichung eines abstrakten Begriffs aufgefasst werden. Allegorische Visualisierungen zielen auf Klarheit, Anschaulichkeit und Plausibilität allgemeiner Vorstellungen und Ideen. Selbst für Hegel, der in seiner Theorie der Ästhetik die Allegorie als eine unzureichende Form der künstlerischen Darstellungsweise betrachtete, bestand ihre Leistung darin, allgemeine abstrakte Zustände oder Eigenschaften als Subjekt darzustellen:

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»Ihr […] Geschäft besteht deshalb darin, allgemeine abstrakte Zustände oder Eigenschaften sowohl aus der menschlichen als auch der natürlichen Welt – Religion, Liebe, Gerechtigkeit, Zwietracht, Ruhm, Krieg, Frieden, Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Tod, Fama – zu personifizieren und somit als ein Subjekt aufzufassen.« (Hegel 1986: 388) Eine motivgeschichtliche Bildanalyse der symbolisch und allegorisch argumentierenden Selbstverhandlungen macht Mechanismen der Übertragung und Überlagerung von Selbst- und Körperbildern sichtbar. Populäre oder popularisierende Diskurse über Selbstdarstellungen im Social Net suchen Anschlusskommunikation an gängige Bildrepertoires, anerkannte Körperbilder und typische Rollenbilder. In Monuments and Maidens (1989) schreibt Marina Warner über die Repräsentation imaginärer Gemeinschaftlichkeit durch Weiblichkeitsallegorien: »Die weibliche Gestalt wird tendenziell wahrgenommen als allgemein und universell, mit symbolischen Hintergedanken. Die männliche hingegen als individuell, selbst dann, wenn sie dazu benutzt wird, eine verallgemeinernde Vorstellung zum Ausdruck zu bringen.« (Warner 1989: 35) Der Mediendiskurs über die ›Generation Selfie‹ bedient sich stereotyper Weiblichkeitsallegorien, um die Vorstellung einer homogenen und universellen Gemeinschaft von Jugendlichen zu manifestieren. Die jungen Frauen stehen aber nicht nur stellvertretend für diese Generation, sondern verkörpern diese auch. In diesem Zusammenhang wird oft darauf verwiesen, dass es vor allem junge Mädchen sind, die sich selbst gerne fotografieren und diese Selbstbilder dann in Sozialen Medien verbreiten. Damit wird die Sichtbarkeit von jungen Frauen im Netz zur Sache ihrer eigenverantwortlich vorangetriebenen Selbstdarstellung gemacht und letztlich auch naturalisiert, indem ihr eigener Antrieb, sich exhibitionistisch darstellen zu wollen, auf das Phänomen der Selfies übertragen wird. Mit dieser negativ-abwertenden Bildrhetorik wird den jugendlichen Mädchen ein genuin weibliches Genießen ihrer Selbstdarstellung unterstellt und damit einhergehend werden soziale Zwänge, Normen und Erwartungen der Selbstveröffentlichung im Netz ausgeblendet. Sowohl die lebensweltliche Autorisierung individueller Selbstbilder als auch die allegorische Aburteilung der jugendkulturellen Bildpraxis verfehlt das Gesicht als einen privilegierten Ort geschlechtlicher Signifizierungen und Interpretationen. Rekurs und Zirkularität. 20. Mai 2013, das Time Magazin reproduziert ein Bildprogramm. Vanitas, ein Problem der Frau an und für sich. Eine Frauen-

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figur, die isoliert dargestellt ist. Ohne Bewusstsein, keine Entwicklung. Horizontal, als Leiche. Die Einschreibung, die von einem männlichen Autor initiiert wird. Die junge Naive, als Stereotyp. Das Handy als Spiegel, nicht der Einsicht oder als Medium der Gewissensprüfung. Wenn Frauen als Allegorie eine Allgemeinheit verkörpern, dann wird eine Aussage über alle Frauen getroffen. In diesem Sinne stehen Selfies für eine genderpolitische Abwertung von Frauen. Wenn Narzissmus gleichberechtigt zwischen den Geschlechtern aufgeteilt wird, dann bleibt die Verführung als Rumpfbestand des Sündenfalls. Folglich wäre dann die Kernaussage der Cover-Darstellung des Time Magazin: nicht alle Frauen sind eitel, aber Frauen, die eitel sind, verführen eine ganze Generation und stellen den Sündenfall dar: Frauen haben eine ganze Generation verführt; sie haben eine Generation verführt, Selfies zu machen. Das Time Magazin-Cover schafft einen Bildraum für das Männliche: aktiv, schöpferisch, kognitiv. Und für das Weibliche: passiv, empfänglich-liegend, naiv. In Fortführung der Vanitas-Malerei würde die Frauenfigur den Part der Frauenleiche als das andere der männlichen Schöpfungskraft imaginieren. Entscheidend ist an der allegorischen Gestaltung des Time MagazinCover die Stabilisierung der mit Geschlechterdifferenz assoziierten Dichotomien: geistig/materiell; aktiv/passiv; kognitiv/leiblich etc. Das Coverbild von 2013 rekurriert auf tradierte Ikonografien der Vanitas und der Veritas als Evidenzfiguren in Darstellungen von menschlichen Tugendeinstellungen und demonstriert, dass traditionelle und männliche dominierte Bildrepertoires bis heute wirksam sind. Die Medienberichterstattung über den Selfie-Kult, der 2013 seinen ersten Höhepunkt erlebte, hat eindringlich auf die Vanitas-Topik Bezug genommen und sie an die medialen Handlungsrahmen der Selfie-Fotografie angepasst. Insbesondere kritische Reportagen, die den neuartigen Medienpraktiken der Selbstdokumentation distanziert gegenüberstanden, haben die VanitasThematik intensiv in ihre Gesellschaftsdiagnosen verwoben. Die öffentliche Verurteilung des Selfie-Phänomens hat im Vergleich zu historischen VanitasTraditionen des Barock, der Renaissance und der niederländischen Stillleben-Malerei in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts den Frauenkörper in das Zentrum seiner moralischen Abrechnung mit ›Eitelkeit‹, ›Gefallsucht‹, ›Selbstsucht‹ und ›Hochmut‹ gestellt. In keiner der anderen Epochen der Vanitas-Malerei wurden Frauen in das Zentrum der Machtdemonstration negativer Anthropologie und der kulturpessimistischen Herabsetzung einer ganzen Generation gerückt.

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Am 14.4.2017 veröffentlicht Matthew Yeo einen vielbeachteten Artikel über die Kunst, ein professionelles Selfie zu machen. Der Text wird in der Rubrik ›Lifestyle‹ des Online-Magazins The Wellness Insider veröffentlicht. Das Teaserbild des Lifestyle-Artikels teilt das Bild in 2 Hälften, rechts ist eine Frau zu sehen, die mit ihrem rechten Arm eine Kamera hält, die in der linken oberen Bildhälfte befindlich ist. Das Bild überhäuft die Frauenfigur mit Vanitas-Elementen: Schmuck, Lippenstift, Make-up, Jugendlichkeit. Der RetroLook der oberen Bildhälfte bildet sich aus der Polaroid-Kamera und den mit Lockenwicklern in Form gebrachten Haare. 1872 wurde die Ondulation, das künstliche Einbringen von Locken oder Wellen durch Brennscheren, durch Marcel Grateau entwickelt, 1910 wurde der Hair Curler patentiert. Gesicht und Dekolleté werden lichtdramaturgisch hervorgehoben. Der Retro-Look und die verdichteten Vanitas-Elemente verstärken die Bildaussage eines aus dem Rahmen gefallen Frauenbildes, dass sich ausschließlich über die zur Schau gestellte Schönheit definiert. Der Hintergrund isoliert die Frauenfigur, ihr Lächeln ist nicht eingebettet in eine soziale Interaktion, sondern entstammt einem Rollenrepertoire und kann – ähnlich wie die Fotografie als Medium der Reproduktion – endlos reproduziert werden.

Abb. 27: Matthew Yeo, »How to take a selfie like a pro«, The Wellness Insider, 14. April 2017.

Quelle : https://thewellnessinsider.asia/2017/04/how-to-take-s elfies-like-a-pro/

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Betrachtet man die hier untersuchten Bilder zur Selfie-Generation im Bezug zur Geschichte der Vanitas-Darstellungen der letzten Jahrhunderte, dann können Aspekte der kreativen Rezeption, die Anschlüsse an die Rezeptionsästhetik und die Wirkungsgeschichte des Vanitas-Motivs herausgearbeitet werden. Es handelt sich aber bei den zeitgenössischen Beispielen nicht einfach um eine kulturelle Transformation und Bedeutungsanpassung an gegenwärtige Kontexte. Gegenwartsbilder der Vanitas schränken den Rezeptionsspielraum stärker ein, die Abwertung des Frauenkörpers erfolgt direkt und invasiv, die Bilddidaktik arbeitet intensiv mit Text als Blickführung, um Frauen unmittelbar als Tätersubjekte zu identifizieren. Das Coverbild der New York Post vom 12.4.2013 zeigt eine junge Frau, die während eines dramatischen Polizeieinsatzes an der Brooklyn Bridge, bei der die Polizei einen potenziellen Selbstmörder, der von der Brücke zu springen droht, rettet, ein Selfie von sich und der Polizei-Aktion im Hintergrund macht. Die New York Post verwendet dieses (inszenierte?) Bild, um mit Hilfe der Vanitas-Thematik das neuartige Phänomen der Selfies zu verhandeln, die 2013 mit mobilen Medien bei jeder Gelegenheit gemacht werden und Debatten um ein der jeweiligen Situation angemessenes Verhalten anstoßen. Um die Verurteilung der jungen Frau zu verdeutlichen, titelt die New York Post: »My photo with Brooklyn Bridge suicide dude«. Damit wird der unbekannten Frau eine Intention unterstellt, die sie selbst im Beitrag nicht geäußert hat. Der Untertitel dient primär der Verstärkung eines Vorurteils. In Verbindung mit dem Haarschmuck und der anonymisierenden Sonnenbrille wird der von der Vanitas-Topik bekannte Vorwurf der ›Eitelkeit‹ verstärkt und der Eindruck erweckt, dass die Frau in ihrem Begehren, ihre (genuin weibliche?) Eitelkeit zu befriedigen, alles andere um sich herum ausblenden oder in Kauf nehmen wird, um auf ihr eigenes Selbstbild hinzuweisen. Diese Dramatisierung einer moralisierenden Vorwurfshaltung in Verbindung mit einem Mediengebrauch (»SELFIE-ISH!«) kann als Neukonzeption einer popularisierenden Vanitas-Erzählung verstanden werden. Eine serielle Bildanalyse im Vergleichszeitraum kann nachweisen, dass diese Art von Berichterstattung kein Einzelfall ist. Nachrichteninhalte und die damit zusammenhängenden Illustrationen zur Selfie-Thematik werden überwiegend mit weiblichen Rollenmodellen besetzt, Nachrichten- und Bildagenturen haben dafür schon Vorlagen bereitgestellt, die von Online-Medien verbreitet werden.

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Abb. 28: »SELFIE-ISH! My photo with Brooklyn Bridge suicide dude«, New York Post, 12. April 2013.

Quelle: https://nypost.com

In der Umbruchstimmung von 2013 ist das Selfie im Zentrum einer kontroversen Diskussion angekommen und es verdichtet sich bei einer systematischen Bildsichtung der Eindruck, dass Frauen, oder genauer, der Frauenkörper, als Einschreibefläche für die narzisstische Krise der gesamten Gesellschaft instrumentalisiert wird. Die Vanitas-Thematik ist eine maßgebliche Denkfigur, mit der die neoliberale Individualismus- und Hedonismuskrise des Jahres 2013 überwunden werden soll. Der Narzissmus von Frauen und jungen Mädchen wird für den neoliberalen Zerfall der Gesellschaftsordnung verantwortlich gemacht. Als Waffe dieser Bewegung wird das Selfie identifiziert. Noch nie in ihrer Geschichte war die Vanitas-Thematik plakativer, wertender und mit einem allwissendenden Erzähler verbunden, der männlich und scheinbar informiert mit erhobenem Zeigefinger Frauen für den Zerfall der Gesellschaft verantwortlich macht. Die mit dem Vanitas-Motiv verknüpfte Vorstellung des schönen Scheins des Seienden wird mit den Figuren der Verstellung, der Ent-

