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German Pages [434] Year 2012
Selbstzeugnis und Person
Selbstzeugnisse der Neuzeit Herausgegeben von Kaspar von Greyerz, Alf Lüdtke, Hans Medick, Claudia Ulbrich und Dorothee Wierling Band 20
Selbstzeugnisse sind Texte, die Personen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten seit dem ausgehenden Mittelalter in größerer Zahl und in unterschiedlichen Formen schrieben. In der internationalen Forschung wird diesen autobiographischen Texten inzwischen große Bedeutung zugemessen. Sie sind wesentlicher Teil eines biographical turn in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. An Selbstzeugnissen lässt sich nicht nur zeigen, wie sich die Verfasser und Verfasserinnen als Person und Selbst in einer spezifischen Kultur konstruierten und situierten. Zunehmend wird auch erkannt, dass diese Texte gesellschaftlich wirksam waren: sie begründeten oder verfestigten Machtverhältnisse oder stellten sie in Frage. Auch als Zeitzeugnisse haben Selbstzeugnisse einen hohen Erkenntniswert. Denn sie eröffnen eine anthropologische Dimension von historischen Ereignissen, Prozessen und Zusammenhängen, in deren Mittelpunkt handeln de, erfahrende und schreibende Akteure und Akteurinnen stehen. Selbstzeugnisse der Neuzeit erschließen bislang unveröffentlichte Texte und stellen Selbstzeugnisse in wissenschaftlichen Editionen zur Verfügung. Veröffentlicht werden auch exemplarische Analysen sowie beschreibende Verzeichnisse und Übersichten. Die Herausgeber und Herausgeberinnen wollen auf diese Weise Texte zugänglich machen, die ein größeres wissenschaftliches Interesse verdienen.
Claudia Ulbrich Hans Medick Angelika Schaser (Hg.)
Selbstzeugnis und Person Transkulturelle Perspektiven
2012 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Pablo Picasso, Femme écrivante, 1934. © Succession Picasso/VG Bild-Kunst, Bonn 2012. © 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Kornelia Kaschke-Kisaarslan Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20853-0
Inhalt
Vorwort …………………………………………………………………………
IX
Einleitung CLAUDIA ULBRICH/HANS MEDICK/ANGELIKA SCHASER: Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven ………………….……………………
1
CLAUDIA ULBRICH: Die DFG-Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“. Ein Projektbericht ……………………………………
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Person. Text und Kontext CLAUDIA ULBRICH: Einführung: Person. Text und Kontext .….…………………
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ELKE HARTMANN/GABRIELE JANCKE: Roupens Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs (1921/1951) im transepochalen Dialog. Konzepte und Kategorien der Selbstzeugnis-Forschung zwischen Universalität und Partikularität .….….…………………………….…………
31
Relational Selves HANS MEDICK: Introduction: Relational Selves ………………………………….
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JAMES S. AMELANG: Transcultural Autobiography, or The Lives of Others ………………………………………………………………………
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JACQUELINE VAN GENT: The Lives of Others. Moravian Indigenous Converts’ Writings and the Politics of Colonial Autobiographies. A Response to James S. Amelang .……………….……….…………………
87
VI
Inhalt
Textstrukturen – Schreibkulturen FRANZISKA ZIEP: Einführung: Textstrukturen – Schreibkulturen .……………….
103
FRANZISKA ZIEP: Erzählen ohne Ende. Lebensgeschichten im 16. Jahrhundert am Beispiel der autobiographischen Texte von Ludwig von Diesbach (1488/1518) und Thomas Platter (1572) ………………………….
105
JUDIT ÁROKAY: Muster der Selbstbeschreibung. Japanische Autobiographien zwischen Tradition und Moderne .…….…….………….…
123
CHRISTA WETZEL: Schreibend leben. Heinrich Witt (1799-1892) und sein Tagebuch im Lima des 19. Jahrhunderts .…….…………………….
139
SOPHIE HÄUSNER: „Ich glaube nicht, daß ich es für mich behalten darf.“ Autobiographische Veröffentlichungen von Krankenschwestern zum Ersten Weltkrieg …………………………….…………………………
155
IRMELA HIJIYA-KIRSCHNEREIT: Textstrukturen – Schreibkulturen. Ein Kommentar …………………………………………………………….
173
Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten HANS MEDICK: Einführung: Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten ……………….
181
GESINE CARL: Asket, Gelehrter, Hirtenhund. Koexistenz und Konkurrenz von Selbstentwürfen in frühneuzeitlichen Konversionserzählungen .….….….
183
ULRICH MÜCKE: Autobiographisches Schreiben und Kolonialismus in Peru …….
201
MILTOS PECHLIVANOS: Vom Dragoman der Osmanen zum Dragoman der Heimat. Mehrsprachigkeit und Personkonstitution im griechischsprachigen Osmanischen Reich ………………………………………….….
227
RICHARD WITTMANN: Französische Hemden, österreichische Dampfschiffe und deutsche Lokomotiven. Fremde Dinge in der Selbstverortung des islamischen Mystikers Aşçı Dede İbrahim ………………………………
243
KIRSTEN RÜTHER: Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten. Ein Kommentar aus der Perspektive afrikawissenschaftlicher Forschung .…………………….
263
Inhalt
VII
Differenzmarkierungen ANDREAS BÄHR/PETER BURSCHEL/CHRISTINE VOGEL: Einführung: Differenzmarkierungen .………………….…………………………………
273
ANDREAS BÄHR: „Flucht und Zueflucht“. „Türkenfurcht“ im Tagebuch Balthasar Kleinschroths (1686) .…………………………………………….
275
ABDULLAH GÜLLÜOĞLU: Dämonen, böse Geister und unreine Hunde. Differenzmarkierungen im Gesandtschaftsbericht des Zülfikâr Efendi von 1688-1692 ………………………………………………………
295
CHRISTINE VOGEL: Osmanische Pracht und wahre Macht. Zur sozialen Funktion von Differenzmarkierungen in diplomatischen Selbstzeugnissen des späten 17. Jahrhunderts .…………………………………….
315
PETER BURSCHEL: „j’avais le plaisir de me voir comparée à tous les astres“. Gelebte Räume in den Memoiren der Kurfürstin Sophie von Hannover ……………………………………………………… BARBARA KELLNER-HEINKELE: Die große Geschichte in der kleinen Geschichte. Ein Kommentar aus osmanistischer Perspektive .………………
335
349
Schreiben und Erinnern ANGELIKA SCHASER: Einführung: Schreiben und Erinnern .……….…………….
355
HÜLYA ADAK: Beyond the Catastrophic Divide. Walking with Halide Edib (the Turkish „Jeanne d‘Arc“) through the Ambiguous Terrains of World War I ……………………………………………………
357
ANGELIKA SCHASER: Schreiben um dazuzugehören. Konversionserzählungen im 19. Jahrhundert .………….…………………………………
381
PETRA BUCHHOLZ: Schreiben tut weh. Die Erinnerungen der Chinaheimkehrer an den Vernichtungskrieg ………………………………………
399
WOLFGANG SCHWENTKER: Schreiben und Erinnern. Ein vergleichender Kommentar …………………………………………………………………
419
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .……………………………………….
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Vorwort
Dieser Band versammelt die Beiträge der Tagung „Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven“, die von der DFG-Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“ vom 24.-26. März 2010 im Harnack-Haus in Berlin-Dahlem veranstaltet worden ist. Die damals gehaltenen Vorträge und Kommentare wurden überarbeitet und durch eine Einleitung sowie einen neu eingeworbenen Beitrag ergänzt. Das Konzept der Tagung wurde von der Forschergruppe gegen Ende des Förderzeitraums (2004-2010) mit dem Ziel entwickelt, die wesentlichen Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit zu präsentieren und von dazu geladenen Experten und Expertinnen kommentieren und diskutieren zu lassen. Eine Installation mit dem Titel „Touch me! Black Box Identity“ von Sonja Heyer setzte das Thema in einen künstlerischen Rahmen. Angela Heimen, Nina Mönich und Judit Weiss unterstützten die Leiterin der Forschergruppe, Claudia Ulbrich, bei der Ausrichtung der Tagung und trugen wesentlich zur produktiven Atmosphäre dieser Konferenz bei. Vortragende, Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung haben engagiert und konzentriert zweieinhalb Tage über Selbstzeugnisse und Person debattiert und viele Anregungen gegeben, die dann in die schriftliche Fassung der Aufsätze eingehen konnten. Die Redaktion der Texte übernahmen Kornelia Kaschke-Kısaarslan, Nina Mönich und Eva Schnick, die das Manuskript in verschiedenen Phasen nicht nur korrigierten und zuletzt das Layout erstellten, sondern auch hilfreiche Hinweise für die Veröffentlichung beisteuerten. All diesen Personen gilt unser herzlicher Dank. Ganz besonders danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die Forschergruppe und diese Tagung gefördert hat. Die Kapitelüberschriften des Buches benennen Themen, die für die Arbeit der Forschergruppe von zentraler Bedeutung waren. Sie werden in der Einleitung eingeführt, ohne dass der Inhalt der Aufsätze referiert wird. Wir hoffen, damit den Leserinnen und Lesern dieses Bandes Anregungen zu geben, sich selbständig auf Entdeckungsreise durch das Buch zu begeben. Berlin, im Februar 2012
Claudia Ulbrich Hans Medick Angelika Schaser
CLAUDIA ULBRICH/HANS MEDICK/ANGELIKA SCHASER
Selbstzeugnis und Person Transkulturelle Perspektiven
Lange hat man Selbstzeugnisse für eine typisch europäische Form des Schreibens gehalten und mit eurozentrischen Konzepten von Individualität bzw. eines „universalen“ Selbst verbunden, die den Weg in die Moderne teleologisch als Weg in die Freiheit des Subjekts und in die Wirtschaftsformen der westlichen Welt begründen.1 Mit einer solchen Engführung wurde der Blick verstellt für die faszinierende Vielfalt und Vielschichtigkeit, in der Menschen in verschiedenen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten über ihr eigenes Leben geschrieben haben. Diese wurde erst sichtbar, als die Forschung sich von dem engen Gattungsbegriff der Autobiographie gelöst und mit einem weiten Textsortenbegriff zu arbeiten begonnen hat. Seit in den 1980er Jahren ausgehend von Forschungen in den Niederlanden der Begriff Egodocument aufgekommen war, mit dem Tagebücher, Memoiren, persönliche Briefe und andere autobiographische Schriften zu einer Textgruppe zusammengefasst wurden2, wurden immer mehr Texte entdeckt, die als Egodocument gelesen werden können. Anstelle der kleinen Gruppe literarisch gebildeter Autorinnen und Autoren rückten nun Männer und Frauen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und aus verschiedenen Kulturen, die ein Egodocument verfasst hatten, in den Fokus der Forschung. James Amelang, der mit „The Flight of Icarus“ eine grundlegende Studie über die populare Autobiographie in Spanien verfasst hat, verdanken wir den Nachweis, dass das Schreiben über das eigene Leben auch bei jenen Menschen verbreitet war, denen gerne unterstellt wird, dass ihnen die Schriftkultur fremd geblieben sei.3 Das Interesse an Texten, deren Verfasserinnen und Verfasser nicht der Elite zuzurechnen sind, war auch einer der Gründe, warum sich die deutschsprachige Forschung seit den 1980er Jahren verstärkt autobiographischen Quellen zuwandte.4
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GABRIELE JANCKE/CLAUDIA ULBRICH, Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, in: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. Hg. DIES. Göttingen 2005 S. 7-27. RUDOLF DEKKER, Egodocumenten. Een literatuuroverzicht, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 101. 1988 S. 161-189. Zur niederländischen Selbstzeugnisforschung siehe: http://www.egodocument.net [Zugriff am 21.10.2011]. JAMES S. AMELANG, The Flight of Icarus. Artisan Autobiography in Early Modern Europe. Stanford 1998; DERS., Saving the Self from Autobiography, in: Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit. Individualisierungsweisen in interdisziplinärer Perspektive. Hg. KASPAR VON GREYERZ. München 2007 S. 129-140. Ein herausragendes, mittlerweile schon klassisches Beispiel ist: Ein Söldnerleben im Dreißigjährigen Krieg. Eine Quelle zur Sozialgeschichte. Hg. JAN PETERS. Berlin 1993. Der Text erschien als Bd. 1 der Reihe „Selbstzeugnisse der Neuzeit“. Eine Neuauflage ist in Vorbereitung.
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Claudia Ulbrich/Hans Medick/Angelika Schaser
Im Zuge des anthropologischen Perspektivenwechsels in der deutschen Geschichtswissenschaft war das Interesse für „die Ausdrucksweisen und Wahrnehmungen, die Verhaltensdispositionen und das Handeln historischer Subjekte“ stark angestiegen.5 Man hoffte, mit Hilfe von Selbstzeugnissen Zugang zu den Lebenswelten und Erfahrungshorizonten gerade auch von solchen Männern und Frauen zu erhalten, die nicht der Elite angehörten. Über die Frage, ob Egodocument bzw. das von Winfried Schulze vorgeschlagene Egodokument oder aber Selbstzeugnis der bessere Begriff sei, gab es lange Auseinandersetzungen.6 Inzwischen ist trotz allen Unbehagens im deutschsprachigen Raum die Bezeichnung Selbstzeugnis für jene Quellen üblich, die in anderen europäischen Sprachen mit dem auf den niederländischen Historiker Jacques Presser zurückgehenden Begriff Egodocument bezeichnet werden.7 Das Interesse für neue, bisher wenig beachtete Texte führte in Frankreich dazu, jenen Schriften eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken, die außerhalb einer Institution entstanden sind und in denen eine Person ihre eigenen Ansichten über sich, ihr Umfeld, die Gemeinde oder die Welt zum Ausdruck bringt.8 Seit 2003 werden sie unter dem Titel „Les écrits du for privé“ systematisch erschlossen, ediert und erforscht.9 Während hier 5 6
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KASPAR VON GREYERZ/HANS MEDICK/PATRICE VEIT, Vorwort, in: Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500-1850). Hg. DIES. Köln usw. 2001 S. IX. Ein wichtiger Referenzpunkt für diese Diskussion ist der Artikel: BENIGNA VON KRUSENSTJERN, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2. 1994 S. 462-471 sowie ANDREAS RUTZ, Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: zeitenblicke 1/2. 2002, URL: [Zugriff am 20.12.2011]. Zur Abgrenzung zwischen Egodocument und Autobiographie: ARIANNE BAGGERMAN, Lost Time. Temporal Discipline and Historical Awareness in Nineteenth-Century Dutch Egodocuments, in: Controlling Time and Shaping the Self. Developments in Autobiographical Writing since the Sixteenth Century. Hg. DIES./ RUDOLF DEKKER/MICHAEL MASCUCH. Leiden 2011 S. 455-541, 455ff. JACQUES PRESSER, Memoires als Geschiedbron, in: Algemene Winkler Prins Encyclopedie VII, Amsterdam 1958 S. 208-210. Neuabdruck in: Uit het werk van dr. J. Presser. Hg. M.C.BRANDS/J. HAAK, PH. DE VRIES. Amsterdam 1969 S. 277-282. Der Begriff wurde von Rudolf Dekker in einen breiteren historischen Kontext übertragen, vgl. dazu: RUDOLF DEKKER, Introduction, in: Egodocuments and History. Autobiographical Writing in its Social Context since the Middle Ages. Hg. DERS. Hilversum 2002 S. 7-20. Der Begriff geht zurück auf Madeleine Foisil, die 1986 in der „Histoire de la vie privée“. Hg. PHILIPPE ARIÉS/GEORGES DUBY. Paris 1985-1987, Bd. 3 „De la Renaissance aux Lumières“ Hg. PHILLIPE ARIÈS/ROGER CHARTIER. Paris 1986 S. 331-369 ein Kapitel über „L’écriture du for privé“ verfasst hat. In der deutschen Ausgabe „Geschichte des privaten Lebens“. Band 3 „Von der Renaissance zur Aufklärung“ (Frankfurt a. M. 1991 S. 333) findet sich die wenig glückliche Übersetzung „Die Spache der Dokumente und die Wahrnehmung des privaten Lebens.“ Jean-François Courouau und Sylvie Mouysset verstehen unter „les écrits du for privé“ „tous les textes produits hors institution et témoignant d’une prise de parole personelle d’un individu sur lui-même, les siens, sa communauté, le monde tel qi’il le perçoit à travers son regard et sa plume singulière.“ S. JEAN-FRANÇOIS COUROUAU/SYLVIE MOUYSSET, À la recherche des écrits du for privé du Midi de la France et Catalogne, in: Annales du Midi. Revue de la France méridionale 122/270. 2010 S. 165-173, hier 166). Die an der Université de Paris-Sorbonne eingerichtete und von Jean-Pierre Bardet und FrançoisJoseph Ruggiu geleitete Forschergruppe (GDR 2649 „Les écrits du for privé en France de la fin du
Selbstzeugnis und Person
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das Private und Intime Bezugspunkt vieler Forschungen ist, ist die deutschsprachige Selbstzeugnisforschung, deren Fokus auf der Epoche der Frühen Neuzeit liegt, nach wie vor geprägt durch die enge Verbindung zum Narrativ der Entstehung des modernen Individuums.10 Ein Subjektbegriff, der sich a priori auf ein Individuum bezieht, das nach Autonomie, Freiheit und Selbsttransparenz strebt, ist als Fluchtpunkt für Forschungen, die transepochal oder transkulturell angelegt sind, jedoch eher ungeeignet. Eine solche Kategorie kann nicht losgelöst vom Ort und der Zeit ihrer Entstehung ins Spiel gebracht werden. Gleiches gilt auch für die Kategorien von Selbst und Identität11, von Privatheit und Intimität.12 Nicht nur die vorweggenommene Referenz auf das Individuum oder das Selbst, sondern auch der Bezug auf ein Dokument oder Zeugnis mit einem hohen beschriebenen Ich- oder Selbstanteil, der in den Begriffen Egodocument und Selbstzeugnis enthalten ist, ist problematisch. Autobiographische Quellen sind weder authentische, unmittelbare Dokumente, die im Unterschied zu literarischen Texten vor allem auf ihren Wahrheitsgehalt hin befragt werden können, noch unmittelbare Zeugnisse eines Ego. Kaspar von Greyerz hat in einem 2010 erschienenen Aufsatz „Ego-Documents. The Last Word?“ noch einmal ganz explizit darauf verwiesen, wie problematisch es ist, den Begriff Egodocument auf Texte anzuwenden, die vor dem 20. Jahrhundert entstanden sind. Denn wir haben, so sein Argument, kaum Möglichkeiten, zum Ego einer historischen Person vorzudringen.13 Er greift in diesem Zusammenhang den Begriff Self-narrative auf, den wir in unserer Forschergruppe stark gemacht hatten, um den narrativen Charakter der Quellen zu betonen und die Notwendigkeit zu unterstreichen, nach Strategien und Schreibmustern zu fragen, wenn man Selbstzeugnisse interpretieren will.14 Während Egodocument ein Neologismus ist, der von Jacques Presser im Zusammenhang mit den Erfahrungen und Erzählungen von Holocaustüberlebenden eingeführt und
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Moyen Âge à 1914“) hat bereits mehrere Publikationen vorgelegt. Mit besonderem Bezug auf die europäische Selbstzeugnisforschung: Les écrits du for privé en Europe du Moyen Âge à l’époque contemporaine. Enquêtes, analyses, publications. Hg. JEAN-PIERRE BARDET/ELISABETH ARNOUL/ FRANÇOIS-JOSEPH RUGGIU. Bordeaux 2010. Ein Überblick über die Aktivitäten der Gruppe findet sich unter: http://www.ecritsduforprive.fr/ [Zugriff am 21.10.2011]. Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Individualisierung als einem makrohistorischen Interpretament s. den Band: Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit. Hg. VON GREYERZ (wie Anm. 3). Vgl. dazu CHARLES TAYLOR, Sources of the Self. The Making of Modern Identity. Cambridge 1989 und die für die Selbstzeugnisforschung wichtige, kritische Weiterführung seiner Überlegungen durch DROR WAHRMAN, The Making of the Modern Self. Identity and Culture in Eighteenth-Century England. New Haven 2004. Wahrman problematisiert Taylors Ausgangspunkt von der Geschichte der Philosophie und schlägt stattdessen einen Zugang zum Selbst über eine historische Epistemologie (in Anlehnung an Lorraine Daston) vor, um herauszufinden, welche Konzepte dem Handeln und Denken von Menschen in einer bestimmten historischen Situation zugrunde liegen (S. XV). Dies trifft auch auf die in der französischen Forschung vorgenommene Fokussierung auf das Intime und Private zu, die letztlich auch Teil eines modernisierungstheoretischen Masternarrativs ist. KASPAR VON GREYERZ, Ego-Documents. The Last Word?, in: German History 28/3. 2010 S. 273282, hier 281. Siehe dazu die Homepage der DFG Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“ unter http://www.cms.fu-berlin.de/dfg-fg/fg530/en/index.html [Zugriff am 07.01.2012] und den Bericht von CLAUDIA ULBRICH in diesem Band S. 21-26.
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Claudia Ulbrich/Hans Medick/Angelika Schaser
für diesen Kontext schlüssig begründet worden ist15, handelt es sich bei Selbstzeugnis um ein Wort mit einer langen Geschichte. Die Vorstellung, dass man mit dem Schreiben „Zeugnis“ von sich ablegt, ist bereits in spätmittelalterlichen Quellen nachgewiesen. 16 Erste Belege für das Kompositum Selbstzeugnis finden sich im späten 16. Jahrhundert, sind aber eher in einem religiösen oder säkular humanistischen Kontext im Sinne von „Selbstaussage, Selbstcharakterisierung, Bekenntnis“ zu verstehen. 17 1810 nimmt Joachim Heinrich Campe den seit dem 18. Jahrhundert vermehrt in einem säkularen Verwendungszusammenhang auftretenden Begriff Selbstzeugnis in sein „Wörterbuch der Deutschen Sprache“ auf und versteht darunter „[…] das eigene Zeugniß, wie auch ein Zeugniß, welches man sich selbst giebt“. 18 Nachdem Anfang des 20. Jahrhunderts Selbstzeugnisse als kulturhistorisch interessante Quellen besondere Beachtung gefunden hatten19, gelten sie seit ihrer Wiederentdeckung im Rahmen der neuen Kulturgeschichte als Quellen, die schon allein deshalb ganz neue Einsichten ermöglichen, weil sie einen Weg ebnen, Geschichte in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit aus der Perspektive handelnder Menschen zu denken und zu schreiben. Dabei geht es nicht nur um die Frage nach der Konstitution des Selbst und der Wahrnehmung des Anderen, sondern auch um Themen des alltäglichen Lebens, wie die Sozialisierung in Kindheit, Jugend und Familie oder um Körpererfahrung und Körperwahrnehmung, um Religion und Magie, um Lesepraktiken20, um Zeit- und Raumwahrnehmung, um Machtverhältnisse und Gewalterfahrungen und nicht zuletzt auch um Erinnerung.21 Zu den wichtigsten Weiterungen der neueren Selbstzeugnisforschung gehört die Erkenntnis, dass Selbstzeugnisse in vielen Kulturen auf Gemeinschaften und Zugehörig15 JACQUES PRESSER, Memoires als Geschiedbron (wie Anm. 7); vgl. dazu: RUDOLF DEKKER, Jacques Presser’s Heritage. Egodocuments in the Study of History, in: Memoria y Civilización 5. 2002 S. 13-37 – Jacques Pressers eigene Lebensgeschichte wurde als beeindruckendes Selbstzeugnis im Jahr 1970 von Philo Bregstein verfilmt unter dem Titel: The Past That Lives („Dingen Die Niet Voorbij Gaan“), vgl.: http://www.presserfilm.com/thefilm [Zugriff am 07.01.2012]. 16 VON KRUSENSTJERN, Was sind Selbstzeugnisse? (wie Anm. 6) S. 462 verweist auf einen Ausschnitt aus der Familienchronik des Danziger Krämers Jacob Lubbe, die zwischen 1465 und 1489 verfasst worden ist: „Item dis buch schreibe ich, was ich gedencken sol und zeugnisse geben von mihr“ (Scriptores Rerum prussicarum. Bd. 4. Leipzig 1870 S. 698). 17 Die Herausgeber danken Herbert Schmidt von der Redaktion des deutschen Fremdwörterbuchs am Institut für Deutsche Sprache, Mannheim, für seine freundliche Auskunft. 18 JOACHIM HEINRICH CAMPE, Wörterbuch der deutschen Sprache. T. 4 Braunschweig 1810 S. 410. 19 Zur Geschichte des Begriffs und seiner Übertragbarkeit auf mittelalterliche Texte: SABINE SCHMOLINSKY, Selbstzeugnisse im Mittelalter, in: Das dargestellte Ich. Studien zu Selbstzeugnissen des späteren Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. KLAUS ARNOLD/SABINE SCHMOLINSKY/URS MARTIN ZAHND. Bochum 1999 S. 19-28, hier 20f. 20 JEROEN BLAAK, Literacy in Everyday Life. Reading and Writing in Early Modern Dutch Diaries. Übers. von BEVERLEY JACKSON. Leiden 2009. 21 Eindrücklich wurde die Themenvielfalt dokumentiert in dem Band: Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500-1850). Hg. VON GREYERZ/MEDICK/VEIT (wie Anm. 5). – Zu Selbstzeugnissen als Quellen für einzelne Lebensphasen s.: KASPAR VON GREYERZ, Passagen und Stationen. Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne. Göttingen 2010. – Zur Bedeutung des Raumes: Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell. Hg. ANDREAS BÄHR/PETER BURSCHEL/GABRIELE JANCKE. Köln usw. 2007. – Zum Zeitverständnis: Controlling Time and Shaping the Self. Hg. BAGGERMAN/ DEKKER/ MASCUCH (wie Anm. 6).
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keiten bezogen sind. Dies heißt, wie Gabriele Jancke betont, dass die Bedeutung der Selbstzeugnisse nicht nur in einer Geschichte des Selbst bzw. der Individualität liegt, sondern auch „in einer Geschichte der Sozialität, in deren Rahmen die möglichen sozialen Räume für Individuen bereitgestellt oder verweigert, gestaltet oder eingebunden werden“.22 Selbstzeugnisse sind immer auch Zeitzeugnisse, die direkt oder indirekt Bezug nehmen auf das gesellschaftliche, kulturelle und politische Umfeld der Zeit, in der sie verfasst wurden und in der ihre Verfasserinnen und Verfasser schrieben und handelten. Sie führen über die „Horizonte des Individuellen“ hinaus und ermöglichen, neue Sichtweisen auf die untersuchten Gesellschaften zu entdecken.23 Dabei kann es sehr hilfreich sein, sich den Texten auf dem Weg des dezentrierenden Vergleichens24 zu nähern und vor allem in Bezug auf die Praktiken und Wahrnehmungen nach Unterschieden und Ähnlichkeiten zu fragen. Im vorliegenden Band werden europäische, osmanische, japanische und lateinamerikanische Selbstzeugnisse untersucht, wobei einige Beiträge stärker von den Texten her argumentieren, während bei anderen der thematische Bezug überwiegt. Praktiken des Schreibens, die Rolle der Erinnerung und die Bedeutungen von Zugehörigkeiten gehören zu den übergreifenden Aspekten, die in diesem Band zur Sprache kommen.
Praktiken des Schreibens Im weitesten Sinne lassen sich Selbstzeugnisse als Texte verstehen, in denen Personen ihr Leben zum Thema machen. Warum und wie sie dies tun, ist von Text zu Text und von Kultur zu Kultur verschieden. Denn das Schreiben über das eigene Leben kann in sehr unterschiedlichen Genres erfolgen. Die Entscheidung, warum und wie sie schreiben, treffen die Verfasserinnen und Verfasser meistens selbst.25 Dabei werden sie nicht nur von ihren Schreibabsichten geleitet, sondern auch von ihren eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, sich auszudrücken und ihr Leben zu erzählen, ebenso wie von Traditionen, Normen, Werten, Gefühlen und Erfahrungen. Sie haben Schreibkonventionen zu 22 GABRIELE JANCKE, Jüdische Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente der Frühen Neuzeit in Aschkenas. Eine Einleitung, in: Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente frühneuzeitlicher Juden in Aschkenas. Beispiele, Methoden und Konzepte. Hg. BIRGIT E. KLEIN/ROTRAUD RIES. Berlin 2011 S. 9-26, hier 15. 23 Mit diesem Konzept arbeitet ASTRID MEIER, Dimensionen und Krisen des Selbst in biographischen und historischen Schriften aus Damaskus im 17. und 18. Jahrhundert, in: Zwischen Alltag und Schriftkultur. Horizonte des Individuellen in der arabischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. STEFAN REICHMUTH/FLORIAN SCHWARZ. Beirut und Würzburg 2008 S. 1-21. 24 Diese Perspektive wurde als methodische Forderung zuerst von Natalie Zemon Davis auf dem Internationalen Kongress der Geschichtswissenschaften in Madrid 1990 eingeführt. Vgl. hierzu HANS MEDICK, Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikro-Historie im Blickfeld der Kulturanthropologie, in: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis der Alltagsgeschichte. Hg. Berliner Geschichtswerkstatt. Münster 1994 S. 94-109, hier 102. 25 Sehr anregend für diesen Kontext ist die Keynote Address von NATALIE ZEMON DAVIS „Revealing, Concealing. Ways of Recounting the Self in Early Modern Times“ (Video) für die Tagung „Egodocuments. Revelation of the Self in the Early Modern Period“ (University of Texas at Austin, 21-23 August 2011) http://itunes.apple.com/itunes-u/early-modern-workshop-audio/id493085739 [Zugriff am 08.01.2012].
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beachten, die manchmal von der Gesellschaft, manchmal auch vom Genre selbst vorgegeben sind. Zu diesen Schreibkonventionen gehören die Sagbarkeitsregeln, die Petra Buchholz in den Erinnerungen japanischer Chinaheimkehrer untersucht 26 ebenso wie Formen des indirekten Sprechens, mit denen Frauen, manchmal aber auch Männer, ihren Aussagen mehr Nachdruck verleihen.27 Um zu schreiben, musste man in der Regel Zeit haben und die Möglichkeit, diese mit Schreiben zu verbringen. Während das Schreiben für gelehrte und adlige Männer und Frauen oder auch für Kleriker und viele Nonnen oft eine Selbstverständlichkeit war, mussten die meisten nichtadligen Frauen und viele Männer, die aus der Mittel- oder Unterschicht kamen, sich rechtfertigen, wenn sie lesen wollten oder ihre Zeit mit dem Verfassen eines Selbstzeugnisses verbrachten. Wie wenig Anerkennung ein solcher „Zeitvertreib“ in der Familie und Nachbarschaft zuweilen einbrachte, belegen die Beispiele der „gelehrten Landleute“ Ulrich Bräker und Heinrich Bosshard von Rümikon eindrücklich. Beide haben trotz aller Widerstände ihres sozialen Umfelds, auf die sie bei ihrem Schreiben stießen, umfangreiche Schriften hinterlassen.28 Auch für den Elsässer Kannengießer Augustin Güntzer stellte seine Freude am Schreiben und Lesen ein soziales Problem dar, denn in seiner Welt hatten Geselligkeiten einen hohen sozialen Wert, den andere von ihm einforderten und auch gewaltsam erzwingen wollten.29 Andere schrieben in Notund Gefahrensituationen und unter Bedingungen knappster Zeit. Zu ihnen zählen Menschen wie der Hessen-Nassauische Pfarrer Johannes Plebanus, der auf der Flucht und in einer Situation von Todesgefahr mitten im Dreißigjährigen Krieg einen kurzen Lebenslauf verfasste zur Erinnerung an den von ihm erlebten „Jammer, Ruin und Verderben“, falls er umkommen und seine Familienangehörigen und deren Nachfahren überleben sollten.30 Unter ähnlichen lebensbedrohenden Bedingungen verfasste der Romanist Victor Klemperer in Dresden umfangreiche Selbstzeugnisse. Als Jude, der während der NS-Zeit schrieb, war er gezwungen, seine umfangreichen Tagebücher, die er als Quellen für seine Erinnerungen nutzte, nach Fertigstellung einzelner Kapitel aus Sicherheitsgründen zu vernichten. Die fertiggestellten Teile seines Curriculum Vitae schaffte er jeweils schnell aus dem Haus.31 Solche Texte können in besonderer Weise als „Zeugnisse“ vom „Selbst“ verstanden werden, versuchen sie doch, in der Formulierung Walter Benjamins, „ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr
26 Beitrag BUCHHOLZ in diesem Band S. 399-417; sowie DIES., Vom Teufel zum Menschen. Die Geschichte der Chinaheimkehrer in Selbstzeugnissen. München 2010. 27 CLAUDIA ULBRICH, Person and Gender. The Memoirs of the Countess of Schwerin, in: German History 28/3. 2010 S. 296-309. 28 ULRICH BRÄKER, Sämtliche Schriften. In 5 Bänden. Hg. ANDREAS BÜRGI u.a. München 1998-2010; HEINRICH BOSSHARD VON RÜMIKON, Eines schweizerischen Landmannes Lebensgeschichte. Hg. DANIEL SCHMID im Auftrag der Gemeinde Elsau. Selbstverlag 2005. 29 JANCKE/ULBRICH, Vom Individuum zur Person (wie Anm. 1) S. 18. 30 S. hierzu mit Zitat HANS MEDICK, Der Dreißigjährige Krieg als Erfahrung und Memoria. Zeitgenössische Wahrnehmungen eines Ereigniszusammenhangs, in: Der Dreißigjährige Krieg. Facetten einer folgenreichen Epoche. Hg. PETER C. HARTMANN/FLORIAN SCHULLER. Regensburg 2010 S. 158-172, 199-204, hier 166. 31 WALTER NOWOJSKI in seinem Nachwort zu VICTOR KLEMPERER, Curriculum Vitae. Erinnerungen 1881-1918. Bd. 2. Berlin 1996 S. 749.
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dem historischen Subjekt unversehens einstellt.“32 Ein extremes Beispiel für das Schreiben in einer Grenzsituation sind die vom eiligen Schreibduktus und den Zwängen der Schreibsituation geprägten Abschiedsnotizen von Hirotsugu Kawaguchi für seine Familie, die sich über sieben Seiten seines kleinen Notiz-Termin-Kalenders erstrecken. Sie wurden 1985 beim Absturz einer Boing 747 der Japan Airlines in den 32 Minuten des Trudelflugs vor dem endgültigen Crash geschrieben, mit der sicheren Katastrophe vor Augen.33 Wer nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere schrieb, sei es für die eigenen Kinder und die Familie, für Freundinnen oder Freunde oder für eine wie auch immer geartete anvisierte Öffentlichkeit, war darauf angewiesen, dass der Text diejenigen erreichte, für die er bestimmt war, dass er gelesen, gedruckt oder zumindest überliefert wurde. Nicht nur die Überlieferungschancen variierten je nach Herkunft, Stand, Geschlecht, Alter oder kultureller Zugehörigkeit, auch die Schreibanlässe konnten sehr verschieden sein. Menschen schrieben ihr Leben nicht nur auf, um sich zu rechtfertigen oder um sich selbst darzustellen, sondern auch um nachzuahmen, um dazuzugehören, um der Nachwelt ein Exempel zu geben oder um ihren Platz in der Welt zu bestimmen. Umbruchzeiten und politische Systemwechsel wie der Dreißigjährige Krieg, die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege, der Erste und der Zweite Weltkrieg, die Revolution in Kuba34 oder die Wende von 1989 scheinen viele Menschen in besonderem Maße veranlasst zu haben, Selbstzeugnisse zu verfassen. Der Versuch, eine Kontinuität des Lebens über die erlebten Brüche hinweg zu konstruieren, kann dabei ebenso ein leitendes Motiv gewesen sein35, sein Leben aufzuschreiben wie auch das erhöhte Interesse des Publikums an der Lektüre von Erinnerungen. Regula Engel etwa, die 1821 ihre Lebensgeschichte schrieb, tat dies auch, weil sie mit ihrem Schreiben ihren Lebensunterhalt verdienen wollte.36 Gleichzeitig reihte sie sich in die große Zahl derer ein, die nach der Französischen Revolution ihre Memoiren verfassten, um diese wichtige Zeit aus ihrer persönlichen Sicht heraus darzustellen, ihre eigenen Leistungen hervorzuheben und sich gegenüber den Anfeindungen ihrer Gegner zu schützen.37 Ähnliche Absichten finden sich auch in Roupens „Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs“,
32 WALTER BENJAMIN, Geschichtsphilosophische Thesen, These 6, in: DERS., Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, Hg. ROLF TIEDEMANN/HERRMANN SCHWEPPENHÄUSER. BERLIN 31990 S. 695. 33 S. Pittsburgh Post Gazette 27.07.2006 http://www.post-gazette.com/pg/06208/709077-82.stm [Zugriff am 25.1.2012]; Bangor Daily News 19.8.1985: http://news.google.com/newspapers? nid=2457&dat=19850819&id=uwU1AAAAIBAJ&sjid=Ck8KAAAAIBAJ&pg=5087,1366104 [Zugriff am 25.01.2012]; s. hierzu auch: CHRISTOPHER P. HOOD, Dealing with Disaster in Japan. Responses to the Flight JL123 Crash. London 2011. 34 Beitrag von ULRICH MÜCKE in diesem Band S. 201-225. 35 Beitrag von ANGELIKA SCHASER in diesem Band S. 381-398. 36 CLAUDIA ULBRICH, Deutungen von Krieg in den Lebenserinnerungen der Regula Engel, in: Krieg und Umbruch um 1800. Das französisch dominierte Mitteleuropa auf dem Weg in eine neue Zeit. Hg. UTE PLANERT. Paderborn 2008 S. 297-314. 37 HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK, Die „Vainqueurs de la Bastille“. Kollektiver Diskurs und individuelle „Wortergreifungen“, in: Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins. Vorlagen und Diskussionen der internationalen Arbeitstagung am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, 28. Mai – 1. Juni 1985. Hg. REINHART KOSELLECK/ROLF REICHARDT. München 1988 S. 321-357.
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die Gabriele Jancke und Elke Hartmann im vorliegenden Band analysieren.38 Die beiden Autorinnen zeigen in einem Versuch transepochaler Problematisierung zugleich das textorganisierende Prinzip des Exemplum auf, das in vielen europäischen Texten der Frühen Neuzeit sehr viel offensichtlicher war als bei Roupen. Denn frühneuzeitliche Verfasserinnen und Verfasser hatten ihre Schreibabsichten meist direkt als Leseanweisung mitgeliefert. Ein wichtiges Motiv ihres Schreibens lag in der Sorge für ihre Kinder und Nachkommen. Ihnen wollten sie nützliches Wissen, ihre Vorstellungen über Werte und Normen mit auf den Weg geben.39 Vor allem in Gesellschaften mit einem starken genealogischen Bewusstsein kam Selbstzeugnissen die Funktion zu, eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft herzustellen. In ihrer Funktion als Haushaltsvorstände schrieben seit der Renaissance viele Kaufleute in Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland ihre Familiengeschichte auf. 40 Auch im europäischen Adel bestand ein großes Bedürfnis, die Geschichte der Familie festzuhalten und sie diachron in die Ahnenfolge einzuordnen.41 Beim Adel übernahmen nicht nur Hausväter diese Aufgabe, hier griffen Männer und Frauen in unterschiedlichen familialen Positionen zur Feder und verfassten ihre Memoiren. Dabei ging es ihnen auch darum, Handlungsanweisungen für ihre Kinder und Erben zu formulieren. Dass das Schreiben für die Kinder nicht nur in der europäischen Frühen Neuzeit zentral war, zeigt die Untersuchung japanischer, arabischer oder afrikanischer Selbstzeugnisse.42 Dwight Reynolds und andere Forscherinnen und Forscher konnten in ihren Untersuchungen zur arabischen Autobiographie zeigen, welche Bedeutung den vertikalen Bindungen, anders gewendet, der Einordnung in eine Generationenkette zukam. Sie haben diesen Befund im größeren Kontext der Weitergabe von Wissen erklärt, die nicht nur in der arabischsprachigen Literatur im Medium autobiographischer Texte erfolgte.43 Zu den Brüchen im oben erwähnten Sinn gehören auch die Begegnung und Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne. Sie hatte, wie die Beiträge von Judith Árokay und Richard Wittmann zeigen, einen starken Impuls auf die autobiographische Produktion. Auch auf der Mikroebene lässt sich ein Zusammenhang zwischen erlebten Brüchen 38 ELKE HARTMANN/ GABRIELE JANCKE in diesem Band S. 31-71. 39 HARTMANN/JANCKE (wie Anm. 38) S. 44 ff. 40 Memoria, famiglia, identità tra Italia ed Europa nell’età moderna. Atti del convegno internazionale Trento, 4 – 5 ottobre 2007. Hg. GIOVANNI CIAPPELLI. Bologna 2009. 41 LOTTE VAN DE POL, Zum Prozess autobiographischer Gedächtnisarbeit. Die Erinnerungen der Prinzessin Wilhelmine von Oranien an ihre Berliner Kinderjahre, in: Historische Mitteilungen 19. 2006 S. 29-45. 42 STEPHAN F. MIESCHER, The Life Histories of Boakye Yiadom (Akasease Kofi of Abetifi, Kwawu). Exploring the Subjectivity and “Voices” of a Teacher-Catechist in Colonial Ghana, in: African Words, African Voices. Critical Practices in Oral History. Hg. LUISE WHITE/DERS./DAVID WILLIAM COHEN. Bloomington 2001 S. 163-193, hier 185; DERS., „My Own Life“. A. K. Boakye Yiadom’s Autobiography. The Writing and Subjectivity of a Ghanaian Teacher-Catechist, in: Africa’s Hidden Histories. Everyday Literacy and Making the Self. Hg. KARIN BARBER. Bloomington 2006 S. 27-51; DWIGHT F. REYNOLDS, Childhood in One Thousand Years of Arabic Autobiography, in: Edebiyât. Journal of Near Eastern Literatures. Special Issue: Arabic Autobiography 7.2 1996 S. 379-392; Beitrag von JUDITH ÁROKAY in diesem Band S. 123-137. 43 Interpreting the Self: Autobiography in the Arabic Literary Tradition. Hg. DWIGHT F. REYNOLDS. Berkeley usw. 2001 S. 242ff.
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und dem Verfassen von Selbstzeugnissen aufzeigen. Lebensgeschichtliche Einschnitte, wie der Tod eines engen Angehörigen oder der Glaubenswechsel waren nicht selten der Anlass, autobiographisch tätig zu werden. Eines der bekanntesten frühneuzeitlichen Beispiele ist Glikl bas Judah Leib, die ihre Erinnerungen nach dem Tod ihres ersten Mannes zu schreiben begann.44 Auch Konversionsberichte, wie sie Angelika Schaser und Gesine Carl analysieren, können zu den Texten zählen, in denen nach einem Bruch eine biographische Kontinuität konstruiert wird. Mit ihrem Schreiben konnten Konvertitinnen und Konvertiten versuchen, ihrem Leben Struktur zu geben. Sie konnten auch schreiben, um sich gegenüber ihren Kindern, ihrer Familie oder ihrer Gemeinde zu rechtfertigen, um sich in eine neue Gruppe einzubinden oder um zum Ausdruck zu bringen, wie sehr sie der göttlichen Gnade teilhaftig sind. Sie konnten einiges davon oder alles gleichzeitig tun. Dass es vielen Konvertitinnen und Konvertiten wichtig war, ihre Geschichte als Teil der göttlichen Vorsehung darzustellen, verweist auf einen weiteren zentralen Aspekt, der das Schreiben von Selbstzeugnissen beeinflussen konnte. Menschen im christlichen Europa der Frühen Neuzeit schrieben nicht nur über sich selbst und ihre Beziehung zu Mitmenschen, sondern setzten sich in diesem Schreiben über sich selbst immer auch in eine Beziehung zu Gott.45 Für diese Beziehung war nicht nur in der christlichen Welt der Glaube an die Vorsehung entscheidend. Daran erinnert Ahmet Hamdi Tanpinar, der mit „Das Uhrenstellinstitut“ einen der bedeutendsten türkischen Romane des 20. Jahrhunderts verfasst hat, wenn er schreibt: „Vielmehr bin ich seit jeher der Auffassung, der Herr habe den Menschen das Leben nicht dazu geschenkt, dass sie darüber schreiben, sondern damit sie es leben, so gut es eben geht. In geschriebener Form liegt es ohnehin bereits vor, denn unser aller Schicksal steht schon im großen Buch Gottes.“46 Welche Bedeutung die Auffassung, dass ein Leben vorherbestimmt ist, für das autobiographische Schreiben hat, hat Andreas Bähr am Beispiel divinatorischer Träume erläutert, die in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen häufig erzählt werden: „Die Erfüllbarkeit derartiger Träume war nur denkbar vor dem Hintergrund einer Vorsehung, in der das künftige schon geschehen war, vor dem Hintergrund einer Epistemologie, die auf einem teleologischen Kausalbegriff basierte, in der die Träume Ereignisse herbeiführten, indem sie sie anzeigten: indem sie sie abbildeten und bezeichneten.“47 Mit seinen Überlegungen verweist Andreas Bähr auf die Konstitutionsbedingungen von Person in Texten im Rahmen frühneuzeitlicher Wissensformen. Offen bleibt dabei die Frage der sozialen und kulturellen Reichweite dieses Wissens. Dies ist einer von vielen Punkten, an denen mit Bezug auf Selbstzeugnisse nicht nur über Partikularitäten und Universalisierbarkeiten nachgedacht werden muss, sondern auch über Möglichkeiten, sich von unausgesprochenen Vorannahmen zu 44 Die Memoiren der GLÜCKEL VON HAMELN. Autorisierte Übertragung nach der Ausgabe des Prof. Dr. David Kaufmann von Bertha Pappenheim. Wien 1910 (ND Weinheim 1994, mit einem Vorwort von Viola Roggenkamp). 45 Eva Kormann hat dies besonders betont und hierfür den Begriff der Heterologie als eines besonderen Charakteristikums frühneuzeitlicher Selbstzeugnisse eingeführt. EVA KORMANN, Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert. Köln usw. 2004. 46 AHMET HAMDI TANPINAR, Das Uhrenstellinstitut. Roman. Frankfurt a. M. 2010 S. 13 (zuerst türkisch 1962). 47 ANDREAS BÄHR, Furcht, divinatorischer Traum und autobiographisches Schreiben in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 34/1. 2007 S. 1-32.
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lösen, die das aufklärerische Denken mit den Begriffen von Individuum, Selbst und Person verbunden hat.48 Ganz anders bringt Robert Darnton die Träume ins Spiel, die der Pariser Glaser Ménétra in seinem Journal erzählt: Falls Ménétra der Walter Mitty49 des 18. Jahrhunderts ist, so gibt uns sein Selbstzeugnis die Möglichkeit zu erfahren, wovon die Menschen im 18. Jahrhundert träumten.50 Damit spricht er das große Problemfeld der Glaubwürdigkeit und Authentisierung an. Glaubwürdigkeit herzustellen, war ein zentrales Anliegen aller Menschen, die ein Selbstzeugnis verfassten. Dies konnte, wie die Beiträge von Ulrich Mücke für peruanische Selbstzeugnisse und von Sophie Häusner für den autobiographischen Roman „Die Katrin wird Soldat“ von Adrienne Thomas zeigen, auf sehr unterschiedliche Weise geschehen.51 Die Frage, wie dies geschah, zeigt einmal mehr, dass es sinnvoll und anregend ist, Texte aus verschiedenen Kulturen und Epochen zu einer Textgruppe zusammenzuführen und vergleichend auszuwerten, wobei, wie Elke Hartmann und Gabriele Jancke betonen, der Frage nach der Transferierbarkeit von Konzepten ein zentraler Stellenwert eingeräumt werden muss.52 Die Überlegungen zur Glaubwürdigkeit machen einmal mehr deutlich, wie wichtig es ist, bei der Interpretation von Selbstzeugnissen zwischen schreibender und beschriebener Person zu unterscheiden und die verschiedenen zeitlichen Ebenen, auf denen beide Personen angesiedelt sind, zu beachten. Damit verbunden ist die Frage nach der Rolle der Erinnerung.
Schreiben und Erinnern Erinnerungen werden in Worte gefasst und in dieser Form rezipiert oder ignoriert, weitergegeben oder vergessen. Während die Erforschung von Erinnerungen und Erinnerungskulturen in den Kulturwissenschaften hoch im Kurs steht53, steht die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem „erinnernden Schreiben“ noch am Anfang und konzentriert sich bislang auf literarische Erinnerungen54, obwohl die Verschriftlichung von Erinnerungen einen elementaren Teil allen autobiographischen Schreibens darstellt. In der Auseinandersetzung mit den kontrovers diskutierten Forschungsergebnissen zum menschlichen Gedächtnis aus der Neurophysiologie, der Neurobiologie und der Psychologie konzentrierten sich die meisten Forschungen in den Kulturwissenschaften seit Mitte der
48 Zum Personkonzept s. den Beitrag von ULBRICH in diesem Band (wie Anm. 14). 49 Walter Mitty (nach JAMES THURBERS, The Secret Life of Walter Mitty, in: The New York Times 18.03.1939) gilt als Metapher des Tagträumers. 50 ROBERT DARNTON, Préface, in: JACQUES-LOUIS MENETRA compangnon vitrier au XVIIIe siècle. Journal de ma vie. Hg. DANIEL ROCHE. Paris 1998 S. IV. 51 S. die Beiträge von ULRICH MÜCKE (wie Anm. 34) und SOPHIE HÄUSNER in diesem Band S. 155-171. 52 JANCKE/HARTMANN (wie Anm. 38) S. 71 f. 53 Vgl. dazu den Kommentar von WOLFGANG SCHWENTKER zum Kapitel Schreiben und Erinnern in diesem Band S. 419-426. 54 KLAUS SCHENK, Erinnerndes Schreiben. Zur Autobiographik der siebziger Jahre und ihren didaktischen Konsequenzen, in: Gedächtnis und kultureller Wandel. Hg. JUDITH KLINGER/GERHARD WOLF. Tübingen 2009 S. 19-31.
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1990er Jahre auf andere Felder.55 Dabei werden die Begriffe Gedächtnis, Memoria und Erinnerung oft miteinander verquickt und nach dem Verdrängten und Vergessenen, nach der Erinnerung einzelner sowie den Erinnerungen von Gruppen und Nationen, nach der Entwicklung von Erinnerungskulturen gefragt.56 Die Beiträge im vorliegenden Band profitieren von diesen Auseinandersetzungen, untersuchen jedoch nicht das komplexe Funktionieren des menschlichen Gedächtnisses, sondern konzentrieren sich auf die in Worte gewandelten Erinnerungen. Erinnerungen bestehen selbstverständlich nicht nur aus Texten. Aber die Formulierung mit Worten zwingt „zu einer Auseinandersetzung, die man ohne genaue Formulierung vermeiden kann“.57 Alle diese Texte lassen sich in ihrer Historizität nur diskursiv erfassen. Eine scharfe Trennung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist nicht zielführend, da sich alle Zeitmodi in diesen Texten finden lassen. Die (Schreib-)Gegenwart bietet Anlass zur schriftlichen Niederlegung der Erinnerungen oder zur (Wieder-)Entdeckung der Texte. Ob die Erinnerungen zum ersten Mal formuliert oder neu rezipiert werden: Beides findet vor dem Hintergrund der jeweiligen Gegenwart statt, wobei die Erinnerungen nicht nur im Hinblick auf diese Gegenwart, sondern auch vor dem Hintergrund einer imaginierten Zukunft formuliert werden. Menschen schreiben, damit sie sich selbst erinnern oder andere sich an sie erinnern. Manche überarbeiten diese Texte ein- oder mehrmals58, sie wählen aus, streichen, stellen und formulieren um und eignen sich im Schreibprozess die Deutung ihres Lebens an. Sie schreiben, um sich zu erklären, Schuld zu bekennen, sich zu verteidigen, sie wollen ein Beispiel geben und andere von ihren Erfahrungen profitieren lassen. Dabei vernetzen sie sich in der Regel nicht nur vertikal in der Generationenkette, sondern auch horizontal, indem sie sich auf Freunde und Verwandte, Mentoren, Vorgesetzte, Kolleginnen und Kollegen, Geistesverwandte, Idole, Lehrer und Schüler beziehen. Dabei können sich Erinnerungsgemeinschaften oder Erinnerungskartelle bilden, indem Personen durch wiederholte Verweise auf einzelne Selbstzeugnisse und den strikten Ausschluss anderer autobiographischer Texte einen bestimmenden Einfluss auf oder gar die Deutungshoheit über bestimmte Themen erreichen können.59 Die Beiträgerinnen und Beiträger dieses Bandes haben untersucht, in welchen Modi und Formen Erinnerungen in Texten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert festgehalten worden sind. Dabei wurde danach gefragt, welche Intentionen für die Verschriftlichung der Texte genannt werden, welche Werte, Normen, Zeitvorstellungen formuliert, an 55 ALON CONFINO, Memory and the History of Mentalities, in: Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook. Hg. ASTRID ERLL/ANSGAR NÜNNING. Berlin 2008 S. 77-84, hier 79. 56 GÜNTER OESTERLE, Kontroversen und Perspektiven in der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung, in: Gedächtnis und kultureller Wandel. (wie Anm. 54) S. 9-18, hier 9; Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Hg. DERS. Göttingen 2005; JOACHIM MARKOWITSCH, Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen. Darmstadt 2002. – Vgl. auch SVEN SAALER/WOLFGANG SCHWENTKER, The Power of Memory in Modern Japan. Folkstone 2008. 57 Siehe den Beitrag von PETRA BUCHHOLZ (wie Anm. 26) S. 399. 58 Siehe den Beitrag von CHRISTA WETZEL in diesem Band S. 139-154. 59 Vgl. dazu: ANGELIKA SCHASER, Einleitung, in: Erinnerungskartelle. Zur Konstruktion von Autobiographien nach 1945. Hg. DIES. Bochum 2003 S. 1-16.
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welchen Adressatenkreis sich die Texte richteten und in welche Schreibtraditionen und Erinnerungskulturen sie eingeschrieben worden sind. Der unterschiedliche Umgang mit diesen Texten, in dem sich die verschiedenen Wertigkeiten der Geschlechter und der sozialen Schichten erkennen lassen, wird in die Interpretation mit einbezogen: Die einen werden vergessen oder vernichtet, die anderen werden ganz oder auszugsweise weitergegeben oder veröffentlicht. Zum Teil gelangen sie in andere Kontexte oder werden Bestandteil eines Kanons. In diesem Band werden Selbstzeugnisse von Personen und Gruppen untersucht, die durch selektiven Rückgriff auf Erinnerungen ein in die Zukunft projektiertes Bild ihrer Person, ihrer Gruppe und ihres Handelns entworfen haben.60 Die Wandelbarkeit und die Hybridität dieser Person- und Gruppenkonzepte werden herausgestellt, sie sind nicht als abgeschlossen zu begreifen.61 Sie konnten jederzeit in Relation zu Fremdbildern und in Interaktion mit der jeweiligen Sozialität und der jeweiligen Schreibkultur verändert, korrigiert und angepasst werden. Während die von Jan und Aleida Assmann entwickelten Modelle vom kollektiven, kommunikativen und kulturellen Gedächtnis theoretische Transferwege von Erinnerungen anbieten62, nehmen die Aufsätze in diesem Band in autobiographischen Texten formulierte Erinnerungen in verschiedenen Kulturen und Epochen in den Blick und erweitern damit das Themenspektrum zur Entstehung von Erinnerungskulturen und Erinnerungsgemeinschaften. Denn wenn auch der Stellenwert von Erinnerungen für die Geschichte immer wieder betont wird63, so konzentriert sich die Diskussion momentan doch noch vorwiegend auf zeitgeschichtliche Themen. Im Mittelpunkt der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung ste-
60 ULRIKE JEKUTSCH, Selbstentwurf und Geschlecht. Würzburg 2001 S. 7. 61 ANJA LEMKE, Erzählte Erinnerungen. Identitätskonstruktionen im autobiographischen Schreiben, in: Kulturwissenschaftliches Institut NRW, Jahrbuch 2001/2002 S. 227-239, hier 228. 62 Grundlegend für die Erinnerungs- und Gedächtnisforschung: JAN ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992 und ALEIDA ASSMANN, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 5., durchges. Aufl. 2010. – Zusammenfassend dazu: HARALD WELZER, Das kommunikative Gedächtnis und woraus es besteht, in: Arbeit am Gedächtnis. Für Aleida Assmann. Hg. MICHAEL C. FRANK/GABRIELE RIPPL. München 2007 S. 47-62. Zur Kritik an dem von MAURICE HALBWACHS entwickelten Begriff des kollektiven Gedächtnisses vgl. ALOIS HAHN, Erinnerung und Prognose. Zur Vergegenwärtigung von Vergangenheit und Zukunft. Opladen 2003 S. 7. 63 STEFAN HAAS, Philosophie der Erinnerung. Kategoriale Voraussetzungen einer mnemistischen Geschichtsbetrachtung, in: Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft. Hg. CLEMENS WISCHERMANN. Stuttgart 1996 S. 31-54; LUCIAN HÖLSCHER, Geschichte und Vergessen, in: Historische Zeitschrift 249. 1989 S. 1-17, bes. 5; Écrire l’histoire du temps présent: En hommage à François Bédarida. Hg. INSTITUT D’HISTOIRE DU TEMPS PRESENT. Paris 1993; Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Hg. KRISTIN PLATT/MIHRAN DABAG. Opladen 1995; MALTE THIEßEN, Gedächtnisgeschichte. Neue Forschungen zur Entstehung und Tradierung von Erinnerungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 48. 2008 S. 607-634, hier 630. – Vgl. dazu auch: HARTMUT BERGENTHUM, Geschichtswissenschaft und Erinnerungskulturen. Bemerkungen zur neueren Theoriedebatte, in: Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Hg. GÜNTER OESTERLE. Göttingen 2005 S. 121-162; MARCUS SANDL, Historizität der Erinnerung/Reflexivität des Historischen. Die Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung, in: ebd. S. 89-119, The Gender of Memory. Cultures of Remembrance in Nineteenth- and Twentieth-Century Europe. Hg. SYLVIA PALETSCHEK/SYLVIA SCHRAUT. Frankfurt a. M. 2008.
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hen Erinnerungen an den Nationalsozialismus, den Holocaust und Genozide im 20. Jahrhundert. Selbstzeugnisse bieten die potentielle Grundlage für künftige Erinnerungen. Nach dem Tod der Autorinnen und Autoren werden einige der Erinnerungen auf verschiedenen Wegen in ein „kulturelles Gedächtnis“ überführt, andere werden vergessen. Unter Rückgriff auf die Gedächtniskonzepte von Maurice Halbwachs und Aby Warburg hat Jan Assmann dieses kulturelle Gedächtnis als eine „kulturelle […], in Zeichen, Symbolen, Bildern, Texten und Riten sichtbar gemachte […] Institution“ definiert.64 Diese Interpretation wird immer wieder zitiert, der Transformationsprozess liegt jedoch noch weitgehend im Dunkeln. Selbstzeugnisse können für diesen Prozess Erklärungen liefern. In Selbstzeugnissen schreiben sich Menschen in Traditionen, Schreibkonventionen und aktuelle Diskussionen ein65, sie weisen ihren Texten einen Platz im Kontext anderer Texte zu, sie nennen direkt oder indirekt Vorbilder und vertrauen ihren Leserinnen und Lesern die Texte zur Bewahrung und Weiterverbreitung an. Welches Publikum die Verfasserinnen und Verfasser mit den Selbstzeugnissen erreichten, kann nicht immer geklärt werden. Aber selbst wenn die Autorinnen und Autoren vorgaben, die Texte nur „für sich selbst“ geschrieben zu haben, wurden ihre Texte zumindest doch wohl im Kreis der Familie gelesen. So sollten etwa die Aufzeichnungen von Ludwig von Diesbach seinen Nachkommen zur Orientierung dienen.66 Andere publizierten ihre Selbstzeugnisse und erreichten damit ein größeres Publikum und wieder andere hatten so großen Erfolg, dass die Texte in mehrere Sprachen übersetzt wurden, sich zum Bestseller entwickelten und das Material stellten, aus dem die spätere Geschichtsschreibung schöpfte. Ob sich die Ansprüche der Autorinnen und Autoren an die Wirkung ihrer Texte erfüllten, hing von vielen Faktoren und Entwicklungen ab. Wenn in der Moderne sicherlich auch nicht mehr von einem kollektiven Gedächtnis gesprochen werden kann67, so kann man jedoch zwischen öffentlich dominierenden Erinnerungen und marginalisierten Erinnerungen unterscheiden. Besonders deutlich ist die weitgehende Ausblendung weiblicher Erinnerung.68 Denn in den Transformationsprozessen, die individuelle Erinnerungen hin zu den öffentlich gepflegten und immer wieder wachgerufenen Erinnerungen durchlaufen und für die Archive eine zentrale Rolle spielen, wird ein
64 JAN ASSMANN, Erinnern, um dazuzugehören. Kulturelles Gedächtnis, Zugehörigkeitsstruktur und normative Vergangenheit, in: Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Hg. KRISTIN PLATT/MIHRAN DABAG. Opladen 1995 S. 51-75, hier 61. 65 Das Einschreiben in Traditionen ist auch ein Merkmal vormoderner arabischer Selbstzeugnisse, vgl. dazu DWIGHT F. REYNOLDS, Guest Editor‘s Introduction. Arabic Autobiography, in: Edebiyât (wie Anm. 42) S. 207-214, hier 209. 66 S. den Beitrag von FRANZISKA ZIEP in diesem Band S. 105-121, hier 107. 67 GÜNTER OESTERLE, Kontroversen und Perspektiven in der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung, in: Gedächtnis und kultureller Wandel. Hg. JUDITH KLINGER/GERHARD WOLF. Tübingen 2009 S. 9-18, hier S. 14. 68 JULIE DES JARDINS, Women and the Historical Enterprise in America. Gender, Race, and the Politics of Memory, 1880-1945. Chapel Hill 2003; AFSANEH NAJMABADI, The Story of the Daughters of Quchan. Gender and National Memory in Iranian History. Syracuse 1998; SYLVIA SCHRAUT/SYLVIA PALETSCHEK, Erinnerung und Geschlecht. Auf der Suche nach einer transnationalen Erinnerungskultur in Europa, in: Historische Mitteilungen 19. 2006 S. 15-28.
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höchst selektiver Umgang mit Selbstzeugnissen praktiziert. 69 Dieser Prozess ist nicht linear zu denken. Erinnerungen von einzelnen und Erinnerungen von Gruppen beeinflussen und bedingen sich gegenseitig, Erinnerungen gehen dabei verloren, werden verkürzt und verändert weitergegeben, künstlerisch umgesetzt und propagandistisch eingesetzt. Was erinnert wird, ist also das Ergebnis eines Selektionsprozesses durch einzelne Personen, Institutionen und die Öffentlichkeit. Wie stark z.B. das Geschlecht als Selektionskategorie wirkt, kann man nicht nur am Umgang mit Nachlässen von Frauen erkennen.70 Solange aber Texte außerhalb dieses Kanons noch existieren und nicht unzugänglich oder gar vernichtet sind, können diese herangezogen werden, um das Fremdbild, eventuell auch das Selbstbild der Gruppe zu modifizieren. Voraussetzung hierfür ist nicht nur ein Interesse, den Kanon an Selbst- und Fremdbildern von Personen und Gruppen kritisch zu analysieren, sondern auch das Vorhandensein und die nachhaltige Bewahrung von Selbstzeugnissen solcher Personen, die nicht in einen Kanon aufgenommen, sondern vergessen oder verdrängt wurden. Wie ertragreich dabei die Gegenüberstellung von Texten ist, die innerhalb und außerhalb eines (nationalen) Kanons stehen, wird in diesem Band beim Gegenlesen zweier Aufsätzen exemplarisch deutlich: Hülya Adak arbeitet am Beispiel von Halide Edibs autobiographischen Texten an mehreren Punkten deren abweichende Darstellung zum dominanten „defensiven“ türkischen Nationalnarrativ heraus und thematisiert dabei auch den Umgang der Autorin mit den Massakern an den Armeniern. Im Text von Elke Hartmann und Gabriele Jancke werden Roupens Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs untersucht, die nicht nur einen zentralen Bestandteil des armenischen Nationalnarrativs bilden, sondern systematisch aus dem dominanten türkischen Kanon ausgeblendet wurden. Interessanterweise übergeht der armenische Text dabei das Völkermordgeschehen von 1915 vollständig, während es im Text von Halide Edib an einigen Stellen aufscheint.71 Nicht nur die Texte, auch die Verfasserinnen und Verfasser lassen sich nicht auf eine eindeutige Zugehörigkeit beschränken. Sichtbar wird dies beim Rückbezug auf eine transkulturelle Perspektive.
Transkulturelle Selbst-Positionierungen Das Konzept der Transkulturalität, mit dem in diesem Band gearbeitet wird, kommt auf zweifache Weise zur Anwendung: als kategoriale inhaltliche Orientierung sowie als methodisches Prinzip. Grundlage einer transkulturellen Perspektive ist hierbei stets ein inhaltliches Verständnis von Transkulturalität. Transkulturalität bezieht sich auf Prozesse und Praktiken, 69 ALEIDA ASSMANN, Canon and Archive, in: Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook. Hg. ASTRID ERLL/ANSGAR NÜNNING. Berlin 2008 S. 97-108, hier 106. 70 Vgl. ANGELIKA SCHASER, Bedeutende Männer und wahre Frauen. Biographien in der Geschichtswissenschaft, in: Biographisches Erzählen. Hg. IRMELA VON DER LÜHE/ANITA RUNGE. Stuttgart u.a. 2001 S. 137-152, hier 141. 71 Vgl. dazu HARTMANN/JANCKE (wie Anm. 38) S. 44 und HÜLYA ADAKS Beitrag in diesem Band S. 357-379, hier 365, 371 f.
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die sich sowohl zwischen Kulturen, quer durch unterschiedliche Kulturen, aber auch innerhalb kultureller Zusammenhänge entfalten. Ein solches Verständnis unterscheidet sich damit kritisch von einem holistischen Kulturverständnis, in dem Kultur als ein homogener Raum erscheint, der durch eindeutig gezogene Grenzen und Abgrenzungen von anderen Kulturen geschieden ist. In Frage gestellt wird mit einer solchen transkulturellen Perspektive in erster Linie eine nationalstaatlich begründete Festschreibung von Kultur, welche Kultur unter der Vorannahme einer ethnisch homogenen Einheit oder eines klar umgrenzten territorialen Raums versteht. Aber auch postnationale und transnationale Revisionen eines solchen Kulturverständnisses sind keineswegs ganz von solchen Vorannahmen frei. Auch in deren Versuch einer kategorialen Überwindung nationalstaatlicher Differenz-Fiktionen bleibt ein an Nation und Staat gebundenes extensionales Kulturmodell häufig eine unausgesprochene Denkannahme solcher Forschungsansätze. In einem transkulturellen Kulturkonzept dagegen geht es, wie der Philosoph Wolfgang Welsch als einer der ersten herausgestellt hat72, um ein Kulturverständnis, das die Durchdringungen, Verflechtungen und Hybridisierungen betont, die im Mehrfachsinne des Wortes trans (trans lat.: durch, über, jenseits) durch gesellschaftliche Lebensformen und Zusammenhänge hindurch und über sie hinaus wirksam sind. 73 Transkulturalität betrifft, wie Welsch betont, sämtliche kulturellen Dimensionen historisch-gesellschaftlicher Prozesse, von den Alltagsroutinen bis zu hochkulturellen Äußerungsformen74 und umfasst gesellschaftliche Makro- wie Mikrodimensionen, bis hin zur „inneren Transkulturalität“75 von Personen und Individuen. Im semantischen Feld der Neologismen von Kultur: Multikulturalität, Interkulturalität, Transkulturalität, erfreut sich der Begriff der Transkulturalität seit dem Ende der 1990er Jahre, wie jüngst hervorgehoben wurde76, einer besonderen Konjunktur. Seine Einführung in die wissenschaftliche Diskussion geht auf den spanischen Begriff der transculturación zurück, den der kubanische Soziologe, Ethnologe und Historiker Fernando Ortiz, hierin unterstützt von Bronislaw Malinowski, 1940 als kritischen Gegenbegriff gegen den historisch und entwicklungstheoretisch einseitigen Begriff der Akkulturation prägte.77 Im historischen Bewegungsbegriff (Reinhart Koselleck) der transculturación standen 72 Die früheste Äußerung Welschs erfolgte 1992: DERS., Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen, in: Information Philosophie 2. 1992 S. 5-20; vgl. die prägnante Formulierung in: DERS., Transkulturalität. Zur veränderten Verfasstheit heutiger Kulturen, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 45/1. 1995 S. 39-44; neuere Fassung, unter stärkerer Einbeziehung einer historischen Perspektive: DERS., Was ist eigentlich Transkulturalität?, in: Hochschule als transkultureller Raum? Hg. LUCYNA DAROWSKA/THOMAS LÜTTENBERG/CLAUDIA MACHOLD. Bielefeld 2010 S. 39-66. 73 WELSCH, Was ist eigentlich Transkulturalität? (wie Anm. 72) bes. S. 40, 42 und 43 ff. 74 Ebd. S. 43 f. 75 Ebd. S. 47. 76 RENÉ DIETRICH/DANIEL SMILOVSKI/ANSGAR NÜNNING, Interkulturelle/Internationale Multiperspektivität und die Herausforderungen kultureller Übersetzung in den Geistes- und Kulturwissenschaften, in: Lost or Found in Translation? Interkulturelle/Internationale Perspektiven der Geistesund Kulturwissenschaften. Hg. DIES. Trier 2011 S. 1-36, hier 17. 77 FERNANDO ORTIZ, Contrapunteo cubano del tabaco y del azúcar, Havanna 1940, Teil II, Kap. 2; hier die vorzügliche englische Neuausgabe: FERNANDO ORTIZ, Cuban Counterpoint. Tobacco and Sugar. Hg. FERNANDO CORONIL. Durham 1995 T. II Kap. 2 S. 97-102: The Social Phenomenon of
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die kontrapunktischen Verflechtungen kultureller Mischungsverhältnisse in den symbolischen Prozessen der Selbstauslegung in kolonialen und postkolonialen Gesellschaften im Zentrum.78 In der neueren Debatte um Transkulturalität zeigt sich eine Ausweitung und Veränderung des Begriffs in der Absetzung von den Begrifflichkeiten der Interkulturalität und Multikulturalität.79 Es wird einerseits das Bestreben erkennbar, von Fixierungen auf Grenzziehungen und Konfliktpotentiale wegzukommen, wie sie dem Begriff der Interkulturalität zuweilen inhärent sind, oder ethnische Holismen und Segmentierungen zu vermeiden, wie sie dem Begriff der Multikulturalität nach wie vor zu Grunde liegen.80 Andererseits ist aber auch der Begriff der Transkulturalität, wie die anderen Bindestrichbildungen (hybrid hyphenations) von Kultur81, in seinem Gebrauch zuweilen nicht ganz frei von performativen Aufladungen und unbemerkten Verkürzungen, etwa wenn übergreifende kulturelle Gemeinsamkeiten vorschnell betont, oder aber kulturelle Differenzen, herrschaftliche Hierachisierungen und kontextuelle Einschränkungen und Disparitäten von (Über-)Lebensmöglichkeiten und Artikulationschancen eher hintangestellt werden.82 Ein pragmatischer Ausweg aus diesem Dilemma verkürzender Denkannahmen, wie sie mit den Konzeptualisierungen von Transkulturalität verbunden waren und sind, die aber in den häufigen Berufungen auf das Konzept in Ankündigungen von Konferenzen oder in Buchtiteln und Einleitungen meist nicht thematisiert werden, kann nur durch Entwicklung einer Forschungsperspektive gefunden werden, welche transkulturelle Perspektiven in konkrete Forschungszusammenhänge einführt und erprobt.83 Dies wird im vorliegenden Band versucht.
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„Transculturation“ and its Importance. Die Einleitung MALINOWSKIS findet sich ebd. S. LVII-LXIV. In der deutschen Übersetzung und Publikation des Werkes von FERNANDO ORTIZ, Tabak und Zucker. Ein kubanischer Disput. Frankfurt a. M. 1987 wurden die theoretisch-methodischen Erläuterungen des Autors einfach weggelassen. S. hierzu die Einleitung von FERNANDO CORONIL zu ORTIZ, Cuban Counterpoint (wie Anm. 77) S. IX-LVI, hier bes. XXIV ff., XXX ff.; ferner MATTHIAS HILDEBRANDT, Von der Transkulturalität zur Transdifferenz, in: Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Hg. LARS ALLOLIO-NÄCKE/BRITTA KALSCHEUER/ARNE MANZESCHKE. Frankfurt a. M. 2005 S. 342-352. DIETRICH/SMILOVSKI/NÜNNING, Interkulturelle/Internationale Multiperspektivität (wie Anm. 76). S. 16 f. Hierzu pointiert WELSCH, Transkulturalität (wie Anm. 72) und WELSCH, Was ist eigentlich Transkulturalität? (wie Anm. 72) S. 49 f. Hiervon sprechen, in Anklang an Homi Bhabha DIETRICH/SMILOWSKI/NÜNNING, Interkulturelle/Internationale Multiperspektivität (wie Anm. 76) S. 16. Vgl. allerdings WELSCH, Was ist eigentlich Transkulturalität? (wie Anm. 72) S. 53 f.: Transkulturalisierung im Rahmen ökonomisch-politischer Machtprozesse. Diesen Schwachpunkt des Konzepts heben DIETRICH/SMILOVSKI/NÜNNING in ihrer verdienstvollen Einleitung (wie Anm. 76) S. 19 hervor. Die von ihnen gewählte Privilegierung des Konzepts der Interkulturalität gegenüber dem Konzept der Transkulturalität löst freilich das von ihnen aufgezeigte Dilemma verkürzender Vorannahmen nicht. Es gilt ebenso für das Konzept der Interkulturalität, worauf Welsch verwiesen hat. Vgl. hierzu die Sammelbände: Transcultural Wars from the Middle Ages to the 21st Century. Hg. HANS-HENNING KORTÜM. Berlin 2006; Inter- und transkulturelle Studien. Theoretische Grundlagen und interdisziplinäre Praxis. Hg. HEINZ ANTOR. Heidelberg 2006; Transkulturalität. Genderund bildungshistorische Perspektiven. Hg. WOLFGANG GIPPERT/PETRA GÖTTE/ELKE KLEINAU Bielefeld 2008; Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. Hg. LUCYNA DAROWSKA/ THOMAS LÜTTENBERG/CLAUDIA MACHOLD. Bielefeld 2010; Kul-
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Der Kern der hier praktizierten Perspektive der Transkulturalität als eines methodischen Prinzips besteht darin, konkretisierbare und forschungspraktisch anwendbare Arbeitsweisen und Analysebegriffe zu erproben, wie etwa den der kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten.84 Vor allem sollen aber auch solche Selbstzeugnisse untersucht werden, die von ihren Inhalten her als transkulturell bezeichnet werden können. Das Charakteristikum einer transkulturellen Arbeitsweise besteht darin, hinsichtlich des zu untersuchenden Selbstzeugnisses kontextspezifische und kontextferne Kompetenzen zusammenzubringen. Dies können Kompetenzen aus unterschiedlichen Disziplinen sein, die sich auf denselben Gegenstand oder Text richten, aber auch Kompetenzen, die sich aus der Kenntnis unterschiedlicher Regionen oder unterschiedlicher Epochen ergeben. So wird etwa im Beitrag von Gabriele Jancke und Elke Hartmann in diesem Band eine transkulturelle und transepochale Betrachtungsweise auf ein armenisches Selbstzeugnis des 20. Jahrhunderts als methodischer Ansatz erprobt und zu einem gemeinsamen Ergebnis geführt.85 In der Arbeit und in den Diskussionen der Forschergruppe wurde dieses Verfahren als „Gegenlektüre“ bezeichnet und häufiger praktiziert. Ein weiteres an anderem Ort publiziertes Beispiel einer solchen transkulturellen Untersuchungsweise, die sich auf einen auch von seinen Inhalten her transkulturellen Text richtet, findet sich im Beitrag von Sebastian Cwiklinski und Gabriele Jancke über Praktiken und Sichtweisen der Gastfreundschaft im Reisebericht eines tatarischen gelehrten Publizisten.86 In der Arbeit mit der analytischen Kategorie der kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten erschließt sich eine weitere Möglichkeit, eine transkulturelle Perspektive in die Selbstzeugnisforschung einzuführen. Sie wird in den Beiträgen des gleichnamigen Abschnitts exemplarisch vorgeführt 87 , findet aber auch in zahlreichen weiteren Beiträgen dieses Bandes88 wie auch in anderen Arbeiten im Umkreis der Forschergruppe89 eine Anwendung. Die Kategorie fokussiert auf ein spezifisches Moment der Personkonstitution in Selbstzeugnistexten, europäischen wie außereuropäischen, und macht es möglich zu prüfen, wieweit es auch hier fruchtbar sein kann, gleichsam von einer „ethnographischen Subjektivität“ (James Clifford)90 zu sprechen: als Mittel, aber auch als Ausdrucksform der Positionierung und Beschreibung eines Selbst in unterschiedlichen kulturellen Kon-
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turen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität. Hg. DOROTHEE KIMMICH/SCHAMMA SCHAHADAT. Bielefeld 2012. Vgl. die Beiträge zum Abschnitt „Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten“ in diesem Band S. 181-270. S. HARTMANN/JANCKE (wie Anm. 38). GABRIELE JANCKE/ SEBASTIAN CWIKLINSKI, Räume des Selbst. Gastfreundschaft im Reisebericht des tatarischen gelehrten Publizisten Abdurraschid Ibrahim (frühes 20. Jahrhundert), in: Räume des Selbst. Hg. BÄHR/ BURSCHEL/ JANCKE (wie Anm. 21) S. 131-150. S. u. Abschnitt „Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten“ (wie Anm. 84). Besonders zu verweisen ist auf die Beiträge von CHRISTA WETZEL (wie Anm. 58), HÜLYA ADAK (wie Anm. 71) und ABDULLAH GÜLLÜOĞLU in diesem Band S. 295-313. Eine aufschlussreiche Untersuchung anhand der Lebensgeschichte und der unterschiedlichen Selbstzeugnisse einer indischen Konvertitin ist: MONICA JUNEJA, Konversion als Widerstand? Räume des Selbst zwischen den Kulturen, in: Räume des Selbst. Hg. BÄHR/ BURSCHEL/ JANCKE. (wie Anm. 21) S. 237-252. JAMES CLIFFORD, Über ethnographische Selbststilisierung. Conrad und Malinowski, in: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, 2. Aufl. Hg. DORIS BACHMANNMEDICK. Tübingen u.a. 2004 S. 194-228, hier 195 ff.