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fremdung und der Entzweiung konfrontiert. Im Selfie-Diskurs der Gegenwart sind Frauen die Bedeutungsträger dieser Krise, demgegenüber führen männliche Autoren die Hauptanklage gegen diese Tendenz und reproduzieren Geschlechterstereotypien, wenn sie über Selfies sprechen. Bereits einige Jahre vor dem Selfie-Kult erschien 2006 ein Buch mit dem Titel Generation Me der US-amerikanischen Psychologin Jean M. Twenge, die als Professorin an der San Diego State University lehrt. Ein Jahr nach dem SelfieBoom 2013 wurde das Buch in einer aktualisierten Fassung im September 2014 revidiert und ergänzt veröffentlicht. Auf dem Coverbild des Buches ist eine Frau abgebildet, deren Körper fragmentiert ist. Hell ausgeleuchtet ist ihr nackter Bauch, auf den der Buchtitel »Generation Me« mit bunt dekorierter Schrift projiziert ist. In der rechten Hosentasche befindet sich ein Smartphone, in der linken Hosentasche steckt in einer lässigen Körperhaltung ihre Hand, ihr bauchfreies Shirt zeigt ihren mit Schmuck gepiercten Nabel. Auch dieses Bild kumuliert Bildmotive des Vanitas-Diskurses, Schmuck und Frauenkörper, die eine Allegorie der »Generation Me« repräsentieren. Bei dem über dem Bauch platzierten Buchtitel handelt es sich um ein direktes Gendering der im Buch beschriebenen Thematik, die »Generation Me« wird aber direkt in den Frauenkörper selbst eingeschrieben. Dieser Akt der Einschreibung wird von der Autorin des Buches, die diesem Titel eine selbst gewählte These zugrunde legt, eigenständig vorgenommen, sie bezeichnet mit der »Generation Me« einen Frauenkörper und verleiht dieser Generation damit ihren typischen Ausdruck. An diesem Bild kann man ikonographisch die Merkmale dieser »Generation Me« ablesen, diese Distinktionen scheinen eine soziale Gruppe zu verkörpern und der performative Akt, auf den entblößten Frauenkörper einen bunten Schriftzug zu platzieren, der einem Tattoo ähnlich ist, kann als Einschreibung verstanden werden. Der Akt einer direkten Einschreibung auf den Körper ist keine neutrale, interesselose Handlung, sondern entspricht einer Macht der Benennung, die von einem aktiven Akteur ausgeht, um etwas zu bezeichnen. Dem aktiven Akteur gegenüber befindet sich etwas oder jemand, der sich beschreiben lässt, die beschriebene Fläche des Frauenkörpers ist eine verfügbare Einschreibefläche für diesen Akt der geschlechtlichen Einschreibung, die unter anderem als eine Behauptung der Buchautorin zu verstehen ist. Ein Stempeldesign hätte die Bedeutung dieser Einschreibung massiv verändert, die Macht der Benennung wäre als polarisierend erkennbar gewesen, die bunt dekorierte Schrift sollte das Verhältnis von aktiver Einschreibung versus passive Einschreibefläche verschleiern. Insinuiert wird, dass die Frauenfigur sich selbst dieses Tattoo

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ausgesucht hat und es stolz auf ihrem Bauch zur Schau trägt. Daher operiert das Cover-Design auch mit der Realismus-Nähe der fotografischen Aufnahme, um diese Unterstellung, dass Frauen sich selbst mit einem Tattoo auf dem Bauch zur »Generation Me« bekennen würden, quasi evident zu machen.

Abb. 29: Jean M. Twenge, Generation Me, 2016.

Quelle: www.jeantwenge.com

Neben dem primären Gendering des geschlechtlich markierten Körperbildes tritt ein sekundäres Gendering, das von der Rahmung des Bildes ausgeht.

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Der Bildausschnitt zeigt einen Ausschnitt, der eine sexuell konnotierte Fragmentierung des Frauenkörpers vornimmt. Es handelt sich nicht um eine Anonymisierung, die das Ziel hat, eine einzelne Frau als Individuum zu schützen, sondern um eine Bildstrategie des Genderns, die dem beobachtenden Blick vorbehalten ist. Die Fragmentierung der Figur etabliert eine Eindimensionalität des Beobachtens, der Frauenkörper ›dient‹ als Bildfläche zum BeobachtetWerden. Die künstlerischen Arbeiten von Stephanie Leigh Rose setzen sich mit öffentlichkeitswirksamen Verhandlungen weiblicher Selbstdarstellungen auseinander. In ihrem Werk »Stefdies on Amalfi Beach« (2017, Teil einer Werkreihe aus dem gleichen Jahr)2 nimmt sie die Vanitas-Topik auf, mit der das Gendering der Selfie-Generation hegemonial inszeniert wird, und persifliert die im Selfie-Diskurs allgegenwärtige Mortifizierung der Frau. Elisabeth Bronfen hat in Nur über ihre Leiche: Tod, Weiblichkeit und Ästhetik (1996) die Mortifizierung der Frau als ihre Verdrängung aus der patriachalen Gesellschaft interpretiert und Rose zeigt daran anschließend in »Stefdies on Amalfi Beach«, dass die Mortifizierung der Frau Teil einer sozialen Konvention geworden ist, die sich in einer männlich dominierten Alltagswelt durchgesetzt hat: es geht nicht darum, dass der tote Körper niemand auffällt, sondern die Frau ist immer schon unsichtbar gewesen, sozial mortifiziert und dementsprechend unsichtbar.

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Auf der Webseite »Stefdies« kontextualisiert ein Statement die Werkreihe von Stephanie Leigh Rose. Die künstlerischen Arbeiten werden explizit als Beitrag zum Anti-Selfie Movement angekündigt: »The series is a reaction to the pressures of social media, selfie culture and consumer consumption. Thus, the character of STEF was born. Creator Stephanie Leigh Rose transformed her own experience of sexism, racism, and classism into a positive outlet, where a series of images can link people through a shared experience of a laugh, or an excitement to travel. Modern day is saturated with highly manipulated images. Across advertisements, entertainment, and celebrities’ social media pages, it’s hard to find non-sexualized and unedited images of the female form. Countless studies have drawn links between exposure to artificially enhanced images and a lowered sense of self-esteem in the viewer, both in men and women. STEFDIES is purposefully presenting the image of an unedited body, in a variety of arguably unflattering poses and angles. One intention of the series is to widen the variety of images being paraded on social media and help to normalize seeing real female bodies with flaws.« (Quelle: https://stefdies.com/about/)

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Abb. 30: Stephanie Leigh Rose, »Stefdies on Amalfi Beach«, 2017.

Quelle: https://stefdies.com

Im Unterschied zur Vanitas-Topik männlicher Blickregime wird in der Werkreihe von Rose der männliche Schauwert der symbolischen Tötung der Frau dekonstruiert. Denn üblicherweise wird die von Tod und Vergänglichkeit bedrohte Frau im Vollbesitz ihrer körperlich-materiellen Schönheit repräsentiert, denn sie soll als Bild männliche Schaubedürfnisse befriedigen. In Vanitas-Bildern wird die verführerische Qualität von Frauen ausgestellt, das Drama zwischen Begehren und seinem Entzug wird mit Hilfe des Frauenkörpers in Szene gesetzt. Selfies passen genau in dieses Diskurserbe männlich dominierter Bildinszenierungen und beerben das traditionelle Gendering von Körperbildern, Schönheitsidealen und den künstlerischen Praktiken der Porträttechnik. Rose zeigt in ihrer künstlerischen Arbeit auf, dass der männliche Blick nur an einer inszenierten Frauenleiche interessiert ist, eine reale Leiche findet kein Interesse. Diese Anspielung von Rose führt uns zum Schlüssel der phantasmatischen Konstruktion von Frauenbildern, die in diesem Kapitel exemplarisch untersucht worden sind. Susanne Lummerding betont in Sex Revisited (2007), dass sich »jeder Anspruch einer positiven, also eindeutig sexuellen Identität, einem Phantasma verdankt.« (229) Dieser Einwand, dass es keine sexuelle Entität außerhalb eines phantasmatischen Rahmens geben kann, liefert einen wertvollen Hinweis darauf, dass Bilder einem unvollendeten Phantasma unterliegen, sie können zwar eine Art symbolische Verfügungsgewalt über die inszenierten Frauenkörper setzen, aber sie operieren auf der Ebene einer phantasma-

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tischen Gewalt, die sich nicht vollständig schließen kann. Denn eine absolute Kontrolle mittels visueller Strategien über den Frauenkörper kann es nicht geben, da diese Kontrollfantasie strukturelle Lücken aufweist, die substanziell oder essentialistisch nicht geschlossen werden können. Denn es kann nur eine Kontrolle über ein sexualisiertes Wunschbild (Phantasma) angestrebt werden, also über das Symbolische und das Imaginäre der eigenen Bildprojektion als Vorstellung/Einbildung, nicht über das Reale des Frauenkörpers. Die Kategorie des Realen ist in diesem Sinne relevant für die Bildanalyse, weil sie es ist, die es verhindert, dass ein Imaginiertes real migrieren kann, um sich im Realen zu vollenden, das Reale bleibt die Grenze des Bildes, ein Außen, das inkommensurabel bleibt. Die Topologie des Realen verhindert das Gendering der SelfieGeneration, die Sexualisierung des Weiblichen und verweist auf die Notwendigkeit einer zum Scheitern verurteilten Konstruktion von sexueller Identifizierung und Registrierung von medialen Praktiken, die mit dem Begriff »Selfie-Kult« konnotiert sind.

III.4. Defacement: Kritik der Gesichtserkennung Das Gesicht als privilegierter Ort von Signifizierungen und Interpretationen hat freilich nicht erst im ›Selfie‹-Zeitalter eine Vielzahl von Praktiken der De-Mediatisierung herausgefordert. So hat der Gesichtskult immer auch Figuren der Auflösung des Gesichts herausgefordert, die oft als Negation des Gegenständlichen, des Persönlichen und des Individuellen gesehen wurden. Insbesondere im 20. Jahrhundert haben Bildende Kunst, Fotografie und Film die ästhetische Dekonstruktion der Selbstinszenierung als Kritik am Gesicht als soziale Einschreibe- und Projektionsfläche forciert: »Zwar lässt sich der Begriff der Auflösung, wenn man ihn eindeutig auf sein Vermögen zur Abschaffung, zur Endigung, zur Aufhebung des facialen Schemas liest, als eine Kritik des Gesichts und seiner Bedeutungsgenerierung verstehen, im Zuge dessen es zum Ausweis des Humanen, in der Affektlehre und Anthropologie zur Bühne der Emotionen, in der Kriminalbiologie des 19. Jahrhunderts gar zum Tatort und in der Forensik zum Beweismittel wurde«. (Körte/Weiss 2013: 6) Die zahlreichen Versuche, das Gesicht aufzulösen und zum Verschwinden zu bringen, haben aber immer auch akzeptiert, dass dem Gesicht die Schlüsselrolle zukommt, um das Individuelle, das Persönliche und das Charakteristische zu verhandeln. Auch die unterschiedlichen Positionen des Anti-Porträts haben dem Gesicht die Rolle als privilegierter Bedeutungsträger

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für die ästhetischen Formen der Selbstinszenierung (self-staging) zugestanden: »Als Metonymie des Menschen gilt das Gesicht in der Regel als ein natürlicher Ausdruck der Persönlichkeit und als Schlüssel zu seiner Person. In seiner bezeugenden Funktion garantiert es Identität und Unverwechselbarkeit, ist ein Kommunikationsträger, Aufmerksamkeitslenker, eine Art Übersetzer an der Schnittstelle zwischen Innen und Außen, ein Interpret und Erzähler, kurz: das Gesicht ist das Konkreteste und Individuellste, das selbst in der größten Abstraktion und Reduktion auf sein Allgemeinstes als solches erkennbar bleibt.« (Ebd.: 5) Vor diesem Hintergrund möchte ich die Frage aufwerfen, ob und inwiefern bestimmte Gegenbilder zur Selfie-Kultur dem genrespezifischen Porträtbild und der traditionellen Repräsentationskultur der menschlichen Darstellung verbunden sind. Die Problematisierung der facialen Selbstthematisierung möchte ich exemplarisch entlang der sogenannten ›Sellotape-Selfies‹ verhandeln. Mit dem vielbeachteten Genre der ›Sellotape-Selfies‹ hat sich eine gegenkulturelle Bildpraxis des Overacting im Feld der digitalen Selbstdarstellung herausgebildet. Die ästhetischen Materialgrundlagen der ›SellotapeSelfies‹ bestehen aus einem Klebeband und einem bereitwilligen Subjekt, das sich ein Klebeband um das Gesicht binden lässt. In ihrer Verbreitung als Internet-Meme (z.B. mittels Nominierungen auf Facebook) wird ihnen eine bildkulturell wirksame Reflexion der facialen Gesellschaft zugeschrieben. Mediale Gesichter sind weder neutral noch unschuldig, denn mit ihnen kann Macht stabilisiert und legitimiert werden – von der facialen Inszenierung personaler Herrschaft bis zur Authentifizierung bestimmter Produkte in der Maxime der Werbeästhetik. Die ›Sellotape-Selfies‹ verweisen auf das historische Unbehagen der Kunst, im Porträt ›Wahrheit‹ und ›Einzigartigkeit‹ abzubilden. 1948 malte Francis Bacon sein erstes, monströs anmutendes Anti-Porträt seiner »Heads«-Serie, um mit Hilfe der Verwischung von Kopf und Gesicht und Kopf und Umraum identifizierbare Fixpunkte aufzulösen, um »eine Dekonstruktion des Gesichts als Fläche des Subjekts« (Foellmer 2015: 330) herbeizuführen. Und im Jahr 1966 verstümmelte sich Gerhard Richter mit Klebeband im Gesicht und nahm alle weiteren Sellotape-Interventionen vorweg. In dem 2012 in der Zeitschrift Monopol erschienenen Essay »Geklebte Miene« nimmt Alexander Kluge auf diese Praxis der künstlerischen Selbstverstümmelung Bezug und schreibt: »Wenn einer mit Tesaband diese Bewegung [der Mimik der Gesichtsmuskeln] fixiert, zeigt sich, dass wir auf der Frontseite unseres Kopfes, unterhalb der Stirn, ein Kaleidoskop mit uns tragen und kein ›Gesicht‹. […] Das Tesaband ist keine Be-

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kleidung, sondern eine Entkleidung.« (Kluge, zit.n. Schmidt 2013: 101) Die Figur der Entkleidung vermag in diesem Zusammenhang zu bedeuten, dass das Tesaband weniger als eine zusätzliche Maskierung zu verstehen ist, sondern als ein Verfahren der Demaskierung, die dazu dient, das natürliche Gesicht nicht als eine ursprüngliche Nacktheit, sondern selbst als eine Maske zu deuten. In diesem Sinne firmiert das Gesicht immer schon als eine »Ikone eines signifikanten Zeichenregimes« (Deleuze/Guattari 1997: 234), das vom Künstler entstellt und ins Monströse übersetzt werden muss, um auf das Gemachte des scheinbar ›natürlichen‹ Gesichtsausdrucks hinzuweisen. Deleuze und Guattari begreifen das Gesicht nicht als Ausdruck von Natürlichkeit, Individualität und Persönlichkeit, sondern als etwas Konstruiertes, Hergestelltes, Künstliches. Das Gesicht ist für sie ein Medium, mit dem Macht ausgeübt werden kann. (Ebd.: 241) Mit dem Tesaband kann das Gesicht als Medium, als Ermöglichung des Selbstausdrucks ›entkleidet‹ werden, um damit eine De-Mediatisierung des Gesichts als konventionellen Zeichenträger anzuzeigen. Eine so verstandene Praxis der De-Mediatisierung möchte den unreflektierten Gebrauch des Mediums Gesicht als soziale Plastik problematisieren. Zentrales Momentum dieser künstlerischen Praxis ist weniger die moralische Empörung über die Hässlichkeit des Dargestellten. ›Sellotape-Selfies‹ experimentieren mit Mangelfiguren von Selbstvergewisserung, Identifizierung und Narzissmus: »A monster is a species for which we do not have a name. [However], as soon as one perceives a monster in a monster, one begins to domesticate it.« (Derrida 1995: 386) Al Hansen (Self-Portrait, 1970) und Douglas Gordon (Theo Making of Monster, 1996) sind weitere Künstler, die in der Folgezeit versuchen, mit Klebeband ihr Gesicht zu entstellen, um mit ihren künstlerischen PorträtInterventionen gegen die Schönheitsnormen, erkennungsdienstlichen Logiken und politischen Instrumentalisierungen des Gesichts zu protestieren. Auch wenn die ›Sellotape-Selfies‹ mittlerweile von TV-Shows zu einem Trending Topic stilisiert wurden (vgl. den ›Sellotape-Selfie‹-Versuch bei Stefan Raab, https://www.youtube.com/watch?v=rgXLwdVHK9E), können sie als ein ästhetisches Spiel mit dem Kontrollverlust gesichtlicher Mimik angesehen werden. Vor diesem Hintergrund erscheint mir das kritische Potenzial, das sich im Begriff Auflösung an krisenhafter Semantik des Gesichts verbirgt, ebenso relevant wie die Mehrdeutigkeiten von Auflösung in einem anwendungsbezogenen Sinne. Daher stehen in diesem Zusammenhang die Prozesse und Erscheinungsweisen im Vordergrund, an denen sich wahrnehmungsästheti-

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sche und mediendispositive Dimensionen von ›Gesichtern in Auflösung‹ ausdifferenzieren lassen. Hierbei impliziert ›Auflösung‹ als ein die Ästhetik, Aisthesis und Medialität gleichermaßen betreffendes Moment ein ganzes Bündel an Techniken und berührt als ein relationaler Begriff mediale boundary objects wie die Inszenierung von Schärfe und Unschärfe, Nähe und Tiefe, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Auflösung hat demnach nicht nur mit dem Verschwinden des Gesichts zu tun, sondern auch mit alternativen Techniken seiner Sichtbarmachung. Die De-Mediatisierung des Gesichts besitzt zahlreiche Abstufungen und kann keinesfalls pauschal mit der Verweigerung, Auslöschung und Aufhebung des Gesichts gleichgesetzt werden. Vielmehr operieren die Strategien des Defacements mit einer Vielzahl von Verschiebungen und Überlagerungen, die einen anderen Blick auf das Gemachte des Gesichts ermöglichen. In dieser Hinsicht verweist die Auflösung auf bestimmte Techniken, ein Bild herzustellen, oder ein Bild auf eine andere Art und Weise zu gestalten, um den alternativen Gestaltungs- und Wahrnehmungsweisen von Subjektivität Ausdruck zu verleihen. In diesem Zusammenhang kreisen die ›Sellotape-Selfies‹ immer noch um die ikonische Grundierung des klassischen Porträts und basieren – trotz der Selbstinszenierungen entstellter Monstrosität – auf einer visuellen Ähnlichkeit zwischen dem Dargestellten und dem Bild. Demgegenüber können Praktiken der De-Mediatisierung in Betracht gezogen werden, die weniger die Kernbestände des Subjekts verlagern, sondern versuchen, das Subjekt von seiner Peripherie zu begreifen. So können etwa auf der Online-Plattform Pinterest die NutzerInnen Bilderkollektionen mit Beschreibungen an virtuelle Pinnwände heften und Bilder-Folgen verbreiten, die das Subjekt auf endlose Attribuierungen aufgliedern, ohne dabei ein Sinnzentrum herzustellen. Oft bestehen die ausgebreiteten Bilder aus totalisierenden Angaben, alle Kleider, alle Schuhe, die aber von der Anonymität ihrer Träger konterkariert werden und einen paradoxen Raum erzeugen, in dem die Selbstbespiegelung des Subjekts im Bild verunmöglicht, oder zumindest irritiert wird und etwas erzeugt, das sich nicht verbildlichen lässt.

III.4.1. Dekonstruktionen des Facialen Praktiken der Anonymisierung sind auf Online-Plattformen weitverbreitet und konfrontieren den physiognomischen Code mit seinem Entzug, seiner Absenz oder seinem Verschwinden. Der Übergang vom Gesicht zu seiner möglichen Verflüchtigung und Bildlosigkeit lässt sich an zahlreichen Praktiken der visuellen Anonymisierung explizieren. Ich möchte am folgenden Beispiel auf-

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zeigen, dass sich die visuellen Strategien zur Auflösung von Selbstdarstellung immer auch in einem Spannungsfeld zwischen Entziehung und Beziehung, zwischen Re-Anonymisierung und De-Anonymisierung oszillieren. Mit dem Verweis auf die Model-Castingshow »Germanys Next Top Model« verweist der visuelle Platzhalter »Ich habe heute leider kein Foto für dich« auf die Selektionsmechanismen visueller Selbstdarstellungen. Relevant erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass die Bildlosigkeit im ›Social Web‹, die versucht, den Nutzer/innen wenigstens indirekt ein Minimum an Substanz, Privatheit und Intransparenz zu verschaffen, nicht mit einer radikalen Entpersönlichung gleichgesetzt werden kann, insofern anonymisierende Praktiken immer auch kommunikative Adressierungen enthalten, die sich unter anderem auch den Bildern selbst inhärieren. Auch anonymisierende Bilder, die das Gesicht als Handlungsformation von Identifizierung, Beurteilung und Bewertung thematisieren, partizipieren an einem kollektiven Bildervorrat und beziehen sich auf gemeinsam geteilte Aushandlungsprozesse, Kontroversen und Grenzziehungen. In diesem Sinne können sie als ›Grenzobjekte‹ oder als ›Schwellenobjekte‹, als »boundary objects« im Sinne von Susan L. Star und James R. Griesemer verstanden werden. (Vgl. Star/Griesemer 1989: 387–420, einführende Anm. siehe Kap. II.1. in diesem Band) Die auf Online-Plattformen verbreiteten Bildformen der subjektiven Auflösung und Anonymisierung erweisen sich insofern erstens als »boundary objects«, als sie von Akteuren ausgehandelt werden; und sie erweisen sich zweitens als Medien, weil sie selbst wieder als fundierende Bedingung für Vernetzungen und Kooperationen wirksam werden, insofern ihre fortwährende Stabilisierung gelingt. In diesem Sinne kann etwa gefragt werden, inwiefern Praktiken der De-Mediatisierung Grenzobjekte hervorbringen, die von unterschiedlichen sozialen Gruppen als ›Bruch‹, oder als ›Wahlmöglichkeit‹ akzeptiert werden können. »Ich habe heute leider kein Foto für dich« kann als ein bereits ausverhandelter Durchgangspunkt beschrieben werden, den unterschiedliche soziale Gruppierungen als einen gemeinsam geteilten Gedächtnisraum teilen. Damit verleiht die schriftliche Inskription »Ich habe heute leider kein Foto für dich« dem visuellen Selbstentzug eine stabilisierende Funktion, die sozial geteilt und kommuniziert werden kann, weil sie anschlussfähig an einen symbolischen Vorrat ist, der letztlich auf die Popularisierung eines bestimmten Fernsehformates verweist und kollektiv als Ironiesignal dechiffriert werden kann. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass De-Mediatisierungen nicht zwangsläufig den Oppositionen von Online/Offline oder Virtualität/Realität folgen, sondern unterschiedliche »trading zones« (Galison 2004: 42) durch-

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laufen, in denen sich unterschiedliche Medien überlagern und cross- und transmediale Netzwerke knüpfen. In diesem Zusammenhang können wir uns von der Annahme einer hypostasierten Selbstbezüglichkeit distanzieren, die Medien lediglich als Werkzeuge zur Darstellung eines lebensweltlich bereits gegebenen Subjekts betrachtet. Eine andere Spielart der anonymisierenden De-Mediatisierung versucht die mediale Genese der Subjektwerdung, d.h. das Subjekt der Zirkulation und den Ort der Subjektwerdung zu reflektieren. Es handelt sich hier mit Michel Serres um ein Quasi-Objekt (Serres 1982: 146ff.), das ein Subjekt in dem Moment markiert, in dem dieses etwas tut und mit ihm, dem QuasiObjekt, beschäftigt ist. Nicht das Subjekt weist in dieser Beziehung dem Quasi-Objekt eine bestimmte Rolle zu, sondern umgekehrt, das Quasi-Objekt setzt das Subjekt in Bezug auf eine bestimmte Rolle und fordert von ihm einen bestimmten Handlungsvollzug; man könnte es auch Formautorität nennen oder eine Art Autorität, die in das Technische, in den technischen Vollzug verlagert ist. Sich-Widersetzen kann in diesem Sinne auch heißen, sich der Aufforderung, sich selbst zu thematisieren, zu entschlagen und die Aushandlungszone weder mit Grenzobjekten zu besetzen, auf die sich soziale Gruppen geeinigt haben, um Fragen der Identität und des Selbst zu verhandeln, noch die Aushandlungszone mit Formen der visuellen Selbstthematisierung zu füllen. Diese Form der radikalen De-Mediatisierung schließt die Kritik am Repräsentationalismus mit ein und verweigert sich der Wiederbelebung von Präsenzerfahrungen. Aber auch dieses Symbolbild ist weder neutral noch unverbindlich, denn es vermittelt ›Gleichheit‹ als ›anonymes‹ Formalprinzip demokratischer Offenheit und Mitbestimmung. In Claude Leforts und Marcel Gauchets Demokratietheorie wird dieser »Ort«, der die Spaltung von »Macht« und »Zivilgesellschaft« strukturiert, als »leere Stelle« ausgewiesen, an dem es konstitutiv unmöglich sein soll, sich als absoluter Beobachter über das Gemeinwesen einzurichten: »Dieser Ort gehört nicht zu unserem Handlungsfeld, doch gerade aufgrund dieser Abwesenheit zählt er in diesem Feld und organisiert es zugleich. Und gerade weil dieser Ort abwesend ist, umschreibt sich der gesellschaftliche Raum von ihm aus. Die den Menschen gegebene symbolische Versicherung, sich auf ein und demselben Felde zu begegnen, verleiht ihren Handlungen eine gewisse Wirksamkeit, ohne dass die Ebene, auf der sich ihre gemeinsame Zugehörigkeit bewahrheitet, jemals Gestalt annehmen müsste«. (Lefort/Gauchet 1990: 101) Lefort und Gauchet postulieren eine »leere Stelle« der Vergesellschaftung und weisen diese als »abwesenden Ort« aus, der nicht zum »gesellschaft-