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texten. Diese besondere Form der Personkonstituierung in und gegenüber multiplen kulturellen Zugehörigkeiten ist nicht nur für Kontexte der neuzeitlichen Globalisierung seit dem 19. Jahrhundert typisch. Sie fand durchaus schon in früheren Jahrhunderten statt und kann sich auf regional wie lokal begrenzte Kontexte ebenso beziehen wie auf globale Zusammenhänge. Hier wie dort kann diese Positionierung von Personen in kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten als die eines vielschichtigen transkulturellen Selbst91 bezeichnet werden. Im breiten Spektrum der unterschiedlichen Manifestationen eines Selbst in transkultureller Herausforderung verkörpert die hybride Subjektivität von Migranten als displaced persons nur eine, freilich besonders auffällige Variante. Auch innovationsbereite Reformerinnen und Reformer herkömmlicher Lebensweisen ebenso wie ihre Verteidigerinnen und Verteidiger konnten in multiple kulturelle Zugehörigkeiten eingebunden und damit gezwungen sein, sich in ihnen zu positionieren. Akteure der Globalisierung, ob als Kaufleute, Militärs, Missionare, Schriftsteller, Übersetzer oder Amtsträger bewegten sich in je spezifischer Weise in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen, die sie in ihren Handlungen wie in ihrem Selbstverständnis als Personen zu integrieren hatten. Kulturelle Mehrfachzugehörigkeit als prägendes Moment personaler Identität konnte auch in jenen Phasen eines Lebenslaufs erhalten bleiben, die im Zeichen eines (erzwungenen oder frei gewählten) Wechsels von einer Zugehörigkeit zur anderen standen. Selbst bei einem entschiedenen Wechsel von einer Zugehörigkeit zu einer anderen im Verlauf der Migration oder der religiösen Konversion bleibt die Frage offen und damit zu untersuchen, inwiefern das im Selbstzeugnis zum Ausdruck gebrachte Personverständnis nicht auch nach dem proklamierten oder vollzogenen „Seitenwechsel“ noch weiterhin an den aufgekündigten oder verlassenen kulturellen Zugehörigkeiten teilhat. Selbst das öffentlich verkündete Beharren von Konvertitinnen und Konvertiten auf einer einzigen religiösen Zugehörigkeit stellt noch einen besonderen Umgang mit kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten dar. Einer solchen Komplexität der Selbst-Verortung angesichts kultureller Mehrfachzugehörigkeiten ist bei der Untersuchung von Selbstzeugnissen vor allem dadurch näherzukommen, dass man diese auf die konkreten Praktiken der Verortung hin liest: auf Praktiken des Übergehens, des Vermittelns, des Simulierens, des Übersetzens, des Verbindens – aber auch auf Ausdrucksformen der Ambivalenz, der Rollenvielfalt, der Personenspaltung oder auf besonders forcierte Bemühungen um Herstellung einer integrierten Persönlichkeit. Gerade aus einer auf solche Weise erweiterten Perspektive der Personkonstitution wird schließlich auch der Problemzusammenhang der kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten selbst, auf den sich nicht zuletzt die neueren globalgeschichtlichen Ansätze der entangled histories beziehen, differenzierter wahrnehmbar. Er ist daraufhin zu befragen, ob er in der Praxis der Subjekte als Überlagerungen, als Parallelwelten, als Übersetzungszusammenhänge, als Integrationsaufgabe, als Herrschaftsverhältnis oder 91 Diese Begriffsprägung erfolgt im Anschluss an Wolfgang Welsch, der in Bezug auf gegenwärtige Gesellschaften von einer „inneren Transkulturalität von Individuen“ spricht, die sich unter Bedingungen äußerer, gesellschaftlicher Transkulturalität artikuliert. Zugleich vertritt Welsch die Auffassung, dass „Transkulturalität […] historisch keineswegs völlig neu [ist]. Geschichtlich scheint sie eher die Regel gewesen zu sein.“ S. DERS., Was ist eigentlich Transkulturalität? (wie Anm. 72) S. 45 ff. und 50.
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gar als Existenzform andauernder Liminalität erfahren und behandelt wird. Die Analyse von Selbstzeugnissen unter dieser Perspektive bietet also auf mikrohistorischer Ebene einen Zugang zu Fragen von „entanglement“ und Hybridität. Sie eröffnet gleichsam einen mikrohistorischen Zugang zur Globalgeschichte und zeigt einen Weg auf, auf welchem auch die Selbstzeugnisanalyse als Teil der „transition narrative“ einer „history that does not yet exist“92 die Diskussion um Konzepte und methodische Ansätze der transkulturellen und transnationalen Kultur- und Geschichtswissenschaften erweitern und bereichern könnte.
92 DIPESH CHAKRABARTY, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton 2000 Kap. 1 S. 27-46, hier 30, 42; vgl. auch DERS., Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte, in: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Frankfurt a. M. 2010, S. 41-65, hier 45 ff.
CLAUDIA ULBRICH
Die DFG-Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“ Ein Projektbericht
Vorbemerkung: Der vorliegende Bericht wurde als Auftakt für die Tagung „Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven“ verfasst. Er ist, um Wiederholungen zu vermeiden, hier in gekürzter Form wiedergegeben. Der Bericht spiegelt den Stand der Forschergruppenarbeit vom März 2010. Für alle Referenzen und die weiteren Forschungen der Gruppe sei auf die Homepage verwiesen.1 2003 hat die DFG die FG 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“ bewilligt. Ziel dieser Forschergruppe war, die Thematisierung des eigenen Lebens in verschiedenen Kulturen, zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen geographischen Räumen und in spezifischen Interaktionszusammenhängen als kulturelle und soziale Praxis zu untersuchen und in den Kontext gesellschaftlicher Beziehungen zu stellen. Das Projekt schloss an Forschungen an, die aus historisch-anthropologischer Perspektive den Prozess der Individualisierung, anders gewendet die Entstehung und Wirkung der Leitvorstellung vom säkularen, autonomen, selbstbewussten Individuum, untersuchen und nach den Kulturtechniken, Lebensformen und Lebensweisen fragen, in denen Personen sich vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert darstellten. Durch kontextualisierende Untersuchungen in transkulturell vergleichender Perspektive sollte diese Leitvorstellung hinterfragt werden. Inhaltlich wurde die für westliche Kulturen entwickelte, aber auch für die nichteuropäischen Kulturen behauptete Auffassung, dass die Entwicklung von Individualität und autobiographischem Schreiben eng aufeinander bezogen seien, aufgebrochen und durch die ergebnisoffene Frage nach den in Selbstzeugnissen formulierten Personkonzepten ersetzt. Die hier formulierten Fragen haben uns in den vergangenen sechs Jahren kontrovers und produktiv beschäftigt. Sie sollen auf der Abschlusstagung zur Diskussion gestellt werden. Dabei geht es nicht – zumindest nicht nur und nicht immer – um abschließende Ergebnisse, sondern auch um neue Themen und um neue Zugänge, Forschung in transkultureller Perspektive zu betreiben. Abschluss bedeutet diese Tagung insofern als sechs Jahre großzügiger Förderung durch die DFG zu Ende gehen, sechs Jahre, in denen wir Zeit hatten, aus traditionellen Denk- und Forschungsgewohnheiten auszubrechen, uns auf einen interdisziplinären Dialog einzulassen, mit- und voneinander zu lernen; ein Prozess, der keineswegs immer leicht und konfliktfrei war, der von uns verlangte, uns auf andere Fächer, Fachsprachen und Fachtraditionen einzulassen, zuzuhören, die eigenen Arbeitsprämissen immer wieder 1
Vgl. unter http://www.cms.fu-berlin.de/dfg-fg/fg530.
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in Frage zu stellen, neu- und umzudenken; ein Prozess, der Zeit brauchte und für den wir gerne noch sehr viel mehr Zeit gehabt hätten. Bevor ich einen Einblick in unsere Arbeit gebe, möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich bei der DFG für die umfassende finanzielle Unterstützung und die Betreuung und Förderung zu bedanken. Der Dank gilt auch den Gutachterinnen und Gutachtern, deren manchmal unbequeme Fragen dazu angeregt haben, weiterzudenken und weiterzukommen. Bereits im Vorfeld der Beantragung der Forschergruppe gab es zahlreiche Beratungsgespräche, die dazu beigetragen haben, unser Projekt zu fokussieren und zu verändern. Dies war insgesamt ein sehr hilfreicher, wenn auch manchmal schmerzlicher Prozess, der sich in den verschiedenen Begutachtungsphasen fortsetzte und schließlich in der letzten Phase zu folgender Struktur führte: Teilbereich I: Ritualisierte Lebensweisen Teilprojekt 1: Gastfreundschaft in Selbstzeugnissen. Personkonzepte und ritualisiertes Handeln in der Frühen Neuzeit Teilprojekt 2: Die diplomatische persona im politischen Ritual Teilbereich II: Konversion, Furcht, Gewalt Teilprojekt 3: Die Konstituierung von Person in Beschreibungen von Furcht und Angst. Selbstzeugnisse des Dreißigjährigen Krieges und der „Türkenkriege“ des 17. Jahrhunderts Teilprojekt 4: Selbstzeugnisse innerchristlicher Konversionen im Heiligen Römischen Reich und den Niederlanden im 17. und 18. Jahrhundert Teilprojekt 5: Geständnisse japanischer Kriegsgefangener in chinesischer Kriegsgefangenschaft Teilbereich III: Zugehörigkeiten und Modernisierungen Teilprojekt 6: Das Tagebuch als transkultureller Ort bei Heinrich Witt, 1799-1890 Teilprojekt 7: Kulturelle Selbstverortung und politisch-gesellschaftliche Handlungsoptionen im spätosmanischen Kontext. Die Memoiren und Selbstportaits armenischer fedayis Teilbereich IV: Autobiographisches Schreiben als kulturelle Praxis Teilprojekt 8: Narrative Konstruktionen von Männlichkeit in autobiographischen Texten des 15. und 16. Jahrhunderts
In den vier Teilbereichen wurden verschiedene Disziplinen und Forschungen zu zeitlich und geographisch verschiedenen Räumen zusammengeführt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Teilbereiche waren auf diese Weise einem strukturellen Zwang unterworfen, sich über die Epochen- und Fächergrenzen hinweg auszutauschen und neue Perspektiven zu entwickeln. In der Arbeit mit den Teilgruppen wurde besonders deut-
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lich, wie wichtig der Faktor Zeit ist, wenn man miteinander lernen und voneinander profitieren möchte. Die sechs Jahre, in denen wir zusammen arbeiten durften, boten dazu eine gute Gelegenheit, auch wenn wir in manchen Punkten das Gefühl haben, erst am Anfang zu stehen und uns längerfristige, institutionell abgesicherte Forschungsmöglichkeiten wünschen würden. Die gemeinsame Arbeit fand nicht nur in den Teilgruppen statt, sondern auch im Rahmen von regelmäßigen Forschergruppentreffen, an denen alle Mitglieder der Gruppe beteiligt waren. Diese Treffen waren besonders ergiebig im Vorfeld der Vorbereitung des Verlängerungsantrags und der beiden großen Projekttagungen, weil das gemeinsame Ziel sehr deutlich war. Wir mussten immer wieder versuchen, eine Balance zu finden zwischen gemeinsamer prospektiver Arbeit und dem einsamen, konzentrierten Arbeiten am Schreibtisch, das erforderlich ist, wenn man Monographien abschließen will und muss. Bei dem Versuch, den Projektbericht zu strukturieren, ist mir aufgefallen, wie breit das Spektrum dessen ist, was wir in den letzten Jahren gemeinsam in Angriff genommen und zum Teil auch abgeschlossen haben. Ich möchte die einzelnen Bereiche systematisch vorstellen und dabei einige konkrete Projekte benennen, wobei ich auch solche Projekte erwähne, die im Umfeld der Forschergruppe angesiedelt sind. Beginnen möchte ich mit der Selbstzeugnisforschung im engeren Sinne. Für den deutschsprachigen Raum ist dies ein Forschungsfeld mit einer enormen Wachstumsrate, das von Anfang an verbunden war mit einer beeindruckenden Erweiterung der Quellenbasis. Aufgrund der großen Quantität der Überlieferung sind die Texte für diesen Raum bislang nicht umfassend erschlossen und aufgrund des offenen Quellenbegriffes, mit dem die Selbstzeugnisforschung arbeitet, werden sie letztlich auch nicht vollständig erschließbar sein. In anderen Regionen – als Beispiel sei Lateinamerika genannt – steht die Arbeit mit autobiographischen Quellen noch am Anfang. Ulrich Mücke hat es sich zur Aufgabe gemacht, Selbstzeugnisse als historische Quellen der lateinamerikanischen Geschichte zu untersuchen und zu zeigen, welche neuen Einsichten man mit Hilfe dieser Quellengruppe gewinnen kann. Aber auch für Japan oder das Osmanische Reich mussten autobiographische Quellen, die bislang nicht im Fokus der historischen Forschung standen, neu entdeckt werden. Für die Bearbeiterinnen und Bearbeiter der Einzelprojekte bedeutete dies, dass ein erheblicher Teil ihrer Arbeitszeit auf die Erschließung von Quellen verwendet wurde. Dies geschah zumeist abhängig von den Themen, die erforscht werden sollten: Zu erwähnen wären etwa die Konversionsberichte, die Gesine Carl, Hamburg, und Angelika Schaser, Hamburg, als Selbstzeugnisse lesen; die Selbstzeugnisse aus dem Dreißigjährigen Krieg, denen seit geraumer Zeit das Interesse von Hans Medick gilt, die Shisosetsu, über die Elena Giannoulis ihre japanologische Dissertation angefertigt hat, die Selbstzeugnisse japanischer Unternehmer, über die der Japanologe Matthias Wittig eine Dissertation schreibt, die Tagebücher von Rotkreuzschwestern im Ersten Weltkrieg, auf die Sophie Häusner im Rahmen ihres Promotionsprojektes gestoßen ist oder auch die Gesandtenberichte ins Osmanische Reich und aus dem Osmanischen Reich, mit denen sich Abdullah Güllüoğlu, Kornelia Kaschke-Kısaarslan und Christine Vogel befassen. Neben dem Entdecken von neuen Quellen stand das systematische Erschließen. Als Beispiel möchte ich die Quellenkunde anführen, die Gabriele Jancke 2009 nach langer Recherchearbeit auf unserer Homepage publiziert hat. Außerdem möchte ich auf das biobibliographische Handbuch von Autobiographinnen verweisen, für das Gudrun We-
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del mehrere Tausend Datensätze über autobiographische Schriften, die von im 19. Jahrhundert geborenen Frauen verfasst worden sind, erstellt hat. Eine weitere Arbeit, die innerhalb der Forschergruppe geleistet wurde, ist die Edition von sprachlich und textlich schwer zugänglichen Texten. Hier hat Petra Buchholz Pionierarbeit geleistet. Sie befasst sich mit den Selbstzeugnissen japanischer Militärangehöriger, die während ihrer Kriegsgefangenschaft in China (1950-1956) ein Bekenntnis abgelegt hatten, und hat mit ihren Forschungen und Übersetzungen erstmals Berichte über die Umerziehung in China, literarisierte Tätergeschichten und nach der Heimkehr entstandene Selbstzeugnisse einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht. In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, wie wichtig es war, dass wir in unserer Gruppe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammengeführt haben, die über beachtliche Sprachkompetenzen verfügten, wovon alle profitieren konnten: Sebastian Cwiklinski, der ein Dissertationsprojekt über den tatarischen Geistlichen und Politiker Abdurraschid Ibrahim (1857-1944) bearbeitet hat, konnte Texte auswerten, die in tatarisch und vielen weiteren Sprachen geschrieben sind, Claus Schönig konnte mit uns darüber diskutieren, wie man das Ich in einer der vielen Turksprachen ausdrückt, die er beherrscht, und ich könnte und müsste noch viele Beispiele dafür geben, welche Vorteile es hat, wenn man nicht nur auf Übersetzungen angewiesen ist, sondern mit Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeitet, die einem die Texte auch sprachlich kompetent erschließen helfen. In den weiteren Kontext der Texterschließung gehören auch zahlreiche unterschiedliche Publikationsprojekte: Angelika Schaser und Gesine Carl haben eine digitale Quellenedition aufgebaut, in der sie Konversionserzählungen mit Einführungen in den Text vorgestellt, kommentiert und mit einem Glossar versehen haben, das online zugänglich ist. Daneben gibt es eine Reihe von Projekten, in denen einzelne Texte kritisch ediert werden, bis hin zu der von Hans Medick in Kooperation mit Andreas Bähr und Anderen erarbeiteten mustergültigen digitalen Edition von Mitteldeutschen Selbstzeugnissen der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, einer Edition, die sich als neues Forschungsinstrument versteht, das die digital erschlossenen Texte durch umfassende Hypertexte, Glossare und Kartenwerke weiter erschließt (www.mdsz.thulb.uni-jena.de). Statt weiterer Erklärungen und Verweise lade ich Sie einfach ein, die entsprechenden Seiten zu besuchen. Unsere Ergebnisse haben wir konsequent in internationale Kontexte eingebracht. Neben unserer internationalen Tagung zum Thema „Räume des Selbst“, die 2006 stattfand, organisierte Ulrich Mücke zusammen mit Marcel Velàzquez und Cristóbal Aljovin de Losada von der Universidad Nacional Mayor de San Marcos (Lima) eine Tagung in Lima über Selbstzeugnisse in den Anden. Richard Wittmann lud die Forschergruppe nach Istanbul ein zu einem Workshop zum Thema „Fashioning the Self in Transcultural Settings. The Uses and Significance of Dress in Self Narratives“, bei der die Frage nach der Bedeutung von Kleidung für die Person im Zentrum stand und der Blick weg vom Text hin zur materiellen Kultur gerichtet wurde. Weiter haben Mitglieder der Forschergruppe auf vielen Tagungen und Workshops ihre eigenen Projekte zur Diskussion gestellt. Schließlich haben wir uns in eine europäische Gruppe von Selbstzeugnisforschern unter Leitung des französischen Historikers François-Joseph Ruggiu integriert, deren Ziel es ist, von Selbstzeugnissen aus eine neue Geschichte Europas zu schreiben. Freilich nehmen in dieser Gruppe ähnlich wie in unserer eigenen Erschließungs- und Editions-
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projekte einen breiten Raum ein, weil die Voraussetzungen für eine seriöse Forschung mit Selbstzeugnissen erst einmal geschaffen werden müssen. Die besondere Expertise, die wir in diese internationalen Projekte einzubringen versuchen, beruht nicht zuletzt auf der Erfahrung interdisziplinären Arbeitens mit Erkenntnisinteressen, die sich auf transkulturelle Perspektiven beziehen. Transkulturalität bedeutet für uns zweierlei: ein methodisches Prinzip und eine inhaltliche Orientierung: Der Kern des methodischen Prinzips besteht darin, kontextspezifische und kontextferne Kompetenzen zusammenzubringen. In der Arbeit der Forschergruppe wurde ein Konzept interkultureller und interdisziplinärer „Gegenlektüren“ entwickelt, in dem dieses Prinzip umgesetzt wurde. Es soll heute in einer leicht abgewandelten Form in der ersten Sektion als Dialog vorgestellt werden. Es geht dabei unter anderem um die Untersuchung kultureller Partikularismen, die gleichwohl unterschiedlichen Kulturen gemeinsam sein können. Gabriele Jancke und Elke Hartmann werden hier die Frage der Transferierbarkeit von Kategorien diskutieren und deutlich machen, was sie darunter verstehen und wie schwierig und arbeitsaufwendig eine solche Arbeit ist. Transkulturalität als inhaltliche Orientierung bedeutet in der Gruppe zum anderen, Texte zu analysieren, die von Personen geschrieben wurden, die sich zwischen verschiedenen Kulturen positionierten und mehreren zugleich angehörten. Es geht hierbei um die Analyse von hybriden Formen und von kulturellen Verflechtungen, die in der Sektion von Hans Medick ausführlich zum Thema werden, aber auch für die Erforschung der Memoriafunktion der Texte wichtig sind. Unter Transkulturalität haben wir aber auch das transepochale Anregungspotential verstanden, das sich aus der Kooperation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit unterschiedlichen epochalen Schwerpunkten ergab. Wie hilfreich es ist, Fragen aus der Frühen Neuzeit auch auf Texte des 19. Jahrhunderts anzuwenden, konnte Richard Wittmann in seinen Forschungen über Aşçı Dede Ibrahim, einem osmanischen Offizier und Mystiker sichtbar machen und wir werden nachher ähnliches in Bezug auf den armenischen Freiheitskämpfer Roupen erfahren, den uns Elke Hartmann näherbringt. Neben diesen gruppenübergreifenden Forschungsansätzen haben die meisten Projekte themenbezogen gearbeitet. Hier fehlte – das sei kritisch angemerkt – angesichts der Struktur der Gruppe gelegentlich der ideale Forschungskontext. Mit ihrem Thema waren die Bearbeiterinnen und Bearbeiter die Einzelprojekte letztlich weitgehend alleine und mussten versuchen, sich eigene, neue Kontexte zu schaffen. Besonders gut ist das gelungen im Bereich der Konversionsforschung, wo Angelika Schaser ein weiteres Projekt andocken konnte, das nun den Vergleich zwischen Konversionsberichten der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts (in Deutschland und Frankreich) möglich macht, so dass zu erwarten ist, dass nach Abschluss der Projekte sehr viel präziser bestimmt werden kann, inwiefern Konversionsberichte als Selbstzeugnisse gelesen werden können. Auch in Bezug auf die Diplomatiegeschichte hat sich ein eigenes eng zusammenhängendes Forschungsfeld etabliert, das von Peter Burschel geleitet wird. Zu den wichtigsten Ergebnissen der einzelnen Projekte gehörte es, zu zeigen, dass die in der Forschung häufig unterstellte enge Verbindung zwischen Individualität und autobiographischem Schreiben nicht haltbar ist und dass Individualität nur eines von vielen Personkonzepten ist, die die verschiedenen Formen der Selbstdarstellung organisieren.
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Die Diskussion über die Frage, ob und wie der Begriff des Personkonzepts operationalisierbar ist und in einer transkulturellen Forschungsperspektive nutzbar gemacht werden kann, ist bislang nicht abgeschlossen. Konsens besteht darüber, dass Personkonzepte historisch wandelbar (bzw. kulturspezifisch) und stets in Verbindung mit sozialen Kategorien wie Stand, Schicht, Geschlecht und Religion konstruiert sind. Sie sind an der Schnittstelle zwischen unbewusstem Verhalten und individuellem geplanten Handeln, zwischen der Einbindung in Strukturen und Zwängen einerseits und dem Finden von Möglichkeiten andererseits angesiedelt und verweisen auf Normativitätsdiskurse, die den Verfasserinnen und Verfassern wichtig waren. Diese Art des sozialen Wissens bleibt in den Texten meist implizit und kann nur in einer umfassenden Kontextualisierung erschlossen werden. Wir hoffen, mit den folgenden Beiträgen zu zeigen, welche Möglichkeiten sich eröffnen, wenn man Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive untersucht.
CLAUDIA ULBRICH
Einführung: Person. Text und Kontext
Roupens Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs dienen als Ausgangspunkt für einen transepochalen Dialog zwischen einer Frühneuzeitlerin und einer Historikerin des 19. und 20. Jahrhunderts, die über unterschiedliche Regionen und Kulturen gearbeitet haben. An Roupens Text, der einleitend in seinem Kontext vorgestellt wird, sollen grundsätzliche Fragen der Selbstzeugnisforschung diskutiert werden. Der Umstand, dass Roupen seinen Text, der viele normative Passagen enthält, als Handlungsanweisung verstanden wissen wollte, wird vor dem Hintergrund frühneuzeitlicher Selbstzeugnisse aufgegriffen. Ausgehend von der Exempelfunktion vieler autobiographischer Texte (der Beispiel- und Vorbildhaftigkeit des beschriebenen Lebens) wird die Frage nach Person und Text entfaltet. Dabei geht es immer um eine mehrfache Perspektivierung. Das wird an mehreren Themen (wie Tradition, Erinnerung, Gemeinschaften und Bindungen) durchgespielt. Ziel des transepochalen Dialogs ist es, die impliziten Setzungen, mit denen die Selbstzeugnisforschung arbeitet, in ihrer Wirkmächtigkeit offenzulegen und ihre Herleitung aus den spezifischen Bedingungen der westlichen Moderne aufzuzeigen. Stattdessen wird Person als eine dynamische Kategorie verstanden im Sinne eines doing person: Schreiben und Beschreiben werden als performative Akte verstanden, die nicht nur auf die individuelle, sondern auch und gerade auf die normative Ebene verweisen. Wenn Selbstzeugnisse nicht nur referentiell in Bezug auf eine außertextliche Wirklichkeit gelesen werden, werden sie zu aufschlussreichen Quellen für die Untersuchung von Politik und Gesellschaft. Sie verweisen auf bestehende Machtverhältnisse und lassen Personen sichtbar werden, die in ihren Selbstzeugnissen Kontexte gestalten, in denen sie sich positionieren.
ELKE HARTMANN/GABRIELE JANCKE
Roupens Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs (1921/1951) im transepochalen Dialog Konzepte und Kategorien der Selbstzeugnis-Forschung zwischen Universalität und Partikularität
Roupens Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs1 dienen als Ausgangspunkt für einen transepochalen und transkulturellen Dialog. An diesem Text, der in seinem Kontext vorgestellt wird, sollen grundsätzliche Fragen der Selbstzeugnisforschung diskutiert werden. Der Umstand, dass Roupens Text als Handlungsanweisung (Exemplum) verstanden wurde, wird vor dem Hintergrund frühneuzeitlicher europäischer Selbstzeugnisse aufgegriffen. Ausgehend von der Exempelfunktion vieler autobiographischer Texte (der Beispiel- und Vorbildhaftigkeit des beschriebenen Lebens) wird die Frage nach Person und Text entfaltet. Dabei geht es immer um eine mehrfache Perspektivierung. Die theoretische Reflexion wird sich insbesondere auf die Aspekte von exemplum, memoria und confessio als Funktionen und dementsprechend auch Gestaltungselementen von Selbstzeugnissen richten und in diesem Zusammenhang auf die grundlegende Frage nach Personkonzepten rekurrieren. Personkonzepte sind dabei einerseits Analysekategorien, andererseits aber auch inhaltliche Fragestellung für die Lektüre von Selbstzeugnissen. Aus zwei Gründen dient die Metaebene als Ausgangspunkt: Eine erste Voraussetzung für eine transepochale und transkulturelle Zusammenarbeit ist die Arbeit an Begriffen wie Selbstzeugnis und Person, aber auch Exemplum, Erfahrung etc. Eine zweite Voraussetzung ist die Verständigung über den Zugang zu den Quellen: Selbstzeugnisse werden von der Schreibstrategie und der Schreibsituation her erschlossen. Diese gemeinsam erarbeitete Basis bietet die Voraussetzung für die Erschließung einer Fülle von Themen, die sowohl für die Forschung über außereuropäische Regionen als auch für die europäische Frühneuzeitforschung von Interesse sind.
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ROUPEN, Hay heghapokhagani me hishadagnere [Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs], 7 Bde., 3. Aufl. Beirut 1980-1987 (seitdem fortlaufend unveränderter Nachdruck; 1. Aufl. Los Angeles 1949-1952). Für die Transliteration der armenischen Namen und Begriffe wird hier anstelle des wissenschaftlich gebräuchlichsten, aber unübersichtlichen Systems von Hübschmann-Meillet eine vereinfachte Umschrift ohne diakritische Zeichen verwendet, die sich an der westarmenischen Lautung orientiert. Von Roupens Memoiren existiert eine Teilübersetzung ins Französische, welche die ersten vier Bände wiedergibt, allerdings auch gelegentlich redaktionelle Eingriffe vornimmt, ohne diese zu markieren: ROUBEN TER-MINASSIAN, Mémoires d’un cadre révolutionnaire arménien. Athen 1994. Im folgenden werden Zitate aus dem armenischen Original der 3. Aufl. entnommen (deutsche Übersetzung: E. H.) und in den Anmerkungen unter dem Sigel RH angeführt. Die korrespondierenden Textstellen der französischen Übersetzung erscheinen unter dem Sigel RM.
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Konzepte der Selbstzeugnisforschung: Texte, Personen, Kontexte Um Roupens Text als Quelle für diese gemeinsamen Fragestellungen nutzbar zu machen, bedarf es einer sorgfältigen Quellenkritik. Wichtige methodische Ansätze wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten in der Selbstzeugnisforschung entwickelt. So ist betont worden, dass „jeder Mitteilung von Fakten [...] Wahrnehmungs- und Handlungskonzepte [vorausliegen], die die Auswahl, Anordnung, Verknüpfung, Gewichtung, Bewertung, Deutung der Details prägen“.2 Autobiographische Texte sind kommunikative Handlungen ihrer Autorinnen und Autoren an einer selbst gewählten Stelle in ihrem Beziehungsnetz. Daher sind sie „Quellen für die konzeptuelle und pragmatische Selbsteinbindung ihrer Verfasserinnen und Verfasser in die gesellschaftlichen Zusammenhänge ihrer Zeit.“3 Die Schreibsituation ist ausschlaggebend dafür, was ausgewählt und wie dieses Material präsentiert und angeordnet wird, welche Absichten dabei leitend sind und welche Schreibstrategien daraus entwickelt werden. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich klären, was genau mit den Inhalten wem gesagt werden soll, warum welche Personen auftauchen und warum welche Handlungen und Verhaltensweisen von ihnen berichtet werden.4 Schreibmuster und -traditionen sind Teil der Aussage; die Themen, die in Selbstzeugnissen behandelt werden, sind immer gestaltete und in Schreibgewohnheiten eingebundene Inhalte. Auch für die Auswertung als historische Quelle ist daher ein Blick auf die narrativen Strukturen eines Textes unabdingbar. Narrativik ist ein von den Inhalten nicht ablösbarer Teil autobiographischen Schreibens.5 Die Person, die sich in einem autobiographischen Text selbst darstellt, macht sich also nicht nur durch die Inhalte der Erzählung sichtbar, sondern gleichzeitig durch ihr kommunikatives Handeln in der Schreibsituation und durch die Gestaltung ihrer Selbstbeschreibung. Die erzählte Person liegt auf einer anderen zeitlichen Ebene als die schreibende und kommunikativ handelnde Person. Direkt in ihrem Handeln zu beobachten ist die schreibende Person, während die von ihr dargestellte Person der Vergangenheit angehört und nicht mehr direkt wahrgenommen werden kann. Der methodische Zugang über die Schreibsituation hat politisch-gesellschaftliche Implikationen, da als Untersuchungseinheit nicht ein scheinbar in sich ruhendes, auf sich selbst bezogenes Individuum gewählt wird, sondern eine in die Machtverhältnisse ihrer Zeit und Gesellschaft eingebundene Person. Diese wird in ihrem Handeln situativ und kontextuell als eine performative Größe sichtbar und kann so Aufschlüsse über die Person- und Gesellschaftskonzepte geben, mit denen sie dabei operiert. 2
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GABRIELE JANCKE, Autobiographische Texte – Handlungen in einem Beziehungsnetz. Überlegungen zu Gattungsfragen und Machtaspekten im deutschen Sprachraum von 1400 bis 1620, in: EgoDokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Hg. WINFRIED SCHULZE. Berlin 1996 S. 73-106, hier 76. Ebd. S. 75. Ebd. S. 76 f. Vgl. FRANZISKA ZIEP, Erzählen ohne Ende – Lebensgeschichten im 16. Jahrhundert am Beispiel der autobiographischen Texte von Ludwig von Diesbach (1488/1518) und Thomas Platter (1572), s.u. S. 105-121; DIES., ÜberLebensgeschichten – Dimensionen von Erfahrung in Thomas Platters „Lebensbeschreibung“ (1572), unveröffentlichter Vortrag bei dem Symposion „Erfahrung. Erkenntniswert und Probleme des Begriffs in historischer Perspektive“, FU Berlin, veranstaltet von Jutta Eming und Elke Koch, 18./19.12.2007.
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Was in den modernen Wissenschaften als das zeitlose, epochenübergreifend gültige Zentrum autobiographischer Diskurse angesehen wird, ist die getreue Abbildung des vergangenen Lebens einer Person einschließlich ihrer Empfindungen und Erfahrungen. Dies wird meist mit dem Paradigma der „Individualität“ zusammenfassend benannt. Der Begriff der „Erfahrung“ ist denn auch in der Autobiographie- und Selbstzeugnisforschung zu einem der Schlüsselbegriffe geworden, der diesen scheinbar direkten und unverstellten Zugang zur Wirklichkeit auf den Punkt bringt.6 Sowohl die Geschichte als auch die Literaturwissenschaften arbeiten bei autobiographischen Schriften vielfach mit der Kategorie der „Erfahrung“ und halten sie für eine wichtige, ja oft auch die schlechthin entscheidende Größe. Dass die beiden Disziplinen an diesem Punkt die gleiche Wahl getroffen haben, ist zunächst einmal nicht selbstverständlich, handelt es sich doch hier um eine Kategorie, die sich auf eine Wirklichkeit außerhalb der Texte bezieht und im Leben einer einzelnen Person verankert ist. Dies führt zurück ins späte 18. Jahrhundert, zu Unternehmungen wie dem von Karl Philipp Moritz von 1783-1793 herausgegebenen Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Wenn wir mit diesen Kategorien hantieren, tragen wir ein unsichtbares Gepäck an Vorstellungen mit, die auch dann noch für uns in verdeckter Form wirksam bleiben, wenn wir ihnen ausdrücklich kritisch gegenüberstehen.7 Hier sollen nur drei Punkte hervorgehoben werden: Erstens, „Erfahrung“ ist auch Teil einer größeren historischen Metaerzählung der Säkularisierung und Individualisierung, in der es um die Ablösung von Autoritäten, Traditionen und sozialen Beziehungen geht, also um das Ablegen von allen Arten von religiösen und weltlichen Bindungen. „Erfahrung“ ist hier mit der Idee vom autonomen Individuum verbunden und wird an „private“ Räume geknüpft. Zweitens, im Blick auf Texte führt in unserem Kontext die Kategorie „Erfahrung“ leicht dazu, einen dokumentarischen Modus des Schreibens an6
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Vgl. u.a. KASPAR VON GREYERZ, Erfahrung und Konstruktion. Selbstrepräsentation in autobiographischen Texten des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Berichten, Erzählen, Beherrschen. Wahrnehmung und Repräsentation in der frühen Kolonialgeschichte Europas. Hg. SUSANNA BURGHARTZ/MAIKE CHRISTADLER/DOROTHEA NOLDE. Frankfurt a. M. 2003 S. 220-239; DERS., Vom Nutzen und Vorteil der Selbstzeugnisforschung für die Frühneuzeithistorie, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2004 S. 27-47; SABINE SCHMOLINSKY, Selbstzeugnisse finden oder: Zur Überlieferung erinnerter Erfahrung im Mittelalter, in: Self-Fashioning. Personen(selbst)darstellung in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Hg. RUDOLF SUNTRUP/JAN R. VEENSTRA. Frankfurt a. M. usw. 2003 S. 23-49; GUDRUN PILLER, Private Körper. Spuren des Leibes in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts. Köln usw. 2007 S. 7-13 zu „Erfahrung und Diskurs – Der Körper in Selbstzeugnissen“; SIDONIE SMITH/JULIA WATSON, Reading Autobiography: A Guide for Interpreting Life Narratives. Minneapolis 22010 S. 30-38, 242 f. – Auch außerhalb der Selbstzeugnisforschung gelten Selbstzeugnisse als die Quellensorte, wenn Erfahrung historisch von Interesse ist: PAUL MÜNCH, Einleitung, in: „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte. Hg. DERS. München 2001 S. 11-27, hier 12 mit Anm. 8. Ausführlicher über den konzeptuellen Kontext dieser Vorstellungen s. GABRIELE JANCKE, “Individuality”, Relationships, Words About Oneself: Autobiographical Writing as a Resource (15th/16th Centuries) – Konrad Pellikan’s Autobiography, in: The “I” Between Self-Reference and HeteroReference. Individuality in the Modern and Pre-Modern Period. Hg. FRANZ-JOSEF ARLINGHAUS. Turnhout (in Vorb.). Ein herzlicher Dank den Teilnehmenden des Symposions „Erfahrung. Erkenntniswert und Probleme des Begriffs in historischer Perspektive“, FU Berlin, veranstaltet von Jutta Eming und Elke Koch, 18./19.12.2007, für die Diskussion eines Vortrags von Gabriele Jancke über Erfahrung und autobiographisches Schreiben.
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zunehmen und ihnen den Wahrheitsanspruch der Authentizität zu unterlegen. Damit kann „Erfahrung“, literaturwissenschaftlich gesprochen, eine Authentizitätsästhetik implizieren, oder, geschichtswissenschaftlich gewendet, einen Dokumentcharakter der Texte annehmen (was sich auch in Bezeichnungen wie „Selbstzeugnisse“ oder „Egodokumente“ niedergeschlagen hat).8 Und drittens, alle diese Konzepte sind in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in einigen vor allem westeuropäischen Regionen entwickelt und von da an auch transkulturell und transepochal wirksam gemacht worden. Ihre Partikularität in Zeit, Ort, Personen und Texten ist ihnen kaum noch anzumerken, wenn sie heute vielfach in generalisierter Weise Verwendung finden. Unter diesem Aspekt wäre es z.B. sehr spannend, sich mit Philippe Lejeunes Überlegungen zum „autobiographischen Pakt“ genauer zu beschäftigen.9 Forschungen zu Selbstzeugnissen europäischer und nichteuropäischer, moderner und vormoderner Gesellschaften knüpfen immer wieder an das Paradigma des engen Zusammenhangs von Individualität und autobiographischem Schreiben an und nehmen es zum Maßstab, um autobiographisches Schreiben in der untersuchten Kultur zu beurteilen.10 Diese Auffassung verstellt den Blick auf jeweils eigene Entwicklungen und lenkt die Diskussion auf vermeintliche Defizite und Verspätungen. Dabei wird implizit das Modell einer einzigen, westlichen Moderne zugrunde gelegt, dessen Gültigkeit auch für alle nichteuropäischen Gesellschaften angenommen wird. Von großer Bedeutung sind hier die mittlerweile vorliegenden Einsichten über die tatsächliche Vielfalt von Modernen nicht zuletzt in ihren verschiedenen nichteuropäischen Ausprägungen.11 In der historischen Selbstzeugnisforschung, die einen ihrer Schwerpunkte in der Epoche der Frühen Neuzeit hat, wird in den letzten Jahren die enge Kopplung zwischen Individualität und schriftlicher Selbstthematisierung hinterfragt.12 Es zeichnet sich ab, dass Individualität lediglich ein bestimmtes Personkonzept darstellt, das neben und mit anderen existiert.13 8
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Zu Fragen von Referentialität und Textualität in der Autobiographietheorie vgl. etwa EVA KORMANN, Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert. Köln usw. 2004 S. 43-101, in unserem Zusammenhang interessant ist u.a. Folgendes zu Erinnerungen von Überlebenden des nationalsozialistischen Terrors: „Diese Traumata bewältigenden und Memoria schaffenden Autobiographien können durchaus, wie andere Selbstdarstellungen auch, strukturierende Techniken, rhetorische Verfahren, möglicherweise gar fiktive Elemente enthalten oder fiktionale Formvorbilder besitzen, ohne dadurch zu fiktionalen Texten zu werden.“ (S. 69 f.). PHILIPPE LEJEUNE, Der autobiographische Pakt, in: DERS., Der autobiographische Pakt (Aesthetica). Frankfurt a. M. 1994 (zuerst frz.: Le pacte autobiographique. 1975) S. 13-51; vgl. KORMANN, Ich, Welt und Gott (wie Anm. 8) S. 53 f., 97; SMITH/WATSON, Reading Autobiography (wie Anm. 6) S. 15, 207. Vgl. etwa die Artikel zu den Stichwörtern Arabic Autobiography, Indian Subcontinent, Japan, Turkey, Religious Autobiography, in: Encyclopedia of Life Writing. Autobiographical and Biographical Forms. 2 vols. Hg. MARGARETTA JOLLY. London usw. 2001. Vgl. SHMUEL N. EISENSTADT/WOLFGANG SCHLUCHTER/BJÖRN WITTROCK (Hg.), Public Spheres and Collective Identities. New Brunswick usw. 2001; SHMUEL N. EISENSTADT (Hg.), Multiple Modernities. New Brunswick usw. 2002. GABRIELE JANCKE, Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Köln usw. 2002. FELICITY A. NUSSBAUM, The Autobiographical Subject. Gender and Ideology in EighteenthCentury England, Baltimore usw. 1989; EVA KORMANN, Heterologe Subjektivität. Zur historischen Varianz von Autobiographie und Subjektivität, in: Autobiography by Women in German. Hg. MERERID PUW DAVIES/BETH LINKLATER/GISELA SHAW. Bern usw. 2000 S. 87-104; DIES., Haus,
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Dieser Ansatz wurde fortentwickelt und der Versuch gemacht, Begriffe wie „Individualität“ oder „Selbst“ wegen der damit oft verbundenen Vorannahmen beiseite zu legen und sie durch den der „Person“ zu ersetzen.14 Mit der Kategorie „Person“ eröffnen sich auch in der Selbstzeugnisforschung eine ganze Reihe von Fragen: „Welche möglichen Aspekte einer Person thematisieren die VerfasserInnen in ihren Texten? Welche Rolle spielen der Körper, Gegenstände, Beziehungen, Bindungen und Orte? Konstruieren Menschen sich idealtypisch (und erzählen uns damit etwas über die Werte ihrer Zeit), oder imaginieren sie ihr Leben als Gegenbilder zur bestehenden Ordnung? Schaffen sie sich im Schreiben eine Welt, die fern ihrer eigenen Realität ist? Welche Geschlechterordnungen werden sichtbar, welche Gruppenkulturen, welche Inklusions- und Exklusionsmechanismen? Wo genau verläuft die Trennlinie zwischen den Geschlechtern? Wie situativ und kontextgebunden sind die in Selbstzeugnissen artikulierten Personkonzepte? Oder lässt sich von einem epochentypischen oder einem einheitlichen, schichten- und geschlechterübergreifenden Modell von Person sprechen? Welche Möglichkeiten bieten sich, diese Fragen mit Selbstzeugnissen zu untersuchen (bzw. welche anderen Quellen müssten herangezogen werden)? Wie lässt sich mit einzelnen Quellen zu solchen übergreifenden Fragen arbeiten? Wie können Einzeltexte so gelesen werden, dass Strukturen und Muster sichtbar werden? Nach welchen Kriterien können Samples zusammengestellt werden? Welche Einsichten über Möglichkeiten in einer Gesellschaft lassen sich an einzelnen und besonderen Fällen gewinnen?“15
Drei Punkte sind besonders wichtig: Erstens, in autobiographischen Schriften sind es nicht die Personen selbst, die man sehen kann – die Personen der Verfasserinnen und Verfasser in ihrem jeweiligen Leben, in Fleisch und Blut, in ihren Handlungen und Leidenschaften, in ihren glücklichen oder traumatisierten Teilen. Was sichtbar wird, ist etwas, was man die „autobiographische Person“ nennen könnte. Sie ist aus anderem Material gemacht als eine reale und physische Person, gestaltet durch Sprache in verschiedenen Formen und Textsorten, zum Thema erhoben, über das gesprochen und diskutiert werden kann, möglicherweise transformiert in eine wertvolle Ressource von wichtigem Wissen, das an zukünftige Generationen weiter gegeben werden kann. Autobiographische Personen sind daher nicht so sehr als reale Personen, sondern viel eher als Konzepte von Personen lesbar, absichtsvoll gestaltet und auf schriftlichem Wege mitgeteilt. Dabei spielt der Gesichtspunkt der Übersetzung aus dem Medium des gelebten Lebens und seiner (auch und nicht zuletzt) materiell-physischen Erfahrungen in ein anderes Medium, das von Sprache und Text, eine zentrale Rolle16 und muss mit reflektiert werden. Zum andeKirche, Stadt und Himmel. Geschlechter-Räume und ihre strategischen Deutungen, in: Geschlechter-Räume. Konstruktionen von „gender“ in Geschichte, Literatur und Alltag. Hg. MARGARETHE HUBRATH. Köln usw. 2001 S. 69-85. 14 GABRIELE JANCKE/CLAUDIA ULBRICH, Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, in: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. Hg. DIES. Göttingen 2005 S. 7-27. 15 Ebd. S. 25 f. 16 Ebd. S. 26; GABRIELE JANCKE/SEBASTIAN CWIKLINSKI, Räume des Selbst – Gastfreundschaft im Reisebericht des tatarischen gelehrten Publizisten Abdurraschid Ibrahim (frühes 20. Jahrhundert), in: Räume des Selbst. Selbstzeugnisse transkulturell. Hg. ANDREAS BÄHR/PETER BURSCHEL/ GABRIELE JANCKE. Köln usw. 2007 S. 131-150, hier S. 132 f. mit der Anm. 5; Interpreting the Self:
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ren ist zu berücksichtigen, dass Muster gelebten Lebens beim autobiographischen Schreiben kaum direkt widergespiegelt werden, sondern in die Muster des praktizierten und vertrauten Schreibens gebracht werden. Hier sind also Praktiken der Alltagsschriftlichkeit, Leseerfahrungen, vorbildliche narrative Formen, textsortenspezifische Muster und Traditionen mit ins Auge zu fassen. Unter diesen Gesichtspunkten muss sehr zurückhaltend mit dem Begriff „Personkonzepte“ umgegangen werden, hat man doch bei den Selbstzeugnissen alles andere als explizite theoretische Traktate über ein Konzept vor sich, sondern Berichte und Erzählungen über Ereignisse und Handlungen. Neben autobiographisch verbalisierten Personkonzepten, sichtbar in der autobiographischen Person eines autobiographischen Textes, sind die auf der Handlungsebene für die Personen wirksamen Personkonzepte jedoch nicht zu vergessen, auch wenn sie in schriftlichen Formen viel weniger greifbar sind. Sodann ist die autobiographische Person mit einer artikulierten Stimme vernehmbar, die das autobiographische Material gestaltet und organisiert, ein Publikum anspricht, eine textuelle Form findet, Absichten und Strategien verfolgt, bewegt durch Motive, die vornehmlich in ihrer gegenwärtigen Situation liegen und als solche zugleich weit in die Vergangenheit zurückreichen können, wie es etwa sehr deutlich für Überlebende von extremen Gewaltsituationen der Fall ist. In frühneuzeitlichen autobiographischen Schriften ist die Stimme der schreibenden Person oft ein hervorstechendes Merkmal, und sie hörbar zu machen, war den Verfasserinnen und Verfassern ein wichtiges Anliegen. Durch diese Stimme ist die schreibende Person bezogen auf Dialoge, Debatten, Konflikte. Ihr autobiographisches Schreiben hat seinen Ort in verschiedenen Arten von sozialen und dialogischen Situationen. Es ist als Teil einer fortgesetzten Kommunikation oder als kommunikativer Input in eine soziale Situation zu verstehen. Nicht immer schrieben Autorinnen und Autoren selbst, sie konnten auch diktieren oder schreiben lassen, wie es bei Götz von Berlichingen oder Kaiser Maximilan I. der Fall war. Verfasserinnen und Verfasser autorisierten auch nicht immer selbst, was sie geschrieben hatten, das konnten sie in frühneuzeitlichen Verhältnissen an einen Patron delegieren. Schreiben und die Kontrolle darüber musste nicht in einer einzigen realen Person verbunden werden, sondern konnte aufgeteilt sein auf mehrere Personen. In vielen Fällen gab es verteilte Rollen und geteilte Verantwortlichkeiten. Die genannten Aspekte lassen sich auch bei armenischen autobiographischen Texten nach 1915 konstatieren – wenn auch aus ganz anderen Gründen und Bedingungen. Im Vergleich zu den europäischen Vergleichstexten ist hier in Bezug auf ihre narrativen Strukturen und Muster das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und die Kontinuität oraler Traditionen besonders zu beachten. All dies muss berücksichtigt werden, wenn man über autobiographische Konzepte von Autorschaft nachdenkt. Autorkonzepte sind ein Teil der Personkonzepte, mit denen autobiographisch Schreibende umgehen. Zugleich sind sie in Verbindung mit dem jeweiligen Text- und Literatursystem und mit anderen Formen von Schriftlichkeit zu sehen, die die jeweiligen Verfasser und Verfasserinnen praktizierten.
Autobiography in the Arabic Literary Tradition. Hg. DWIGHT F. REYNOLDS / gemeinsam verfasst von: KRISTEN E. BRUSTAD/MICHAEL COOPERSON/JAMAL J. ELIAS/NUHA N. N. KHOURY/JOSEPH E. LOWRY/NASSER RABBAT/DWIGHT F. REYNOLDS/DEVIN J. STEWART/SHAWKAT M. TOORAWA. Berkeley usw. 2001 S. 2 f., 42.
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Autobiographische Personen werden in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen meist präsentiert als Teil von Gruppen und in sozialen Beziehungen und Hierarchien, durch die solche Gruppen konstituiert werden. In modernen armenischen Selbstzeugnissen finden sich hier bemerkenswerte Parallelen, wie unten am Beispiel Roupens ausgeführt wird. Personkonzepte werden zum Teil gruppenspezifisch gefasst, und Sozialität bedeutet Handlungsräume, aber keineswegs ein Aufgehen in der Gruppe (ohne eigenen Willen und Handlungsmöglichkeiten).17 Mit einfachen Gegenüberstellungen wie einem „egozentrischen“ versus „soziozentrischen“ Personkonzept sind diese komplexen Verhältnisse und ihre Einbindung in die ganz konkreten und partikularen gesellschaftlichen und historischen Kontexte nicht fassbar zu machen. „Person“ muss daher, wie es bereits Marcel Mauss 1938 vorgeschlagen hat, als analytische Kategorie reflektiert werden, damit sie als Gegenstand in kontextangemessener Weise beschreibbar wird und damit Selbstzeugnisse für solche Fragen lesbar werden.18 Auf einer sehr allgemeinen Ebene sollten die theoretischen Werkzeuge deshalb mindestens drei Aspekte enthalten: Erstens, im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu Gruppen ist „Person“ als eine partizipative Kategorie zu sehen; zweitens, im Hinblick auf soziale Beziehungen geht es bei „Person“ um eine Beziehungskategorie; und drittens ist „Person“ im Blick auf Praktiken eine performative Kategorie (doing person).19
17 So bereits formuliert bei NATALIE ZEMON DAVIS, Boundaries and the Sense of Self in SixteenthCentury France, in: Reconstructing Individualism. Autonomy, Individuality, and the Self in Western Thought. Hg. THOMAS C. HELLER/MORTON SOSNA/DAVID E. WELLBERY with ARNOLD I. DAVIDSON, ANN SWIDLER, and IAN WATT. Stanford 1986 S. 53-63; anders JOHN JEFFRIES MARTIN, Myths of Renaissance Individualism. Basingstoke, NH usw. 2004 S. 30-32, der Sozialität ganz klassisch wie bereits bei Burckhardt als Aufgehen des Individuums in der Gruppe fasst (“the social or conforming self”). 18 MARCEL MAUSS, Une Catégorie de l’Esprit Humain: La Notion de Personne, Celle de „Moi“, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 68. 1938 S. 263-281 (dt. Übers.: Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Begriff der Person und des „Ich“, in: DERS., Soziologie und Anthropologie. Bd. 2: Gabentausch, Soziologie und Psychologie, Todesvorstellung, Körpertechniken, Begriff der Person (Anthropologie). Frankfurt a. M. usw. 1978 S. 223-252; engl. Übers.: A Category of the Human Mind: the Notion of Person; the Notion of Self, in: The Category of the Person. Anthropology, Philosophy, History. Hg. MICHAEL CARRITHERS/STEVEN COLLINS/STEVEN LUKES. Cambridge 1985 S. 1-25; nochmals in: Identity: A Reader. Hg. PAUL DU GAY/JESSICA EVANS/PETER REDMAN. London usw. 2000 S. 325-345); Personkonzepte in der Dichotomie von egozentrisch und soziozentrisch diskutieren RICHARD A. SHWEDER/EDMUND J. BOURNE, Does the Concept of the Person Vary Cross-Culturally?, in: Culture Theory. Essays on Mind, Self and Emotion. Hg. RICHARD A. SHWEDER/ ROBERT A. LEVINE. Cambridge 1984 S. 158-199, ohne allerdings das binäre Denken als solches in Frage zu stellen und ohne Schicht und Geschlecht systematisch zu berücksichtigen. Die impliziten Geschlechterannahmen des egozentrischen Individuumskonzeptes wurden in der Kohlberg-Gilligan-Debatte der 1980er Jahre diskutiert; vgl. CAROL GILLIGAN, In a Different Voice: Psychological Theory and Women’s Development. Cambridge, Mass. 1982 (dt. Übers.: Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau. München usw. 1984); neuerdings vgl. JANET CARSTEN, After Kinship. Cambridge usw. 2004, bes. ch. 4: The Person, S. 83-108. 19 JANCKE, Autobiographie als soziale Praxis (wie Anm. 12); JANCKE/ULBRICH, Vom Individuum zur Person (wie Anm. 14); vgl. auch GABRIELE JANCKE, Patronagebeziehungen in autobiographischen Schriften des 16. Jahrhunderts – Individualisierungsweisen?, in: Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit. Individualisierungsweisen in interdisziplinärer Perspektive. Hg. KASPAR VON GREYERZ. München 2007 S. 13-31; zu “doing person” s. DIES., “Individuality” (wie Anm. 7); zu einem „performative
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Solche Fragen haben sich ursprünglich aus der Autobiographie- und Selbstzeugnisforschung ergeben, dann aber als relevant für Gesellschaften grundsätzlich erwiesen: Wie Personen sich verstehen, wie sie selbst danach handeln und andere verstehen und behandeln, das geht in seiner Bedeutung weit über Selbstzeugnisse hinaus. Selbstzeugnisse sind, von dieser Frage her gesehen, nur eine mögliche Quellensorte, aber sicher eine besonders ergiebige. Wenn in der Selbstzeugnisforschung solche und andere Fragen nach der Person gestellt werden, dann ist das Ziel dieses Unternehmens, offenere Kategorien zu verwenden, die auch das Potential haben, auf verschiedene Kulturen und Epochen anwendbar zu sein und diese wechselseitig zu erhellen. Daraus ergibt sich die Möglichkeit eines Vergleichs auf der Metaebene, so dass Partikularitäten und Transferierbarkeiten von Konzepten und Theorieelementen zu erkennen sind. Ausgearbeitet wurden diese Analysekategorien in erster Linie in theoretischen Überlegungen, die auf der Analyse von frühneuzeitlichen Texten – vor allem aus dem deutschsprachigen Raum – beruhen.20 Die Autobiographietheorie ist dagegen vorwiegend an Texten entwickelt worden, die seit dem späten 18. Jahrhundert entstanden sind, etwa Rousseaus Confessions und Goethes Dichtung und Wahrheit.21 Diese Theorieentwicklung für moderne und postmoderne Texte des 20. und 21. Jahrhunderts ist in den letzten Jahren im nationalen wie im internationalen Rahmen weiter geführt worden.22 Daraus entstand die Frage, wie Theorie eigentlich gemacht wird (im Sinne eines doing theory) und wie man sie sinnvoll anwenden kann. Dieses Interesse leitet auch die Lektüre von Roupens Memoiren23: Zum einen geht es darum, die Kontexte von Selbstzeugnissen in breiterem Ausmaß kennenzulernen, um Partikularitäten und Transferierbarkeiten von Konzepten und Theorieelementen zu erkennen. Die autobiographische Textfunktion des Exemplums bot sich als Ausgangspunkt für einen solchen Vergleich Roupens mit frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen aus dem deutschsprachigen Raum an. Zum anderen sollen dabei europäische Verhältnisse, genauso wie die aus ihnen entwickelten theoretischen
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self“ s. auch MARTIN, Myths (wie Anm. 17) S. 35-37, das er als bewusste, theatralische Inszenierung begreift. JANCKE, Autobiographische Texte (wie Anm. 2); DIES., Die ( זכרונותsichronot, Memoiren) der jüdischen Kauffrau Glückel von Hameln zwischen Autobiographie, Geschichtsschreibung und religiösem Lehrtext. Geschlecht, Religion und Ich in der Frühen Neuzeit, in: Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte. Hg. MAGDALENE HEUSER. Tübingen 1996 S. 93-134; DIES., Zur Diskussion gestellt: Leben texten, Lebensgeschichten, das eigene Leben schreiben – ein Plädoyer für Unterscheidungen. Auf der Grundlage und anhand von frühneuzeitlichen autobiographischen Schriften, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 14/2. 2003, S. 8-17; DIES., Jüdische Selbstzeugnisse und Egodokumente der Frühen Neuzeit in Aschkenas. Eine Einleitung, in: Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente frühneuzeitlicher Juden in Aschkenas – Beispiele, Methoden und Konzepte. Hg. BIRGIT KLEIN/ROTRAUD RIES, unter Mitarbeit von DÉSIRÉE SCHOSTAK. Berlin 2011 (im Druck). Dazu etwa JANCKE/ULBRICH, Vom Individuum zur Person (wie Anm. 14), hier bes. S. 14 f.; außerdem KORMANN, Ich, Welt und Gott (wie Anm. 8) S. 43-101. Vgl. etwa jetzt die 2., überarb. und erw. Aufl. von SMITH/WATSON, Reading Autobiography (wie Anm. 6); Überblick bei KORMANN, Ich, Welt und Gott (wie Anm. 8) S. 43-101; ferner MARTINA WAGNER-EGELHAAF, Autobiographie. Stuttgart usw. 2000. Vgl. auch JANCKE/CWIKLINSKI, Räume des Selbst (wie Anm. 16), zum transkulturellen Arbeiten bes. S. 134 f.
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Überlegungen, einen nichteuropäischen Spiegel vorgehalten bekommen, so dass in beiden Richtungen neue Perspektiven möglich werden. Wissenschaftliche Kategorien, auch die Kategorien der Moderne, sind eindeutig für bestimmte Texte und Kontexte entstanden, und dann gelten sie zunächst einmal für die Texte, auf deren Basis sie entwickelt wurden. Autobiographische Schriften mit Exempelfunktionen lenken in besonderer Weise den Blick darauf. Konzepte sind nicht beliebig anwendbar. Für andere Texte und Kontexte müssen die Kategorien so gesucht werden, dass sie ihnen auch gerecht werden. Das gilt dann auch für Selbstzeugnisse, die als Exempla verfasst wurden und Personen immer in Kontexten verankern. Dieses textorganisierende Prinzip des Exemplums ist frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen – hier bereits in der Schreibabsicht explizit angelegt − und Roupens Erinnerungen – die in der Rezeption als ein Exemplum behandelt werden − gemeinsam. Die sozialen Strukturen und Wertordnungen, auf die sie sich beziehen, sind jedoch ganz verschieden.
Roupens Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs im Kontext Der Text, der im Zentrum unserer Betrachtung steht, trägt den Titel Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs, ist in armenischer Sprache abgefasst und umfasst sieben Bände, die einen Berichtszeitraum von 1902-1920 abdecken, sich aber vor allem auf die Jahre 1904-1909 konzentrieren. Sein Autor hieß mit bürgerlichem Namen Minas Der Minasian, bevor er sich den revolutionären Kampfnamen Roupen zulegte, unter dem er auch seine Erinnerungen publizierte.24 Roupen wurde 1882 in Akhalkalak, einer armenischen Enklave im heutigen Georgien geboren, das zu seiner Zeit Teil des russischen Reiches war. Das historische armenische Siedlungsgebiet, dessen Kern die sogenannte Armenische Hochebene im Osten Kleinasiens bildete, und das sich von hier ausgehend vom östlichen Drittel Anatoliens bis zum Transkaukasus und Nordwestiran erstreckte, war im späten 19. Jahrhundert unter drei Reiche aufgeteilt. Der größte, westliche Teil stand seit dem 16./17. Jahrhundert unter osmanischer Herrschaft, ein kleinerer Teil im Osten – der Transkaukasus – fiel 1828 von persischer unter russische Herrschaft, ein sehr kleiner Teil nordwestlich des Urmia-Sees blieb Teil Irans. Das herausragendste Merkmal dieser Region war ihre große ethnische, sprachliche und religiöse Heterogenität. Eindeutige und großräumige Bevölkerungsmehrheiten gab es nicht. Die größten Bevölkerungsgruppen waren die der Armenier und Kurden, aber auch sie stellten an vielen Orten nur relative Mehrheiten.25 Mit dieser poli24 Vgl. Anm. 1. 25 Einen Eindruck davon, wie groß diese Heterogenität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch nach vielen Jahrzehnten gewaltsamer Homogenisierungspolitik in Anatolien immer noch war, gibt die detaillierte Bestandsaufnahme von PETER A. ANDREWS, Ethnic Groups in the Republic of Turkey. Wiesbaden 1989. Exakte statistische Erhebungen für die Zeit gibt es nicht, für eine kritische Diskussion der für den osmanischen Teil verfügbaren Zahlen – Statistiken und Schätzungen von verschiedener Seite, darunter die offiziellen Angaben der osmanischen Regierung aus verschiedenen Jahren, die Erhebungen des armenischen Patriarchats in Konstantinopel und Daten verschiedener westlicher Beobachter –, welche damals wie heute politische Relevanz und Brisanz haben, siehe RAYMOND H. KÉVORKIAN, Le génocide des Arméniens. Paris 2006 S. 331-344; FUAT
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tischen, ethnischen, sprachlichen, religiös-konfessionellen sowie schließlich auch sozialen Pluralität und Zersplitterung musste sich jeder politische Akteur in der Region auseinandersetzen und dabei ebenfalls die Vielzahl politischer, wirtschaftlicher und kultureller Durchlässigkeiten, Migrationen und Einflüsse im Drei-Reiche-Eck zwischen Europa und seinen kolonialen Besitzungen und Interessensphären in Rechnung stellen. Ohne hier die Entwicklung dieser Region im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert detailliert darstellen zu können, muss man sich für das Verständnis von Roupens Erzählung die unterschiedlichen Bedingungen vor Augen halten, unter denen die Armenier in den drei Staaten Russland, Iran und dem Osmanischen Reich jeweils lebten. Die Lage in den osmanischen Ostprovinzen war geprägt durch ein hohes Maß an alltäglicher und selten geahndeter Gewalt, die nicht zuletzt mit den osmanischen Reformbemühungen seit 1839 verbunden war, als die osmanische Regierung in ihrem Streben nach Zentralisierung und Modernisierung die bestehenden lokalen Machtstrukturen und sozialen Verhältnisse aus dem Lot brachte, ohne in ihrer eigenen Schwäche imstande zu sein, eine neue stabile Ordnung an die Stelle des zerstörten Gefüges zu setzen.26 Im Laufe des 19. Jahrhunderts begünstigten vier Faktoren eine Zunahme der Gewalt in der Region. Erstens spitzte sich die Krise des Osmanischen Staates zu. Zweitens setzte der Osmanische Staat zur Herrschaftsausübung mehr und mehr auf eine Politik der Gewaltdelegation an verschiedene, einander bekämpfende lokale Akteure. Damit verstärkte er nicht nur ihre Fehden, sondern räumte der alltäglichen Gewalt gegen die zivile Bevölkerung auch bewusst eine Grauzone der Nicht-Ahndung ein.27 Drittens kam durch die äußerst gewaltsame Südexpansion Russlands in den 1850er und 60er Jahren eine große Zahl von musDÜNDAR, Modern Türkiye’nin Şifresi. İttihat ve Terakki’nin Etnisite Mühendisliği (1913-1918). Istanbul 2008 S. 85-115. 26 Zu diesem, im Folgenden sehr knapp skizzierten Komplex der alltäglichen Gewalt in den Ostprovinzen vgl. ausführlich ELKE HARTMANN, The Central State in the Borderlands: Ottoman Eastern Anatolia in the Late 19th Century, in: Shatterzone of Empires. Hg. OMER BARTOV/ERIC WEITZ. Bloomington, IN 2012 (im Erscheinen). Gute Überblicke über die moderne osmanische Geschichte bieten ERIK JAN ZÜRCHER, Turkey. A Modern History. London usw. 1993; DONALD QUATAERT, The Ottoman Empire, 1700-1922. Cambridge 2000; KLAUS KREISER/CHRISTOPH NEUMANN, Kleine Geschichte der Türkei. Stuttgart 2003; speziell zu den Armeniern im Osmanischen Reich s. HAGOP BARSOUMIAN, The Eastern Question and the Tanzimat Era, in: The Armenian People from Ancient to Modern Times. Hg. RICHARD HOVANNISIAN. New York usw. 1997 Bd. 2, S. 175-201; RICHARD G. HOVANNISIAN, The Armenian Question in the Ottoman Empire 1876 to 1914, in: ebd. S. 203-238; GEORGE BOURNOUTIAN, The History of the Armenian People. Costa Mesa 1997 Bd. 2, S. 5-24, 51-59, 85-105. 27 Zu den in diesem Zusammenhang besonders hervorzuhebenden irregulären, aus kurdischen Stämmen unter eigenem Kommando rekrutierten und von der Armee mit modernen Waffen ausgestatteten Reiterregimentern s. JANET KLEIN, The Margins of Empire: Kurdish Militias in the Ottoman Tribal Zone. Stanford 2011; BAYRAM KODAMAN, Hamidiye Hafif Süvari Alayları, in: İstanbul Üniversitesi Edebiyat Fakültesi Tarih Dergisi 32. 1979 S. 427-480; OSMAN AYTAR, Hamidiye Alaylarından Köy Koruculuğuna. Istanbul 1992; JELLE VERHEIJ, “Les frères de terre et d’eau“: Sur le rôle des Kurdes dans les massacres arméniens de 1894-1896, in: Cahiers de l’autre Islam 5. 1999 S. 225-276; zur Problematik der Gewaltdelegation in Ostanatolien siehe auch STEPHEN DUGUID, The Politics of Unity, in: Middle Eastern Studies 9. 1973 S. 139-156; zur phasenweise unkontrollierten Zunahme intertribaler Fehden vgl. die Dokumentation im osmanischen Staatsarchiv BOA Yıldız Esas Evrakı Defterleri (Y.EE.d.) 297, 23 Ca. 1295 H.; BOA Yıldız Perakende Evrakı Dahiliye Nezareti Maruzatı (Y.PRK.DH.) 5/76, 20 C. 1310 H. etc.
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limischen Flüchtlingen aus dem Kaukasus ins Land. Diese muhacirun wurden von der osmanischen Regierung gezielt gegen indigene Gruppen eingesetzt. Zu diesem Zweck wurde ihnen auch die unkontrollierte und ungeahndete Ausübung von Gewalt de facto gestattet.28 Viertens drohten die europäischen Großmächte mit Intervention und gebrauchten die lokalen Bevölkerungsgruppen als Hebel zur Durchsetzung ihrer Interessen. Auf eine tatsächliche Intervention zum Schutz der Bevölkerung verzichteten sie dabei aber systematisch – und das heißt für die osmanische Regierung in kalkulierbarer Weise.29 Die Armenier als größte nichtmuslimische – und damit im Gegensatz zu den Muslimen nicht bewaffnete – Gruppe in diesem wenig kontrollierten Grenzgebiet zu Russland wurden in besonderem Maße Opfer der Gewaltakte. Die vernichtende Niederlage des Osmanischen Reiches gegen Russland 1878 markiert dabei in Hinblick auf alle genannten Aspekte einen dramatischen Wendepunkt zum Schlechten. Persien litt in vielerlei Hinsicht unter ähnlichen Problemen der Staatskrise und Korruption wie das Osmanische Reich. Die Armenier im Nordwesten des Landes konnten aber in dieser Situation Ordnungsaufgaben selbst übernehmen, stellten dementsprechend – im Widerspruch zur islamischen Tradition! – bewaffnete Kontingente auf, die auch den lokalen Provinzgouverneuren dienten.30 In Russland wiederum, dessen Militärverwaltung nach 1878 auch die osmanische Provinz Kars unterstellt wurde, litten die Armenier nicht an einer zu schwachen, sondern im Gegenteil an einer zu starken Zentralmacht, die eine forcierte Assimilationspolitik betrieb. Die Schließung der armenischen Schulen und die Beschlagnahmung der armenischen Kirchengüter beförderte unter den vergleichsweise wohlhabenden und gebildeten Armeniern des Zarenreiches die Entstehung nationalrevolutionärer Parteien. Unter den autoritären Bedingungen des russischen Staates suchten diese sich ihr Betätigungsfeld vor allem jenseits der Landesgrenzen in den unter dem „osmanischen Joch“ darbenden historischen Regionen Vasburagan (der osmanischen Provinz Van) und Daron (der osmanischen Provinz Bitlis), die als armenisches Herzland verklärt wurden.31 Roupen war durch seine Herkunft aus Akhalkalak und seine Ausbildung an zwei der renommiertesten ostarmenischen Bildungseinrichtungen seiner Zeit, dem Kevorkian28 Vgl. hierzu insbes. DÜNDAR, Şifresi (wie Anm. 25); ALEXANDRE TOUMARKINE, Les migrations des populations musulmanes balkaniques en Anatolie (1876-1913). Istanbul 1995. 29 Zur sogenannten „Orientalischen Frage“ allgemein s. MALCOLM E. YAPP, The Making of the Modern Near East 1792-1923. London usw. 1987 S. 47-96; nach wie vor unverzichtbar MATTHEW S. ANDERSON, The Eastern Question 1774-1923. London usw. 1966; zur unheilvollen Rolle der europäischen Mächte in Bezug auf die osmanischen Armenier s. DONALD BLOXHAM, The Great Game of Genocide. Oxford 2005; MANUG J. SOMAKIAN, Empires in Conflict. London usw. 1995. 30 Zur Geschichte Ostarmeniens unter persischer Herrschaft s. GEORGE BOURNOUTIAN, The Khanate of Erevan Under Qajar Rule, 1795-1828. Costa Mesa, CA 1992; DERS., Armenians in NineteenthCentury Iran, in: Armenians of Iran. Hg. COSROE CHAQUERI. Harvard 1998 S. 54-76; DERS., Eastern Armenia from the Seventeenth Century to the Russian Annexation, in: Armenian People. Hg. HOVANNISIAN (wie Anm. 26). Bd. 2, S. 81-107. Speziell zu den armenischen Gendarmerie- und Militäreinheiten s. STEPHANIE CRONIN, The Army and the Creation of the Pahlavi State in Iran, 19101926. London usw. 1997 S. 122-127. 31 RONALD GRIGOR SUNY, Eastern Armenians under Tsarist Rule, in: Armenian People. Hg. HOVANNISIAN (wie Anm. 26). Bd. 2, S. 109-137; DERS., Looking toward Ararat. Armenia in Modern History. Bloomington usw. 1993 Kap. 1-7; BOURNOUTIAN, History (wie Anm. 26) Bd. 2, S. 109-129.
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Priesterseminar am Muttersitz der armenischen Kirche in Etchmiadzin sowie dem Lazarian-College in Moskau, geprägt von der eigentümlichen protonationalistischen Stimmung unter den Studenten Russisch-Armeniens. Diese speiste sich aus ihrer Verehrung für die Hayduken, jenen Räubern und Sozialrebellen, die uns auch aus den Balkanregionen vertraut sind, und ihrer Begeisterung für die kulturelle Erneuerungsbewegung, die – ähnlich wie auf dem Balkan oder auch in Deutschland – auch unter den Armeniern der politischen Nationalbewegung vorausging.32 Mit der 1890 in Tiflis gegründeten „Armenischen Revolutionären Föderation“ (Hay Heghapokhagan Tashnagtsoutiun), die sich rasch zur wichtigsten armenischen revolutionären Partei entwickelte, kam Roupen wohl bereits während seiner Zeit als Student am armenischen Lazarian-College und Offiziersanwärter an der russischen Militärakademie in Moskau in Berührung. 1902 wurde er Parteimitglied und ging 1903 nach Kars, das zu dieser Zeit eine wichtige Drehscheibe armenischer revolutionärer Aktivitäten und damit gleichzeitig Kaderschmiede und Brückenkopf der Partei war, ins yergir, ins „Land“, also nach Westarmenien, wo er eine einjährige Initiations- und Lehrzeit absolvierte. Diese Erfahrung prägte seine Parteiarbeit nachhaltig. Anschließend ging Roupen zunächst nach Van und Lernabar und gelangte 1906 nach Daron, die Region um Moush (Muş) und Sasoun. Dieses Gebiet galt einerseits als Wiege Armeniens, es war Schauplatz nationaler Mythen und Legenden. Andererseits wurde es aber von den fedayis (Kämpfern, Freischärlern) als „Hölle“ tituliert, als „giden-gelmez yergir“ (Land ohne Wiederkehr).33 Von diesen Jahren 1903 bis 1909, die Roupen als Parteikader in Kars, als Waffenschmuggler im
32 Zur kulturellen „Renaissance“ der Armenier und der herausragenden Rolle der Bildungseinrichtungen in Etchmiadzin, Tiflis, Moskau, Venedig u.a. s. MARC NICHANIAN, Entre l’art et le témoignage. Littératures arméniennes au XXe siècle. 3 Bde. Genf 2006-2008, s. hier Bd. 1: La révolution nationale. Genf 2006; VAHE OSHAGAN, Modern Armenian Literature and Intellectual History from 1700 to 1915, in: Armenian People. Hg. HOVANNISIAN (wie Anm. 26) S. 139-174; HAGOP OSHAGAN, Hamabadger Arevmdahay Kraganoutian, Bd. 1: Zartonki Serount. Jerusalem 1945; MIKAYEL VARANTIAN, Haygagan Sharjman Nakhabadmoutiun, Bd. 1. Genf 1912. Zum Phänomen der Hayduken s. die Studien von ERIC HOBSBAWM, Bandits. London 1969; DERS., Primitive Rebels: Studies in Archaic Forms of Social Movement in the 19th and 20th Centuries. Manchester 1959. Roupen zeichnet in seinen Memoiren ein Stimmungsbild der Atmosphäre unter den russisch-armenischen Jugendlichen seiner Zeit, indem er von seiner eigenen kindlichen Faszination für zwei azerische Hayduken berichtet, von denen seine Tante erzählte (RH Bd. 1, S. 110-112); ergänzt wird dieses Bild durch die Anekdote über den zehn- oder zwölfjährigen Roupen und einige Schulfreunde, die gemeinsam ausrissen, um nach Westarmenien in den Kampf zu ziehen, die sein enger Weggefährte Roupen Tarpinian erzählt (ROUPEN TARPINIAN [ARDASHES TCHILINGARIAN], Haratchapani degh, in: RH, Bd. 1, S. 19-37, hier 20; vgl. auch AVO, Roupen Der Minasian, in: Hay heghapokhagan albom, 3. Reihe, Compilation ChA S. 67-72); zur Entstehung und Geschichte der armenischen revolutionären Bewegung s. LOUISE NALBANDIAN, The Armenian Revolutionary Movement. The Development of Armenian Political Parties through the Nineteenth Century. Berkeley usw. 1963; speziell zur Geschichte der beiden wichtigsten Parteien, Hntchag und Tashnagtsoutiun, s. ARMEN GIDOUR, Badmoutiun S. T. Hntchagian Gousagtsoutian 1887-1962/63. 2 Bde. Beirut 1962-63; HRATCH DASNABEDIAN, History of the Armenian Revolutionary Federation Dashnaktsutiun 1890/1924. Milano 1989/1990; MIKAYEL VARANTIAN, H[ay] H[eghapokhagan] Tashnagtsoutian Badmoutiun. 2 Bde. Paris 1932, Kairo 1950. 33 RH, Bd. 2, S. 200.
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Nordiran und vor allem als fedayi in Westarmenien verbrachte, handelt der überwiegende Teil seiner Memoiren, die Bände 1-6.34 Die armenische revolutionäre Bewegung war nicht gegen den osmanischen Staat, sondern gegen die verhasste Autokratie Sultan Abdülhamids II. gerichtet. Die Tashnagtsoutiun, Roupens Partei, hatte 1908 gemeinsam mit den türkischen Revolutionären die sogenannte „jungtürkische Revolution“ herbeigeführt. Folgerichtig beschloss die Parteiführung danach, die Kämpfer zu entwaffnen und die Parteikader in die Bildungsarbeit zu schicken. Roupen ging daraufhin zum Studium nach Genf, kehrte aber 1913 auf Drängen der Partei nach Daron zurück, wo er während des Ersten Weltkriegs die Selbstverteidigung der Armenier in Sasoun leitete – letztlich vergeblich: Sasoun fiel, die Bevölkerung und die dort versammelten Flüchtlinge wurden massakriert, Roupen und einigen seiner Mitstreiter gelang die Flucht in den Kaukasus. Dort übernahm Roupen sofort wieder hohe Parteiämter. Im zweiten Jahr der kurzlebigen Ersten Armenischen Republik, die von 1918 bis 1920 bestand, diente er auch als Innen- und Kriegsminister. Vor allem aber 34 Die Kenntnisse, die wir über das Leben von Roupen haben, beruhen in erster Linie auf seiner Selbstauskunft in den Bänden seiner Memoiren. Ergänzend dazu können eine Vielzahl von Nachrufen aus der armenischen Tagespresse der Zeit herangezogen werden, von denen viele auch persönliche Erinnerungen des jeweiligen Verfassers beinhalten. Vgl. insbes. YE. DARONIAN, Roupen yev Shant, in: Aztarar Nov. 1951; K[ASBAR] IPEGIAN, Roupeni nviragan adjiunneroun, in: Aztarar 1952; Roupen Der Minasiani mahe, in: Asbarez 4.12.1951; GARO SASOUNI, Roupen, in: Aztag Shapatoryag 3 (28.11.1971) 1, S. 3-5; PIUZANT GRANIAN, Zmayleli ashkharh me ge pli, in: Asbarez 28.11.1961; ETCHMIADZNETSI, Aram yev Roupen, in: ebd.; HRANT SAMUEL, Roupen (Mahvan dasnamyagin artiv), in: ebd.; EDITORIAL „HARATCH“ [SHAVARCH MISAKIAN], Tsayn hayrenyats, in: Haratch 12.1.1952; Eng. Roupen Der Minasian votch yevs e, in: Aztag Oratert 1.12.1951; Biographie de la semaine: Roupen Der-Minassian, in: Azadamard France 10.1.1980; H[ERRI] KARIAN, Roupen, in: Aztag 16.4.1952; DIKRAN DEROYIAN, Enger Roupen Der Minasian – Roupen Pasha, in: Haratch 5.12.1951. Eine Anzahl der wichtigsten Texte von Zeitgenossen und Weggefährten über Roupen sind im siebten Band der ersten Auflage von Roupens Memoiren versammelt: ROUPEN, Hay Heghapokhagani me Hishadagnere. 1. Aufl. Los Angeles 1949-1953 Bd. 7, s. darin insbes. die Beiträge von HAMASDEGH, Roupen yev ir „Hay heghapokhagani me hishadagnere“ S. 353-357, [DRTAD] ETCHMIADZNETSI, Im aratchin hantiboume Roupeni S. 417-422, und MALKHAS, Housher (andib) S. 381-416, sowie das hier wieder abgedruckte Editorial des Hayrenik, S. 365-368. Darüber hinaus stehen die Memoiren einiger Mitstreiter zur Verfügung, in denen sich verstreut Episoden aus Roupens Leben wiedergegeben finden, s. v.a. ROUPEN TARPINIAN, Yerger. Bd. 1: Gyankis krken. Beirut 1980 S. 21-22, 156, 421, 429; SIMON VRATSIAN, Gyanki oughinerov. 6 Bde. 3. Aufl. Beirut 2007 (zuerst Kairo 1955) Bd. 3, S. 60-64, Bd. 6, S. 123-128, 134-137; GARO SASOUNI, Badmoutiun Daroni ashkharhi. Beirut 1956 S. 698-699, 971-972, 982-984; GOMS, Im houshere. Bd. 2, Beirut 1952 S. 309-347; GARO SASOUNI, Nahadagk djshmarid, in: DERS., Housher yev vgayoutiunner. Beirut 1972; KHOSROV TÜTÜNDJIAN, Housher Hayasdani hanrabedoutenen, krvadz 1943-in. Milano 2006 S. 132-149. Inzwischen sind auch zwei Biographien erschienen, die sich aber für die Zeit vor 1918 auch nur auf diese genannten Materialien stützen: ASHOD NERSISIAN, Roupen. Roupen Der Minasiani gyankn ou kordzouneoutiune. Yerevan 2007; s. auch DERS., Roupen (Minas Der Minasian), in: Troshag 16. 1999; KHATCHADOUR R. SDEPANIAN, Roupen Der-Minasian (Gyanke yev kordze). Yerevan 2008; vgl. auch die kritisch-analytische Skizze aus der Feder von Roupens Schwiegertochter ANAHIDE TER MINASSIAN, The Role of the Individual: The Case of Rouben Ter Minassian, in: Ararat 46. 1993 S. 183-201. Eine ausführliche und kritische Biographie Roupens, die auch auf Korrespondenz und evtl. seinen Nachlass aus den Jahren vor 1918 und nach 1920 zurückgreifen kann, welche im Parteiarchiv der Tashnagtsoutiun in Boston erhalten sein müssten, steht bislang noch aus.