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lichen Handlungsfeld« gehört, dieses aber insgesamt strukturiert. Die Bestimmung der ›Gleichheit‹ irgendwelcher Elemente impliziert jedoch bereits eine bestimmte Hinsicht, in welcher die Elemente als gleich oder ungleich bezeichnet sein sollen. Die Feststellung einer grundsätzlichen ›Gleichheit‹ allein genügt nicht für die Argumentation einer politischen Theorie der Demokratie, weil sie, wie Ernst Cassirer in seiner Theorie der Begriffsbildung in Substanzbegriff und Funktionsbegriff herausarbeitet, der »Identität (H. v. A.) der Hinsicht, des Gesichtspunkts, unter welchen die Vergleichung stattfindet« (Cassirer 1994: 33) verhaftet bleibt. Wird die »leere Stelle« als für jeden erreichbar und besetzbar ausgewiesen, dann figuriert die Stelle nicht als uneinholbare, unbesetzbare Differenz der durchgängigen Schematisierung des Raums, sondern ist in einer als ›durchlässig‹ normierten Räumlichkeit, welche bereits vollkommen orientiert und erschlossen sein soll, fixiert. Diese Imagination einer vollkommenen Erschließbarkeit des ›sozialen Raums‹ ist in das territorialisierte Problem der Techniken der ›Besetzung‹ verwickelt. Entscheidend ist, dass mit der stets möglichen Usurpation der »leeren Stelle« nur noch kriegslogistische Fragen der rechtzeitigen Erschließung und Grenzziehung oder marktlogische Fragen des agenda setting verhandelt werden können. Strategien der Gesichtsauflösung können als ein ›Sich-Widersetzen‹ gegen die Verfahren der persönlichen Registrierung und Identifizierung auf Online-Plattformen und sozialen Netzwerkseiten verstanden werden. Fraglich ist aber in diesem Zusammenhang, ob mit den Praktiken der Gesichtsauflösung »alte Handlungsprogramme und Settings« – wie es die Tagungsankündigung in Aussicht stellt – wiedereingeführt werden. Zunächst kann die homogenisierende Dichotomie von ›alt‹ und ›neu‹ betrachtet werden und danach gefragt werden, inwiefern Gesichtsauflösungen Tendenzen der De-Mediatisierung entsprechen, die auf ein ›altes‹, ›überkommenes‹ oder ›defensives‹ Handeln rekurrieren. Im Falle des Defacements von persönlichen Profilbildern, die mit dem Entzug, der Fragilität und Widersprüchlichkeit des digitalen Antlitzes operieren, kann ein reiner Gegensatz zwischen neuem und altem Bildhandeln der beteiligten Akteure aus folgenden Gründen nicht konstatiert werden: 1. Die in meiner Untersuchung exemplarisch thematisierten Dekonstruktionen des facialen Erscheinungsbildes der Profilfotos zielen auf die Repräsentation innerhalb der formalen Vorgaben digitaler Handlungsprogramme ab. Sie adressieren Intersubjektivität mittels Bildmedien und blenden mehr oder weniger den Computer als Rechenmedium aus. In diesem Sinne sind die von mir thematisierten Beispiele der visuellen De-Mediatisierung in erster

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Linie als sozial vermittelte Formen bildkritischer Selbstthematisierung zu verstehen. Mit dem von Nick Montfort (2004) und Matthew Kirschenbaum (2008) geprägten Begriff »Screen Essentialism« könnten sie auch als Figuren der De-Materialisierung angesehen werden, indem mit ihnen die technischmediale Infrastruktur der Datenverarbeitung nicht thematisiert wird. Ästhetisierende Praktiken der Gesichtsauflösung reflektieren zwar den Ort der gesichtlichen Repräsentation als Schauplatz von Erkennungs- und Identifizierungsprozeduren, können aber das mediale Dispositiv zur Herstellung von biometrischen Merkmalen und facialer Semantisierung nicht grundlegend verändern. 2. Die hier thematisierten Praktiken der De-Mediatisierung können als Distinktionsgewinn veranschlagt werden, wenn Nutzer ihre Anonymisierungsstrategien zum Imageaufbau nutzen. In diesem Sinne bilden De-Mediatisierungen des Subjekts die Voraussetzung für reflexive Re-Mediatisierungen, mit denen Nutzer ihre Kritik an der eigenen Verdatung kommunizieren. Die von mir untersuchten Beispiele der Auflösung visueller Kulturmustern von Selbstthematisierungen oszillieren zwischen De- und Remediatisierungen. Sie sind darauf angelegt, einerseits mit bestimmten Konventionen und Konstellationen der Selbstdarstellung zu brechen, um andererseits anschlussfähige »boundary objects« aufzubauen. Diese »boundary objects« der De-Mediatisierung können für heterogene Interessensgruppen anschlussfähig sein und eine niedrige Eintrittsschwelle für unterschiedliche Kommunikations- und Handlungszusammenhänge bilden.

III.5. Bildpolitische Kollektive und die Abkehr vom Subjektzentrismus III.5.1. Umbrüche des subjektzentrierten Bildhandelns am Beispiel der Iranproteste 2022 In diesem Kapitel werden einflussreiche Bilder der iranischen Protestbewegung untersucht, die ihren Ausgang durch den von der Polizei herbeigeführten gewaltsamen Tod von Mahsa Jina Amini am 16. September 2022 in Teheran nahm. Im Zentrum des Bildhandelns, das vor allem online auf Sozialen Medien, Messenger-Diensten und Plattformen stattfindet, stehen Bilder, die Solidarisierung und Widerstand thematisieren. An die Stelle eines subjektzentrierten Bildhandelns, das visuell adressierend und dyadisch nach dem

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Frontalitätsprinzip aufgebaut ist, rückt eine Bildästhetik der Kollektivsubjektivität und Solidarisierung, in deren Zentrum die Rückenfigur steht. Die Figuren in Rückenansicht können nicht nur als Abgrenzung zum Selbstdarstellungskult verstanden werden, sondern als eigenständige Bildpolitik für aktivistische Orientierungen und Solidargemeinschaften. Im letzten Dezennium etablierte sich ein globaler Trend der visuellen Selbstthematisierung. Der sogenannte Selfie-Kult hat nicht nur eine unverbindliche »Weltsprache« (Ullrich 2019) hervorgebracht, auch bildkritische Bewegungen haben ihre Stimme erhoben, um auf die mit dem Selfie-Boom entstandenen Sichtbarkeitszwänge und Darstellungsnormen aufmerksam zu machen. (Bollmer 2020: 183–192) Studien, welche die politische Dimension der Selfies akzentuierten, haben in erster Linie den instrumentellen Gebrauch der Selbstbilder für die Aufmerksamkeitssteigerung politischer Themen untersucht. (Schankweiler 2020: 175–190) Selfies im Allgemeinen und Selfie-Protestbilder in spezifischen Analysen (Nikunen 2019: 154–170) werden als neuer Habitus einer digitalen Gesellschaft angesehen, welcher als befähigt angesehen wurde, bildvermittelte Formen des Protestes und der Online-Kommunikation zu entwickeln. Marginalisiert werden in den Bildanalysen die Repräsentationskämpfe der Anti-Selfie-Bewegung, die Medien- und Bildpraktiken der Devisibilisierung, der Anonymisierung oder des Defacement. (Reichert 2017a: 113–126; Jagodzinski 2021: 61–80) Selfie-Protest meint nicht nur, sich ein Medienformat wie das Selfie für politische Zwecke anzueignen, sondern Protest kann auch als eine kritischreflexive Bezugnahme auf die oft schweigend akzeptierten Rahmenbedingungen des Mediums Selfie verstanden werden. (Grohmann et al. 2015: 62–72) Folglich kann die Frage aufgeworfen werden, inwiefern dem Medienformat ›Selfie‹ selbst Visibilitätszwänge und Probleme visueller Marginalisierung inhärieren. (Routh 2016: 363–381) Eine bild- und handlungskritische Befragung der Selfie-Kultur beinhaltet daher Fragen nach dem gesellschaftlichen Mehrwert von Gesichtsbildern. Wer wird in der digitalen Welt gesehen oder wer wird in ihr übersehen – die Zusammenhänge zwischen Selfies, gesellschaftlicher Kontrolle, Bildkonsum und Vermarktung von Selbstbildern auf einem Aufmerksamkeitsmarkt verdeutlichen, dass Selfies der digitalen Wertschöpfungskette zugehörig sind und folglich als sozial kommodifiziert einzustufen sind. (Raji 2017: 149–158; Lovink 2019: 157–170; Hipfl/Pilipets 2020: 19–32) Vor dem Hintergrund einer relationalen Plattformanalyse sind nicht nur Selfies unter Marktgesichtspunkten gestaltet, als Ware ausgestellt und vereinheitlicht, sondern die Kommerzialisierung des Selbst inkludiert auch

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die gesamte Bandbreite der User-Interaktionen und die Stimulierung der Wertschöpfungsketten auf digitalen Plattformen. (Nachtwey/Schaupp 2022: 59–80) Man kann das Selfie nicht einfach so für politische Zwecke umdeuten und für eine politische Einflussnahme instrumentalisieren (Schankweiler 2019), ohne die Frage aufgeworfen zu haben, welchen Einfluss es als Medium bei der Instrumentalisierung politischer Themen aufweist und inwiefern sich politische Inhalte verändern, wenn diese mit Hilfe von Selfie-Darstellungen kommuniziert und verbreitet werden. (Kuntsman 2017: 13–18)

III.5.2. Instagram als Medium der politischen Kommunikation Selfies werden innerhalb der Protestbewegung im Iran als entsolidarisierend wahrgenommen, während in der iranischen Diaspora Protestselfies signifikant häufiger gespostet werden. Eine detaillierte Bildanalyse versucht, die Umbrüche der digitalen Subjektpolitik zu sondieren und in Bezugnahme auf politische Rahmenbedingungen der iranischen Protestbewegung zu deuten. Ausgelöst wurden die landesweiten Proteste durch den von der Polizei herbeigeführten gewaltsamen Tod von Mahsa Jina Amini am 16. September 2022 in Teheran. Die Proteste im Iran können fast ausschließlich mit Hilfe der sozialen Medien von einer globalen Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Um Repräsentationskämpfe, Counter-Diskurse, Minoritätenpolitik und Aufrufe zur Solidarisierung verbreiten zu können (Stewart/Schultze 2019: 1–16), ist der Zugang zu Sozialen Medien eine notwendige Voraussetzung. (Särmä 2018: 114–130; Aghapouri/Ahmadi 2021: 104–125) Dementsprechend ist die Verbreitung von Protestbildern von der Erhaltung dieser Medienkanäle hochgradig abhängig. Allerdings sind webbasierte Soziale Medien von den technopolitischen Restriktionen des iranischen Sicherheitsapparates bedroht. Der Iran zählt zu den Ländern der Welt, in denen das Internet seit seiner Einführung im Jahr 1993 eine der schnellsten Wachstumsraten aufweist. Im Iran hat sich seither eine vielfältige Blogging-Sphäre sowie eine breite SocialMedia-Nutzung entwickelt, welche iranische Gesellschaftsstrukturen, ökonomische Entwicklungen und politische Prozesse fördern und verstärken. Der Iran gehört aber auch zu den wenigen Ländern der Welt, welche die OnlineMedien mit einem systematischen Zensurmechanismus konfrontieren. Andererseits wendet die iranische Bevölkerung zahlreiche Methoden an, um Zugang zu den gefilterten Websites und Diensten zu erhalten. Laut einem offiziellen Bericht umgehen etwa 10 bis 12 Millionen Benutzer das Filterregime,

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indem sie ausschließlich VPN verwenden: »Eine neue Umfrage zeigt, dass im Juli 2021 noch fast 40 % der Nutzer im Iran auf Telegram aktiv waren, eine Zahl von 62 %, bevor diese Plattform dauerhaft verboten wurde. Die Umgehung des Filterregimes ist gesellschaftlich nicht verpönt, da neben einfachen Menschen auch viele hochrangige Beamte wie das Supreme Leader Office, der Präsident, Regierungsminister und Abgeordnete in blockierten sozialen Medien wie Twitter öffentlich aktiv sind.« (Hashemzadegan/Gholami 2022: 182). Staatlich organisierte Zensurmaßnahmen betreffen nicht nur infrastrukturelle Einschränkungen ausgewählter Netzwerkseiten und Plattformen, sondern können in sogenannten Shutdowns kulminieren, wenn die gesamte Internetverbindung blockiert wird. Grinko et al. (2022: 1–21) sprechen in diesem Zusammenhang von einer Internet-Verstaatlichung, ein Konzept, das sie an die Stelle des »Shutdowns« rücken. Sie argumentieren, dass eine zentrale Maßnahme des iranischen Sicherheitsapparates bei landesweiten Aufständen darin besteht, das Internet zu verstaatlichen, d.h. es werden Software-Maßnahmen durchgesetzt, die darauf abzielen, die Öffentlichkeit von Plattformen und Servern außerhalb des Landes abzuschneiden. Demgegenüber haben Iraner/innen eine Vielzahl kreativer Maßnahmen, sowohl technischer als auch nicht-technischer Art, entwickelt, um der von dem Regime durchgeführten Abschaltung der internationalen Konnektivität entgegenzuwirken. Bei der Verstaatlichung des Internets geht es weniger darum, die gesamten digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien abzudrehen, sondern vielmehr um eine Verlagerung der digitalen Kommunikation in staatlich kontrollierte und regulierte Netzmedien: »Ähnliche Beispiele für Ansätze zur Kontrolle und Verstaatlichung des Internets finden sich in China und Russland, wo Internettechnologien von der Regierung angeeignet werden, um Inhalte zu filtern und den Zugang zu unerwünschten Plattformen zu beschränken. Durch die vorübergehende oder dauerhafte Sperrung von US-Plattformen werden Bürger in China gezwungen, nationale Apps und Plattformen zu nutzen. Der Sicherheitsapparat überwacht und kontrolliert den internen Datenfluss und steuert das Nutzerverhalten. Die lokale Webinfrastruktur in China und Russland ist relativ stabil und auf Kontrolle ausgelegt.« (Grinko et al. 2022: 15) Die heutige Internetzensur im Iran reicht bis in das Jahr 2005 zurück, als das »Nationale Informationsnetzwerk« (NIN) vom iranischen Ministerium für Informations- und Kommunikationstechnologie entwickelt wurde. Anfang 2022 wurde ein »Gesetz zum Schutz des Internets« in das iranische Parlament