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war er dort verantwortlich für die – an der Regierung vorbei durch eine kleine Truppe irregulärer Kämpfer aus Sasoun durchgeführte – Vertreibung der muslimischen Bevölkerung der Ararat-Ebene, der das heutige Armenien seine ethnische Homogenität verdankt, gewissermaßen das Gründungsverbrechen des armenischen Nationalstaats. Diese beiden Ereignisse – das Völkermordgeschehen 1915 und die Umstände seines eigenen Überlebens sowie seine Aktivität in Armenien 1919 – sind die beiden auffälligsten Lücken in seinen Erinnerungen. Nach der Sowjetisierung Armeniens floh Roupen 1921 zunächst nach Nordiran, um der Verbannung nach Sibirien zu entgehen, später lebte er in Frankreich, in Ägypten und Palästina und seit 1948 wieder in Paris, wo er am 27. November 1951 im Vorort SaintCloud starb. Schon im Iran begann Roupen, seine Erinnerungen zunächst zu diktieren, später selbst zu schreiben, die 1922-30 in regelmäßiger Folge in der Bostoner parteinahen Zeitschrift Hayrenik Amsakir erschienen. In den letzten Lebensjahren nahm er seine Arbeit an den Erinnerungen erneut auf, publizierte 1944-52 weitere Abschnitte im Hayrenik Amsakir und redigierte die älteren Texte seit 1949 für eine auf insgesamt 10 Bände angelegte Buchausgabe, die, unterbrochen durch seinen Tod, bis 1952 schließlich in sieben Bänden erschien.35
Das Selbstzeugnis als Exemplum oder: Das Exemplum als Teil sozialer Strukturen und Wertordnungen Wenn man Roupens Text von seinen Schreibstrategien her liest, fällt auf, wie wichtig Exempelfunktionen dafür sind, den Text zu organisieren. Dies gilt selbst dann, wenn sie nicht explizit als solche genannt werden. Damit wird hier die schreibende Person in einer ihrer Möglichkeiten sichtbar, sich mit einer eigenen Stimme an ein Publikum zu wenden: nämlich durch die Präsentation eines Vorbildes und die darin enthaltene Aufforderung, durch eigenes Handeln diesem Vorbild zu entsprechen. Sowohl die schreibende Person als auch die Rezipientinnen und Rezipienten werden hier als Handelnde ins Spiel gebracht, die genau unter diesem performativen Aspekt von Bedeutung sind und thematisiert werden. Frühneuzeitliche Verfasserinnen und Verfasser autobiographischer Texte machen es uns relativ leicht damit, ihre Schreibabsichten zu erschließen, denn sie schreiben in der 35 Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte der Memoiren vgl. auch TARPINIAN, Haratchapani degh (wie Anm. 32) S. 29-37; ROUBEN, Mémoires d’un partisan arménien – fragments. Hg. u. Übers. WAIK TER MINASSIAN. La Tour d'Aigues 1990 S. 12-14; ebenso die Hinweise in den Vorreden zu den Bänden der Memoiren: RH, Bd. 1, S. 14-16; Bd. 2, S. 5; Bd. 4, S. 5; Bd. 5, S. 5; Bd. 6, S. 5; Bd. 7, S. 5-6 (Vorworte VAHIG DER MINASIAN); Bd. 3, S. 5-6 (Vorwort ROUPEN). Ein umfassender Vergleich der verschiedenen Textversionen – Handschrift bzw. Diktatnotizen, Erstdruck im Hayrenik Amsakir, erste Buchausgabe 1949-52 und schließlich die heute verfügbare Edition – steht aus. Die für die zweite bzw. dritte Buchauflage im Gegensatz zur ersten vorgenommenen editorischen Eingriffe sind geringfügig, mit Ausnahme der Auslagerung der Erinnerungen Arams, die in der ersten Auflage in Roupens Memoiren integriert waren, und der völligen Neugestaltung des siebten Bandes. Die Unterschiede in der Textgestalt zwischen der Zeitungsedition und der ersten Buchausgabe hingegen sind erheblich. Wo die Urschrift und die zugehörigen Notizen sich befinden bzw. ob sie überhaupt noch irgendwo bewahrt werden, ist unklar.
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Regel ausdrücklich, worum es ihnen geht. Meist ist es die vorangestellte Leseanweisung, die ein Licht auf die narrativen Strategien wirft, die den Text dann auch en detail bestimmen. Viele Autobiographinnen und Autobiographen des 15., 16., 17. und frühen 18. Jahrhunderts haben ihr Schreiben so aufgefasst, dass sie damit nützliches Wissen festhalten, in verwendbare Form gießen und als Exemplum (Handlungsanleitung für ein vorbildliches Leben) an die nächste Generation weitergeben wollten: etwa der österreichische Adlige Joseph von Lamberg (1489-1554), der in seiner gereimten Autobiographie an seine Kinder gerichtet schrieb, sie sollten sich nach den dort vorgetragenen Regeln richten, nicht aber nach dem, was er über sein tatsächliches Leben zu berichten habe, denn er habe Fehler gemacht und diese Regeln selbst nicht immer befolgt.36 Auch der Kaufmann Andreas Ryff (1550-1603) wollte mit seiner Autobiographie an seine Kinder Normen weitergeben, die sich in diesem Fall auf seinen Beruf als Kaufmann bezogen; detailliert schrieb er von der Buchhaltung bis zu den ethischen Standards im Geschäftsleben alles auf, was er an Praktiken für wichtig und vorbildlich hielt.37 Ähnliches finden wir auch bei der jüdischen Geschäftsfrau Glikl bas Judah Leib (1645-1724), die um 1700 schrieb und ihren Kindern ebenfalls die ethischen Standards im Geschäftsleben zusammen mit anderem nützlichen sozialen Wissen vermitteln wollte.38 Der Gelehrte Konrad Pellikan (1478-1556) ordnete die Praxis des autobiographischen Schreibens als Bestandteil einer umfassenden Lehre vom guten Leben ein, in der der Haushalt eine große Rolle spielte. Durch das autobiographische Schreiben sollte jede Generation von Gelehrten Werte schaffen und als Teil des Erbes an die nächste Generation weitergeben.39
36 JOSEPH VON LAMBERG, Selbstbiographie, in: JOHANN WEIKHARD FRHR. VON VALVASOR, Des Hochlöblichen Hertzogthums Crain Topographisch-Historischer Beschreibung 9. Buch (...). Teil III. Laibach 1877 S. 46-64; weitere Informationen zu Person und Text s. GABRIELE JANCKE, Selbstzeugnisse im deutschsprachigen Raum (Autobiographien, Tagebücher und andere autobiographische Schriften), 1400-1620. Eine Quellenkunde. Unter Mitarbeit von Marc Jarzebowski, Klaus Krönert und Yvonne Aßmann. (13. 8. 2008), URL: http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/janckequellenkunde, Eintrag Joseph von Lamberg. 37 [ANDREAS RYFF,] Selbstbiographie des Andreas Ryff (bis 1574). Hg. W. VISCHER, in: Beiträge zur vaterländischen Geschichte. Hg. von der historischen Gesellschaft in Basel. Bd. 9. Basel 1870 S. 37121; weitere Informationen zu Person und Text s. JANCKE, Quellenkunde (wie Anm. 36), Eintrag Andreas Ryff. 38 Die Memoiren der GLÜCKEL VON HAMELN, geboren in Hamburg 1645, gestorben in Metz 19. September 1724. Autorisierte Übertragung nach der Ausgabe des Prof. Dr. David Kaufmann von Bertha Pappenheim. Wien 1910 (ND Weinheim 1994, mit einem Vorwort von Viola Roggenkamp), krit. Edition: GLIKL, Zikhronot 1691-1719. Ed. and transl. from the Yiddish by CHAVA TURNIANSKY. Jerusalem 2006 (Übers., Einleitung und Komm. in hebräischer Sprache); zu Person und Text s. CHAVA TURNIANSKY, Art. Glueckel of Hameln, in: Jewish Women, A Comprehensive Historical Encyclopedia, 2006 Jewish Women’s Archive Inc. (CD); NATALIE ZEMON DAVIS, Women on the Margins. Three Seventeenth-Century Lives. Cambridge, Mass. usw. 1995, Kap. Arguing with God. Glikl bas Judah Leib, S. 5-62 und 220-259; MONIKA RICHARZ (Hg.), Die Hamburger Kauffrau Glikl. Jüdische Existenz in der Frühen Neuzeit. Hamburg 2001; GABRIELE JANCKE, Art. Glikl bas Judah Leib, in: Killy Literaturlexikon 4. 22009 S. 252 f. 39 [KONRAD PELLIKAN,] Das Chronikon des Konrad Pellikan. Zur vierten Säkularfeier der Universität Tübingen. Hg. BERNHARD RIGGENBACH. Basel 1877 (lat.); dt. Übers.: Die Hauschronik Konrad Pellikans von Rufach. Ein Lebensbild aus der Reformationszeit. Dt. v. THEODOR VULPINUS. Straßburg 1892; weitere Angaben zu Person und Text s. JANCKE, Quellenkunde (wie Anm. 36), Eintrag
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Diese Autobiographien hatten also nach Meinung ihrer Verfasserinnen und Verfasser biographische Exempla zu liefern, die der nächsten Generation als Vorbild und Orientierung dienen sollten, und dabei hatten die Autorinnen und Autoren auch ihre Nachkommen im Blick.40 Was die Autorinnen und Autoren von sich beschreiben und als ein ausgewähltes Wissen weitergeben, soll denn auch eine solche Exempelfunktion tragen können. Aber nicht nur das, was sie von sich selbst darstellen, soll ein Beispiel sein; sie liefern oft noch weitere biographische Skizzen über andere Personen, deren dargestelltes Leben dann ebenfalls als eine solche Orientierung vorgeführt wird.41 Damit erhalten die Texte eine normative Ausrichtung. Das bedeutet natürlich nicht, dass diese Verfasserinnen und Verfasser die Wirklichkeit ihres Lebens nicht mitgeteilt hätten. Sie taten dies de facto und mit Absicht. In solchen Texten kam es aber in erster Linie auf die normativen Aspekte der thematisierten Wirklichkeit an, auf eine Vermittlung von Lebenslehren und -orientierungen, deren Verbindlichkeit in der Regel durch die Autorität eines Haushaltsvorstandes (meist des Hausvaters) gegenüber den folgenden Generationen gesichert werden sollte.42 Erfahrungen und Ereignisse werden in diesen autobiographischen Texten präsent als Teil eines ethischen Diskurses, der sich mit Regeln des guten Lebens befasst und in diesem Zusammenhang nützliches Wissen verschiedenster Art weitergeben will. Erfahrung, wie sie in autobiographischen Schriften thematisiert wird, ist eine Art von Wissen neben anderen. Sie unterscheidet sich z.B. von gelehrtem Wissen, weil sie im Laufe eines Lebens selbst entwickelt und gelernt werden muss, ohne dass dafür fertige Wissensbestände und deren Vermittlung durch kundige Autoritäten in jedem Fall bereit stünden. Der Ort, an dem dieses Wissen angesammelt, beurteilt und auch zur Wiederverwendung ausgewählt wird, ist die eigene Person. Die Gegenstände dieses Wissens können sowohl die eigene Person als auch alles andere betreffen, was im eigenen Kontext sowohl in der Nähe als auch in der Ferne vorfällt. Erfahrung ist also ein Modus soKonrad Pellikan; zur Exempelfunktion im Rahmen von Lehren zum guten Leben s. auch DIES., “Individuality” (wie Anm. 7). 40 Zu biographischen Exempla in der Frühen Neuzeit vgl. GIANNA POMATA, Partikulargeschichte und Universalgeschichte – Bemerkungen zu einigen Handbüchern der Frauengeschichte, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 2/1. 1991 S. 5-44, hier 10-28 (zuerst it.: Storia particolare e storia universale: in margine ad alcuni manuali di storia delle donne, in: Quaderni Storici 74, Jg. 25. 1990 S. 341-387; auch engl.: History: Particular and Universal. On Reading Some Recent Women’s History Textbooks, in: Feminist Studies 19. 1993 S. 7-50). 41 Eva Kormann ist in ihrer Studie zu autobiographischen Schriften ausführlich auf exemplarische Textfunktionen bei verschiedenen Autorinnen des 17. Jahrhunderts eingegangen: KORMANN, Ich, Welt und Gott (wie Anm. 8) S. 102-185; vgl. ebenfalls LORENZ HEILIGENSETZER, Getreue Kirchendiener – gefährdete Pfarrherren. Deutschschweizer Prädikanten des 17. Jahrhunderts in ihren Lebensbeschreibungen. Köln usw. 2006, Kap. 3: „lere und leben“: Autobiographien als Musterbücher? S. 77-127, der bei Pfarrern – insgesamt eine große Gruppe von Verfassern autobiographischer Texte – ebenfalls exemplarische Textfunktionen untersucht und im einschlägigen Normenspektrum verankert; Heiligensetzer betont abschließend noch zu Recht, dass gleichzeitig darstellerische Spielräume bestanden, die die Verfasser auch nutzten (127). 42 Zu Familiengeschichtsschreibung vgl. POMATA, Partikulargeschichte (wie Anm. 40) S. 22 f.; zu autobiographischen Schriften des 15. und 16. Jahrhunderts s. JANCKE, Autobiographie als soziale Praxis (wie Anm. 12) S. 198; zu Hausbüchern vgl. CLAUDIA ULBRICH, Libri di casa e di famiglia in area tedeschi: un bilancio storiografico, in: Memoria, famiglia, identità fra Italia ed Europa nell’ età moderna. Hg. GIOVANNI CIAPPELLI. Bologna 2009 S. 39-61.
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wohl des Ausgreifens in die weiteren gesellschaftlichen Kontexte als auch der Einbindung der eigenen Person in solche übergreifenden Zusammenhänge43, wobei die eigene Person den Ausgangspunkt bildet. Dabei stellt sich zum einen die Frage der Autorität: Wer kann beanspruchen, gültiges Wissen über die Person und ihre Position in ihrer Gesellschaft zu besitzen?44 Eng verbunden damit ist die Frage nach dem Raum der betreffenden Person dafür, solches Wissen nicht nur hervorzubringen, sondern es auch mitteilen und anderen gegenüber zur Geltung bringen zu können. Hier ist ein Ort für Kämpfe und Konflikte, in denen soziale Hierarchien und Vorstellungen über legitime Autorität und sozial akzeptierte Sprecherpositionen von eminenter Bedeutung sind. Wenn jemand durch autobiographisches Schreiben mit Exempelfunktion sich selbst als Vorbild für andere postuliert und dies, wie in der Frühen Neuzeit zumeist, aus der Position eines Haushaltsvorstandes heraus tut, dann wird mit Dominanzansprüchen für die eigene soziale Position und das eigene Personkonzept gegenüber anderen operiert. Durch solche Sprechakte wird der Raum der eigenen Person auf andere ausgeweitet. Umgekehrt bietet autobiographisches Schreiben aber auch Menschen in marginalen oder prekären Positionen die Möglichkeit, am Beispiel der eigenen Erfahrungen Deutungshoheit und Definitionsmacht zu beanspruchen, die sich auf die eigene Person und ihre Einbindung in gesellschaftliche und politische Zusammenhänge bezieht. In solchen Selbstzeugnissen liegt, wie die Autobiographieforschung der letzten Jahrzehnte deutlich gesehen hat, politische und gesellschaftliche Strahlkraft, denn dort wird Raum für kritische Perspektiven gegenüber den Machtverhältnissen geschaffen, die in anderen Formen als denen der eigenen Erfahrung nicht unbedingt artikuliert werden können.45 Wie Erfahrung verarbeitet und vermittelt werden kann, wenn die sozialen Zusammenhänge, die dafür notwendig sind, zerstört sind, ist eine spezifische, selten explizierte, aber dennoch grundlegende Frage in autobiographischen Texten bzw. Lebenserzählungen von Völkermordüberlebenden.46 43 Das hat etwa Hans Medick an Selbstzeugnissen über den Dreißigjährigen Krieg eindrucksvoll gezeigt: HANS MEDICK, Der Dreißigjährige Krieg als Erfahrung und Memoria. Zeitgenössische Wahrnehmungen eines Ereigniszusammenhangs, in: Der Dreißigjährige Krieg. Facetten einer folgenreichen Epoche. Hg. PETER C. HARTMANN/FLORIAN SCHULLER. Regensburg 2010 S. 158-172, hier bes. 168; ebd. 164 auch der Verweis auf die „Anverwandlung der eigenen Erfahrung“ an ein vorhandenes Bild. In diesem Aufsatz skizziert Hans Medick seine Beobachtung, dass die Kategorie der „Erfahrung“ in den Extrem- und Krisensituationen des 17. Jahrhunderts in einer Vielzahl von Diskursen, bis auf die Ebene der Selbstzeugnisse, einen grundlegenden Stellenwert als Erkenntnis-, Handlungs-, Normbegründungs- und Memoriabegründungs-Kategorie erhalten habe. Es wäre also jeweils sehr genau auf die Kontexte zu achten, in denen Erfahrung als Argument angeführt wird, ebenso wie auf die Anliegen, für die dieses Argument herangezogen wird, und schließlich auf die Akteurinnen und Akteure, die sich dieses Argumentes bedienen. 44 Mit der Begründung einer Sprecherposition durch die eigene Erfahrung und dem Anspruch eines Ausschlusses anderer, denen die einschlägige eigene Erfahrung mangelt, hat sich Claudia Ulbrich am Beispiel von Regula Engel befasst: CLAUDIA ULBRICH, Deutungen von Krieg in den Lebenserinnerungen der Regula Engel, in: Krieg und Umbruch in Mitteleuropa um 1800. Erfahrungsgeschichte(n) auf dem Weg in eine neue Zeit. Hg. UTE PLANERT. Paderborn usw. 2009 S. 297-315, hier 301 f. 45 Vgl. SMITH/WATSON, Reading Autobiography (wie Anm. 6) Kap. 2: Autobiographical Subjects, S. 21-61. 46 Für das Beispiel der Armenier nach dem jungtürkischen Völkermord von 1915/16 siehe u.a. in deutscher Sprache KRIKOR BELEDIAN, Die Katastrophe und die Erfahrung sprachlicher Grenzen in
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Man kann sagen, dass das in Selbstzeugnissen mit Exempelfunktion ausgebreitete nützliche Wissen mit der Kategorie der Erfahrung fassbar ist.47 Dabei geht es jedoch um mehr als nur um die Abbildung von Wirklichkeit: nämlich um ihre normative oder auch literarische Gestaltung – um „Erfahrung als narrative Form“.48 Damit sind wir an einer Stelle, wo die schreibende Person für sich selbst Kontexte herstellt und damit wiederum in sozialen Kontexten wirksam werden will. Wenn Erfahrungen in autobiographischen Schriften thematisiert werden, dann müssen sie nicht als solche markiert und schon gar nicht auf einer Metaebene benannt und erörtert werden. Nicht unbedingt werden sie also daran kenntlich, dass sie unter dem Vorzeichen eines ausdrücklichen Diskurses über Erfahrungen präsent sind, wie es etwa Karl Philipp Moritz im späten 18. Jahrhundert mit seinem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde propagiert hat. Erfahrungen stehen auch nicht deshalb in autobiographischen Texten, weil sie gemacht worden sind, sondern weil jemand Gründe und Absichten hatte, sie in schriftlicher Form zu thematisieren. Dabei müssen keineswegs nur individuelle und ganz persönliche Motivationen eine Rolle spielen. Auch Schreibtraditionen allgemein und autobiographische Schreibkulturen im Besonderen können einen solchen Rahmen abgeben, in dem es sinnvoll und wichtig erscheint, aus individuellen Erfahrungen nützliches Wissen auch für andere zu machen und dieses durch Verarbeitung in geeigneten schriftlichen Formen dann in gemeinsame Traditionsbestände einzuspeisen.49
der armenischsprachigen Literatur, in: Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsentationen. Hg. MIHRAN DABAG/ANTJE KAPUST/BERNHARD WALDENFELS. München 2000 S. 297-316 und JANINE ALTOUNIAN, Erfahrung der Gewalt in der Generationenfolge. Diskussion des Beitrags von Krikor Beledian aus psychoanalytischer Perspektive, in: ebd. S. 317-326; KRIKOR BELEDIAN, Die Erfahrung der Katastrophe in der Literatur der Armenier, in: Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Hg. KRISTIN PLATT/MIHRAN DABAG. Opladen 1995 S. 186-254; vgl. außerdem die in Anm. 78 angeführte Literatur. 47 Zu einer reflektierten Kategorie der Erfahrung unter Einbeziehung ethischer und politischer Aspekte vgl. JOAN W. SCOTT, Experience, in: Feminists Theorize the Political. Hg. JUDITH BUTLER/JOAN W. SCOTT. New York usw. 1992 S. 22-40; DIES., Phantasie und Erfahrung, in: Feministische Studien 19/2. 2001 S. 74-88; philosophie- und wissenschaftsgeschichtlich s. zu Erfahrung in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 2. 1972 Sp. 609-624: F. KAMBARTEL, Art. Erfahrung 609-617; H. HOLZHEY, Art. Erfahrung, Analogien der 617-619; G. KNAUSS, Art. Erfahrung, innere 619 f.; H. MEY, Art. Erfahrungswissenschaft 621-623; U. CLAESGEN, Art. Erfahrung, transzendentale 623 f.; ferner HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK, Wissen und außereuropäische Erfahrung im 18. Jahrhundert, in: Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Hg. RICHARD VAN DÜLMEN/SINA RAUSCHENBACH. Köln usw. 2004 S. 629-653. Zum Ansatz des „ethical turn“ s. außerdem CHRISTINE LUBKOLL/ODA WISCHMEYER (Hg.), „Ethical Turn“? Geisteswissenschaften in neuer Verantwortung. Paderborn 2009; TODD F. DAVIS/KENNETH WOMACK (Hg.), Mapping the Ethical Turn. A Reader in Ethics, Culture, and Literary Theory. Virginia 2001. 48 Damit greifen wir eine Formulierung von Franziska Ziep auf, s. ZIEP, ÜberLebensgeschichten (wie Anm. 5) S. 4. Wir bedanken uns bei der Verfasserin, dass wir aus ihrem Vortragsskript zitieren dürfen. 49 Auch in der arabischen Autobiographik war diese Art des autobiographischen (und biographischen) Schreibens sehr verbreitet, s. Interpreting the Self. Hg. REYNOLDS (wie Anm. 16) S. 3, 38-40. Weitere transkulturelle Blicke in andere autobiographische Schreibkulturen würden sich vermutlich lohnen. S. MEDICK, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 43), ULBRICH, Deutungen (wie Anm. 44) und JANCKE, Die ( זכרונותsichronot, Memoiren) (wie Anm. 20).
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Erfahrung war für frühneuzeitliche Verfasserinnen und Verfasser autobiographischer Texte eine Größe, die unter anderem psychische, ethische und politische Aspekte besaß. Sie behandelten sie nicht als ein in einem Moment erstarrtes festes und von da an isoliertes Faktum. Mit ihr hatte man in einem kontinuierlichen, sozial eingebetteten und kommunikativen Prozess umzugehen, und eine Verarbeitung in schriftlicher Form bedeutete weit mehr als nur eine neutrale Fixierung im Sinne von exakter Abbildung eines bestimmten Momentes. Autobiographisches Schreiben markierte allerdings einen bestimmten Punkt im Prozess der Ver- und Bearbeitung, und zwar den der Überführung in gemeinsame und geteilte Wissensbestände.50 Damit wurde ein Anspruch angemeldet, dass die thematisierten Bereiche auch für andere und über die eigene Person hinaus relevant sein und im Kontext von Gruppenkulturen und Gemeinwesen eine Rolle spielen sollten – ein Anspruch also, der Verpflichtungen und normative Aspekte der Sozialität nicht nur mit umfasste, sondern geradezu darauf ausgerichtet war. Das disqualifiziert die thematisierten Erfahrungen nicht als reale Erfahrungen, es führt aber vor allem in die Situation hinein, in der jemand dasitzt und Dinge aus seinem Leben aufschreibt – oft viele Jahrzehnte nach dem Ereignis und nachdem das ursprüngliche Erlebnis in Erfahrung umgesetzt und beständig weiter verarbeitet und mit transportiert worden ist. Auch die detaillierteste erzählerische Ausgestaltung bis hin zur wörtlichen Rede ändert nichts daran. Erst von hier, von der Schreibsituation aus, wird ausgewählt, was thematisiert werden soll, zu welchem Zweck das geschehen soll und wie es dafür zu wenden und zu organisieren sei. Auf diese Weise geht Erfahrung als etwas Verarbeitetes, in Diskurse Eingefügtes und durch Diskurse Modelliertes ebenso wie als etwas in eine Handlung Umgesetztes in das Exemplum ein. Die Exempelfunktion führt in das weite Feld von sozialen Strukturen und Wertordnungen. Meistens sollten Regeln für ein gutes Leben an die nächste Generation weitergegeben werden.51 In den autobiographischen Texten geht es nicht um die Reflexion und Begründung solcher Regeln, sondern um ihre Praxis, um die Prüfung gelebten Lebens vor dieser normativen Folie, um den Erweis, wo entsprechend gelebt wurde, und um die Weitergabe nicht nur der Normen, sondern auch des ganzen damit verbundenen praktischen sozialen Wissens. Wir haben es, wie man mit Pierre Bourdieu sagen könnte, hier nicht mit theoretischer Vernunft und ihren Argumenten zu tun, sondern mit dem praktischen
50 Besonders deutlich sichtbar u.a. in Glikls Autobiographie (wie Anm. 38), vgl. zu diesem Punkt JANCKE, Die ( זכרונותsichronot, Memoiren) (wie Anm. 20) S. 117 f. 51 Damit gehörte frühneuzeitliches autobiographisches Schreiben im weitesten Sinne in normativethische Diskurse mit ihren langen Traditionen seit der Antike hinein; am Beispiel von Konrad Pellikan genauer diskutiert bei JANCKE, “Individuality” (wie Anm. 7), und am Beispiel der Comtesse de Schwerin entfaltet von CLAUDIA ULBRICH, Person and Gender: The Memoirs of the Countess of Schwerin, in: German History 28/3. 2010 S. 296-309; vgl. allgemein von literaturwissenschaftlicher Seite, unter Zugrundelegung einer Opposition von Fiktion vs. Wirklichkeit, CHRISTIAN KLEIN, Von rechter Sittlichkeit und richtigem Betragen. Erzählen im moralisch-ethischen Diskurs, in: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Hg. DERS./MATÍAS MARTÍNEZ. Stuttgart usw. 2009 S. 160-178, hier bes. 168-172 zur Legitimation der vorgetragenen normativen Ansprüche durch autobiographische Passagen.
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Sinn, der seinerseits seine Begründungs- und Handlungslogiken besitzt und Forderungen an sich und andere stellt, dabei aber fast immer implizit bleibt.52 Die autobiographischen Exempla sind rhetorisch verwendetes Wissen in historischen Kontexten und Lebenssituationen.53 Sie nehmen Bezug auf gemeinsame, mit anderen geteilte soziale Strukturen und Wertordnungen, in denen die Autorinnen und Autoren sich selbst sozial und ethisch positionieren und gleichzeitig andere zu einer solchen aktiven Übernahme auffordern. Gemeinsamkeit ist hier etwas, was Handlungsmöglichkeiten erst eröffnet und konkretisiert. Wer Normen aufrufen kann, beansprucht eine Position von Autorität und definiert sich durch den Zugang zur Verfügungsmacht über die gemeinsamen gesellschaftlichen Ressourcen, die mit solchen Normen verbunden sind und durch das Hantieren mit ihnen verwaltet werden. Solche Normen in frühneuzeitlichen Texten betreffen z.B. das Verhalten in sozialen Beziehungen, den Umgang mit Ressourcen in einer Ökonomie sozialer Beziehungen und schließlich Haushalte als Basiseinheiten in einer Gesellschaft, die man in Anlehnung an Marshall Sahlins und andere sehr weitgehend als „Haushaltsgesellschaft“ bezeichnen kann.54 Wer Normen aufruft und exemplifiziert, definiert sich damit als Person über das Handeln und geht von einem Konzept des doing person aus. Hier wird in den autobiographischen Schriften etwas vorausgesetzt, das keiner weiteren Erklärungen bedarf – jedenfalls für diejenigen, die als Publikum ins Auge gefasst wurden. Die Texte sind gemacht für Menschen, die solches implizites Wissen teilen, weil sie in denselben sozialen Strukturen und normativen Ordnungen leben.55 Ein Teil hiervon ist auch das jeweilige Literatursystem. In jenem der Frühen Neuzeit wurden Texte geschrieben um einer Argumentation willen. Das heißt, es war die Argumentation und nicht die Erfahrung als außertextliche Wirklichkeit, die für frühneuzeitli-
52 PIERRE BOURDIEU, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1997 (zuerst frz.: Le sens pratique. Paris 1980). 53 Vgl. STEFAN WILLER/JENS RUCHATZ/NICOLAS PETHES, Zur Systematik des Beispiels, in: Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Hg. JENS RUCHATZ/STEFAN WILLER/NICOLAS PETHES. Berlin 2007 S. 7-59 mit Verweis auf weitere Literatur, s. auch die Frühneuzeit-Beiträge im selben Band; für antike Traditionen vgl. A. LUMPE, Art. Exemplum, in: Reallexikon für Antike und Christentum 6. 1966 Sp. 1229-1257. 54 Diese Stichworte sollen in Kürzestform einige Ergebnisse einer Studie von Gabriele Jancke zu Gastfreundschaft in der Frühen Neuzeit benennen, die hier nicht ausführlich ausgebreitet werden können. Vgl. auch GABRIELE JANCKE/DANIEL SCHLÄPPI, Ökonomie sozialer Beziehungen. Wie Gruppen in frühneuzeitlichen Gesellschaften Ressourcen bewirtschaften, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 22/1. 2011 S. 85-97, ferner den Workshop „Die Ökonomie sozialer Beziehungen – Ressourcenbewirtschaftung als Geben, Nehmen, Investieren, Verschwenden, Haushalten, Horten, Vererben, Schulden“, organisiert von Gabriele Jancke und Daniel Schläppi, FU Berlin, 9./10.9.2010, dessen Ergebnisse veröffentlicht werden sollen (siehe Tagungsbericht von Babette Reicherdt vom 21.04.2011, in: H-Soz-u-Kult, http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3630, zuletzt aufgerufen am 12.07.2011). – Zur Debatte über Haushaltsgesellschaften in der Ethnologie s. nur CARSTEN, After Kinship (wie Anm. 18), Kap. 2: Houses of Memory and Kinship S. 31-56, hier 41 f. (Claude Lévi-Strauss, Marshall Sahlins). 55 Am Beispiel von Patronagebeziehungen diskutiert bei JANCKE, Autobiographie als soziale Praxis (wie Anm. 12), Kap. 2: Abhängig sein: Gelehrte Männer in Patronageverhältnissen. Rekonstruktion einer Gruppenkultur, S. 75-164.
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che Verfasserinnen und Verfasser ein textgenetisches Prinzip darstellte.56 Empirie konnte ein Teil solcher Argumente sein, war aber kein Selbstzweck, während das Ziel solcher rhetorischer Argumentation im gemeinsamen Wohl und damit in einem Bereich der Ethik gesehen wurde. Frühneuzeitliches autobiographisches Schreiben ist von diesem Literatursystem und seinen Regeln nicht zu trennen.57 Ebenso sind auch die Memoiren Roupens und anderer fedayis oder Funktionäre vor dem Hintergrund der neuarmenischen (ashkharhapar) Literatur des 19. Jahrhunderts, der literarischen Entwicklung in Armenien und vor allem der Diasporaliteratur nach 1915 zu betrachten. Drei spezifische Merkmale verdienen in diesem Zusammenhang besondere Beachtung: Zunächst fällt auf, dass viele Autoren nach 1915 die literarische Form eines autobiographischen bzw. dokumentarischen Romans wählen. Manche Autoren bedienen sich beider Textformen und schreiben sowohl Memoiren als auch autobiographisch-dokumentarische Fiktion.58 Insofern wäre eine systematische Studie zum Verhältnis von Selbstzeugnis und autobiographischem Roman nach 1915 aufschlussreich. Zum anderen wird der Literatur – gerade in der Diaspora nach 1915 – von einigen Autoren programmatisch eine Funktion als Ort des Denkens und der intellektuellen Auseinandersetzung zugewiesen. Dazu gehört auch die Entwicklung eines entterritorialisierten Heimatbegriffs über die Literatur, die Vorstellung von Literatur als Versammlungs- und Heimatort der zerstreuten Gemeinschaft. Schließlich ist der Rückgriff auf ältere literarische Formen und orale Erzähltraditionen der Verarbeitung von Katastrophe und Überleben zu nennen.59
Roupens Erinnerungen als Exemplum Roupen erwähnt in seinen siebenbändigen Erinnerungen an keiner Stelle die Absicht, sein Text solle als Beispiel, Handlungsanweisung, Orientierungshilfe oder Ratgeber für die eigenen Nachkommen, Nachfolger oder künftige Generationen dienen. Dass seinen Memoiren allerdings eine Funktion als Exemplum zugrunde liegt, ist kaum zu übersehen. Auf der inhaltlichen Ebene hebt Roupen den außergewöhnlichen Charakter seiner Generation hervor, wobei „Generation“ in erster Linie für die fedayis (die aktiven Kämpfer und Parteikader) steht. Eines der bekanntesten – und im Hinblick auf die Exempelfunktion des Werkes einschlägigsten – Zitate aus Roupens Erinnerungen ist der Buchausgabe als 56 Zum rhetorischen Literatursystem der Frühen Neuzeit s. jetzt die zusammenfassende Darstellung bei ANDREAS KELLER, Frühe Neuzeit. Das rhetorische Zeitalter. Berlin 2008, hier v.a. Kap. 4: Argumentation als textgenetisches Prinzip, S. 49-62. 57 Zur Argumentation einzelner autobiographischer Schriften s. JANCKE, Autobiographische Texte (wie Anm. 2) zu Josel von Rosheim, Katharina Zell und Jakob Andreae (und in DIES., Autobiographie als soziale Praxis [wie Anm. 12] Kap. 1); DIES., Die ( זכרונותsichronot, Memoiren) (wie Anm. 20) zu Glückel von Hameln/Glikl bas Judah Leib. 58 Ein Beispiel ist der Schriftsteller und Politiker Malkhas (Ardashes Hovsepian, 1877-1962), dessen fünfbändiger Roman Zartonk (Erwachen/Renaissance; 1. Aufl. Boston 1933) bis heute breit rezipiert wird – und zwar mit einiger Berechtigung als eine Art Geschichtsbuch der armenischen Nationalbewegung. Daneben hat Malkhas in zwei Bänden auch seine Memoiren (Abroumner) vorgelegt. 59 Wegweisend sind die Untersuchungen von NICHANIAN, Entre l’art et le témoignage (wie Anm. 32) und KRIKOR BELEDIAN, Cinquante ans de littérature arménienne en France. Paris 2001; vgl. auch MARC NICHANIAN, Ages et usages de la langue arménienne. Paris 1989, insbes. Kap. 9 und 10.
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Motto bzw. Widmung vorangestellt und wird auch im Klappentext der Neuausgabe des ersten Bandes wieder aufgegriffen: „Die Namen, die ich [hier] erinnere, repräsentieren jene Generation, die mit ihrer Opferbereitschaft, ihrem revolutionären Temperament [und] ihrem moralischen Verständnis in unserem Leben nur einmal geboren wurde und kein zweites Mal die Welt erblickte. Von ihnen habe ich [hier] nur einiger gedacht ... aber ein anderes Mal, wenn die Möglichkeit besteht, muss man sie alle beschreiben, weil einige von ihnen im armenischen Leben eine entscheidende Rolle gespielt haben. Ich habe viele Generationen gesehen, an verschiedenen Orten, aber das Aroma und der Duft [das Wesen und der Geist] dieser Generation waren anders, so wie der [Geschmack] der Äpfel von Ardamed [einer Ortschaft in der Region um Sasoun, Anm. E. H.] [ein besonderer war], selbst wenn in sie ein Wurm hineingelangt sein sollte.“60
Auffällig ist weiterhin, wie Roupen an vielen Stellen sein eigenes Verhalten, seine Entscheidungen oder seinen Umgang mit anderen in bestimmten Situationen und Episoden darlegt, begründet und jeweils das Für und Wider analysiert. Die erzählte Episode wird so zum Lehrstück, dessen Diskussion, Auslegung und Bewertung mitgeliefert werden.61 Nicht selten führt Roupen den lehrhaften Charakter einer Begebenheit explizit aus, den er zunächst auf seine eigene Person in der gegebenen Situation bezieht. Er verweist an diesen Stellen allerdings auf eine Zukunft, die jenseits des Berichtszeitraums liegt.62 Schließlich schafft Roupen mit seiner Reihe von oft filigranen und facettenreichen Porträts einzelner, herausgehobener Kämpfer und Kader ein Repertoire verschiedener zusätzlicher Identifikationsfiguren.63 60 RH, Bd. 1, S. 5. 61 RH, Bd. 3, S. 352-355 (Heirat von Kevork Tchavoush) [RM, S. 352 f.]; Bd. 4, S. 270-278 (die Unzufriedenheit der fedayis, der Streit um das diagonale Kleid und die „stinkende Quelle“) [RM, S. 539545]; Bd. 4, S. 279-282 (die Braut von Dadrakom) [RM, S. 545-547]; Bd. 3, S. 181 f. und Bd. 4, S. 144 (Kevork Tchavoush tötet seinen Onkel) [RM, S. 281 f.] etc. 62 RH, Bd. 1, S. 358-381 (Alyosha) [fehlt in RM]; Bd. 1, S. 156-173 (Kampf von Khan und Nevrouz bei Pasen) [RM, S. 57-68] etc.; vgl. auch RH, Bd. 1, S. 149. 63 Das prominenteste Beispiel ist sicherlich die Darstellung von Kevork Tchavoush, der überhaupt erst durch Roupens Memoiren jenen legendären Status eines von allen Armeniern ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit gefeierten mythischen Helden bekommen konnte, vgl. insbes. RH, Bd. 2, S. 230 („krummer“ Charakter der Leute von Daron und Kevorks) [RM, S. 358], S. 278-302 (Roupens erste Erfahrungen mit Kevork in Daron, Kevork im Wald von Kızılağaç und das Gericht über Mogounats Magar) [RM, S. 387-400]; Bd. 3, S. 121 (Kevork bricht aus dem Gefängnis aus) [RM, S. 255], S. 181 f. (Kevork tötet seinen Onkel) [RM, S. 281 f.], S. 202-204 (Kevorks Charakter, seine Mängel als Anführer) [RM, S. 292 f.], S. 243 (Andenken an Kevorks Heldentaten, sein Ruf bei Freund und Feind, seine „Exilierung“ nach Vasbouragan) [RM, S. 308 f.], S. 309-314 (Versammlung von Marniga, Abzug der Kämpfer, Rückkehr Kevorks) [RM, S. 338-340], S. 322-355 (Kevork in Sasoun 1905, seine Hochzeit) [RM, S. 348-353]; Bd. 4, S. 12-15 und 75-80 (Kevorks Charisma, die Macht seiner Ausstrahlung, seine Kämpfer und Kämpfe) [RM, S. 404, 431-433], S. 38 (Kevork tanzt) [RM, S. 412], S. 44-46 (Kevork in Khnous, „der legendäre Kör Oğlu“) [RM, S. 415-417], S. 132 f. (Respekt des Köse Binbaşı für Kevork) [RM, S. 462], S. 139-146 (Kevork in S. Garabed, Streit mit Magar, grobe Späße mit neuen fedayis) [RM, S. 465-469], S. 159-178 (Kampf in Souloukh und Tod Kevorks) [RM, S. 476-487] etc.; vgl. auch die Charakterisierungen anderer Kämpfer, denen eigene Textabschnitte und kleine Kapitel gewidmet sind: RH, Bd. 1, S. 58 (Levon Kalantarian) [RM, S. 30], S. 59 (Rous Kevork) [RM, S. 30 f.], S. 60 (Hamo Djanpoladian) [RM, S. 31], S. 147 f., passim (Torkom-Touman) [fehlt in RM], S. 148 (Menag) [fehlt in RM], S. 149 f. (Isadjan) [fehlt in RM], S. 153-156 (Ishkhan) [fehlt in RM], S. 237-239 (Simon Zavarian) [fehlt in RM]; Bd. 3, S. 204-207
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Der Exemplum-Charakter von Roupens Erinnerungen wird aber vor allem in der Perzeption seines Textes deutlich. Unmittelbar nach seinem Tod gab Roupens Witwe den Weg für den weiteren Umgang mit seinem Andenken vor. In einem Offenen Brief anlässlich seines Begräbnisses legte sie den Gebrauch der Erinnerungen als Exemplum, als Lehrwerk, Orientierungshilfe und Handlungsanweisung für die junge Generation nahe, indem sie anstelle der hergebrachten Formen des Totengedenkens zur täglichen Lektüre seines Werkes, zu seinem gemeinschaftlichen Studium und zur Orientierung daran aufrief.64 Offenbar hatte Roupen selbst gegen Ende seines Lebens seine jugendlichen Zuhörer immer wieder zur Lektüre seiner Memoiren aufgefordert.65 Viele andere Nachrufe und Zeitungsbeiträge griffen diesen Vorschlag auf und kleideten ihn gelegentlich in die Sprache pathetischer Aufrufe.66 Wie sehr dieser Vorschlag befolgt wurde, zeigt ein Blick in die Materialien, die die Tashnagtsoutiun im Libanon für ihre Jugendarbeit zusammengestellt hat. In einzelnen Kapiteln ist jeweils eine ausgewählte Episode aus Roupens Erinnerungen wiedergegeben, die im Anschluss ausgelegt wird.67 Während der Versammlung im Parteiclub sollen diese Textausschnitte gemeinsam gelesen und diskutiert werden. Auf diese Weise sind bis heute große Abschnitte des Werks unter den an die Partei gebundenen Armeniern in Syrien und dem Libanon weit verbreitet, wenn auch nur in einer bestimmten Lesart. Exemplarisch, das heißt beispielhaft und beispielgebend, wurden Roupens Memoiren vor allem auch für Geschichtsschreibung und Geschichtsbild der folgenden Generationen. Nach der Katastrophe wurden viele überlebende fedayis und Parteiführer aufgefordert, ihre Erinnerungen niederzulegen.68 Roupens Erinnerungen, die umfangsreichsten und elaboriertesten Memoiren eines fedayi, wurden dabei richtungsweisend. Früh publiziert, wurden sie zum Vorbild für andere fedayis und Funktionäre, die ihre Erinnerungen aufschreiben sollten. Roupens Memoiren gaben nicht nur Form und Richtung vor, in vielen Fällen dominierten sie sogar inhaltlich das, was erinnert wurde und was nicht, begründeten also – in der Terminologie Angelika Schasers – ein „Erinnerungskartell“69 der
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(Sbaghanats Magar) [RM, S. 293-295], S. 207-210 (Antranig) [RM, S. 295 f.]; Bd. 4, S. 109 (Hamazasb) [RM, S. 450] etc. Digin Roupeni namage, in: Haratch 30.11.1951. Roupen Der Minasian, in: Hayasdan, wiederabgedruckt in: Gamk Jan./Feb. 1952. Vgl. EDITORIAL „AZTAG“, Anonts kordze mezi togh ella oughetsouyts, in: Aztag 2.12.1951; Roupen, in: Gamk Jan./Feb. 1952; Roupen Der Minasian (wie Anm. 55); EDITORIAL „AZTAG“, Roupeni hishadagin, in: Aztag 4.5.1952; H. SERENGIULIAN, Pokhan dzaghgebsagi, in: Haratch 8.12.1951; T. KARNIG, Tsavagtsagan namag, in: Haratch 12.12.1951; YENOVK LATCHINIAN, Hayots Roupene, in: Haratch, Compilation ChA S. 220-221; V[AROUJAN] T[EMBELIAN], Abagetronatsoum – Kaghaparagan getronatsoum, 1951/52, Compilation ChA S. 242-243; SONIG GÜLOYIAN, Araradi partsoutiamp slatsogh Roupenin` hazaramya hayou idealin, in: Razmig Mai/Juni 1984 S. 22; etc. Tashnagtsagan badaniin kirke. Hg. VIKEN AVAKIAN. Beirut 22005. Roupens Jugendfreund Roupen Tarpinian, ebenfalls Mitglied der Tashnagtsoutiun und Herausgeber der Bostoner Monatsschrift Hayrenik Amsakir, die für die großen Gemeinden der amerikanischen Ostküste als inoffizielles Parteiorgan diente, spielte dabei eine zentrale Rolle. Seine Zeitschrift wurde zum Forum der tashnakischen Erinnerungstexte nach dem Krieg, und Tarpinian bot auf diese Weise vielen Kämpfern und Kadern ein Auskommen und einen Übergang in ein ziviles Leben. ANGELIKA SCHASER (Hg.), Erinnerungskartelle: Zur Konstruktion von Autobiographien nach 1945. Bochum 2003. Vgl. insbesondere ihren eigenen Beitrag über liberale Eliten in Deutschland nach 1945 und über deren Umgang mit der eigenen Vergangenheit während der NS-Zeit: ANGELIKA
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armenischen fedayis, der Partei Tashnagtsoutiun und damit eines wesentlichen Teils der armenischen Diaspora. Der politischen Dimension, die eine bewusst gestaltete kollektive Erinnerung und Geschichtsschreibung haben, war sich Roupen, der außer seinen Memoiren auch eine Reihe von politischen und politikwissenschaftlichen Studien geschrieben hat70, bewusst. Diese Zusammenhänge von Erinnerung und historischer Sinnstiftung, Wahrheit und Quellenwert von Selbstzeugnissen, Geschichtsdarstellung und Deutungshoheit über die Geschichte reflektiert er in der Einleitung zu seinen Memoiren, wenn er schreibt: „Das, was man unmittelbar von den Akteuren hört, oder das, was man mit den Augen sieht, kann nicht unwahr und Lüge sein, aber als ganz wahrhaftig kann es auch nicht angesehen werden; der Klang der Zourna [eines Holzblasinstruments mit extrem durchdringendem Ton, das in der ganzen Region Armeniens, der Türkei und Irans verbreitet ist und traditionellerweise bei Hochzeiten gespielt wird, Anm. E. H.] bereitet den Brautleuten Freude, sensiblen Ohren jedoch Schauder. Um die Wirklichkeit zu begreifen, kommt die Lektüre von Autoritäten einer Selbstauslieferung an die Verwirrung gleich; dort ist die Achse er [der Autor] selbst, die Welt ein Planet; der nach Kampf dürstende Held ist vorsätzlich vergessen, sein Wasserträger dagegen als Held präsentiert. Das wird bestimmt von seinen persönlichen Interessen oder denen seiner Partei oder seiner Klasse. [Soll man] zur Verifikation die Gesetze lesen? Diese wiederum sind gemacht, um die Unrechtstaten zu legitimieren. [Soll man] die beglaubigten Dokumente lesen? Aber sie sind [doch nur] dafür gemacht, um die eigentlichen Geschehnisse zu verschleiern. [Soll man] die Berichte in der Tagespresse lesen? Aber sie sind geschrieben mit spezifischen Anliegen, zunächst, um einen Lohn zu erhalten, ferner, um den Lohngeber zufrieden zu stellen ebenso wie die Triebe des Pöbels. Eben wegen dieser Einschränkungen sind die Geschichte und Soziologie noch weit davon entfernt, eine Wissenschaft zu sein; einige sagen, dass es eine solche Wissenschaft gebe, andere sagen, dass [es sie] nicht [gebe].“71
Mit diesen Zeilen formuliert Roupen seinen Anspruch, die Deutungshoheit über seine Geschichte nicht anderen zu überlassen, auch nicht jenen, die für sich Professionalität beanspruchen. Er besteht darauf, den Akt des Erinnerns und Gedenkens wie auch der Auswahl und Sinnstiftung des vergangenen Geschehens selbst vorzunehmen.72 SCHASER, Erinnerungskartell. Der Nationalsozialismus im Rückblick der deutschen Liberalen, in: ebd. S. 49-80. 70 Zu seinen am meisten beachteten Werken zählen zwei Abhandlungen über die Armenier am Kreuzweg zwischen Orient und Okzident sowie über die Völker und Länder des Vorderen Orients: ROUPEN, Hayasdan mitch-tsamakayin oughinerou vra. Beirut 1948 (zuerst in Fortsetzungen im Aztag Shapatoryag 1946; Wiederabdruck Beirut 1984); DERS., Mitchin Arevelki joghovourtner yev yergirner. Beirut 1984 (zuerst in Fortsetzungen in Hayrenik Amsakir März, Mai-Juli 1931, Mai-Juni 1937). 71 RH, Bd. 1, S. 9. 72 In ihrem Aufsatz: The Adventures of Mein Kampf in Turkey, or: An Autobiographical Duello (Mein Kampf vs. Nutuk) in Five Acts, in: Biography: An Interdisciplinary Quarterly (im Erscheinen) zeigt Hülya Adak, wie sehr unter anderem der Umgang der türkischen Nationalgeschichtsschreibung mit dem Völkermord an den Armeniern die Relevanz dieses Anspruches belegt. Roupens Zeilen zielen wohl aber ebenso sehr auf die westliche Wissenschaft, ohne deren aktive Rolle der türkische Verleugnungsdiskurs nicht denkbar wäre (vgl. auch Anm. 79).
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Memoria Angesichts des spezifischen Kontextes von Roupens Memoiren im Zusammenhang mit dem Völkermord an den osmanischen Armeniern gewinnt der Aspekt der Memoria in ihren vielfältigen Ausprägungen eine zentrale Bedeutung als textorganisierendes Element. Zunächst fällt auf, dass das Sammeln und Dokumentieren lokaler Überlieferungen, Sprichwörter, Lieder und Geschichten bzw. Legenden in Roupens Erinnerungen einen wichtigen Platz einnimmt. Zum einen erwähnt Roupen sein Interesse für diese Dinge und seine systematische Sammel- und Dokumentationstätigkeit in seinen Memoiren bereits im Vorwort der Buchausgabe explizit.73 Seine Zeit als fedayi in Daron kann hier fast wie eine ausgedehnte ethnographische Forschungsreise anmuten – freilich unter den Bedingungen des Kampfes und der Illegalität. Von dem reichen Material, das er auf diese Weise zusammengetragen haben will, ist heute kaum noch etwas vorhanden. Roupen legt dennoch großen Wert darauf, genauestens nachzuzeichnen, wo, auf welcher Etappe seines verschlungenen Weges und seiner zahlreichen Fluchten welche Hefte mit welchen Aufzeichnungen verlorengegangen sind, in wessen Obhut er seine Hefte zuletzt gegeben hatte, kurz, an welchen Stellen künftige Generationen möglicherweise suchen könnten.74 Einiges an Stoffen flicht Roupen aber auch in den Gang seiner Erzählung der Erinnerungen ein, verwebt eine lokale Legende in eine Episode eigenen Erlebens, so z.B. wenn er auf der Flucht vor den Häschern der osmanischen Armee, versteckt auf einer Treibsandinsel in einem Fluss, seinen Begleiter die Legende der Fische aus den weißen und den trüben Wassern in epischer Länge erzählen lässt.75 Mit diesem Interesse für lokale Überlieferungen, mit dieser Sammeltätigkeit oraler Tradition reiht Roupen sich in die Tradition seiner Lehrer am Kevorkian Djemaran in Etchmiadzin ein, unter denen sich die herausragendsten armenischen Musik-, Religions-, Literatur- und Sprachwissenschaftler, Archäologen, Ethnographen und Dialektologen ihrer Zeit befanden, jene Protagonisten einer kulturellen Erneuerungsbewegung, wie wir sie in ähnlicher Form auch auf dem Balkan ebenso wie in Mitteleuropa finden. Roupens Sammel- und Dokumentationsleidenschaft beinhaltet allerdings einen Aspekt, der über die Kompilationstätigkeit im Sinne Gomidas, Srvantsdiants oder der deutschen Brüder Grimm hinaus weist. Die Welt, die Roupen beschreibt, existiert nicht mehr, sie ist zu dem Zeitpunkt, an dem Roupen schreibt, unwiederbringlich verloren. Die Katastrophe des Völkermordes an den osmanischen Armeniern 1915/16 hat die Traditionszusammenhänge, die Überlieferungsketten für immer zerstört. Nach dem Krieg sammeln sich die versprengten Überlebenden in den neu entstehenden armenischen Kolonien in Syrien und Libanon, Ägypten und Griechenland, Frankreich und Amerika. Hier entstehen Dutzende, Hunderte von „Erinnerungsbüchern“ (houshamadyan), bunte Sammlungen möglichst aller Wissens- und Bildbestände, die sich nach der „Katastrophe“ (aghed) noch über einen verlorenen Heimatort zusammentragen ließen. Sehr oft sind diese Erinnerungsbücher Gemeinschaftsarbeiten, zu denen viele Einzelne ihre Erinnerungen oder Fotos beitrugen. In derselben Weise trägt auch Roupen die Erinnerungen vieler zusammen, integriert die Erzählungen vieler Kameraden in sein Werk. 73 RH, Bd. 1, S. 9 [RM, S. 11 f.]. 74 RH, Bd. 1, S. 9-12 [RM, S. 11 f. (gekürzt)]. 75 RH, Bd. 4, S. 372-377 [RM, S. 587, die eigentliche Erzählung fehlt].
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In der ersten Buchausgabe schließlich finden sich sogar die Memoiren wichtiger Weggefährten als ganze Kapitel eingefügt in Roupens Erinnerungen: die Memoiren von Aram Manougian im zweiten Band und die Erinnerungen des Khmpabed Moushegh im siebten. Und auch Roupen versammelt in seinem Werk alles, was seine Wahlheimat Daron in seinen Augen ausmacht. Er erzählt die Legenden und die Geschichte des Landes, er versucht, möglichst viele Ortsnamen zu erfassen, die geographischen Besonderheiten, Baudenkmäler und Kulturstätten möglichst detailgenau zu beschreiben, die lokalen Dialekte und Redensarten möglichst wortgetreu zu überliefern – in der Gesamtschau ein Panorama Darons, Westarmeniens, Großarmeniens.76 Das Element der Memoria ist in Roupens Text besonders ausgeprägt, die Memoria ist der einzige Zweck, den Roupen selbst explizit benennt: er möchte allen seinen Weggefährten ein Denkmal setzen, möglichst viele Namen nennen, ihre Biographien notieren, ihren Charakter nachzeichnen.77 Die enge Verbindung von Exemplum und Memoria liegt auf der Hand, und so ist es nicht verwunderlich, dass wohl alle Texte, die Exemplum-Aufgaben erfüllen, zugleich auch Memoria-Texte sind. Die Memoria sagt zunächst über die Auswahl des Erinnerten auch einiges aus über die Repräsentation des eigenen Handelns. Vor allem aber hebt die Memoria den Einzelnen über seine Individualität hinaus, indem sie ihn synchron in Gruppenverbände und diachron in übergenerationale Zusammenhänge einordnet. Damit wird das Personkonzept des Individuums im Gegensatz zu der lange geläufigen Vorstellung von Individualität als teleologischem Höhepunkt einer Entwicklung eher in seiner Eigenschaft eines um seine sozialen Bezüge reduzierten Personkonzepts sichtbar. Das Personkonzept, das aus Roupens Text aufscheint, ist hingegen eines, in dem soziale Zugehörigkeiten und Abhängigkeiten Handlungsräume eröffnen, nicht verschließen. In Roupens Erinnerungen finden sich die verschiedenen Elemente der Memoria, die auch in Texten aus ganz anderen Räumen und Epochen nachweisbar sind: Erinnern, um dazuzugehören, um sich in einen sozialen Kontext, in eine Gruppe einzuschreiben; Erinnern, um zu verlebendigen, was nicht mehr ist; Erinnern, um zu gedenken, Erinnern als Dank, als Gegenleistung für die eigene Errettung; Erinnern, schließlich, um Deutungshoheit zu erlangen, um das kollektive Gedächtnis und Geschichtsbild mitzugestalten, an der Geschichtsschreibung teilzuhaben. Für Roupen indessen, als Überlebendem der armenischen Katastrophe, erfährt das Erinnern eine Wendung, die sein Text mit vielen Überlebendenberichten gleich welcher Form teilt: Erinnern wird zum Bezeugen, sowohl zum Zeugnis als auch zum Akt des Bezeugens – eine Zeugenschaft, die dem Überlebenden als Pflicht aufgebürdet ist. Für die armenischen Völkermordüberlebenden sind diese Zusammenhänge in dem großangelegten Zeitzeugenprojekt des Bochumer Instituts für Diaspora- und Genozidforschung detailliert dargelegt worden.78 In dem Bewusstsein, oft der oder die einzige Über76 Ein ganzer Band (der dritte) ist allein der Geschichte Darons und der dortigen fedayis vor Roupens Ankunft in der Region gewidmet. 77 RH, Bd. 1, S. 5; vgl. auch die vielen, in die Beschreibung der Ereignisse eingeflochtenen Portraits einzelner fedayis ebenso wie das Bemühen, möglichst alle Namen von an einem Ereignis beteiligten fedayis in langen Aufzählungen zu nennen, z.B. RH, Bd. 1, S. 108 f., 131-135, 138, 140, 147 etc. 78 In den späten 1980er Jahren hat Mihran Dabag rund 130 autobiographische narrative Interviews mit armenischen Völkermordüberlebenden durchgeführt. Die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner stellen sich zunächst vor und erzählen ihr Leben, ohne unterbrochen zu werden. Im Anschluss stellt der Interviewer behutsam Nachfragen, greift einzelne Punkte der Erzählung noch
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lebende zu sein, geht es darum, von der so abrupt, so gewaltvoll und so vollständig verlorenen Welt zu retten, was noch irgend bewahrt werden konnte. Noch mehr aber geht es darum, durch die aktive Erinnerung gegen den Tod das Zeugnis des Überlebens in Anschlag zu bringen, der Auslöschung die Lebendigkeit des Zeugnisses, die Verlebendigung der Erinnerung entgegenzusetzen. Solange sie erinnert werden, solange ihrer gedacht wird, sind die Ermordeten nicht endgültig tot, nicht vollständig ausgelöscht, die Erinnerung hält sie in der Gegenwart fest. Angesichts der Unvorstellbarkeit des Menschheitsverbrechens gilt es schließlich auch, der drohenden Verdrängung und Verleugnung die subjektive Wahrheit der Zeugenschaft entgegenzuhalten.79 Obwohl Roupens Bericht einmal auf, um sie zu vertiefen, flicht aber auch einen vorab erarbeiteten Fragenkatalog ins Gespräch ein. Diese sehr ausführlichen Interviews, die sich jeweils über mehrere Stunden, in einigen Fällen sogar Tage erstreckten, werden derzeit für eine auszugsweise Publikation vorbereitet (http://www.ruhr-uni-bochum.de/idg/unterseiten/projekteTraumaforschung.html, zuletzt aufgerufen am 23.10.2010). Vgl. u.a. die folgenden Studien auf der Basis dieses Materials: KRISTIN PLATT, Gedächtniselemente in der Generationenübertragung. Zu biographischen Konstruktionen von Überlebenden des Genozids an den Armeniern, in: Generation und Gedächtnis. Hg. PLATT/ DABAG (wie Anm. 46) S. 338-376; DIES., Zeichen des Überlebens, in: Armenien. 5000 Jahre Kunst und Kultur. Hg. MUSEUM BOCHUM/INSTITUT FÜR ARMENISCHE STUDIEN. Tübingen 1995 S. 437444; DIES., Gedächtnis, Erinnerung, Verarbeitung. Spuren traumatischer Erfahrung in lebensgeschichtlichen Interviews, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 11/2. 1998 S. 242-263; DIES., Historische und traumatische Situation. Trauma, Erfahrung und Subjekt. Reflexionen über die Motive von Zerstörung und Überleben, in: Gewalt. Hg. DABAG/KAPUST/ WALDENFELS (wie Anm. 46) S. 257-275; MIHRAN DABAG, Traditionelles Erinnern und historische Verantwortung, in: Generation und Gedächtnis. Hg. PLATT/DABAG S. 76-114; DERS., Dem Verlorenen verpflichtet. Gedenkorte der Armenier, in: Orte der Erinnerung oder: Wie ist heute sichtbar, was einmal war? Hg. DETLEF HOFFMANN. Rehburg-Loccum 1995; DERS., Katastrophe und Identität, in: Erlebnis – Gedächtnis – Sinn. Authentische und konstruierte Erinnerung. Hg. HANNO LOEWY/BERNHARD MOLTMANN. Frankfurt a. M. 1996 S. 177-235; DERS., Der Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich, in: Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Völkermord und Holocaust. Hg. VOLKHARD KNIGGE/NORBERT FREI. München 2002 S. 33-55; HEINZ ABELS, Zeugnis der Vernichtung. Über strukturelle Erinnerung und Erinnerung als Leitmotiv des Überlebens, in: Generation und Gedächtnis. Hg. PLATT/DABAG S. 305-337; DERS., Annäherung an eine Vernichtung, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 4/2. 1991 S. 159190. 79 Angesichts der Macht des türkischen staatlichen Verleugnungsdiskurses, der von vielen amerikanischen und europäischen Turkologen bzw. Osmanisten mitgetragen wird, gewinnen die Aspekte der Deutungshoheit über die erlebte Geschichte sowie des Quellenwertes von Selbstzeugnissen besondere Brisanz. Zwei Feststellungen, die in anderen Zusammenhängen banal erscheinen mögen, werden hier zum Politikum: Erstens, dass der Gestus der Absichtsfreiheit und Objektivität lediglich eine Selbstzuschreibung und als solche ein spezifisches Merkmal institutioneller Quellen darstellt, dass sie aber so wie jede andere Quelle erst durch eine gründliche quellenkritische Befragung kontextualisiert werden müssen. Zweitens, dass deshalb Archivalien von Staaten gegenüber Selbstzeugnissen nicht als glaubwürdiger oder höherwertiger zu betrachten sind. Zu den spezifischen Problemen der Geschichtsschreibung über den Völkermord an den Armeniern, die sich aus der anhaltenden Verleugnung ergeben, siehe MARC NICHANIAN, La perversion historiographique. Paris 2006 (englische Übersetzung: The Historiographic Perversion. New York 2009). Vgl. auch HÜLYA ADAK, Identifying the “Internal Tumors” of World War I: Talat Paşa’nın Hatıraları [Talat Paşa’s Memoirs], or the Travels of a Unionist Apologia into “History”, in: Räume des Selbst. Hg. BÄHR/BURSCHEL/JANCKE (wie Anm. 16) S. 151-169. Allerdings hat es selbst in Bezug auf die Shoah – unter den ungleich günstigeren Bedingungen der politischen Anerkennung dieses Völkermords, der juristischen Ahndung seiner Verleugnung und eines breiten gesellschaftlichen Konsen-
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das Völkermordgeschehen selbst gerade nicht thematisiert, lassen sich seine Erinnerungen als Überlebendenbericht lesen: sie sind das Zeugnis eines überlebenden fedayi – deren Sterben als Gruppe vor 1915 Roupen sehr wohl erzählt.
Confessio Welche Bedeutung die Arbeit an seinen Memoiren für Roupen als Person hatte, findet sich bereits in einigen der zahlreichen Nachrufe thematisiert. Roupen fand sich mit dem Exil nie endgültig ab. In den ersten Jahren im Exil gab er sich noch einem zunehmend illusionären Aktivismus hin, in der Hoffnung, über die Aufstände und Kriege anderer auch den Armeniern wieder ihr Heimatland zu erringen. So unterstützte er in den 1920er und 30er Jahren die kurdische Rebellion des Khoyboun, reiste hierfür in den Iran, um mit den Briten zu verhandeln80, während des Zweiten Weltkrieges finden wir ihn in Palästina und Ägypten, wo er versuchte, auf der Seite der Engländer einen Weg nach Armenien zu finden. Während man dem Engagement für Khoyboun noch den Realitätssinn der Hoffnungslosen zuschreiben kann, muss einem kühlen Analytiker wie Roupen in den 1940er Jahren die Vergeblichkeit seiner politischen Bemühungen klar gewesen sein. Was macht aber ein Kämpfer und Mann der politischen Tat im Exil? Roupen wendet das Wort, das er als aktiver Kämpfer und Funktionär so sehr verachtet hatte, wie er in einer längeren Passage seiner Memoiren darlegt81, in die Tat. Mit seinen Worten verses hierüber – lange gedauert, bis neben den bürokratischen Akten der Täter auch die Perspektive der Betroffenen, wie sie aus ihren Selbstzeugnissen spricht, Eingang in die Geschichtsschreibung gefunden hat. Für eine ausführliche Diskussion über die Verwendung und den Quellenwert von Selbstzeugnissen am Beispiel der Geschichte des jüdischen Ghettos von Łódź in der Zeit des Nationalsozialismus vgl. ANDREA LÖW, Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten. Göttingen 2006, Einleitung S. 7-53, insbes. 7-21, 25-31, 43-51; RUTH KLÜGER, Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie, in: Autobiographien von Frauen. Hg. HEUSER (wie Anm. 20) S. 405-410. 80 The National Archive [London], Foreign Office 371/14580, Clive an Henderson vom 30.06.1930 mit Anlage Dodd an Clive vom 28.06.1930; zu Roupens Engagement für Khoyboun vgl. P. PAPAZIAN, Yergou hsganer (irents mahvan ksanhinkamyagin aritov). Roupen, in: Aztag Shapatoryag, 3,1. 28.11.1971 S. 6 f., hier 7; zur Allianz zwischen Tashnagtsoutiun und Khoyboun s. maßgeblich die Studie von VAHÉ TACHJIAN, Khoybun und Daschnaktsutiun: Eine ungewöhnliche kurdisch-armenische Allianz, in: Kurdische Studien 3. 2003 S. 55-78; DERS., La France en Cilicie et en Haute-Mésopotamie. Aux confins de la Turquie, de la Syrie et de l’Irak (1919-1933). Paris 2004 S. 349-404; vgl auch JORDI TEJEL, Kurdisch-armenische Beziehungen unter französischem Mandat in Syrien und im Libanon (1927-1946), in: Kurdische Studien 3. 2003 S. 33-54; vgl. in diesem Zusammenhang auch Roupens Schrift, in der er die Utopie einer Föderation der arischen Völker (Kurden, Armenier, Perser, ggf. auch Luren, Afghanen, Inder) als Gegengewicht zum Panturanismus der Türken entwirft: ROUPEN DER MINASIAN, Iran yev Touran gam Ariagan djagade Touranagan vdankin hanteb, in: Troshag 27/4. 1927 S. 109-114; DERS., Kiurdere yev hayere, in: Troshag 25/2. 1925 S. 38-41. Von seinen kurdischen Bündnispartnern, insbesondere von Seiten der Bedir-Khan Brüder, den wichtigsten Führungspersönlichkeiten des Khoyboun, wurde die arische Idee bereitwillig aufgenommen und fand Eingang in den Vertragstext zwischen Khoyboun und der Tashnagtsoutiun, vgl. das Faksimile (Wiederabdruck) des französischen Originals mit armenischer Übersetzung in Troshag (N.F.) 17/22. 1987 S. 11-14. 81 RH, Bd. 1, S. 85 f. [RM, S. 43]; Bd. 6, S. 411-415 (Streitgespräch mit Melo gegen die Schreiberei); später die Einsicht in die Wirkmächtigkeit des Schreibens: Bd. 2, S. 178 (Wiedersehen mit Melo) [fehlt in RM].
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lässt er das Exil und reist wieder zurück ins verlorene Land82, überwindet die Zeit und begibt sich wieder in das Leben im yergir, das es nicht mehr gibt. Mit seinen Worten lässt er das verlorene Land und das Leben dort noch einmal lebendig werden.83 Mit seinem Text schafft er schließlich jenes Erinnerungsgebäude, welches das Leben der nachfolgenden Generationen prägt und anleitet. Damit sind letztlich seine Worte wirkmächtiger, als es seine Taten – und vor allem jene, über die er schreibt – je waren84, insbesondere der Kampf der fedayis, der angesichts der Katastrophe der Vernichtung als vollständig gescheitert gelten muss. Die fedayis haben es nicht vermocht, die Bevölkerung Westarmeniens zu mobilisieren oder gar zu revolutionieren. Sie, die parteimäßig organisierten bewaffneten Kämpfer, haben es nicht geschafft, die Bevölkerung Westarmeniens zu schützen. Wer als Anführer einer bewaffneten Gruppe die Vernichtung überlebt, während sein Volk stirbt, wird über seine Flucht, sein Davonkommen Rechenschaft ablegen müssen, wird sein Handeln, Denken und Entscheiden rechtfertigen und erklären müssen. Roupen tut dies mit seinen Memoiren, und es ist zu überlegen, ob und in welcher Weise das Element der Confessio, der Bilanz und Rechenschaft über das eigene Leben, in Selbstzeugnissen generell an die Funktionen des Exemplum und der Memoria geknüpft ist. Roupens Confessio erfolgt nicht direkt. Wie bereits erwähnt, sind die Ereignisse in Sasoun 1915 und Armenien 1919/20 die beiden auffallenden Lücken im Text, jene Auslassungen, die sich durch ihre vollständige Aussparung umso deutlicher zu Gehör bringen. Denn auch wenn Roupen darauf verzichtet zu erklären, was in Sasoun 1915 geschehen ist und warum, so legt er durch seinen gesamten Text hindurch an vielen Fallbeispielen die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten unter bestimmten Bedingungen dar und rechtfertigt in jeder Situation eine bestimmte Geisteshaltung, die auch seine ist: Er stellt den nüchternen, zielorientierten, zuweilen sogar moralisch verwerflich scheinenden Pragmatismus über einen in seinen Augen falschen, Ressourcen verschwendenden Idealismus, der sich die Frage nach der Moral zu einfach macht.85 In Bezug auf die ebenso kontroverse wie emotionale Diskussion, ob sich die fedayis aus einem Kampf gegen osmanische Truppen angesichts ihrer Übermacht wieder zurückziehen dürfen bzw. sollen, stellt Roupen unmissverständlich fest: Es kommt nicht darauf an, sich zu opfern oder
82 P. PAPAZIAN, Hsganer (wie Anm. 61) S. 7; vgl. auch SOSI, Daroni Pashan, in: Haratch 4.1.1952; GHEVONT MELOYIAN, Housherou Pountch me. Roupeni hishadagin, in: Haratch, Compilation ChA S. 214-219, hier S. 214. 83 Vgl. die Erinnerungen Roupen Tarpinians in TGHTAGITS, Hishadagi paravor hantes i harkans Roupen Der Minasiani yev Levon Shanti, in: Asbarez, 2.3.1952; [SHRTCHOUN TGHTAGITS], Skahantes Roupeni yev Shanti hishadagin, in: Haratch, Compilation ChA S. 223 f.; ELLEN PIUZANT, Roupen Der Minasian, in: Haratch 12.1.1952. 84 EDITORIAL „AZTAG“, Roupeni hishadagin (wie Anm. 66); TGHTAGITS, Hishadagi paravor hantes (wie Anm. 83); HAMASDEGH, Roupen (wie Anm. 12); EDITORIAL „HOUSAPER“, Hay Heghapokhagane, in: RH, 1. Aufl. 1952, Bd. 7; EDITORIAL „HOUSAPER“, Roupen, in: ebd. Bd. 1; Roupeni yev Levon Shanti hishadagin, in: Aztag shapatoryag, 8.2.1952; Tamasgos. R. Der Minasiani yev L. Shanti nvirvadz hishadagi hantes, in: Aztag 16.3.1952. 85 Vgl. RH, Bd. 4, S. 279-282 (Braut von Dadrakom) [RM, S. 545-547]; Bd. 3, S. 352-355 (Kevorks Heirat) [RM, S. 352 f.]; Bd. 1, S. 156-173 (Kampf von Pasen), 287-295 (Kampf von Razi) und 299304 (Roupens Ernüchterung) [RM, S. 57-68, 104-109, 112-115], etc.; für eine ausführliche Analyse s. ELKE HARTMANN, „The Turks and Kurds are Our Fate“. ARF Self-Defense Concepts and Strategies as Reflected in Roupen Der Minasian’s Memoirs, in: The Armenian Review (in Vorb.).
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andere zu töten, es kommt darauf an, sein Ziel zu erreichen.86 Wenn also ein Kampf aussichtslos verloren sei, habe es nicht nur keinen Wert, sondern schade sogar der Fortführung des Kampfes in künftigen Gefechten, wenn man sich sinnlos opfere anstatt sich zurückzuziehen und damit die Ressourcen und Kader der Partei bzw. Bewegung zu sparen. In dieser Konzeption rechtfertigt sich sein Überleben ausschließlich mit dem Dienst an der Sache. Roupen flieht 1915 aus Sasoun, überlebt fast als einziger und wendet sich sofort in den Kaukasus, um neue Funktionen wahrzunehmen, die in die Zukunft weisen, auf den Aufbau und die Sicherung des neuen Staatswesens abzielen. Für dieses Ziel ist er dann auch im Namen seines Realismus, Pragmatismus und seiner Zielgerichtetheit ohne Umschweife bereit, Verbrechen zu begehen und moralische Bedenken beiseite zu wischen. Dieser Primat der Bewahrung der eigenen Machtposition und damit Handlungsfähigkeit im Dienste der Sache findet eine Entsprechung und Erklärung in einer Begebenheit, die Roupen scheinbar am Rande und beiläufig erzählt87: Eine junge und betörend schöne Frau, die er im Rückblick nur die „Braut von Dadrakom“ nennt, weil er ihren Namen angeblich nicht mehr erinnert, heiratet einen jungen Mann, der sich wenig später den fedayis anschließt und in die Berge geht. Die damit de facto verlassene, aber weder verwitwete noch verstoßene Frau wird so in eine Lebenssituation geworfen, die ihr im Dorf und innerhalb ihrer Gemeinschaft kaum Handlungsräume lässt: Weder kann sie in diesem Zustand einen geregelten Lebensunterhalt verdienen, noch kann sie sich einen anderen Lebenspartner suchen. Schließlich flüchtet sie mit einem Kurden in die nächstgelegene Stadt, wo das Paar aber von den armenischen fedayis aufgespürt, der Kurde sofort ermordet und die Frau in ihr Dorf geschleppt und vor Gericht gestellt wird, welches vom örtlichen fedayi-Kommandanten und Parteiführer gehalten wird: Roupen. In seinen Erinnerungen schreibt Roupen bewegt, wie sehr sich alle Beteiligten und vor allem er selbst innerlich gegen die herrschende Tradition stemmen, die für diesen Fall ein drakonisches Urteil vorsieht: Dem Ehemann selbst wird abverlangt, seine treulose Frau eigenhändig zu töten. Am Ende richtet Roupen aber gemäß dieser Tradition und lässt damit die Frau töten. Er begründet seine Entscheidung damit, seine Autorität wahren zu müssen. Dabei unterschlägt er in dieser Episode die Diskussion darüber, ob es nicht sehr wohl andere Handlungsoptionen gegeben hätte. In mehreren anderen Geschichten, die Roupen in 86 RH, Bd. 1, S. 158 (über den viel besungenen Kampf von Djardar: „Wenn die Kämpfe dieser Gruppe [auch] heldenhaft waren, so haben sie doch ihr Ziel nicht erreicht.“), S. 171 f. (aus Arams Erzählung über den Bericht von Nigol-Ishkhan über den Kampf von Pasen: „Wir sagen, dass man sich opfern muss für die Heimat, und gehen. Nun also, wir sind mit rund 150 Leuten ausgezogen und sind innerhalb weniger Tage den Opfertod gestorben. Mit Ausnahme einiger weniger sind alle ehrenhaft gefallen. Aber ist der Märtyrertod wichtig oder das Erreichen des Ziels? Um uns herum lagen die Leichen der armen Soldaten, sieben Mal mehr als die Zahl unserer [Toten]. Unsere Umgebung sah aus wie ein skrupellos dahingeschlachteter Wald. Die Leute waren bündelweise gefallen. Ich schäme mich zu sagen, dass wir sie abgeschlachtet haben. Wir sind nicht aufgebrochen, um zu schlachten, sondern um unseren Bestimmungsort zu erreichen oder um zu siegen. Weder das eine noch das andere [hat sich ergeben], und wir wurden auch geschlachtet. Das müssen wir [für künftige Aktionen] in Rechnung stellen.“), S. 304 (abschließend über seine Feuertaufe in Razi: „Alle diese Ereignisse hatten mich über Gebühr mitgenommen und wurden zu einem Wendepunkt in meinem Leben. Ich begann, die Dinge mit einem kritischen Auge zu betrachten. Ich rückte von der Idee der ‚Selbstopferung’ ab, indem ich die Aktion und den aus ihr gezogenen Ertrag vorzog.“) 87 RH, Bd. 4, S. 279-282 [RM, S. 545-547].
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seinen Memoiren wiedergibt, scheinen solche Handlungsmöglichkeiten auf. Im Grunde geht es in allen Erzählungen um die Frage, ob und zu welchem Preis die jungen und auswärtigen Revolutionäre, die in den Dörfern Herrschafts- und Gerichtsaufgaben wahrnehmen, sich über lokale Traditionen, die sie selbst als rückständig und hinderlich betrachten, hinwegsetzen können. In allen Geschichten, in denen Roupen nicht als Entscheidungsträger beteiligt ist, zeigt er eben diese Möglichkeit auf und rechtfertigt sie, wie z. B. in dem berühmten Fall der Heirat des legendären fedayi Kevork Tchavoush, die von dem verantwortlichen fedayi-Führer entgegen den Geboten der Tradition am Ende gestattet wird.88 In dem einen Fall, in dem er selbst ein Urteil fällen muss und sich, das Risiko eines etwaigen Autoritätsverlustes scheuend, gegen einen mutigen Traditionsbruch entschied, vermeidet er die Diskussion, die seine Entscheidung ebenso wie seine Prioritätensetzung in Frage stellen könnte. Bemerkenswert bleibt, dass Roupen anhand der anderen Episoden alternative Entscheidungsmöglichkeiten diskutiert und sie damit den Leserinnen und Lesern zugänglich macht. Vor dem Hintergrund von Roupens Konzeption, sein Überleben mit der Notwendigkeit seines Dienstes an der Sache, an seinem Land und Volk, zu legitimieren, ist zu verstehen, dass Roupen als Motivation für seine Erinnerungen ausschließlich die Funktion seines Textes als Memoria stark macht. Nach dem Tod des Volkes und dem Verlust des Landes findet Roupen die Pflicht seines Zeugnisses als Aufgabe für sich.89 Einer muss übrigbleiben, um zu erzählen, um zu bezeugen, und dieser Aufgabe widmet sich Roupen mit erklärter Gründlichkeit und Anteilnahme. Jeden einzelnen Kämpfer möchte er beim Namen nennen, zu jedem einzelnen schreibt er eine kurze Biographie. Dabei verwebt er jede einzelne Geschichte, jede einzelne Person, die gesamte Umgebung, die mythische, überlieferte sowie die verbürgte Geschichte des Landes, seine Geographie und topographischen Details, seine Sprachen und Dialekte, seine Lieder, Legenden und Volksweisheiten, seine jeweiligen lokalen Spezialitäten und Lebensweisen, die Geschichte und Vorgeschichte der Hayduken und fedayi-Bewegung auf eine solche Art mit seinem eigenen Erleben, mit seiner Person, dass die Toten und das Verlorene mit ihm verschmelzen, ein Teil seiner selbst werden.90 So verweigert er sich einem Neubeginn des 88 RH, Bd. 3, S. 352-355 [RM, S. 352 f.]. 89 Vgl. auch die entsprechende Wahrnehmung seiner Zeitgenossen, wie sie in vielen Nachrufen und Erinnerungen zum Ausdruck kommt: EDITORIAL „AZTAG“, Roupeni hishadagin (wie Anm. 66); IPEGIAN, Adjiunneroun (wie Anm. 34); PAPKEN KAVEZ, L. Shant yev Roupen, in: Haratch, Compilation ChA S. 212-213; Roupen: Eng. G. Sasounii khosadz djare voghpatsyal eng. R. Der Minasiani hishadagin nvirvadz Rivolii hantisoutian, in: Aztag 10.5.1952; etc. 90 Vgl. z.B. GRANIAN, Zmayleli (wie Anm. 34); DERS., Roupen, in: RH, 1. Aufl. 1952 Bd. 7. Verschmelzungskonzepte von einer Person und der Gruppe, für die diese Person als pars pro toto bzw. Verkörperung steht, sind vor allem aus dem Zusammenhang von Nationsbildungsprozessen und nationalen „Befreiungskämpfen“ (gegen die Herrschaft einer fremden Macht oder auch einer Klasse) bekannt. Nicht selten stilisieren sich die politischen Führer einer solchen Bewegung als „Vater der Nation“ oder die Nation als ihre Braut. Josef Stalin ließ sich als Vater der Nation titulieren, Mustafa Kemal, der Gründer der türkischen Republik, verlieh sich selbst den Nachnamen Atatürk („Vater der Türken“) und reservierte diesen Namen exklusiv für seine Person. Der Palästinenserführer Yassir Arafat erklärte in Interviews vor seiner späten Eheschließung gerne, er sei mit seiner Nation verheiratet. Von Adolf Hitler sind ähnliche Äußerungen überliefert (vgl. OTTO WAGENER, Hitler aus nächster Nähe. Aufzeichnungen eines Vertrauten 1929-1932. Frankfurt a. M. 1978 S. 99; HEIKE B. GÖRTEMAKER, Eva Braun. Ein Leben mit Hitler. München 2010 S. 51, 55). Eine systema-
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Lebens im Exil und bleibt mit den Toten, mit den gefallenen Kämpfern, die sich nicht gerettet haben, im yergir (weshalb er auch über die Jahre nach der Katastrophe, die Jahre des Überlebens aber nicht mehr Lebens nicht schreiben, sein Weiterleben nicht einmal erwähnen kann). Roupen wird gleichzeitig zunächst zur Verkörperung des Verlorenen, des yergir und des westarmenischen Lebens; darüber hinaus aber schließlich auch zur Repräsentation Armeniens in seiner Gesamtheit, in allen seinen Facetten und Lebensäußerungen. Durch seine Erzählungen und Memoiren schafft er über die Kluft des totalen Verlustes hinweg eine lebendige Verbindung der jungen Generationen der Diaspora mit dem yergir, mit dem Verlorenen. Durch mehrere Elemente gelingt es Roupen in seinem Text, in seiner Person eine Gesamtheit Armeniens zu verbinden. Zum einen betont er seine Abstammung aus Akhalkalak. Diese Region liegt zwar im Ostteil der armenischen Welt, wird aber über die Migrationsgeschichte ihrer Bewohner bis nach Westarmenien, nach Erzurum und bis nach Sasoun rückgebunden. Ein weiteres Element ist Roupens Identifikation und Assimilation mit Westarmenien, wie er sie in den Memoiren in verschiedenen Episoden beschreibt. Eine dritte Ebene ist sein spezifischer Sprachgebrauch, der den ostarmenischen mit dem westarmenischen Zweig der modernen armenischen Hochsprache mischt und zusätzlich eine Fülle von dialektalen Wendungen aus den verschiedenen Regionen einflicht, um so zu einem allarmenischen Sprachamalgam einschließlich seiner türkischen, russischen und persischen Entlehnungen zu werden.91 Durch diese Zeichnung seiner Person als gesamtarmenisch bietet er für die Diaspora, die sich zunehmend von den facettenreichen Realitäten des verlorenen Landes entfernt, ein Bild Armeniens, das die vielfachen innerarmenischen Kluften und Gegensätze überwindet und einebnet zugunsten einer imaginierten Ganzheit und Einheit einer armenischen Nation, die es in dieser Form im yergir nie gegeben hat.92 tische Analyse der Verschmelzung von Führer und Nation in Bezug auf autobiographische Texte, ihre historischen Narrative und Personkonzepte bietet am Beispiel Mustafa Kemals HÜLYA ADAK, National Myths and Self-Na(rra)tions: Mustafa Kemal’s Nutuk and Halide Edib’s Memoirs and The Turkish Ordeal, in: The South Atlantic Quarterly 102. 2003 S. 509-527; individuelle Repräsentationen von Kollektiven beschreibt Pierre Bourdieu auch für soziale Gruppen, insbesondere für herausragende Herrscherfiguren und den Adel, s. PIERRE BOURDIEU, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Soziale Ungleichheiten. Hg. REINHARD KRECKEL. Göttingen 1983 S. 183-198, hier 194 f. Allerdings muss differenziert werden zwischen diesen Verschmelzungsansprüchen (oder auch -zuschreibungen) politischer Führer mit ihren Gruppen, denen die distanzierende Selbstüberhöhung im Sinne des Weberschen Modells charismatischer Herrschaft zugrundeliegt, und dem In-sich-Aufsaugen, dem Verlebendigen der Toten, also dem Aspekt des Fortlebens durch gedenkende Aneignung, wie er bei Roupen zunächst im Vordergrund steht. 91 Vgl. hierzu EDITORIAL „HARATCH“ (wie Anm. 34); S. TOROSIAN, Roupen, in: Hayrenik Amsakir S. 19-24, Compilation ChA S. 122-127; Roupen Der Minasian. Hg. DBARAN HAMAZKAYIN ENGEROUTIAN. Beirut 1952 S. 15 f.; HRANT SAMUEL, Shant yev Roupen, in: Aztag oratert 22.12.1951; KARIAN, Roupen (wie Anm. 34); KAVEZ, L. Shant (wie Anm. 89); Kaghoute kaghout, in: Haratch, Compilation ChA S. 213; etc. 92 Zu den Armeniern im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert als „Protonation“ (deren Nationsbildungsprozess bereits eingesetzt hatte, aber von einem Abschluss noch weit entfernt war) vgl. VAHÉ TACHJIAN, Azkaynaganoutiunn ou serayin khdroutiune` tseghasbanoutian verabradz ginerou ou aghtchignerou verahamargman kordzenatsin metch, in: Bazmavep 165. 2007 S. 229-258, insbes. 229-235; RONALD G. SUNY, Religion, Ethnicity, and Nationalism: Armenians, Turks, and the End of the Ottoman Empire, in: In God’s Name: Genocide and Religion in the Twentieth Century. Hg.
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Person und Personkonzept: doing person Was bedeutet dies alles nun für die Frage nach Person und Personkonzepten? Als Ausgangspunkt für diese Frage steht die Überlegung, dass Menschen mit bestimmten Vorstellungen und Annahmen von dem, was eine Person ausmacht, also mit bestimmten Personkonzepten, im sozialen Gefüge handeln und ihre Handlungsanweisungen und Lehren danach ausrichten. Alternativ oder auch ergänzend zum jeweils gegebenen sozialen Gefüge als Kontext kann man auch eine religiöse Dimension und damit nicht-menschliche Akteure, namentlich die – individuelle oder kollektive − Beziehung zu Gott, einbeziehen. Dieser Gedanke von der Prägung des Handelns und Denkens durch ein spezifisches Personkonzept legt die Idee nahe, dass diese Personkonzepte variieren abhängig von der Kultur, dem Ort und der Zeit, in der die Personen leben, oder auch der gesellschaftlichen Position, die sie einnehmen. Roupens Memoiren betonen vor allem auch die Wandelbarkeit von Personkonzepten beim Übertritt in neue Kontexte, in eine andere, neue oder unbekannte Welt – und damit auch die Veränderlichkeit von Personkonzepten insgesamt. Ausführlich beschreibt Roupen den Anpassungsprozess der Revolutionäre, die, vor allem wenn sie ursprünglich aus der städtischen Bourgeoisie stammen, einen langen Weg des Lernens und der Wandlung, der Abhärtung, Formation und Initiation, des Wertewandels und Orientierungswechsels vor sich haben, bis sie zu jenen asketischen, rauen Dörflern werden, die die Partei als Kämpfer vorsieht. Eintritts- und Initiationsriten, wie sie uns etwa von Klostergemeinschaften vertraut sind, beschreibt Roupen in Bezug auf seine Aufnahme in die Partei und vor allem in die Reihen der Kämpfer. In monastischen Kontexten muss der Novize bei seinem Eintritt in die Klostergemeinschaft alles Alte ablegen. Er gibt seine Kleidung ab und wird neu eingekleidet. Er bricht den Kontakt mit seiner Familie ab (oder führt sie in neuen Formen fort) und tritt ein in einen neuen sozialen Kontext, der ihm nun „Familie“ bedeutet. Auch Roupen werden beim Eintritt ins Parteiwohnheim seine teuren Kleider und die Krawatte abgenommen. Obwohl seine Familie nach Kars übersiedelt, kann er in ihrem Haus nicht wohnen, weil er nun bei seinen Parteigenossen bleiben muss, die ihm fortan „Brüder“ werden. Dort muss er seine Lebensgewohnheiten, Umgangsformen und Sprechweise ändern.93 Bemerkenswert ist die Möglichkeit der Verwandlung durch performative Akte, wie Roupen sie beschreibt94: Roupen, der Bürgersohn, läuft nackt und barfuß durch die felsigen Berge, um seinen Körper zu dem eines Bauernsohns und harten Kämpfers zu machen.95 Verkleidungen stellen ein weiteres Medium der Verwandlung dar. Nach seinem OMER BARTOV/PHYLLIS MACK. New York usw. 2001 S. 24-61, hier 32-38, 40, 42; ELKE HARTMANN, Geschichtsschreibung als Nationsbildung: Die armenischen Kolonien Ostmitteleuropas in der armenischen Geschichtsschreibung und Erinnerung nach 1915, in: Armenier im östlichen Europa, Vol. 1: Armenians in East European History. The State of the Art. Hg. BÁLINT KOVÁCS. Wien usw. 2012 (im Erscheinen). 93 RH, Bd. 1, S. 40 f., 57 f., vgl. auch S. 276 [RM, S. 18 f., 29 f., 100]. 94 Vgl. hierzu ausführlich ELKE HARTMANN, Shaping the Armenian Warrior: Clothing and Photographic Self-Portraits of Armenian fedayis in the Late 19th and Early 20th Century, in: Fashioning the Self in Transcultural Settings: The Uses and Significance of Dress in Self-Narratives. Hg. CLAUDIA ULBRICH/RICHARD WITTMANN. Würzburg 2012 (im Erscheinen). 95 RH, Bd. 1, S. 335 f. [RM, S. 135 f.].
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ersten, erfolglosen Versuch, über Persien ins osmanische Territorium zu gelangen, schlägt sich Roupen auf seinem Rückweg als azerischer Bauer verkleidet von Nordpersien über die Grenze in den russischen Transkaukasus durch, schweigend, damit niemand ihn an seinem sprachlichen Ausdruck erkennt.96 Nach dem Erfolg des jungtürkischen Umsturzes 1908 kommt Roupen in seiner Kämpferkluft bärtig, zerzaust, verlaust und verdreckt aus den Bergen hinab in die Kreisstadt Muş, um an einer feierlichen Versöhnungszeremonie mit den Vertretern der Regierung teilzunehmen. Er wird gewaschen, rasiert, entlaust, frisiert, er wird neu eingekleidet in einen städtischen Anzug, zu dem anstelle der drekh, der Bauernschlappen, auch ein Paar Schuhe gehören – und im Zuge dieser körperlichen Anpassung wandelt er sich vom Kämpfer und „Bergbären“ (lernayin artch) zum diplomatischen Politiker, der freundliche und höfliche Worte für die ihm gegenübersitzenden Gouverneure und Militärs findet und während der Zeremonie einem drohenden Konflikt um die Ehrung der osmanischen Fahne mit einem Kniff aus dem Wege geht.97 Wenig später reitet er mit einem Kameraden aus der Stadt und fühlt sich in seinen städtischen Kleidern verfehlt, unwirklich, verbogen, verlogen. Umgehend lässt er sich einen Satz Bauernkleider geben.98 Für sein Studium in Genf packt seine Mutter ihm schließlich wieder feine weiße Wäsche in den Koffer, versehen mit dem Hinweis, er solle nicht vergessen, diese wenigstens wöchentlich zu waschen: „lebe wie ein [zivilisierter] Mensch, lass dein Bärsein bleiben“.99 Wenn man von solchen Beispielen ausgehend die Frage nach Person und Personkonzepten in den Begriffen der Performanztheorie denkt100, wird deutlich, wie sehr sich Person und Personkonzepte in Handlung und nicht in Sein ausdrücken (doing person).
96 RH, Bd. 1, S. 340-343 [RM, S. 139-141]. 97 RH, Bd. 4, S. 389-394 [RM, S. 594-597]. 98 RH, Bd. 5, S. 13-16 [RM, S. 601 f. (gekürzt)]. 99 RH, Bd. 6, S. 157. 100 Vgl. JUDITH BUTLER, Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. New York usw. 1990 (dt.: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991); DIES., Excitable Speech: A Politics of the Performance. New York usw. 1997 (dt.: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin 1998); JOHN L. AUSTIN, How to Do Things with Words. Oxford 1962 (dt.: Zur Theorie der Sprechakte. Ditzingen 1972); wichtige Quellentexte versammelt der Band UWE WIRTH (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2002; s. auch JÜRGEN MARTSCHUKAT/STEFFEN PATZOLD (Hg.), Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Köln usw. 2003, insbes. die einführenden Beiträge von MARTSCHUKAT/PATZOLD (S. 1-31) und ERIKA FISCHERLICHTE (S. 33-54).
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Transkultureller und transepochaler Dialog – Ein schiefer Vergleich101 Methodische Grundlagen Die Idee der interdisziplinären Zusammenarbeit, die in den Wissenschaften nun schon seit langem verfolgt wird, geht von einem Erkenntnisgewinn durch die Bündelung verschiedener Kompetenzen, Perspektiven, Fragestellungen und Theorien aus. Der Ansatz transkultureller Forschung hat diese Grundidee auf die verschiedenen Perspektiven und Forschungsansätze ausgeweitet, die sich aus der Zusammenarbeit zwischen den Wissenschaften vom kulturell Eigenen und jenen vom kulturell Anderen ergeben. Eine zusätzliche Bereicherung verspricht die Zusammenarbeit zwischen europäischen und außereuropäischen Forscherinnen und Forschern. Bei dem vorliegenden Beitrag wurde dieselbe Grundidee um eine weitere Dimension erweitert, nämlich die des Vergleichs zwischen verschiedenen Epochen. Schließlich wurde mit dem transkulturell-transepochalen Dialog als Arbeitsform noch ein zusätzliches neues Element in die Zusammenarbeit eingetragen. Nun ging es nicht mehr um einen Vergleich, bei dem jede der Beteiligten bei ihrem Gegenstand verharrt, sondern um einen Dialog, der drei Elemente umfasst: Erstens die gemeinsame Lektüre von Texten aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Voraussetzungen und in diesem Zuge zweitens die gemeinsame Präzisierung von Begriffen und (Fort-)Entwicklung theoretischer Überlegungen sowie schließlich drittens die gemeinsame Erarbeitung thematischer Fragestellungen. Diese Form der Arbeit hat sich zwar als fruchtbringend, aber auch als sehr voraussetzungsreich und zeitaufwändig erwiesen – Zeit, die man unter den Bedingungen der in Deutschland etablierten Formen institutionalisierter Wissenschaft und Wissenschaftsförderung immer weniger hat. Eine weitere Herausforderung blieb bis zuletzt, viertens, die Darstellungsform der Ergebnisse. Hier musste eine Schreibform entwickelt werden, die die gemeinsamen Gedanken mitteilen kann, ohne dabei die unterschiedlichen Ausgangspositionen unkenntlich zu machen oder die Unterschiede der Texte, ihrer Gegenstände und Kontexte zu verwischen. An den Text, der im Mittelpunkt der gemeinsamen Arbeit stand – Roupens Erinnerungen –, wurden sowohl spezifische, aus den unterschiedlichen Ausgangsperspektiven und -bedingungen herrührende, als auch gemeinsame Fragestellungen herangetragen. Der Arbeitsprozess gestaltete sich zudem in mehreren Schritten. Zunächst wurden die theoretischen Ansätze, Zugangsweisen und Konzepte der Selbstzeugnisforschung, die aus Un101 Der Begriff des „schiefen Vergleichs“ geht auf Gadi Algazi zurück (GADI ALGAZI, ‚Habitus’, ‚familia’ und ‚forma vitae’. Die Lebensweisen mittelalterlicher Gelehrter in muslimischen, jüdischen und christlichen Gemeinden – vergleichend betrachtet, in: Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter. Hg. FRANK REXROTH. Osfildern 2010 S. 185-217, hier 197). Dieselbe Stoßrichtung verfolgt Natalie Zemon Davis’ Forderung nach einem „dezentrierenden Vergleich“, die Hans Medick aufgegriffen und fruchtbar gemacht hat, s. HANS MEDICK, Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikro-Historie im Blickfeld der Kulturanthropologie, in: Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs. Hg. JOACHIM MATTHES. Göttingen 1992 S. 167-178, insbes. 174 ff.; Editorial, in: Historische Anthropologie 1. 1993 S. 2. Ähnliche Anregungen gibt auch die französische „histoire croisée“, s. dazu MICHAEL WERNER/ BÉNÉDICTE ZIMMERMANN, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderungen des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28. 2002 S. 607-636.
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tersuchungen zur europäischen Frühen Neuzeit kommen, gemeinsam erneut durchdacht, um sie für die Lektüre eines nicht-europäischen und auch nicht-frühneuzeitlichen Textes fruchtbar zu machen. Daran konnte sich die Lektüre des Texts als Selbstzeugnis anschließen. Diese Lektüre wiederum erbrachte neue Impulse für und Fragen an die auf europäische frühneuzeitliche Selbstzeugnisse bezogenen Konzepte. Ebenso ergeben sich aus der dialogischen „Gegenlektüre“ auf der Ebene der inhaltlichen Themen neue Akzentsetzungen und Fragen. Die Lektüre von Roupens Memoiren hat eine Fülle von gemeinsamen Themen hervorgebracht, die hier aus Platzgründen nicht erörtert werden konnten: die große Rolle von Haushalten als soziale Basiseinheiten und von männlichen Haushaltsvorständen und Gruppenkulturen und Netzwerken unter Männern sind nur einige Themenfelder, über die frühneuzeitliche europäische Texte ebenso wie Roupens Memoiren viel Auskunft geben. Der Umgang mit Gewalt und die Frage von Gewaltorganisation und Staatlichkeit ist ein Grundthema, das Roupens Memoiren durchzieht, das aber Anlass gibt, auch die europäisch-frühneuzeitlichen Vergleichstexte im Hinblick hierauf neu zu lesen. Themen wie Gelehrtenkultur, Patronage, Freundschaft, Feindschaft, Beziehungen überhaupt, Gastfreundschaft, Gabenkultur, Ressourcen, Klöster etc., die sich an den frühneuzeitlichen Texten des deutschen Raums bearbeiten lassen, können auch Schlüssel für die Lektüre Roupens sein. Das Augenmerk für Themen von einem Text in den anderen und wieder zurück zu tragen verspricht, neue Perspektiven zu eröffnen. Der transepochal und transkulturell vergleichende Blick auf die oben genannten Felder lässt Kontinuitäten zutage treten, die ihrerseits dazu anregen, auch die europäische Moderne unter dem Gesichtspunkt dieser Kontinuitäten zu untersuchen. Diese Perspektive lässt auch das europäische 19. und 20. Jahrhundert im Vergleich und in seiner Beziehung zu den „anderen Modernen“ in neuem Licht erscheinen. Ein ähnlicher Erkenntnisgewinn durch die wechselseitige Eröffnung neuer Perspektiven ergibt sich auch durch die Analyse der textuellen Metaebene, die der thematischen Betrachtung notwendig vorgelagert sein muss. Als Ausgangspunkt der Textlektüre Roupens hatte sich zunächst die Funktion des Exemplum ergeben, die in vielen deutschsprachigen frühneuzeitlichen Texten explizit formuliert wird und ebenso auch in Roupens Text erkennbar ist. Das Ähnliche allerdings ist nicht ein immer und überall Gleiches im Sinne von universalen Merkmalen. Schaut man genauer auf den Text und seine Kontexte, dann sollen die Exempla sehr verschiedene Werte und Verhaltensweisen vermitteln und dies in strukturell völlig verschiedenen sozialen Zusammenhängen; die Memoria soll zwar sowohl bei Roupen als auch in frühneuzeitlichen autobiographischen Schriften Kontinuität stiften, muss aber in Roupens Fall mit einem absoluten Bruch durch die fast völlige Auslöschung der sozialen Trägergruppe umgehen; und schließlich sind Roupens historische Kontexte mit der Bildung von Nationen und Nationalstaaten, der Organisation politischer Parteien und Befreiungskämpfe ganz anders als die frühneuzeitlichen europäischen Gesellschaften mit ihren beginnenden Staatsbildungsprozessen im Rahmen von noch stark als Haushaltsgesellschaften funktionierenden gesellschaftlichen Strukturen. Roupen als Person und mit seinem Text ist eindeutig in einem modernen bzw. sich modernisierenden Kontext anzusiedeln, der nicht auf eine Stufe mit frühneuzeitlichen – europäischen oder außereuropäischen – Gesellschaften, etwa der osmanischen, zu stellen ist. Was in den akademischen Fächern, die sich mit außereuropäischen
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Sprachen und Kulturen beschäftigen, schon seit vielen Jahren diskutiert wird, ist auch hier wieder deutlich geworden: dass eine einfache Gegenüberstellung von europäisch versus nicht-europäisch zu kurz greift und auch aus unserer gemeinsamen Lektüre nicht abgeleitet werden kann. Die Absichten der Gestaltung von Memoria sind in Bezug auf frühneuzeitliche Selbstzeugnisse aus dem deutschen Sprachraum kein unbeforschtes Feld. Der enge Zusammenhang und die spezifischen Wechselbeziehungen zwischen den Elementen des Exemplums, der Memoria und Confessio, wie sie bei der Lektüre von Roupens Erinnerungen als armenischem Überlebendenbericht zutage getreten sind, geben aber Anlass, auch die europäischen Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit oder auch der Moderne noch einmal auf einen Zusammenhang dieser Aspekte hin zu untersuchen. Die armenische wissenschaftliche wie literarische Reflexion über Erinnerung und Lebenserzählungen nach Erfahrungen des radikalen Bruchs, Verlusts und Geworfenseins in eine Fremde, die bald nach der Katastrophe von 1915 einsetzte und bis heute eines der zentralen Felder armenischen Denkens in der Diaspora darstellt, wird hier Anregungen geben können. Mit diesen Bemerkungen ist darauf verwiesen, dass die Lektüre Roupens, die hier skizziert wurde, nur die eine Hälfte des transepochalen, transkulturellen Dialogs bildet. Die andere Hälfte müsste in der gemeinsamen Lektüre frühneuzeitlicher Selbstzeugnisse bestehen. In diesem Teil des Dialoges wird dann nicht mehr nur danach gefragt werden, welchen Beitrag die europäische Frühneuzeitforschung zu unserer Theoriebildung und damit zu Kategorien leisten kann, die auf nicht-europäische Regionen und Kulturen transferierbar sind. Es ist dann auch zu fragen, welche Impulse auf theoretischer Ebene in umgekehrter Richtung aus den europäischen Wissenschaften von nicht-europäischen Regionen und aus dem Denken außereuropäischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommen und ihrerseits als transferierbar in einen gemeinsamen wissenschaftlichen Bestand von Kategorien und Konzepten aufzunehmen sind. Der Eurozentrismus der europäischen Wissenschaften wird seit geraumer Zeit kritisiert. Die historische Forschung zu Europa ist dennoch nach wie vor gekennzeichnet durch ein bemerkenswertes komparatistisches Defizit in Bezug auf außereuropäische Gesellschaften. Für die Frühneuzeitforschung wäre die historische Forschung über nichteuropäische Regionen und Kulturen genauso wichtig wie die Ethnologie, die in der Historischen Anthropologie bereits zum etablierten Bestandteil der historischen Wissenschaft geworden ist. Ein solcher Blick von außen her lässt das scheinbar bereits Bekannte in neuem Licht erscheinen und kann zu neuen Fragen führen. Was am Beginn unserer Untersuchung zunächst als spezifisch für die Frühe Neuzeit und für deutschsprachige Gebiete erschien, hat sich zum Teil als darüber hinaus relevant erwiesen. Daraus ergibt sich die Herausforderung, Frühneuzeitliches nicht unbedingt nur als partikular zu verstehen, sondern über allgemeiner gültige Aspekte ebenfalls nachzudenken und dies auch für die Reflexion über Konzepte und Kategorien zu nutzen. Umgekehrt finden in den orientalistischen Fächern und insbesondere in der Osmanistik die großen theoretischen und methodischen Debatten der historischen Forschung, Philosophie und Sozialwissenschaften regelmäßig ihren Niederschlag. Zunehmend wird dabei auch die Problematik des implizit und häufig unbewusst mitlaufenden Vergleichs mit Europa kritisch reflektiert. Problematischer ist allerdings die implizite Übernahme des europäischen Modernismus aus den angebotenen Theorien. Hier gilt es,
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auf der Grundlage des eigenen, außereuropäischen Materials einen eigenständigeren Beitrag zur Theorie- und Kategorienbildung zu leisten, der die spezifischen Ausprägungen der europäischen Moderne nicht als Norm für alle Weltgegenden und Epochen setzt. Die Ergebnisse des transkulturellen und transepochalen Dialogs betreffen also ein gemeinsames Anliegen, das über die Ebene der jeweiligen Forschungsgebiete der beteiligten Personen hinausweist.
Ergebnisse Exemplum, Erfahrung, Person Aus der armenischen Erfahrung der Diaspora und ihrer intellektuellen Verarbeitung in Literatur und Wissenschaft kommt auch ein starker Impuls, Identitäten vom Handeln her und in einer Vielzahl von Zugehörigkeiten, das heißt performativ und plural zu denken. Dies lässt sich im Licht der Forschungen zu Personkonzepten aufgreifen und fruchtbar fortführen. In Roupens Memoiren zeigt sich dieser Ansatz nicht nur in der oben beschriebenen Darstellung seiner Wandlung vom ostarmenischen Studenten zum westarmenischen revolutionären Kämpfer. Er findet seinen Niederschlag auch in seiner politischen Vision eines föderalen Staates, die er in seinem Text für die plurale Gesellschaft des Osmanischen Reiches entwirft. Vor dem Hintergrund des aktuellen Stands der Forschung zu Personkonzepten wurde Person in Roupens Selbstzeugnis konsequent in ihrem gesellschaftlichen Gefüge betrachtet und nach ihrer Selbstverortung darin und damit nach ihren Darstellungsformen und deren Funktionen gefragt. In unserer Analyse von Roupens Erinnerungen wurden – auf der Ebene der Schreibmotivationen und -strukturen – die Schreibabsichten des Exemplum, der Memoria und Confessio untersucht und im Zusammenhang mit der Kategorie der Erfahrung reflektiert. Gerade an diesen Textfunktionen ist sichtbar geworden, wie sehr die autobiographische Darstellung der eigenen Person nicht nur partizipativ in Zugehörigkeiten zu Gruppen und relational in konkreten sozialen Beziehungen angelegt ist, sondern auch performativ im Sinne eines doing person. Auf der inhaltlichen bzw. thematischen Ebene können andere Bereiche hinzutreten wie etwa die Frage nach Wertordnungen etc., deren Analyse hier nicht allein thematisch verstanden wird, sondern auch als Ergründung der Person in ihrem auf diese Weise geprägten gesellschaftlichen Kontext, in ihrer Gender-, Schicht-, Orts-, Kultur-, und Zeitgebundenheit und schließlich mit ihren aus all diesem resultierenden Handlungsmöglichkeiten und Handlungsräumen. Diese Fragen in der Betrachtung von Selbstzeugnissen zu stellen bedeutet also, all jene Fragen, die man an jede andere Quelle herantragen kann – Fragen nach Wertordnungen, Sozialgefüge und -organisation, kulturellen Praxen usw. – nun analytisch in einer Perspektive auf die Person und im Blick auf den Gegenstand aus der Perspektive der Person zu begreifen und zu untersuchen. Diese beiden Blickwinkel bedeuten, die großen Fragen nach gesellschaftlichen Ordnungen, Kultur, Werten etc. konsequent zu personalisieren, das heißt auf Akteurinnen und Akteure hin zu denken: etwa zu fragen, welche Sichtweise die Personen im Text auf Gesellschaftsordnung, Kultur, Wertordnungen usw. haben; zu fragen, welche Horizonte, Zukunftsaussichten, Visionen die Personen haben; welche Möglichkeiten und Grenzen des Handelns und Denkens sie haben, abhängig von den gegebenen Wertordnungen, denkbaren Vorstellungen, gesellschaftlich, traditionell
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und politisch begrenzten Handlungsspielräumen und ihrer eigenen Verortung in den genannten Kontexten, an deren Gestaltung und allmählichen Veränderung sie jeweils auch mitwirken. Damit verändert sich natürlich auch die Vorstellung davon, was soziale Strukturen und Wertordnungen sind und wie Menschen darin agieren und ihre Erfahrungen einsetzen. Die Kategorie der Erfahrung, die wir hier diskutiert haben, wird durch die dekonstruierende Kritik nicht als solche suspekt oder gar überflüssig. Während diese Kategorie einerseits häufig mit einem ganz spezifischen Konzept verknüpft wird, dessen Herkunft im späten 18. Jahrhundert und einigen (west-)europäischen Regionen liegt, kann sie andererseits, als offener, analytischer Begriff verwendet, dazu führen, die enge Verbindung von Erfahrung mit den Funktionen von Exempel, Memoria und Confessio zu erkennen und zu reflektieren, die sich sowohl in frühneuzeitlichen autobiographischen Schriften als auch in Roupens Erinnerungen zeigt. Über diese Textfunktionen und Schreibabsichten wird Erfahrung in den Selbstzeugnissen sichtbar, ohne von den Aporien eines Erfahrungsbegriffes der bloßen Authentizität eingeschränkt und auf eine Position des bloß Individuellen und damit für andere Unverbindlichen reduziert zu werden. Es hat sich gezeigt, wie eng die zum Exemplum verarbeitete und in normative Ansprüche an andere gewendete Erfahrung auch mit weiteren Textfunktionen der Memoria und der Confessio verbunden ist. Daraus ergibt sich, dass sie auch theoretisch reflektiert werden muss im Blick auf ihre Verarbeitung, Verwendung und Begründungsfunktion für Ansprüche auf Deutungshoheit und Handlungsräume – dass sie also in enger Verbindung mit den Überlegungen zum Personkonzept des doing person zu sehen ist. In unserer Untersuchung haben wir die analytische Kategorie der Erfahrung eingebracht als Teil von kontinuierlichen Be- und Verarbeitungsprozessen, die nicht zuletzt in Form von Erzählungen in kommunikativen Zusammenhängen stattfanden. Dabei kann auch das Schweigen bzw. die markierte Auslassung eine mögliche Kommunikationsstrategie sein, was insbesondere für die Vermittlung traumatischer Erfahrungen gilt. Auch das Schreiben und später das Rezipieren dieser Texte haben wir als Teil dieser Prozesse verstanden. Damit ist ein weites Feld erkennbar, für das man nach Erfahrung fragen kann: in welchen Perspektiven sie in die Selbstzeugnisse Eingang gefunden hat, was daran auch für andere wichtig sein und in einen gemeinsamen Schatz von Erfahrungen und Erinnerungen eingebracht werden soll, welche Prozesse bereits vor dem Schreiben stattgefunden haben. Im Verbund mit der Frage danach, welche Exempelfunktionen die im Text verarbeitete Erfahrung zu tragen haben soll, welche Aufgaben der Memoria sie zu erfüllen hat und wie sie eine Confessio abstützen soll, öffnet sich nunmehr ein Weg zur Erschließung von Erfahrung in Selbstzeugnissen, der viele Möglichkeiten bereithält. Insbesondere kann so auch der Teil von Erfahrung reflektiert werden, der Gemeinsames betrifft und durch die autobiographische Kommunikation in Verbindendes und Verbindliches überführbar wird – und somit auch eine Dimension von Transferierbarkeit berührt. Selbstzeugnisse stehen in dieser Hinsicht neben institutionellen Quellen, die viel selbstverständlicher auf die gemeinsamen Strukturen einer Gesellschaft hin interpretiert werden. Die explizite Thematisierung einer Perspektive und ihres Erfahrungshintergrundes bieten sie zusätzlich an, so dass sie Nahes und Fernes, Persönliches und Gesellschaftliches zusammen und in ihren Verflechtungen sichtbar machen.
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Transferierbarkeiten Für die Arbeit an Roupens Text konnten Methoden und Konzepte der Selbstzeugnisforschung herangezogen werden, die an frühneuzeitlichen europäischen Texten entwickelt worden sind – Theorieelemente also, die in höchstem Maße partikular sind, da sie ganz offensichtlich auf einer spezifischen Materialbasis entwickelt und auf bestimmte zeitliche und regionale Kontexte bezogen sind. Wird ein solches Instrumentarium dadurch universalisierbar, dass es auf einen anderen, ganz besonderen Text in seinem spezifischen historischen und regionalen Kontext angewandt wird? Sicher nicht. Unsere Auseinandersetzung mit Roupens Text und mit Kategorien und Konzepten der Selbstzeugnisforschung hat uns eher zu dem Schluss kommen lassen, dass es um die Universalisierbarkeit auch gar nicht gehen kann – nicht sofort jedenfalls. Im Gegenteil, es würde in einem ersten Schritt eher um Partikularitäten gehen, von denen europäische Regionen sowie Texte und Theorien der Moderne nicht ausgenommen sind. Nicht nur Europa muss provinzialisiert werden, wie wir längst wissen102, sondern auch die Moderne.103 Während sich Universalisierbarkeit leichter annehmen lässt, je weniger man über andere Kontexte weiß oder zumindest, je weniger man bereit ist, andere Kontexte als gleichrangig anzuerkennen104, kann Partikularität nur dann wahrgenommen und in ihrer Begrenztheit und Reichweite eingeschätzt werden, wenn man Kenntnisse über verschiedene Kontexte hat. Dies ist ein Prozess, der Mühe und Zeit kostet und auch schmerzhaft ist, wann immer man sehr deutlich mit den Grenzen der eigenen Kompetenzen und Möglichkeiten konfrontiert ist. Für die Arbeit wohl nicht nur mit Selbstzeugnissen scheint uns aber sehr fruchtbar zu sein, über ein größeres Repertoire an spezifischen Kontexten und Theorieelementen zu verfügen und dadurch einen genaueren Blick sowohl für Kontextbezogenes als auch für Transferierbarkeiten zu gewinnen. Das heißt allerdings nicht, dass wir meinen, bei partikularen Fällen und ihren Kontexten stehen bleiben und damit das Bemühen um universalisierbare Kategorien und Konzepte und empirische Befunde aufgeben zu müssen. Unser Beitrag ist als ein Schritt auf dem Weg dorthin zu verstehen, dem weitere folgen müssten, bevor Universalisierbares begründet diskutiert werden kann.105 Das Partikulare an empirischen Befunden und Konzepten zu sehen, wie wir es hier betont haben, wäre Teil eines ersten Schrittes auf diesem Weg und bedeutet zweierlei: Erstens ergibt sich die Chance, bisher vorgenom102 DIPESH CHAKRABARTY, Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton, NJ, 2000. 103 Kritik an Konzepten, die nur an den Gesellschaften der Moderne orientiert sind (“presentist”), etwa bei SHWEDER/BOURNE, Does the Concept of the Person Vary Cross-Culturally? (wie Anm. 18). 104 Eine solche Vorstellung von zeitgenössischen Gesellschaften, die als „primitiv“ oder „rückständig“ klassifiziert und konsequenterweise nicht mehr als vollgültige Teilnehmer in zeitgenössischen Situationen gesehen werden, wird kritisiert bei MARIA TODOROVA, The Trap of Backwardness: Modernity, Temporality, and the Study of Eastern European Nationalism, in: Slavic Review 64/1. 2005 S. 140-164, sowie von JOHANNES FABIAN, Time and the Other. How Anthropology Makes its Object. New York 1983. 105 Für kritische Bemerkungen zur literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung und -theorie mit ihren Tendenzen zur nationalen Beschränkung der Materialbasis und damit einhergehender Generalisierung, der die Grundlage ebenso wie eine Begründung fehle, s. KORMANN, Ich, Welt und Gott (wie Anm. 8) S. 43, vgl. auch ebd. S. 1-101 das ganze wichtige Theoriekapitel.
Roupens Erinnerungen (1921/1951) im transepochalen Dialog
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mene Universalisierungen genauer ins Auge zu fassen und bei der Kontextualisierung möglicherweise zu dekonstruieren, so dass Material und Kategorien wieder mit den spezifischen Kontexten und Funktionen verbunden werden können, durch die sie ihre Existenz gewonnen haben. Das gilt für etablierte Wissensbestände ebenso wie für das hier Vorgestellte. Zweitens bedeutet dieser kontextualisierende und partikularisierende Blick auf Texte wie auf Kategorien und Konzepte, dass die in der scheinbaren Universalisierbarkeit verborgene Hierarchisierung zurückgenommen wird – ein methodisches Verfahren also, das es erlaubt, wieder Material aus einem Kontext neben Material aus einem anderen Kontext zu stellen und beide nach gleichen Prinzipien zu behandeln. Nach einem solchen ersten Schritt der Dekonstruktion und einem zweiten der genauen Analyse einer Fülle von partikularem Material kann in einem dritten Schritt versucht werden, die Ergebnisse zusammenzutragen und auf gemeinsame und verallgemeinerbare Aspekte hin zu sichten. Erst an dieser Stelle eines längeren Forschungsprozesses, den wir uns interdisziplinär und mit transepochalen und transregionalen Schwerpunkten vorstellen, kann die Frage nach Universalisierbarkeit wieder sinnvoll gestellt werden. Die Antworten eines solchen Universalisierungsbemühens müssten die Kontextualität ebenso wie das Relationale von empirischem Material und Kategorien mit reflektieren. Den Begriff der Transferierbarkeit schlagen wir vor, um zu signalisieren, dass der derzeitige Stand der Forschung weit entfernt ist von tatsächlichen Universalisierbarkeiten, aber auch, weil die vorgetragenen Überlegungen eher ein variabel anwendbares Set von transferierbaren Konzepten erwarten lassen als einen fixen Bestand von universalen Konzepten in einem absoluten und kontextfreien Sinn.106
106 Hilfreich für unser Verständnis von Transferierbarkeit und Universalität ist Ludwig Wittgensteins Idee der „Familienähnlichkeiten“. In dieser Vorstellung sind die mehr oder minder ausgeprägten und auch je unterschiedlichen Ähnlichkeiten der verschiedenen Knotenpunkte (Einzelfälle) in einem komplexen Flechtwerk miteinander verknüpft und ergeben auf diese Weise ein Ganzes, ohne dass die Spezifizität des Einzelnen verloren geht. LUDWIG WITTGENSTEIN, Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a. M. 1993 (zuerst 1953), bes. § 65-67; für eine Diskussion dieses Konzepts im Kontext des Kulturvergleichs s. die wegweisende Arbeit von WERNER KOGGE, Die Grenzen des Verstehens. Kultur – Differenz – Diskretion. Weilerswist 2002. Mit seiner Verstehenstheorie eröffnet Kogge neue Möglichkeiten, Transferierbarkeit und Universalität auf der Grundlage einer konsequenten Partikularisierung und Kontextualisierung der Einzelfälle zu denken, was seinen Ansatz zu einer wichtigen Anregung kulturvergleichender Arbeit macht.
HANS MEDICK
Introduction: Relational Selves
James Amelang and Jacqueline Van Gent situate in their contributions current research on self narratives in a wider transcultural context. Amelang, by taking a stroll through the history of self-narrative research, does not restrict his interest to questioning traditional ways of looking at and interpreting self narratives as expressions of a singular European tradition of autobiographical writing or as a homogenous European concept of the individual. He foregrounds the special importance of places, localities and cultural contexts as determining factors of perceptions, which influence the writing as well as the reception of self-narratives. For Amelang, the analytical starting point lies in the multiple relationships of the self which is at the roots of the early modern self, its textual self-representation and beyond.1 Focusing on two examples, he pays special attention to the intercultural dynamic which was triggered by the reception of European self narratives in non-European contexts. From these cases Amelang develops methodological questions about a “transcultural focus”, which includes the discussion of European as well as of non-European selfnarratives. In any case, this discussion obliges us to venture outside our comfort zone and leave familiar fields behind, or in his words: “If anything forces us to step off our home ground, it is a transcultural focus, if we understand this as requiring us to move beyond the original context of our texts to assess them in the light of their presence and interpretation in other cultural contexts.”2
The starting point of Jacqueline Van Gent’s reply to Amelang is his concept of the “relational self” which Amelang has developed in reference to early modern self-narratives. An example from her research into the history of Moravian missions serves here as a telling border case of a transcultural analysis of self-narratives. She discusses the selfrepresentation of two North American indigenous converts within the patterns of expression of the so called “missionary writing machine” (Norman Etherington). This term reminds us of the concept developed by Stephen Greenblatt of an inclusive colonial “representational machinery”3. Van Gent points here to the particular difficulties, pressures, and conditions of self-representations to which illiterate people within colonial-
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Cf. on this also two other contributions by James Amelang: ID., The Dilemmas of Popular Autobiography, in: Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Eds. KASPAR VON GREYERZ/PATRICE VEIT/HANS MEDICK. Cologne etc. 2001 pp. 431-438; id., Saving the Self from Autobiography, in: Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit. Individualisierungsweisen in interdisziplinärer Perspektive. Ed. KASPAR VON GREYERZ unter Mitarbeit von ELISABETH MÜLLER-LUCKNER. Munich 2007 pp. 129-140. Cf. see below p 79. STEPHEN GREENBLATT, The Go-Between, in: ID., Marvellous Possessions: The Wonder of the New World. Chicago 1991 p. 119-151, here 120 f.
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Hans Medick
missionary situations were exposed. In so doing she stresses how such situations closely determined and limited the spaces for expression of “colonial subjects”.
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One of the most famous passages in the history of western autobiography is the opening pages of Stendhal’s The Life of Henri Brulard, originally written in 1835-36.1 The reader finds the narrator immersed in a stream of thought (“daydreaming”) as he admires Rome from the Janiculum hill at San Pietro in Montorio. Before this “sublime sight” he is happy to be alive. Then, with the magnificent view of all of ancient and modern Rome spread before him, he begins thinking over the whole of his life. Soon to turn fifty, and conscious of what little control he has had over his existence, he declares that it is time to know oneself, and to ask “what sort of man have I been?” It is hard to think of a more eloquent testimony to the power of place to stimulate the autobiographical act. And what an act it was! This text is a classic tour de force of self-exploration, a narrative famously driven by the author’s relentless, even merciless examination of himself and others. Somewhat less frequently remarked is the fact that it is also a work unusually preoccupied with space. Stendhal assembled his personal past by literally reconstructing the venues in which it had taken place. To this end he filled the original manuscript with indexed drawings in which he remembered not just the outer world of Grenoble, the deeply despised town in which he grew up, but also a wide range of domestic locations. These include the house in which he spent his childhood, his bedroom, the position of the chair in which his father sat in relation with the fireplace, and an endless parade of other details from his own personal topography. Place ranges far and wide within this infinitely rich text. It suffuses not only the micro-perspective of his own past – a tiny thing from the point of view of history as a whole, but very much inhabiting the center of his textual universe – but also the broader panorama with which he opened. As he wrote, “There is no place like this in the world, and against my will ancient Rome prevailed over modern Rome; memories of Livy crowded into my mind.” And then he unleashed the torrent: how he had (mis)spent his life, his love affairs and other failures, the pleasure he experienced in deep unhappiness, his melancholy character, his youthful and fundamentally false career as a soldier – these and hundreds of other seemingly unconnected memories crowd into the eight packed pages of his opening chapter. The Life of Henri Brulard is not just a testimony to the way place can engender autobiography. It also exemplifies a striking paradox, that of an utterly unique text that can nevertheless be made to stand for an entire literary or cultural tradition. For all “standard” questions of autobiographical analysis – referentiality, sincerity, intentionality, the
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STENDHAL, The Life of Henry Brulard. Chicago 1986 pp. 1-3. I was reminded of this passage’s existence when reading another, more recent autobiography: VICTOR BROMBERT, Trains of Thought: From Paris to Omaha Beach, Memories of a Wartime Youth. New York 2003 pp. 121122.
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pact with the reader, etc. – are addressed in this single absorbing text by an author almost all of whose fictional writings are synonymous with autobiography. The brief reflections that follow will try to bring together these notions of place and tradition as expressed in autobiographical writing. My purpose is not so much to question what we do when we talk about autobiography in national or transnational terms – that question will be tackled in many of the papers presented in the rest of this volume. Rather, I see my task as a simpler one: to raise a few basic questions – three, in fact – about our habits and future possibilities as students of autobiography, based upon my own rather limited experience.
Autobiography as Literary Tradition My first question is actually more of an observation, and has to do with the tendency to refer to autobiography as a literary tradition. My impression is that this used to be a rather common practice. If one looks back to the earlier studies of autobiographical writing – I am thinking of pioneers such as Georg Misch, Georges Gusdorf, Roy Pascal, Karl Weintraub, and a host of others – the word “tradition” pops up quite often. This was thanks to the basic assumption that autobiographical writing could be studied as a textual chain, whose practitioners displayed a higher degree of awareness of each other’s existence. The tradition thus defined began with an Ur-Text, St. Augustine’s Confessions. Then one went on to construct the usual lineage that ran through Abelard, Petrarch, sometimes Cellini and Cardano, always Montaigne and St Teresa, and then onto Bunyan and Franklin, to reach an endpoint in the twin founders of modern autobiography, Goethe and Rousseau. At that point a new textual chain started. The central texts in this parade of stars were always the same; what differed was what one had to say about them. Here we find eloquent testimony to the power of academic disciplines to shape the study of autobiography. It is easy to see that each discipline has its own special insights, as well as its own special sorts of obtuseness or blindness when dealing with autobiography. Naturally, I am most closely familiar with those of my own discipline, history. I am convinced that we historians blend insight with obtuseness in equal measure. Our obtuseness was our long-term inclination – I would almost say “instinct” – to dismiss autobiography as an acceptable source for history. This held quite widely across the board. For so-called traditional historians up until very recently it was simply too subjective to be of any use; objective sources were what they were after, and the public archive was where they were found. (It was a Berliner, Leopold von Ranke, who taught us that). For more modern social and economic historians autobiography was by its very nature too individualistic a source, and thus unable to shed any light on collective historical experience. Thus while the motives differed, the outcome was the same: historians had no time for autobiography. In such circumstances it is hardly surprising that whatever insight we historians managed to contribute to the analysis of autobiography came rather by accident. In fact, I have long suspected that our peculiar contribution as historians to the study of autobiography is to pose questions that other disciplines gave up on long before as unanswerable
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or uninteresting. This is largely because of our notorious allergy to anything that smacks of theory. And the odd thing is that we are often so out of date as far as theory is concerned that we sometimes wind up being ahead of everyone one else, given the unpredictable twists and turns of fashion. This was seen very clearly when literary students of autobiography – and let me make the obvious point that we historians have a singular ability to irritate such scholars with our epistemological naiveté – were busy proclaiming intention was a fallacy, that the subject had suffered demise, or that the dead author had been reincarnated in the author-function, we continued to plod along our usual byways, asking hopelessly ingenuous questions such as why, who, when, and where.2 As fate would have it, sooner or later even among the literati biography bounced back, intention returned from exile, and authors recovered authority. I for one regard as a sign of good health the fact that autobiographical studies have returned to a series of questions that largely disappeared from sight during the heyday of structuralist and poststructuralist approaches. However, I do think there is one other habit from the more distant past that we have failed to rehabilitate, and at our cost. By and large, we have lost sight of the need to identify and analyze general trends in autobiographical writing. No one misses the facile and, as we now can see, often mistaken generalizations of the first generations of autobiographical studies. Yet the present-day tendency of each of us to work only on his or her own autobiographer, one at a time, certainly makes it hard to see the forest for the individual trees. I should make it clear that I am not at all objecting to focused, monographic research. After all, buildings are built from the ground up, not the other way around. Yet rather than pile up individual case after individual case, which is what we have been doing for quite some time, I think we have reached the point where we need to make a stronger effort at generalizing from our findings. This is where I see an especially valuable role for transcultural as well as interdisciplinary approaches to the investigation of autobiography. The case for combining the two would seem to be incontestable. If anything forces us to step off our home ground, it is a transcultural focus, if we understand this as requiring us to move beyond the original context of our texts to assess them in the light of their presence and interpretation in other cultural contexts. Interdisciplinary approaches to the same task seem equally promising, if one understands them to mean each discipline bringing its own strength to the common feast, and coming away not only having contributed but also having tasted and learned from the others. I would not go as far as some enthusiasts and say that we should try directly to combine the two, and become trans-disciplinary, that is, trying to erase the boundaries between the disciplines. The reason for that is that I personally see the existence of disciplines as a good thing. They instill analytical rigor, precision and strength, even if they often narrow one’s field of vision. Giving up such advantages for an ill-defined amalgam within a disciplinary equivalent of no man’s land does not qualify as progress in my book. Paying very close attention shoulder to shoulder to what other disciplines do and get right, though, does strike me as forward movement.
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I briefly touch on the question of disciplinary differences in the study of autobiography in my Saving the Self from Autobiography, in: Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit. Individualisierungsweisen in interdisziplinärer Perspektive. Ed. KASPAR VON GREYERZ unter Mitarbeit von ELISABETH MÜLLER-LUCKNER. Munich 2007 pp. 129-140.
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Autobiography as Cultural Tradition A second observation, or rather question: If we now hesitate or even hide when talking broadly about autobiography as a literary tradition, do matters change much when one refers to it as a cultural tradition? Talking about autobiography as a cultural tradition evokes in most of us a East/ West, or perhaps North/South divide, one which centers around a uniquely thorny concept, that of individualism. The situation is further complicated by the related belief that the West has a near-monopoly of the product. I do not need to run through this script, as you know it better than I. As far as the role autobiography plays in this drama is concerned, three steps can be identified. First, individualism has been posited as the distinctive characteristic of western culture, politics, economy, etc. We owe the most cogent formulation of this in the cultural realm to the nineteenth-century Swiss historian Jacob Burckhardt, and his path-breaking (and still widely read) study of the Italian Renaissance.3 To my knowledge Burckhardt did not draw out the implications of his view of the Renaissance for the non-western world, about which he had some rather ambivalent things to say. (Do note that shortly after his arrival in Berlin in 1839 to study history, and after attending Ranke’s and Droysen’s lectures, he chose as his first research subject Asia Minor, and began to study Arabic. However, that enthusiasm only lasted a couple of months, which was about as long as it took him to lose his liking for Berlin, which he later described as an “awful” and “preposterous place,” although “it was the best place in which to learn history and the history of the arts.”4) Instead – and this is my second step – it fell to the next generation to specify the negative consequences of the identification of individualism and the West for the nonwestern world. Here we could mention Max Weber, or better yet, his fellow sociologist Ferdinand Tönnies, who stressed how individualism had become the main driving dynamic of modern western history, in direct contrast to the communitarian ethos which had prevailed during the Middle Ages, and which the rest of the world was still trapped in.5 Interestingly enough, however, to my knowledge neither Burckhardt nor Weber had much to say about autobiography. The markers of nascent individualism the cultural historian Burckhardt focused on are other forms, ranging from portraits to biographies,
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JACOB BURCKHARDT, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch was first published in Basel in 1860; see in particular part II, “Entwicklung des Individuums”. For background on this crucial text I rely closely on LIONEL GOSSMANN, Basel in the Age of Burckhardt: A Study in Unseasonable Ideas. Chicago 2000. See JACOB BURCKHARDT, Letters. Ed. ALEXANDER DRU. London 1955 pp. 20, 22, and 245; for Burckhardt on Islam, see his On History and Historians. New York 1965, under “Islam” in the index. Especially interesting in this regard is Max Weber’s comparison of what he calls “fraternization” in medieval western Europe and modern India in his late (1916-17) reflections on the caste system (excerpted in: From MAX WEBER: Essays in Sociology. Eds. H. H. GERTH/C. WRIGHT MILLS. New York 1958 pp. 396-415). For FERDINAND TÖNNIES I have consulted the authoritative English translation of his 1887 Gemeinschaft und Gesellschaft: Community and Society. Ed. CHARLES P. LOOMIS. New York 1963. See pp. 19-20 for a brief summary of Tönnies' influence on Weber.
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while I believe that Weber looked in other directions than self-writing for the sources and signs of this distinctive emblem of westernism. No, the task of linking autobiography with individualism fell on other shoulders. Georg Misch proclaimed this linkage to be a central animating force behind his life-long endeavor to reconstruct the whole of autobiographical writing in Europe. However, his inability to complete his massive work left his reigning concept rather unattended to.6 It would not be until the next generation that the third step would be taken, in which autobiography was seen as the triumphant expression of the individual within or even against society. Karl Weintraub is perhaps the locus classicus of this identification, although note the care with which he distinguished his understanding of individuality – a term much beloved by the whole of German historicism – from individualism, which had much less positive press within modern German culture.7 The Forschungsgruppe whose work we are reviewing at this meeting has obviously devoted much time and effort to rethinking the place of autobiography within cultural traditions outside western Europe, and I think it needs to be emphasized that what they have done is truly unique. I know of no other systematic effort to respond to the three very complex challenges they have posed to themselves: - first, to relate individual autobiographical endeavors to broader cultural traditions of writing as well as to distinct social identities and roles; - second, to identify and analyze the different sorts of ego-documents that were produced in non-western settings; - third, to try to venture some comparative observations regarding form as well as contents, in pursuit not only of a clearer idea of the fit of these texts within their respective cultural contexts, but also of some of possible linkages between such disparate cultural backgrounds and logics.
Autobiography and Place My final question is to ask what can we do in the future to advance further the transcultural study of autobiography? I have two quick suggestions to make. First, we can focus on specific places in which autobiography originates. Here we could perhaps take as a starting point a page or two from a deservedly famous book by Virginia Woolf, A Room
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The first installment of GEORG MISCH’S Geschichte der Autobiographie appeared in 1907. Now: GEORG MISCH, Geschichte der Autobiographie. 4 Bde. in 8 Teilbänden. Frankfurt a. M. 1949-1969. Bd. 1,1 Das Altertum. ³1949; 1,2 Das Altertum. ³1950; 2,1 Das Mittelalter 1. Die Frühzeit 1. 1955; 2,2 Das Mittelalter 1. Die Frühzeit 2. 1955; 3,1 Das Mittelalter 2. Das Hochmittelalter im Anfang 1. 1959; 3,2 Das Mittelalter 2. Das Hochmittelalter im Anfang 2. 1962; 4,1 Das Mittelalter 3. Das Hochmittelalter in der Vollendung. 1967; 4,2 Von der Renaissance bis zu den autobiographischen Hauptwerken des 18. und 19. Jahrhunderts. 1969. KARL JOACHIM WEINTRAUB, The Value of the Individual: Self and Circumstance in Autobiography. Chicago 1970.
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of One’s Own.8 This is a work that does not have all that much to say about autobiography, but it is full of observations which apply to autobiography as one form of writing among others. In it Woolf forcefully affirmed that what women needed most to make up for their visible absence in the roster of writers was a room of their own. That, a minimum income of £ 500 a year, and a lock on the door. What she was arguing was, of course, that in order to recognize themselves as writers, women needed the same conditions of free time for study and work that men had helped themselves to. Woolf looked to these conditions as enabling women to publish books. That is, she envisioned a deserved minimum of private space and funding as a means of producing writing that was destined for public as opposed to private consumption. One implication of her argument was that the former was the greater achievement, not least because it could contribute to making women more independent economically. This certainly would explain why Woolf has surprisingly little to say about women’s private writing in her essay. But I daresay it would not be difficult, and indeed could be rather profitable, to think about private or autobiographical writing by all sorts of authors in terms of the space within which it took shape, as well as the often markedly private spaces in which it reached its readers. This is, I must admit, asking to try to study something about which we know very little, for the very good reason that often there is very little to know. Anyone who has worked with ego-documents knows how difficult, if not impossible, it is to know much about the way they were actually created. And it is not just because often we work with printed editions of the texts, having little or no access to the original documents themselves. All too often, crucial information is missing about how, when, where – not to mention why – they were composed. Still, it is, as our cousins in anthropology say, a question that, while perhaps unanswerable, is nevertheless good to think. So is the question of how the ego-documents we do have came to be preserved, and managed to reach us safely. That is, often all that has survived is the very end piece in a lengthy chain of autobiographical texts. And this end piece is often printed, whereas every earlier link in the chain had been written by hand. One example involves one of the most famous autobiographical texts from the 17th century, the English writer John Bunyan’s spiritual autobiography Grace Abounding. To my knowledge, the original manuscript of this highly influential text is missing in action. All we have is the final, printed version from 1666.9 Also absent are the various other first-person texts – mostly diaries – that Bunyan drew on when preparing the final version for publication. And the same could be said for a great many other ego-documents from this, and even later periods. Reconstructing the accidents by which surviving autobiographical texts have made their way to our bookshelves would obviously be a challenging task. But it would also prove to be interesting and, I think, illuminating. The same could be said for other conditions under which autobiography was written, such as secrecy. This and other related 8
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First published in London in 1929. Here I take the liberty of summarizing portions of an earlier essay of mine, A Room of One's Own: Keeping Writings Private, in: Les écrits du for privé en Europe du Moyen Âge à l‘époque contemporaine. Enquêtes, analyses, publications. Eds. JEAN-PIERRE BARDET/ELISABETH ARNOUL/FRANÇOIS-JOSEPH RUGGIU. Bordeaux 2010 pp. 175-184, to which I would like to direct the reader for further reflections on the relations between autobiography and space. See for example JOHN BUNYAN, Grace Abounding to the Chief of Sinners. Ed. ROGER SHARROCK. Oxford 1962.
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issues bring us back to space, as one among many different material conditions and contexts within which personal writing took place. I cannot help but feel that the more we know about these matters, the better off we will be. And this clearly means stepping outside the autobiographical texts themselves, to undertake broader studies of authors, their families and households, and the societies in which they lived, worked, and wound up writing. Which is another way of saying that we all have the chance to behave like historians. The other way in which we might consider approaching autobiography would be to go on to think of place not just in terms of origins, but also in terms of the circulation and consumption of autobiographical texts. That is, one could look to autobiography and other related questions such as selfhood, subjectivity, individualism, and the like, by focusing on the impact of first-person writing and, more specifically, on specific authors and texts and the difference they made. One could even begin by looking anew at the milestone authors in the classic surveys of autobiography I mentioned earlier. The works of autobiographers such as St. Teresa did not just sit on the shelves as literary classics, although in the case of Teresa at least, we need to learn a lot more about how she got her literary as well as spiritual reputation. These texts were also engines of transformation, and had real, measurable impacts on real readers. The mental world of these readers was not the same following the circulation of these texts, and this is something which can and should be studied. It goes without saying that there are very real transcultural possibilities here. Not all of them are all that pretty or politically correct. One especially unsettling case involves Mircea Eliade’s semi-autobiographical novel Bengal Nights10, originally published in Romania in 1933, when Eliade was just beginning what would turn out to be a long and distinguished career in comparative religious studies as well as autobiographical mendacity. This first-person text reconstructs an episode from his youth. While staying with a local family in Calcutta, Eliade’s narrator has a love affair with the daughter of his host, a beautiful and enigmatic girl with a flair for writing poetry. Given that Eliade had actually been in this city in India in 1930, and had lodged with her family, one can imagine the surprise, indeed horror, the real Maitreyi Devi, then a married woman with children, felt when she learned about the explicit sexual contents of the novel. In 1973 she tracked down Eliade in the University of Chicago and in a conversation with him extracted the promise that he would not publish an English translation of the book. She then took another, very decisive step, that of writing a novel which reconstructed their relation from her point of view, and which was later published in various languages (its English title is It Does Not Die11). This is, to say the least, a very unusual story, not just of flagrant indiscretion but also of a first-person text whose degree of referentiality is left as ambiguous as are the sources and sincerity of its colonializing references to Indians in general and Indian women in particular. Eliade’s work then meets more than its match in Devi’s response. The latter is a deep and beautiful book, which moves outward from this 10 I have consulted the English version: MIRCEA ELIADE, Bengal Nights: A Novel. Chicago 1994. 11 MAITREYI DEVI, It Does Not Die: A Romance. Chicago 1994. For a detailed account of the publishing history of both texts, see GINU KAMANI, Terrible Hurt: The Untold Story behind the Publishing of Maitreyi Devi, which originally appeared in the Toronto Review in 1996 and is now available online at http://www.press.uchicago.edu/Misc/Chicago/143651.html.
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particular brief relationship to broader issues such the ways in which Europeans see (and do not see) India, and how prominent Indologists can display astonishing ignorance of the subjects of their claimed expertise. For a more congenial and complex East/West conversation around a shared autobiographical effort, I would recommend a different encounter. It centers once again on a pair of first-person texts. The first is the notebook by the English scholar and missionary in India Edward Thompson – the father of the famous historian E. P. Thompson, who late in his life edited the notebook.12 It records the conversations Edward Thompson had with the Bengali poet and philosopher Rabindranath Tagore, with whom – it’s a small world – Maitreyi Devi mentioned above had studied poetry. (I would also like to note here in passing that there is a photograph posted outside the door of the Jesse Owens room which shows Tagore drinking tea here in the Harnack-Haus – in which this conference is taking place – during one of his visits in the 1920s).
Rabindranath Tagore at a Tea-time Conversation during his Visit to the Berlin Harnack-Haus in 1930, April 10th-15th (Archives of the Max-Planck-Gesellschaft)
12 E. P. THOMPSON, ‘Alien Homage’: Edward Thompson and Rabindranath Tagore. Delhi 1993.
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The first page of Thompson’s short journal closes with his quoting a remark of Tagore’s on his delight in one of the classics of modern European autobiography, the Swiss philosopher Henri-Frédéric Amiel’s Journal, originally published in 1884. “When I find nothing gives me rest,” Tagore says according to Thompson, “I open A.J. [Amiel’s Journal] at random and find I can rest.”13 It makes one wonder if the two of them were especially taken with a passage on the opening page of Amiel’s book that mentions India: “The Indians said that destiny is not a judgment but the consequence of actions performed in another life.” “Another life” – a timely reminder that there is yet another dimension of the lives of others, that of the individual and collective pasts of one’s ancestors and, for believers, of the soul. (Amiel dissented here, saying “One does not have to go back so far. Every life makes its own destiny.”14) And while I am busy emphasizing these local as well as transcultural connections, I should mention that Amiel originally wrote this passage here in Berlin, in December 1847, while he was studying at the university, which is now Humboldt University. I am beginning to suspect that there is an unusually close connection between Berlin and autobiography that one does not have to cross the globe to discover. Were one to pursue this further, I would suggest that there has been an especially intense focus on childhood and youth in modern Berlin autobiographies, as is exemplified by perhaps the most famous text in this vein, Walter Benjamin’s Berliner Kindheit. This certainly was true as far as historians are concerned. Thanks to certain events of the twentieth century, Berlin was the earliest center of recollection of authors as diverse as Benjamin’s close friend Gershom Scholem, Peter Gay, Felix Gilbert, George Mosse, Kurt Breysig, Gerhard Masur, and Max J. Friedländer, among others, almost all of whom wound up elsewhere. On this very homebound note, I would close. My conclusion is short, simple, and optimistic: that hundreds of records of similar reading experiences across as well as within different cultures await us. Finding them, and putting them to good use, is merely a matter of our acting on our curiosity about the striking diversity that marks the lives of others.
13 Ibid. p. 132. 14 The Private Journal of HENRI FRÉDÉRIC AMIEL. New York 1935 p. 1. Note that the bottom of the same page and the beginning of the next contain a statement of retrospection remarkably similar to that found in the opening paragraphs of STENDAL‘S Henry Brulard (cf. fn. 1): “I have just marshalled before the eyes of my conscience my whole previous life, childhood, school, family, adolescence, travels, games, inclinations, pains, pleasures, the good and the bad. I have tried to separate the parts played by nature and by free will, to recover in the child and young man the lineaments of my present self. I have considered myself in my relations with things, books, relatives, sisters, comrades, friends. The ills against which I struggle are the same old ills. It is a long story, one that I shall have to write some day.”
JACQUELINE VAN GENT
The Lives of Others. Moravian Indigenous Converts’ Writings and the Politics of Colonial Autobiographies A Response to James S. Amelang
Introduction “The Lives of Others” has been the research focus of the interdisciplinary research group “Self-Narratives in transcultural perspectives,” which spans an incredibly wide geographical and chronological spectrum across European, Asian, Near Eastern and American societies from the early modern period to the twentieth century. Through a series of projects, this group has raised new questions, posing them in new ways, on the fundamental historical and social issues with which scholars in our respective disciplines are concerned, such as identity and selfhood, gender and the critical examination of historical documents as primary sources. The research group has focused its research on a transcultural comparison of ego documents, or self-narratives, to explore in interdisciplinary teams their potential for reshaping wider and overarching historical themes such as identity and self. The research group is a successful model for international collaboration and combines leading scholars in the field of ego document research across Europe: in The Netherlands, Rudolf Dekker; in Switzerland, Kaspar von Greyerz; in Germany, Hans Medick; and in Spain, James S. Amelang. For this chapter, I have been invited to respond specifically to a number of points that James S. Amelang has raised in his paper and throughout his extensive body of published work. Amelang is an internationally acclaimed early modern historian and one of the pioneers in this discipline to consider the value of ego documents, and of the autobiographical texts of ‘ordinary’ people in particular, as he has so splendidly demonstrated in his book The Flight of Icarus.1 In a 2001 publication, Amelang suggested that the very concept of identity in early modern societies is one that is relational – people belonged to multiple worlds: “We are often misled by the unfolding individualism with which autobiography is inevitably associated. Not only was no man, much less an early modern craftsman, an island into himself; very few writers even tried to write in isolation from the multiple worlds to which they belonged.”2 James Amelang expands this concept to apply it specifically to the study of early modern autobiographies and makes the im1
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JAMES S. AMELANG, The Flight of Icarus: Artisan Autobiography in Early Modern Europe. Stanford 1998. Some of his subsequent publications on autobiographical writings are: ID., The Dilemmas of Studying Popular Autobiography, in: Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Eds. KASPAR VON GREYERZ/PATRICE VEIT/HANS MEDICK. Cologne etc. 2001 pp. 431-438; ID., Saving the Self from Autobiography, in: Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit. Individualisierungsweisen in interdisziplinärer Perspektive. Ed. KASPAR VON GREYERZ unter Mitarbeit von ELISABETH MÜLLER-LUCKNER. Munich 2007 pp. 129-140. AMELANG, Dilemma (cf. fn. 1) p. 434.
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portant observation that autobiographical writing in the early modern period is differently situated because “early modern first-person writing was rarely autobiographical.”3 Instead, early modern first-person narratives reflect the multiple social hierarchies in which people are embedded and from where they draw their sense of self.4 In this chapter, I want to build on these observations and use them as a starting point for transcultural perspectives on early modern self narratives written within a colonial context. How did converted indigenous people in the Atlantic world write about their identities, relationships and their lives? How did colonialism influence their sense of self and their writing of self, when these were written both in the language and the genre of the colonizer? Secondly, I wish to take up James Amelang’s suggestion that a more differentiated view of first person writing genres be adopted by considering in more detail how different forms of texts, such as memoirs, letters and autobiographies, elucidate specific critiques and cannot be easily lumped together as “ego documents.”5 Historians have so far not paid adequate attention to such genre questions and there remains much scope for considering different genre requirements and their impact on ego documents and the resulting representations of self. My case studies below will therefore compare letters as well as memoirs written by Moravian converts. In his contribution to this collection, James Amelang eloquently describes the importance of place in the specific forms that memory, identity formation and textual production can take. For example, autobiographical writing can be triggered by being practiced in a different place/culture, the relocation resulting in a consideration of difference and in a change of perspective on one’s own life, as in Stendhal’s The Life of Henri Brulard. Amelang also raises the point that the places where autobiographical writing occurs are not insular locations but actually nodes in a wider web of textual production which goes beyond the act of writing to include the circulation of texts and the expectation of an intended audience. The rather unsettling story of Mircea Eliade’s semi-autobiographical novel Bengal Nights and his representation of his relationship with Maitreyi Devi, illustrates this point. Maitreyi Devi, however, owing to her social position, education and links to the publishing industry, had the chance to write back. She was able to write and publish an alternative view of “the lives of others,” representing her (post-)colonial and gendered self on her own terms. In stark contrast, the colonial subject in the early modern period had little control over the European literary tradition of autobiography or letter writing. Colonized peoples, in their communication with a Euro-American audience, could not express themselves in their own cultural traditions, but instead had to use the “white man’s idiom” because of their dependency on a European controlled publishing system. Additionally, a written letter or autobiography was an alien concept to those cultures that had no written language before colonization. Colonial subjects thus had little textual control over the production of their texts and almost no control over the distribution of them. Their multiple worlds of their selves had to accommodate colonial hierarchies of race and gender
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Ibid. p. 435. Ibid. p. 436: early modern writing had to follow a “protocol that enjoined strict hierarchies in genre, style and contents of literature closely resembling similar hierarchies in social ranking and address.” AMELANG, Flight (cf. fn. 1). See especially, Chapter 1, Studying Popular Autobiography p. 16.
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in one way or another. It therefore comes as no surprise that their autobiographical writings, at least the ones preserved in mission archives, reflect these relational selves. In this contribution, I offer some transcultural readings of letters and memoirs written by American Indian converts at eighteenth-century Moravian missions in terms of James Amelang’s concepts. This mission society furnishes us with a particularly rich field of cross-cultural encounters in colonial contexts. The Moravian archives contain an extensive collection of indigenous converts’ personal writings, chiefly memoirs and letters, which form the basis of my discussion here. By the 1730s, when the Moravian mission outreach started, all of the indigenous societies with which the Moravians came into contact had been affected by colonialism, albeit with differing intensities. The question then arises, how did Moravian converts construct their selves in a colonial context, and in the Christian textual genre of Moravian spiritual memoirs and letters? How was the relational self of Moravian converts constituted in a colonial context? How did Mohican and other indigenous converts translate themselves into Moravian identities in their letters and in their memoirs? How was the colonial context, namely mission paternalism, negotiated by this relational self? And how important was the wider social context beyond immediate mission relationships? Every Moravian convert was required to reshape their identities upon entry into the congregation. Moravian selves were thus explicitly relational: every convert understood themselves in relation to Christ (his blood, his side wound). Christ as friend, husband and guide was not only present in the group’s religious rituals, but also in the spiritual reflections contained in converts’ memoirs. Moravians also saw themselves as an integral part of a new form of community and communal living: everyone drew their identity from their membership in age- and sex-segregated “choirs” that were both spiritual and living arrangements. Choir members, even when married, also resided in the same choir house. Members of one’s choir traditionally completed the writing of memoirs of their brothers and sisters by adding in the description of the author’s last days and death. Moravian gender practices in the eighteenth century were based on a radical sex-segregation in work, living arrangements and spiritual practice.6 These specifics in gendered social practices and gender hierarchies enabled converted indigenous women to access European forms of self-representation, such as the letter and the memoir, in the same way as men because they were explicitly encouraged to have semi-independent spiritual lives in 6
For critical studies on Moravian gender practices see CRAIG D. ATWOOD, Community of the Cross: Moravian Piety in Colonial Bethlehem. University Park, PA 2004; ID., The Mother of God’s People: The Adoration of the Holy Spirit as Mother in the Eighteenth-Century Brüdergemeine, in: Church History 68. 1999 pp. 886-909; ID., Sleeping in the Arms of Christ: Sanctifying Sexuality in the Eighteenth-Century Moravian Church, in: Journal of the History of Sexuality 8. 1997 pp. 25-51; AARON SPENCER FOGLEMAN, Jesus ist weiblich, in: Historische Anthropologie 9. 2001 pp. 167-194; ID., Jesus is Female: Moravians and Radical Religion in Early America. Philadelphia 2007; BEVERLY PRIOR SMABY, Transformation of Moravian Bethlehem: From Communal Mission to Family Economy. Philadelphia 1988; ID., “No one should lust for power … women least of all.”: Dismantling Female Leadership among Eighteenth-Century Moravians, in: Pious Pursuits: German Moravians in the Atlantic World. Eds. MICHELLE GILLESPIE/ROBERT BEACHY. New York 2007 pp. 159-173; ID., “Only brothers should be accepted into this proposed council”: Restricting Women’s Leadership in Moravian Bethlehem, in: Pietism in Germany and North America 1680-1820. Eds. JONATHAN STROM/HARTMUT LEHMANN/JAMES VAN HORN MELTON. Aldershot 2009 pp. 133-162.
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their choirs and thus to communicate in written form with other Sisters in distant congregations.
The Lives of Others I: Johannes’ Letters Moravian Christian converts, and especially first-generation converts, were strongly encouraged to write (or to dictate) letters to other Moravian congregations in America and in Europe, and especially to the headquarters in Bethlehem and Herrnhut.7 In North America, Bethlehem in Pennsylvania was the central congregation for the Atlantic outreach and the political and economic centre of the Moravians in the new world. The Moravians set up their first missions in the 1730s and Count Nikolaus von Zinzendorf, the head of the Moravian Church, travelled to America in the 1740s to inspect the mission work. The first Indian mission success came by accident: a missionary named Rauch met by chance Mohican Indians from Shekomeko when he arrived in New York. They invited him to Shekomeko and the first converts were made in 1742. One of these firstgeneration Christians was the Mohican Wasampah, baptized Johannes and also known as Tschoop. He was baptized in April 1742 and died of small-pox in Gnadenhütten in August 1746. Amelang’s observation that place is important for the production of personal life writings acquires a new transcultural aspect when reading the letters of the Mohican convert Johannes. Johannes’ letters have survived in several languages and were written down by different Moravian Brethren, as well as by himself. None of these letters are in his mother tongue, but he operated in a number of colonial languages, reflecting the social nature of the place he lived in. His reflections about himself were not free flowing, but adhered to specific expectations of him as a colonial subject and as an indigenous convert and are cast in a textual tradition foreign to his own culture. His letters are addressed to a predominantly Euro-American audience of Moravian congregations and foreground his Moravian, not his Mohican, identity. Places and identities entail social relationships, and letters reflect these social hierarchies. As Sophie Ruppel has shown us, early modern letters lend themselves particularly well to such a negotiation of social hierarchy. Letters expressed in both direct and subtle ways differences in rank, determined by social status, age, gender and, in colonial societies, also by ethnicity, between writer and receiver. Letters were thus consciously used to construct specific identities between writer, addressee and a wider audience who read them, and since most letters were intended to be read out loud and circulated to a wider audience beyond the actual addressee, they became public documents. As Sophie Ruppel has pointed out, the content of epistolary correspondence was sometimes even subordinate to the social function of a letter as a “public ritual” of social exchange and of nego-
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For details of this communication system see CAROLA WESSEL, Connecting Congregations: The Net of Communication among the Moravians as Exemplified by the Interaction between Pennsylvania, the Upper Ohio Valley, and Germany (1772-1774), in: The Distinctiveness of Moravian Culture: Essays and Documents in Moravian History in Honor of Vernon H. Nelson on his Seventieth Birthday. Eds. CRAIG D. ATWOOD/PETER VOGT. Nazareth, PA 2003 pp. 153-172.
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tiation of status.8 Thus while letters could be formulaic, socially they were highly meaningful. These important social aspects of letter writing are of particular interest for a critical reading of the letters by indigenous converts that were composed, distributed and read within the gendered social hierarchy of missions. Read in this light, Johannes’ letters acquire a different meaning. It does not matter if these ego documents were actually written by Johannes himself or merely dictated, perhaps translated, and noted down by a Moravian scribe. What matters is Johannes’ intention of creating and maintaining relationships of reciprocity with the addressees – the missionaries and congregation in Bethlehem. But how could a Mohican man do this within the Moravian mission system? How could he express his self and what were the rules of textual production he was expected to observe? Postcolonial scholars have rightly questioned the extent to which indigenous converts were able to construct their own identities within the mission controlled European literary genres at their disposal.9 After all, imperial control manifested itself in the control over language.10 Recent scholarship has demonstrated that colonial subjects were to different degrees able to use European textual genres to represent themselves. Katherine Faull, for example, has argued that memoirs of African slaves who joined the Moravians displayed a pre-Christian self according to the expectations of an early modern European audience. Faull argues that these Moravian Africans used the genre conventions of slave narratives and early modern travel narratives to appeal to a European literary taste.11 In this sense, using the “white man’s idiom” is of course a cultural compromise – or wholesale concession – but it was the only way to negotiate social relationships within the colonial mission system and within the “missionary writing machine.”12 Letters written or dictated by indigenous Christians thus provide us with the opportunity to investigate more closely the strategies of writing the early modern colonial self in a genre different from autobiographies.13 Letters written by Moravian converts required not only
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SOPHIE RUPPEL, Verbündete Rivalen. Geschwisterbeziehungen im Hochadel des 17. Jahrhunderts. Cologne etc. 2006; ID., Zwischen Konflikt und Kooperation. Geschwisterbeziehungen im deutschen Hochadel des 17. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2007. See for example BILL ASHCROFT/GARETH GRIFFITHS/HELEN TIFFIN, The Empire Writes Back: Theory and Practice in Post-Colonial Literature. London etc. 2002. Katherine Faull has examined two memoirs of Moravian slaves to demonstrate how they wrote within and against the “white man’s idiom,” see KATHERINE FAULL, Self-Encounters: Two Eighteenth-Century African Memoirs from Moravian Bethlehem, in: Crosscurrents: African Americans, Africa and Germany in the Modern World. Eds. DAVID MCBRIDE/LEROY HOPKINS/CAROL AISHA BLACKSHIRE-BELAY. Columbia 1998 pp. 29-51. ASHCROFT/GRIFFITHS/TIFFIN, The Empire Writes Back (cf. fn. 9) p. 9. FAULL, Self-Encounters (cf. fn. 9) pp. 29-51. This term was first developed by Norman Etherington. See NORMAN ETHERINGTON, The Missionary Writing Machine in Nineteenth-Century KwaZulu-Natal, in: Mixed Messages: Materiality, Textuality, Missions. Eds. JAMIE S. SCOTT/GARETH GRIFFITHS. New York etc. 2005 pp. 37-50. For a discussion of one of the first black Christian’s letters in sixteenth-century Spain, see GLYN REDWORTH, Mythology with Attitude? A Black Christian’s Defense of Negritude in Early Modern Europe, in: Social History 28. 2003 pp. 49-66. A brief discussion of Moravian slave converts’ letters written in the Caribbean in the 1730s is provided by JON F. SENSBACH, Rebecca’s Revival: Creating Black Christianity in the Atlantic World. Cambridge 2006 pp. 60-66.