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eingebracht. Der Gesetzentwurf zielte darauf ab, Software-Anwendungen zur Internetumgehung wie VPNs zu kriminalisieren und die iranische Bevölkerung zu verpflichten, ein staatlich kontrolliertes Internetsystem zu nutzen. (Rouhi 2022: 194) Trotz der Kampagne zum Schutz der Internetfreiheiten und des Scheiterns des Gesetzentwurfs im Parlament gibt es Hinweise darauf, dass die Raisi-Regierung ihre Beschränkungen heimlich umgesetzt hat. (Esfandiari 2022; Ziabari 2022) Im Zentrum der Analyse steht das soziale Netzwerk Instagram, das eine zentrale Kommunikationsplattform und Informationsquelle der iranischen Protestbewegung darstellt. Mit Instagram können auf sehr einfache Weise audiovisuelle Inhalte (Fotos, Videos) mit Hashtag-Verschlagwortung sowohl im Iran als auch in einer globalisierten Öffentlichkeit geteilt und weitergeleitet werden. Nach der jüngsten Erhebung im Mai 2022 ist Instagram mit rund 45 Millionen Nutzer/innen (das sind 53 % der Gesamtbevölkerung) die einzige große Social-Media-Plattform im Iran, die nicht gesperrt ist, während auf andere Plattformen wie Twitter, Facebook, YouTube, Telegram und WhatsApp ohne den Einsatz von Antifiltersoftware und VPNs nicht zugegriffen werden kann (Iran International: https://www.iranintl.com). In diesem Sinne fungiert die bildzentrierte Social-Media-Plattform Instagram als alleinige Brücke zu Informations- und Meinungsfreiheit. Für die iranische Zivilgesellschaft und die unterschiedlichen Protestbewegungen der letzten Jahre hat Instagram immer wieder eine Plattform geboten, Inhalte zu teilen, die vom Regime unterdrückt und verboten worden sind. Die sozial geteilten Inhalte auf Instagram stehen allerdings unter der Beobachtung des Nationalen Informationsnetzes (NIN). Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Nutzer/innen, die Inhalte posten, die gegen die theokratischen Moralgesetze des Regimes verstoßen, von der Cyberarmee (ICA) identifiziert und von der militanten iranischen Revolutionsgarde (IRGC) verhaftet werden. Während des Internet-Blackouts der Mahsa-Amini-Proteste wurden ungefähr 80 % aller beliebten Websites umgehend gesperrt, darunter Instagram, Whatsapp, Apples App Store, Googles Play Store, Skype und LinkedIn. Hinzu kamen landesweit stundenlange totale Internetausfälle pro Tag. (Rouhi 2022: 189–196) Dennoch finden zahlreiche Bilder, Videos und Augenzeugenberichte ihren Weg an die globale Öffentlichkeit.

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III.5.3. Bilder des Protests – Protest der Bilder Bilder haben in der medialen Vermittlung von Protest einen herausragenden Stellenwert. Sie tragen maßgeblich dazu bei, dass Protest medial erfahrbar, sicht- und sagbar wird und sie verleihen Protestbewegungen einen kollektiven Bezugspunkt, wenn sie sozial geteilt und verbreitet werden. (Erdmann 2021) Sie verweisen nicht nur auf die Darstellbarkeit sozialer Ereignisse politischer Relevanz und tragen nicht nur einflussreich zur Bedeutungsproduktion politischer Protestbewegungen bei, sie bieten auch Schnittstellen zu öffentlichen Bildrepertoires und kollektiven Bildgedächtnissen. »Bilder ermöglichen uns einen anderen Zugang zur Welt als reine Worte und politische Pamphlete. Sie verbinden logische Argumente mit affektiver Überzeugungskraft, sie lassen uns ›mit eigenen Augen sehen‹ und sinnlich erfahren. Bilder prägen, wie wir Politik wahrnehmen, ob wir sie für legitim halten oder nicht. Visuelle Protestkommunikation wirkt auf unsere politischen Meinungen und Entscheidungen ein, sei es bewusst oder unbewusst.« (Bogerts 2021: 1) Soziale Medien sind in erster Linie Medien zu Verbreitung visueller Inhalte. Bildinhalte spielen auf Sozialen Netzwerkseiten und Online-Plattformen eine zentrale Rolle zur (politischen) Beeinflussung digitaler Öffentlichkeiten. Bilder im Netz werden algorithmisch gefiltert und ihre Präsenz und OnlineÖffentlichkeit ist rechnerbasiert vermittelt. Daher ist jeder visuelle Kommunikationsinhalt als sozial vernetztes Medienereignis zu verstehen: jedes Bild ist algorithmisch gerankt, verlinkt und in Übereinstimmung mit Nutzungspräferenzen angeordnet. Auf Social Media geteilte Protestbilder haben in Kommunikations- und Handlungsräumen unterdrückter Meinungsfreiheit und zensierter Mediensysteme einen besonderen Stellenwert. (Green-Riley et al. 2022: 203–215) Sie stellen die Macht und Einheit visueller Herrschaftsinszenierung in Frage und treten in eine direkte Konfrontation mit der Bildinszenierung hegemonialer Macht. Für Ihre Verbreitung werden heute Soziale Medien genutzt, die niedrigschwellig verfügbar sind und Bildinhalte ohne Zeitverlust mit einer globalisierten Öffentlichkeit teilen. (Rafati et al. 2021: 1–17) Von Medienzensur bedrohte Protestbilder richten ihre Aufmerksamkeit auf Themen einer differenzierten Repräsentation des politischen Geschehens und machen Vielfalt und Andersheit sichtbar. Gleichermaßen adressieren Protestbilder alternative, subalterne oder minoritäre Kollektivitäten und brechen aktiv und herausfordernd mit folgenden Bildpolitiken:

III. Faciales Regime – Defacement

1. Folgenabschätzung zensurierter Bildinhalte von Macht und Herrschaft (Zensurbehörden, Schwarze Listen, Vorzensur, Selbstzensur, Nachzensur, Geldbuße, Berufsverbote, Inhaftierung) 2. Kommodifizierung des Selbst (Soziales Kapital, Aufmerksamkeit als Ware, Ego-Branding, Celebrity-Marketing) 3. Personalisierung von Bildinhalten (Point of View, Erzählperspektive, Individualisierung, Partikularisierung)

Als Teil von sozialen Bewegungen wollen Protestbilder Gruppen und Gemeinschaften wirkmächtig beeinflussen. In diesem Sinne kann ihre Bildkommunikation als ›phatisch‹ eingestuft werden. Eine phatische Bildkommunikation zielt nach Bronisław Malinowski auf die Herstellung einer »Bande der Gemeinsamkeit« (1923: 315) ab. Indem sie auf die Herstellung sozialer Wirksamkeit abzielt, muss sie einen gemeinsamen Bildvorrat aktivieren, den diese Gemeinschaft teilt. Eine phatische Kommunikation kann als erfolgreicher Sprechakt durchgeführt werden, wenn es ihr gelingt, den gemeinsam geteilten Wertehaushalt bei der Bildlektüre zu adressieren. Um dem Anspruch einer phatischen Bildkommunikation gerecht zu werden, treten Protestbilder mit symbolstarken und affektgeladenen Inhalten auf, um einerseits Affekte bei der Herstellung kollektiver Identitäten zu mobilisieren, andererseits weisen sie einen evidenzbasierten Bezug auf und beanspruchen in ihrer faktischen Zeugenschaft, ein Fenster zur Welt der sozialen Wirklichkeit zu eröffnen. Protestbilder sind in zweierlei Hinsicht vielschichtig, einerseits ist es wichtig, die Formen der medialen Vermittlung, das sind die Medienkanäle, Medienformate und die damit zusammenhängenden Praktiken der Produktion und Rezeption medialer Inhalte in der Analyse zu berücksichtigen; andererseits sind die visuellen Repräsentationen in ihren unterschiedlichen Stile-, Typen-, Genre- und Referenzausprägungen zu berücksichtigen. Im engeren Bezug auf Instagram zeigt sich, dass die visuelle Konstruktion von Protest eine spezifische Ausrichtung von Inszenierungsmerkmalen aufweist: »Auf Instagram finden sich vor allem Innen-Perspektiven der Demonstrationen durch individuelle (Selbst-)Inszenierungen der Demonstrierenden. Deutlich wird zudem, dass die journalistischen Bilder die Proteste insbesondere im Hinblick auf spannungsreiche Konfliktsituationen […] mit hohem Nachrichtenwert zeigen, während auf Instagram die Vergemeinschaftung über Gruppenbilder und damit die Inszenierung und Mobilisierung der Teilnehmenden in den Vordergrund rückt.« (Drüecke et al. 2022: 1)

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Die iranische Protestbewegung von 2022 verbreitet nicht nur Bilder des Protests, sondern damit einhergehend den Umgang des theokratischen Regimes mit Protestformen. In diesem Sinne greift das Schlagwort Protestbild zu kurz, denn die auf Social Media, Messanger-Diensten und Plattformen zirkulierenden Bilder stellen den Anspruch, eine Gegenöffentlichkeit darzustellen. Es handelt sich in diesem Fall nicht nur um die Herstellung einer alternativen Öffentlichkeit, sondern um eine Gegenöffentlichkeit, die im unversöhnlichen Bildkonflikt mit den autoritär kontrollierten Staatsmedien steht.

III.5.4. Selfie-Solidarisierung Michelle Akanji beschreibt in ihrer Analyse »Protest-Selfie. Zwischen Selbstdarstellung und Protest-Identität« (2018) gemeinsame Merkmale des ProtestSelfies in Bezug auf Produktion und Distribution: »Das Protest-Selfie ist ein Selbstporträt mit einer handgeschriebenen politischen Nachricht, welches sich mit vielen anderen der gleichen Art in sozialen Netzwerken zu einem Selfie-Protest zusammenfügt. Eine solche Bewegung funktioniert über Einzelbilder, die dasselbe Hashtag verwenden und so einen virtuellen Schwarm bilden. Die Partizipationskultur in den sozialen Medien ermöglicht deren globale Verbreitung.« (Akanji 2018: 176) Dabei grenzt sie das Protest-Selfie von Selbst-Porträts im Demonstrationskontext vor Ort ab: »Nicht zu verwechseln ist das Protest-Selfie mit Selbstporträts bei real stattfindenden Demonstrationen. Es geht beim Protest-Selfie nicht um die Dokumentation der eigenen Protest-Partizipation, sondern vielmehr um die Verwendung des Selfies als Mittel zum Protest. Der Körper der Protestierenden steht dabei voll im Zentrum, nicht auf der Straße, sondern in der größtmöglichen Öffentlichkeit – im Internet. Die Protestierenden greifen hierbei auf gesellschaftlich verankerte Bildgenres zurück: Die Schilder, die sie vor die Kamera halten, erinnern an das Emporhalten von selbstgemachten Transparenten auf Demonstrationen. […] Die Selbstporträts werden so zur öffentlichen Darstellung einer Identifizierung mit den Betroffenen.« (Akanji 2018: 176)

III. Faciales Regime – Defacement

Abb. 31: Protest-Selfie von Taraneh Alidoosti, 17. Dezember 2022.