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mastery of a European epistolary genre but also religious self-representation as a Moravian. Johannes addressed the congregation in Bethlehem, Pennsylvania, the Moravian headquarters for their Atlantic missions, simply as the “congregation of the loyal Lamb.”14 The letter details his conversion experience and strongly conveys feelings of shame about his past behavior, especially his drinking, and a need to distance himself from a secular world of “pleasures” which were not explicitly identified as an Indian way of life. He constructs his new identity in this letter in the expected Moravian form through positioning a primary relation between himself, the suffering Savior and the Moravian congregation. The two are intertwined: “I very much love the congregation because through the congregation I have gotten to know the blood [of Christ].”15 This carefully chosen opening phrase of the letter reassures his audience of his loyalty, and, implicitly, of his obedience. Following this, there is a repentant section, in which he presents himself in a very Pietist manner as having been a sinner for most of his preconversion life, enjoying the pleasures of the world for almost 50 years. This life was “dead” – a central Moravian spiritual term used to describe those who have not yet been awoken to the true “life.” He then tells how his conversion took place upon hearing Moravians preaching about the blood of Christ as the “true joy.” Johannes describes how he had prayed to the Lord to be allowed to continue to experience this newfound happiness and after only a few days he felt that everything that had given him pleasure previously became now small and insignificant. This letter than can be read as one possible way for Johannes to construct a colonial relational self and as an assertion to be acknowledged as a member of the Indian Christian congregation. Johannes clearly positions himself as a member of the Moravian congregation who has undergone the necessary spiritual growth and who demarcates his pre-Moravian life from his present state. While the humble emphasis on his state of sin is exaggerated by using it in the letter’s signature, he does nevertheless demand a reply and thus an official acknowledgement from the Bethlehem congregation. Johannes’ use of the Moravian imagery of Christ’s blood combined with his description of the somatic experience of his awakening in his body was the most appropriate idiom for signaling his Moravian identity to a Moravian audience. His letter, therefore, is both a minor conversion story and a memoir. Early modern letters were an ideal textual form to negotiate power relations. In highly stratified colonial social contexts, such as Moravian missions, letters confirmed the place of neophytes in the mission order. In Moravian congregations, indigenous converts could obtain some degree of authority, for example as a “national helper” or as an elder or eldress, but they were not normally elevated into the position of minister. The converts’ letters reflect these social arrangements by promoting these letters of so-called “helpers,” such as Johannes, which were frequently encouraged and widely distributed.
14 “An die Gemeine des threuen Lammes in Bethlehem”, Unitätsarchiv Herrnhut (hereafter UA) R. 15 H. I.a.3 No 5, dated 5 January 1745. 15 “Ich habe die Gemeine recht lieb, denn durch die Gemeine ist mir das Blut bekannt gemacht worden.” Ibid.
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The Lives of Others II: Martha’s Memoir Literary scholar Katherine Faull has argued that the memoirs of Moravian women are among the earliest autobiographies of women in North America.16 Indigenous Moravian memoirs, like the autobiography of Martha, a Mohican woman who was baptized into the Moravian congregation of Lititz in Pennsylvania17, raise questions about transcultural and postcolonial perspectives on early modern autobiographical writing. Faull has also alerted us to the different textual conventions found in the memoirs of nonEuropean converts, and in particular the slave narratives that can be found in the Moravian collection of memoirs.18 Martha was born in 1737, three years before Mohican Indians in Shekomeko encountered Moravian missionaries. She died in 1783 at the age of 46. Her autobiography was dictated to a Moravian scribe who wrote it down in German script. The text follows the general pattern of Moravian memoirs and traces the spiritual growth of the believer from childhood to death. This usually included a detailed description of specific Moravian spiritual and social transition rituals such as the awakening experience, baptism, First Communion and the entry into age-specific choirs.19 For Martha, these life stations included her entry into the children’s choir in Bethlehem, her baptism, First Communion and her entry into the girls’ choir house and later into the Single Sisters’ choir house. She mentions the communal love feasts and the gender specific ‘Speakings’, which were confidential conversations about issues of pastoral care between members of the same choir. The memoirs give space for reflection on spiritual progress or the crises encountered during adolescence and they reflect specific historical circumstances, in Martha’s case in particular the settler violence against baptized Indians in Pennsylvania in 1764 and 1783. Her parents, who were among the first converts, were baptized in 1742 as Thomas and Esther. They remained loyal to the Moravians and achieved elevated positions of some authority within the mission hierarchy. Thomas was recognized in the mission records as ‘helper’ and Esther as a ‘helper of the Indian widows’, but these official titles are not mentioned by Martha herself but inserted as editorial comment, marked by parenthesis, by the Moravian scribe who wrote down her story. Likewise, Martha does not mention the circumstances of the death of her mother who died in Gnadenhütten in the Muskingum Valley in 1780. Editorial interventions were thus a normal part of Moravian autobiographies, but they seem to be more detailed in indigenous memoirs. The scribe of Martha’s memoir obviously thought it important to include these additional comments about the prominence of her Christian parents and the historical circumstances of frontier violence against baptized Indians in Pennsylvania, and thus to contextualize Martha’s life for a transregional and transcultural Moravian audience. This was a deliberate textual intervention of the scribe, who knew that memoirs were distributed and read across the transatlantic Moravian congregations. By singling out the special position of Martha’s 16 KATHERINE FAULL (Ed.), Moravian Women’s Memoirs: Their Related Lives, 1750-1820. Syracuse, N.Y. 1997 see introduction. 17 UA GNA 227 1784.6 memoir Martha. 18 FAULL, Self-Encounters (cf. fn. 9) pp. 29-51. 19 CHRISTINE LOST, Das Leben als Lehrtext. Lebensläufe aus der Herrnhuter Brüdergemeine. Herrnhut 2007.
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parents as well-known and leading first generation converts and the specific circumstances of violent attacks on Indian converts in Pennsylvania, the scribe emphasized Martha’s identity as a worthy member of the Moravian congregation. Perhaps he also sought to justify a wider interest in her autobiography and to account for the fact that her life was, belatedly, written down for not all indigenous converts’ memoirs were recorded. Martha’s father Thomas was baptized in April 1742, only two months after the afore mentioned Johannes Tschoop, at the occasion of Zinzendorf’s personal visit to Shekomeko, a congregation he hoped would become a model Moravian Indian community. Thomas died of smallpox just a few days after Johannes Tschoop in August 1746, in the newly founded Indian congregation of Gnadenhütten to where some of the baptized Shekomeko Indians had been moved in 1746, after the Moravians were expelled from the New York colony of Shekomeko, when they were suspected of collaborating with the French. In 1742, as a small child of five, Martha had been taken to Bethlehem by Brother Nathaniel to live in the children’s choir house, a communal institution typical of the sex- and age-segregated living arrangements of the Moravians who consciously developed communal alternatives to the family. In Bethlehem, she would have met at least one other child of Mohican converts from Shekomeko: Debora, the daughter of Johannes, who was taken there in 1745 when she moved with her father and Moravian missionaries to Bethlehem. She was a few years older than Martha and moved into the Single Sisters’ House in Bethlehem on 22 April 1745 at a time when Martha was taken into the children’s choir.20 The Bethlehem Diary noted about Martha in its entry on April, 30, 1745: “Marthel, the daughter of Thomas, is the most well-behaved, obedient, and industrious of all the intermediate girls. It is such a joy to see her.”21 Martha’s parents, Thomas and Esther, had also moved to Bethlehem.22 We never learn Martha’s indigenous name in her autobiography, as neither Martha nor her scribe recorded it. The only reference we have to her pre-Moravian childhood is the description of her doubts about Christianity that were sparked by the religious behavior of her Christian mother. Curiously, her baptized father is not mentioned here. As a very young child, while still living with her family in Shekomeko, Martha often observed her mother Esther praying to the Christian God, but did not share her sentiments. “I often saw my mother pray and cry to the Savior, and when I asked her about the reasons for this, she told me what she had heard from the Brethren and that she prayed to God our Savior. I sought to distract her from this.”23 The young girl tried to change her mother’s mind about Christianity and the Moravians, obviously reflecting a wider-spread view of Indians in Shekomeko, where only a minority converted. She cautions her mother: “I said, God lives so high up, he could not hear her. She should also not believe everything the white people said because they only
20 The Bethlehem Diary 2. 1744-1745. Eds. VERNON H. NELSON/OTTO DREYDOPPEL/JR. and DORIS ROHLAND JOB. Bethlehem, PA 2001 p. 280. 21 Ibid. p. 288. 22 Ibid. 23 “Meine Mutter sahe ich oft zum H[ei]l[an]d weinen u[nd] beten, und als ich sie um die Ursach fragte, u[nd] sie mir erzehlte, was sie von den Brüdern gehört, und d[a]ß sie zu Gott unserm H[ei]l[an]d betete, suchte ich sie davon abzubringen.” UA GNA 227 1784.6 memoir Martha.
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sought to seduce the Indians.”24 In this comment, Martha links the position of a Christian convert explicitly with that of a colonial subject and of a seduced victim. Martha, however, leaves behind her earlier caution and seems to have integrated well into the various Moravian communities she lived in for over 40 years. Her life is told from the parallel perspectives of her relationship to the Moravian community and to Christ, the two reference points to which every Moravian was expected to live and tell their lives.25 Emotional and spiritual tensions are a significant part of this related self and the subject’s constant self-scrutiny is a conventional and prominent feature of their autobiographies. In Martha’s case, despite being admitted straight after her arrival in Bethlehem to the children’s choir house, and thus socially integrated, she did not initially experience a spiritual awakening and it was not until four years later, aged nine, that she was baptized. Martha says about this period of integration that “I soon got used to it. But I cannot say that I desired the Savior until several years later when I gained a better understanding of what I saw and heard around me.”26 Her conversion, “the first impression I received of the Savior in my heart” a few years later was prompted by “reading about Christ’s death struggle and bloody sweat”27 and is marked by a reflection on Christ’s suffering, her guilt about previous doubts and a strong spiritual desire to be baptized in Christ. “Now I felt strong sin that I had not believed earlier in him and I spent all night in tears. The Sisters comforted and reassured me that the Savior would fulfill my desire. From this moment on I strongly desired baptism and because the Sisters and Brethren could see that I was sincere about this, they decided that it was not necessary to wait with the baptism until I was old enough to enter the girls’ choir.”28
Martha’s spiritual life follows an expected Moravian pattern: her baptism, her spiritual doubt and then her eventual reassurance brought about by an emotional encounter with Christ. Her baptism was not only an important ritual event to welcome her into the spiritual community of Moravians, but continued to serve as a point of reference throughout her life, as she reflected on spiritual crises such as her “disinterest or excess.” These are mentioned but not further elaborated upon, perhaps because her immediate audience, her family and congregation, would have been able to fill in the details from memory.
24 “Ich sagte, Gott wohnt so hoch, Er könne sie nicht hören; auch solte sie nicht alles glauben, was die weissen Leute sagten, sie suchten nur die Indianer zu verführen […].” Ibid. 25 FAULL (Ed.), Moravian Women’s Memoirs (cf. fn. 16) see introduction. 26 “Indeßen lag es meinen Eltern sehr am Herzen, d[a]ß ich des Heilandes werden solte; und Br[uder] Nathanael brachte mich im J[ahr] 1742 nach Bethlehem zu den Kindern. Ich gewohnte bald ein, kan aber nicht sagen, d[a]ß ich mich nach dem H[ei]l[an]d gesehnt hätte, bis nach ein paar Jahren, da ich mehr Verstand bekam davon, was ich sahe u[nd] hörte.” UA GNA 227 1784.6 memoir Martha. 27 “Der erste Eindruck, den ich vom l[ieben] H[ei]l[an]d in meinem Herzen bekam, war über dem Lesen von seinem Todeskampf u[nd] blutigen Schweiß.” Ibid. 28 “Nun war es mir recht zur Sünde, daß ich nicht eher an Ihn geglaubt hatte, und ich brachte die ganze Nacht in Thränen zu. Die Schwestern aber trösteten mich, u[nd] versicherten, daß der l[iebe] H[ei]l[an]d es mir vergeben würde. Von da an sehnte ich mich gar sehr nach der h[eiligen] Taufe; und weil die Geschwister sahen, d[a]ß es mein ganzer Ernst wäre, waren sie darauf bedacht mein Verlangen zu erfüllen, u[nd] mich nicht warten zu lassen, bis ich ins Mädgenchor käme.” Ibid.
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Jaqueline Van Gent “I was baptized in the death of Christ on May 13, 1746, the Congregation Day, by Brother Christian Heinrich Rauch. The blessed presence of the Savior during this act was unspeakable. After receiving of this grace I went on a blessed path and if occasionally disinterest or excess appeared, the Savior would guide me back to my baptism and to what I had promised him. Then I was saddened in my heart and wondered how I could live just for him alone and how it should be possible not to ever aggrieve him.”29
In 1748, aged 15, she moved to the girls’ house and in 1749 received the Eucharist for the first time: this ritual brings her emotionally very close to Christ.30 Martha’s reflections about her adolescent years are happy ones and remarkably free of the adolescent crises that are quite prominent in other Moravian memoirs.31 She describes herself as happily naïve, someone who, “if something seemed suspicious to me would talk about it with my fellow workers.”32 Martha refers here to the specific Moravian form of extensive pastoral care in which congregation members discussed regularly their spiritual concerns with peers and bandleaders.33 In 1756, Martha achieved the position of supervisor in the children’s choir house and in the same year she was admitted to the Single Sisters’ Choir. She decided to stay a Single Sister and to serve only Christ, which meant she intended not to marry. Two years later, she moved into the house of the Single Sisters and in 1760 she was asked to return to the children’s house as a dressmaker.34 After these peaceful years, Martha traces in unusually great historical detail what must have been the most traumatic period in her life and in those of other Moravian Indians. The most historically detailed passage of her autobiography is about the events of 1764. In January 1764, the Indian Moravian congregation had to move from Nain to Philadel29 “Ich wurde also d[en] 13 May 1746 an einem Gem[ein] Tag in Bethlehem durch Br[uder] Chr[istian] Heinr[ich] Rauch in Jesu Tod getauft. Die Gnaden-Gegenwart des H[ei]l[an]ds bey dieser h[eiligen] Handlung war unaussprechlich. Nach Empfang dieser Gnade ging ich einen seligen Gang, und wenn zuweilen Gleichgültigkeit od[er]Ausschweifung sich meldete, so führte mich der H[ei]l[an]d bald zurück auf meine Taufe u[nd] was ich Ihm damals versprochen hätte. Dann war ich von Herzen bekümmert, wie ich nur allein für Ihn leben, u[nd] Ihn, wenn es möglich wäre, nicht betrüben möchte.” Ibid. 30 “[Anno] 1748 kam ich ins Mädgenchor, u[nd] d[en] 2 Febr[uar] 1749 gelangte ich zum Genuß des h[eiligen] A[bend]mahls, wornach ich mich schon lange gesehnt hatte. Was ich bey diesem ersten A[bend]mahl gefühlt u[nd] genossen, werde ich nie vergessen.” Ibid. 31 LOST, Das Leben als Lehrtext (cf. fn. 19); PIA SCHMID, Die Entdeckung der Kindheit sub specie religionis. Kindheitsbild und Kindererziehung in der Herrnhuter Brüdergemeine des 18. Jahrhunderts, in: Unitas Fratrum 57/58. 2006 pp. 37-56. 32 “Meine Mädgenjahre verbrachte ich vergnügt, ich war kindlich u[nd] einfältig; kam was vor, was mir verdächtig schien, so redete ich offenherzig mit meinen Arbeitern darüber aus, und so wurde ich wieder vergnügt.” UA GNA 227 1784.6 memoir Martha. 33 On Moravian adolescents and the psychological bonds see KATHERINE FAULL, “Girls Talk” – das “Sprechen” von Kindern. Herrnhutische Seelsorge an den Großen Mädchen im 18. Jahrhundert, in: Unitas Fratrum 57/58. 2006 pp. 183-196. 34 “[Anno] 1756 kam ich als Aufseherin zu den Kindern; ich hatte dabey manches zu lernen, es diente aber meinem Herzen zum wahren Segen. 1756 kam ich ins led[ige] Schwesternchor, bey welcher Gelegenheit ich den Bund mit dem l[ieben] H[ei]l[an]d machte, Seine treue Jungfrau zu werden, u[nd] durch seine Gnade zu bleiben. [Anno] 1758 zog ich aus dem Kinder-ins led[ige] Schw[ester]n Haus, u[nd] war recht vergnügt, bis ich [anno] 1760 wieder ins Kinderhaus zog als Schneidermeisterin daselbst.” UA GNA 227 1784.6 memoir Martha.
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phia for protection against increasingly violent attacks by settlers. It seems remarkable however that his racial frontier violence is not identified explicitly by Martha in her memoir, but added as an explanation for the audience by the Moravian scribe: “At the time of the war against Indians the mob was so angry against them that nobody was sure of their lives. Our Indian Brothers and Sisters only escaped their certain murder because the governor of Philadelphia took them under his direct protection.”35
Martha’s autobiography continues to describe how in March 1764 the Sisters had to follow the other baptized Indians to Philadelphia and move into the barracks for security. During this year at Philadelphia she describes a number of tribulations, “outwards” and “inwards,” her fear of persecutions, the threats made to their lives, as well as the attempts to persuade her to leave the Moravians.36 In 1765, this Indian congregation finally moved to a new place at the river Susquehanna, but Martha returned to Bethlehem and her former position in the children’s choir house. In October 1771, she moved to become a seamstress to the Moravian congregation of Litiz. Now aged 34, at what might look like the peak of a successful integrated life in the social and spiritual community of Moravians, Martha reveals further turmoil in the form of an unexpected and deep spiritual crisis. “After I had moved again into the Choir house, the Savior led me into his blessed school of the heart. I learned of my fundamental sin, I was shown one after the other that which I had previously not believed would exist in my case. But with each insight into the dark and bad corners, he, like a doctor, was willing to help my poor soul. I can also say that my Choir house was an indescribably blessed place.”37
The relational self of Moravians is here particularly apparent: Christ as authoritative figure brings on this crisis and resolves it. Martha submits to his authority in all aspects of her life. At the same time, she references her life closely to the Single Sisters’ Choir which is referred to in this quote as her true home – a “blessed place.” After this spiritual crises Martha emphasizes her integration into the Moravian social and ritual structures and her enjoyment of Moravian choir festivities and the associated emotional bonding with the Savior. “O how did I enjoy the Choir- and congregational festivals. And how often did I renew on these occasions my bond with the Savior with
35 “In dem damaligen Wildenkrieg neml[ich] war der Pöbel in Pensylvanien so gegen die Indianer aufgebracht, daß keiner von ihnen seines Lebens sicher war. Unsre Ind[ianer] Geschw[ister] entgingen ihrer Ermordung nur dadurch, daß der Gouverneur sie nach Philadelphia in seinen unmittelbaren Schuz nahm.” Ibid. 36 “In den Baracken zu Philadelphia verbrachte ich ein Jahr, und hatte manche Proben durchzustehen von aussen u[nd] innen. Es fehlte nicht an Nachstellungen, u[nd] man versuchte öfters, mich vom H[ei]l[an]d u[nd] der Gemeine abzubringen; hätte nicht der treue H[ei]l[an] über mir gehalten, so ware ich da um mein Gnadenloos gekommen.” Ibid. 37 “Nachdem ich wieder ins Chorhaus gezogen, führte mich der H[ei]l[an]d in eine selige Schule für mein Herz; ich lernte mein Grundverderben kennen, es wurde mir eins nach dem andern gezeigt, das ich vorher nicht geglaubt hätte bey mir zu finden; aber bey jedesmaliger Einsicht in meine schlechte Ecken, fand ich auch Ihn, als Arzt meiner armen Seele, willig u[nd] bereit mir zu helfen. Ich kan auch sagen, d[a]ß mir mein Chorhaus eine unbeschreiblich gesegnete Wohnung gewesen.” Ibid.
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an indescribable feeling of his closeness.“38 But these positive reflections about belonging to the Moravians are not unclouded. Martha adds now a lengthy description of her dependence on Christ (and implicitly on the Moravians) by emphasizing her unworthiness and in fact her identification with Christ. This spiritual transcendence of self was expected from all Moravians. But it seems remarkable that this positioning of the self in spiritual transcendence carries social undertones of displacement in a violent colonial world: “I am a poor worm on which the Savior has shown the miracle of grace and mercy. I am too weak and incompetent to praise him sufficiently, but I can confess with joy that I feel that I am his poor and reconciled sinner. I rely completely on him. I have nothing to show for than the wounds he has suffered for my sins.”39
It is only from the traditional observations made by a choir member of Martha’s last days and death that we learn that the death of her mother, who had passed away in 1780, had caused Martha as much grief as the violent conflicts and attacks on the Indian communities. “The death of her mother and the great cleft among her people at the Muskingum caused by the well known attack and the murder inflicted on them, dealt her a final blow and increased her desire to die.”40 Martha’s mother, Esther, one of the first Mohican converts, had been baptized on 22 August 1742 in Shekomeko. Exactly 38 years later, on 22 August 1780, she was buried by missionary Zeisberger in Gnadenhütten. The mission’s diary entry reads: “August, 22: Brother David and many Indian Brothers and Sisters went to Gnadenhütten. There he held the burial of Sister Esther, who went home in blessing yesterday. For many years she was a faithful and blessed National Helper among her gender, and her memory will remain a blessing to them.”41
Esther’s death in 1780 spared her the horrific experience of the 1782 massacre of Christian Indians in Gnadenhütten, the “attack and murder” which dealt her daughter Martha “the final blow,” causing her death in 1783. The massacre referred to here is the 1782 Gnadenhütten massacre in the Muskingum Valley in which over 90 Christian Munsee Lenape Indians and 11 missionaries were killed.42 38 “O was habe ich genoßen, an den seligen Chor- und Bundes-Festen! wie oft habe ich bey solchen Gelegenheiten meinen Bund mit dem l[ieben] H[ei]l[an]d erneuert, unter einem unbeschreiblichen Gefühl seiner Nähe!” Ibid. 39 “Ich bin ein armes Würmlein an dem der Heiland Wunder der Gnade der Barmherzigkeit bewiesen. Ich bin zu schwach u[nd] nvermögend, Ihn nach Würden zu preisen; aber zum Schluß kan ich mit Freudigkeit bekennen: ich fühle, d[a]ß ich Seine arme, doch versöhnte Sünderin bin, ich verlasse mich gänzlich auf Ihn, ich habe nichts aufzuweisen als Sein Verdienst u[nd] die Wunden, die Er sich für meine Sünden hat schlagen lassen.“ Ibid. 40 “Der Heimgang ihrer Mutter, u[nd] der große Riß unter ihrem Volk am Muskingum bey dem bekannten Ueberfall u[nd] an ihnen verübten Mordthat, gab ihr einen großen Stoß u[nd] vermehrte ihr Verlangen heimzugehen.” Ibid. 41 The Moravian Mission Diaries of David Zeisberger 1772-1781. Eds. HERMAN WELLENREUTHER/ CAROLA WESSEL. University Park, PA 2005 p. 537. 42 See GEORGE HENRY LOSKIEL, History of the Mission of the United Brethren among the Indians in North America. London 1794 pp. 149-185; GNADENHUETTEN MONUMENT SOCIETY, A True History of the Massacre of Ninety-Six Christian Indians, at Gnadenhuetten, Ohio, March 8th, 1782.
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Apart from the reference to Martha’s parents in her childhood phase, any discussion of Martha’s Indian kin and community is largely omitted from the memoir and we do not learn about her siblings or cousins or any obligations she might have had towards them. And yet her Moravian scribe emphasized that these relationships were the most important emotional reasons for her ill-health and death. Martha’s life was framed by colonial violence and the displacement of her family and people: her move away from Shekomeko, the Philadelphia capture in 1763 and the 1782 massacre.
Conclusion Martha, the Mohican Indian woman from eighteenth-century Pennsylvania, was not Maitreyi Devi, the educated woman of the Brahaman elite in twentieth-century Delhi discussed in James Amelang’s chapter in this collection. Maitreyi Devi was able to confront Mircea Eliade about his representation of her in his book, but, more importantly, she wrote her alternative account and published it independently of him. Martha, on the other hand, was not able to tell her own life to German or other western readers outside the missionary writing machine. And while Johannes would have discussed many topics with missionary Rauch, not least because he was his language teacher and translator, he too was unable to represent himself to the western world outside of the missionary genres of letters and memoirs and the Moravian distribution system. For Moravian converts of the eighteenth century, their dependence on mission patronage was all too clear. A transcultural perspective on early modern colonial autobiographies does alert us to the problems inherent in assigning specific cultural meanings to autobiographical writings of colonial subjects. The silences, gaps and omissions in ego documents become even more significant in transcultural comparisons. For example, we learn almost nothing about the subjects’ indigenous cultures and systems of meanings. If these do make an appearance in converts’ texts, then these are only accidental slippages in an otherwise carefully crafted text, communicated via several intermediaries and often across languages. Here the split between textual self-representation and social self is particularly obvious and rightly reminds us of Amelang’s important observation that autobiographical texts are not private but are public and at all times – during production, distribution and consumption – socially stratified. This helps us to understand that early modern personal life writings are not autobiographies in a modern sense but that they (re)present webs of relationships, largely hierarchical, which constitute the self. Some of them are foregrounded and others are silenced, and this is particularly so for colonial subjects. These texts also function as webs, or nodes, that go beyond the place of text production and include the expectations of the audience. The letters and memoirs of indigenous Moravian converts, which were circulated across the Atlantic, demonstrate this selfconsciousness. The transcultural reading of ego documents requires an ethnographic contextualization, which must be the focus of another paper.
New Philadelphia, OH 1843 pp. 1-12. Gnadenhuetten is now listed on the US National Register of Historical Places.
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As James Amelang has suggested, autobiographies and other ego documents from non-western cultures promise to be a wide and fruitful field of enquiry and this collection makes a significant step in this direction. Colonial subjects, like the converts of Moravian missions across the Atlantic rim, shaped their lives within the European textual tradition of Moravian spiritual life stories and very little is revealed about their ongoing spiritual and social ties to Indian communities once they became Christians. These texts, and their silences, serve as a useful reminder of the complexities of lives and the responsibility of historians to at least consider alternatives and the other sides of multiple selves. The interpretation of the “Lives of Others” demands a high degree of reflexivity of any historian to allow space and respect for the polyphony of voices, identities and the lived experiences of historical subjects. I was rather unexpectedly reminded of this responsibility when I watched the movie “The Lives of Others” (Florian Henckel von Donnersmarck, Das Leben der Anderen) which is set in Berlin in 1984 and which tells us the story of the life and conversion of Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler. It presents to us his transformation from a controlling agent of state power to a repentant man and moral, but invisible, hero. Such dangerous simplification of complex lives is something we as historians and anthropologists perhaps should strive to avoid.
FRANZISKA ZIEP
Einführung: Textstrukturen – Schreibkulturen
Im Zentrum des Kapitels stehen Selbstzeugnisse als narrative Konstruktionen. Ausgehend von der Prämisse des grundlegend narrativen Charakters von Identitäten (Ricoeur) wird der Zusammenhang von autobiographischem Erzählen und Personkonzeption näher betrachtet. Mit dem Fokus auf spezifische Konstruktionsformen und Gestaltungsprinzipien lebensgeschichtlicher Texte und deren historischer und kultureller Varianz lassen sich Selbstzeugnisse in ihrem Potential als Konkretisierungen und Formulierungen kulturspezifischer Erzählungen von Person und Gesellschaft lesen. Die Frage nach der Verbindung von Narration und Person bildet insofern einen zentralen Anknüpfungspunkt für eine interdisziplinäre Selbstzeugnisforschung, die von Methoden und Theorien der Geschichts-, Literatur- und Kulturwissenschaften gleichermaßen profitiert. In den Beiträgen werden in interdisziplinärer und transepochaler Perspektive Formen und Praktiken autobiographischen Schreibens in unterschiedlichen Kulturen und in verschiedenen historischen Kontexten vom späten Mittelalter, über die japanische Vormoderne, das 19. Jahrhundert in Peru bis zu den 1930er Jahren am Ende der Weimarer Republik diskutiert. Deutlich wird, wie vielfältig autobiographisches Schreiben war und ist und gleichzeitig, in welcher Weise Person und Erzählung sich gegenseitig bedingen. So folgen die vorgestellten Texte keiner einheitlichen Form, sondern überschreiten Gattungsgrenzen und kompilieren – im Mittelalter wie in der Moderne, in Europa wie in Japan – unterschiedliche narrative Muster und Strukturen. Diese stehen in einem engen Zusammenhang mit historischen und kulturellen Konzepten der Personkonstruktion. Die Übergänge von autobiographischem zu fiktionalem Schreiben sind dabei oft fließend. Die Aufsätze arbeiten zumeist in vergleichender Perspektive nicht nur narrative Modelle und Strategien der Authentisierung heraus, sondern zeigen vor allem, welche große Bedeutung konkrete Schreiborte und -prozesse, Metatexte und Abbildungen, Sprachverwendung sowie literarische Kontexte, Rezeptionshintergrund und Vermarktungsmöglichkeiten für die (Re-)Konstruktion der autobiographischen Person haben.
FRANZISKA ZIEP
Erzählen ohne Ende Lebensgeschichten im 16. Jahrhundert am Beispiel der autobiographischen Texte von Ludwig von Diesbach (1488/1518) und Thomas Platter (1572)
Text entsteht auch am Widerstand zu einem Erleben, das sich selbst in Worten noch nicht erfasst hat
Rainald Goetz: 18. März 2010 brunnen iv 721
Autobiographisches Erzählen Autobiographisches Schreiben ist im 15. und 16. Jahrhundert kein Massenphänomen. Dennoch finden sich gegenüber früheren Jahrhunderten vor allem im volkssprachlichen Kontext vermehrt autobiographische Texte.2 Gabriele Jancke hat in ihrer Quellenkunde für den Zeitraum von 1400-1620 234 Texte von 178 Verfassern und Verfasserinnen aus
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Titelblatt von Zeit-Literatur März 2010, in: Die Zeit 12. 2010. Mit dem Terminus „autobiographische Texte“ soll ein offener Textsortenbegriff zugrunde gelegt werden, der das heterogene Feld autobiographischen Schreibens berücksichtigt und nicht nur jene im Sinne der Gattungsdefinition „Autobiographie“ nach Lejeune definierten geschlossenen Erzählungen, wie sie in den Literaturwissenschaften allermeist den Forschungsgegenstand bilden. Vgl. im Hinblick auf historische Texte u.a. Horst Wenzel, Die Autobiographie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. 2 Bde. München 1980; Hans Rudolf Velten, Das selbst geschriebene Leben. Eine Studie zur deutschen Autobiographie im 16. Jahrhundert, Heidelberg 1995. Gleichzeitig soll von der Verwendung des Begriffs „Selbstzeugnisse“ abgesehen werden, um die Textualität und den narrativen Charakter des autobiographischen Materials herauszustellen. Die kontroverse und letztlich nach wie vor uneinige Begriffsdiskussion innerhalb und zwischen den literatur- und geschichtswissenschaftlichen Disziplinen findet sich in Ansätzen nachgezeichnet bei EVA KORMANN, Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert. Köln usw. 2004 S. 59-101, die – um der Textualität autobiographischer Texte gerecht zu werden – den Begriff „Autobiographik“ vorschlägt (S. 96); eine interdisziplinäre Perspektive auf den historischen Gegenstand steht bislang noch aus.
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dem deutschsprachigen Bereich nachgewiesen.3 Darunter ist eine größere Anzahl von Texten, die den Gegenstand ihrer Beschreibung explizit machen, die also – unter anderem über Vorworte, Kommentare oder Überschriften – als Lebensgeschichte ausgewiesen sind. Dazu gehören auch jene, die hier zur Debatte stehen. Um es gleich vorweg zu nehmen, ein teleologisches Modell, nach dem die frühneuzeitliche Literatur auf Positionen und Kategorien einer europäischen Moderne hindeutet, etwa die Behauptung und Befestigung eines als substantiell und autonom verstandenen Individuums durch die Schrift, soll dabei nicht zugrunde gelegt werden.4 Vielmehr gilt es, aus einer historischen Perspektive bestimmte Muster und Elemente zu untersuchen, die auf Potentiale des Erzählens in der Konstruktion von Person verweisen. Nicht immer greifen dabei, wie der Beitrag zeigen wird, hermeneutische Konzepte von Identität als einer geschlossenen und kohärent organisierten Sinnstruktur. Für die hier vorgestellten Überlegungen ist daher nicht so sehr die Person hinter dem Text von Interesse, also auch nicht das Verhältnis zwischen erlebender und schreibender oder geschriebener Person, sondern die Frage, in welcher Weise Konstruktionen von Person als und in Erzählungen erfolgen. Das Untersuchungsbeispiel bilden zwei autobiographische Lebenserzählungen: die zwischen 1488 und 1518 entstandene so genannte „Chronik“ des Ludwig von Diesbach – der Einfachheit halber jetzt dem 16. Jahrhundert zugeordnet – und die „Lebensbeschreibung“ des Thomas Platter (1572). Beide Texte thematisieren in spezifischer Weise den narrativen Charakter von Identität, indem sie (unter anderem) davon erzählen, wie die Grenzen des irdischen Daseins medial überschritten und verhandelt werden können. Wiewohl in unterschiedlichen Kontexten und in zeitlichem Abstand zueinander entstanden5, sind sie – wie viele lebensgeschichtliche Konstruktionen des 15. und 16. 3
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Vgl. Gabriele Jancke, Selbstzeugnisse im deutschsprachigen Raum. Autobiographien, Tagebücher und andere autobiographische Schriften, 1400-1620. Eine Quellenkunde. Unter Mitarbeit von Marc Jarzebowski, Klaus Krönert und Yvonne Aßmann: http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/quellenkunde/ [Datum des Zugriffs 18. Oktober 2010]; vgl. dazu auch dies., Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Köln usw. 2002. Janckes Quellenkunde und Monographie bezieht sich jedoch ausschließlich auf gedruckte Quellen und erhebt nicht den Anspruch der Vollständigkeit (vgl. JANCKE, Einleitung zur Quellenkunde, S. 1), es ist eine der umfangreichsten kommentierten Sammlungen autobiographischer Texte im deutschsprachigen Raum des 15. und 16. Jahrhunderts. Sie bietet insbesondere Einblick in die Vielfalt autobiographischer Aufzeichnungen. Darüber hinaus ist für diesen Zeitraum die Sammlung deutschschweizerischer Selbstzeugnisse relevant, die auch handschriftliche Texte einschließt und die mittlerweile um die Datenbank deutscher und österreichischer Quellen erweitert wurde: http://selbstzeugnisse.histsem.unibas.ch/ [Datum des Zugriffs 18. Oktober 2010]. Außerdem: HARALD TERSCH, Österreichische Selbstzeugnisse des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (1400-1650). Eine Darstellung in Einzelbeiträgen. Köln usw. 1998. Zur Kritik an der Verwendung eines modernen Individualitätsbegriffs für historische Texte vgl. GABRIELE JANCKE/CLAUDIA ULBRICH, Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, in: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. Hg. DIES. Göttingen 2005 S. 7-27. Ludwig von Diesbach (1452-1527) entstammt einer Aufsteigerfamilie im Berner Stadtadel. Seine Lebensgeschichte wird in Anlehnung an chronikale Formen erzählt. Vgl. zur Biographie ausführlich: URS MARTIN ZAHND, Die autobiographischen Aufzeichnungen Ludwigs von Diesbachs. Stu-
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Jahrhunderts – Überlebensgeschichten.6 Und so lassen sich in diesem Zusammenhang bestimmte Erzählmuster und -strukturen verdeutlichen, die auch für andere autobiographische Texte repräsentativ sein können. Ein systematisierender Anspruch soll dabei jedoch nicht erhoben werden.
Grenzen der Endlichkeit – die „Chronik“ des Ludwig von Diesbach “In dem namen der helgen, hochen unntzerttelchen drffalattckett, gott fatter, sn unn helger geschd, unn mit hlff unn genand der hochwrdgen jmpffrowen Mare unn allem hmlschen her, so hab ich, Ludwig von Desbach, […] hab unn wll ffr mich nemen tz lob unn er mr unn mnen cknden unn em stamen von Diesbach harnach tz schrben unn ufftztzechnen, we oder wa ich Ludwig ertzogen unn erborn bn, ouch wass gelckss1 unn er unn ungeffellss myr begegenett ist, ouch wer mr gcz oder bss ttan hat. Undd wll dss alless ttn drch deß wllen, dass mn cknd unn all ir nachckmen sond wol mercken, was mr schad ider gtt ist gesn, dass s sch darnach wssend tz haltten in leb unn in led.“7
Die Aufzeichnung der Lebensereignisse hat – zumindest vordergründig – eine didaktische Funktion: Die beschriebenen Erfahrungen Ludwig von Diesbachs sollen seinen Nachkommen zur Orientierung dienen, ein gängiger Topos spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Autobiographik, ebenso wie die Legitimierung des Textes im Namen christlicher Autoritäten – von denen hier wohlgemerkt eine große Zahl anzitiert werden: Neben der heiligen Dreifaltigkeit zudem die Jungfrau Maria und das ganze himmlische
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dien zur spätmittelalterlichen Selbstdarstellung im oberdeutschen und schweizerischen Raume. Bern 1986. Thomas Platter (1499-1582) wurde in eine Bauernfamilie aus dem Schweizer Wallis geboren. Seine Bildung erlangte er vor allem autodidaktisch. Die Lebensgeschichte orientiert sich an einem biographischen Muster. Vgl. zur Thematik der Überlebensgeschichte in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen CLAUDIA ULBRICH, „Hat man also bald ein solches Blutbad, Würgen und Wüten in der Stadt gehört und gesehen, daß mich solches jammert wider zu gedenken…“ Religion und Gewalt in Michael Heberer von Brettens „Aegyptiaca Servitus“ (1610), in: Religion und Gewalt. Konflikte, Rituale, Deutungen (1500-1800). Hg. KASPAR VON GREYERZ/KIM SIEBENHÜNER in Verbindung mit CHRISTOPHE DUHAMELLE/HANS MEDICK/PATRICE VEIT. Göttingen 2006 S. 85-108. „Im Namen der heiligen, hohen, unteilbaren Dreifaltigkeit, von Gott Vater, Sohn und heiligem Geist, und mit Hilfe und der Gnade der hochwürdigen Jungfrau Maria und des ganzen himmlischen Heeres, so habe ich, Ludwig von Diesbach […] den Vorsatz und will, mir und meinen Kindern und dem Stamm derer von Diesbach zu Ehren, mir vornehmen, im Folgenden zu beschreiben und aufzuzeichnen, wie oder wo ich Ludwig erzogen und geboren worden bin, auch welches Glück, welche Ehre und welches Unglück mir begegnet ist und auch, wer mir Gutes und Böses getan hat. Und dies alles will ich deshalb tun, damit meine Kinder und alle ihre Nachkommen merken sollen, was mir geschadet und genützt hat, damit sie sich daran zu halten wissen in Liebe und Leid.“ Alle Zitate nach ZAHND, Ludwig von Diesbach (wie Anm. 5) S. 26:1 ff. – Übersetzungen: Franziska Ziep, basierend auf der Vorlage der Edition. Hervorhebungen ebenfalls von F. Z. Im Folgenden werden nur die Seiten- und Zeilenzählungen angegeben. Das Zeichen ‚’ ist in der Edition mit Rundbogen repräsentiert.
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Heer. Gleichzeitig wird noch ein anderer Aspekt angesprochen: Die Darstellung des eigenen Lebens repräsentiert die Ehre eines ganzen adligen Geschlechts, derer von Diesbach. Damit sind drei zentrale Bezugssysteme aufgerufen. Wie bereits Urs Martin Zahnd in seinem ausführlichen Kommentar herausgearbeitet hat, sind das Religion, Familie und Stand, markiert über die Teilhabe an adliger Ehre. Diese Teilhabe erscheint jedoch nicht einfach als gegeben, sondern wird über eine Lebenserzählung erst eigentlich hergestellt. Dies hat in der Familie von Diesbach durchaus Tradition und so beruft sich Ludwig immer wieder auf den Text seines Vetters, Niklaus von Diesbach, der offensichtlich eine umfangreiche – allerdings nicht erhaltene – Familienchronik verfasst hatte. Ludwig schreibt sich also ein in eine Familien-Erzählung, in eine Genealogie der Texte und – auf die Person bezogen – auch in eine Genealogie der Autorschaft oder anders: Er erschreibt sich diese Genealogie, indem er seine Lebensgeschichte mit anderen Lebensgeschichten in Verbindung bringt.8 Dies ist, das macht der Text immer wieder deutlich, Effekt einer narrativen Inszenierung, hergestellt über den intertextuellen Bezug: „Unn alsso wll ich nw harnach anffachen, tz stellen deß erschden mn ffatter unn mtter […] tzm ttel unn nitt gancz, den eß statt in mnss ffetterss […] bch lttrer, wass mn leber her unn ffatter sn ttag gehandlett hatt, dass gar lang tz schrben wer; den er der erlcheschd rtter gesn ist, der bss uff dss tzitt in der Egnossschafftt gesn ist.“ (28:12 ff.)9
Und später im Text heißt es: „Item, alsso wass ich b dem ckng, unn ward sch begen ein ckreg he, der ander do; da ich ffll hbscher sachen gesechen hab, dass gar ein lang schrben ber sch nem. Aber doch uff dass ckrczdsch, so wll ich von ettlchen hbschen geschchten schrben, dab unn mit ich gesn bn un mn leyb unn leben ouch gewagt hab alss ander bderb ltt; unn dass ich ttrwtt, mitt eren b andren rttren unn cknechtten tz belben, wa man die eer erschen wett.“ (50:20 ff.)10
„Wovon es gar viel zu schreiben gäbe“, im frühneuhochdeutschen Original heißt es konkret: „dass gar ein lang schrben uber sch nem“ (50:22).11 Diese Formel ist in der frühneuzeitlichen Literatur durchaus verbreitet und sie verweist auf das Erzählte, also den Gegenstand, ebenso wie auf den Prozess des Erzählens selbst, die Kombination von Geschichten zu einer zusammenhängenden Fabel, vor dem Hintergrund eines unab8
Die Referenzen an andere Erzähltexte und -muster reichen dabei weit über den familiären Kontext hinaus, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird. Vgl. dazu ZAHND, Ludwig von Diesbach (wie Anm. 5) S. 279 ff. 9 „So will ich nun im Folgenden anfangen, zuerst meinen Vater und meine Mutter darzustellen […] jedoch nur zum Teil und nicht sehr ausführlich, da es ja im Buch meines Vetters […] wahrheitsgetreu steht, was mein lieber Herr und Vater Zeit seines Lebens getan hat, wovon es gar viel zu schreiben gäbe, denn er war der ehrenhafteste Ritter, der je in der Eidgenossenschaft gelebt hat.“ 10 „Item, so lebte ich bei diesem König, und es brachen Kriege aus, der eine hier, der andere dort; in deren Verlauf sah ich viele interessante Sachen, wovon es gar viel zu schreiben gäbe. Zumindest in Kürze will ich von einigen schönen Geschichten berichten, bei denen ich dabei gewesen bin und Leib und Leben ebenso gewagt habe wie andere redliche Leute, deshalb glaube ich auch, mit Ehren bei andern Rittern und Kriegern bestehen zu können, wenn man nach Ehre frage sollte.“ 11 „Was eine ausführliche Darstellung erforderlich machen würde.“
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schließbaren Erzählkosmos, aus dem der Erzähler eine Auswahl trifft, ja treffen muss. Es gibt viele Merkmale im Text: deiktische Ausdrücke, Reflexionen, Kommentare – Simon Wenger hat das in seiner Lektüre detailliert herausgearbeitet12 – die den kompositorischen Charakter der Diesbach-Chronik unterstreichen. Kurz: Es lässt sich ein Erzählkonzept oder besser: ein Konzept von Erzählen ausmachen, welches jedoch nicht allein – wie Zahnd behauptet – darin aufgeht, die eigene Lebensgeschichte in traditionellen Deutungsmustern zu formulieren, um eine persönliche Krisenerfahrung zu bewältigen, womit in der Unmittelbarkeit des Erzählten das Individuum in der Typisierung zum Vorschein gebracht wäre.13 Vielmehr wird das Erzählen von Person, das Konstruieren der Lebensgeschichte selbst thematisch. Und damit auch der Umstand, dass normative Konzepte der Identitätskonstruktion nur in narrativer Gestalt gefasst werden können. Ehre, um auf das Beispiel zurückzukommen, wird hier als Modell vorgeführt, das von einer Person immer wieder eingelöst werden muss, um Adel zu verbürgen. Dies ist aber in erster Linie Ergebnis einer gelungenen Narration: Wenn nach Ehre gefragt werden sollte, gilt der Text. Der zeigt einen Ludwig, dessen Lebensgeschichte wie die seines Vaters das Modell „ehrenhaftester Ritter, der je in der Eidgenossenschaft gelebt hat“ repräsentiert, welches in zahlreichen Erzählsequenzen episodisch variiert wird. Und so empfiehlt Ludwig auch seinen Erben und Nachkommen mit „ernlch btt“, sie mögen sich nicht nur ebenso verhalten, sondern auch „dass s sch all unn icklcher insnderss stell oder stellen lass in dss bch.“ (26:22 ff.).14 Erst die geschrfft, wie Ludwig seinen Text bezeichnet und insbesondere die narrative Verbindung der einzelnen Leben und Lebensepisoden stellt also den genealogischen Zusammenhang her, der – in der Logik des Textes – für die Identität einer Person konstitutiv ist. Der (auto-)biographische Text erscheint so gewissermaßen als Körper, den, so heißt es in der Vorrede, die Nachkommen betrachten und „ansehen“ sollen: „dass [sie] dss geschrfft bettrachtten unn angessechen wellen“ (26:16). Interessant erscheint hier nicht nur die semantische Verbindung von Ansehen im Sinne von Augenschein und dem Ansehen einer Person im Sinne von Ehre, sondern auch die Tatsache, dass das Ansehen sich hier auf einen Text bezieht. Im Textkörper können also die Grenzen der menschlichen Endlichkeit überschritten werden, welche u.a. dem genealogischen Konzept der Identitätskonstruktion entgegensteht. Dies wird an einer weiteren Szene der Diesbach-Chronik deutlich. Zum besseren Verständnis muss an dieser Stelle kurz auf den Aufbau des Textes eingegangen und der Kontext der besprochenen Episode skizziert werden: Dieser zerfällt in zwei Teile, von denen der erste 1488 entsteht, der nach einem kurzen Abriss der Familiengeschichte, der Ausbildung und der Variation der ju12 Vgl. SIMON WENGER, Zwischen Typik und Individualität. Eine Relektüre der Autobiographie Ludwig von Diesbachs, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 128/1. 2009 S. 65-80, hier 70. 13 Vgl. ZAHND, Ludwig von Diesbach (wie Anm. 5) S. 275 f. 14 Das vollständige Zitat lautet: „Item eß ist ouch mn ernlch btt unn beger an mn cknd, dass s sch all unn icklcher insnderss stell oder stellen lass in dss bch […] um wllen, ener an den andren tzeg unn tz erckennen geb, wass gcz unn bss cklchem begegnett ist.“ Übersetzung: „Item, so ist es meine ernsthafte Bitte und mein Wunsch an meine Kinder, dass ich alle und jedes einzeln in diesem Buch darstellen oder darstellen lassen, damit einer dem anderen zeigt und zu erkennen gibt, was jedem in seinem Leben an Gutem und Schlechten begegnet ist.“
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gendlichen Aventiuren 15 im Dienste des französischen Königs („ettlchen hbschen geschchten“16, dazu zählen vor allem Feldzüge und Schlachten), dann Ludwigs Zeit in Bern, die wirtschaftlichen Verhältnisse und die Ehe mit Antonia von Ringoltingen17 schildert, insbesondere deren Krankheit und Tod. Der zweite, wesentlich kürzere Teil18, entsteht 1518, schließt an die Zeit nach 1488 an und fokussiert in erster Linie Ursachen und Auswirkungen wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Der Text bricht mit einem an die Söhne gerichteten Bekenntnis ab, das die Ursachen der wirtschaftlichen Probleme benennt. Beide Teile wurden offensichtlich jeweils in einem Zug geschrieben. Ludwigs erste Frau Antonia stirbt nach 14-tägiger Krankheit 1487 im Kindbett und im Jahr danach beginnt Ludwig mit der Niederschrift seiner Lebensgeschichte, wobei etwa vier von 25 Seiten des ersten Teils19 auf die Darstellung von Krankheit, Tod und Begräbnis Antonias entfallen. Zahnd liest diesen Abschnitt, wie bereits angedeutet, als Zeichen individueller Verunsicherung und Erschütterung, in dem die starke Stilisierung des Textes zugunsten persönlicher Reflexionen und Emotionen durchbrochen würde20 und davon ausgehend der autobiographische Text als Bewältigung einer Lebenskrise erscheint, die darin schreibend verarbeitet wird. Ich möchte diese Dichotomie von Erzählung und Erfahrung21, von Typik und Individualität22 nicht weiter fortschreiben und 15 „Die Schilderung der militärischen Unternehmungen, an denen Ludwig von Diesbach teilgenommen hat, wird um des ständischen Anspruchs willen immer wieder durch Hinweise auf den sagenhaften König Artus in die Nähe des ritterlichen Aventiure-Berichts gerückt“, vgl. ZAHND, Ludwig von Diesbach (wie Anm. 5) S. 271. Damit wird zugleich ein Erzählmuster aufgerufen, welches dem höfischen Roman entlehnt ist. 16 „Einige schöne Geschichten“, vgl. Anm. 10. 17 Antonia von Ringoltingen ist die Tochter Thürings von Ringoltingen, Schultheiß von Bern und Autor eines der bekanntesten frühneuhochdeutschen Prosaromane, der Melusine (1456). Der Text erzählt – in Adaption einer französischen Vorlage – die Geschichte des Geschlechts der Lusignan, als deren Ahnherrin die Meerfrau Melusine gilt. Die Nähe zu einer genealogischen Erzähltradition ließe sich in diesem Fall also auch biographisch diskutieren. Vgl. THÜRING VON RINGOLTINGEN, Melusine, in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hg. JAN-DIRK MÜLLER. Frankfurt a. M. 1990 S. 9-176. Zum Zusammenhang von Genealogie und Identität vgl. FRANZISKA ZIEP, Geschlecht und Herkommen. Zur narrativen Struktur von Männlichkeit in der ,Melusine‘ des Thüring von Ringoltingen, in: Das Abenteuer der Genealogie. Vater-Sohn-Beziehungen im Mittelalter. Hg. JOHANNES KELLER/MICHAEL MECKLENBURG/ MATTHIAS MEYER. Göttingen 2006 S. 235-262. 18 Sieben von insgesamt 32 Seiten. 19 Ich zähle nach den Angaben von ZAHND, Ludwig von Diesbach (wie Anm. 5). 20 „Die Beschränkung auf eine geringe Zahl stets wiederkehrender Attribute und Objekte ist nicht Ausdruck einer sprachlichen Unbeholfenheit, sondern Kennzeichen eines Versuches, das persönliche Erleben in stilisierter Form zu fassen. Dieser Sachverhalt ist für die deutschsprachigen Autobiographien des späten Mittelalters durchaus typisch; ungewöhnlich ist aber, dass Ludwig trotz dieser generellen Einordnung seiner Selbstbetrachtung in gegebene, überpersönliche Lebensmuster diese Sitilisierung in seiner Darstellung der Niederkunft, der Krankheit, und des Sterbens Antonia von Ringoltingens immer wieder durchbricht und versucht, seinen Gefühlen und Reflexionen unmittelbaren Ausdruck zu verleihen.“ ZAHND, Ludwig von Diesbach (wie Anm. 5) S. 275. 21 Vgl. KASPAR VON GREYERZ, Erfahrung und Konstruktion. Selbstrepräsentation in autobiographischen Texten des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Berichten, Erzählen, Beherrschen. Wahrnehmung
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stattdessen auf einen anderen Aspekt aufmerksam machen, nämlich, dass hier die Möglichkeiten sprachlicher Gestaltung genutzt und reflektiert werden23 und darüber hinaus – wie Christian Kiening in anderem Zusammenhang formuliert hat – auf eine „Eigenmacht der Sprache“24 abgehoben wird, die den Körper im Text bewahren kann: „Do die glog xi schlg ffor mittttag, do ffng dass fform, bderb hercz an tz brechen, mitt grosser ffernnfftt unn tzchtten, unn hatt mitt grosser tzchtt rlob genomen von mr unn von allen iren cknden unn jederman. Alsso uff ein halb stnd nach den xi gab die ffrom, erlch ffrow iren gest uff. Gott der allmechttg s ir genedg unn erbarmherzg drch sn btter lden, so er ffur s unn all gelbg sellen geltten hatt an dem stamen deß ckrczess, amen. […] Item, alsso ward die ffrom, erlch ffrow ttreffenlch gecklagtt von mencklchen; unn wass dass nitt unbll, den eß der ttrweschden herczen enss was, dass dass nitt tze sagen ist.“ (94:1 ff.)25
Was Ludwig von Diesbach hier narrativ in Szene setzt, ist ein ‚Schauspiel des Sterbens’. In der ästhetischen Transformation wird das Sterben von Antonia von Ringoltingen zu einem Ereignis mit nahezu transzendentalem Charakter. Dabei folgt die Darstellung jenem Formsystem für die Inszenierung des Todes, das im Europa des 15. Jahrhunderts
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und Repräsentation in der frühen Kolonialgeschichte Europas. Hg. SUSANNA BURGHARTZ/MAIKE CHRISTADLER/DOROTHEA NOLDE. Frankfurt a. M. 2003 S. 220-239, hier u.a. 220. So der Titel des Aufsatzes von WENGER, Typik (wie Anm. 12) der nach einer gängigen Forschungsposition nahelegt, dass sich nur innerhalb dieser beider Pole ein Verständnis frühneuzeitlicher Identitätsentwürfe fassen ließe (S. 65 ff.). Dazu allgemein OTTO ULBRICHT, Ich-Erfahrung. Individualität in Autobiographien, in: Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. RICHARD VAN DÜLMEN. Köln 2001 S. 109–144, hier 114, der in der frühneuzeitlichen Autobiographik „Spuren der Beschäftigung mit dem inneren Ich“ ausmacht, die einer typisierten Erzählkonvention entgegenstehen. Diese Gleichsetzung von ‚Innerlichkeit’, ‚Individualität’ und ‚Autobiographie’ legt eben jene problematische Folie der Moderne zugrunde und entwirft ein dichotomes und teleologisches Modell, was den Texten des 16. Jahrhunderts gerade nicht gerecht wird. Vgl. dazu ausführlich JANCKE/ULBRICH, Individuum und Person (wie Anm. 4). Womit die Eigenschaft des Textes gemeint ist, sich auf sich selbst zu beziehen. CHRISTIAN KIENING, Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt a. M. 2003 S. 317: „Die Totenklagen zielen darüber hinaus auf die Eigenmacht der Sprache angesichts einer Grenze, die erst durch das Insistieren zu einer solchen wird. Ihr Fluchtpunkt ist der unerreichbare Umschlag der Sprache in Geste, des Textes in den (verlorenen) Körper. Sie machen diesen Umstand transparent und mit ihm die Sehnsucht nach einer Überschreitung der Grenze von Literatur und Leben.“ „Als die Glocke elf schlug vor Mittag, da begann das fromme, rechtschaffene Herz zu brechen, in großer Vernunft und in Züchten, und nahm mit großem Anstand Abschied von mir und von allen ihren Kindern und von jedermann. Und eine halbe Stunde nach elf Uhr gab die fromme und ehrbare Frau ihren Geist auf. Gott der Allmächtige möge ihr gnädig und barmherzig sein durch sein schweres Leiden, dass er für sie und alle gläubigen Seelen am Stamm des Kreuzes gelitten hat, Amen. […] Item, so wurde die geliebte, ehrenhafte Frau von jedermann sehr beklagt, und das war nicht unangemessen, denn sie war eines der treuesten Herzen, wie es kaum in Worte zu fassen ist.“
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als Ars bene moriendi (Die Kunst des guten Sterbens) ausgeprägt ist:26 Die Sterbende hat bereits die Sakramente erhalten, erwacht nach Tagen in Fieber und Ohnmacht noch einmal, um die Familie zu segnen und stirbt dann in der Hinwendung zu Gott (als fromme Frau). Die Todesszene repräsentiert darin die christlich-genealogische Konzeption des Textes und es ist gerade der rituelle Charakter des Sterbens und Trauerns als narrative Konstruktion, der ein Beziehungsgefüge konstituiert: eines zwischen den gegenwärtigen und zukünftigen Mitgliedern der Familie Diesbach und damit zwischen Autor und Rezipienten und eines zwischen allen Verstorbenen und Trauernden über den intertextuellen Bezug: „Eß ist ouch ungelblch tze sagen, den ich befflss allen denen, den deß gelchen beschechen ist oder beschcht allss mr. // Die wssen darvon tze sagen“ (96:12 ff.)27, heißt es angesichts des großen Verlustes, den Ludwig beschreibt. Die Übersetzung von Zahnd für die Anfangszeilen lautet: „Es ist mir auch nicht möglich darüber zu sprechen.“ (97). Aber „ungeloublich“ kann im Mittelhochdeutschen sowohl ‚unglaublich’ als eben auch ‚ungläubig’ (im Sinne auch von ‚ungelöblich’)28 meinen – und insofern rekurriert diese Phrase „ungelblch tze sagen“ auf die Frage nach den Wahrheitsbedingungen des Erzählens hinsichtlich einer göttlichen Ordnung, die hier nicht mehr zu gelten scheint. Es ist nämlich nicht nur unmöglich, sondern auch unglaublich und ungehörig darüber zu sprechen. So kann im Unsagbarkeitstopos eine Leerstelle gleichzeitig markiert und überschrieben werden29, worin einmal mehr auf die Möglichkeiten sprachlicher Gestaltung abgehoben wird. Es wird – zum einen – das Versagen von Sprache zur Sprache gebracht und damit eine Spannung markiert, die daraus resultiert, dass das Unaussprechliche gleichzeitig in Sprache gefasst werden muss. Eine Möglichkeit, diese Spannung aufzulösen scheint der Rekurs auf andere Erzählungen („die wussen darvon tze sagen“).30 Zum anderen kann – um noch einmal auf das vorherige Zitat zurückzukommen – eine Person im Text gleichzeitig abwesend und anwesend sein, auch das wird in der Unsagbarkeitsformel signifikant („unn wass dass nitt unbll, den eß der ttrweschden herczen enss was, dass dass nitt tze sagen ist.“).31 Und es ist das Erzählen, welches diese Präsenz herstellt und damit die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits ebenso überschreiben kann wie jene zwischen Literatur und Leben. Insofern wird in der sprachlichen Inszenierung des Todes der Anspruch thematisch, die Person Ludwig von Diesbach über die irdischen und personalen Grenzen hinaus im und als Text bewahren zu können. Wobei es gerade nicht darum geht die Einzigartigkeit eines 26 KIENING, Körper und Schrift (wie Anm. 24) S. 295. Kiening untersucht im Kapitel „Inszenierte Tode, ritualisierte Texte“ u.a. die Totenklagen um Isabella von Bourbon (gest. 1465) und Maria von Burgund (gest. 1482), die Frau Maximilians I. 27 „Es ist auch unmöglich in Worte zu fassen, also befehle ich es all denen, denen das Gleiche geschehen ist oder geschieht wie mir. // Die wissen davon zu berichten.“ 28 BEATE HENNIG, Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Tübingen 2001 S. 371 übersetzt „ungeloube“ als „Unglaube; Ketzerei; Aberglaube; Abfall vom Glauben“ sowie „ungeloubelich“ als „unglaublich, unwahrscheinlich, unvorstellbar“ etc. 29 Zu Verwendung und Funktion des Unsagbarkeitstopos bei Ludwig von Diesbach vgl. WENGER, Typik (wie Anm. 12) S. 75 ff. 30 „Die wissen davon zu berichten.“ Vgl. das vollständige Zitat in Anm. 27. 31 „Sie war eines der treuesten Herzen, wie es kaum in Worte zu fassen ist“, vgl. das vollständige Zitat in Anm. 25.
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Menschen auf Dauer zu stellen, sondern die Person im Text aufzuheben – genau in jener doppelten Konnotation des Wortes: als ‚bewahren’ und ‚auflösen’. Dies allein unter der Formel „Stilisierungstendenz“32 zu fassen, erscheint mir im Hinblick auf die in diesem Text angebotene Inszenierung von Identität verengt. Darauf verweist auch das zweite Textbeispiel.
Überlebensgeschichte(n) – Thomas Platters „Lebensbeschreibung“ (1572) „Die will du, lieber sn Felix, nun ettlich mall an mich begärt hast, des glichen ouch andre verriempte und glerte menner, […] ich solle von iugend uff min läben beschriben, da du wie ouch sy machnmall von mier gehört habend, in was grosser armt von mtter lyb an, demnach in vill grosser gferden ich oft bin gsin mins lybs und läbens (erstlich als ich gedient hab in den grusamen gebirgen, dem nach als ich den schlen in miner iugend nach bin gezogen), ouch wie ich in die ee bin kumen, mich mit miner hußfrowen mit grosser sorg, m und arbeit mit den minen ernert hab, do dan sömlichs für nämlich dier z gttem erschiessen mag, das du betrachtest, wie gott mich manch mall so wunderbarlich erhalten […] so kann ich dier das nit abschlachen, sunder [will] als wyt mier miglich der gedächtnuß halb, alles anzeigen.“33
So beginnt die „Lebensbeschreibung“ des Basler Schulleiters Thomas Platter, die dieser 1572 nach eigenen Angaben innerhalb von 16 Tagen niederschreibt. Die Lebensgeschichte, die Thomas Platter verfasst, ist – es deutet sich bereits in dieser Anfangspassage an – eine Aufstiegsgeschichte: Vom Walliser Geißhirten über eine Zeit im Dienst fahrender Scholaren, zum selbständigen Drucker und Verleger, Lehrer und schließlich Leiter einer Lateinschule in Basel. Diesen Aufstieg beschreibt Platter – so hat es Hans-Rudolf Velten formuliert – leitmotivisch als eine Geschichte des ‚trotzdem’34, eine Geschichte des Überstehens und Überwindens ständiger Anfechtungen des Körpers und des Geis32 So z.B. ZAHND, Ludwig von Diesbach (wie Anm. 5) S. 389. 33 „Weil Du, Felix, mein lieber Sohn, und auch andere berühmte und gelehrte Männer […] mich so oft gebeten hast, mein Leben von Jugend an zu beschreiben, da Du ebenso wie sie manchmal von mir gehört hast, in welch großer Armut ich von Geburt an aufgewachsen bin und danach vielen großen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt war (zuerst als ich in den grausamen Gebirgen arbeiten musste, danach als ich in meiner Jugend fahrender Schüler war), außerdem wie meine Ehe begann, wie ich mit meiner Frau mit großer Sorge, Mühe und Anstrengung die Meinen ernährt habe, was dann vor allem dir zugute gekommen mag und damit du siehst, wie Gott mich manches Mal so wunderbar erhalten hat […], kann ich dir das nicht verweigern, sondern will so weit es mir aus meiner Erinnerung möglich ist, alles anzeigen.“ Hier wie im Folgenden zitiert nach THOMAS PLATTER, Lebensbeschreibung. Hg. ALFRED HARTMANN. Basel 32006 S. 23. Angegeben werden weiterhin nur die Seitenzahlen. Übersetzung und Hervorhebungen von F. Z. 34 Vgl. HANS-RUDOLF VELTEN, Selbstbildung und soziale Mobilität in der Autobiographie Thomas Platters, in: Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quelle (1500-1850). Hg. KASPAR VON GREYERZ/HANS MEDICK/PATRICE VEIT. Köln usw. 2001 S. 135-153, hier 139.
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tes. Überleben ist eine zentrale Figur der autobiographischen Selbstdarstellung, die den Text nicht nur thematisch, sondern auch und in erster Linie narrativ strukturiert. In der folgenden Analyse wird es daher wie bereits in den Ausführungen zu Ludwig von Diesbach nicht darum gehen, das Verhältnis von erlebter und dargestellter Erfahrung zu bestimmen, insofern das bedeutet, nach dem ‚Authentizitätsgehalt’ des Erzählten zu suchen und daraus gar Rückschlusse auf ein Individualitätsbewusstsein zu ziehen. Vielmehr soll noch einmal aus einer anderen Perspektive auf die Frage nach der Konstruktion von Person als Erzählung abgehoben werden, indem insbesondere der Zusammenhang von Erzähl- und Personkonzeption berücksichtigt wird. Was in Ludwigs „Chronik“ eher implizit angelegt ist, erscheint bei Thomas Platter als explizites Erzählprogramm, das die Möglichkeiten der narrativen Gestaltung der Lebensgeschichte reflektiert. Dabei ist auch Platters „Lebensbeschreibung“ ein „Erzählen ohne Ende“. Dies bedeutet zum einen, dass das Leben als Erzählung ausgewiesen ist, was bereits im Anfangszitat deutlich wird. Das Erzählte muss erinnert werden, wobei auf die Lückenhaftigkeit des Gedächtnisses verwiesen wird: „als wyt mier miglich der gedächtnuß halb, alles anzeigen. […] Und erstlich kann ich kein ding minder wissen, dann z welcher zyt sich ein iegliches mit mir verloffen hab“ (23 f.).35 Wichtige Ereignisse müssen zum Teil aus den Erzählungen anderer oder aus einer sehr frühen Erinnerung rekonstruiert werden.36 Dennoch werden im weiteren Verlauf der Geschichte immer wieder wörtliche Reden angeführt oder Dialoge nahezu szenisch gestaltet, so dass die erzählten Ereignisse einen anekdotischen Charakter erhalten, der das Geschehen zugleich distanziert und präsent hält. Mit seiner Lebenserzählung verortet sich Platters Text in einer Erzählgemeinschaft. Der angeführte Wunsch von Sohn und Schülern, das Leben Thomas Platters schriftlich verzeichnet zu wissen, legitimiert nicht nur die eigene Schreibtätigkeit, sondern steht auch im Zusammenhang mit einer Tradition autobiographischen Erzählens, die sich in stadtbürgerlichen Kreisen seiner Zeit zunehmend etabliert.37 Und so begründet und manifestiert die „Lebensbeschreibung“ gleichermaßen eine soziale Zugehörigkeit, die – wie die erzählten Ereignisse deutlich machen – nicht gegeben, sondern erarbeitet worden ist.38 Auch insofern verweist die Lebensgeschichte auf einen Prozess der (narrativen) Gestaltung. Wie bei Ludwig von Diesbach verzeichnen auch Platters Aufzeichnungen einen didaktischen Anspruch, der allerdings das väterliche Leben nicht in erster Linie als Vorbild 35 Zum Anfang des Zitats vgl. Anm. 33, weiter heißt es: „Und erstens kann ich nichts weniger wissen, als zu welcher Zeit sich die Dinge zugetragen haben.“ 36 So das Datum und die Ereignisse der Geburt sowie die gesamte Kindheitsgeschichte, die Platter z.T. auch als selbst erinnert darstellt: „Do mag ich mich worlich bedenken“ (26) – „ Da kann ich mich wirklich erinnern“, heißt es über die Umstände der ersten Lebensgefahr, aus der der kleine Thomas gerettet wird. 37 Hans-Rudolf Velten verweist auf einen Zusammenhang u.a. zur humanistischen Schriftkultur, vgl. VELTEN, Selbstbildung (wie Anm. 34) S. 140 ff. Vgl. DERS., Das selbst geschriebene Leben (wie Anm. 2). 38 Grundsätzlich ließe sich hier jenes Modell des „Self-Fashioning“ abbilden, welches Stephen Greenblatt für die Kulturen der Renaissance entworfen hat. Ob dieses allerdings zwangsläufig auf die „Entdeckung des Individuums“ zielen muss, wäre kritisch zu diskutieren. Vgl. STEPHEN GREENBLATT, Renaissance self-fashioning: From More to Shakespeare. Chicago 2001 [1980].
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definiert, sondern vor allem die Mühen des Aufstiegs hervorhebt, von denen der Sohn nun profitieren soll („mit grosser sorg, m und arbeit mit den minen ernert hab, do dan sömlichs für nämlich dier z gttem erschiessen mag“).39 Der Text lässt sich jedoch trotz oder gerade wegen der dialogischen Passagen, in denen sich Thomas Platter direkt an seinen Sohn Felix richtet, nicht allein in einem familiären Kontext verorten. Dieser bildet lediglich den inszenierten Ausgangspunkt der autobiographischen Erzählung.40 Denn nicht zuletzt verweisen Erzählmuster und gestalterische Mittel des Textes auf eine Nähe zur Erzählliteratur des 16. Jahrhunderts, die (insbesondere dort wo sie didaktischen Charakter hat) mit ähnlichen Erzählverfahren operiert.41 Die „Lebensbeschreibung“ ist also mehr als rekonstruierbares Ergebnis eines gelebten Lebens. Sie ist vor allem Ergebnis einer gelungenen Narration: Ich habe, so heißt es am Ende des Textes „den anfang, fürgang byß uff diese zyt mins läbens, so vill ich han mögen in der lengen zyt ingedenk sin, beschriben, doch nit alles – dan wär wolt das mögen thn?“ (142). 42 Verwiesen ist hier auf die Strukturierungsleistung durch den Schreibprozess; auf ein „doing biography“, das sich im Erzählen vollzieht. Hierin wird, wie schon im Anfangszitat, auf eine Verlaufsstruktur abgehoben, die mit Kindheit und Jugend beginnt und zumindest auf einen retrospektiven Schreibzeitpunkt, der im Erwachsenenalter liegt, hin orientiert ist. Aufgerufen ist damit die narrative Struktur der Lebensgeschichte als Modell einer Personkonstruktion, der eine temporale lineare Struktur zugrunde liegt, die sich in einer Bewegung zwischen Anfang und Ende entfaltet – gemessen am Leben eines einzelnen Menschen also eine Bewegung zwischen Geburt und Tod. Das ist jene Struktur, die gemeinhin als narrative Gestalt der (autobiographischen) Identitätskonstruktion vorausgesetzt wird: die prozessuale Entfaltung der 39 Vgl. Anm. 33. In diesem Kontext ist auch die Schlusspassage des Textes zu lesen, die darüber hinaus auf die Modellierung eines bestimmten Personkonzepts verweist: „Dise Ding alle wellest, lieber sun Felix, erkennen und bekennen. Diers selbst nüt zschreiben, sunder gott alein lob und eer veriächen din läben lang, so wirst du erlangen das ewig leben. Amen“. „Diese Dinge, lieber Sohn Felix, sollst Du alle erkennen und bedenken. Nicht dir selber sollst du es zuschreiben, sondern allein Gott Lob und Ehre erweisen dein Leben lang, so wirst du das ewige Leben erlangen. Amen.“ (144). 40 Trotzdem wird damit eine familiäre Verbindung hergestellt, denn auch Felix Platter, der Sohn, verfasst autobiographische Texte. Dies verweist u.a. auf ein kontinuitätsstiftendes genealogisches Modell, das allerdings als Teil einer Erzählstrategie gelesen werden kann. Vgl. FELIX PLATTER, Tagebuch (Lebensbeschreibung) 1536-1576. Hg. VALENTIN LÖTSCHER. Basel usw. 1976. 41 Verwiesen sei an dieser Stelle u.a. auf das Erzählwerk GEORG WICKRAMs, hier vor allem: Der Knabenspiegel (1554), in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts (wie Anm. 17) S. 681-810. Wickram entfaltet in seinem Roman am Beispiel der Lebensgeschichten zweier junger Männer ein Erziehungs- und Karrieremodell. Die Möglichkeits- und Wirklichkeitsbedingungen des Erzählens reflektiert und kommentiert der „Dialog vom ungeratenen Sohn“ (1554), worin Wickram in einem fiktiven Dialog ein Konzept des frühneuzeitlichen Erzählens entwirft, das sich – ohne dass explizite Bezüge bestünden – auch mit autobiographischen Texten des 16. Jahrhunderts in Zusammenhang bringen lässt. Vgl. GEORG WICKRAM, Dialog von einem ungeratenen Sohn, in: ebd. S. 811-827. Diese Überlegungen sind Gegenstand meines Dissertationsprojekts zum „Lebensgeschichtlichen Erzählen in Texten des 16. Jahrhunderts“, welches 2012 abgeschlossen wird. 42 „Ich habe den Anfang, Fortgang bis auf die Zeit meines Lebens beschrieben, so viel ich mich angesichts der langen Zeit erinnern konnte, aber nicht alles – denn wer könnte das tun?“
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personalen Lebensgeschichte.43 Verbunden wird damit der Entwurf von Individualität, wofür Platters Text immer wieder als frühneuzeitlicher Prototyp zitiert wird, der im Gegensatz zu stärker chronikalen, d.h. am genealogischen Muster ausgerichteten, Konstruktionen wie jenen Ludwig von Diesbachs, auf moderne Identitätskonzepte weist.44 Hierfür steht u.a. eben jenes Aufstiegsmuster, welches das Leben Thomas Platters als fortschreitende Bewegung in einer kausalen Struktur darstellt, die auf ein modernes „Karrieremodell“ hindeutet, das u.a. mit Aspekten der Selbstbildung und Mobilität in Zusammenhang gebracht wird.45 Abgesehen davon, dass es sich in meinen Augen als wenig fruchtbar erweist, die Spezifik des Textes in eine solche Modernitätslogik zu versichern, geht Platters „Lebensbeschreibung“ – wie im Folgenden gezeigt werden soll – auch nur teilweise in dieser Erzählstruktur auf. Ungewöhnlich detailreich erzählt Platter von existentiellen Bedrohungssituationen. Insbesondere in der Darstellung der jungen Jahre als Geißhirt und Wanderschüler reiht sich Überlebensgeschichte an Überlebensgeschichte. Die Darstellung ist dabei zumeist fast szenisch arrangiert, arbeitet mit Spannungselementen, dialogischen Passagen und Perspektivierungen. Als Sechsjähriger wächst Thomas bei Verwandten auf und muss sich als Geißbub verdingen. Mit den anderen Hirten treibt er die Herde in die Berge, wo die Jungen nach der Mahlzeit mit Steinen schießen. Als Thomas vor einem Geschoss ausweichen will, stürzt er auf einen Felsvorsprung.
43 Vgl. u.a. JEROME S. BRUNER, Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktionen, in: Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Hg. JÜRGEN STRAUB. Frankfurt a. M. 1998 S. 46-80, besonders 52 ff. 44 So beobachtet auch Clemens Lugowski, dass bei Thomas Platter "eine moderner anmutende Selbstbezogenheit gewisse Ichzusammenhänge in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit" stellt. Vgl. CLEMENS LUGOWSKI, Die Form der Individualität im Roman. Frankfurt a. M. 1994 S. 175. Zur historisch-kritischen Einordnung der 1932 erstmals publizierten Studie Lugowskis und deren produktiven Ansätzen für die Interpretation der Prosaliteratur des 16. Jahrhunderts vgl. JAN-DIRK MÜLLER, Der Prosaroman – eine Verfallsgeschichte? Zu Clemens Lugowskis Analyse des „Formalen Mythos“ (mit einem Vorspruch), in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hg. WALTER HAUG. Tübingen 1999 S. 143-163; ULBRICHT, Ich-Erfahrung (wie Anm. 22) betont die „zwingende Notwendigkeit der eigenständigen Herausbildung eines Verhältnisses zur Welt“ (S. 140) vor dem Hintergrund des Orientierungsverlustes und das Hervortreten von Individualität in der Darstellung des Scheiterns an der Welt (S. 142). 45 Hans-Rudolf Velten argumentiert zwar vordergründig im historischen Kontext, unterstellt aber, indem er Platter als „Self-made-man“ kennzeichnet, dessen sozialen Aufstieg er als Autonomiebestreben liest, indirekt ein modernes Identitätskonzept. Vgl. VELTEN, Selbstbildung (wie Anm. 34) u.a. S. 135; einen ähnlichen Ansatz verfolgen BRITTA-JULIANE KRUSE, Vom Elend ins Glück. Die Überwindung von Armut durch Bildung in den Selbstzeugnissen Johannes Butzbachs (um 1505) und Thomas Platters (1572), in: Ökonomien der Armut. Soziale Verhältnisse der Literatur. Hg. ELKE BRÜNS. München 2008 und ULBRICHT, Ich-Erfahrung (wie Anm. 22) S. 142. Für Wickrams „Knabenspiegel“, dem eine ähnliche Erzählstruktur zugrunde liegt, wurde das biographische Modell des Aufstiegs als „spezifische Modernität“ behauptet von MANUEL BRAUN, Karriere statt Erbfolge. Zur Umbesetzung der Enfance in Georg Wickrams „Goldtfaden“ und „Knaben Spiegel“, in: Zeitschrift für Germanistik XVI/2. 2006 S. 296-313, hier 313.