Quelle: Instagram

Am 17. Dezember 2022 haben die iranischen Behörden Taraneh Alidoosti, eine der populärsten Schauspielerinnen des Landes, unter dem Vorwurf der »Verbreitung von Unwahrheiten« festgenommen, nachdem sie auf ihrer Instagram-Seite ein Bild von sich gepostet hatte, auf dem sie keinen Hijab trug und ein Blatt Papier mit der Aufschrift »Frauen, Leben, Freiheit« in der Hand hielt. (BBC, 17.12.2022) Mit dieser Solidaritätsbekundung verurteilte Alidoosti die Hinrichtung des Demonstranten Mohsen Shekari wegen seiner Beteiligung an den landesweiten Protesten. Bereits Wochen zuvor postete sie ein Instagram-Foto ohne das vom Regime vorgeschriebene Kopftuch, um aus Solidarität mit den weit verbreiteten Protesten gegen die Regierung zu protestieren. Nach ihrer Verhaftung wurde ihr Instagram-Account, der acht Millionen Follower hatte, abgeschaltet. Die von Akanji beschriebenen Protest-Selfies werden auch zur Unterstützung der iranischen Protestbewegung eingesetzt. In der »größtmöglichen Öffentlichkeit« positionieren sich Sympathisant/innen der Proteste und rekurrieren auf die oben beschriebenen Bildgenres. Der iranische Staat und sein Polizeiregime überwacht Bildpraktiken der Selbstrepräsentation sowohl in Online- als auch in Offline-Räumen. Cyberethnographische Studien über OnlineKommunikationsräume im Iran zeigen, dass politisch-subversive und queere Praktiken trotz weitgehender Kontrolle bestehen können. (Rahbari 2022: 141–157)

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Der feministische Online-Aktivismus und seine stärker individualisierten Formen des Dissenses auf Sozialen Medien haben dazu beigetragen, Plattformen für politischen Aktivismus zu etablieren und für Themen des Feminismus und frühere Errungenschaften iranischer Pionierinnen zu sensibilisieren. Studien haben in diesem Zusammenhang die generationsbedingten, interkulturellen und technologischen Unterschiede untersucht, die sich unter iranischen Frauenaktivistinnen nach den seit 2009 im Inland stattfindenden Volksaufständen herausgebildet haben. (Batmanghelichi 2021: 125–146) Im Unterschied zu Protest-Selfies vorangegangener aktivistischer Bewegungen, die in der Literatur untersucht worden sind, werden Protest-Selfies iranischer Frauen, die sich ohne Hijab in der Internet-Öffentlichkeit zeigen, vom iranischen Regime als staatsfeindliche Handlungen angesehen und unmittelbar mit Strafverfolgung bedroht. Die Bildhandlung, das ist die Veröffentlichung eines Selfies mit unverhülltem Haar, wird vom iranischen Regime nicht nur als eine Unterstützung der Protestbewegung verstanden, sondern gilt als unmittelbarer Verstoß gegen den verordnenden Kopftuchzwang und wird mit Gefängnisstrafe, Folter und Publikations- und Berufsverbot geahndet. Insofern ist das Protest-Selfie nicht nur Ausdruck einer medialen Kommunikation, die auf einer visuell-rhetorischen und symbolisch-diskursiven Ebene angesiedelt wäre, sondern die Entscheidung, sich selbst als Individuum im Internet gegen das Regime zu stellen, bedeutet im Regelfall Diffamierung, Inhaftierung, Folter, Gefängnisstrafe und Verlust von Freiheits- und Menschenrechten. Protest-Selfies im patriarchalen Terrorstaat sprechen auch Themen wie politische und kommunikative Selbstzensur an, denn Staatsterror gegen die eigene Bevölkerung zielt auf die Produktion von Angst und selbstgesteuerte Unterdrückung von Handlungen, die dem politischen Mainstream widersprechen.

III.5.5. Selfies den Rücken kehren Auf Social Media geteilte Bilder von Rückenfiguren gelten als Distanzierung vom Selfie-Hype. (Reichert 2017a: 121ff.) Anonymisierung und Abkehr von der frontalen Selbstdarstellung bilden signifikante Bildelemente, die in unterschiedlichsten Motiven wiederholt werden. Mit dieser neuen Bildsprache der Selbstthematisierung signalisieren Nutzer/innen eine Distanzierung vom Bildprogramm des Selfies, dessen populärste Ausprägungen ein frontaler Blick in die Kamera, eine nahe Einstellung, inszenierte Intimität und dialogische Kommunikation ist. Rückenfiguren verstehen sich als Teil einer

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Devisibilisierungsstrategie, die ein kritisches Verhältnis zur Sichtbarmachung des eigenen Selbst beinhaltet. Rückenfiguren haben in der Kunst- und Kulturgeschichte eine lange Tradition. (Böhme 2006; Kirsten 2011) Sie bilden ein eigenes Sujet in der Malerei und der grafischen Darstellung, später auch in der Fotografie und in Film und Video: »Dabei liegt ihre grundsätzliche und zugleich bedeutsamste Funktion darin, auf einer zweidimensionalen Bildfläche einen dreidimensionalen Raum darzustellen, also einen Tiefenraum im Bild zu schaffen. Da sich der Betrachter mit einer ins Bild hineinsehenden Rückenfigur identifizieren und somit die Existenz eines Raumes nachempfinden kann, wurde dieses Motiv seit seiner Entstehung in der römischen Antike zu diesem Zweck gebraucht.« (Sugiyama 2009: 4) Im Prozess der Bildbetrachtung stellen Rückenfiguren eine Herausforderung dar, denn: »The adoption of the rear-view presents an intriguing challenge, since the viewer must engage with a figure which sees without visible eyes. Considered here are some of the perceptual issues which arise from this unusual pictorial device.« (Schott 2020: 600–605) Protestbilder der iranischen Frauen, die in der Bildzirkulation der Sozialen Medien rasch zu populären Ikonen aufgestiegen sind, vereinigen eine Vielzahl von Rückenfiguren. Handelt es sich um ein kollektives Statement, ein politisches Bildhandeln, das über den Schutz der eigenen Identität hinausgeht? Eine Bildauswahl möchte dieser Frage nachspüren. Das erste Bild wurde am 26. Oktober 2022 in Saghes aufgenommen. (Abb. 32) Es zeigt eine unverschleierte Frau auf einem Autodach, anlässlich des 40. Todestages der durch Polizeigewalt zu Tode gekommenen Jina Mahsa Ahmini. Die auf dem Auto stehende Frau wendet den Betrachter/innen ihren Rücken zu. Beide Hände sind in die Höhe gestreckt, die linke Hand formt eine Faust, die rechte Hand ein Victory-Zeichen. Um den Hals trägt sie ein buntes Tuch, das ihren Rücken bedeckt. Die Frau befindet sich im Bildzentrum und im Vordergrund überragt sie alle anderen Figuren. Als Zeigefigur steht die junge Frau aber nicht selbst im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern sie verweist mit ihrem Blick auf die Menschenmenge im Bildhintergrund und erzeugt mit ihrem Zeigegestus und ihrer Blickperspektive eine Spannung, die sich in die Blickperspektive der hinteren Bildebenen verlängert. Obwohl die junge Frau den visuellen Mittelpunkt (Bildmitte, Bildzentrum) füllt, bleibt ihr Blick verborgen und rätselhaft, denn ihr Sehen kann in der Betrachtung selbst nicht erschlossen werden. Ihre bildlogische Funktion und ihre narrative Kraft liegen also nicht darin, das bildsemantische

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Zeigen in sich selbst zu bündeln, sondern auf etwas anderes zu verweisen, dass außerhalb der Figur und in umliegenden Bezügen zu erschließen ist.

Abb. 32: Eine unverschleierte Frau steht auf einem Auto, während sich Tausende von Trauernden auf den Weg zu Mahsa Aminis Grab, das sich auf dem Aitchi-Friedhof in Aminis Heimatstadt Saghes in der westlichen Provinz Kurdistan befindet, machen, 26. Oktober 2022.

Quelle: Getty Images/AFP

Der Zeigegestus der protestierenden Frau hat zwei Richtungen: die Orientierung in den Bildhintergrund und zur Menschenmenge als verbindendes Element einer Trauergemeinschaft, die in den Himmel erhobenen Hände zeigen ›Kampf‹ (links) und ›Sieg‹ (rechts), als Gesten der Solidarisierung mit der ermordeten Jina Mahsa Ahmini. Die protestierende Frau folgt der Menschenmenge, sie mimt keine Anführerin, sondern stellt sich als eine Nachfolgerin von Jina Mahsa Ahmini dar. Die Rückenfigur stellt eine strategische Geste dar, indem sie eine führerlose Protestbewegung verkörpert. Sie verweist nicht auf sich selbst, indem sie sich frontal, einer Betrachtung, zu erkennen gibt, sondern sie stellt – selbst im Raum freigestellt – eine Beziehung zu den hinteren und oberen Raumschichten in einem expressiven Zeigegestus her. Die ikonische Qualität der Szene in Saghes besteht möglicherweise darin, dass die ihre Haare zur Schau stellende Frau mit ihrer Körpergestik nicht nur eine »Pathosformel« (Warburg 1993) verkörpert, sondern darüberhinausgehend

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einen »spannungsvollen Bewegungsraum« (Imdahl 1996: 428) öffnet. Die ikonische Sinnverdichtung besteht folglich durch das Zusammenspiel von Geste und Evidenz, die man mit Max Imdahl als ein wechselseitiges Bezugsverhältnis zwischen »wiedererkennende[m]« und »sehende[m] Sehen« (Imdahl 1996: 437) deuten kann. Entlang dieser beiden Sichtweisen besteht die ikonische Bedeutungsproduktion aus der kodierten und wiedererkannten Geste, die von der Rückenfigur getragen wird, und der Evidenz der sie umgebenden Raumschichten. Die szenische Dramatik des gesamten Bildes setzt sich aus der Dialektik zwischen der gestischen Referenzialität der protestierenden Frau und der visuellen Außenreferenz, das ist die dokumentarische Referenz zum Ereignis und zur Evidenz des Gewesenen, zusammen. Die Rückenfigur führt den betrachtenden Blick in die hinteren Raumschichten, die sich in zwei Ebenen gliedern: die Menschenmenge als Ort der politischen Willensbildung und die Berge im ferneren Hintergrund, welche die Weite der Landschaft abschließt und damit auf die weit entfernte Anreise und Zusammenkunft der Menschenmengen in der Bildmitte anspielt. Die Rückenfigur ist Zeigegestus und Protestgeste zugleich. Körperinszenierungen und Protestgesten sind ein typisches Muster von Protestbildern. Die ausgestreckten Hände, die geballte Faust und das mit Fingern dargestellte Victory-Symbol zählen zu den global verbreiteten Protestgesten, die selbsterklärend verstanden werden. Die hier dargestellte Protestgeste enthält Elemente von Solidarisierung und Widerstand, die sich wechselseitig bedingen und ergänzen. Im Unterschied zu kollektiv inszenierten Protestgesten wird die hier dargestellte Protestgeste von einer Person in Rückenansicht verkörpert. Die Vereinzelung und Erhöhung der Rückenfigur ermächtigen die junge Frau, die – hierarchisch gesehen – über den männlichen Figuren situiert ist und alle anderen Figuren überragt. Im Kontext patriarchaler Gesellschaftsstrukturen kann die im Bildzentrum befindliche Rückenfigur heroisiert werden, weil sie mit Rollen-Vorbildern bricht. Die hier dargestellte Rückenfigur oszilliert zwar zwischen Solidarisierung und Widerstand, zentral ist hier aber die Darstellung einer starken Weiblichkeit. (Blessau et al. 2018: 53–71) Die protestierende Frau in Saghes nimmt eine Heldenrolle ein. Damit besetzt sie einen männlichen Raum und revoltiert gegen räumlich organisierte Geschlechterhierarchien. Das Bild suggeriert überdies, dass sich die junge Frau spontan entschlossen hat, auf das Autodach zu steigen, um zu protestieren. Damit wird der Aktion zusätzliche Glaubwürdigkeit verliehen. Die Rückenfigur ist hier Stellvertreter des Blicks in die Tiefe des Bildhintergrunds. Eine weitere Bildebene zeigt sich. Man könnte sie als ein funktionales

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Äquivalent einer Point-of-View-Konstellation einstufen. Mit der Rückenfigur kann gezielt die Identität der dargestellten Person verborgen werden. Auf den ersten Blick ist die Wahl einer Rückenansicht plausibel und naheliegend, wenn in Betracht gezogen wird, dass man die Identität der dargestellten Personen vor polizeilicher Gewalt, Folter und Internierung schützen möchte. Die große Bandbreite der Bildinszenierungen zeigen aber auch auf, dass mit der Rückenfigur ein politisches Statement gesetzt wird. Das Autodach wirkt auf den ersten Blick wie ein unscheinbares Detail. Seit den landesweiten Protesten von iranischen Frauen gegen das Tragen des Kopftuchs im Januar 2018, als sich zahlreiche Frauen exponierte Orte im urbanen Raum für ihre öffentlichen Protestaktionen aneigneten, zählen weithin sichtbare Podestplätze zum bevorzugten Ort feministischer Proteste. Ihren Ausgang haben die Podestinszenierungen am 27. Dezember 2017 genommen, als sich eine junge Iranerin, Vida Movahed, im Zentrum der iranischen Hauptstadt Teheran in der Engehlab-Straße auf einen Stromverteilerkasten stellte und während fast einer Stunde stumm das Kopftuch auf einen Stock gesteckt in die Luft hielt. Als am 26. Oktober 2022 eine Frau das Autodach hochklettert, um nicht ihr Gesicht, sondern ihre offenen Haare zu zeigen, sorgt das Podest dafür, dass die Rückenfigur eine dominante Figur wird, die alle anderen Figuren überragt. Die Erhöhung durch das Podest wird durch die anonymisierte Frau noch einmal verstärkt, indem sie mit beiden Armen ihren Körper vergrößert. Podest und Arme machen die Figur zwar dominant, aber nicht individuell greifbar, als Rückenfigur bleibt sie non-personale Führung, mit der Tiefenwirkung in die dahinter liegenden Bildebenen bietet die protestierende Frau eine leere Stelle des Politischen an, die von allen anderen Sympathisanten angeeignet werden kann. Als namenlose und gesichtslose Frau, die eine Bildikone des Protests geworden ist, ermöglicht sie allen anderen, diese leere Stelle des Protests zu füllen. In diesem Sinne brauchen Proteste nicht notwendig ein Gesicht, sondern allegorische Figuren, die eine Idee weitertragen. Dass der Widerstand als politisches Handeln nicht bereits personifiziert wird, durch eine Führungspersönlichkeit individuell verkörpert und zentral reguliert ist, markiert das emanzipatorische Potential der leeren Stelle: der Ort der Macht bleibt leer und unerfüllt und gehört nicht zum Handlungsfeld des Politischen, »doch gerade aufgrund dieser Abwesenheit zählt er in diesem Feld und organisiert es zugleich. Und gerade, weil dieser Ort abwesend ist, umschreibt sich der gesellschaftliche Raum von ihm aus. Die den Menschen gegebene symbolische Versicherung, sich auf ein und demselben Felde zu begeg-

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nen, verleiht ihren Handlungen eine gewisse Wirksamkeit, ohne dass die Ebene, auf der sich ihre gemeinsame Zugehörigkeit bewahrheitet, jemals Gestalt annehmen müsste.«3 (Lefort/Gauchet 1990: 101) Der von Lefort und Gauchet entwickelte Begriff der »leeren Stelle« (nicht ›Leerstelle‹), der von zahlreichen Autoren als geeignetes Analyseinstrument für die Demokratietheorie übernommen wurde, ist mit dem, der Kategorie adiectum zugehörigen, Attribut ›leer‹ verknüpft. Es bezeichnet die charakteristische Eigenschaft der Stelle, nämlich die, leer zu sein. (Rödel 1990) Für die iranische Protestbewegung bedeutet die Übernahme der leeren Stelle durch die Rückenfigur, dass die Stelle flottierend und temporär durchlaufen werden kann, sie aber nicht in den Besitz eines einzelnen übergehen kann. Die leere Stelle bleibt vakant und frei, insofern kann sie nicht in ein Besitztum übergehen, also territorialisiert werden. Entscheidend ist, dass mit einer stets möglichen Usurpation der leeren Stelle nur noch kriegslogistische Fragen der rechtzeitigen Erschließung und Grenzziehung oder marktlogische Fragen des agenda setting verhandelt werden können. Signalisiert wird, dass die leere Stelle für jeden frei und zugänglich ist. Die leere Stelle steht aber nicht für vollkommene Beliebigkeit und Austauschbarkeit, geht es doch um politische Ziele des Protests, die erst diese Stelle eröffnet haben und damit gleichermaßen markiert haben, nämlich als eine leere Stelle einer spezifischen Ausrichtung. Um der Aporie beliebiger Aneignung zu entgehen, schaffen Begriffe wie Zugang oder Grenze erneut einen Mangel an Stellen, Orten oder Gegenden und führen eine Knappheit von politischem Handlungsraum ein: Nicht jede und nicht jeder kann die leere Stelle kurzfristig einnehmen. Wenn aber die leere Stelle der Macht nicht von jedem gleichermaßen besetzbar sein kann, dann impliziert dies, dass der soziale Raum an der Überfülle seiner Akteure leidet. In diesem Sinn fungiert die leere Stelle des Politischen nicht als Karussell der Beliebigkeit, sondern bedarf einer permanenten Bereitschaft zur Ausverhandlung und Reflexion. Das Motiv der Rückenfigur hat sich in der iranischen Protestbewegung bereits ein paar Tage nach dem gewaltsamen Tod von Jina Mahsa Ahmini als Bil-

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Lefort und Gauchet postulieren eine »leere Stelle« der Vergesellschaftung und weisen diese als »abwesenden Ort« aus, der nicht zum »gesellschaftlichen Handlungsfeld« gehört, dieses aber insgesamt strukturiert. Auf welche Weise diese »symbolische Versicherung« den »Menschen« gegeben ist, wird von den Autoren jedoch nicht einsichtig gemacht, sondern fraglos behauptet. Die räumliche Umsetzung dieser »symbolischen Versicherung« kann aber erst möglich werden, indem Lefort und Gauchet diese in einen immer schon vorausgesetzten Raum projizieren.

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dikone etabliert und wurde in der Medienberichterstattung als politische Allegorie des zivilgesellschaftlichen Widerstands verbreitet, wie die folgende Abbildung (Abb. 33) von den Protesten in Teheran im September 2022 zeigt:

Abb. 33: Ein Protest in Teheran Tage nach dem Tod von Mahsa Amini.

Quelle: Soziale Medien/Rex/Shutterstock

Wie in den Bildern von Johannes Vermeer van Delft (»Die Malkunst«, 1666/68) und Caspar David Friedrich (»Der Mönch am Meer«, 1808/1810; »Der Wanderer über dem Nebelmeer«, 1818) repräsentieren die protestierenden Frauen eine Subjektivitätsvorstellung, das heißt ein Modell von einem Subjekt, in unserem Fall von einer politischen Subjektivität, die eine klare und in der iranischen Protestkultur weit verbreitete politische Semantik aufweist: nicht ein Individuum, ausgestattet mit einem identifizierbaren Gesicht, Eigenname und Persönlichkeit präsentiert sich als Träger der politischen Bewegung, sondern ein namenloses Subjekt, das seine Identität nicht preisgeben will, weil es für die politische Idee stellvertretend eintritt. Im eigentlichen Sinne ist es ein schwaches Subjekt, weil das Subjektive nicht im Zentrum steht. Das schwache Subjekt kann hier auch als ein loses Subjekt verstanden werden, im Sinne einer fluiden und temporären Subjektivität, die sich aus der Konstellation von Ereignissen heraus entwickelt, situativ manifest wird, um sich wiederum zu verflüchtigen und sich entlang anderer, sich ergebener Bezugsverhältnisse anzulagern:

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»In gegenwärtigen Medienökologien kann auch eine eher schwach ausgeprägte gemeinsame Identität zu einer breiten Mobilisierung führen, da die Beteiligung an Protesten niedrigschwelliger ist (Rucht, 2011). Donatella della Porta (2005) spricht in diesem Zusammenhang von ›tolerant identities‹: Aktivist:innen, die sich in eher losen Zusammenhängen versammeln und über keine homogene Ideologie verfügen, bedienen sich dieser. Gerade in den vergangenen Jahren haben sich über Hashtags solche temporären und ereignisbezogenen Öffentlichkeiten formiert, die Protesthandeln unterstützen. Hinzugekommen sind flüchtigere Zusammenschlüsse und Solidaritätsbekundungen, die durch Teilen und Klicken möglich sind. Diese sind nicht dauerhaft, da sie lediglich temporär eine kollektive Aktionsform darstellen, aber sich nicht in einer Bewegung verdichten. Lisa Steiner und Stine Eckert (2017, S. 214) benennen solche Bündnisse als ›fluid public clusters‹, um die Dynamik der Räume und Akteur:innen zu betonen. Solche Proteste verdichten sich häufig um ein bestimmtes Thema oder Ereignis, womit für dieses Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit hergestellt werden.« (Drüecke et al. 2022: 132f.) Vor diesem Hintergrund repräsentiert die Rückenfigur kein starkes Subjekt wie in der Selfie-Kultur, das als Individuum an (die Idee) und für sich (die eigene Persönlichkeit einsetzend) den Protest repräsentiert. Mit der 180-GradDrehung des Subjekts um die eigene Achse entsteht eine anonymisierende Rückenfigur, die das für sich der Selfie-Kultur obsolet macht, insofern triumphiert nicht ›die‹ Frau als heroisches Befreiungssubjekt, sondern eine politische Stelle als unbekannte Variable, an der alle teilhaben können. Mahsa Rouhi zitiert ein Statement einer jugendlichen iranischen Aktivistin: »One 16-year-old girl reflected: ›They can kill us. They can arrest us. But it is the start of their end. Maybe today. Maybe next week or next month. But our revolt is irreversible.‹« (Rouhi 2022: 196) Die Vielheit der Verkörperungen durch eine andere x-beliebige Protestierende, die keinen Führungsanspruch stellt, erhält eine kollektive Orientierung in einer endlosen Perspektive. Aber sie wird nicht ausgefüllt durch die Präsenz einer einzelnen Repräsentantin, in welcher sich alle Stimmen bündeln ließen. Rückenfigur und Zeigegestus relativieren jeglichen Führungsanspruch durch ein einzelnes Individuum. Der Heroismus liegt nicht in der Persönlichkeit einer Für-sprecherin begründet, welche die Protestbewegung repräsentiert und die Gefolgschaft hinter sich versammelt, sondern die heroische Geste liegt im Zeigen selbst, ein Zeigen, das auf ein politisches Begehren verweist, das niemand al-

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lein besitzen kann, sondern von allen weitergetragen werden kann, die bereit sind, es zu teilen. Das Bild des Schulprotestes lässt erahnen, dass eine geschlechterübergreifende Solidarisierung adressiert wird, denn die beiden Figuren am rechten Bildrand haben kurze Haare und es besteht die Möglichkeit, dass es sich bei diesen Protestierenden um männliche Schüler handelt. Diese Tatsache ist aufgrund der Anonymisierung der beteiligten Personen nicht geklärt. Es handelt sich um eine Vermutung, die eine erweiterte Bildlektüre offenlassen kann. Selfies stehen für die Maximierung von Sichtbarkeit und Identität. Sie zeigen einen gut lesbaren Gesichtsausdruck und ermöglichen ein besseres Verständnis der Bildintention und eine empathische Anteilname. In diesem Sinne folgen Selfies einem facialen Regime, um Botschaften besser verbreiten zu können, werden sie auf ein Gesicht projiziert, auf ein Bild, das uns anblickt und den Anschein erweckt, dass es direkt und unmittelbar mit uns auf Augenhöhe kommunizieren kann. Mit einem Selfie lassen sich Produkte besser verkaufen. Personalisierte Inhalte sind Aufmerksamkeitsträger. Die Protestbilder der iranischen Zivilgesellschaft, die im blutigen Herbst 2022 entstanden sind, kommunizieren auch auf Augenhöhe, aber sie gehen nicht vom Gesicht aus. Ihr Fokus liegt auf den Haaren, nicht das Gesicht ist revolutionär, sondern das Zeigen der Haare. Die Haare werden demonstrativ gezeigt, sie sind die Protagonisten, daher zeigen die an der Protestaktion beteiligten Mädchen einer Schule in Teheran ihre Haare, um ein Bildtabu der hegemonialen Staatsmedien zu brechen. Die Rückenfiguren der Abbildung 34 etablieren ein neues Narrativ unserer Bildauswahl. Dieses Standbild entstammt einer per Video aufgezeichneten Re-Inszenierung der Originalvorlage (3.10.2022) von iranischen Schüler/innen im Oktober 2022 (https://www.arte.tv/de/videos/110342-027-A/mit-offenen-a ugen/), die ihre Unrzufriedenheit mit dem Regime zum Ausdruck gebracht haben. Die Mädchen im Schulraum kehren den Betrachter/innen den Rücken zu und richten ihren Mittelfinger offensiv gegen die iranischen Machthaber, namentlich gegen das männliche »Oberhaupt« Khamenei. Die Mädchen haben das verpflichtende Kopftuch abgelegt, sie geben sich als ungehorsam und entblößen ihre Haare und demonstrieren mit ihren provokanten These, dass sie das islamische Regime im Iran bekämpfen. Sie benutzen ihre Haare in ihrer Rückenansicht als Statement gegenüber der patriachalen Männergesellschaft, um sie der Figur des bärtigen Mannes entgegenzustellen, der den öffentlichen Raum dominiert. Der bärtige Mann demonstriert das geltende Recht auf das Zeigen von Haaren im öffentlichen Raum, was durch die Schülerinnen, die ihr Haar entblößen, in Frage gestellt wird. In diesem Sinne firmiert die Rücken-

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ansicht auch als ein politisches Selfie, das die strategische Rolle der Haare hervorhebt und gleichermaßen die Anonymität der im Bild dargestellten Frauen sicherstellt.

Abb. 34: Ein Bild aus den sozialen Medien, das iranische Schulkinder zeigt, die ihre Unzufriedenheit mit der Führung des Landes zum Ausdruck bringen.