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„Die hirten schruwen all: ‚Jesus! Jesus!’ byß sy mich nit mer sachen; dan ich was underhi under den felsen gfallen, das sy mich nit mochten sächen; vermeinten gentzlich, ich wer ztodt gefallen. Bald stnd ich wider uff, gieng näbend dem felsen wider uffhi z inen; da weinten sy, erstlich vor kummer, do aber von freiden. Demnach by 6 wuchen fiel eim ein geiß do über ab, do ich gefallen was; die zerfiell z todt. Do hatt mich gott woll behtet.“ (28 f.)46
Nur wenige Seiten später überrascht den jungen Hirten auf der Suche nach entlaufenen Ziegen die Dunkelheit, aber er traut sich nicht, ohne die Herde zu seinem Meister zurückzukehren: „Do es aber gar finster was und empfand ich, das [es] gar stotzend war, gedacht ich nit witter z schlichen, sunder hat mich mit der lincken hand an einer wurtzen, mit der andren kratzet ich den herd under dem boum und wurtzen dannen; do ghort ich, wie der nitzsich rißlet; stieß ich den ruggen und hindren under die wutzen, hat nütz an den das hembdlin, weder sch noch httlin […]. Wie ich nun also under dem boum lag, waren minen die rappen inne worden, schrüwen uff dem boum; do was mier gar angst, den ich forcht, der bär wäri vor handen, gsegnet mich und entschlieff.“ (32)47
Er wisse nicht, heißt es im Anschluss „ob ich min läbtag wurß erschroken bin“ (ob ich mich jemals so erschreckt habe, 32), denn am nächsten Morgen findet sich Thomas nur kurz vom Abhang entfernt. Noch einmal zieht er sich voller Angst mit Mühe und Not von einer Wurzel zur anderen, bis ihm endlich der Abstieg gelingt. Die Ziegen waren, heißt es danach, über Nacht von selbst ins Tal zurück gelaufen und weil man Thomas nicht bei Ihnen fand, informierte man die Verwandten, vermutend, er wäre zu Tode gestürzt. Diese beteten die ganze Nacht zu Gott, dass der Junge behütet würde, so er noch am Leben sei. In Platters Text wird eine Allgegenwärtigkeit von Lebensgefahren aufgerufen: Naturgewalten, Überfälle und andere unvorhergesehene Ereignisse bestimmen vor allem in der Schilderung der Kindheits- und Jugendjahre sein Leben und durch die geraffte Erzählzeit entsteht der Eindruck als wäre Thomas permanenten Anfechtungen seines Körpers ausgesetzt. Die Geschichten enthalten dabei verschiedene Möglichkeiten des Ausgangs, das zeigt z.B. in der ersten Textstelle die nachgetragene Ziegenepisode. Auch gehen die anderen Hirtenjungen davon aus, dass Thomas ums Leben gekommen sei und weil sie das tun, wird das Überleben zu einer zentralen Dimension. Dies wird umso deutlicher, wenn 46 „Die Hirten schrien alle: „Jesus, Jesus“ bis sie mich nicht mehr sahen, denn ich war hinunter unter den Felsen gefallen, so dass sie mich nicht sehen konnten. Sie dachten alle, dass ich mich zu Tode gestürzt hätte. Bald stand ich wieder auf, ging neben dem Felsen wieder herauf zu ihnen. Da weinten sie, zuerst vor Kummer, dann aber vor Freude. Sechs Wochen danach stürzte einem eine Ziege dort hinab, wo ich herunter gefallen war. Die stürzte zu Tode. Da hat mich Gott gut behütet.“ 47 „Da es aber sehr dunkel war und ich fand, dass es sehr steil war, wollte ich nicht weiter gehen, sondern hielt mich mit der linken Hand an einer Wurzel fest, mit der anderen kratzte ich die Erde unter Baum und Wurzel weg. Da hörte ich wie sie herunter rieselt; ich stieg mit Rücken und Gesäß unter die Wurzel, hatte nichts an als das Hemd, weder Schuh noch Hut […]. Als ich so unter dem Baum lag, wurden die Raben meiner gewahr, kreischten auf dem Baum; da hatte ich große Angst, denn ich fürchtete, dass der Bär käme, bekreuzigte mich und schlief ein.“
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sich an diese Szene die Schilderungen weiterer Gefahrensituationen anschließen, in denen Platter stets gerettet wird. In der Wiederholung wird immer wieder das Muster von besonderer Gefahrensituation und plötzlicher Rettung aktiviert, wobei die szenische Ausgestaltung der Geschichten darauf angelegt scheint, das Geschehen nicht nur anschaulich (und nachvollziehbar) zu erzählen, sondern auch immer jene Stelle besonders zu markieren, an der sich das Wunder des Überlebens ereignet. „Jesus, Jesus“ schreien in der ersten Textstelle48 die anderen Hirtenjungen im Glauben, dass Thomas den Felsen hinab gestürzt sei. Noch deutlicher wird es in der zweiten Episode49: Im Moment der größten Angst (Dunkelheit, Raben und der Befürchtung, der Bär triebe sein Unwesen) schläft Platter ein.50 Wie groß die Gefahr allerdings wirklich war, weiß der dargestellte Thomas erst bei Anbruch des Tageslichts, als er wieder Kraft hat, der Gefahr zu begegnen – die Differenz von Erzählzeit und erzählter Zeit verweist ebenso wie die Anachronie des Erzählten darauf, dass hier der Wirkmacht Gottes Raum gegeben werden soll. In der Zeit, in der Thomas schläft, so wird nachgetragen, beten die Cousine und die Frau des Meisters auf den Knien um Gottes Hilfe. Hierin tritt der Konstruktionscharakter des Erzählten deutlich hervor. Nicht nur, dass die erzählte Episode sich auf die Überlieferung anderer Personen beruft und außerdem Ähnlichkeiten zu einem fiktionalen Text aufweist, gleichzeitig wird eine Erklärung für das Überleben angeboten, die auch nachträglich die Deutung des Geschehens bestimmt: Hier war göttliche Kraft im Spiel. Die Ausgestaltung der lebensbedrohlichen Gefahr verleiht dem Erzählten präsentischen Charakter – das Wirken Gottes wird als Überleben des jungen Geißhirten für die Rezipienten „erfahrbar“ gemacht. Dabei ist Authentizität jedoch vor allem ein Effekt der narrativen Inszenierung. Denn der Text markiert eine Distanz zu seinem Gegenstand, indem er das Erzählte als Konstruktion kennzeichnet. Als der junge Platter erneut in Lebensgefahr ist, kommt ihm ein älterer Hirtenjunge zur Hilfe und führt ihn vom Abgrund weg. Viele Jahre später, so heißt es daraufhin, „ward der min gsell minen inen, kam z mier und manet mich, wie er mich do vom todt erlößt hette (wie den war was; doch gib ich gott die err)“ (30).51 Das Erzähler-Ich erhebt in dieser eingeschobenen Passage Anspruch auf eine Wahrheit, die dann an Gott zurückgebunden wird, womit auf ein zentrales Moment der Sinnkonstitution verwiesen ist: Erzählen wird, im Sinne einer Konstruktionsleistung, als ordnungsstiftender Prozess und mit ihr der Erzähler als Garant dieser Ordnung markiert. Gott ist nicht Letztbe48 Vgl. Anm. 45. 49 Vgl. Anm. 46. 50 Eine ähnliche Szene findet sich im ‚Fortunatusroman’: Als Fortunatus sich am Tiefpunkt seines Lebens einsam und allein in einem Wald findet, wird er von einem jungen Bären angegriffen, den er mit Mühe erlegt, woraufhin er einschläft. Am nächsten Morgen steht die Jungfrau des Glücks vor ihm und begabt ihn mit dem magischen Geldsäckel, der fortan sein Leben bestimmt und seinen sozialen Aufstieg gewährleistet. Vgl. Fortunatus, in: Die Romane des 15. und 16. Jahrhunderts (wie Anm. 17) S. 383-585. 51 „Da erblickte mich der Kamerad, kam zu mir und mahnte mich daran, dass er mich vom Tod erlöst hatte (was auch stimmt, doch gebe ich Gott die Ehre).“
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gründung allen Erzählens, sondern wird dazu gemacht.52 Damit verweist der Text einmal mehr auf seinen Charakter als Erzählung und damit auf die Anforderungen an und die Möglichkeiten der autobiographischen Konstruktion. ‚Überleben’ lässt sich in diesem Sinne als ein narratives Muster herausarbeiten, das nicht in der Funktion aufgeht, erlebte Todesängste abzubilden. Vielmehr wird göttliche Providenz als Ordnungsmuster aufgerufen, welches ein bestimmtes Konzept von Person transportiert.53 Überleben ist nicht nur Hauptthema der Erzählung einer entbehrungsreichen Kindheit und Jugend, welches die „wenig konstruierte Wiedergabe persönlicher, auch körperlicher Erfahrungen“54 manifestiert, sondern ein Strukturelement der Lebensgeschichte über welches das Aufgehobensein des Ich in einer providentiellen Ordnung dargestellt wird55, was gleichzeitig die Anfechtungen einer kontingenten Wirklichkeit hervorhebt. Gewicht gewinnt die ‚Überlebensformel’ dabei vor allem in der Wiederholungsstruktur. Die Überlebensgeschichten bilden ein nahezu paradigmatisches Muster, welches zu der syntagmatischen Organisation der Aufstiegsgeschichte in Spannung tritt.56 Dies bedeutet, dass Erzählstrukturen profiliert werden, die sich einer kohärenten, fortschreitenden und zielorientierten Entwicklungsgeschichte sperren.57 Auch 52 Vgl. Anm. 39. 53 Zum Zusammenhang von autobiographischem Schreiben und Providenz vgl. ANDREAS BÄHR, Furcht, divinatorischer Traum und autobiographisches Schreiben in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 34/1. 2007 S. 1-32. 54 Vgl. VON GREYERZ, Erfahrung (wie Anm. 22) S. 231. Zudem lässt sich das Überlebensmuster auch in späteren Episoden nachweisen; vgl. u.a. PLATTER, Lebensbeschreibung (wie Anm. 33) S. 92. 55 So kann u.a. die besondere Prädestination Platters herausgestellt werden, die sich auch im Kontext einer Prädestinationslehre lesen lässt, nach der Seelenheil und Verdammnis eines Menschen grundsätzlich vorherbestimmt sind, wobei Zeichen der Erwähltheit bereits im Diesseits, am irdischen Lebenslauf ablesbar sein können oder müssen. Stephan Pastenaci hat in diesem Zusammenhang eine bipolare Struktur des Textes herausgearbeitet, die am Konversionsschema der Heiligenvita orientiert ist. Vgl. STEPHAN PASTENACI, Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung in deutschsprachigen Autobiographien des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur historischen Psychologie. Trier 1993 S. 186-224; dazu DERS., Die Autobiographie des Basler Schulrektors Thomas Platter im Blickfeld der neuesten Forschungsansätze, in: Wolfenbüttler Renaissance-Mitteilungen 30/2. 2006 S. 102-119, hier 105. Zum komplexen Feld von Prädestination und Providenz vgl. aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive allgemein u.a. ALEXANDRA WALSHAM, Providence in Early Modern England. Oxford, N. Y. 2001. 56 Zum Begriff des „Paradigmatischen Erzählens“ vgl. RAINER WARNING, Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition, in: Romanistisches Jahrbuch 52. 2001 S. 176209. Warning wendet sich ausgehend von den erzähltheoretischen Konzepten Lotmans und Jakobsons gegen das traditionelle und dominante Modell syntagmatischer Organisation, nach dem Erzählungen einen kausalen und/oder temporalen Zusammenhang abbilden. Dagegen betont ein „Erzählen im Paradigma“ eine narrative Organisationsform der Wiederholung, Reihung und Sequenzierung, die darauf angelegt ist, Kontingenz zu exponieren. 57 Die Ansätze von Velten (Aufstiegsgeschichte – Entwicklungsprozess – Individualität) und Pastenaci (Konversionsschema – Plötzlichkeit – providentielles Aufgehobensein) entwerfen konträre Modelle. Mir scheinen jedoch beide Erzählstrukturen als gegenläufige Bewegungen präsent. Insofern bestünde der spezifische Charakter dieses Textes gerade im Nebeneinander oder gar in der Synthe-
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insofern hat das Erzählen kein Ende. Dies sollte keineswegs als Ausweis mangelnden Formbewusstseins betrachtet werden58, sondern gerade als besonderes Kennzeichen autobiographischen Erzählens im 16. Jahrhundert. Und so wird man der historischen Spezifik der autobiographischen Konstruktion eher gerecht, wenn man deren Konzeptionen und Formen für sich sprechen lässt und sich auf die Suche nach Strukturen macht, die sich mit neuzeitlicher Logik nur begrenzt fassen lassen.
Über Lebensgeschichten Die Forderung also, historische Texte zu allererst aus sich selbst heraus und innerhalb der eigenen Kontexte und Kategorien zu erschließen59, lässt sich – das sollten diese Ausführungen zeigen – nur fruchtbar machen, wenn auch die narrativen Strukturen des Erzählten in den Blick genommen werden. Der Umstand, dass Lebensgeschichten nur in Form von Texten zugänglich sind, ist mittlerweile Konsens. Das bedeutet aber auch, sie als narrative Entwürfe ernst zu nehmen60 – was weder gleichzeitig heißen muss, von vornherein Fiktionalität oder einen literarischen Charakter zu unterstellen61, noch per se auszuschließen. Denn autobiographische Darstellungen operieren in einem normativen Rahmen, zu dem immer auch Erzählkonventionen gehören und der sich generell nur in narrativen Strukturen fassen lässt. Diese werden – wie die Analyse der beiden Texte des 16. Jahrhunderts gezeigt hat – mal mehr oder weniger explizit reflektiert. Auf eines ist damit aber sicher verwiesen: Dass nämlich die Konzeption von Person im Zusammenhang mit einem distinkten Konzept von Narrativität (oder um es noch enger zu fassen: von Narration) steht, welches allerdings keine universelle Gültigkeit beanspruchen kann,
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tisierung beider Modi – eine Beobachtung, die sich auch an Diesbachs „Chronik“ gezeigt hat und an anderen Lebensgeschichten des 16. Jahrhunderts präzisieren ließe. Vgl. Anm. 41. Insbesondere die ältere Forschung hat Platters „Lebensbeschreibung“, wie vielen anderen – nicht nur autobiographischen – Texten des 16. Jahrhunderts oft vorgeworfen, dass sie über ein mangelndes Formbewusstsein verfüge. Vgl. den Forschungsüberblick von PASTENACI, Erzählform (wie Anm. 55). Jüngere Arbeiten hingegen (VELTEN, Das selbst geschriebene Leben [wie Anm. 2]; PASTENACI, Erzählform [wie Anm. 55]; VON GREYERZ, Erfahrung [wie Anm. 22]) betonen den Konstruktionscharakter der „Lebensbeschreibung“. Konkrete Analysen auf der Basis erzähltheoretischer Ansätze stehen allerdings noch aus. JANCKE/ULBRICH, Individuum und Person (wie Anm. 4). Was leider gerade in der geschichtswissenschaftlichen Forschung eher ein Lippenbekenntnis ist, das ohne Konsequenz für die Analyse des Gegenstandes bleibt. Vgl. zuletzt die Studie von KASPAR VON GREYERZ, Passagen und Stationen. Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne. Göttingen 2010. Darin betont von Greyerz zwar die Textualität der Quellengruppe der Selbstzeugnisse (S. 44), nimmt aber die Erzählstrukturen der Texte nicht in den Blick. Vgl. dazu die Rezension von ROBERT SEIDEL, Dem eigenen Leben eine Struktur geben. Lebensphasen der Frühen Neuzeit im Spiegel autobiographischer Dokumente, in: IASLonline [05.10.2010]. Online unter: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3294 [Stand 12.10.2010]. Vgl. TIM HENNINGS, Person sein und Geschichten erzählen. Eine Studie über personale Autonomie und narrative Gründe. Berlin 2009 S. 8 ff.
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sondern historisch variabel erscheint. Untersucht man in diesem Sinne autobiographische Texte als Erzählungen, kann Aufschluss gewonnen werden über jene Art und Weise, in der Person und Erzählung sich gegenseitig bedingen.
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Muster der Selbstbeschreibung Japanische Autobiographien zwischen Tradition und Moderne
Der japanische Begriff für Autobiographie (jiden oder jijoden) ist ein moderner Terminus, ein Übersetzungswort für das englische autobiography und wird für Werke verwendet, die ab Ende des 19. Jahrhunderts entstanden sind und sich inhaltlich und formal an der westlichen Autobiographie orientieren, so die Definition im Lexikon der modernen japanischen Literatur.1 Der Amerikanist, Literaturwissenschaftler und -kritiker Saeki Shōichi (geb. 1922), der die Autobiographieforschung in Japan bis heute dominiert und von dem auch die obige Beschreibung stammt, stellt die Entstehung der Autobiographie als Textsorte in den Kontext der Modernisierung und Verwestlichung (westernization) Japans ab Ende des 19. Jahrhunderts und beruft sich dabei u.a. auf eine Bemerkung in der Autobiographie von Mahatma Gandhi, wonach ein gottesfürchtiger Freund ihm einen Vorwurf machte, sich einer so eindeutig westlichen Beschäftigung wie dem Verfassen einer Autobiographie hinzugeben. Auf eine solche Idee würden im Osten nur Leute verfallen, die unter dem Einfluss westlicher Lebens- und Denkformen stehen.2 Jiden als terminus technicus, als Titel(bestandteil) und als Genre festigt sich in Japan tatsächlich erst mit dem Erscheinen von Fukuzawa Yukichis (1834-1901) Fukuō jiden im Jahre 1898-99, der Autobiographie eines wichtiges Politikers und Denkers, die, für ein solches Unternehmen musterhaft, am Ende einer glänzenden Karriere drei Jahre vor dem Ableben seines Verfassers fertiggestellt wurde. Etwa gleichzeitig erschien die in der Tradition von Augustinus oder John Bunyan stehende Bekenntnisschrift von Uchimura Kanzō (18611930), die seinen Weg zum Christentum aufzeigte. Diese beiden Werke haben eine Welle autobiographischer Literatur in Japan ausgelöst, und Saeki deutet an, dass die moderne japanische Erzähl- bzw. Romanliteratur an sich eine Zeit lang einen starken Hang zum Autobiographischen, Bekenntnishaften bis hin zur Selbstentblößung entwickelte, die sich insbesondere im japanischen Ich-Roman, dem shishōsetsu, äußerte.3 Autobiographische Reflexionen haben aber eine lange Tradition in Japan, auch wenn sie sich genauso wenig wie ihre mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Entsprechungen im Westen in die Kategorie der Autobiographie zwängen lassen. Sie sind eingebunden in die spezifische Gattungslandschaft der japanischen Literatur und Geschichtsschreibung, so dass die Frage der Interdependenz von Form (Textsorte) und Inhalt (der Zeitraum, 1 2 3
SAEKI SHŌICHI, Jiden, in: Nihon kindai bungaku daijiten Bd. 4. Hg. NIHON KINDAI BUNGAKUKAN. Tōkyō: Kōdansha 1977 S. 174-176. SAEKI SHŌICHI, Jiden janru: higashi to nishi, in: Jiden bungaku no sekai. Hg. DERS. . Tōkyō: Asahi shuppansha 1983 S. 3-24, hier 3 ff.; DERS. , Kaisetsu, in: Nihonjin no jiden Sonderband 1. Hg. DERS. Tōkyō: Heibonsha 1982 S. 475-488, zit. 475 ff. SAEKI, Jiden (wie Anm. 1) S. 175; zum japanischen Ich-Roman siehe IRMELA HIJIYAKIRSCHNEREIT, Selbstentblößungsrituale. Zur Theorie und Geschichte der autobiographischen Gattung „Shishōsetsu“ in der modernen japanischen Literatur. Wiesbaden 1981.
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die Perspektive über den bzw. aus der berichtet wird, Ich-Konzepte, Schreibanlässe) besonders wichtig erscheint. Einige Werke der Klassik und des Mittelalters, die im Titel das Wort „Tagebuch“ (nikki) tragen, stehen der Autobiographie sehr nahe, denn sie sind weder formal noch inhaltlich Tagesaufzeichnungen, sondern berichten über größere Lebensabschnitte, teils über mehrere Jahrzehnte, aus einer beträchtlichen zeitlichen Entfernung. Sie werden aber aufgrund ihres Titels der Tagebuchliteratur zugerechnet, und tatsächlich sind die wenigsten von ihnen mit dem Anspruch entstanden, ein Leben in seiner „Geschlossenheit“ darzustellen.4 Im frühneuzeitlichen Japan aber, das heißt in der EdoZeit, die von 1603 bis 1867 angesetzt wird und mit der Meiji-Restauration und der Öffnung des Landes zum Westen endet, gibt es eine Reihe von geschlossenen Autobiographien, auch wenn sie nicht mit dem Wort jiden bezeichnet werden. Das Wort jijoden 自叙伝 (Selbstbericht, Erzählen über das Selbst) ist im Japanischen zwar schon im 15. Jahrhundert, jiden 自伝 (Selbst-Überlieferung/Biographie) im 16. Jahrhundert belegt, die Verwendung ist aber völlig eingeschränkt, der Terminus nicht allgemein verbreitet, im Titel von Werken taucht er gar nicht auf.5 Für jijoden als Titel sieht Wolfgang Schamoni einen ersten Beleg im 18. Jahrhundert im Werk eines Mönches der Jōdo-Schule, Eton, im Senkoku garekishū 1783.6 Es ist aber tatsächlich erst 1898, dass jiden im Titel Fukuō jiden (Autobiographie des alten Fuku[zawa]) von Fukuzawa Yukichi verwendet wird. Europäische Autobiographien wie die von Jean-Jacques Rousseau, John Stuart Mill, Thomas De Quincey dienen in Japan als Vorbild der Gattung und daher werden von den autobiographischen Texten der japanischen Vormoderne nur ganz we4
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Petra Buchholz hat in einem Aufsatz die wichtigsten dieser Texte vorgestellt: PETRA BUCHHOLZ, Das Tagebuch in der japanischen Schreibkultur, in: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. Hg. GABRIELE JANCKE/ CLAUDIA ULBRICH. Göttingen 2005 S. 241-246. Wolfgang Schamoni hat die in der Literaturgeschichte vielzitierten Frauentagebücher den weniger bekannten, weil in chinesischer Sprache verfassten Männer-Biographien gegenübergestellt: WOLFGANG SCHAMONI, Weibliche Autobiographie vs. Männliche Biographie? Die japanischen „Hofdamentagebücher“ des X./XI. Jahrhunderts, in: Biographie – „So der Westen wie der Osten“? Zwölf Studien. Hg. WALTER BERSCHIN/WOLFGANG SCHAMONI. Heidelberg 2003 S. 59-80. Im Zusammenhang der Gattungszuordnung ist zu beachten, dass sich die heute gängigen Werktitel in der Klassik und im Mittelalter teilweise noch nicht gefestigt hatten, so dass zum Beispiel das Izumi Shikibu nikki (Das Tagebuch von Izumi Shikibu) auch unter dem Titel Izumi Shikibu monogatari (Erzählung von Izumi Shikibu) und Izumi Shikibu shū (Gedichtsammlung von Izumi Shikibu) im Umlauf war, während für Sei Shōnagons Makura no sōshi (Das Kopfkissenbuch der Dame Sei Shōnagon), das als Vertreter der Miszellenliteratur behandelt wird, als Alternativtitel Sei Shōnagon no ki (Aufzeichnungen von Sei Shōnagon) oder Sei Shōnagon shō ([Poetische] Kommentare von Sei Shōnagon) existieren. (Vgl. das Lexikon der japanischen vormodernen Literatur, Nihon koten bungaku daijiten. Tōkyō: Iwanami shoten 1986.) Diese Werke werden heute aufgrund des Titels, der sich in der Moderne durchgesetzt hat, dem Genre des Tagebuchs oder der Miszellen zugeordnet, ihre Besonderheiten werden daher heute vor dem Hintergrund einer in der Vormoderne nicht gegebenen oder anders gearteten Gattungszugehörigkeit diskutiert. Das Große Wörterbuch der japanischen Sprache (Nihon kokugo daijiten) führt als Beleg für das Wort jiden das Gyokujinshō玉塵抄 an, ein umfangreiches Kommentarwerk, zusammengestellt vom Mönch Myōan 1563, in dem es heißt: „Von Sima Qian gibt es am Ende seiner ‚Aufzeichnungen des Historikers‘ eine Autobiographie (jiden).“ WOLFGANG SCHAMONI, Die zwei Leben des Uejima Onitsura, in: Wasser-Spuren. Festschrift für Wolfram Naumann zum 65. Geburtstag. Hg. STANCA SCHOLZ-CIONCA. Wiesbaden 1997 S. 228253, hier 229.
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nige wahrgenommen, und es sind immer wieder die gleichen fünf Werke: drei Autobiographien von Konfuzianern und Beratern des Shōgun, eine von einem verarmten Samurai und eine von einem kabuki-Schauspieler.7 Dass die Zahl der Selbstzeugnisse, wenn man die Textgruppe weiter fasst, sehr groß sein muss, ist eine Vermutung, die sich nicht allein aufgrund der immensen Schreib- und Publikationsaktivitäten der Edo-Zeit aufdrängt. Denn einige Textsorten, die man als Selbstzeugnisse lesen kann, sind recht gut erforscht, wie z.B. die Reiseliteratur, Reisetagebücher und Reiseberichte, und von daher weiß man, wie groß das Bedürfnis in allen Schichten der Bevölkerung war, über Persönliches zu berichten. Das Problem ist, dass der Begriff jiden/jijoden weder in der Literaturgeschichte noch in der Geschichtswissenschaft etabliert ist und der Versuch, die Texte unter diesem Aspekt zu ordnen, bislang nicht unternommen wurde. Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht eine kurze autobiographische Schrift des berühmten Schriftstellers, Dichters und Gelehrten Ueda Akinari (1734–1809), die im Kontext japanischer Selbstzeugnisse des 18. Jahrhunderts vorgestellt wird. Dieser Text ging aus Miszellen des Autors hervor, hatte eine interessante Rezeptions- und Editionsgeschichte und eignet sich besonders, um die Veränderung der Erwartungen gegenüber dem autobiographischen Schreiben im Übergang von der Vormoderne zur Moderne zu demonstrieren.8 Zunächst sollen aber die gängigsten Textsorten von Selbstzeugnissen in der Vormoderne vorgestellt werden: Wolfgang Schamoni widmet sich, ausgehend von seiner Lektüre von Georg Misch, seit dreißig Jahren dem Projekt der vormodernen japanischen Autobiographie. Er hat gezeigt, dass sie sich verschiedene Formen oder Textsorten gewissermaßen leiht und hat dabei für die Frühe Neuzeit sechs Typen von „Behältnissen“ unterschieden9: 1. Oboegaki 覚書 (aufgezeichnet zur Erinnerung): diese Texte sind formal und inhaltlich sehr frei, üblicherweise in japanischer Sprache verfasst und nicht in chinesischer. Sprachlich sind sie in einem etwas formellen Stil gehalten, häufig im sog. Korrespondenzstil, sōrōbun. Der Aufbau folgt der Chronologie des Lebens, und falls die Aufzeichnungen explizit an die Kinder oder Erben gerichtet sind, sind sie mit einer ausführlicheren Genealogie ausgestattet und können in die Gruppe der kakun (Familienbücher) übergehen. An den Lehensfürsten usw. adressiert können sie auch die Form einer Bittschrift, eines Gesuches (gansho) annehmen. Diese Textgruppe ist sehr vielfältig, der Begriff oboegaki taucht häufiger im Titel auf, die eindeutige Zuordnung von Texten ist oft recht schwierig. Die 7
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Es handelt sich dabei um die Schriften von Yamaga Sokō (Haisho zanpitsu), Arai Hakuseki (Oritaku shiba no ki), Matsudaira Sadanobu (Uge no hitogoto), Katsu Kokichi (Musui dokugen) und Nakamura Nakazō I (Tsukiyuki hanane monogatari), die in Sonderband 1 der von Saeki Shōichi herausgegebenen 25bändigen Reihe Nihonjin no jiden enthalten sind. SAEKI SHŌICHI (Hg.), Nihonjin no jiden. Tōkyō, Heibonsha 1980-83. In der japanischen Geschichte wird die Edo-Zeit (1603-1867) als Frühe Neuzeit (kinsei) bezeichnet, die darauf folgende Meiji-Restauration markiert den Übergang von der Vormoderne zur Moderne. WOLFGANG SCHAMONI, Kaisō kara jiden e: Nihon jūnana seiki no baai [Von den Erinnerungen zur Autobiographie: Der Fall Japan im 17. Jahrhundert], in: Ochanomizu joshidaigaku daigakuin ningenbunka kenkyūka kokusai nihongakka shinpojiumu hōkokusho. Tōkyō: Ochanomizu joshidaigaku 2001 S. 114-124.
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inhaltlichen Zwänge, die diese Textsorte dem Verfasser auferlegt, sind gering. Berühmte Beispiele sind: Yamaga Sokō (1622–1685) Haisho zanpitsu (Vermächtnis aus der Verbannung, 1675), in dem der Autor, der sich zu einem frühen Zeitpunkt vom Neo-Konfuzianismus abwandte und mit Rückgriff auf Schriften von Konfuzius selbst eine Ethik des Kriegers entwickelte, neben seinem ideologischen Vermächtnis über seine Kindheit, seine geistige Entwicklung und Einzelheiten aus seinem Leben berichtete. Der Anlass seines Schreibens war die Befürchtung, im Exil, in das er neun Jahre zuvor verbannt worden war, zu sterben. Er appellierte an seine Nachfahren, die Erinnerung an vorbildliche Krieger zu bewahren, heischte Anerkennung für seine eigenen Taten und seinen Lebensweg, der politisch wenig erfolgreich war, rief Fürsten und hohe Amtsinhaber, mit denen er in Kontakt stand und die ihn verehrten, rhetorisch als Zeugen auf, und nutzte dabei die Gelegenheit, über seine eigene Lehre zu berichten. Er bezeichnete seine Aufzeichnungen als Handlungsanleitung für seinen Nachfolger und hob insbesondere hervor, dass sich dieser nie für Geld oder sonstige Zuwendungen vom rechten Weg abwenden dürfe. Da der Text nicht zur Publikation bestimmt sein sollte, sei er auch nicht systematisch, so schrieb Yamaga Sokō, und vertraute diesen Schriftsatz, dem sein Testament hinzugefügt wurde, einem Untergebenen an. Arai Hakusekis (1657–1725) politisches Vermächtnis, das Oritaku shiba no ki (Am Reisigfeuer aufgezeichnet, 1716), ist weniger persönlich gehalten und dennoch ähnlich: Auch er versucht in einer politisch prekären Situation, nach seiner Entlassung als Berater des Shōgun, seine politischen Entscheidungen zu verteidigen und den jungen Shōgun vor unlauteren Freunden zu warnen. Auch bei ihm bildet nicht der eigene Werdegang das Gerüst des Textes, sondern er wird in die Erzählung eingeflochten, wobei von den drei Kapiteln das erste persönlich gehalten, die beiden anderen stark auf die Erklärung bestimmter politischer Entscheidungsprozesse ausgerichtet sind. Hakuseki nennt als Grund für die Abfassung die Schweigsamkeit seines Vaters: Dieser habe versäumt, ihm die Geschichte der Familie in Einzelheiten zu vermitteln und das sei ein Verlust für die Nachfahren. Trotzdem ist es das Vorbild der Eltern, insbesondere des Vaters, das im ersten Teil rhetorisch in den Mittelpunkt gerückt wird. Auch dieser Text entschuldigt sich für die fehlende formale Stringenz: Nun, da der Verfasser nach seiner Entlassung Zeit zur Verfügung habe, habe er alles, was ihm in den Sinn kam, aufgeschrieben ohne einen festen Plan. Da er sich nicht an die Außenwelt wende, hätte er auch vertrauliche Informationen aufgenommen, denn als Vertrauter des ehemaligen Shōgun Ienobu sei es seine Pflicht gewesen, alle Informationen, die nur ihm selbst zugänglich seien, für die Nachwelt aufzuzeichnen. 2. Kakun 家訓 (Familienbücher/Geschlechterbücher) sind als Anweisungen an die Erben, an die Nachkommen gedacht und enthalten häufig gar keine autobiographische Ausführungen, manchmal aber doch: Dann liegt großes Gewicht auf der Ahnenlinie, es wird betont, wie wichtig die Ahnenverehrung ist, und dass sie das Gerüst der Familie bildet. Die Zielgruppe ist bei solchen Texten klar auf die Familie eingegrenzt, so dass solche Schriften zumeist in Handschriften kursierten.
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Matsudaira Sadanobus (1758–1829) Uge no hitogoto (Memoiren des Sadanobu)10 entstand 1793 in einer persönlichen Krise, als er als das wichtigste Mitglied im Ältestenrat zurückgetreten war: Er berichtete über seine Abstammung, seine Jugendzeit und seine Freunde, sein Hauptmotiv war aber, die Kansei-Reformen zu kommentieren: Sadanobu hatte als Lehensfürst des Fürstentums Shirakawa, dessen Leitung er in einer Zeit massiver wirtschaftlicher Krisen übernommen hatte, sein Lehen mit erfolgreichen bürokratischen und finanzpolitischen Reformen saniert. Als hoher Beamter, als Vorsitzender im Rat der Ältesten (gorōjū) und als Berater des Shōgun gelang ihm später eine radikale wirtschaftliche und politische Reform des ganzen Landes, die dem Shogunat zumindest für eine Zeit zu einer stabileren Machtbasis verhalf. Diese Schrift könnte zwar auch den oboegaki zugeordnet werden, der Verfasser versteht sie aber eindeutig als eine Art Anweisung für seine eigenen Nachfahren und grenzt ihre Benutzung explizit auf deren Kreis ein: Den versiegelten Holzkästchen, in denen er die drei Faszikel der Schrift verwahrte, legte er einen ebenfalls versiegelten Brief bei, in dem es hieß: „Diese Schrift sollen jene lesen, die von meinen Nachfahren in Zukunft einen Posten im Rat der Ältesten einnehmen werden. Auf keinen Fall soll sie von anderen eingesehen werden….“11 Noch eindeutigere Beispiele für Familienbücher sind Selbstzeugnisse von Kaufleuten: Auch bei diesen Texten handelt es sich nicht um reine Autobiographien, sondern um Familienchroniken, Hausschriften mit Anweisungen für die Nachfahren, und sie häufen sich gegen Ende der Edo-Zeit. Suzuki Bokushi (1770-1842) und Kawato Jindai (18071872) haben bekannte Beispiele verfasst: Beide vertraten die Gruppe der reichen Bauern mit Landbesitz, die sich allmählich von der rein landwirtschaftlichen Betätigung entfernten und ihren Schwerpunkt auf den Handel verlegten. Sie eroberten sich in dieser Zeit neue wirtschaftliche und gesellschaftliche Bereiche, bauten neue Netzwerke aus und entwickelten parallel dazu eine neue Sicht auf ihre subjektiven Möglichkeiten.12 Suzuki Bokushi hat ein vielfältiges Oeuvre hinterlassen: Am bekanntesten wurde die Beschreibung seiner Heimat, des Schneelandes im Nordwesten Japans (Hokuetsu seppu, Berichte aus dem Schnee(land) im Norden der Provinz Etsu). In seiner Familienchronik Eisei kirokushū (Gesamtchronik für die Ewigkeit/nachfolgende Generationen) hob er die Wichtigkeit der Ahnenverehrung hervor, und deshalb auch, wie wichtig es sei, die eigenen Vorfahren, die eigene Genealogie zu kennen. Seinen Erben wollte er dabei auch Lebenshilfen geben, ihnen vermitteln, welche Einstellung nötig ist, um im Geschäft zu reüssieren: Er betonte Eigenverantwortung, Eigeninitiative, Disziplin und Unterordnung, aber nicht im politischen Sinne, sondern bezogen auf die geschäftlichen Prinzipien. Anstatt billige Romane zu lesen, empfahl er seinen Nachkommen deshalb, einmal im Jahr seine Aufzeichnungen zu studieren. Seine eigentliche Autobiographie, Yonabegusa (Aufzeichnungen in nächtlichen Arbeitsstunden), erheblich geringer im Umfang, unterschei10 Der Titel dieser autobiographischen Schrift wird auch Uge no hitokoto gelesen und seine Besonderheit ist, dass er die Zeichen von Sadanobus Namen 定信 in ihre Einzelbestandteile auflöst: 宇下人言. Die Lesung hitogoto folgt dem Großen Lexikon der japanischen Geschichte (Kokushi daijiten, Tōkyō: Yoshikawa kōbunkan 1979-1996). 11 Zitiert in WOLFGANG SCHAMONI, Kōkai to hikōkai no aida: Edo jidai no „jiden“ ni tsuite no ikkōsatsu [Zwischen öffentlich und privat: Überlegungen zur Autobiographie in der Edo-Zeit], in: Misuzu, März 2003 S. 36-53, zit. 43. 12 NOBORU TOMONARI, Constructing Subjectivities: Autobiographies in Modern Japan. Lanham 2008.
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det sich von der Familienchronik Eisei kirokushū insbesondere durch den engeren zeitlichen Ausschnitt und den Fokus auf das Leben des Verfassers. 3. Geidan 芸談 sind Aufzeichnungen von – mit einem modernen Ausdruck – Künstlern, von Dramaturgen, Schauspielern, Rezitatoren, Dichtern, die in die Geheimnisse ihrer Kunst einweihen wollen und in diesem Zusammenhang die Ahnen und Vorläufer erwähnen und den eigenen Werdegang schildern. Formal sind diese Werke sehr unterschiedlich, und auch die Angaben zum Verfasser sind einmal mehr und einmal weniger ausführlich. Manche der Texte, die als Poetiken (kagaku, karon) bezeichnet werden, können auch dieser Kategorie zugerechnet werden, denn auch Dichtung wird als Kunstfertigkeit an die Nachfahren und Schüler weitergegeben. Aus dem 17. Jahrhundert wäre die „Unterweisung für Schüler“ (Montei kyōkun, 1697) von Uji Kaganojō (1635-1711), einem der frühen Rezitatoren des damals jungen jōruriPuppentheaters, zu nennen. Zu den bereits erwähnten fünf bekannten Autobiographien gehört das mit etwa 80 modernen Druckseiten recht umfangreiche Tsuki yuki hana nemonogatari (Wie im Schlaf erzählt: Von Mond, Schnee und Blüten) von Nakamura Nakazō I (17361790), einem Kabuki-Schauspieler, der insbesondere seine Kindheit und frühe Ausbildung in lebendigen Farben schildert. Matsunaga Teitokus (1571-1653) Taionki (Aufzeichnungen empfangener Gunst) ist ein Beispiel für eine poetische Überlieferung, in dem die den Vorfahren gebührende Achtung betont, der eigene Werdegang referiert und die Essenz der Poetik an die Schüler übermittelt wird. 4. Nenpu 年譜 (Chronologien) sind eine formal stringentere Gruppe, sie sind meistens in kanbun, d.h. in chinesischer Schriftsprache geschrieben, halten sich an den chronologischen Ablauf und konzentrieren sich auf eine Person. Von Yamaga Sokō, dem bereits erwähnten Verfasser des Haisho zanpitsu, ist eine solche chronologische Darstellung seines Lebens unter dem Titel Nenpu erhalten, wobei dieses Werk die Besonderheit aufweist, dass es ab dem 29. Lebensjahr des Autors in ein Tagebuch übergeht. Die Adressaten sind die direkten Nachfolger und Schüler, so dass die Schriften häufiger gedruckt werden und dadurch eine größere Verbreitung finden. Oft sind solche chronologischen Darstellungen von den Schülern nach dem Tod aufgezeichnet oder nach dem Tod des Lehrers zu Ende geschrieben, d.h. um die Umstände des Todes ergänzt. Ein berühmtes Beispiel ist die Lebenschronik von Ikkyū Sōjun (1394-1481), das Ikkyū oshō nenpu, das für viele Mönchs(auto)biographien als Vorbild gedient hat. Wie bei der folgenden Kategorie sind hier die Übergänge zwischen biographischen und autobiographischen Texten fließend. 5. Jobun 序文 sind Vor- oder Nachworte zu religiösen, historischen oder didaktischen Aufzeichnungen: Auch in solchen Texten sind häufig autobiographische Passagen enthalten, die aber der Intention des Vor- bzw. Nachwortes unterworfen sind. Berühmte japanische Beispiele wären Kūkais Streitgespräch der drei Lehren (Sangō shiiki, Anfang 9. Jh.) oder Miyamoto Musashis Buch der fünf Ringe (Gorin no sho, um 1645).13 Das große Vorbild für diese Textgruppe ist die Autobiographie von Sima Qian (ca. 145-90), dem Verfasser 13 Weitere Beispiele siehe in SCHAMONI, Weibliche Autobiographie vs. Männliche Biographie? (wie Anm. 4) S. 63-66.
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der ersten Reichsgeschichte Chinas, des Shiji (Aufzeichnungen des Historiographen, oft auch als Historische Aufzeichnungen bezeichnet, um 91 v.u.Z.), der ans Ende seiner Chronik über zweitausend Jahre chinesischer Geschichte seinen eigenen Lebenslauf anfügte.14 Das Vorbild wirkte auf die Nachfolger sehr einschränkend, denn in diesem Format waren persönliche Aussagen kaum möglich, der Zwang, den die Form den Autoren auferlegte, war groß. Solche Texte waren an die Öffentlichkeit gerichtet, und sie finden sich häufig dem Vorbild entsprechend am Ende von größeren Werken. 6. Den 伝 bzw. denki 伝記 ist die vormoderne Sammelbezeichnung für Biographie und Autobiographie. Diese haben formal die größte Ähnlichkeit mit der modernen Autobiographie in der Hinsicht, dass sie biographisch weitgehend geschlossen sind und im Gegensatz zu Gruppe 5 keine Begleittexte sind. Vom Umfang her sind solche Autobiographien häufig sehr kurz und inhaltlich sehr stark an dem eben vorgestellten autobiographischen Vorwort orientiert. Berühmte Beispiele sind u.a. das Kakoku Sanjin den (Überlieferung über den „Bewohner des Nebeltals“) des Nichiren-Mönchs Gensei (1623-1668) oder das Jijoden (Selbstbericht) von Eton (1725-1785), einem Mönch der Jōdo-Schule. Wolfgang Schamoni schließt in seiner Klassifizierung Tagebücher explizit aus, denn er geht nicht vom Begriff Selbstzeugnis, sondern von Autobiographie aus, und die Einbeziehung von Texten, die Tagebuch im Titel tragen oder tagebuchartig sind, würde die Untersuchungsgrundlage ins schier Unermessliche ausdehnen und die formale Annäherung an die Autobiographie letztendlich aushebeln. Eine Abgrenzung ist aber schwierig, wie er zugibt: Es gibt Übergänge und Mischformen zwischen Chronologie (nenpu) und Tagebuch (nikki) wie bei Yamaga Sokōs Nenpu, das ab seinem 29. Lebensjahr die Form von Tagesaufzeichnungen annimmt.15 Tagebücher dienten auch als Grundlage für spätere Memoiren und gingen teils in diese ein, wie im Falle von Arai Hakusekis Oritaku shiba no ki (Am Reisigfeuer aufgezeichnet). Unter den Tagebüchern ist außerdem eine Differenzierung nötig: Nikki erscheint oft im Titel von Werken, die Bandbreite der Formate aber ist beträchtlich: von dienstlichen oder privaten Tagesnotizen, die irgendwann einsetzen und kaum etwas über das persönliche Leben des Autors verraten, bis hin zu autobiographischen Texten, die weite Strecken des Lebenslaufes umfassen und teilweise literarisch anspruchsvoll gestaltet sind. Und gerade im Kontext der Frauengeschichte sind sie
14 Das Werk besteht aus 130 Faszikeln, 70 davon sind Biographien vorbildlicher Herrscher und Staatsmänner, das letzte Faszikel enthält die Autobiographie des Verfassers. Das „selbstverfasste Nachwort“ (jijo) beginnt mit einer umfangreichen Familiengeschichte, geht ausführlich auf die Verdienste des Vaters, des Großhistoriographen, ein und kommt danach auf die eigene Person, die jedoch der Distanz willen ebenfalls in der dritten Person beschrieben wird. Wolfgang Bauer weist darauf hin, dass diese „Nachwort-Autobiographie“ in China bis ins 13. Jahrhundert quantitativ und inhaltlich Maßstäbe setzte: Durch ihre relative Kürze (Bauer spricht von etwa 10 Seiten in Übersetzung) gab sie eine gewisse Prägnanz vor und verlangte die Konzentration auf die schreibende Person. WOLFGANG BAUER, Das Antlitz Chinas. Die autobiographische Selbstdarstellung in der chinesischen Literatur von ihren Anfängen bis heute. München usw. 1990 S. 79-82. Zu Sima Qian und der Biographik siehe auch: HANS VAN ESS, Sima Qian und die Anfänge der chinesischen Biographik, in: Biographie – „So der Westen wie der Osten“? (wie Anm. 4) S. 15-32. 15 SCHAMONI, Kaisō kara jiden e, S. 120.
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als Selbstzeugnisse wichtig, denn für Frauen standen für autobiographische Aufzeichnungen kaum andere Muster zur Verfügung als Tagebücher.16 Die hier vorgestellten Texte zeichnen sich dadurch aus, dass der autobiographische Bericht dem Zweck der Textsorte, zu der sie gehören, in Form, Sprache und Umfang weitgehend untergeordnet ist oder als Vor- oder Nachwort, Ergänzung einer Schrift die Funktion des Haupttextes unterstützt. Eine freiere Ausdrucksmöglichkeit fanden insbesondere Gelehrte und Literaten von alters her in den sog. Miszellen, die man heute unter dem Begriff zuihitsu (wörtl. „dem Pinsel folgen“, auch als Essay bezeichnet) einordnet, auch wenn die Texte kaum zuihitsu im Titel tragen. Solche Aufzeichnungen entstanden über den Zeitraum von mehreren Jahren oder Jahrzehnten, sind sehr frei in ihrer Themenauswahl und sprachlich anspruchsvoll. Hier sind dem Verfasser durch die Gattung kaum Beschränkungen auferlegt, höchstens durch die historischen Vorbilder, denn solche Texte sind seit dem Mittelalter üblich, und die Textsorte genießt wegen des oft literarisch-poetischen Anspruches hohes Ansehen.17 Auch bei den Miszellen machen autobiographische Passagen nur einen Teil des Ganzen aus, die Reflexionen über Zeitgenossen und Zeitumstände weisen in die Richtung von Memoiren, während sich auch ein Betätigungsfeld für narrative Ausschmückung bietet. Von dieser Form hat der Dichter und Gelehrte Ueda Akinari ausführlich Gebrauch gemacht, in seinem Nachlass fand sich aber auch ein Text, der die Form einer kurzen kompakten Autobiographie hat und zu Anfang des 20. Jahrhunderts tatsächlich unter dem Titel Jiden herausgegeben wurde. Im Folgenden soll dieser Text in Bezug gesetzt werden zu Akinaris literarischem Schaffen und auch zu seiner Rezeption im frühen 20. Jahrhundert, denn erst sie machte aus einem bis dahin nicht übertitelten Text eine „Autobiographie“.
16 Bettina Gramlich-Oka hat im Tagungsband der Forschergruppe Räume des Selbst drei Frauen vorgestellt, von denen zwei durch ihre detaillierten Tagebücher bekannt sind, die dritte, Tadano Makuzu, hinterließ zwei umfangreichere autobiographische Texte (Hitori kangae und Mukashibanashi), in denen sie ihre sozialpolitischen Vorstellungen ausführt und dabei ausführlich auf ihren Lebensweg eingeht, der sie zu diesen Überzeugungen geführt hat – ein für eine Frau der damaligen Zeit außergewöhnliches Format. BETTINA GRAMLICH-OKA, Early Modern Japanese Women and Spacing the Self, in: Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell. Hg. ANDREAS BÄHR/PETER BURSCHEL/GABRIELE JANCKE. Köln usw. 2007 S. 111-130. Eine weitere Gruppe von Texten, die für die Selbstzeugnisforschung von großem Interesse sein könnte, wurde in den letzten Jahren von Shiba Keiko und ihrer Gruppe an der Waseda-Universität zusammengetragen: Reiseberichte von etwa siebzig Frauen aus der Edo-Zeit, vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, aus verschiedenen sozialen Schichten, deren Zahl weit über hundert liegt. Auch diese erlauben uns einen Einblick in die Lebensabläufe von Frauen, denn häufig werden in diesen Texten die Umstände der Reise ausführlich thematisiert. Formal sind auch hier kleine Vorreden (jobun) enthalten, die oft die persönliche Situation der Verfasserin erläutern und teilweise bis in die Kindheit zurückreichen. Die Beschreibung der Reise selbst orientiert sich in vielen Fällen am Tagebuchformat und ist häufig von traditionellen Motiven überlagert (poetische Topoi, Motive, rhetorische Floskeln), während die Umstände der Reisevorbereitung und des Abschieds eher faktisch sind. Erschienen sind einige der bereits edierten Texte in der Zeitschrift Edoki onna kō [Studien zu den Frauen der Edo-Zeit], Hg. SHIBA KEIKO. Tōkyō 1990-2004. 17 Als eine Art Gattungsbezeichnung taucht zuihitsu bereits Mitte des 15. Jahrhunderts auf, aber der Bedeutung der Schriftzeichen entsprechend (dem Pinsel folgen) werden damit keine engen formalen oder inhaltlichen Kriterien gesetzt. Ein häufig anzutreffendes Motiv in diesen Texten ist die Behauptung, die Aufzeichnungen seien nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.
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Ueda Akinari (1734-1809), dessen Abstammung geheimnisumwittert und bis heute nicht geklärt ist, wurde mit etwa vier Jahren in die Familie des wohlhabenden Öl- und Papierhändlers Ueda Mosuke in Ōsaka, Bezirk Dōjima, adoptiert und hat eine Bildung genossen, die sich auf die konfuzianischen Klassiker, die Dichtung und Geschichte Japans erstreckte, auch wenn er in seinen Erinnerungen häufiger das Motiv des wenig folgsamen und nur an Unterhaltung interessierten und verschwenderischen Sohnes bemühte. Er fing mit etwa 20 Jahren an, haikai (Haiku) zu verfassen, worin er es zu einer gewissen Meisterschaft brachte, so dass sich berühmte Zeitgenossen wie Yosa Buson anerkennend über ihn äußerten. Über seine dichterischen Aktivitäten weitete Akinari seinen intellektuellen Horizont aus, wurde in den Bann der japanischen Philologie seiner Zeit gezogen, rezipierte aber auch die damals populäre zeitgenössische chinesische Erzählliteratur, die sich besonders stark auf seine Erzählsammlung Ugetsu monogatari auswirken sollte. Das Interesse Akinaris am Studium des japanischen Altertums (kokugaku) erwachte wohl in den 1750er Jahren: Seine Erkundungen umfassten Studien zur Gedichtanthologie Man’yōshū aus dem 8. Jahrhundert, zum Ise monogatari, Genji monogatari aus der japanischen Klassik, er verfasste die erste umfassende Biographie von Kakinomoto no Hitomaro, einem Dichter aus dem 8. Jahrhundert, er bearbeitete einige Werke des Philologen Kamo no Mabuchi aus dem 18. Jahrhundert, schrieb sprachgeschichtliche und sprachwissenschaftliche Abhandlungen und behandelte historische, ethnologische und archäologische Themen.18 Ueda Akinari ist im Westen vor allem als Autor der beiden Erzählsammlungen Ugetsu monogatari („Unter dem Regenmond“ Stuttgart 1980) und Harusame monogatari („Erzählungen beim Frühlingsregen“ Frankfurt a. M. 1990) bekannt, die in zahlreiche Sprachen übersetzt worden sind. Auch in Japan stand er lange Zeit als Erzähler im Fokus des Interesses. Dies hängt damit zusammen, dass Akinari in der an populärer und seichter Erzählliteratur reichen Frühen Neuzeit Werke von intellektuellem und poetischem Anspruch verfasste, die dem Genre der yomihon, der „Lesebücher“, zugeordnet werden und die im Lichte der ab den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts nach Japan dringenden westlichen literarischen Kriterien als anspruchsvoll gelten konnten. Die Anfänge der AkinariForschung reichen tatsächlich bis in die Meiji-Zeit zurück: 1890 erschien das Ugetsu monogatari zum ersten Mal mit beweglichen Lettern gedruckt in einer Anthologie von Romanen (shōsetsu) aus der Zeit des Shogunats, und 1895 bereits in einer Anthologie japanischer Literatur in einer leicht zugänglichen Ausgabe.19 Das Harusame monogatari wurde ein Jahrhundert nach seiner Entstehung 1907 zum ersten Mal im Druck publiziert, mit einem Kommentar des Literaturhistorikers Fujioka Sakutarō.20 1917-18 erschien eine zweibändige Ausgabe von Akinaris Gesammelten Schriften21, und 1919 das Akinari ibun (Akinari Nachlass), herausgegeben vom Literaturhistoriker Fujii Otoo, das lange Jahre 18 In englischer Sprache liegt eine Biographie von Ueda Akinari vor, die sein bewegtes Leben und das vielfältige Oeuvre vorstellt: BLAKE MORGAN YOUNG, Ueda Akinari. Vancouver 1982. 19 UEDA AKINARI, Ugetsu monogatari, in: Bakufu jidai shōsetsu sōsho. Tōkyō: Shūhōsha 1890, danach 1893 in einer Einzelausgabe (Tōkyō: Fuji kashihon shuppanbu), 1895 in der Teikoku bunkoReihe (Tōkyō: Hakubunkan). 20 In der Reihe Meicho bunko Bd. 28, Tōkyō: Fuzanbō 1907. 21 Ueda Akinari zenshū (2 Bde.), Hg. KOKUSHO KANKŌKAI (Kommentar von Iwahashi Koyata), Tōkyō: Kokusho kankōkai 1917-18.
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die Grundlage für die Forschung bildete.22 Im letzten Jahrzehnt des 19. und den ersten zwei des 20. Jahrhunderts wurde durch große Editionsprojekte der moderne, bis heute gültige Kanon der japanischen Literatur etabliert, und Ueda Akinari gehörte als Erzähler von Anfang an dazu. Erst seit den 1960er und 1970er Jahren kam er auch als Vertreter der Nationalen Schule, der Nationalphilologie (kokugaku), in den Blick. Nachdem in den 1990er Jahren eine umfangreiche Ueda Akinari-Gesamtausgabe herausgekommen war,23 hat in Japan zudem eine neue Welle der Akinari-Forschung eingesetzt. Akinari hat eine ganze Reihe von autobiographischen Schriften hinterlassen, auch wenn keine von diesen als zusammenhängendes Werk bezeichnet werden kann. Für die Rekonstruktion seines Lebenslaufes können wir uns in erster Linie auf die miszellenhaften Aufzeichnungen aus dem Tandai shōshinroku (Mit großem Mut und viel Umsicht) stützen, das er im Alter, wohl bis zu seinem Tod 1809 verfasst und immer wieder ergänzt und überarbeitet hat. Formal ist das Tandai shōshinroku eine Sammlung von mehr als 200 kürzeren und längeren Abschnitten, sog. hitotsugaki: einzelne Punkte, die nicht durchnummeriert sind, auch keinen inhaltlichen und erzählerischen Zusammenhalt haben, aber sporadisch autobiographische Informationen enthalten.24 Die autobiographischen Abschnitte beleuchten die Kindheit, das Elternhaus, den poetischen und gelehrten Lebensweg, die Studien, beschreiben und beurteilen die Lehrmeister und einzelne Kollegen Akinaris – dies meist sehr kritisch. Sprachlich neigt der Text zur Umgangssprache, insbesondere die Kopula und die Satzschlusspartikel sind der gesprochenen Sprache angenähert, denn der Text ist nicht direkt an die Öffentlichkeit gerichtet.25 Er wird trotzdem von Schülern und Kollegen gelesen und − gerade im Fall von Akinari häufig − von fremder Hand ediert. Gerade das Tandai shōshinroku existiert deshalb in zahlreichen Versionen: Einzelne Passagen hat Akinari immer neu formuliert und die gleichen Informationen in andere Kontexte eingefügt, so dass wir nachvollziehen können, wie er sich über Jahre mit dem Text beschäftigt hat. Einige Ausschnitte sollen nun den Charakter dieser Aufzeichnungen und auch ihres Verfassers zeigen: Abschnitt 4 „Ich schrieb einmal, dass ursprünglich keine Regeln für den Schriftsilbengebrauch existiert hätten, und [mein Schüler] Nahiko ließ diese Schrift drucken. Harumi aus Edo ließ mir da22 Akinari ibun, Hg. FUJII OTOO. Tōkyō: Shūbunkan 1919. Fujii hat für diese Edition sogar Manuskripte rekonstruieren können, die Akinari in einen Brunnen geworfen hatte, um sie zu vernichten, die aber von seinen Schülern gerettet worden waren. 23 Ueda Akinari zenshū. Hg. NAKAMURA YUKIHIKO. Tōkyō: Chūōkōronsha 1990-1995 (13 Bde. geplant, bis 2011 erschienen 11 Bde.). 24 Ueda Akinari zenshū (wie Anm. 23) Bd. 9 S. 129-237. Diese Aufzeichnungen sind nicht mit dem Ziel eines geschlossenes Werkes entstanden, sondern wurden im Nachlass Akinaris gefunden. Auch der Titel, eine Anspielung auf einen Ausspruch aus der Geschichte des Tang-Reiches (Jiu Tangshu, entstanden 945), ist in Akinaris Manuskript von fremder Hand hinzugefügt. Ebd. S. 428. 25 In Japan war zu dieser Zeit neben dem Chinesischen, der Sprache der Verwaltung und der Gelehrsamkeit, die japanische Schriftsprache gebräuchlich, die sich am Vorbild der klassischen Sprache des 10. bis 11. Jahrhunderts orientierte und die sich als Schriftsprache bis um 1900 hielt. Akinari benutzte in seinen gelehrten Abhandlungen, in Erzählungen und in seinen Reiseberichten dieses klassische Japanisch, nahm sich aber in den Miszellen die Freiheit, die gesprochene Sprache einfließen zu lassen. Chinesisch schrieb er selten, ein Beispiel ist die Einleitung zu seiner Erzählsammlung Ugetsu monogatari.
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raufhin zukommen: ‚Ihr, Alter, geht sehr eigensinnig mit der Wissenschaft um.‘ Ich gab zurück: Eigensinn ist nur ein anderer Name für Genie [sainō].“26
Die Distanzierung von vorherrschenden poetischen, gelehrten, aber auch lebensweltlichen Auffassungen ist ein durchgängiges Motiv in Akinaris Aufzeichnungen, und er stilisierte sich in diesen Texten förmlich zum Außenseiter. Auch wenn er tatsächlich zurückgezogen lebte und arbeitete, waren doch eine Reihe von Schülern und Freunden um ihn, die ihm eine Stütze waren, dies wird aber in diesen Aufzeichnungen kaum erwähnt. Intellektuell war das ausgehende 18. Jahrhundert von intensiven Diskussionen und vielen Neuerungen in Bezug auf die Vorstellungen von Sprache, Dichtung, Geschichte und Mythologie geprägt, und eine große Zahl von Abschnitten des Tandai shōshinroku sind Stellungnahmen in Bezug auf aktuell diskutierte Themen.27 Die autobiographischen Abschnitte des Tandai shōshinroku umfassen selten mehr als ein oder zwei Seiten und sind ebenfalls durchdrungen von dem Gefühl, im Laufe des Lebens zunehmend ein Einzelgänger geworden zu sein: Abschnitt 5 „In meinen jungen Jahren imitierte ich die Leute und begeisterte mich für das sog. haikai [haiku, Dreizeiler], und auch nachdem ich mich mit dem waka [japanisches Kurzgedicht] vertraut gemacht hatte, fand ich immer wieder Gefallen daran, haikai zu dichten. ‚Uta [Kurzgedichte] werde ich wohl kaum verfassen können‘, dachte ich und hatte es schon aufgegeben, als mir das Glück widerfuhr, vom Mittleren Rat Soundso, dem ich vorgestellt worden war28, Anerkennung für meine Gedichte zu bekommen. Daraufhin befragte ich ihn über Einzelheiten, die mir unverständlich waren: ‚Ihr habt die richtige Einstellung. Denkt doch nach!‘, sagte er. Er ließ mich so ohne eine Antwort stehen, und ich fühlte mich ratlos und wandte mich der Lektüre von einigen Schriften Keichûs zu, die sich mit der alten Sprache befassen. Nun, da gab es einiges zu klären, und da traf ich glücklicherweise den Meister Fujiwara no Umaki aus Edo, mit dem ich diese mir unverständlichen Stellen ausführlich besprechen konnte. Doch der Meister zog, als ich etwa 44 oder 45 Jahre alt war, aufgrund seines [fälligen] Dienstes als Wache [im Nijō-Schloss] in die Hauptstadt und verstarb dort unerwartet. Er war damals etwas über 50 Jahre alt gewesen. Ich beklagte seinen Tod, aber da ich damals als Arzt tätig war, lief ich den ganzen Tag in alle Himmelsrichtungen herum und dachte auch nicht daran, mich einem anderen guten Meister anzuschließen. So arbeitete ich von meinem 43. bis 55. Lebensjahr fleißig, und da ich das von Jugend an nicht gewöhnt war, wurde ich plötzlich krank. […] Wenn ich sage, ich sei ein Einzelgänger gewesen, so meine ich damit, dass ich immer der Ansicht 26 Tandai shōshinroku, in: Ueda Akinari zenshū (wie Anm. 23) Bd. 9 S. 132. 27 Eine heftige Auseinandersetzung führte Akinari u.a. mit dem berühmten Philologen Motoori Norinaga (1740-1801) über sprachhistorische und mythologische Themen in den 1780er Jahren. Der Ärger über den nach Akinari völlig unberechtigten Erfolg Norinagas als Gelehrter klingt im Tandai shōshinroku vielfach an. Siehe dazu: JUDIT ÁROKAY, Chinafreundliche Einstellungen in der Nationalen Schule (kokugaku) am Beispiel Ueda Akinaris, in: Wakan – Japans interkultureller Monolog mit China zwischen Sehnsucht, Ablehnung und Pragmatismus. Hg. JUTTA HAUßER. Hamburg 2004 S. 77–90. Ausführlicher zu Akinaris eigensinniger Poetik: JUDIT ÁROKAY, Die Erneuerung der poetischen Sprache. Poetologische und sprachtheoretische Diskurse der späten Edo-Zeit. München 2010. 28 An anderer Stelle ist Akinari weniger zurückhaltend und schreibt deutlich, dass es sich um einen Meister aus der Reizei-Familie handelte – ich vermute, dass es sich hier um Tamemura handelte, einem Aristokraten aus der einflussreichen Reizei-Dichterfamilie. Siehe: Tandai shōshinroku ibun 2, in: Ueda Akinari zenshū (wie Anm. 23) Bd. 9 S. 249.
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war, zu Anfang den Lehren eines Meisters folgen und danach alleine weiterstudieren zu müssen. Und so kam es – ob es nun an mir lag oder an etwas anderem –, dass ich allein am Fenster saß und nachdachte, bis mir die Augen wehtaten, und so gelang es mir vielleicht ein Sechstel oder Siebtel dessen zu verstehen, was mir zuvor verschlossen war.“29
Obwohl dieser Abschnitt kurz ist, versucht Akinari einen Überblick zu geben über die Entwicklung seiner eigenen Persönlichkeit. Diese Passage taucht in den verschiedenen handschriftlichen Versionen immer wieder auf und ging auch in Akinaris Jiden ein: Ein wichtiges Motiv ist die Unzulänglichkeit seiner Lehrer (hier des Mittleren Rates) mit Ausnahme des früh verstorbenen Fujiwara no Umaki, der seinen gelehrten Weg prägen sollte. Für Akinari typische Merkmale sind die Ironie, der Sarkasmus, der manchmal auch gegen die eigene Person gerichtet ist, aber sehr häufig Gelehrte und Dichter seiner Zeit trifft, die ihr Leben als Lehrmeister bestreiten und Hunderte oder auch Tausende Schüler um sich versammeln. Abschnitt 35 „Der Tanuki [Marderhund] ist geschickter dabei, die Menschen zu verhexen, als der Fuchs und nicht so auffällig wie dieser. In Shikoku ist es der Tanuki, der die Menschen verhext, in Kyūshū der Gawa Tarō [kappa, Flusskobold]. In Kyōto und Ōsaka sind es die Damen von den Teehäusern, die Lehrer und Teemeister, die die Leute ausnehmen. Nirgendwo kann man noch in Ruhe leben.“30 Abschnitt 114 „Früher kamen die haikai-Meister in der Hauptstadt und auch auf dem Lande aus Familien mit einem Hintergrund, die hatten einiges an Kenntnissen. Letztens gab es einen − hieß er wohl Tantan −, der war der Sohn eines Holzhändlers aus Ōsaka, wurde Schüler des Dichters Kikaku [ein Schüler Bashōs] in Edo, kehrte nach Kyōto zurück und wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann. Dann zog er nach Ōsaka um und änderte seinen Dichtstil. Er meinte, wenn die Schüler das Dichten erlernt haben, dann kann man an ihnen kein Geld mehr verdienen. […]“31
Betrachtungen und Ansichten, kritische Seitenhiebe auf Kollegen und berühmte Zeitgenossen vermischen sich hier mit historischen, sprachhistorischen und literarhistorischen Ausführungen. Akinaris Lebenslauf und seine Auffassungen können aus solchen biographischen Splittern, verstreut auf mehrere Texte, bis zu einem gewissen Grad rekonstruiert werden. Die Freiheit, die dieses Format ihm ließ, war groß, und diese Freiheit nutzte Akinari, um den Text auch literarisch auszuschmücken oder zu dramatisieren. Als Ergebnis solch einer Bearbeitung muss auch der Text betrachtet werden, der aus dem Jahr 1808 in seiner eigenen Handschrift erhalten ist: Er fasst darin sein Leben reduziert auf einige wichtige Momente zusammen, wobei der Text keine Einzelheiten enthält, die nicht auch aus dem Tandai shōshinroku bekannt wären. In der modernen Edition, die auf dem Manuskript von Akinaris Hand im Besitz der Tenri toshokan beruht, hat der Text einen
29 Tandai shōshinroku, in: Ueda Akinari zenshū (wie Anm. 23) Bd. 9 S. 133 f. 30 Ebd. S. 155. 31 Ebd. S. 197.
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Umfang von acht Seiten und setzt unvermittelt mitten in einem Satz ein.32 Die „Erzählung“ lässt vier Ebenen erkennen: 1. Sie setzt ein mit einer dramatischen Szene im Stil einer fiktiven Erzählung. Die Verbindung zum Leben Akinaris besteht allein darin, dass sich der nächtliche Gast als ehemaliger Kunde des Händlers Akinari entpuppt: „…‚Steh auf‘, sagte jemand und trat mich mit dem Fuß.33 ‚Wer kann das nur sein? Ich bin ja noch so schläfrig...‘, sagte ich und rieb mir die Augen. Als der Einbrecher sich mit der Fackel in der Hand umsah, war ihm sofort klar, dass er in diesem Haus nichts finden würde. Doch als wir uns gegenüberstanden, sah ich, dass es ein Bekannter war.“
2. Die zweite Ebene gibt in straffen Zügen, sehr konzis und stilistisch gekonnt die wichtigsten Lebensstationen des Verfassers wieder. Zeitlich bewegt sich die Erzählung chronologisch von der Vergangenheit hin zum Moment des Schreibens: „In meinen jungen Jahren konnte ich kaum lesen, und wenn ich auch nicht trank, kümmerte ich mich nicht um das Haus und war nie da. […] Nachdem mein Vater gestorben war, führte ich, eingeschüchtert durch die Ermahnungen meiner Mutter, die Papierhandlung weiter. Da wurde unser Haus von einem Feuer zerstört. […] Nachdem meine Frau ihre Mutter vor etwa zwanzig Jahren verloren hatte, wurde sie – obwohl sie an so vielem in diesem Leben hing – Nonne. […] Als Blinder kann ich weder den Mond noch die Blüten sehen, und es wundert mich keineswegs, dass meine Beine schwach sind.“
3. Nachdem er bei der Gegenwart, die durch Krankheit und Schwäche gezeichnet ist, angekommen ist, folgt die Beschreibung des Familienhintergrundes der Ueda. Hier wird die abenteuerliche Geschichte des wirtschaftlichen Aufstiegs aus der Perspektive des Vaters erzählt: „Mein Vater ließ einmal, um die Melancholie (sabishisa) einer verregneten Nacht zu vertreiben, Sake erwärmen und wurde – ob ihm der Wein zu Kopf gestiegen war – recht lustig und erzählte mir von früher. Seine leiblichen Eltern stammten aus einer Familie, die seit Generationen in den Diensten der Tanba Soundso (Tanba no nanigashi) stand. […]“
Mit dem Tod des Vaters schwenkt Akinari auf sein eigenes Leben um, das er als das eines Versagers und Herumtreibers ohne festen Wohnsitz und als existentiell unsicher zeichnet. 4. Zum Schluss nimmt der Text eine Wendung zur Zeitkritik. Hier erscheinen Themen, die Ueda Akinari zeit seines Lebens beschäftigt haben: Seine Auseinandersetzung mit Kollegen, allgemeine Kritik an der verlotterten Welt, in der sich jeder Halbgebildete zum Lehrer und Meister berufen fühlt usw.
32 Jiden, in: Ueda Akinari zenshū (wie Anm. 23) Bd. 9 S. 263-272. Die deutsche Übersetzung von Judit Árokay ist enthalten in: Irmela Hijiya-Kirschnereit zu Ehren. Festschrift zum 60. Geburtstag. Hg. JUDIT ÁROKAY/VERENA BLECHINGER-TALCOTT/HILARIA GÖSSMANN. München 2008 S. 551-559. 33 Der Text setzt unmittelbar mit der Kopula nari ein, der Anfang des Satzes lässt sich nicht rekonstruieren.
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„[…] Und auch die Vertreter anderer Künste (geigi), sie wurden alle irregeführt, und nun führen sie selbst andere irre, das ist der Gang der Welt. Ach, wie ist sie doch flüchtig – wie Schaumbläschen auf dem Wasser.“
Ueda Akinari standen somit eine ganze Reihe von Formaten zur Verfügung, wie eingangs gezeigt wurde, um die eigene Lebensgeschichte zu erzählen, offensichtlich hat er aber gerade jene für seine Selbstzeugnisse ausgesucht, die ihm die größte literarische Freiheit ließen bzw. die Kombination von Lebenszeugnis mit poetologischen und gelehrten Ausführungen zuließen. Als Einzelgänger, der keine Nachkommen hatte, als Verächter des Meister-Schüler-Verhältnisses kamen für ihn die vorhin erwähnten autobiographischen Textsorten nicht in Frage, und so muss sein Leben heute aus den Reiseberichten, -tagebüchern, seinen Miszellen und aus dem Jiden rekonstruiert werden. Der Titel dieser Schrift aus dem Jahre 1808 ist unzeitgemäß, und tatsächlich stammt er auch nicht von Akinari, sondern vom Herausgeber seiner ersten Werkedition aus dem Jahre 1919. Fujii Otoo griff erst in einer Zeit, als sich der westliche Begriff Autobiographie in Japan etabliert hatte, zu dieser Überschrift. Er veränderte aber auch den Text, begradigte ihn, etwa indem er für diese Ausgabe die inhaltlich wenig vermittelte, jedoch dramatische Einleitung über die nächtliche Begegnung mit dem Eindringling einfach strich.34 Seine Bemühungen verfolgten den Zweck, Ueda Akinari als einen Vorläufer der modernen japanischen Erzählliteratur darzustellen, und da passte eine kompakte Autobiographie des Autors gut ins Bild, denn er entsprach den Erwartungen an eine künstlerisch produktive und selbstbewusste Persönlichkeit. Im Vergleich zu den Abschnitten des Tandai shōshinroku erscheint der Text des Jiden als inhaltlich und biographisch geschlossen, der Fokus liegt trotz des Exkurses über den Werdegang des Vaters auf der Persönlichkeitsentwicklung und den Lebensansichten Akinaris. Gleichzeitig wird die narrative Bearbeitung des Stoffes, der uns aus den Miszellen bereits in allen Einzelheiten bekannt ist, sichtbar, die die Geschlossenheit dieses autobiographischen Berichts unterstreicht: Das bisher in den Miszellen Unverbundene und Episodenhafte verschmilzt hier zu einer Einheit. Der Text ist in dem Sinne modern, dass er die Fesseln der traditionellen, zweck- und kontextgebundenen Autobiographie abschüttelt und zugleich narrative Potentiale entfaltet, die die Ausdrucksmöglichkeiten der Miszellen überschreiten. Zusammenfassend lässt sich zur Beschäftigung mit frühneuzeitlichen Autobiographien in Japan sagen, dass keine explizite Gattung für die rückblickende Erzählung einer tatsächlichen Person über die eigene Existenz bereit stand, sondern dass die Verfasser die Freiheit hatten, sich einer Reihe von Formaten zu bedienen: Sie konnten sich in Sachtexten persönlich äußern oder umgekehrt, Sachtexten durch die persönliche Bekenntnis Authentizität und Autorität verleihen. Dies liegt zum Teil am Fehlen von festen formalen Kriterien für erzählende Textsorten − im Gegensatz zur Lyrik, die durch poetologische Vorgaben genauestens geregelt war. Die Konsequenzen waren, wie wir gesehen haben, Überschneidung und Überlappung von Textsorten wie der Chronologie und des Tagebuches oder der eigenständigen Kurz(auto)biographie und des Vor- oder Nachwortes. Inhaltlich waren hingegen durchaus Konventionen etabliert, die sich insbesondere in 34 Vgl. den Anfang des Textes in den Textausgaben im Ueda Akinari zenshū (wie Anm. 23) Bd. 9 S. 263 und im Akinari ibun (wie Anm. 22) S. 254.
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Texten von Konfuzianern durchsetzten: Die Verfasser konnten aus fertigen Bausteinen, die sich u.a. aus Aussprüchen des Konfuzius in Bezug auf sein eigenes Leben oder aus der erwähnten Selbstdarstellung des Historiographen Sima Qian herleiteten, ihre Identitäten zusammenfügen und dem jeweiligen Kontext anpassen. Die autobiographischen Schriften und die Personkonzepte der Texte blieben jedoch an den Zweck, den Anlass, die Textsorte des Schreibens gebunden und müssen jeweils in ihren literarischen, sozialen und historischen Kontexten gelesen werden. Eine Einschränkung auf die moderne Form der Autobiographie, die Lejeune historisch auf die letzten zwei Jahrhunderte und kulturell nur auf die europäische Literatur bezieht35, würde der Vielfalt der frühneuzeitlichen japanischen Selbstzeugnisse in keiner Weise gerecht werden. Eine Grenzziehung zwischen modernen, an westlichen Vorbildern orientierten Autobiographien und ihren vormodernen „Vorläufern“, wie von der japanischen Literaturwissenschaft vorgenommen, die nach formalen Ähnlichkeiten sucht, verstellt den Blick auf eine blühende Landschaft von Selbstzeugnissen unterschiedlichsten Formats. Die Aufgabe ist also im Sinne der Selbstzeugnisforschung, dieser Vielfalt offen und ohne die formalen Kriterien, die für die moderne Autobiographie entwickelt wurden, zu begegnen und die Möglichkeiten selbstzeugnishaften Schreibens in ihren historischen und literarischen Kontexten zu rekonstruieren.
35 PHILIPPE LEJEUNE, Der autobiographische Pakt. Frankfurt a. M. 1994 S. 13.
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Schreibend leben Heinrich Witt (1799-1892) und sein Tagebuch im Lima des 19. Jahrhunderts
„Tuesday, 26th August 1890. Having once made it a custom to write my diary, I believe even from my early youth, I trust I shall be able to do so till the last hour of my life, – though at present I am frequently so weak that it gives me the greatest trouble to dictate even a few lines, – and to-day … what have I to say? Nothing but that I am without the slightest strength. I can hardly think, and consequently am unable to dictate. I am really very, very miserable. – It is now 1 p.m.“1
Als Heinrich Witt dies schrieb, konnte der 91-Jährige in der Tat auf eine lange Karriere als Tagebuchschreiber zurückblicken. Bereits als Kind war er von seinen Eltern dazu angehalten worden, Aufzeichnungen anzufertigen. 2 In seiner frühen Jugend hatte er einmal für vier Monate, ein anderes Mal mehr als ein Jahr lang Tagebuch geführt.3 Ab 1820 hatte er schließlich beinahe während seines ganzen Lebens seine Erlebnisse, Handlungen und Gedanken mehr oder weniger täglich und mehr oder weniger ausführlich aufgezeichnet. Er hatte allerdings noch mehr getan: Im Alter von 60 Jahren hatte er begonnen, seine früheren Tagebücher zu einem neuen Text, einem neuen Tagebuch zu verarbeiten. Er hatte seine Lebensgeschichte in Tagebuchform erzählt. Als er 1892 starb, hinterließ er dreizehn Bände dieses neuen Tagebuchs mit zusammen mindestens 11.000 1
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HEINRICH WITT, Diary, Bd. 13, S. 563 (Unterstreichung und Auslassung im Original). Ich danke Clemente Palma Garland, Lima, Peru, für die Erlaubnis, mit dem in Familienbesitz befindlichen und zum größten Teil unveröffentlichten Manuskript zu arbeiten, sowie Prof. Dr. Ulrich Mücke, Universität Hamburg, und Prof. Dr. Cristóbal Aljovín de Losada, Universidad Nacional Mayor de San Marcos, Lima, für die mir zur Verfügung gestellte Transkription des Textes, die im Rahmen ihres gemeinsamen Projekts, den gesamten englischen Text zu veröffentlichen, angefertigt wurde. In spanischer Übersetzung liegen zwei Teileditionen des Tagebuchs vor: HEINRICH WITT, Diario y Observaciones sobre el Perú (1824-1890). Selección y Prólogo PABLO MACERA. Selección y Traducción KIKA GARLAND DE MONTERO. Lima 1987; DERS., Diario 1824-1890. Un Testimonio Personal sobre el Perú del Siglo XIX. 2 Bde. Lima 1992. WITT, Diary, Bd. 1, S. 386, 409. – Zur Geschichte des Tagebuchs in Europa siehe z.B. GUSTAV RENÉ HOCKE, Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten. Motive und Anthologie. Frankfurt a. M. 1991; RALPH-RAINER WUTHENOW, Europäische Tagebücher. Eigenart, Formen, Entwicklung. Darmstadt 1990; zu der im 19. Jahrhundert nicht nur in Deutschland (hier: in der Schweiz) in bürgerlichen Kreisen durchaus üblichen gezielten Anregung von Kindern zum Tagebuchschreiben und der Bereitstellung von (auch fiktiven) Vorbildern und Schreibmustern ALFRED MESSERLI, Der papierne Freund. Literarische Anregungen und Modelle für das Tagebuchschreiben, in: Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500-1850). Hg. KASPAR VON GREYERZ/HANS MEDICK/PATRICE VEIT unter Mitarbeit von SEBASTIAN LEUTERT und GUDRUN PILLER. Köln usw. 2001, S. 299-320. WITT, Diary, Bd. 1, S. 412-436 (1813), 449-505 (1814/15).
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Seiten Text – jeder Band nummeriert, paginiert und mit einem Inhaltsverzeichnis versehen sowie ergänzt um einen Anhang aus Briefen, Zeitungsausschnitten, Exzerpten aus Büchern, Zeichnungen und Notizen. Während Witts frühere Aufzeichnungen, die von ihm als sein Originaltagebuch („original diary“) bezeichnet werden, bis auf zwei Bände4 nicht überliefert sind, haben Witts Erben, seinem ausdrücklichen Wunsch entsprechend, das neue Tagebuch aufbewahrt.5 Bis heute überliefert sind zehn der dreizehn Bände. Es fehlen die Bände 10 bis 12, die den Zeitraum von Mitte Mai 1881 bis Ende Oktober 1886 abdecken.6 Der letzte Band des Tagebuchs ist zudem nur unvollständig erhalten. 4
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Von der Existenz der beiden Bände habe ich erst nach der Fertigstellung dieses Aufsatzes erfahren. Eine detaillierte Auswertung und Berücksichtigung dieser Bände, die Schilderungen von Abschnitten der Jahre 1843/44 und 1845/46 enthalten (zusammen knapp 700 Seiten Text), war daher in der folgenden Darstellung noch nicht möglich. – Im Folgenden verwende ich die Bezeichnung Tagebuch (ohne jeden Zusatz) ausschließlich für das überlieferte, ab 1859 geschriebene Tagebuch, während ich Witts andere Aufzeichnungen seinem Vorgehen folgend als Originaltagebuch bzw. -tagebücher bezeichne oder durch Zusätze kennzeichne (frühere Aufzeichnungen, laufendes Tagebuch etc.). Den Wunsch, dass sein neues Tagebuch aufbewahrt werden solle, äußerte Witt mehrfach im Text selbst (z.B. WITT, Diary, Bd. 3, S. 784; Bd. 13, S. 185, siehe auch die Zitate in Anm. 62, 63 und 64). In seinem Testament bestimmte er, dass das Manuskript an einen seiner Enkelsöhne gehen solle (Testament vom 16.2.1887; Archivo General de la Nación, Lima: Protocolos Notariales, Bd. 106, Notario Juan Ignacio Berninzon, bei Bl. 2115v-2116. Protocolización del expediente sobre apertura del testamento de Enrique Witt). – Das überlieferte, in diesem Aufsatz behandelte Tagebuch von Heinrich Witt erfüllt also ein zentrales Kriterium der modernen literaturwissenschaftlichen Gattungsdefinition eines Tagebuchs nicht: die grundsätzliche zeitliche Nähe der Niederschrift zu den beschriebenen Ereignissen (z.B. ARNO DUSINI, Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung. München 2005). Dies gilt allerdings auch für viele andere Tagebücher. So sind z.B. japanische Tagebücher zum Teil mit großem zeitlichen Abstand geschrieben worden, vgl. dazu PETRA BUCHHOLZ, Das Tagebuch in der japanischen Schreibkultur, in: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. Hg. GABRIELE JANCKE/ CLAUDIA ULBRICH. Göttingen 2005 S. 241-246, bes. 243, und den Beitrag von JUDIT ÁROKAY in diesem Band, bes. S. 129f. Ich behalte dennoch die von Witt gewählte Bezeichnung diary/Tagebuch bei, da der Text auch keinem anderen autobiographischen bzw. Selbstzeugnis-Genre eindeutig zuzuordnen ist. Witts Selbstzeugnis ist gerade in seiner Hybridität interessant. Zum Begriff Selbstzeugnis siehe BENIGNA VON KRUSENSTJERN, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2. 1994 S. 462-471. Im zehnten überlieferten Band erwähnt Witt, dass er im Januar 1887 den 13. Band seines Tagebuchs begonnen habe (WITT, Diary, Bd. 13, S. 84). Mehrere Indizien sprechen dafür, dass es sich bei jenem letzten überlieferten Band, dessen erste Seiten und damit die Bandzählung fehlen, um diesen 13. Band handelt. Ich zitiere den Band daher als Band 13. Es fehlen außerdem Seiten am Ende des Bandes sowie von Band 5 und bei fast allen Bänden einige der im Text erwähnten Anhänge. Die Bände weisen Brand- und Wasserschäden und zum Teil einen durch diese bedingten Textverlust an den Seitenrändern auf; die derzeitige Bindung des Tagebuchs stammt aus dem 20. Jahrhundert. – Zu den drei fehlenden Bänden: In den in diesen Bänden beschriebenen Zeitraum fällt die Besetzung Limas durch chilenische Truppen während des Pazifikkrieges zwischen Peru, Bolivien und Chile (1879-1884). Da die Rolle der Oberschicht Limas während des Krieges in Peru bis heute umstritten ist, hatten möglicherweise Witts Nachfahren oder andere Mitglieder der Oberschicht ein Interesse daran, ein Publikwerden von in den Bänden enthaltenen Informationen zu verhindern. Möglich ist auch, dass die drei Bände unbeabsichtigt bei einem Brand zerstört wurden. Zu beiden Möglichkeiten vgl. PABLO MACERA, Prólogo, in: WITT, Diario y Observaciones (wie Anm. 1) S. XIII-XXIV.