Quelle: Twitter

In diesem Fall geht es um eine Solidarisierung für eine Gemeinschaft, die mit einer gemeinsamen Geste angezeigt wird. Entscheidend in diesem Bild ist die Individualisierung der Rückenfiguren, denn es verdeutlicht, dass Haare nicht etwas sind, dass als ontologische Eigenschaft aller Frauen visuell unterdrückt werden muss, sondern Haare sind ein gelebter Ausdruck von Individualität. Diese Individualität muss aber nicht mit einem Selfie bewiesen werden, in diesem Fall wird Individualität als symbolische Geste inszeniert. Hier geht es um Individualität als politischen Anspruch im Allgemeinen, und nicht um ein spezifisches Individuum, das stellvertretend für alle anderen spricht. Auch Abbildung 34 zeigt weibliche Rückenfiguren als radikale Abkehr vom Frontalitätsprinzip. Ihre Wirkung hängt davon ab, auf welche Weise sie in Figurenkonstellationen, bildräumliche Verhältnisse und narrative Zusammenhänge eingebunden sind. Rückenfiguren, die in Straßenproteste, Bildungsinstitutionen, Arbeitsplatzsituationen involviert sind, sind semantisch konkretisiert, ihre Einbettung ist anschaulich. Historisches Ereignis und Selbster-

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mächtigung innerhalb territorialer Kampfzonen sind Bildkontexte, die in den ausgewählten Bildkompositionen lesbar gemacht werden können. Es handelt sich einerseits um Bilder, die eine Zeugenschaft eines Ereignisses bekunden, andererseits affizieren diese Bilder mit der Dokumentation einer Geste, die sich aus mehreren Bildelementen zusammensetzt. Sie besteht aus den folgenden Bestandteilen: 1. Die auf einem Podest befindliche Rückenfigur wird überhöht dargestellt, dadurch wird sie zu einer Protagonistin der Szene und kann heroisiert werden. 2. Die Rückenfigur befindet sich in einem konkreten zeiträumlichen Verhältnis und es besteht eine dramatische Spannung zwischen den räumlichen Erzählebenen des Gesamtbildes. 3. Die Gestik der Rückenfigur kommuniziert eine politische Haltung und referiert auf bereits bestehende politische Pathosformeln, die aus einem gemeinsam geteilten Bildgedächtnis hervorgehen. Für die Dezember-Ausgabe 2022 des Time Magazin kürte die Redaktion in New York die Frauen des Iran zu den »Heldinnen des Jahres 2022« (Abb. 35). Titel der Ausgabe ist: »Heroes of the Year. Fighting for Freedom. The Women of Iran«. Die Redaktion beauftragte die im Iran lebende Fotografin Forough Alaei mit der Gestaltung einer Fotostory und des damit zusammenhängenden Covers. Alaei übersetzt die auf den Sozialen Medien Twitter, Instagram, Snapchat und TikTok verbreiteten Rückenfiguren der iranischen Protestbewegung in die bildästhetischen Anforderungen der Time-Magazin-Titelbildgestaltung. Titelbilder des Time Magazin sind an der Konstruktion einer globalen Bildikone interessiert. Die Absatzmärkte des Time Magazin sind global, ihre Bildbotschaften adressieren ein kulturell heterogenes Publikum. Vor diesem Hintergrund hat die Fotografin Forough Alaei die Rückenansichten der in Straßenkämpfe verwickelten Frauen gereinigt. Sie hat den territorialen Kontext des Kampfes um Frauen- und Bürgerrechte ausgeblendet und aus den dokumentarischen Aufnahmen, die von Amateur/innen in spontanen Situationen aufgenommen wurden, eine inszenierte Studioaufnahme gemacht. Sie hat den Protest von der Straße in das Bildlabor geführt, um eine von einem lokalen Kontext losgelöste Bildsprache zu entwerfen, die für ein internationales Zeitungspublikum interessant ist, um eine vage und unverbindliche Vorstellung von Frauenrechten zu entwerfen, die verallgemeinerbar sind. Die Intention dieses Bildertransfers ist es, alle überschüssigen Details aus dem Bild zu entfernen, in ihrem Cover-Bild geht es gar nicht mehr um den Iran, sondern um die Herstellung einer universell einsetzbaren Bildikone, die von ihrem historischen und sozialen Kontext gereinigt wurde. Entscheidendes Bildindiz: Die Frauengruppe in Rückenansicht hat kein politisches Gegenüber.

III. Faciales Regime – Defacement

Politik definiert sich mittels widerstreitender Positionen (männlich/weiblich; reich/arm; jung/alt), diese Spannung fehlt im Coverdesign des Time Magazin vollkommen. Die dargestellten Frauen solidarisieren sich für sich, aber die Herausforderung, der eigentliche Kampf, die Realität von Polizeigewalt, Repression und männlichem Machterhalt wird vollkommen ignoriert. Die Migration der Form der Rückenfigur als Antithese zum Frontalitätsprinzip der Selfie-Darstellung zeigt, dass Rückenfiguren ein politisches Potential aufweisen, wenn der Kontext, in welchem die Rückenfiguren situiert sind, berücksichtigt wird. Mediale Dekontextualisierungen (Case Study: Time Magazin) eines lokalen, regionalen oder nationalen Kampfes um Bedeutung und politische Hegemonie verweisen auf generalisierbare Ikonisierungen (universelle Frauenrechte), laufen aber immer auch Gefahr, konkrete Konflikte in spezifischen Situationen zu relativieren. Die politischen Aneignungsstrategien des öffentlichen Raumes im Iran verweisen auf die Überlagerung von Straßenaktivismus und digital vernetzter Kollektivität des Politischen. Für die digitalen Kollektivpraktiken stellt der fehlende organisatorische Zusammenhalt keinen Mangel an Übereinstimmung und Gemeinsamkeit dar, denn gemeinsame Willensentscheidungen und gemeinsame Handlungen kommen nur unter speziellen Voraussetzungen zustande. Die Struktur, der Aufbau und die jeweiligen Verfahren bei der Organisation von digitalen Kollektivitäten müssen also nicht mehr in komplexen Prozeduren der konsensuellen Meinungsfindung hergestellt werden, sondern sind mehr oder weniger in die strukturierten Anordnungen der Social Software eingelagert. Von Globalisierung und dezentraler Medientechnologie vorangetrieben, dringt die mittels der digitalen Vernetzung hergestellte Macht der Vielen in immer weitere Lebensbereiche ein. Social Media werden von kollektiven Protestaktionen als Informations-, Kommunikations- und Kooperationswerkzeuge für die Online-/Offline-Vernetzung von oppositionellen Praktiken genutzt. Besondere Aktualität haben kollektive Mobilisierungsprozesse, wenn sie sich ohne zentrale Mobilisierungsinstanz als situationsbezogene Protestgruppen formieren und als aggregatähnliche Kollektive temporär und taktisch die öffentlichen Räume im Iran durchqueren. Mit Unterstützung von digitalen Verabredungsmedien verfügen politische Kollektivitäten über eine extreme Flexibilität und Wandelbarkeit, die als wirksame Kritik staatlicher Überwachungstechnologien verstanden werden kann. Auf Social Media verbreitete Selbst- und Gruppeninszenierungen verweisen auf ein autor/innen-lose Bewegung und werden nicht individuell kommodifiziert, sondern

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als Informations-, Kommunikations- und Kooperationswerkzeuge für die Online-/Offline-Vernetzung von Kollektiv-Praktiken genutzt. Dementsprechend erweist sich die breite Protestbewegung als ein extrem volatiles und aggregatähnliches Gebilde, das kein diskursives Zentrum erzeugt. Die Anonymisierung des Widerstands verweist darauf, wie unsicher, notorisch schwankend und unzuverlässig das Terrain der Berechenbarkeit geworden ist und dass diese Unschärfe mit der ständigen Bewegung zu tun hat, mit welcher sich die Kollektivströme ihrer medialen Identifizierungs- und Registrierungstechnologien zu entziehen im Stande sind (siehe die wieder erstarkten Kommunikationspraktiken Grafitti-Praktiken in den öffentlichen Stadträumen). Die Volatilität der sich viral verbreitenden Inhalte und der sich viral verhaltenden Kollektive erzeugt gleichermaßen eine Volatilität des Wissens, dem es nicht mehr gelingt, einen analytischen Referenzraum zu konstruieren, der die globalen Kollektivströme in einem System stabiler und diskreter Unterscheidungen zu repräsentieren vermag. Das Cover des Time Magazin isoliert die drei dargestellten Frauenfiguren von ihrem politischen Kontext, indem der politische Protest auf eine Bildebene im Vordergrund reduziert ist. Das Thema des Coverbildes ist weniger der politische Konflikt, sondern die Solidarisierung der drei Frauen untereinander. Mit dieser Dekontextualisierung wird eine universelle Bildikone geschaffen, die für alle Frauen der Welt ideal überhöht gelten kann. Aber der Kontext (Bildhintergrund) bleibt diffus, vage und austauschbar. Die Protestformation wurde hier in diesem Beispiel generalisiert und ahistorisch dargestellt, gleichermaßen auch vom konkreten politischen Kampf um diese politische Situation abgelöst. Die Beispiele der Abbildungen 32–34 haben Frauen hingegen in lebensweltlichen Spannungsmomenten gezeigt, wenn sie an öffentlichen Orten Widerstand gegen ihre Disziplinierung und Kontrolle ausüben. In allen drei Fällen antworten sie und es besteht eine Spannung zwischen den protestierenden Figuren, ihren politischen Gegnern (Polizei, Herrscher, Institution) oder ihrer Solidargemeinschaft. Im Vergleich zeigt sich, dass Rückenfiguren immer auch eingebunden in Beziehungen sind, zu anderen Bildebenen, Figuren, Bildobjekten etc. Aus diesen Beziehungen hervorgehend entwickeln die Rückenfiguren ihre politische Spannung, wenn sie Konflikte, Kämpfe und Affekte sicht- und sagbar machen.

III. Faciales Regime – Defacement

Abb. 35: Time Magazin, Cover, Dezember 2022.

Quelle: https://time.com/heroes-of-the-year-2022-women-ofiran/

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197

V. Abbildungsnachweis

Abb. 1 Abb. 2

Reddit, Instagram Reality, 2017 Consumer $ense with Dr. Audrey Guskey, 1. August 2022, draudreyguskey.com Abb. 3 Popkorn TV Abb. 4 Instagram, www.instagram.com/richkidsofinstagram/ Abb. 5 The New York Review Abb. 6 YouTube, www.youtube.com/watch?v=KU-6ulDNVUE Abb. 7 Runkeeper Abb. 8 Fitbit Abb. 9 Twitter Abb. 10 Instagram Abb. 11 Instagram Abb. 12 Zalewska, Maria (2017): Selfies from Auschwitz: Rethinking the relationship between spaces of memory and places of commemoration in the digital age, in: Studies in Russian, Eurasian and Central European New Media 18, S. 104. Abb. 13–19 Instagram Abb. 20 http://wtface.com/ Abb. 21 ÖNB Bildarchiv, https://onb.digital Abb. 22 www.standard.co.uk Abb. 23 https://content.time.com Abb. 24 https://www.khm.at Abb. 25 www.bridgemanart.com Abb. 26 https://www.nga.gov Abb. 27 https://thewellnessinsider.asia/2017/04/how-to-take-selfies-likea-pro/ Abb. 28 https://nypost.com Abb. 29 www.jeantwenge.com

200

Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur

Abb. 30 Abb. 31 Abb. 32 Abb. 33 Abb. 34 Abb. 35

https://stefdies.com Instagram Getty Images/AFP Soziale Medien/Rex/Shutterstock Twitter https://time.com/heroes-of-the-year-2022-women-of-iran/

VI. Drucknachweis

Das vorliegende Buch hat Textpassagen aus den folgenden Eigenveröffentlichungen überarbeitet, ergänzt und aktualisiert: Reichert, Ramón (2015): Digitale Selbstvermessung. Verdatung und soziale Kontrolle, in: ZfM – Zeitschrift für Medienwissenschaft 2, S. 66–78. Reichert, Ramón (2017): Defacement – Faciales Regime. Selfies und Gesichtsauflösung in Sozialen Medien, in: De-Mediatisierung. Diskontinuitäten, NonLinearitäten und Ambivalenzen im Mediatisierungsprozess, hg. von Michaela Pfadenhauer, Tilo Grenz, Wiesbaden: Springer VS, S. 113–126. Reichert, Ramón (2017): Branded Selves. Inszenierung von Reichtum und Prestige auf Instagram, in: Vis-a-Vis, Medien, Kunst, Bildung, hg. von Peter Sonvilla-Weiss, Wiesbaden: Springer VS, S. 37–52. Reichert, Ramón (2019): Selfies als Prosopopeia des Bildes. Zur Praxis der Subjektkritik in Sozialen Medien, in: Praktiken der Überwachten. Öffentlichkeit und Privatheit im Web 2.0, hg. von Martin Stempfhuber, Elke Wagner, Springer VS, Wiesbaden, S. 141–155. Reichert, Ramón (2019): Selfies und Gender, in: Kunst/Erfahrung, Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film, hg. von Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-Preschl, Bd. 7 (mdw Gender Wissen), Wien: Böhlau Verlag, S. 93–108. Reichert, Ramón (2021): Selfie-Wars on Social Media, in: Self-Representation in an Expanded Field. From Self-Portraiture to Selfie, Contemporary Art in the Social Media Age, hg. von Ace Lehner, Book Series: State of the Arts – Reflecting Contemporary Cultural Expression, MDPI Books.

Medienwissenschaft Marco Abel, Jaimey Fisher (Hg.)

Die Berliner Schule im globalen Kontext Ein transnationales Arthouse-Kino 2022, 414 S., kart., 48 SW-Abbildungen 30,00 € (DE), 978-3-8376-5248-2 E-Book: PDF: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5248-6

Martin Donner, Heidrun Allert

Auf dem Weg zur Cyberpolis Neue Formen von Gemeinschaft, Selbst und Bildung 2022, 496 S., kart., 10 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5878-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5878-5 ISBN 978-3-7328-5878-1

Geert Lovink

In der Plattformfalle Plädoyer zur Rückeroberung des Internets 2022, 232 S., kart. 28,00 € (DE), 978-3-8376-6333-4 E-Book: PDF: 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6333-8 EPUB: 24,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-6333-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de