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Das überlieferte Manuskript bricht in der Schilderung der Ereignisse vom 29. Dezember 1890 ab, fast zwei Jahre vor Witts Tod.7 Ob Witt sein Tagebuch wie gehofft bis zur letzten Stunde seines Lebens fortführen konnte, wissen wir nicht. Aber auch ohne die fehlenden Teile ist dieses Tagebuch nach heutigem Kenntnisstand das umfangreichste Selbstzeugnis, das im 19. Jahrhundert in Lateinamerika verfasst wurde.8 Aufgrund der Fülle von Informationen über die politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Geschichte Perus im 19. Jahrhundert, die der Text enthält, ist das Tagebuch von großem Wert für die peruanische Geschichtsschreibung.9 Daneben ist Witts Tagebuch auch für eine Selbstzeugnisforschung zur (trans)kulturellen Selbstverortung von Menschen, die in verschiedenen kulturellen Kontexten gelebt haben, von besonderem Interesse.10 Der Altonaer Heinrich Witt verbrachte den größten Teil seines Lebens in Peru, zugleich hatte er als wohlhabender Kaufmann die Möglichkeit, mehrere Reisen nach Europa zu unternehmen und so, anders als die meisten transatlantischen Migranten im 19. Jahrhundert11, sein Wissen und seine Vorstellungen vom Leben, Denken und Handeln in Europa immer wieder durch eigene Anschauung aufzufrischen und mit seinen Erfahrungen in Peru zu vergleichen. Witts kulturelle Mehrfachzugehörigkeit und ihre Verarbeitung in seinem Tagebuch sollen hier allerdings nur am Rande diskutiert werden. In diesem Aufsatz liegt der Fokus auf der Praxis und den Formen des diaristischen bzw. autobiographischen Schreibens bei Heinrich Witt.12 Da, wie ich zeigen werde, Leben und Tagebuch nicht zu trennen sind, stelle ich
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WITT, Diary, Bd. 13, S. 581. Die weiteren Seiten des Bandes fehlen (siehe Anm. 6). Zum autobiographischen Schreiben in Lateinamerika siehe z.B. SYLVIA MOLLOY, At face value. Autobiographical writing in Spanish America. Cambridge usw. 1991; ANNE-MARIE BRENOT (Hg.), Mémoires d'Amérique latine. Correspondances, journaux intimes et récits de vie (XVII-XXèmes siècles). Madrid usw. 2009; zu Peru z.B. FRANÇOISE AUBÈS, Mémoires, autobiographies, journal intime. L'écriture de soi au Pérou, in: ebd. S. 163-172; KATHYA ARAUJO, Dignos de su arte. Sujeto y lazo social en el Perú de las primeras décadas del siglo XX. Madrid usw. 2009. 9 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Tagebuch begann erst mehr als 70 Jahre nach Witts Tod, als Jorge Basadre, der Begründer der modernen Historiografie der peruanischen Unabhängigkeit, das Manuskript einsehen konnte, siehe die Angaben bei KIKA GARLAND DE MONTERO, Introducción, in: WITT, Diario y Observaciones (wie Anm. 1) S. XI-XII, und MACERA, Prólogo (wie Anm. 6) S. XVI. In seiner Bestandsaufnahme der Quellen zur Geschichte der Republik Peru hob Basadre den unschätzbaren Wert des Tagebuchs hervor (JORGE BASADRE, Introducción a las bases documentales para la historia de la República del Perú con algunas reflexiones 1. Lima 1971 S. 103). 10 Siehe die Beiträge im Kapitel „Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten“, S. 179-270. 11 Vgl. allgemein KLAUS J. BADE, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 2000. Zu den Besonderheiten der „Elitenwanderung“ von u.a. Kaufleuten, Ingenieuren und Offizieren nach Südamerika siehe WALTHER L. BERNECKER/THOMAS FISCHER, Deutsche in Lateinamerika, in: Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. Hg. KLAUS J. BADE. München 31993 S. 197-214, hier 207 ff.; zur europäischen Einwanderung nach Peru GIOVANNI BONFIGLIO [Hg.], La presencia europea en el Perú. Lima 2001. 12 Vgl. GABRIELE JANCKE, Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Köln usw. 2002; sowie ESTHER BAUR, „Sich schreiben“. Zur Lektüre des Tagebuchs von Anna Maria Preiswerk-Iselin (1758-1840), in: Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich (wie Anm. 2) S. 95-109.
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zunächst kurz den transkulturellen oder „globalen Lebenslauf“13 Witts vor. In der anschließenden Untersuchung der im Tagebuch kontinuierlich thematisierten Praxis des Schreibens behandele ich die Dokumentation des Schreibprozesses, der die Arbeit mit Sekretären einschloss, die Wahl der Sprache(n) im Tagebuch, die verschiedenen Zeitebenen des Lebens und des Schreibens, zentrale Aspekte der Textgestaltung sowie die imaginierte Leserschaft des Tagebuchs. Schließlich gehe ich auf die Bedeutung des Tagebuchschreibens für die Konstituierung des Selbst, die erzählte Konstruktion der Person Heinrich Witt ein.14
Witts transkultureller Lebenslauf Heinrich Witt wurde am 11. Mai 1799 im holsteinischen Altona geboren, das damals zum Königreich Dänemark gehörte und heute ein Teil Hamburgs ist. Er war das jüngste Kind und der einzige Sohn einer Kaufmannsfamilie, die einen großen Teil ihres Vermögens in den Napoleonischen Kriegen verlor. Nach dem Schulbesuch in Altona und einem Internatsaufenthalt in England begann Witt seine kaufmännische Karriere 1816 als Lehrling in einem renommierten Altonaer Handelshaus. Nach fünf Jahren Ausbildung und weiteren zwei Jahren als Handlungsgehilfe ging er Anfang 1823 nach London, um seine kaufmännischen Kenntnisse zu erweitern. Im Sommer des Jahres trat er dort eine Anstellung bei Antony Gibbs and Sons an, die, wie viele britische und kontinentale Händler, kurz zuvor in das Geschäft mit den gerade unabhängig gewordenen ehemaligen spanischen Kolonien in Südamerika eingetreten waren.15 1824 ging Witt für die Südamerika-Tochter von Gibbs nach Peru, wo er zunächst in Arequipa im Süden des Landes als Handlungsgehilfe tätig war. Nachdem er 1826 die Anstellung bei Gibbs verlassen hatte, um im Auftrag anderer Kaufleute Reisen in die Anden zu unternehmen, übernahm er 13 Zum Konzept des „globalen Lebenslaufs“, das zusätzlich zu dem Leben in mindestens zwei verschiedenen Ländern oder Kulturen fordert, dass der „globale Mensch […] entlang der zurückgelegten Wege und der angetroffenen Grenzen interaktive Kommunikations- und Anpassungsleistungen“ vollbrachte und über ein Bewusstsein von der globalen oder „mindestens grenzüberschreitenden Dimension des eigenen Tuns“ verfügte, siehe BERND HAUSBERGER, Globalgeschichte als Lebensgeschichte(n), in: Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen. Hg. DERS. Wien 2006 S. 9-27, hier 13. 14 Zur Bestimmung und Verwendung von „Person“ als kulturell und historisch geprägte Kategorie in der neueren historischen Selbstzeugnisforschung siehe GABRIELE JANCKE/CLAUDIA ULBRICH, Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, in: Vom Individuum zur Person (wie Anm. 5) S. 7-27. Weitere Aspekte von (seiner) Person, die neben den in diesem Aufsatz thematisierten in Witts Lebensgeschichte enthalten sind, werden in meiner Dissertation über das Tagebuch von Heinrich Witt, an der ich zurzeit arbeite, behandelt. Erste Überlegungen in ULRICH MÜCKE/CHRISTA WETZEL, Das Tagebuch von Heinrich Witt, in: Händler, Pioniere, Wissenschaftler. Hamburger in Lateinamerika. Hg. JÖRN ARFS/ULRICH MÜCKE. Berlin usw. 2010 S. 21-45. 15 Zu Antony Gibbs and Sons siehe JOHN ARTHUR GIBBS, The History of Antony and Dorothea Gibbs and of their Contemporary Relatives, including the History of the Origin & Early Years of the House of Antony Gibbs and Sons. London 1922; ANTONY GIBBS & SONS LIMITED, Merchants and Bankers. A brief record of Antony Gibbs & Sons and its Associated Houses' business during 150 years. 1808-1958 [verfasst von WILFRED MAUDE]. London 1958; zum Engagement der Firma in Peru siehe insbesondere WILLIAM M. MATHEW, The House of Gibbs and the Peruvian Guano Monopoly. London 1981.
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1830 die Leitung der Filiale der Firma in Arequipa. 1833 wurde er Kontorchef des Haupthauses in der peruanischen Hauptstadt. 1842 trennte er sich von Gibbs und etablierte sich in der Folgezeit erfolgreich als selbständiger Kaufmann in Lima. Zunächst handelte er mit Waren aus Europa, vor allem mit Textilien. In den 1860er Jahren war er in einem gemeinsamen Unternehmen mit einem seiner Schwiegersöhne, dem aus Bremen stammenden Kaufmann Christoph Wilhelm Schütte, auch im Guanogeschäft tätig.16 Der Schwerpunkt der geschäftlichen Betätigung Witts lag aber schon bald im Finanzbereich, d.h. im direkten, privaten Kredit-, Anleihe- und Wechselgeschäft, in den 1860er und 1870er Jahren dann vor allem in den neu entstehenden Banken, Versicherungen, Eisenbahn- und Versorgungsgesellschaften. Bereits 1831 hatte Heinrich Witt in Arequipa die zweifache Witwe María Sierra Velarde geheiratet, die drei Kinder mit in die Ehe brachte. Auch wenn das Paar keine gemeinsamen Kinder hatte, verbrachte Witt so sein Leben im Kreise einer immer größer werdenden Familie als Ehemann, Vater, Großvater und Urgroßvater.17 Neben seinem geschäftlichen Erfolg und seinen Kontakten in die politischen Kreise durch seine 1841 erfolgte Ernennung zum Konsul des Königreichs Dänemark in Peru (ab 1845 Generalkonsul)18 trugen auch die Verbindungen seiner Ehefrau zu vielen einflussreichen Familien dazu bei, dass Witt dauerhaft als Mitglied der kleinen sozialen Oberschicht Limas akzeptiert wurde. Nach dem Tod María Sierras im Mai 1876 zog er sich weitgehend aus dem aktiven Geschäftsleben zurück und lebte fortan als Rentier gemeinsam mit der Familie seiner Tochter Enriqueta von Lotten Sierra und ihres aus Liverpool stammenden Ehemanns Gerald Garland in einem großen Haus im Zentrum Limas. Dort starb er am 3. November 1892. In den 68 Jahren von 1824 bis 1892 unternahm Heinrich Witt mehrere kürzere Reisen innerhalb Perus und nach Bolivien und Chile sowie fünf zum Teil mehrjährige Reisen nach Europa, letztmalig im Alter von über 80 Jahren.19 Den allergrößten Teil seines langen Lebens verbrachte er jedoch in Lima, wo er zum Zeit- und oft auch Augenzeugen der politischen und gesellschaftlichen Ereignisse fast des gesamten ersten Jahrhunderts der peruanischen Unabhängigkeit wurde. In Lima schrieb er auch sein Tagebuch.
16 Der getrocknete Seevogeldung Guano, der besonders in Europa als Dünger nachgefragt war, stellte zwischen 1840 und 1880 die wichtigste Einnahmequelle des peruanischen Staates und für die beteiligten Handelshäuser eine herausragende Verdienstmöglichkeit dar. Vgl. PAUL GOOTENBERG, Imagining Development. Economic Ideas in Peru’s „Fictitious Prosperity“ of Guano, 1840-1880. Berkeley usw. 1993; HERACLIO BONILLA, Guano y burguesía en el Perú. El contraste de la experiencia peruana con las economías de exportación del Ecuador y Bolivia. 3. erw. Aufl. Quito 1994. 17 Zu María Sierra Velarde (1794-1876) und ihren Kindern, insbesondere der Familie ihrer jüngsten Tochter, Enriqueta von Lotten de Garland (1826-1896), siehe auch FELIPE A. BARREDA, Los Garland, in: Revista del Instituto Peruano de Investigaciones Genealógicas 6. Jg. Nr. 6. April 1953 S. 61-78. 18 WITT, Diary, Bd. 1, S. 606. Dokumente zu Witts Ernennung sind im dänischen Nationalarchiv in Kopenhagen und im Archiv des peruanischen Außenministeriums in Lima überliefert. In beiden Archiven sind auch größere Bestände des konsularischen Schriftwechsels Witts erhalten. 19 Die Daten der Europareisen sind: 1843-1845, 1851-1852, 1854-1856, 1863, 1882-1884.
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Das Tagebuch als dokumentierte Praxis „Commenced in Lima on the 3d September 1859. Narrative of my first voyage from England to the West coast of South America, in the year 1824, copied from my diary.“20
Mit diesen Zeilen beginnt der erste Band des überlieferten Tagebuchs. Von Anfang an gibt Witt im Text Auskunft über dessen Entstehung. Im September 1859 begann er zunächst mit einer kurzen „Präambel“, in der er seinen beruflichen Werdegang bis zur Abreise nach Peru knapp skizziert, um dann auf der Grundlage seines früheren Tagebuchs eine Schilderung seiner ersten, bereits 35 Jahre zurückliegenden Atlantiküberquerung zu schreiben.21 Anschließend schilderte er seine ersten Jahre in Peru. Auf diese Beschreibung folgt, noch im ersten Band, ein umfangreicher Einschub zur Kindheit und Jugendzeit in Altona, von dem Witt eine erste Fassung bereits in den 1840er Jahren geschrieben hatte22, und schließlich, auf den restlichen Seiten des Bandes und in den weiteren Bänden, die grundsätzlich fortlaufende Erzählung von Witts Leben bis zum 29. Dezember 1890. Der Text ist fast durchgängig in Tagebuchform geschrieben, mit exakt datierten Einträgen und zum Teil sehr detaillierten Schilderungen einzelner Tagesabläufe. Für Zeiträume, zu denen Witt keine oder nur sporadische Aufzeichnungen vorlagen, verfasste er aus dem Gedächtnis und mit Hilfe von Briefen und anderen Materialien zusammenfassende Schilderungen, die durch Überschriften wie „Connecting Narrative“ oder einleitende erläuternde Worte vom restlichen Tagebuchtext abgesetzt sind.23 Wie am Anfang des ersten Bandes verzeichnete Witt auch später immer wieder die Rahmendaten der Entstehung des Tagebuchs im Text selbst. Er vermerkte die Beginndaten des Schreibens in jedem Band, hielt Schreibunterbrechungen und -wiederaufnahmen ebenso fest wie den Wechsel der Sekretäre, denen er sein Tagebuch diktierte, benannte die neben seinem Originaltagebuch herangezogenen Materialien, erläuterte seinen Umgang mit erforderlichen Übersetzungen und datierte immer wieder seine Anmerkungen und Ergänzungen, die aus der Zeit des Schreibens in den Text einflossen. Von besonderem Interesse sind hierbei, neben dem dokumentierten Schreibprozess als solchem, zunächst die Arbeit mit Sekretären und die für das Tagebuch gewählte englische Sprache.
20 WITT, Diary, Bd. 1, S. 1. 21 Ebd., Bd. 1, S. 6: „After this preamble I begin with the Diary.“ Die Präambel greift in einigen Punkten auch über 1824 hinaus und besteht zu weiten Teilen aus Informationen über Witts Vorgesetzte und Arbeitskollegen bei Gibbs sowie das Südamerikageschäft der Firma. 22 Ebd., Bd. 1, S. 370-605; Bd. 4, S. 121 f., 185. 23 Z.B. ebd., Bd. 1, S. 102, 116, 127 sowie Bd. 5, S. 321 f. und Bd. 6, S. 1 (Erläuterung eines Bruchs in der Chronologie der Darstellung, Einleitung eines zusammenfassenden Textes).
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Zur Arbeit mit Sekretären Witt litt an einer Augenkrankheit, die im Oktober 1852 zu einer dauerhaften starken Sehstörung führte.24 Zwar erblindete er (bis an sein Lebensende) nicht, doch las und schrieb er seitdem nicht mehr selbst. Er beschäftigte vielmehr in den restlichen 40 Jahren seines Lebens eine größere Zahl von Sekretären und Vorlesern verschiedener Nationalität und mit unterschiedlichen Sprachkenntnissen, die seine Korrespondenz, Geschäftsund Tagebücher schrieben und ihm Briefe, Zeitungen und Bücher vorlasen. Das überlieferte Tagebuch wurde so im Laufe der Jahre von elf Sekretären geschrieben, deren Beteiligung an der Arbeit im Text ausgewiesen und an den wechselnden Handschriften zu erkennen ist. Dennoch werde ich, um die Darstellung nicht zu verkomplizieren, auch weiterhin davon sprechen, dass Witt sein Tagebuch schrieb, zumal die Beteiligung der Sekretäre meines Erachtens die grundsätzliche Autorschaft Witts nicht in Frage stellt. Wiederholt betont Witt in der Schilderung der gemeinsamen Arbeit, dass der jeweilige Sekretär das Tagebuch nach seinem Diktat geschrieben habe.25 Nur in Bezug auf zwei größere Abschnitte in den ersten beiden Bänden beklagte Witt später, dass er seinem damaligen Sekretär zu große Freiheiten gelassen habe, so dass hier möglicherweise von einer gewissen Mit-Verfasserschaft des Sekretärs am überlieferten Tagebuch gesprochen werden kann. „The diction is so confused, one sentence is encased in the other, negligence is visible everywhere, punctuation is not thought of, and even more than once when I have had occasion to compare the copy with my original I have found small omissions and alterations, so that now, when it is too late, I much regret that at the time I allowed Mr. Coleman to remodel and copy my original without any interference on my part, – for had I interfered it is quite impossible that I should have allowed such a composition […] to pass unchallenged and uncorrected.“26
Das genaue Ausmaß der nicht nur stilistischen, sondern möglicherweise auch inhaltlichen Verantwortung des Sekretärs bleibt jedoch unklar. Auf jeden Fall bildeten Witts Originalaufzeichnungen die Grundlage auch dieser Abschnitte des Tagebuchs.27 Inwieweit sich die durch die Beteiligung der Sekretäre gegebene relative Öffentlichkeit des Schreibens in der Auswahl der erzählten Inhalte niederschlug, ist nur schwer zu beurteilen. Witts Tagebuch ist zum weit überwiegenden Teil kein explizit intimes Tagebuch, in dem insbesondere Gefühle, Selbstreflexionen, Prozesse der Entscheidungsfin24 Ebd., Bd. 5, S. 321; Bd. 6, S. 1 ff. 25 „Under my dictation“, z.B. ebd., Bd. 3, S. 227; Bd. 4, S. 342; Bd. 5, S. 88; Bd. 7, S. 661; Bd. 13, S. 459. 26 Ebd., Bd. 9, S. 777. 27 Bei einer früheren Lektüre der betreffenden Abschnitte hatte Witt von einer Reinschrift gesprochen, allerdings „many oversights“ bzw. „errors“ bemängelt (ebd., Bd. 7, S. 315 f.). – Unklar bleibt auch der Einfluss der Sekretäre auf die früheren bzw. laufenden Aufzeichnungen. So merkt Witt einmal an, dass ihm die Einarbeitung der Schilderung seiner Europareise von 1863 in das Tagebuch einige Mühe gekostet habe, da er das „blumige“ Englisch seines früheren Sekretärs überarbeiten musste (ebd., Bd. 8, S. [282]: „We had come now as far as our stay in Vichy in May 1863, which was written in Lima by Mejer, and strange to say his flowery, sometimes incorrect, sometimes very pretty English, gave me more trouble to correct to my liking than my own, no doubt in many instances inferior dictation“).
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dung etc. niedergeschrieben werden. Zwar enthält das Tagebuch durchaus eine Vielzahl introspektiver und emotionaler Passagen, im Großen und Ganzen handelt es sich jedoch um einen eher distanziert berichtenden Text, der um eine sachlich-chronistische Darstellung bemüht scheint.28 Ob dies jedoch der Arbeit mit den Sekretären geschuldet ist oder Witt sein Tagebuch auch in dieser Weise geschrieben hätte, wenn er es ohne jede fremde Hilfe verfasst hätte, lässt sich nicht mehr feststellen. Gelegentlich lassen Erläuterungen Witts zu Personen oder Gebräuchen vermuten, dass sie aufgrund einer Nachfrage des Sekretärs oder dessen von Witt angenommener Unwissenheit eingefügt wurden.
Zur Sprachenwahl im Tagebuch Sicher ist, dass die Arbeit mit Sekretären nicht der Grund für die Wahl der Sprache war. Das Tagebuch ist durchgängig in englischer Sprache verfasst, eingestreut in den Text enthält es zudem eine Vielzahl von Ausdrücken, Zitaten und gelegentlich auch kürzeren Passagen in anderen Sprachen, vor allem Latein, Deutsch, Französisch und Spanisch. Aus den Angaben im Text ergibt sich, dass Witt bereits Anfang 1824 in seinen Tagebuchaufzeichnungen vom Deutschen ins Englische wechselte. So erklärt Witt in der Präambel in Band 1, dass er bei der Aufnahme der Arbeit am Tagebuch ein ihm vorliegendes Reisetagebuch von 1823/24 nicht berücksichtigen könne, weil es auf Deutsch geschrieben sei und sein Sekretär diese Sprache nicht beherrsche.29 Dies bedeutet, dass Witt das Originaltagebuch mit der Schilderung der Atlantiküberquerung von 1824, mit der das neue Tagebuch beginnt, bereits auf Englisch geschrieben hatte. Er behielt die englische Sprache in seinen Originaltagebüchern offenbar grundsätzlich bei, so dass später nur wenige anderssprachige, vor allem deutsche Aufzeichnungen für die Einarbeitung in das neue Tagebuch übersetzt werden mussten.30 Dass es sich bei den entsprechenden Abschnitten um Übersetzungen handelte, wurde im Tagebuch vermerkt, gelegentlich beschrieb Witt auch die zum Teil komplizierten Übersetzungsprozesse. So ließ er zum Beispiel während einer Europareise Mitte der 1850er Jahre seine beiden Enkeltöchter, die mehrere Jahre zur Ausbildung in Hamburg gelebt hatten, Reisenotizen in deutscher Sprache anfertigen, die die Grundlage für eine nach der Rückkehr nach Lima ebenfalls auf Deutsch diktierte Beschreibung der Reise bildeten.31 Für die Aufnahme in das Tagebuch ließ er sich diese Reisebeschreibung dann 1875 von einem seiner Enkelsöhne vorlesen und diktierte seinem Sekretär eine englische Übersetzung, die er anschließend noch einmal überarbeitete.32 28 Hierzu siehe auch Anm. 55. 29 WITT, Diary, Bd. 1, S. 2. Erst 1880/81 gingen diese Aufzeichnungen – übersetzt und überarbeitet – in das Tagebuch ein (ebd., Bd. 9, S. 456-690). 30 Einer der beiden kürzlich wiedergefundenen Bände (siehe Anm. 4) enthält Aufzeichnungen in spanischer Sprache. Witt begründet dort den vorübergehenden Wechsel der Sprache während seiner Europareise 1843-1845 damit, dass er befürchte, andernfalls seine spanische Sprachfertigkeit zu verlieren (Eintrag 18./19.6.1844). 31 WITT, Diary, Bd. 5, S. 330, 463; Bd. 6, S. 1, 152, 178. 32 Ebd., Bd. 7, S. 731. Auch mehrere von Witts Enkelsöhnen waren zur Ausbildung in Hamburg gewesen.
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Eine ausdrückliche Erklärung Witts dazu, wieso er sein Tagebuch auf Englisch schrieb und nicht in seiner Muttersprache Deutsch oder auch auf Spanisch, seiner überwiegenden Alltagssprache in Lima, findet sich in den zehn überlieferten Bänden nicht. Der Zeitpunkt des Sprachwechsels in den Originalaufzeichnungen spricht zunächst für recht pragmatische Gründe. Englisch und Spanisch waren die Sprachen, die Witt in Südamerika benötigen würde, wobei Englisch die für ihn zum Zeitpunkt der Abreise nach Peru 1824 deutlich wichtigere Sprache war. So wurde zum einen die Korrespondenz der Südamerika-Tochter mit dem Mutterhaus von Gibbs auf Englisch geführt33, zudem war angesichts der bereits in den 1820er Jahren beachtlichen Zahl britischer Kaufleute in den neuen Republiken an der Westküste Südamerikas zu erwarten, dass Englisch die zentrale Geschäfts- und Umgangssprache unter den Ausländern in Peru sein würde, zumal für Witt, der als Angestellter eines Londoner Handelshauses dorthin kam.34 Zum anderen plante Witt bei seiner Abreise 1824, nur wenige Jahre in Peru zu bleiben und sich anschließend als Kaufmann in seiner Heimatstadt Altona niederzulassen35, wo ebenfalls Englisch deutlich wichtiger gewesen wäre als Spanisch. Nicht zuletzt wäre seine Anstellung bei Gibbs im Sommer 1823 beinahe aufgrund der Unzufriedenheit seiner Vorgesetzten mit den von ihm geschriebenen englischen und spanischen Briefen gescheitert.36 All dies legt eine Entscheidung Witts nahe, seine Beherrschung des Englischen auch dadurch zu erhalten und zu verbessern, dass er seine persönlichen Aufzeichnungen in dieser Sprache führte.37 Darüber hinaus diente die Annahme der englischen Sprache in seinem Tagebuch dem 24-jährigen Jungkaufmann wohl auch dazu, sich symbolisch in den Kreis der britischen Kaufleute einzuschreiben.38 Heinrich Witt vollzog den Wechsel jedenfalls in einem bedeutsamen Moment seines Lebens, als der Schritt in 33 Teile des Firmenarchivs von Antony Gibbs and Sons, darunter auch einige Schriftstücke von Witts Hand, sind in der Guildhall Library in London überliefert und in einer Mikroverfilmung nutzbar (The Gibbs Archive. Papers of Antony Gibbs and Sons 1744-1953. Hg. World Microfilms Publications. London o. J.). 34 Zu den britischen Kaufleuten in Lateinamerika siehe z.B. RORY MILLER, Britain and Latin America in the Nineteenth and Twentieth Centuries. London usw. 1993. 35 WITT, Diary, Bd. 1, S. 27, 298, 337. 36 Neben Witts nicht ausreichenden Sprachkenntnissen wurde auch seine schlecht lesbare Handschrift kritisiert. Die Unzufriedenheit hatte zur Folge, dass Witt nicht wie ursprünglich geplant Korrespondent in Gibbs’ etabliertem Tochterunternehmen in Gibraltar wurde, sondern ihm stattdessen vom Londoner Mutterhaus nur eine Anstellung im noch unsicheren Peru angeboten wurde (ebd., Bd. 1, S. 2; Bd. 9, S. 617 f., 622 ff., 642, 646). Das Land erlebte zu dieser Zeit noch die letzten Ausläufer des Unabhängigkeitskrieges. Zwar hatte die ehemalige spanische Kolonie im Juli 1821 ihre Unabhängigkeit erklärt, die endgültige Durchsetzung der Patrioten gelang jedoch erst nach dem entscheidenden Sieg über die spanientreuen Verbände in der Schlacht von Ayacucho im Dezember 1824. 37 Vgl. die spätere Begründung für das Schreiben in spanischer Sprache in Anm. 30. 38 Vgl. die Überlegungen zu Sprache und Identität im autobiographischen Schreiben bei JAMES CLIFFORD, Über ethnographische Selbststilisierung: Conrad und Malinowski, in: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Hg. DORIS BACHMANN-MEDICK. Frankfurt a. M. 1996 S. 194-225; sowie die Untersuchung zum Verhältnis von Sprache und Gruppenkultur(en) in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen bei JANCKE, Autobiographie als soziale Praxis (wie Anm. 12), die aufzeigt, wie die Verfasserinnen und Verfasser autobiographischer Schriften „Sprache als Moment ihrer Selbstdefinition und ihres Sozialverhaltens“ nutzten (S. 167-210, hier 210).
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eine ihm wirklich unbekannte, neue Welt vor ihm lag. Der erste Tagebucheintrag im ersten Band schildert die Ereignisse vom 20. Februar 1824, dem Tag, an dem Witt London verließ, um nach Liverpool zu reisen und sich dort nach Peru einzuschiffen.39 Als Witt 35 Jahre später mit dem Schreiben seines neuen Tagebuchs begann, wäre ein Wechsel in eine andere Sprache angesichts der Notwendigkeit der Übersetzung des größten Teils der früheren Aufzeichnungen bereits aus praktischen Gründen unsinnig gewesen. Ein Wechsel der Sprache war aber auch nach Witts Selbstverständnis nicht erforderlich. Während seines ganzen Lebens beobachtete Witt seine Sprachkenntnisse – sowie diejenigen seiner Zeitgenossen – und verzeichnete immer wieder und zum Teil äußerst selbstkritisch seine Erfolge und Misserfolge in seinem Tagebuch. Noch im hohen Alter, im Herbst 1890, äußerte er seinen Stolz, dass er seine Lebensgeschichte in einer fremden Sprache geschrieben hatte, die ihm ebenso vertraut sei wie seine Muttersprache.40 Wenige Seiten zuvor hatte er vermerkt, dass er auch Spanisch noch so gut spreche wie früher. Auch auf Französisch konnte sich der 91-Jährige noch unterhalten, wenn auch nicht mehr so flüssig, wie er es sich gewünscht hätte. Mit dem deutschen Gesandten in Lima sprach er Deutsch und mit einem seiner Enkelsöhne hatte er kurz zuvor eine lateinische Urkunde ins Spanische übersetzt. Wenn ich die Sprache des Textes also als Teil der Selbstbeschreibung Witts lese, so zeigt sich das Schreiben auf Englisch als eine Facette des im Tagebuch entworfenen Bildes eines erfolgreichen internationalen – und d.h. nicht nur britischen – Kaufmanns und gebildeten Bürgers, zu dessen Identität es gehörte, mehrere Sprachen zu beherrschen, und der diese Mehrsprachigkeit als stets von Neuem zu erfüllende Forderung an sich selbst stellte.41
Zeiten des Lebens und des Schreibens Mit der Aufnahme der Arbeit am Tagebuch im September 1859 führte Witt für einen Zeitraum von gut 20 Jahren ein Leben als zweifacher Tagebuchschreiber. Parallel zur Erarbeitung des neuen Textes diktierte er seinem jeweiligen Sekretär auch sein aktuelles, fortlaufendes Originaltagebuch. Diese Aufzeichnungen, die also bereits mit dem Wissen um ihre spätere autobiographische Weiterverarbeitung verfasst wurden, gingen zu gegebener Zeit in die neue Lebenserzählung ein. Dort, im neuen Tagebuch, näherten sich die erzählte Zeit und die Erzählzeit immer weiter an. Dabei beschleunigte sich Witts Arbeitsgeschwindigkeit immer mehr. Nachdem er im Dezember 1871 noch mit der Beschreibung seiner ersten Europareise von 1843 bis 1845 beschäftigt gewesen war42 und 39 WITT, Diary, Bd. 1, S. 6. 40 Ebd., Bd. 13, S. 566. Die folgenden Aussagen in der Reihenfolge der Nennung: ebd., S. 528, 539, 411, 545. 41 Eine Aufgabe oder gar Verleugnung seiner Muttersprache war damit für Witt nicht verbunden. Menschen, die unter Landsleuten nicht ihre Muttersprache sprachen oder diese nach langjährigem Auslandsaufenthalt nicht mehr beherrschten (bzw., nach Witts Einschätzung, dies vorgaben), kritisierte er ebenso wie diejenigen, die die Sprache des Landes, in dem sie lebten – oder auch nur reisten – nicht sprechen oder zumindest verstehen konnten (z.B. ebd., Bd. 3, S. 437; Bd. 6, S. 519; Bd. 9, S. 538). 42 Ebd., Bd. 7, S. 301: „In the remodelling and recopying of my diaries I was now about the year 1845, and was thus fearful that I should never be able to bring them up to the day.“
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im Juni 1875 zwar einerseits die Aufarbeitung seiner Originaltagebücher bis einschließlich Oktober 1858 abgeschlossen hatte, andererseits jedoch noch an der bereits erwähnten aufwendigen Übersetzung des in deutscher Sprache verfassten Reiseberichts arbeitete43, konnte er im Dezember 1877 bereits mit der Schilderung der Ereignisse des Jahres 1870 beginnen. 44 Für die Beschreibung der 1870er Jahre benötigte er schließlich nur noch gut zweieinhalb Jahre. Am 21. September 1880 erreichte Heinrich Witt im neunten Band seines neuen Tagebuchs die Gegenwart: „I had now at last concluded my task, that of remodelling my old diary and having it copied up to the day […]. What now remained to be done was to index the diary of several years, and to fill up the gap from the 1st January 1823 to February 1824, when I left in the ‘Wanderer’ for South America“.45
Diese Beschleunigung des Arbeitsfortschritts ist zum einen auf Witts veränderte Lebensumstände zurückzuführen. Da er nach dem Tod seiner Ehefrau im Mai 1876 sowohl seine geschäftliche Tätigkeit als auch seine gesellschaftliche Teilhabe drastisch reduzierte, verfügte er in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts über viel Zeit. Die Arbeit am Text ging aber wohl auch deshalb bedeutend rascher von der Hand als in früheren Jahren, weil das seit 1859 parallel geführte Originaltagebuch immer besser auf die Anforderungen des neuen Tagebuchs zugeschnitten war. Immer wieder finden sich im Text Hinweise darauf, dass die Arbeit am neuen Tagebuch dazu führte, dass Witt seine Gegenwart in Anlehnung an die gerade erarbeitete Vergangenheitsbeschreibung beobachtete und sozusagen passend in sein aktuelles Tagebuch notierte. 46 Gänzlich ohne Überarbeitung wurden auch diese Originaltagebücher nicht in den neuen Text aufgenommen. Ungeachtet seiner Befürchtung, dass er es nicht schaffen könnte, seinen Lebensbericht abzuschließen47 , spricht Witt auch für die späten 1870er Jahre in der Regel davon, dass seine früheren Aufzeichnungen überarbeitet wurden. 48 Angesichts des schnellen Arbeitsfortschritts kann es sich allerdings nicht mehr um besonders umfangreiche Überarbeitungen gehandelt haben. Nach dem Erreichen der Schreibgegenwart – und der anschließend vorgenommenen Übersetzung und Einarbeitung des 1859 ausgelassenen Reisetagebuchs von 1823/2449 – führte Witt wieder nur noch ein Tagebuch. Das laufende und das neue Tagebuch fielen in eins. Der überlieferte Text wurde jetzt zu einem grundsätzlich zeitnah und das heißt vor allem: ohne Kenntnis der Zukunft verfassten Tagebuch. Damit entspricht Witts Selbstzeugnis in seiner Endphase durchaus der modernen literaturwissenschaftlichen
43 Ebd., Bd. 7, S. 731. 44 Ebd., Bd. 8, S. [535]. Den im Text enthaltenen Angaben zum Arbeitsfortschritt ist zu entnehmen, dass etwa 70 % des überlieferten Tagebuchs in den 1870er Jahren geschrieben wurden. 45 Ebd., Bd. 9, S. 447. 46 Z.B. ebd., Bd. 8, S. [383]: „On the 1st March 1865 I gave an account of the manner I then spent my time. I will now do the same.“ – Hinzu kommt, dass die Schilderungen der Reisen in den 1840er und 1850er Jahren oft deutlich detaillierter und entsprechend umfangreicher sind als die Beschreibungen des Lebens in Lima in den 1860er und 1870er Jahren. 47 Z.B. ebd., Bd. 7, S. 731; Bd. 9, S. 323; siehe auch Anm. 42. 48 Z.B. ebd., Bd. 8, S. [220], [548], [708]; Bd. 9, 73, 151. 49 Siehe Anm. 29 und die Erwähnung dieser Lücke anlässlich des Erreichens der Schreibgegenwart.
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Definition eines Tagebuchs.50 Allerdings würde es zu kurz greifen, Witts ab dem Ende des neunten Bandes erzählte Lebensgeschichte nun als „wahrer“ bzw. weniger konstruiert als in den vorausgegangenen Bänden anzusehen. Sie ist lediglich anders konstruiert als der Rest des Textes.51
Vom Originaltagebuch zum Tagebuch Wie bei der Beschreibung der Entstehung des Tagebuchs deutlich wurde, schrieb Heinrich Witt seine früheren Aufzeichnungen nicht einfach ab, sondern nahm sie in überarbeiteter Form in die neue Lebenserzählung auf. Es gibt eine Vielzahl von Aussagen im überlieferten Text, anhand derer sich verschiedene Aspekte der Arbeitsweise Witts beim Schreiben seines Tagebuchs herausarbeiten lassen.52 So heißt es zum Beispiel, wie oben zitiert, am Beginn von Band 1, der auf die Präambel folgende Text sei „copied from my diary“. In der Schilderung des Geschehens vom Februar 1824 finden sich aber schon nach wenigen Einträgen Informationen aus der Zeit des Schreibens. So merkte Witt unter anderem an, dass er die Reise von London nach Liverpool, für die er 1824 mit der Postkutsche 36 Stunden benötigte, 1851 mit der Eisenbahn in weniger als sechs Stunden geschafft habe. Im Jahr 1859, als er diesen Text diktierte, so fügte er hinzu, ginge es vermutlich noch schneller.53 Ein paar Seiten später zeigt sich, dass auch die Beschreibungen, die direkt aus dem Jahr 1824 zu stammen scheinen, nicht notwendigerweise „original“ sind. Witt zitiert nämlich explizit wörtlich aus seinem Originaltagebuch von 1824, wodurch deutlich wird, dass der das Zitat umgebende Text im Jahr 1859 neu geschrieben wurde: „This day I seemed to have been given much to melancholy reflections, for I find the following paragraph in the diary: ‚Comparisons are odious, yet once more I cannot forbear drawing a parallel between today and this same 11th May, two years back. […]‘“54
Ebenso wie Witt wörtliche Zitate aus den alten Aufzeichnungen im neuen Text auswies, vermerkte er wiederholt, dass er Passagen aus dem Originaltagebuch bewusst ausgelassen habe. So zum Beispiel in der Schilderung einer Reise durch Peru im Jahr 1828: „In my original diary of which this is a revised copy I enlarge on a waltz which I had with D[oña] Rosita, who danced in such a manner that Moore and I were not surprised when she told us that she lived on bad terms with her husband; but now 1861 I prefer omitting the details then given.“55 50 Siehe Anm. 5. 51 Zur Kritik an einer naiven Lektüre von Selbstzeugnissen vgl. DAGMAR GÜNTHER, „And now for something completely different“. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 272. 2001 S. 25-61. 52 Eine weitere Rekonstruktion von Witt vorgenommener Veränderungen ist nun durch den Vergleich des Tagebuchs mit den beiden Originaltagebuchbänden (siehe Anm. 4) möglich. 53 WITT, Diary, Bd. 1, S. 7. 54 Ebd., Bd. 1, S. 28. 55 Ebd., Bd. 1, S. 248. Vor allem in den ersten Bänden scheint Witt insbesondere introspektive und emotionale Abschnitte nicht aus seinen früheren Aufzeichnungen in das neue Tagebuch übernommen zu haben, so z.B. ebd., Bd. 1, S. 174: „Many thoughts and reflexions kept me awake for a long
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Wie in diesen Beispielen aus dem ersten Band erarbeitete Witt sich auch in den späteren Jahren und Bänden sein neues Tagebuch: Er wählte aus, ergänzte, kürzte, korrigierte und kommentierte seine früheren Aufzeichnungen, er schrieb neu. Dass er dabei in einem so umfangreichen, thematisch so vielfältigen und während eines so langen Zeitraums entstandenen Text nicht immer dieselben Kriterien anlegte, kann da nicht überraschen. Interessant ist allerdings, dass und wie Witt sein Handeln im und mit dem Text begründet. So beantwortete er zum Beispiel die Frage nach dem Umgang mit Wiederholungen, die sich ihm bei der Erarbeitung seiner oft äußerst detailliert erzählten Lebensgeschichte immer wieder stellte, auch innerhalb eines Bandes auf unterschiedliche Weise. Zum Beispiel beschloss er in der Schilderung seiner ersten Reise nach Europa in den 1840er Jahren zunächst, keine allzu detaillierte Beschreibung eines Aufenthalts in Altona zu geben, da es sich bei dieser um eine bloße Wiederholung des bereits Geschriebenen handeln würde. 56 130 Seiten später entschied er bei der Schilderung des Besuchs einer Taubstummenschule anders: „perhaps the preceding differs but slightly from what I have said on the same subject on previous occasions […] however even if this is the case, I do not erase them, because I will rather make myself guilty of a repetition, than of an omission. [T]hese present extracts I intend to be an exact reproduction in an improved form, as to style and correctness, of all I saw and heard, of all I thought and felt at the time of my writing my original memoranda.“57
Der wiederholte Verweis auf das dem Text zugrunde liegende Originaltagebuch sollte offensichtlich dazu dienen, die Authentizität auch der im neuen Tagebuch erzählten Lebensgeschichte immer wieder zu behaupten. Keinesfalls aber erzählte Witt, wie er hier erklärt, tatsächlich ungebrochen „alles“ so, wie er es in seinen alten Aufzeichnungen vorfand. Indem er immer wieder Auskunft im Text über sein Schreiben und seine Auseinandersetzung mit seinen früheren Aufzeichnungen gibt, macht er deutlich, dass sich für ihn seine Lebensgeschichte nicht automatisch und unveränderlich aus dem alten Tagebuch ergab. Vielmehr musste er immer wieder neu entscheiden, wie er sein Leben im neuen Tagebuch erzählen wollte. Er distanzierte sich von seinem alten Text – und damit von sich selbst als früherem Tagebuchschreiber – und erarbeitete gezielt eine korrigierte, überarbeitete und seiner Meinung nach verbesserte Darstellung seines Lebens. Mit anderen Worten: Witt präsentiert sich in seinem Tagebuch als souveränen Autor seiner eigenen Lebensgeschichte. Der Autor Witt gestaltete seinen Text über das Leben des Protagonisten Witt, was er von seinem Erzähler Witt im Text angelegentlich mitteilen lässt. Indem time, but on account of them I shall spare to my reader“; und ebd., S. 661: „I wrote an exact description of the scenery before me and then fell into a train of melancholy musings with which I shall not trouble the reader, should these extracts be fortunate enough to find one, the description I copy literally, as it gives an exact idea of these mountain landscapes.“ Indem er diese Passagen nicht lediglich ausließ, sondern im neuen Text erwähnte, bestätigte er nicht nur dennoch seine eigene Emotionalität, sondern auch seine Kenntnis der Normen des Tagebuchschreibens im 19. Jahrhundert, welche eine Thematisierung von Gedanken und Gefühlen vorsahen. 56 Ebd., Bd. 2, S. 643. 57 Ebd., Bd. 2, S. 779. Als „extracts“ (aus seinem Originaltagebuch) bezeichnete Witt sein Tagebuch nur in den ersten vier Bänden. – Witt berichtet mehrfach über Besuche in Schulen und Heimen für Taubstumme sowie für Blinde. Ob es persönliche Gründe Witts für dieses Interesse gab, ist mir nicht bekannt.
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er diese Erzählerebene in sein Tagebuch einzog, gelang es Witt, die fragmentarische Tagebuchstruktur zugleich zu durchbrechen und beizubehalten. Die Erzählerfigur sichert den Zusammenhang der Lebenserzählung über jede inhaltliche und formale Uneinheitlichkeit oder gar Widersprüchlichkeit hinweg, während gerade die Offenheit der Tagebuchform es dem Autobiographen ermöglichte, sein Leben nicht nur auf eine einmal festgelegte Weise zu beschreiben.
Zur imaginierten Leserschaft Heinrich Witt schrieb seine verschiedenen Tagebücher, wie alle Verfasser von autobiographischen Texten, sicher auch für sich selbst, für die eigene Erinnerung, für die Vergewisserung oder überhaupt erst Herstellung der Kohärenz des eigenen Lebens. Darüber hinaus wollte er sich aber mit dem neuen Tagebuch auch bei anderen Menschen in Erinnerung halten bzw. in Erinnerung bringen. In jedem Band seines Tagebuchs spricht er im Text von seinen Lesern, und zwar von Lesern und Leserinnen in der Zukunft, die sich für die Vergangenheit interessieren würden: „him or her, who by chance, long after I have been laid in the grave may have the curiosity to peep into this voluminous chronicle of olden times.“58
Mit diesen zukünftigen Leserinnen und Lesern führt Witt implizit und an vielen Stellen explizit einen „Dialog“ im Text. So begründet er zum Beispiel mehrfach die Auslassung von Abschnitten aus dem Originaltagebuch damit, dass er seine Leser nicht langweilen wolle.59 Wiederholt notierte er auch Querverweise, die den Rezipienten die Orientierung im Text erleichtern sollten.60 Diese direkte Leseransprache zeigt, dass die im Tagebuch enthaltenen dialogisch-erklärenden Passagen nicht allein mit der Gesprächssituation mit dem Sekretär zu erklären sind. Eine genauere Bestimmung seiner imaginierten Leserschaft gibt Witt im Tagebuch nicht. Das wäre allerdings im Hinblick auf einen Leserkreis in der Zukunft auch nur schwer zu leisten gewesen. Zwar nennt Witt an zwei Stellen im Tagebuch sowie in seinem Testament seine Familie und Nachfahren als spätere Leser seiner Lebensgeschichte, die Leseransprachen im Text verweisen jedoch auf ein breiteres als nur ein familiäres Publikum.61 Auf jeden Fall mussten Witts potentielle Leser vielseitig und insbesondere historisch interessiert, gebildet und mehrsprachig sein – was selbstverständlich auch als Selbstbeschreibung Witts gelesen werden kann. Ausdrücklich nur englisch, nur deutsch oder nur peruanisch dachte Witt sich sein Publikum offensichtlich und trotz des durch die englische Sprache gegebenen besonderen Bezuges zu Großbritannien nicht. Denn er 58 Ebd., Bd. 5, S. 396. 59 Z.B. ebd., Bd. 3, S. 290: „I shall not try my kind reader’s patience with a copy of the same.“ 60 Z.B. ebd., Bd. 4, S. 328: „In order not to lose the connection the reader must refer to page 315 to 318 of this volume.“ 61 Ebd., Bd. 4, S. 121 f.; Bd. 7, S. 462; zum Testament siehe Anm. 5. – Ob Witt an eine Veröffentlichung seines Tagebuchs dachte, wird im Text nicht thematisiert. Die Leseransprache und die Gestaltung des Textes für die Nachwelt legen jedoch die Absicht einer zumindest posthumen Veröffentlichung bzw. breiteren Zugänglichkeit nahe.
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erklärt in seinem Tagebuch politische, gesellschaftliche und kulturelle Phänomene aus allen drei (und noch weiteren) Ländern. Dass Witt diese Erläuterungen gelegentlich mit dem Zusatz versah, dass man vielleicht später nicht mehr wisse, worum es sich handelt, zeigt, dass er von einem Wissens- oder Verstehens-Bruch zwischen sich und seinen Lesern ausging.62 Das ist vielleicht nicht erstaunlich bei einem Autor, der in seinem langen Leben im noch längeren 19. Jahrhundert vielfältige und tiefgreifende Veränderungen erlebt hat – ganz besonders, wenn auch nicht nur, weil er sein Leben in verschiedenen kulturellen Welten verbracht hat. Indem er regelmäßige und detaillierte Überblicke über die politischen Ereignisse in Peru und Europa ebenso in seine Lebenserzählung aufnahm wie Informationen über die Veränderungen der Kommunikationswege, der Wirtschaft, aber auch der Kleidermode und sozialer Gepflogenheiten, versuchte Witt, mit seinem Tagebuch nicht nur die eigene Lebensgeschichte für die Nachwelt festzuhalten, sondern zugleich in gewisser Weise ein Geschichtsbuch, zumindest aber eine Quelle für die spätere Historiografie zu schaffen.63 Gelegentliche Anmerkungen Witts, sein Tagebuch könne später vielleicht doch nur von geringem Wert sein, können dabei als Bescheidenheitstopoi gelesen werden.64 Durch sie betonte er die Bedeutung und Wertschätzung des eigenen Textes eher als sie zu relativieren.
Schreibend leben – Tagebuch und Person Es ist Heinrich Witt gelungen, die Überlieferung seines Textes für die Nachwelt zu sichern und damit seinem Tagebuch – und sich selbst – über seine eigene Lebenszeit hinaus Bedeutung zu verleihen. Wie deutlich wurde, ist das Tagebuch aber nicht nur ein Text über Witts Leben, der sozusagen jenseits des gelebten Lebens über dieses berichtet. Das Schreiben des originalen und neuen Tagebuchs stellte vielmehr als alltägliche und mit großem Aufwand an Arbeit, Zeit und Geld betriebene Praxis einen wichtigen Bestandteil des gelebten Lebens dar, dem eine eigene Gestaltungskraft in diesem Leben zukam. Tagebuch zu schreiben, strukturierte nicht nur über Jahrzehnte ganz praktisch Witts Tagesablauf, und zwar weitgehend unabhängig davon, ob er sich in Lima oder auf Reisen befand, sondern beeinflusste auch seine Wahrnehmung der Welt und sein Selbst62 Z.B. ebd., Bd 1, S. 547: „[t]his expression, understood at present, will probably require an explanation should these extracts still exist and be read half a century hence.”; ebd., Bd. 4, S. 828: „Today the 23 June 74 everybody knows who this Duke of York was, but as these my extracts, if they are preserved, as I hope they will be, may perhaps after a lapse of years be looked into by some person or other not exactly acquainted with the genealogy of the Royal Family of England, I will say that […]“. 63 Z.B. ebd., Bd. 1, S. 258: „Perhaps some day or other it may be interesting to know what in 1828 travelling cost in the interior of Perú, and I therefore subjoin a copy of my expenses.“; ebd., Bd. 6, S. 724 : „a correct account of the Slesvic-Holstein question which, of great interest in the period from 1848 to 1866 has at present in some measure fallen into oblivion; but that its details may not be entirely forgotten I have them recopied here, July 1877.“ – Eine nähere Diskussion der Selbstkonstruktion Witts als Geschichtsschreiber ist an dieser Stelle nicht möglich. 64 Z.B. ebd., Bd. 7, S. 254: „I was very desirous to leave a well written record of my life and travels, though perhaps in reality of little value.“
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verständnis. Die beinahe lebenslange ungeheure Disziplin, die dem täglichen Notieren der Erlebnisse und Gedanken sowie ihrer späteren Verarbeitung zum neuen Tagebuch zugrunde lag, kann auch als ebenso lebenslanger Prozess der Selbstdisziplinierung und damit zugleich Selbstkonstituierung gelesen werden, den Witt in seinem Tagebuch erzählt und den er im Schreiben immer wieder vollzog.65 Diese Gestaltungskraft der diaristischen bzw. autobiographischen Praxis spricht aus allen zehn überlieferten Bänden des Tagebuchs von Heinrich Witt. Besonders sichtbar wird sie im letzen Band. Während das Schreiben über das Schreiben in den früheren Bänden als ein Aspekt in der Fülle des erzählten Lebens erscheint, zeigt sich in der Schilderung des Lebens im hohen Alter umso deutlicher, wie die Praxis des Tagebuchschreibens nicht nur das Fortschreiten des Textes sicherstellte, sondern auch das Leben aufrechterhielt bzw. als berichtenswertes überhaupt erst produzierte: „Thursday, 17th March 1887. No change whatever in our way of living. Thus, to have something to say in my diary I make one or two extracts from newspapers, which in later years may be of interest.“66
Immer wieder klagte Witt nun, nichts zu sagen zu haben oder nicht schreiben zu können. Er erlebe nichts mehr oder könne sich wegen seines schlechter werdenden Gedächtnisses nicht an die Erlebnisse erinnern, und aufgrund seiner zunehmenden körperlichen Schwäche habe er nicht mehr die Kraft zu diktieren. Dieses „Nicht-schreiben-Können“, das „Nichts-zu-sagen-Haben“ wird aber, so wie im eingangs zitierten Tagebucheintrag, doch in der Regel mit recht vielen Worten gesagt bzw. diktiert. Selbstverständlich war auch die körperliche Schwäche, das schwindende Gedächtnis ein Teil von Witts Leben und daher im Tagebuch zu berichten. Dennoch ging es offensichtlich um mehr als nur die Vollständigkeit des Lebensberichts. Die Identität als Tagebuchschreiber war im hohen Alter nahezu die einzige, die Heinrich Witt geblieben war. Allerdings musste sie immer wieder schreibend aktualisiert werden.
65 Vgl. die Ausführungen zum Tagebuch als Praxis bei NICOLE SEIFERT, Von Tagebüchern und Trugbildern. Die autobiographischen Aufzeichnungen von Katherine Mansfield, Virginia Woolf und Sylvia Plath. Berlin 2008; sowie zur „Bedeutung des Schreibens als persönliche Übung“ in der antiken „Praxis des Selbst“ bei MICHEL FOUCAULT, Über sich selbst schreiben, in: DERS., Dits et écrits. Schriften in vier Bänden. Bd. IV. 1980-1988. Hg. DANIEL DEFERT/FRANÇOIS EWALD unter Mitarb. von JACQUES LEGRANGE. Frankfurt a. M. 2005 S. 503-521, hier 505 f. 66 WITT, Diary, Bd. 13, S. 113.
SOPHIE HÄUSNER
„Ich glaube nicht, daß ich es für mich behalten darf.“ Autobiographische Veröffentlichungen von Krankenschwestern zum Ersten Weltkrieg
„...ich hatte in Deutschland den größten Bucherfolg, den eine Frau dort jemals hatte. Trotzdem war es der größte Mißerfolg, den ein Buch dieser Art nur haben kann“ 1 , kommentierte die Autorin Adrienne Thomas (1898-1980) im Exil 1944 ihren Bestseller Die Katrin wird Soldat aus dem Jahre 1930.2 Sie hatte damit einen der erfolgreichsten Antikriegsromane ihrer Zeit geschrieben. In diesem verarbeitete sie ihre eigenen autobiographischen Erfahrungen in der Figur der Katrin, insbesondere ihre Tätigkeit als Rotkreuzhelferin und Krankenschwester während des Ersten Weltkrieges. Die Katrin wird Soldat bildet den Auftakt zu einer Reihe von autobiographischen Krankenschwestererinnerungen – und ist doch einzigartig: Er ist die einzige Veröffentlichung in diesem Genre mit einem pazifistischen Anspruch – ein Misserfolg, wie die Autorin später konstatierte, angesichts der Entwicklungen ab 1933. In ihrer Aussage zum eigenen Roman verbirgt sich jedoch ebenso ein Anspruch an diese Art von Literatur, die in dem Veröffentlichungszeitraum von 1930 verwurzelt war.3 1 2
3
ADRIENNE THOMAS, Nein und Ja. Vorwort in: Reisen Sie ab, Mademoiselle!. Hamburg 1982 (Ersterscheinung: 1947) S. IV. Das Vorwort ist mit „New York, Dezember 1944“ datiert. Zu ihrer Person und Gesamtwerk: KARIN SINHUBER, Adrienne Thomas. Eine Monographie. Wien 1990; ERIKA E. THEOBALD, Adrienne Thomas, in: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Hg. JOHN M. SPALEK und JOSEPH STRELKA. Bern 1989 (Band 2) S. 905-913. Unter Verwendung romantheoretischer Überlegungen, u.a. von Georg Lukács und Michail Bachtin, die literaturwissenschaftliche Untersuchung: REBECCA BIENER, Die literarische Verteidigung des kleinen Glücks am Beispiel der Autorin Adrienne Thomas. Siegen 2005. Zum Roman Die Katrin wird Soldat siehe auch u.a.: HERMAN MOENS, Die Katrin wird Soldat: A Fictionalized Diary of the First World War, in: German Women Writers 1900-1933. Twelve Essays. Ed. BRIAN KEITH-SMITH. Lewiston usw. 1993 S. 145-163; BRIAN MURDOCH, Hinter die Kulissen des Krieges Sehen: Adrienne Thomas, Evadne Price – and E.M. Remarque, in: Forum for Modern Language Studies 28. 1992 (Heft 1) S. 56-74; HELGA SCHRECKENBERGER, „Über Erwarten grauenhaft“. Der I. Weltkrieg aus weiblicher Sicht. Adrienne Thomas: Die Katrin wird Soldat (1930), in: Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Hg. THOMAS F. SCHNEIDER/ HANS WAGENER (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 53). Amsterdam usw. 2003 S. 387-398. Jean Giraudoux schrieb ein Vorwort zur französischen Ausgabe: GUY TEISSIER, Jean Giraudoux et Catherine Soldat, in: Figures Juives chez Jean Giraudoux. Ed. ANDRE JOB. Paris 1992 S. 179-184. Seit Ende 2008 wieder im Buchhandel erhältlich, mit Materialien und einem aktuellen Nachwort versehen: ADRIENNE THOMAS, Die Katrin wird Soldat und Anderes aus Lothringen. Mit einem Nachwort von GÜNTER SCHOLDT. St. Ingbert 2008. Zu ihren weiteren Büchern im Exil zum Beispiel: BRIGETTA MARIE ABEL, Identities in Flux: The Exile Novels of Adrienne Thomas, Irmgard Keun, and Anna Seghers. Ann Arbor 2000. Vgl. als Auswahl: ULRICH BARON/HANS-HARALD MÜLLER, Weltkriege und Kriegsromane. Die literarische Bewältigung des Krieges nach 1918 und 1945 – eine Skizze, in: Zeitschrift für Literatur-
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Prägend war eine Atmosphäre, in der eine „Wiederkehr des Weltkrieges“4 in der Literatur wahrgenommen wurde. Dies bezog sich parallel auf eine Wende innerhalb der Kriegsliteratur: In Abkehr von so genannten Offiziersmemoiren der Nachkriegszeit und Kriegserzählungen im engeren Sinne galt nun vermehrt der Anspruch, autobiographische Frontromane mit hohem Authentizitätsgehalt zu veröffentlichen5, die sich als „kollektives Kriegserlebnis“6 erweisen sollten. Besonders wichtig wurde, dass die Autorinnen und Autoren ihre eigene Augenzeugenschaft im Krieg betonten und dass der veröffentlichte Text die eigenen Erfahrungen wiedergab, auch wenn er in literarischen Formen geschrieben wurde.7 Erst durch die Darstellung einer realen personalen Anwesenheit im Krieg konnte beansprucht werden, einen eigenen Beitrag zum Textkorpus „Kriegsliteratur“ zu leisten. Damit wiederum wurde die Teilnahme am Kampf um die Deutungsmacht des vergangenen Krieges8 legitimiert. Diese Entwicklung lässt sich in die instabilen politischen Verhältnisse und die gesellschaftliche Atmosphäre der Zeit einbinden: „Da die Bewertung des Ersten Weltkrieges und der deutschen Niederlage untrennbar mit der Frage nach der Legitimität oder Illegitimität der (aus der Niederlage hervorgegangenen) Weimarer Republik verknüpft und dementsprechend politisiert war, lösten die Frontromane in der Krisensituation um 1930 eine erbitterte erinnerungspolitische Auseinandersetzung aus.“9
In diesem Zusammenhang entstand ein beachtlicher Korpus an Kriegstexten von Frauen, die selbst ehemalige Kriegskrankenschwestern (zumeist unter dem Roten Kreuz10) waren, wie beispielsweise der eingangs erwähnte Roman der Adrienne Thomas. Die Autorinnen beschrieben in autobiographischer Anlehnung, aber in literarischen Formen und unter Verwendung literarischer Figuren, Frauen, die bevorzugt als Krankenschwestern im Ersten Weltkrieg tätig wurden. 11 Prägend war die Verwendung von Mischformen wissenschaft und Linguistik 75. 1989 S. 14-38; JÖRG FRIEDRICH VOLLMER, Imaginäre Schlachtfelder. Kriegsliteratur in der Weimarer Republik. Eine literatursoziologische Untersuchung. Berlin 2003; KLAUS VONDUNG (Hg.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen. Göttingen 1980. 4 GREGOR STREIM, Einführung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt 2009 S. 80. 5 Ebd. 6 BARON/MÜLLER, Weltkriege (wie Anm. 3) S. 20. 7 THOMAS F. SCHNEIDER, Erwartungen von Rezensenten an Kriegsliteratur. Die Rezeption von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues, 1928-1930, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 109. 1998 S. 119-132, hier 121 f. 8 GÜNTER HELMES, Der Erste Weltkrieg in Film und Literatur – Entwicklungen, Tendenzen und Beispiele, in: Krieg und Gedächtnis. Ein Ausnahmezustand im Spannungsfeld kultureller Sinnkonstruktionen. Hg. WALTRAUD WENDE. Würzburg 2005 S. 121-149, hier 133. Zur „Deutungsmacht“ und „Kampf um Sinnstiftung“ u.a. VOLLMER, Imaginäre Schlachtfelder (wie Anm. 3) S. 4 ff. und 286 ff. 9 STREIM, Einführung (wie Anm. 4) S. 80. 10 Auffallend ist bei dieser Textgruppe die überwiegende Mehrheit von Veröffentlichungen ehemaliger Krankenschwestern, die innerhalb des Roten Kreuzes tätig wurden; es gibt nur marginal Veröffentlichungen konfessionell gebundener Kranken-/Ordensschwestern. Vgl. zu einzelnen Veröffentlichungen die Angaben in Anm. 81, 83 und 88. 11 Zu diesen Krankenschwestertexten u.a.: REGINA SCHULTE, Die Schwester des kranken Kriegers. Krankenpflege im Ersten Weltkrieg als Forschungsproblem, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 1. 1994 S. 83-100; BIRGIT PANKE-KOCHINKE, Unterwegs und doch daheim. (Über-)Lebensstrategien von Kriegskrankenschwestern im Ersten
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zwischen Tagebuch und Roman in den Veröffentlichungen ehemaliger Krankenschwestern, was für die Kriegsliteratur insgesamt in den 1930er Jahren symptomatisch war.12 Diese Formenkombination autobiographischer und doch fiktionaler Krankenschwesterschriften erfordert eine interdisziplinäre, das heißt eine geschichts- und literaturwissenschaftliche und geschlechtergeschichtliche Untersuchung, wie in meinem Dissertationsprojekt.13 Mit einer solchen Herangehensweise lassen sich die Bedeutung von Erinnerung und die Teilnahme jener Autorinnen über ihre Funktion als ehemalige Kriegskrankenschwester am Kampf um Deutungsmacht hinterfragen. Wie die gesamte Kriegsliteratur, so wurden auch diese Kriegskrankenschwestertexte aus den verschiedensten politischen Grundhaltungen und Intentionen geschrieben, einige mit großem literarischen Erfolg. Die autobiographischen Texte dieser Krankenschwestern umspannen ein breites Spektrum des „Erinnerungskampfes“, angefangen bei dem Antikriegsroman Die Katrin wird Soldat bis hin zu den Texten anderer ehemaliger Kriegskrankenschwestern, die in unterschiedlicher Intensität „(radikal-)nationalistische“ und kriegsverherrlichende Positionen vertraten.14 Die Veröffentlichungen und die Beteiligung der Autorinnen an der „erinnerungspolitischen Auseinandersetzung“ scheinen bis heute weniger wahrgenommen zu werden und weitgehend in Vergessenheit geraten. Diese Publikationen aus den 1930er Jahren werden, wenn sie überhaupt Beachtung finden, in der Forschung häufig deskriptiv verwendet, beispielsweise als Ausgangspunkt zur Erforschung der wirklichen Erfahrungen der Krankenschwestern im Ersten Weltkrieg.15 Dies verschleiert jedoch oft die beson-
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Weltkrieg in der Etappe. Frankfurt a. M. 2004; CHRISTA HÄMMERLE, Von den Geschlechtern der Kriege und des Militärs. Forschungseinblicke und Bemerkungen zu einer neuen Debatte, in: Was ist Militärgeschichte? Hg. THOMAS KÜHNE/BENJAMIN ZIEMANN. Paderborn usw. 2000 S. 229-262, hier 250 ff.; BIRGIT PANKE-KOCHINKE/MONIKA SCHAIDHAMMER-PLACKE, Frontschwestern und Friedensengel. Kriegskrankenpflege im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Ein Quellen- und Fotoband. Frankfurt a. M. 2002; PETRA STEINER, Selbstdeutungen und Missdeutungen von Frauen an der Front. Literatur von und über Krankenschwestern im Ersten Weltkrieg, in: Kritische Ausgabe 9. 2003 S. 24 f. Online unter www.kritische-ausgabe.de/hefte/krieg/steiner.pdf [Stand 16.2.2011]. Vgl. dazu: VOLLMER, Imaginäre Schlachtfelder (wie Anm. 3), insbesondere S. 32 ff. und 287; STEINER, Selbstdeutungen (wie Anm. 11) S. 24. Der vorläufige Arbeitstitel meines Dissertationsprojektes lautet: „Kriegserfahrungen von Frauen im Rotkreuzdienst während des Ersten Weltkrieges am Beispiel der autobiographischen Texte der Adrienne Thomas.“ Die nach 1933 erschienenen Bücher reihen sich dabei verstärkt in die Kriegserinnerungspropaganda der Nationalsozialisten ein. Vgl. ELLEN DE VISSER, Frau und Krieg. Weibliche Kriegsästhetik, weiblicher Rassismus und Antisemitismus. Eine psychoanalytisch-tiefenhermeneutische Literaturanalyse. Münster 1997. Und: HÄMMERLE, Von den Geschlechtern der Kriege (wie Anm. 11) S. 252 ff. So beispielsweise: BIRGIT BOLOGNESE-LEUCHTENMÜLLER, Imagination „Schwester“. Zur Entwicklung des Berufsbildes der Krankenschwester in Österreich seit dem 19. Jahrhundert, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 8/1. 1997 S. 155-177. Dies vermerkte auch schon: HÄMMERLE, Von den Geschlechtern der Kriege (wie Anm. 11) S. 252. Richtungsweisende Forschungsfragen ebd. und bei: SCHULTE, Schwester (wie Anm. 11). Daneben setzt sich PANKE-KOCHINKE, Unterwegs und doch daheim (wie Anm. 11) mit Krankenschwestertexten auseinander, die sowohl während des Ersten Weltkrieges als auch danach geschrieben wurden. Ihre Untersuchung basiert auf einem umfangreichen Quellenmaterial, jedoch steht weniger die Auseinandersetzung mit den verschiedensten Textgattungen, Entstehungszeiträumen und möglichen „Schreibkulturen“ im Vordergrund, sondern die “(Über-)Lebensstrategien von Kriegskran-
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deren Kennzeichen dieser autobiographisch und doch literarisch geschriebenen Kriegsberichte: „Autobiographische Entwürfe sind immer konstruiert, da sie Vergangenes mit der Gegenwart verbinden und ein Individuum, eine Person in Selbstreflexion entwerfen. So sagen die Texte über die Schreibsituation, Gegenwart und Zukunftsentwürfe der Autorinnen und Autoren mindestens ebenso viel wie über die beschriebene Vergangenheit aus.“16
Mit den damit verknüpften Fragen der Selbstzeugnisforschung nach dem Schreiben und auch dem Veröffentlichen von autobiographisch gefärbten Texten als kulturelle und soziale Praxis17 soll anhand Adrienne Thomas´ Die Katrin wird Soldat im Folgenden näher untersucht werden, welche Strategien und Praktiken der Authentisierung des Romans zeitgenössisch zur Verfügung standen und wie diese genutzt wurden. Dazu werden Leserbriefe und Rezensionen thematisiert18, auf deren Bedeutung schon Herman Moens verwies.19 Um Die Katrin wird Soldat (1930) historisch zu kontextualisieren und bestimmte Muster der Authentisierung erschließen zu können, wird in der Untersuchung häufiger Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1929) herangezogen.20 Beide Bücher sind Antikriegsromane und erschienen ungefähr mit einem Jahr Abstand im gleichen Verlag unter gleichen Veröffentlichungsbedingungen. Remarques Im Westen nichts Neues wurde bedeutend für die erinnerungspolitische Auseinandersetzung, da dieses Buch „auf literarischem Gebiet den finalen Kampf um die Deutungsmacht über den Ersten Weltkrieg [...] auslöst[e].“21 Die Debatten um Im Westen nichts Neues waren der Öffentlichkeit weitgehend bekannt und waren ausschlaggebend für die Atmosphäre, in der dann Die Katrin wird Soldat geschrieben, vermarktet und gelesen wurde. Die textimmanenten Strukturen der Katrin wird Soldat zur Authentizitätsbildung werden im Folgenden Erwähnung finden, der Schwerpunkt liegt jedoch auf Fragen nach authentisierenden Mustern, die sich im Umfeld des Textes befinden können. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen somit die Vermarktungspraktiken und die Vorbildfunktion des Romans. Dementsprechend sollen in einem zweiten Teil diese Strategien und
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kenschwestern im Ersten Weltkrieg“. Zu den Texten nach 1933 vgl. auch Anm. 14. Bibliographische Verweise und Textauszüge im Quellenband: PANKE-KOCHINKE/SCHAIDHAMMER-PLACKE, Frontschwestern und Friedensengel (wie Anm. 11). ANGELIKA SCHASER, Einleitung, in: Erinnerungskartelle. Zur Konstruktion von Autobiographien nach 1945. Hg. DIES. Bochum 2003 S. 7-16, hier 10. GABRIELE JANCKE/CLAUDIA ULBRICH, Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, in: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. Hg. DIES. Göttingen 2005 S. 7-27. Vgl. dazu auch die Einleitung in: GABRIELE JANCKE, Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Köln usw. 2002, hier S. 1-31. Zur Auseinandersetzung mit den Rezensionen und Leserbriefen vgl. auch: MOENS, A Fictionalized Diary (wie Anm. 2); SINHUBER, Adrienne Thomas (wie Anm. 2) S. 95 ff.; und das Nachwort von SCHOLDT in der Katrin wird Soldat-Ausgabe von 2008 (wie Anm. 2) S. 453-508, hier 472 ff. MOENS, A Fictionalized Diary (wie Anm. 2). ERICH MARIA REMARQUE, Im Westen nichts Neues. Berlin 1929. Zum Vergleich E. M. Remarque und Adrienne Thomas: MURDOCH, Hinter die Kulissen des Krieges Sehen (wie Anm. 2). Wie auch: SCHOLDT, Nachwort (wie Anm. 18) S. 480 ff.; und: BIENER, Die literarische Verteidigung des kleinen Glücks (wie Anm. 2) S. 146 ff. HELMES, Weltkrieg in Film und Literatur (wie Anm. 8) S. 133.
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Praktiken in Beziehung zu den danach veröffentlichten Krankenschwestertexten in den 1930er Jahren gesetzt und der Frage nach dem kollektiven Charakter solcher Authentizitätssignale nachgegangen werden. Das Antikriegsbuch Die Katrin wird Soldat erschien 1930. Darin vermittelt Adrienne Thomas die Sinnlosigkeit des Krieges über die Entwicklung der Protagonistin Katrin. Der Text gliedert sich in drei Teile und beginnt mit der Vorkriegszeit. Am Ende des zweiten Teils wird vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges erzählt. Der dritte und umfangreichste Abschnitt behandelt Katrins Erlebnisse im Ersten Weltkrieg bis zu ihrem Tod im Dezember 1916. Wie die Autorin selbst stammt Katrin aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Metz und meldet sich mit Beginn des Ersten Weltkrieges freiwillig zum Rotkreuzdienst. Katrin befindet sich in diesem „Vaterlandsdienst“, wie ehemals Adrienne Thomas, als Rotkreuzschwester im Ersten Weltkrieg in unmittelbarer Nähe zur Front, in Metz und Umgebung. Sie ist zunächst im Bahnhofs- und Lazarettdienst, später auf verschiedensten Krankenstationen tätig. Der Roman beschreibt, wie, bedingt durch Katrins Erfahrungen in diesem weiblichen Kriegsdienst, aus dem einst lebensbegeisterten und musisch hochbegabten Mädchen eine desillusionierte hoffnungslose junge Frau wird. Dies wird allerdings nicht nur an der Protagonistin, sondern auch an anderen Personen ihrer Generation deutlich gemacht, insbesondere an Lucien, in den sich Katrin verliebt hat. Beide überleben den Krieg nicht, Lucien verstirbt an einer Kriegsverletzung, Katrin an einer schweren Infektion. Dieser pazifistische Roman avancierte sehr schnell zu einem Bestseller und wurde als „weibliches Pendant zu Remarque“ 22 gehandelt. Er erreichte nicht nur im deutschen Sprachraum mehrere hohe Auflagen23, sondern wurde auch mit viel Erfolg noch in den dreißiger Jahren in andere Sprachen übersetzt.24 1933 wurde er von den Nationalsozialisten verboten und fiel der Bücherverbrennung zum Opfer. Adrienne Thomas konnte zunächst nach Österreich, später nach Frankreich emigrieren. Sie wurde 1940 in Gurs interniert, konnte jedoch aus dem Internierungslager wieder fliehen und sich mit Hilfe von Freunden nach New York retten. Dort gehörte Adrienne Thomas zu den wenigen Künstlerinnen, die in ihrem Beruf weiter tätig sein konnten. Sie schrieb unter anderem für das Free World Magazine, veröffentlichte über den Exilverlag „Allert de Lange“ weitere Bücher, wie 1938 Katrin! Die Welt brennt! und konnte 1944 ihren Roman Reisen Sie ab, Mademoiselle! fertigstellen. 25 In den USA lernte sie ihren späteren Ehemann Julius 22 Vgl. als Beispiel den Leserbrief von Dr. jur. Wera Basse in der Ausgabe der Vossischen Zeitung vom 28. September 1930. Darin hieß es: „Dank für dieses weibliche Im Westen nichts Neues!“ Vgl. auch: MOENS, A Fictionalized Diary (wie Anm. 2) S. 157 und: den Materialanhang in der Katrin wird Soldat-Ausgabe von 2008 (wie Anm. 2) S. 379 f. 23 Vgl. SCHOLDT, Nachwort (wie Anm. 18) S. 459: Nach zwei Wochen waren 15.000, nach fünf Monaten schon 100.000 Exemplare verkauft. Bis 1932 verdoppelten sich noch einmal die Absatzzahlen. 24 Es gibt unter anderem Übersetzungen ins Englische, Französische, Italienische, Niederländische, Tschechische und Hebräische. Vgl.: MOENS, A Fictionalized Diary (wie Anm. 2) S. 156. 25 ADRIENNE THOMAS, Reisen Sie ab, Mademoiselle! Amsterdam 1947 (Vgl. Anm. 1). Mit diesem Roman beschäftigt sich u.a.: SABINE ROHLF, Exil als Praxis – Heimatlosigkeit als Perspektive? Lektüre ausgewählter Exilromane von Frauen. München 2002, hier S. 187-240. Weitere veröffentlichte Bücher von ADRIENNE THOMAS: Dreiviertel Neugier. Amsterdam 1934; Katrin! Die Welt brennt!.
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Deutsch, einen österreichischen Politiker und Sozialisten, kennen, mit dem sie 1947 nach Wien zurückkehrte26, wo sie bis zu ihrem Tod am 7. November 1980 lebte. Sie schrieb nun bevorzugt Kinderbücher27 und Essays für verschiedene Tageszeitungen. Diese wurden teilweise in der Sammlung Da und Dort (1950) veröffentlicht, ihre früheren Bücher wurden neu aufgelegt. Auch außerhalb ihrer literarischen Tätigkeit engagierte sich Adrienne Thomas als Schriftstellerin. So war sie seit 1948 Mitglied des österreichischen PEN-Clubs. Am 25.6.1973 wurde ihr vom österreichischen Unterrichtsministerium der Professorinnentitel verliehen. 28 Heutzutage ist sie jedoch weitgehend in Vergessenheit geraten. Erst nach der Veröffentlichung ihrer Aufzeichnungen aus den Kriegsjahren 1915/191629 ist seit Ende 2008 ihr berühmter Antikriegsroman Die Katrin wird Soldat in einem Sammelband mit anderen Schriften wieder im regulären Buchhandel erhältlich.30 Adrienne Thomas´ Roman erschien, wie auch schon Remarques Welterfolg, im Ullstein-Konzern. Zunächst wurde er in mehreren Fortsetzungen in der Berliner Vossischen Zeitung abgedruckt (vom 23. Juli 1930 bis zum 30. August 1930) und anschließend im Propyläen-Verlag (November 1930), der wie die Vossische Zeitung zum Ullstein-Konzern gehörte, als Buch veröffentlicht. Anfangs war weder beim abgedruckten Text in den Zeitungsausgaben, noch in weiteren Ankündigungen angegeben, dass es sich um einen autobiographisch gefärbten Roman handelte. Auch wurde zunächst in der Vossischen Zeitung nicht ausgeführt, wer die Autorin sei und welche Schreibmotivation sie besaß.31 Trotzdem entspann sich nach Abdruck des letzten Teils in der Vossischen Zeitung eine vehemente Debatte um den Wahrheitsgehalt des Geschriebenen über abgedruckte Leserbriefe. Zum einen lässt sich dies mit dem Text und seinem besonderen Format erklären. Der Roman war in Tagebuchform geschrieben, so dass er als historischer Bericht gelesen werden konnte. Die Tagebucheinträge sind so gestaltet und formuliert, dass der Eindruck entsteht, sie wären zeitnah zum geschilderten Erlebnis und wirklich von der Protagonistin Katrin geschrieben worden. Es gibt beispielsweise häufiger Beschreibungen zu Geschehnissen, die während des aktuellen Eintrages passieren: „Was ist das? Jetzt, während ich schreibe, ein furchtbarer Knall – und noch einer. Ganz nah. Sie beschießen den Bahnhof, die Post –.“32 Durch den Einsatz von Textstrukturen, die bei-
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Amsterdam 1936; Ein Fenster am East River. Amsterdam 1945; Da und Dort. Wien 1950. Adrienne Thomas war ebenfalls im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur erfolgreich: Andrea. Eine Erzählung von jungen Menschen. Basel usw. 1937; Viktoria. Eine Erzählung von jungen Menschen. Basel usw. 1937; Von Johanna zu Jane. Amsterdam 1939 (erschien später als Wettlauf mit dem Traum. Amsterdam 1939). Weitere: siehe Anm. 27. Nach THEOBALD, Adrienne Thomas (wie Anm. 2) S. 905 f. lebte Adrienne Thomas schon vorher, nach Aufenthalten in der Schweiz und Frankreich, von 1935-1938 in Wien. 1938 flüchtete sie von dort aus nach Frankreich. ADRIENNE THOMAS, Ein Hund ging verloren. Eine Erzählung für die Jugend. Heidelberg 1953 (1973 unter dem Titel: Ein Hund zweier Herren); DIES., Markusplatz um vier. Wien 1955. Vgl. die Angaben bei: THEOBALD, Adrienne Thomas (wie Anm. 2) S. 913. ADRIENNE THOMAS, Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg. Ein Tagebuch. Hg. GÜNTER SCHOLDT. Köln usw. 2004. Eine vergleichende Auseinandersetzung zwischen Tagebuch und Roman (Die Katrin wird Soldat) wird auch in meiner Dissertation vorgenommen. Vgl. Anm. 2. MOENS, A Fictionalized Diary (wie Anm. 2) S. 151 f. ADRIENNE THOMAS, Die Katrin wird Soldat. Berlin 1930 S. 158.
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spielsweise durch Satzabbrüche, Ausrufe, einen Telegrammstil und viele Formen der Interpunktion33 gekennzeichnet sind, wird nicht nur die Emotionalität der Aussagen, sondern auch die Spontaneität des Geschriebenen vermittelt34: „Und in der Luft liegt so ein unbändiges, tolles Glücksgefühl: das da ist meine Heimat – und ich bin jung – und einmal muß – muß dieser Krieg doch zu Ende sein.“35 Daneben sind es bestimmte positionierte Erzählstrategien, die diesen Textcharakter verstärken. So schließt der Roman mit einem Nachwort ab, in dem von der Freundin der Protagonistin, Suzanne, der Leserschaft mitgeteilt wird, dass Katrin verstorben sei und ihr dieses Tagebuch hinterlassen hätte. Das Nachwort schließt mit den Worten – und damit endet auch der gesamte Roman: „Ich glaube nicht, daß ich es für mich behalten darf.“ Damit wird der Leserin/dem Leser, wenn auch auf fiktionaler Ebene, der Grund für die Veröffentlichung erklärt und sie/er wird durch diesen Schluss eingebunden, den wahren Gehalt des Buches zu erkennen.36 Es sind aber ebenso äußere Rahmenbedingungen, die für diese Debatte verantwortlich waren und die sich auf die schon in der gleichen Zeitung vorher stattgefundene Diskussion der Leserschaft um Remarques Bestseller zurückführen lassen. 37 Dadurch war ein Kommunikationsraum zum Debattieren eröffnet, der nun auch auf andere Kriegserinnerungen angewendet wurde. Die Möglichkeiten hierzu schufen die Herausgeber der Vossischen Zeitung, indem sie sowohl positive als auch kritische Meinungen abdruckten38 und anhand von selbst gewählten Überschriften gliederten: Diese lauteten in ihrer Reihenfolge: Kathrin übertreibt39 oder Hat Kathrin übertrieben?40, Dank an Kathrin41, 33 34 35 36 37
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BIENER, Die literarische Verteidigung des kleinen Glücks (wie Anm. 2) S. 130 f. Ebd. THOMAS, Katrin (wie Anm. 32) S. 276. Vgl. SCHOLDT, Nachwort (wie Anm. 18) S. 472. Im Westen nichts Neues wurde in der Vossischen Zeitung vom 10. November bis 9. Dezember 1928 abgedruckt und Ende Januar 1929 als Buch im Propyläen-Verlag veröffentlicht. Die Debatten um dieses Buch erstreckten sich in verschiedenen Medien über einen längeren Zeitraum: So verwendet SCHNEIDER, Erwartungen von Rezensenten (wie Anm. 7) als Grundlage für seine Untersuchung „435 Rezeptionszeugnisse zu Im Westen nichts Neues aus dem Zeitraum November 1928 bis Dezember 1930“ (ebd. S. 123). Diese Vorgehensweise des Ullstein-Konzerns wurde schon bei Remarques Im Westen nichts Neues angewandt: ANGELIKA HOWIND, Ein Antikriegsroman als Bestseller. Die Vermarktung von Im Westen nichts Neues 1928-1930, in: Erich Maria Remarque 1898-1970. Hg. TILMAN WESTPHALEN. Bramsche 1988 S. 55-64, hier 60. Ausgabe der Vossischen Zeitung vom 21. September 1930. Der Grund für die unterschiedlichen Schreibweisen Kathrin oder Katrin konnte bis jetzt nicht eindeutig geklärt werden. „Kathrin“ taucht in den von der Redaktion gewählten Überschriften und womöglich im Schreibstil angeglichenen Leserbriefen in der Vossischen Zeitung (im September/Oktober 1930) auf. In den abgedruckten Fortsetzungen des Romans, ebenfalls in der Vossischen Zeitung (vom 23. Juli 1930 bis zum 30. August 1930) erschienen, und in der veröffentlichten Buchform wird im Titel und im Text „Katrin“ verwendet. Im Roman ist daneben an einigen Stellen auch der Name „Cathérine“ für die Protagonistin vorhanden. Die Verwendung von „Katrin“ und „Cathérine“ für die gleiche Person im Text unterstreicht dabei die beschriebene räumliche Atmosphäre der deutsch-französischen Grenzsituation im Roman. Ähnlich verfährt auch die Mehrheit der bis jetzt untersuchten Rezensionen; auch hier wird sowohl „Katrin“ als auch „Cathérine“ gebraucht. In den zahlreichen Werbeanzeigen des Verlages und in den Selbstaussagen der Autorin ist immer von „Katrin“ die Rede. Ausgabe der Vossischen Zeitung vom 28. September 1930. Ausgabe der Vossischen Zeitung vom 5. Oktober 1930.
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bis hin zu der Frage Ist Kathrins Tagebuch historisch?42 Damit wurde die historische Relevanz des Buches geschürt und politisiert43 und entsprechend auch die Auswahl und Reihenfolge der Leserbriefe darauf abgestimmt. Die Leserbriefe nahmen aufeinander Bezug und diskutierten insbesondere als wesentlichen Aspekt, ob der Text als wichtiger Bestandteil der Kriegsliteratur eingeschätzt werden konnte.44 Ausschlaggebend dafür war der Nachweis von Authentizität, die man in den Inhalten des Textes vermutete und an vorgeblich autobiographischen Rahmenkonstruktionen festmachte. Den Auftakt der Debatte in der Vossischen Zeitung bot der Leserbrief eines Herrn Dr. W. Klink, der sich zunächst selbst als Augenzeuge positionierte. Er betonte, dass er genau wie die Protagonistin Katrin in einem Metzer Lazarett tätig gewesen sei, und er sei „ebenso erstaunt gewesen, wie andere Metzer Einwohner, zu lesen, was wir dort alles erlebt haben. Ein kleines Beispiel: Kathrin schreibt, die Kaiserin hätte alle Metzer Lazarette besucht, ausgenommen das von Juden geleitete, in dem alle Konfessionen gepflegt wurden. In Wahrheit hat die Kaiserin nur das Garnisonlazarett und das in der Nähe gelegene Diakonissenhaus besucht.[...]“45
Anhand dieses Beispiels wird in den weiteren Leserbriefen die Historizität des Romans debattiert.46 So hieß es am 12. Oktober unter der Überschrift Ist Kathrins Tagebuch historisch?: „[...] Der Roman ist als Tagebuch formuliert, das detaillierte Angaben über die Kriegsschicksale eines Grenzgebietes enthält. Ein solches Werk unterliegt nicht nur einer literarischen, sondern auch einer historischen Beurteilung. [...] In dem Roman von Adrienne Thomas wird eine Angabe gemacht, die ein durchaus unerfreuliches Licht auf die verstorbene Kaiserin wirft. Die Mitteilung ist, wie jetzt festgestellt wird, unrichtig und beruht lediglich auf einem Gerücht. [...]“47
Positive Reaktionen würdigten dagegen den Roman als echtes, wahres Zeugnis und betonten, historische Kleinigkeiten oder auch Ungenauigkeiten seien unerheblich gegenüber dem unmittelbaren und echten Gehalt: „Berlin, 1. Oktober Offen gesagt: ich verstehe es nicht, wie man nach der Lektüre des Romans „Die Kathrin wird Soldat“ von Adrienne Thomas Erwägungen darüber anstellen kann, ob einzelne der geschilderten Vorgänge sich grade so zugetragen haben. Das ist doch denkbar unwesentlich gegenüber der Stärke dieses Buches, das in seiner wunderschönen einfachen Sprache so unmittelbar wirkt, daß man es nur aufgewühlt und erschüttert aus der Hand legen kann. Werke von sol-
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Ausgabe der Vossischen Zeitung vom 12. Oktober 1930. HOWIND, Antikriegsroman (wie Anm. 38) S. 60. SCHNEIDER, Erwartungen von Rezensenten (wie Anm. 7) S. 130. Ausgabe der Vossischen Zeitung vom 21. September 1930 unter der Überschrift „Kathrin übertreibt“ (Leserbrief datiert: „Berlin, 16. September“). Vgl. im Folgenden zu den Leserbriefen und Rezensionen auch den Materialanhang in der Katrin wird Soldat-Ausgabe von 2008 (wie Anm. 2) S. 379 ff. 46 Vgl. MOENS, A Fictionalized Diary (wie Anm. 2) S. 156 ff. 47 Leserbrief von Dr. Ernst Emil Schweitzer (datiert: „Berlin, 5. Oktober“) in der Ausgabe der Vossischen Zeitung vom 12. Oktober 1930.
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cher Echtheit und Tiefe werden uns selten beschert, und deshalb, meine ich, könnten wir nichts Besseres tun, als der Autorin dafür danken. Liese Riesebeck“.48
Es ging in dieser Diskussion um mehr als um die literarische Beurteilung eines Romans, wie es der Leserbrief von Ernst Emil Schweitzer49 selbst formulierte. Die Leserinnen und Leser gingen mit gezielten Ansprüchen und Vorstellungen an Die Katrin wird Soldat und bestätigten oder verneinten die Darstellung von Wahrheit und Historizität in den Erinnerungen.50 Denn wenn nachgewiesen wurde, es wäre etwas fehlerhaft dargestellt, dann konnte auch der authentische Gehalt des Werkes und somit seine Zuordnung zur Kriegsliteratur, wie sie zu dieser Zeit gefordert wurde, angezweifelt werden.51 Der Autorin konnte nicht nur unterstellt werden, sie stelle den Krieg „falsch“ dar, sondern dass sie ihn auch gar nicht selbst unmittelbar erlebt hätte.52 Damit fielen zwei für die Kriegsliteratur grundlegende Aspekte – die Augenzeugenschaft und die Wahrhaftigkeit der Aussagen – weg. Der Roman wurde dann allein als literarische Bearbeitung angesehen, aber nicht als wichtiges historisches Dokument erachtet.53 Diese Auseinandersetzung führte schon bei Remarque zu seltsamen und heute eher belustigenden Ausführungen, in denen (auch unter Beteiligung von Veterinären) darüber verhandelt wurde, ob verwundete Pferde überhaupt „schreien“ könnten, wie es der Roman beschrieb.54 Solche Debatten machen die hegemoniale Bedeutung der Zuweisung von Authentizität auf der Grundlage von autobiographischen Konstruktionen bei dieser Art von Kriegsliteratur mit ihren Ansprüchen deutlich.55 Der autobiographische Gehalt wird bei der Debatte um Die Katrin wird Soldat zunächst vorausgesetzt und daran der Wahrheitsgehalt der Schilderungen überprüft. Dabei fällt auf, dass die Protagonistin, Katrin, so scheint es, häufig keine literarische Figur mehr ist, vom Roman ist hier auch immer weniger die Rede, sondern Katrin wird als wahre Augenzeugin, als wahre Verfasserin des Tagebuchs, in den Mittelpunkt gerückt. Die Autorin tritt dabei mit ihrem Namen und in ihrer Bedeutung als Schriftstellerin in den Hintergrund, wird häufig gar nicht benannt. So begann der Leserbrief des Herrn Dr. Klink mit folgenden Worten: „Kathrin war zweifellos eine tüchtige Person, ehe sie Soldat wurde, und nachher. Aber ihr Gedächtnis hat sie bei dem nachträglichen Niederschreiben ihres Tagebuchs arg im Stich gelassen.“56 Andere, wie eine Dr. jur. Wera Basse, gebrauchten Formulierungen wie: „Dieses Grauen des Kriegs hat die Kathrin erlebt – sie hat es meisterlich gezeigt.“57 48 Leserbrief von Liese Riesebeck in der Ausgabe der Vossischen Zeitung vom 5. Oktober 1930 unter der Überschrift „Dank an Kathrin“. 49 Vgl. Anm. 47. 50 SCHNEIDER, Erwartungen von Rezensenten (wie Anm. 7) S. 131. 51 Ebd. S. 129. 52 Ebd. S. 128 ff. 53 Ebd. S. 129. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Vgl. Anm. 45. 57 Ausgabe der Vossischen Zeitung vom 28. September 1930 (datiert: „München, 22. September“). Vgl. auch: MOENS, A Fictionalized Diary (wie Anm. 2) S. 157.
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Die Autorin selbst schürte solche Einschätzungen in der öffentlichen Diskussion. So schrieb sie beispielsweise einen eigenen „Leserbrief“ an die Vossische Zeitung und mischte sich damit in die laufende Diskussion um ihren Roman ein. Dieser antwortete auf die Frage Hat Kathrin übertrieben?: „Berlin, 24. September Nein. Das hat sie nicht. Ich habe mit voller Absicht alle wahren, halbwahren und falschen Gerüchte aus meinen keineswegs nachträglich konstruierten Kriegsaufzeichnungen übernommen. Grade das unwahre Gerücht ist eine plastische Illustration dieser Zeit. Ich bin glücklich, daß ich aller Besserwisserei eine Gelegenheit zu langersehnter Betätigung gegeben habe. Adrienne Thomas“58
Dieser Leserbrief ist nicht extra positioniert. Er ist weder als besondere Reaktion der Autorin gekennzeichnet noch wird explizit auf ihn verwiesen, sondern er befindet sich mit im „Fluss“ der anderen Leserbriefe. Dies ist an sich schon eine interessante Strategie, denn dadurch hebt sie sich nicht als Autorin ab, sondern diskutiert mit in der Leserschaft und kann dadurch unterschwellig jene Botschaften von „keineswegs nachträglich konstruierten Kriegsaufzeichnungen“ transportieren. Dabei steuerte die Autorin die Einschätzung ihrer Aussagen, indem sie das „unwahre Gerücht“ gerade als Beweis für den Wahrheitsgehalt ihres Textes und gegen eine literarisch konstruierte Bearbeitung anführte. Sie bestätigte außerdem den von der Leserschaft wahrgenommenen autobiographischen Gehalt. Es ist bei ihren Authentisierungsstrategien nicht mehr nachvollziehbar, ob dieses Vorgehen auf eigene Initiative der Autorin erfolgte oder ob dies mit in die breit angelegte Werbekampagne des Propyläen-Verlages beziehungsweise Ullstein-Konzerns integriert war, die vor Veröffentlichung des Romans in Buchform geschaltet wurde.59 Aber es scheint in jedem Fall im Interesse von Adrienne Thomas gewesen zu sein. Denn dies sollte nicht ihre einzige öffentliche Stellungnahme bleiben. Auch in der sich nach Veröffentlichung ihres Romans in Buchform Ende November 1930 entzündenden Debatte in fast allen großen deutschen Zeitungen und Magazinen60, die sich mit dem pazifistischen Gehalt und der Darstellung des Krieges aus der Sicht einer Frau beschäftigten und auseinandersetzten61, brachte sich Adrienne Thomas ein. So positionierte sie wohlüberlegt eine Selbstanzeige, in der insbesondere Literaten – und somit den Rezensenten – bekannten Zeitschrift Das Tagebuch: „Ich habe niemals ein Buch schreiben wollen. Denn ich wehrte und verschloß mich gegen das Gestern, fand, das Heute zu überwinden stelle schon Anforderungen genug. Aber an einem unausgefüllten Abend stöberte ich in Notizen, Zetteln, Briefen, Kindertagebüchern, Kriegs- und Vorkriegsaufzeichnungen. Eigentlich zu dem Zweck, diesen unnötigen 58 Ausgabe der Vossischen Zeitung vom 28. September 1930. Vgl. auch: MOENS, A Fictionalized Diary (wie Anm. 2) S. 157. 59 Ausführlicher zur Werbekampagne: MOENS, A Fictionalized Diary (wie Anm. 2) S. 151 ff. Diese Annoncen begannen ca. im Oktober 1930. Die Steuerung und Beeinflussung der Diskussion durch Marketing-Kampagnen des Ullstein-Konzerns zeigte schon die Veröffentlichung von Im Westen nichts Neues auf: Vgl. SCHNEIDER, Erwartungen von Rezensenten (wie Anm. 7). 60 Dazu z.B.: MOENS, A Fictionalized Diary (wie Anm. 2) und: SINHUBER, Adrienne Thomas (wie Anm. 2) S. 95 ff. 61 SCHRECKENBERGER, Der I. Weltkrieg aus weiblicher Sicht (wie Anm. 2) S. 389.
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Ballast zu vernichten. Aber ich stöberte, blätterte, las, fand mich plötzlich am Schreibtisch, und in dieser Nacht wurden die ersten Seiten zur ‚Katrin‘ geschrieben. […] Ich habe kein Kriegsbuch geschrieben. Ich verstehe kaum etwas von Politik. Mein Buch wurde fast von selber. Und das haben alle Mädchen und Frauen gedacht: ‚...mich kümmert kein Sieg und kein Ruhm – ich will nur nicht, daß man in diese sonnigsten Augen der Welt hineinschießt.‘ Alle haben wir es gedacht, nur nicht gewagt es auszusprechen. […] Aber verloren ging eine Generation. Und das ist es, was die ‚Katrin‘ ihren Altersgenossen von heute zu sagen hat: sie alle haben ein großes und wirkliches Recht auf ihre Jugend, auf den Frieden.“62
In den kommenden Monaten veröffentlichte Adrienne Thomas weitere Selbstanzeigen, häufig mit ähnlichem Inhalt. Einen dieser Texte weist Herman Moens in einer der Werbebroschüren des Propyläen-Verlages vom März oder April 1931 nach.63 Günter Scholdt erwähnt ausführlicher unter anderem eine Selbstanzeige Adrienne Thomas‘, erschienen 1931 in der Zeitschrift Die Friedensfront.64 Allgemein lässt sich festhalten: Auf geschickte Weise unterstrich Adrienne Thomas wiederholt an mehreren der Öffentlichkeit zugänglichen Stellen nicht nur die Glaubwürdigkeit ihres Augenzeuginnenberichtes, sondern dass er auch als solcher gelesen und verstanden werden sollte.65 Zu diesen Authentizitätssignalen können somit nicht nur textimmanente Mittel und Verfahren gezählt werden. Dabei ist bemerkenswert, dass und wie sich die Autorin selbst in die Diskussion einbrachte – und zwar nicht nur über ihren Text, in möglichen Vor- und Nachworten – sondern mittels eines eigenen „Leserbriefes“ und in mannigfaltigen Kommentaren zum eigenen Werk. Dadurch ermöglichte sie sich, die neue Information „hineinzustreuen“, dass ihr Roman auf wahren, eigenen Erlebnissen und eigenen historischen Dokumenten basierte. Dies wurde dann auch von den nachfolgenden Rezensionen übernommen. So hieß es zum Beispiel: „[...] Dies ist kein Roman! Dies ist ein Dokument. Einmal wird man auch diese furchtbaren ‚Quellen‘ in die Historie eingehen lassen, wenn auch die Frau den Schrei ihres Herzens in die Waagschale der Geschichte werfen darf. [...]“66
Diese Bemerkung stand für eine Vielzahl ähnlicher Aussagen in Rezensionen. Auch andere Autorinnen und Autoren meldeten sich öffentlich zu Wort und gaben Kommentare ab, häufig mit Bezug auf eine geschlechterorientierte Perspektive, wie beispielsweise Clara Viebig, die urteilte, der Roman sei: „Von einer unheimlichen Echtheit, von einer schlichten Wahrhaftigkeit, die unsre Frauen-, unsre Mutterseele mit beiden Händen ergreift... Ja, das müssen wir lesen!“67 Selbst in literaturwissenschaftlich orientierten Zeit62 Aus: Das Tagebuch, Berlin 27. Dezember 1930, Heft 52, Jahrgang 11. Vgl. auch: SCHOLDT, Nachwort (wie Anm. 18) S. 462 f. 63 MOENS, A Fictionalized Diary (wie Anm. 2) S. 150. 64 SCHOLDT, Nachwort (wie Anm. 18) S. 473 f. Und im Materialanhang in der Katrin wird Soldat-Ausgabe von 2008 (wie Anm. 2) S. 373 f. 65 SCHOLDT, Nachwort (wie Anm. 18) S. 473 f. 66 Aus: Neue Zürcher Zeitung, Ausgabe vom 20. Mai 1931. Vgl. dazu auch den Materialanhang in der Katrin wird Soldat-Ausgabe von 2008 (wie Anm. 2) S. 394 f. und: MOENS, A Fictionalized Diary (wie Anm. 2) S. 156. 67 Abgedruckt mit anderen positiven Aussagen von Schriftstellerkolleginnen und -kollegen und Leserbriefauszügen in einer Werbeanzeige des Verlages in der Berliner Illustrirte Zeitung vom 25. Febru-
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schriften, wie in der Literarischen Welt, ist von Echtheit, Wahrheit, vom Dokumentencharakter die Rede68, so schrieb dort Axel Eggebrecht: „[...] In der unübersehbar gewordenen Literatur des Krieges wird dies eigenwillige und aufrichtige Buch bestehen bleiben als eins der wichtigsten Dokumente: Durch seine Ehrlichkeit und durch seine innige Einfachheit.“69
Die Rezensionen stellten ebenso wie die Autorin selbst den wahren, echten Gehalt, den dokumentarischen Charakter und damit die historische Relevanz des Romans als zentrale Aspekte heraus. Dies mündete dann in der Einschätzung, dieser Text verdiene nicht nur als einzelner Schicksalsbericht wahrgenommen zu werden, sondern er sei als Erinnerungsbuch zu lesen, das für eine ganze Kriegsgeneration stehe. Genau diesen grundlegenden Anspruch, ein kollektives Kriegserlebnis zu beschreiben, initiierte Adrienne Thomas in ihrer Selbstanzeige. Dabei betonte sie die weibliche Schreibperspektive der eigenen Kriegserinnerungen, die stellvertretend für eine ganze Generation von Frauen stehe. Es betraf insbesondere die Krankenschwestern im weiblichen Kriegsdienst, die in der Kranken- und Verwundetenverpflegung den Folgen des Krieges sehr nah kamen und sich mit den Soldaten das Schicksal teilten: „Aber verloren ging eine Generation“.70 Diese Formulierung traf gezielt den zeitgenössischen Anspruch an Kriegsliteratur. Es tritt dabei die Anlehnung an Erich Maria Remarques Eingangsworte in seinem Bestseller Im Westen nichts Neues deutlich hervor71: „Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein. Es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam.“72
Neben dem Generationsaspekt betonte Adrienne Thomas in ihrer Selbstanzeige: „Mein Buch wurde fast von selber“73 und integrierte sich damit in Aussagen zur Authentizitätsbildung eines Kriegsromans, die der Öffentlichkeit ihrer Zeit ebenfalls geläufig waren. Denn dies ist eine Beschreibung, die schon bei der Ankündigung von Remarques Im Westen nichts Neues vom Verlag genutzt und auch vom Autor selbst verbreitet worden ist. So hieß es, Remarque habe nach Büroschluss am Abend, absichtslos und ohne Planung den Text verfasst.74 Damit zusammenhängend stellen Aussagen, wie hier etwa, „Ich verstehe kaum etwas von Politik“75, eine Taktik dar, Annahmen von Konstruktionen zu-
68 69 70 71 72 73 74 75
ar 1931. Vgl. auch MOENS, A Fictionalized Diary (wie Anm. 2) S. 153. Zur Werbekampagne des Verlages: ebd. S.151 ff. SCHRECKENBERGER, Der I. Weltkrieg aus weiblicher Sicht (wie Anm. 2) S. 390. Aus: Die Literarische Welt, Ausgabe vom 2. Januar 1931. Vgl. auch: SINHUBER, Adrienne Thomas (wie Anm. 2) S. 96. Vgl. den Selbstkommentar von Adrienne Thomas (wie Anm. 62). Zum Generationsbegriff im Roman auch: MURDOCH, Hinter die Kulissen des Krieges Sehen (wie Anm. 2) und: SCHOLDT, Nachwort (wie Anm. 18) S. 480 ff. SCHOLDT, Nachwort (wie Anm. 18) S. 503. REMARQUE, Im Westen nichts Neues (wie Anm. 20). Vgl. den Selbstkommentar von Adrienne Thomas (wie Anm. 62). SCHNEIDER, Erwartungen von Rezensenten (wie Anm. 7) S. 125. Vgl. den Selbstkommentar von Adrienne Thomas (wie Anm. 62).
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rückzuweisen, um nicht den Charakter als Kriegsliteratur mit ihren Ansprüchen eines absichtslosen autobiographischen Berichtes zu gefährden.76 Die Strategien zur Authentisierung der Katrin wird Soldat legen also den konstruierenden Charakter der vorgeblich autobiographischen Praktiken offen. Es waren bewährte Muster, die sich als funktionsfähig erwiesen hatten und als Werkzeug gebrauchen ließen, um den eigenen Text als zugehörig zur Kriegsliteratur erscheinen zu lassen.77 Dabei war ein bestimmter Wahrheitsanspruch, der an Remarque erinnerte, von Vorteil. Dies brachte für die eigene Veröffentlichung in Zeiten umkämpfter Erinnerungen erhöhte Aufmerksamkeit in der öffentlichen Auseinandersetzung und somit auch literarischen Erfolg und Absatz. Eben dies gelang Adrienne Thomas bei der Katrin wird Soldat. Das Buch wurde gerade deshalb ein Bestseller, weil es von der Leserschaft großenteils als authentische Beschreibung von autobiographischen Kriegserfahrungen aufgefasst wurde. Dieser kurze Einblick in die Rezeptions- und (Selbst-)Vermarktungsgeschichte eines eigentlich als „Roman“ klassifizierten Buches zeigt auf, wie wichtig es ist, neben der Struktur und den Erzählmustern im Text auch auf den Weitertransport jener Muster in der Vermarktung und in öffentlichen Debatten zu achten.78 Leserinnen und Leser, Rezensentinnen und Rezensenten lasen den Roman als Dokument, als historischen Bericht, als autobiographisch. Anders formuliert, galt es für Autorinnen bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen, die erst die Authentizität greifbar werden ließen, damit ihre Texte als Kriegsliteratur verstanden werden konnten. Dementsprechend war, wie bei den Erinnerungen von ehemaligen Soldaten, auch für die ehemaligen Krankenschwestern unter dem Roten Kreuz ausschlaggebend, dass ihre Teilnahme am Krieg und ihre Tätigkeit im militärischen Einsatzgebiet bekannt wurde.79 Durch dieses Wechselspiel werden erst Strategien der Authentisierung auffällig, an denen sich hier die Schriftstellerin Adrienne Thomas mit ihrem Roman Die Katrin wird Soldat selbst beteiligte und die sie forcierte. Bestimmte Legitimationsmuster werden offensichtlich, die erst diese Schreibkultur, das Verfassen von Augenzeuginnenberichten in literarischen Formen, so bedeutsam machten. Diese Authentizitätssignale werden bei den nachfolgend geschriebenen und publizierten Krankenschwestererinnerungen immer deutlicher und ausführlicher hervorgehoben. Unabhängig zunächst davon, welche unterschiedlichen politischen Aussagen die Autorinnen mit ihren Veröffentlichungen verfolgten: Das, was Adrienne Thomas und andere zu ihrem Roman schrieben, integrierten die nachfolgenden Autorinnen immer ausgeprägter in ihren veröffentlichten Erinnerungen. So tauchen zunächst kurze Erklärungspassagen auf, später längere Vor- und/oder Nachworte, die den autobiographischen und damit authentischen Gehalt betonen.80 Henriette Riemanns Schwester der Vierten Armee, ebenfalls noch 1930 erschienen, begann mit der Vorrede: „Dieses Buch ist keine Dichtung, es ist Erlebnis. So ward es zum
76 77 78 79 80
Vgl. SCHNEIDER, Erwartungen von Rezensenten (wie Anm. 7) S. 120 ff., insbesondere 122. Vgl. ebd. S. 120 ff. Vgl. ebd. S. 126 f. Ebd. S. 121 f. Dazu auch: STEINER, Selbstdeutungen (wie Anm. 11) S. 24.
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Denkmal für die, die tapfer der Sache dienten, ob sie leben oder fielen [...]“.81 Danach erfolgte die Wiedergabe einer Rohrpost vom 1. Oktober 1914 und eines drei Tage später datierten Telegramms, in dem die Einberufungsbestätigung für die Protagonistin, eine Kriegskrankenschwester, und der „Marschbefehl“ übermittelt wurden. Somit wird einerseits der Wahrheitsgehalt der folgenden Kriegsaufzeichnungen und das eigene Kriegserlebnis betont und andererseits werden Assoziationen eines weiblichen Pendants zur soldatischen Wehrpflicht 82 hervorgerufen. Diese Vorgehensweise kennzeichnet auch weitere Kriegstexte ehemaliger Krankenschwestern. So hieß es in einem klar deklarierten Vorwort von Helene Mierisch zu ihrem 1934 erstmalig erschienenen Buch Kamerad Schwester: „Zwanzig Jahre sind seit Beginn des Tagebuchs ins Land gegangen. Als Anfang 1914 die ersten Jungmädchensorgen darin ihre Niederschrift fanden, ahnte ich nicht, daß diese bescheidenen Blätter bald ein Kriegserleben widerspiegeln würden [...]. Ich ahnte noch weniger, als 1918 der Endstrich darunter kam, daß diese Blätter je den Weg in die Öffentlichkeit finden würden, für die sie mit keinem Gedanken geschrieben waren. [...] daß der Inhalt nur mehr einen reinen Zeit- und Menschenspiegel darstellt, der ganz unbeeinflußt von nachfolgenden Strömungen klar die Erlebnisse des `Krieges in den Lazaretten` wiedergibt, wie sie damals empfunden und niedergeschrieben wurden. [...]“83
Auffallend ist die Beschreibung der Krankenschwestertätigkeit als „Krieg in den Lazaretten“, womit eine klare Positionierung des eigenen Handlungsraumes nicht nur in die Nähe der kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern als Teil des Krieges erreicht wird. Damit erfolgt auch die eigene Gleichsetzung in der Funktion einer Krankenschwester als Militärangehörige und quasi „Kamerad Schwester“ und „Soldat“. Diese Entwicklung über (scheinbar) autobiographische Rahmenkonstruktionen wird schon früh an der gesamten Textgruppe „Kriegsliteratur ehemaliger Krankenschwestern“ deutlich. So ist es der Buchtitel84, der zur Integration in die zeitgenössische Kriegsliteratur genutzt wird, selbst authentisierende Mechanismen transportiert und auf die eigene zwar weibliche, aber doch militärische Teilnahme in der Nähe der Front verweist: Die Titel Die Katrin wird Soldat; Schwester der Vierten Armee; Kamerad Schwester sind nur eine Auswahl, in der die Verknüpfung eines weiblichen Bezuges „Schwester“ oder eines Frauennamens mit den männlich assoziierten symbolträchtigen Handlungsräumen, Armee, Kamerad, Front, Soldat, erfolgt. Diese Bezeichnungspraxis verweist auf eine Programmatik, mit der die eigene Positionierung zumindest im Etappengebiet hervorgehoben und somit die veröffentlichten eigenen Kriegserinnerungen als wahre Darstellung der eigenen Augenzeuginnenschaft, des Miterlebens und Mitleidens – und auch des 81 HENRIETTE RIEMANN, Schwester der Vierten Armee. Ein Kriegstagebuch. Berlin 1930, hier die Vorrede. Vgl. auch dazu: PANKE-KOCHINKE, Unterwegs und doch daheim (wie Anm. 11), beispielsweise S. 91 ff. und 110 ff. 82 So: BIANCA SCHÖNBERGER, Mütterliche Heldinnen und abenteuerlustige Mädchen. RotkreuzSchwestern und Etappenhelferinnen im Ersten Weltkrieg, in: Heimat – Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege. Hg. KAREN HAGEMANN/STEFANIE SCHÜLERSPRINGORUM. Frankfurt a. M. 2002, S. 108-127, hier 109. Dazu auch z.B.: SCHULTE, Die Schwester des kranken Kriegers (wie Anm. 11) S. 89 f.; STEINER, Selbstdeutungen (wie Anm. 11) S. 24; PANKE-KOCHINKE, Unterwegs und doch daheim (wie Anm. 11) S. 92 ff. Und vgl. Anm. 85 und 86. 83 HELENE MIERISCH, Kamerad Schwester 1914-1918. Leipzig 1934 S. 3. Vgl. auch dazu: PANKEKOCHINKE, Unterwegs und doch daheim (wie Anm. 11), beispielsweise S. 91 ff. und 116 ff. 84 Vgl. dazu: STEINER, Selbstdeutungen (wie Anm. 11) S. 24.
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Mitsterbens vieler Krankenschwestern – intensiv vermittelt werden soll. Dabei wird eine Tradition weiter verfolgt, die schon mit der Entwicklung der Krankenschwester und des Roten Kreuzes seit dem 19. Jahrhundert in Einklang stand. Nicht unbegründet spricht deswegen auch Dieter Riesenberger in seiner Abhandlung über das Rote Kreuz von einer „Militarisierung der freiwilligen weiblichen Krankenpflege vom Roten Kreuz“85; Andrea Süchting-Hänger arbeitet heraus, wie sehr sich die Akteurinnen dabei an der „militärischen Welt“ orientierten und sich in ihren Organisationen selbst als „Heer der Frauen“ verstanden.86 Diese Intention wird zunehmend auch bildlich unterstützt: Wenn Fotos auch noch in den Büchern von Adrienne Thomas und Henriette Riemann im Jahr 1930 fehlen, so werden sie bald darauf zur Unterstützung dieses politischen und literarischen Programms gezielt eingesetzt87, wie bei Helene Mierisch und Käthe Russner.88 Es handelt sich dabei nicht um zeitgenössische Fotos der Autorinnen, sondern um Abbildungen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, die die Autorinnen in Rotkreuzuniform zeigen. Die Fotografien bildeten also nicht die Aktualität der Schreibsituation ab, in der die meisten der Autorinnen nicht mehr als Krankenschwestern tätig waren. Die Abbildungen besitzen die Funktion einer Authentisierung der Aussagen im Text, so wie sie auch der Leserschaft gleich beim Aufschlagen des Buches den autobiographischen Gehalt signalisieren. Ebenso markant ist bei dieser Art von Texten, trotz Fotografien und Vor- und Nachworten, dass es zur eigenen Strategie gehörte, Protagonistinnen nicht offensichtlich mit der eigenen Person zu identifizieren, sondern durch Verwendung anderer Namen zu verfremden.89 Neben der Katrin in Adrienne Thomas´ Buch heißt bei Henriette Riemann die Protagonistin Schwester Emma, bei Helene Mierisch Schwester Elisabeth.90 Auf diese Weise werden „hybride Formen“91 auch in der Kriegsliteratur von ehemaligen Krankenschwestern erkenntlich. Die Autorinnen veröffentlichten ihre Erinnerungen als Kriegskrankenschwester unter Verwendung einer Mischform 92, mit der sie sowohl authentische Erlebnisse 85 Gleichnamiges Kapitel bei: DIETER RIESENBERGER, Das Deutsche Rote Kreuz: eine Geschichte 1864-1990. Paderborn usw. 2002 S. 89 ff. 86 ANDREA SÜCHTING-HÄNGER, „Gleichgroße mut'ge Helferinnen“ in der weiblichen Gegenwelt. Der Vaterländische Frauenverein und die Politisierung konservativer Frauen 1890-1914, in: Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne. Hg. UTE PLANERT. Frankfurt a. M. usw. 2000 S. 131-146, hier 138 f. Vgl. auch dazu: SCHULTE, Die Schwester des kranken Kriegers (wie Anm. 11) S. 86 ff. Und: SCHÖNBERGER, Mütterliche Heldinnen (wie Anm. 82). „Frauenheer der Hilfe“ lautet auch der Titel des ersten Teils der Abhandlung u.a. zur Frauenarbeit während des Ersten Weltkrieges von: MARIE-ELISABETH LÜDERS, Das unbekannte Heer. Frauen kämpfen für Deutschland. Berlin 1936. 87 VOLLMER, Imaginäre Schlachtfelder (wie Anm. 3) S. 25. 88 KÄTHE RUSSNER, Schwesterndienst im Weltkriege. Feldpostbriefe und Tagebuchblätter. Leipzig 1936. Vgl. auch dazu: PANKE-KOCHINKE, Unterwegs und doch daheim (wie Anm. 11), beispielsweise S. 91 ff. 89 Vgl. dazu auch bezogen auf die Kriegsliteratur von ehemaligen Soldaten: VOLLMER, Imaginäre Schlachtfelder (wie Anm. 3) S. 24 und 287. 90 Vgl. dazu auch: VOLLMER, Imaginäre Schlachtfelder (wie Anm. 3) S. 25 und 286 f. Und: SCHNEIDER, Erwartungen von Rezensenten (wie Anm. 7) S. 122. 91 VOLLMER, Imaginäre Schlachtfelder (wie Anm. 3) S. 286 und 16: „[…] unter der Perspektive einer zunehmenden Aufweichung der Grenze zwischen ‚Fiktion‘ und ‚Historie‘ zu analysieren.“ 92 Vgl. dazu: STEINER, Selbstdeutungen (wie Anm. 11) S. 24.
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thematisieren als auch Fiktion nutzen wollten.93 Durch diese Erzähltechnik konnten die Autorinnen den Beschreibungshorizont und Bedeutungszusammenhang der Thematik „Kriegskrankenschwester“ erweitern und auf eine allgemeine Ebene heben („Aber verloren ging eine Generation“).94 Die Untersuchung von Authentizitätsmustern und -signalen in Kriegstexten von ehemaligen Kriegskrankenschwestern verdeutlicht die Handlungsmöglichkeiten der Autorinnen, die sich über autobiographische Strategien in den literarischen und politischen Diskurs über den Ersten Weltkrieg ihrer Zeit integrierten. Sie nutzten dabei einen Diskurs der Kombinationsformen von Erinnerung, Fiktion und Geschichte in besonderer Weise95, um die Darstellung des „wahren Kriegserlebnisses“ zu erreichen – und somit auch eine politische Position vertreten zu können.96 Charakteristisch für diese neue Form einer autobiographischen Kriegsliteratur war, dass sich die authentisierenden Muster nicht nur direkt im Text finden lassen, sondern dass sie insbesondere in den (Selbst-)Vermarktungspraktiken im Umfeld des Textes und möglichen Vor- und Nachworten hervorgehoben wurden. Die Beschäftigung mit den Leserbriefen und Rezensionen am Beispiel der Katrin wird Soldat zeigt auf, dass damit am Text autobiographische und historische „Wahrheiten“ verhandelt und festgehalten werden konnten. Diese Lesart wurde von der Autorin unterstützt, die sich wiederholt in die Debatte einmischte und diese mit „Techniken zur Authentifizierung“97 zu lenken versuchte. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Verlag dies förderte; in welchem Umfang konnte bislang noch nicht eindeutig geklärt werden. Diese Strategien und Praktiken wurden auch in anderen veröffentlichten Krankenschwestertexten der 1930er Jahre eingesetzt und zeigen die Gemeinsamkeiten bei der Verwendung von Authentizitätssignalen innerhalb der Schreibkultur an. So wird deutlich, dass die Instrumentalisierung und die politische Relevanz in der Gestaltung der Vor- und Nachworte, die Integration des vergangenen Geschilderten in die aktuelle Schreibsituation an Bedeutung in der Kriegserinnerungsliteratur von Frauen gewann. Bei Adrienne Thomas noch im Umfeld einer öffentlichen Debatte umgesetzt, wurden zunehmend diese authentisierenden Strategien in den Kriegsbericht oder Kriegsroman eingebettet, sie umrahmten ihn und wiesen somit den Leserinnen und Lesern die Richtung, wie die Veröffentlichung zu verstehen sei. Neben dem eigentlichen Text erzeugten Selbstkommentare in Zeitungen oder als Einleitungen oder Schlussbemerkungen in Büchern Authentizitätssignale, insbesondere durch die Betonung eines absichtslosen Schreibens und den autobiographischen Gehalt des Erzählten. Speziell letzteres wurde instrumentalisiert und in politische Diskussionen um die „wahre“ Erinnerungsdarstellung und Bewertung des Krieges der jeweiligen Schreibsituationen eingeordnet.98 93 Dies soll in meiner Dissertation noch differenzierter untersucht werden. 94 Vgl. dazu auch in Bezug auf Kriegsliteratur von Autoren: VOLLMER, Imaginäre Schlachtfelder (wie Anm. 3), insbesondere S. 32 ff., 24 ff. und 287. Zitat: Vgl. den Selbstkommentar von ADRIENNE THOMAS (wie Anm. 62) und vgl. Anm. 70. 95 STEINER, Selbstdeutungen (wie Anm. 11) S. 24. 96 Vgl. VOLLMER, Imaginäre Schlachtfelder (wie Anm. 3) S. 24 ff. 97 Ebd. S. 24. 98 Vgl. Ebd. S. 286 ff.
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Dabei überwogen insgesamt auch bei den Krankenschwesterromanen, wie für die Kriegsliteratur im Allgemeinen, die kriegsbejahenden Schriften. Der im Mittelpunkt der Untersuchung stehende Roman Die Katrin wird Soldat zählt zur Minderheit pazifistischer Kriegsromane. Zunehmend kam es zu militaristischen Veröffentlichungen, so dass in „der Geschichte des Kriegsromans, in der literarischen Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg [...] – wie im Bereich der Kriegsideologie generell – nicht das Jahr 1933 eine Zäsur [bildet], sondern die Jahreswende 1929/30 [...].“99 Diese Entwicklung in den 1930er Jahren wurde schon hinsichtlich der Kriegserinnerungskultur von ehemaligen Soldaten herausgearbeitet, wobei in Bezug auf die Weimarer Republik „von einer Überführung des Bürgerkriegs in einen Kampf im literarischen Feld gesprochen werden darf.“100 Die eigenen Kriegserfahrungen stellten dabei, so zeigt die vorliegende Untersuchung, auch für die ehemaligen Kriegskrankenschwestern ein „enormes symbolisches Kapital“101 dar. In diesem Zusammenhang offenbart sich auch, wie die autobiographischen Muster verstärkt genutzt wurden, um die Darstellung als Krankenschwester im Krieg zu militarisieren und durch Vergleiche mit (männlichen) Soldaten zu beschreiben. Ähnlich wie bei den Kriegserinnerungen von ehemaligen Soldaten galt es für die Autorinnen über ihre Funktion als Kriegskrankenschwester im Ersten Weltkrieg den eigenen Stellenwert als Augenzeugin und als weiblichen Soldaten zu legitimieren und sich damit in der Diskussion um Deutungsmacht zu positionieren. Dies führte über mehrere Wege und lässt sich nicht nur allein aus diesen Texten filtern, die im Zusammenhang bestimmter Schreibkulturen entstanden sind. Ebenso wichtig ist die Kontextualisierung dieser Texte. Denn die Verfasserinnen von Kriegserinnerungen machten mittels verschiedener authentisierender Strategien der Leserschaft deutlich, dass man nur ein Motiv für die Publikation hatte: „Ich glaube nicht, daß ich es für mich behalten darf.“
99 BARON/MÜLLER, Weltkriege (wie Anm. 3) S. 23. 100 Vgl. VOLLMER, Imaginäre Schlachtfelder (wie Anm. 3) S. 286 ff. 101 Ebd. S. 24.
IRMELA HIJIYA-KIRSCHNEREIT
Textstrukturen – Schreibkulturen Ein Kommentar
Wie sich bereits in dem leicht zungenbrecherischen Titel dieses Kapitels andeutet, greift es den konzeptionellen Anspruch der Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“ in voller Breite auf, indem es interdisziplinär, transkulturell und transepochal angelegt ist. Die Autorinnen diskutieren Formen und Praktiken autobiographischen Schreibens in unterschiedlichen Kulturen und Epochen aus literaturwissenschaftlicher und geschichtswissenschaftlicher Perspektive, wobei sie den Blick auf die Textkonzeption und -produktion, die Schreibkonvention und -tradition sowie die Performativität und Materialität schriftlicher autobiographischer Äußerungen richten. Das Stichwort „Textstrukturen“ verweist darauf, dass der Textoberfläche besonderes Augenmerk gilt, vor allem im Hinblick darauf, wie sich in der Narration, der „Erzähltheit“ der Texte, Bedeutung konstitutiert im Sinne der Darstellung von kulturellen Prozessen und Strukturen, die in der narrativen Logik der Texte selbst verankert sind. Diese erschließt sich aber erst, wenn wir zugleich das autobiographische Schreiben als kulturelle Praxis in den Blick nehmen und auf der pragmatischen Ebene nach Schreibanlässen, Schreibsituationen, Schreibpraktiken und Rezeptionshintergründen fragen, die stets in die historischen und kulturellen Kontexte eingebunden sind, so dass wir keinesfalls universelle Kategorien ansetzen können, sondern uns für transkulturelle Fragen zu öffnen haben. Die wichtigsten thematischen Knotenpunkte dieses Kapitels sollen im Folgenden kommentiert werden.
Erzählen als Sinnbildung Von der Prämisse ausgehend, dass es eine (angeborene) menschliche Fähigkeit gibt, narrative Erklärungen zu bilden und sie nachvollziehen zu können1, ist es die Ordnung und Deutung persönlicher Erfahrungen im Kontext ihrer Bezugssysteme, vor allem die narrative Strukturierung als sinnbildende Operation, die sich in den Beiträgen der Sektion verfolgen lässt. Franziska Ziep macht deutlich, dass hier nicht so sehr die Person hinter dem Text von Interesse ist und auch nicht das Verhältnis zwischen erlebender und schreibender oder geschriebener Person, sondern „die Frage, in welcher Weise Konstruktionen von Person als und in Erzählungen erfolgen“ (Ziep S. 106). Bei der Betrachtung der Beispiele wird jedoch deutlich, dass es nicht allein, vielleicht nicht einmal vornehmlich, darum geht, ein Erzählkonzept für die eigene Lebensgeschichte in traditionel1
DONALD E. POLKINGHORNE, Narrative Psychologie und Geschichtsbewußtsein. Beziehungen und Perspektiven, in: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Hg. JÜRGEN STRAUB. Frankfurt a. M. 1998 S. 12-45, hier 39.
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len Deutungsmustern herauszuschälen, sondern sich dem Befund zu stellen, „dass normative Konzepte der Identitätskonstruktion nur in narrativer Gestalt gefasst werden können“, wobei Ziep hier „Ehre“ als Beispiel dient (Ziep S. 109). Dies geschieht dadurch, dass im Text „die Möglichkeiten sprachlicher Gestaltung genutzt und reflektiert werden“ und diese stets auch auf Erzählkonventionen verweisen, wie Ziep am Beispiel autobiographischer Texte des 16. Jahrhunderts eindrucksvoll belegt. So zeigt sie, wie im Text auf die „Eigenmacht der Sprache“ abgehoben wird und wie der rituelle Charakter des Sterbens und Trauerns gerade in der narrativen Konstruktion deutlich wird. Authentizität wird als „Effekt der narrativen Inszenierung“ erfasst, das Erzählte als Konstruktion markiert, indem der Text eine Distanz zu seinem Gegenstand eröffnet (Ziep S. 118). Ungeachtet der eingangs erwähnten universalen Fähigkeit zu narrativen Erklärungen bedienen sich diese jedoch aus je spezifischen, kulturell verfügbaren plots. Die Plot-Formen und begrifflichen Netzwerke verweisen auf die jeweilige Herkunftskultur, auch wenn sich hier wiederum Analogien und Parallelen auftun können. Wenn etwa Christa Wetzel zu Beginn ihrer Erkundungen zu Heinrich Witts Tagebuch die im 19. Jahrhundert in bürgerlichen Kreisen Deutschlands und der Schweiz übliche Erziehung von Kindern zum Tagebuchschreiben mitsamt der Bereitstellung von Vorbildern und Schreibmustern erwähnt, ließe sich dem beispielsweise die japanische Kultur des Schreibens und Erinnerns, etwa die „Bewegung, das Leben in Worte zu fassen“2 gegenüberstellen, wenngleich es sich hier um ein Phänomen des 20. Jahrhunderts handelt. Dieses ist gleichwohl auch aus den älteren Konventionen heraus zu begreifen, die Judit Árokay in ihrem Beitrag für autobiographisches Schreiben im traditionellen Kontext und den Übergang zur Moderne beleuchtet.
Konventionen und Topoi Zu den in den vorliegenden Beiträgen identifizierten traditionellen Motiven, Konventionen und Topoi zählt, allen voran, der Aufrichtigkeitstopos, den Sophie Häusner in ihrem Beitrag zu einem autobiographischen Roman mit Kriegserinnerungen aus dem Ersten Weltkrieg als zentrale Authentisierungsstrategie hervorhebt und der umgekehrt für die zeitgenössische Rezeption des literarisch-fiktional angelegten Textes als eines Zeitdokuments entscheidend war (Häusner S. 167f.). „Ehrlichkeit“, „Echtheit“, „Wahrhaftigkeit“ und „innige Einfachheit“, wie sie Adrienne Thomas, die Autorin des vorgestellten Werks, vor allem durch publizierte Eigenkommentare in die allgemeine Diskussion über ihren Text einbrachte, die nun in den zitierten Schlagworten aus Leserbriefen und Rezensionen widerhallen, bestimmen beispielsweise auch den Diskurs um die moderne japanische Literaturgattung der sogenannten Ich-Erzählung Shishōsetsu, wobei aus literaturwissenschaftlicher Perspektive auch hier die konventionelle Grenzziehung zwischen Tatsachenbericht und Fiktionalisierung aufgehoben wird. 3 Die in autobiographischen 2 3
PETRA BUCHHOLZ, Schreiben und Erinnern. Über Selbstzeugnisse japanischer Kriegsteilnehmer. München 2003 S. 48-70. IRMELA HIJIYA-KIRSCHNEREIT, Selbstentblößungsrituale. Zur Theorie und Geschichte der autobiographischen Gattung „Shishōsetsu“ in der modernen japanischen Literatur. Mit einem Vorwort zur Neuausgabe. München 2005 S. 329-340.
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Texten und Tagebüchern oft bemühte Floskel, dass die Aufzeichnungen „nicht für die Öffentlichkeit bestimmt“ seien, wird hier von Árokay aufgegriffen und als gattungstypisch für das Genre der zuihitsu, der sogenannten Miszellenliteratur, herausgestellt (Árokay S. 130). Andere poetische Topoi, Motive und rhetorische Floskeln innerhalb von Tagebuchtexten entstammen beispielsweise dem Genre der Reiseliteratur (Árokay S. 130, Anm. 16), und schließlich konnten Verfasser von autobiographischen Texten auch auf Versatzstücke aus dem kulturellen Fundus, wie die Aussprüche des Konfuzius oder auf Vorbilder, wie die Selbstdarstellung des chinesischen Historiographen Sima Qian zurückgreifen (Árokay S. 137.). Diese Rückgriffe ermöglichen zugleich eine (hier allerdings nicht ausgeführte) Selbstverortung in einer kulturellen Genealogie, in ähnlicher Weise, wie etwa Ziep die von ihr untersuchten autobiographischen Texte des 16. Jahrhunderts in Konzepte frühneuzeitlichen Erzählens mit einem Erziehungs- und Karrieremodell einbettet. Auch das gleichzeitige Thematisieren des Erzählten und des Erzählens selbst, das Ziep als eine Textstrategie herausarbeitet, rekurriert auf verbreitete Formeln in der frühneuzeitlichen Literatur. Das Identifizieren von Erzählkonventionen und Topoi erscheint jedenfalls als wesentlich im Hinblick auf die Analysestrategie, die Narrationen auf ihre historisch und kollektiv geprägte Ausgestaltung hin zu lesen, vor deren Hintergrund sich erst ihre Individualität erfassen lässt.
Gattungsfragen Im Lichte der in diesem Kapitel besonders fokussierten Punkte geraten schließlich auch Gattungsfragen in den Blick. Franziska Ziep erläutert eingangs ihre Entscheidung zugunsten eines offenen Textsortenbegriffs – sie spricht von autobiographischen Texten statt von Autobiographien als geschlossenen Erzählungen im Lejeuneschen Sinne – und will auch von dem Begriff der Selbstzeugnisse absehen, „um die Textualität und den narrativen Charakter des autobiographischen Materials herauszustellen“ (Ziep S. 105, Anm. 2). Problematisch erscheint ihr etwa die oft vorgenommene implizite Gleichsetzung der Autobiographie mit Innerlichkeit und Individualität, womit den Texten eine „problematische Folie der Moderne“ zugrunde gelegt werde (Ziep S. 111, Anm. 22). Dieser offene Textsortenbegriff, den Ziep zugrunde legt, gilt auch für Judit Árokays Beitrag. Sie muss sich allerdings stärker, als dies für die anderen Beiträge erforderlich ist, zunächst einmal mit den vorgefundenen Bezeichnungen diverser Textsorten aus mehreren Jahrhunderten befassen, um eine Verständnisbasis für ihre Beispiele aus der japanischen Literatur herzustellen. Gerade bei fremdkulturellen Phänomenen erscheint es als besonders notwendig, den kontextuellen Bezug, sei es die historische und kulturelle Einbindung wie auch der Rezeptionshintergrund, deutlich zu machen, und so ist es unerlässlich, zunächst die spezifische Gattungslandschaft der japanischen Literatur und Geschichtsschreibung zu umreißen, um auf deren Folie die Interdependenz von Form bzw. Textsorte und Inhalt erst zu beschreiben und auf Überschneidungen und Überlappungen von autobiographischen Textsorten hinzuweisen. Als Schreibmotivation arbeitet Árokay, ähnlich wie auch Franziska Ziep und Christa Wetzel, eine didaktische Funktion heraus, hier die auf die Erben gerichtete Kommunikation im Falle der oboegaki und die der Familien- oder Geschlechterbücher (kakun) sowie der Selbstzeugnisse von Kaufleuten. Árokay
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macht übrigens auch auf einen Genderaspekt aufmerksam, indem sie die Textsorten Tagebuch und Reisebericht als solche kennzeichnet, die nicht nur Männern, sondern auch Frauen zur Verfügung standen und von ihnen genutzt wurden, wie überhaupt in diesem Zusammenhang ein Seitenblick der Geschlechtsspezifik von Gattungen gilt. Die Problematik generischer Einordnungen wird bei Árokay am Beispiel von Texten des vormodernen Autors Ueda Akinari konkretisiert, denn ähnlich wie bei Werken des 10. oder 11. Jahrhunderts, deren Besonderheiten aufgrund von nachträglich erfolgten Titel- oder Gattungszuschreibungen diskutiert werden, sind auch Akinaris Schriften teilweise erst später – und zudem im Lichte der modernen Literatur- und Philologierezeption aus Europa – betitelt worden und platzieren ihn damit in einen zeitgenössischen Erwartungshorizont, der ihn als einen „Vorläufer der modernen japanischen Erzählliteratur“ erscheinen lässt. Ähnlich, wie Ziep unter Berufung auf Rainer Warning in ihren Textbeispielen ein „Erzählen im Paradigma“, nämlich eine narrative Organisationsform der Wiederholung, Reihung und Sequenzierung gegenüber dem (in Europa) traditionellen und dominanten Modell syntagmatischer Organisation ins Feld führt – die Vorstellung von Erzählungen als Abbildung von kausalen und/oder temporalen Zusammenhängen (Ziep S. 120, Anm. 56), ließen sich „paradigmatische“ Erzählformen auch an den vorgestellten japanischen Gattungen zeigen.
Authentifizierungsstrategien Auch im Blick auf die Praktiken des autobiographischen Schreibens spielen Gattungsfragen eine gewisse Rolle, dann nämlich, wenn, wie im von Christa Wetzel untersuchten Text, dem umfangreichen Tagebuch des Heinrich Witt, die Frage zentral wird, wie der Autor durch das Neuformulieren auf der Basis früherer Tagebuchaufzeichnungen seine Lebensgeschichte von der Erzählgegenwart aus gestaltet, wobei er zugleich auch seinen Selektionsprozess schreibend im Hinblick auf sein gegenwärtiges Leben kommentiert, bis er dann 1880 mit seinen Aufzeichnungen die Erzählgegenwart erreicht und in der Folge zeitnah, ohne noch auf vorgängige Aufzeichnungen zurückzugreifen, aber auch ohne Kenntnis einer „vergangenen Zukunft“ (Reinhart Koselleck), weiterschreibt. Es liegt auf der Hand, dass damit Witts Lebensgeschichte von diesem Zeitpunkt an deutlich anders konstruiert wird als in den zuvor verfassten Bänden seiner Aufzeichnungen. Die Analyse zeigt beispielsweise, dass er bei der sich über einen langen Zeitraum erstreckenden Überarbeitung seines Tagebuchs in den ersten neun Bänden nicht immer dieselben Kriterien anlegte. Das Phänomen des autobiographischen Texts, der auf weiteren autobiographischen Aufzeichnungen beruht, begegnet uns auch in Sophie Häusners Untersuchung eines Werks, das, wie sie schreibt, von den Zeitgenossen als Dokument, ja teilweise als Quelle für die Kriegserinnerung einer Frau im Ersten Weltkrieg gelesen und verstanden wurde, das jedoch als autobiographischer Roman verfasst wurde, wenngleich die Autorin selber die Lektüre des Textes als authentische Kriegserinnerungen sowohl durch die Textgestaltung als auch ihren Selbstkommentar provoziert. Häusner zeigt, dass die für autobiographische Texte wichtigen Muster und Strategien der Authentisierung sich nicht nur aus den veröffentlichten Kriegserinnerungen selbst filtern lassen, sondern sich häufig erst in
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öffentlichen Debatten um die Texte, also gleichsam auf paratextueller Ebene, manifestieren. Árokays Beobachtung, dass in vielen japanischen Selbstzeugnissen die Grenze zwischen literarischem und faktischem Schreiben überschritten wird, lässt eine der Grundfragen der Sektion anklingen, die Frage, wie Faktizität und Fiktion bzw. lebensweltliche und repräsentative Ebene vermittelt werden. Häusners Beispiel macht deutlich, dass eine Veränderung des semantischen Status eines Textes, etwa vom literarischen zum faktischen, zum einen durch die Textgestalt selbst, aber auch durch paratextuelle Signale und seine spezifische Rezeption herbeigeführt werden kann. Authentifizierungsstrategien werden schließlich auch bei Wetzel angesprochen. Dort ist es der stetige Verweis auf das dem Text zugrundeliegende „Original-Tagebuch“, der Authentizität verbürgt. Es ist bezeichnenderweise die in den Text eingezogene Erzählerebene, also ein narratives Verfahren, das hier die „Echtheitserfahrung“ des Textes beglaubigt und damit Faktizität und Fiktion vermittelt.
Transkulturelle Aspekte Heinrich Witt, der Autor von Christa Wetzels Text, verfügt mit seinem „globalen Lebenslauf“ – einem Leben in mindestens zwei verschiedenen Ländern oder Kulturen und entsprechenden Kommunikations- und Anpassungsleistungen – über ein Bewusstsein von der „grenzüberschreitenden Dimension des eigenen Tuns“ (Wetzel nach Hausberger S. 142, Anm. 13) und stellt im Kontext der Sektion diesbezüglich einen besonders wichtigen Sonderfall dar. Allein das Thema der Sprachenwahl im Tagebuch mit dem Wechsel vom Deutschen ins Englische und die Zahl der weiteren eingestreuten Ausdrücke, Zitate und Passagen, vor allem auf Latein, Deutsch, Französisch und Spanisch, macht die Anpassungen und Grenzüberschreitungen augenfällig. Bei Árokay finden sich hingegen Beispiele für transkulturelle Verhandlungen auf Gattungsebene in der Moderne, wo Autobiographie als Textsorte untrennbar mit der Modernisierung und Verwestlichung Japans assoziiert wird. Eines der berühmtesten Beispiele, die auf Englisch verfasste Bekenntnisschrift des Intellektuellen Uchimura Kanzō, „How I Became A Christian“ von 1895, die erst anschließend ins Japanische übersetzt wurde, gab zusammen mit der 1898-1899 erschienenen Autobiographie des Übersetzers und politischen Philosophen Fukuzawa Yukichi ein Muster vor, an dem sich mitsamt ihrem Bekenntnisgestus bis in die Gegenwart die moderne japanische Autobiographie als populäres Genre orientierte. Árokay deutet an, welche Konsequenzen für die Gestalt und Rezeption eines Textes solche neuen Erwartungen zeitigen können. So „erfand“ der Herausgeber der ersten Werkedition von Ueda Akinari nicht nur den Titel „Autobiographie“ für eine 1808 verfasste Schrift, sondern er veränderte und begradigte ihn auch im Sinne einer modernen, westlich inspirierten Geschlossenheit. Kulturelle Grenzüberschreitungen manifestieren sich im Falle Japans jedoch auch in der Orientierung an chinesischen Vorbildern bis hin zu Gattungskonventionen und Sprachwahl – Kanbun (sinisiertes Japanisch) oder Varietäten von sinojapanischem Mischstil bis hin zu umgangssprachlichen Texten – und dies durchaus bei einem einzelnen Autor, wie Árokay für Akinari ausführt.
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Text als Performanz Die Lebensbeschreibung, so zeigen die hier vorgelegten Analysen, ist, wie Ziep formuliert, „mehr als rekonstruierbares Ergebnis eines gelebten Lebens. Sie ist vor allem Ergebnis einer gelungenen Narration“ (Ziep S. 115). Das „doing biography“, die Strukturierungsleistung durch den Schreibprozess, ist es, die sich anhand der auf die Textstrukturen gerichteten Leseweise erschließt. Christa Wetzels Gegenstand, das Tagebuch des Kaufmanns Witt und seine mit großem Aufwand betriebene Praxis des Schreibens auf der Basis eines früher verfassten originalen Tagebuchs, bietet ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, wie sehr sich Schreiben und Leben bedingen. Denn, wie Wetzel ausführt, das Tagebuchschreiben strukturierte nicht nur über Jahrzehnte Witts Tagesablauf, sondern beeinflusste auch seine Wahrnehmung der Welt und sein Selbstverständnis. Die „ungeheure Disziplin“ des Schreibers kann nach Wetzel auch als „lebenslanger Prozess der Selbstdisziplinierung“ und zugleich der Selbstkonstituierung, die sich im Tagebuch vollzieht, gelesen werden (Wetzel S. 154). Anhand der näheren Betrachtung einiger thematischer Knotenpunkte zwischen den Beiträgen dieser Sektion zeigt sich die Produktivität eines analytischen Blicks, der sich auf Textstrukturen und Schreibkulturen richtet und diese in variablen Fokussierungen und in verschieden großen Ausschnitten beleuchtet. Die Forschergruppe erweist sich somit auch als Labor – für Diskussionen und Aushandlungen über Disziplingrenzen hinweg und im Dialog unterschiedlicher Wissenskulturen, hier vorgestellt in kleinem Maßstab, doch mit durchaus exemplarischem Anspruch.
HANS MEDICK
Einführung: Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten
Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten werden in den Beiträgen dieses Kapitels als prägende Momente der Selbst- und Fremdpositionierung von Personen vorgestellt. Gerade in den Spannungsfeldern zwischen unterschiedlichen kulturellen, religiösen oder sozialen Bedeutungssystemen und Lebenssphären, ja angesichts ihrer oft widersprüchlichen Herausforderungen und Zwänge, sind Personen häufig komplex verortet. Sie können sich vor das Dilemma gestellt sehen, sich einer dieser Zugehörigkeiten zuzuordnen oder zuordnen zu lassen, ohne die Zughörigkeit zu anderen ganz aufzugeben. Doch sind die Positionierungen von Personen in Situationen mehrfacher Zugehörigkeiten keineswegs immer prekär oder aufgezwungen. Mehrfache Zugehörigkeiten können durchaus auch Spielräume und Herausforderungen für aktive Selbst-Verortungen bieten. Das Schreiben von Selbstzeugnissen tritt hier als ein entscheidendes Mittel der Selbstpositionierung hervor: als Ausdrucksform wie Integrationsmedium solcher multipler Zugehörigkeiten, aber auch als Anhaltspunkt für durchgehende oder sich verändernde Momente von Personalität im Umgang mit unterschiedlichen kulturellen Zugehörigkeiten wie auch mit den eigenen, aktiven (Mehrfach)-Verortungen im Lebenslauf. Das Spektrum der Beiträge dieses Kapitels untersucht die Zusammenhänge zwischen kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten und Personkonstitution in unterschiedlichen Kontexten, historischen Situationen und politisch-kulturellen Räumen: diese reichen von frühneuzeitlichen Konversions-Situationen im Spannungsfeld christlicher Konfessionen bis zu autobiographischen Zeugnissen aus kolonialen und postkolonialen Situationen Perus vom 16. bis 20. Jahrhundert, für welche neben der Verortung im Herkunftsland die Orientierung an Europa und der europäischen Welt unverzichtbar blieb; zwei Beiträge, welche die kulturellen Vielfachzugehörigkeiten im Osmanischen Reich und deren Bedeutungen für die Personkonstitution aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick nehmen, schließen das Kapitel ab: in der Untersuchung der transkulturellen Positionierungen und Personwahrnehmungen von griechischen Übersetzer-Diplomaten im Osmanischen Reich werden Risiken und Möglichkeiten der Personkonstitution im Feld der hierarchischen Mehrfachzugehörigkeiten im Osmanischen Reich sichtbar; in der dichten Analyse des Selbstzeugnisses eines Osmanischen Beamtenreformers des 19. und frühen 20. Jahrhunderts schließlich, in dessen Personwahrnehmung sich die Attraktivität der Dingwelt neuer europäischer Waren und technischer Errungenschaften teils ergänzend teils konstrastierend mit den religiösen Erfordernissen einer sufitischen Religiosität überschnitt, wird in der Überlieferung des schriftlichen Selbstzeugnisses ein weiteres wichtiges Moment deutlich (das über den Gegenstand dieses Bandes hinausführt): Es sind keineswegs nur die Selbstzeugnis-Texte, über die und in denen sich Personen konstituieren, ein zentrales Moment von Personkonstitution besteht vielmehr im sozialen und personalen Leben der Dinge.
GESINE CARL
Asket, Gelehrter, Hirtenhund Koexistenz und Konkurrenz von Selbstentwürfen in frühneuzeitlichen Konversionserzählungen
„Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist.“ (Philipper 3, 13) „Narrativierung, die Herstellung eines nachvollziehbaren Zusammenhangs, sei er nun ‚real‘ oder ‚fiktiv‘. Eine grundlegende Arbeit, die jeder tut, der lebt. Nur wer einen Zusammenhang erkennt oder die Chance, ihn herzustellen, steht morgens aus dem Bett auf.“ (Sten Nadolny)1
Einleitung Das erste Zitat stammt von keinem Geringeren als dem Apostel Paulus, dessen plötzliche Konversion auf der Straße nach Damaskus geradezu paradigmatische Bedeutung erlangte. Es verwundert daher nicht, dass sich diese Worte aus dem Brief an die Philipper (Kapitel 3, Vers 13) auch im Vorwort der im Jahr 2002 erschienenen Studie von Christian Heidrich über „religiöse und politische Bekehrungen“ finden: Heidrich führt diese Äußerung des Apostels als Beleg dafür an, dass es im Leben von Konvertiten immer ein „Vorher“ und ein „Nachher“ gebe, die durch den „Wendepunkt“ der Konversion voneinander getrennt seien.2 Die klare zeitliche Abfolge der beiden Lebensphasen, die Heidrich hier postuliert, erweckt zunächst den Eindruck, als ob eine Untersuchung über Mehrfachzugehörigkeiten von Konvertiten unnötig, ja absurd wäre, da durch den Glaubenswechsel scheinbar alle früheren Zugehörigkeiten aufgehoben werden. Aber ist nicht auch eine Gleichzeitigkeit verschiedener Zugehörigkeiten denkbar, die zu Überschneidungen und Widersprüchen führen kann und immer wieder neu definiert und ausgehandelt werden muss? Mit anderen Worten: Greifen die Kategorien des ‚Vorher‘ und ‚Nachher‘ nicht zu kurz bzw. wäre es manchmal nicht treffender, von einem ‚Noch immer‘, einem ‚Sowohl als auch‘ oder einem ‚Weder – noch‘ zu sprechen? Das zweite Zitat aus der Feder Sten Nadolnys weist in dieselbe Richtung: Ein Konvertit, der über seinen Glaubenswechsel schreibt, bemüht sich um die „Herstellung eines nachvollziehbaren Zusammenhangs“ zwischen den Lebensphasen des „Vorher“ und „Nachher“. Dieses Unterfangen ist jedoch nur dann sinnvoll und erfolgversprechend, 1 2
STEN NADOLNY, Das Erzählen und die guten Absichten. Münchener Poetik-Vorlesungen. München 1990 S. 77. CHRISTIAN HEIDRICH, Die Konvertiten. Über religiöse und politische Bekehrungen. München usw. 2002 S. 10.
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wenn man davon ausgeht, dass es irgendetwas (schreibend zu entdecken) gibt, was die Zäsur der Konversion überdauert – beispielsweise bestimmte soziale Zugehörigkeiten oder auch Selbstentwürfe bzw. einzelne Elemente davon. Und indem man das „Dahinten“ schriftlich festhält, vergisst man es eben nicht, sondern ordnet es in den Kontext des eigenen Lebensweges ein und verleiht ihm damit Sinn – und sei es auch nur den einer notwendigen Kontrastfolie.3 Im Folgenden soll am Beispiel einiger frühneuzeitlicher Konversionserzählungen die Wechselbeziehung zwischen Mehrfachzugehörigkeiten und Selbstentwürfen von Konvertitinnen und Konvertiten untersucht werden. Dabei orientiert sich die Auswertung der Quellen an folgenden Leitfragen: Durch welche Zugehörigkeiten sind die Selbstentwürfe geprägt – bzw. welche Zugehörigkeiten sollen durch sie erzeugt, vertieft oder aufgekündigt werden? Ist eher eine Koexistenz von Selbstentwürfen mit der Möglichkeit des situationsbedingten Wechsels zu konstatieren oder aber eine als problematisch erlebte Konkurrenz, die zu Rechtfertigungsdruck nach außen sowie zu innerer Zerrissenheit führte? Ausgehend von der Hypothese, dass sich jedes Schreiben über eine religiöse Konversion im Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Bruch vollzieht, ist zudem zu betrachten, wie die Autorinnen und Autoren dieses Spannungsfeld schreibend (um)gestalten und wo sie sich darin positionieren. Unter einem „Selbstentwurf“ wird hier in Anlehnung an Ulrike Jekutsch „das von einer Person bzw. Gruppe konzipierte und in die Zukunft projektierte Bild ihres Seins und Handelns“ verstanden.4 Dieses Bild konstituiert sich nicht in einem autonomen Prozess des Inneren, sondern es entsteht und ändert sich im Kontext der jeweiligen sozialen Umgebung mit ihren Rollenmustern und Normen sowie in ständiger Interaktion mit den Fremdbildern, die andere von der betreffenden Person oder Gruppe entworfen haben.5 Wie Benjamin Meyer-Krahmer erläutert, impliziert die Vorstellung vom menschlichen Leben als Entwerfen und Verwerfen eines Selbst, dass die dabei entstehenden Entwürfe provisorisch sind und – sei es bewusst oder unbewusst – kontinuierlich umgewertet und umgeschrieben werden.6 Angelika Schaser bringt diese Veränderbarkeit von Selbstentwürfen bereits explizit mit religiösen Konversionen in Verbindung, indem sie ausführt, dass sich Konvertiten je nach Kontext in unterschiedlicher Weise darstellen können.7 Im Gegensatz zu Meyer-Krahmer möchte ich die Möglichkeit, ein Selbst zu ‚verwerfen‘, jedoch in Frage stellen: Ganz abgesehen davon, dass der ‚Selbstverwurf‘ in der deutschen Sprache nicht existiert, steht jeder ‚Verwerfungswillige‘ unweigerlich vor dem Problem, dass sich die Lebenszeit nun einmal nicht zurückdrehen lässt und alle bisherigen Erfahrungen und Handlungen unauslöschlich in die Persönlichkeit – und oft genug 3
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Das Feld Konversionen in der Frühen Neuzeit ist im letzten Jahrzehnt zu einem interessanten Forschungsfeld angewachsen. Vgl. dazu: GESINE CARL/ANGELIKA SCHASER, Konversionsberichte des 17. bis 19. Jahrhunderts als Selbstzeugnisse gelesen: Ergebnisse und Forschungsperspektiven, in: Das Religiöse der Gesellschaft – das Gesellschaftliche der Religion. Hg. MARC FÖCKING/BRUNO REUDENBACH. Münster usw. (erscheint voraussichtlich 2012). ULRIKE JEKUTSCH, Selbstentwurf und Geschlecht. Würzburg 2001 S. 7. Ebd. BENJAMIN MEYER-KRAHMER, Aporien des Selbst. Selbstbeobachtung als künstlerischer Schaffensprozess bei Dieter Roth, ausgehend von „Mundunculum“. Heidelberg 2006 S. 136. ANGELIKA SCHASER, „Zurück zur heiligen Kirche“ – Konversionen zum Katholizismus im säkularisierten Zeitalter, in: Historische Anthropologie 15/1. 2007 S. 1-23, zit. 1 f.
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auch in das Gedächtnis einer nicht unbedingt wohlwollenden Umwelt – eingeschrieben bleiben. Wer sich neu entwerfen will, bleibt also notgedrungen darauf beschränkt, sein früheres Tun und Erleben nachträglich mit einer neuen Sinngebung zu versehen, d.h. die vorhandenen ‚Bausteine‘ seiner selbst anders zusammenzusetzen und dabei vielleicht den einen oder anderen Stein unauffällig beiseite zu legen – in der Hoffnung, dass niemand der ehemaligen Bezugspersonen gerade diese Steine im falschen Moment wieder ans Tageslicht zerrt. Als besonders schwierig dürfte sich dieses Unterfangen bei Mehrfachkonvertitinnen und -konvertiten erweisen, erst recht, wenn sie sich über ihre erste Konversion bereits schriftlich geäußert und damit zusätzliche zitierbare ‚Bausteine‘ geschaffen haben. Um diese Hypothese zu überprüfen, werden in die vorliegende Untersuchung auch zwei Fälle von Mehrfachkonversion einbezogen.
Auswertung der Quellen Als Quellenbasis dieser Studie dienen die Selbstzeugnisse von insgesamt zwölf Konvertitinnen und Konvertiten, die im 17., 18. und frühen 19. Jahrhundert einen innerchristlichen Glaubenswechsel vollzogen. Acht von ihnen stammten aus dem deutschsprachigen Raum bzw. konvertierten dort: Johannes Höfer, Joseph Jörger, Johann Elers und Johann Georg Obitz traten vom lutherischen Glauben zum Katholizismus über, während Andreas Wangautzky und Johannes Ignatius Wittibar katholischer Herkunft waren und sich später dem Luthertum zuwandten. Johannes Ferdinand Franz Weinberger und Martha Elisabeth Zitter konvertierten ebenfalls zum lutherischen Glauben, kehrten jedoch nach einem Jahr bzw. nach fünf Monaten wieder zum Katholizismus zurück und legten über beide Konfessionswechsel schriftlich Rechenschaft ab. Vier Konvertiten waren niederländischer Herkunft bzw. vollzogen ihren Glaubenswechsel in den Niederlanden: Laurens Baltheus und Andries Reynier traten vom Katholizismus zur reformierten Kirche über, während sich A. Réhn8 und Johannes Weppelman vom mennonitischen bzw. vom reformierten Glauben abwandten und katholisch wurden. Ein Vergleich deutschsprachiger und niederländischer Quellen bietet sich insofern an, als es sich beim Heiligen Römischen Reich und den Niederlanden um zwei Gebiete handelt, die in unterschiedlicher Weise von konfessioneller Pluralität geprägt waren: Während sich die interkonfessionellen Auseinandersetzungen im Heiligen Römischen Reich erst nach dem Dreißigjährigen Krieg allmählich abschwächten, gestaltete sich die Koexistenz der Konfessionen in den Niederlanden im Allgemeinen friedlicher und es herrschte ein höheres Maß an Toleranz. Zudem waren die Niederlande durch eine besonders große Vielfalt an protestantischen Konfessionen gekennzeichnet. Nach seinem Glaubenswechsel stand ein Konvertit zunächst vor der zentralen Aufgabe, seine Entscheidung gegenüber den Mitgliedern der neuen Religionsgemeinschaft plausibel zu machen, um dort als vollgültiges Mitglied akzeptiert und integriert zu werden. An dieser Stelle wird bereits ein direkter Zusammenhang zwischen einem neuen Selbstentwurf und der Etablierung einer neuen, zugleich religiösen und sozialen Zugehö-
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Der vollständige Vorname Réhns war bisher nicht zu ermitteln.
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rigkeit erkennbar, den Peter L. Berger und Thomas Luckmann folgendermaßen beschreiben: „Nur im Rahmen der Religionsgemeinschaft, der ‚Ecclesia‘, bleibt eine Konversion wirklich plausibel. [...] Eine Konversion als Erlebnis bedeutet nicht allzu viel. Entscheidend ist, daß man dabei bleibt, daß man das Erlebnis ernst nimmt und sich den Sinn für seine Plausibilität erhält. Hier nun kommt die Gemeinde ins Spiel. Sie liefert die unerläßliche Plausibilitätsstruktur für die neue Wirklichkeit. Mit anderen Worten: Saulus mag in der Einsamkeit seiner religiösen Ekstase Paulus geworden sein. Paulus bleiben aber konnte er nur im Kreise der christlichen Gemeinde, die ihn als Paulus anerkannte und sein ‚neues Sein‘, von dem er nun seine Identität herleitete, bestätigte.“9
Um welchen Selbstentwurf aber geht es dabei genau; welche Komponenten machen ihn aus? Ich möchte hier von einem ‚Meta-Selbstentwurf‘ als ‚Rechtgläubiger‘ sprechen, der verschiedene untergeordnete Selbstentwürfe in sich begreift, deren Neben- oder auch Gegeneinander im weiteren Verlauf meiner Ausführungen detaillierter dargestellt werden soll. Als gemeinsames Merkmal fast aller hier betrachteten Quellen fällt auf, dass die Konversion auf zweierlei Weise legitimiert wird: Zum einen werden theologische Argumente angeführt, die für die Leser und Leserinnen mit Hilfe ihrer eigenen Verstandeskräfte und ihrer Vernunft nachvollziehbar sein sollen. Diese Argumente werden durch entsprechende Bibelstellen und durch Zitate aus den Schriften der Kirchenväter untermauert, wodurch die Schreibenden zugleich unter Beweis stellen, dass sie sich mit ihrer Zielkonfession ernsthaft und sorgfältig auseinandergesetzt und ihre Entscheidung nicht leichtfertig getroffen haben. Beispielsweise spricht Wangautzky im Titel seiner Konversionserzählung von seinem „ernstliche[n] Abfall von der angebohrnen Papistischen“ und dem „wohlbedächtliche[n] Zufall [...] zu der wahren Evangelisch-Lutherischen Religion“.10 Zum anderen rechtfertigen die Konvertiten ihren Glaubenswechsel mit göttlichen Zeichen in Gestalt von wegweisenden Träumen, wundersamen Erscheinungen oder aber Erkrankungen und anderen Schicksalsschlägen, die retrospektiv ebenfalls als Einwirkungen der göttlichen Vorsehung gedeutet werden. So sieht Jörger den entscheidenden Anstoß zur Konversion in einem Traum, in dem er zu sterben glaubte und darüber in „grosse Bestürtzung“ verfiel, weil er seine „Bekehrung auffgeschoben“ hatte11 und Obitz 9
PETER L. BERGER/THOMAS LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt 1994 (New York 1966) S. 169. 10 ANDREAS WANGAUTZKY, Revocatio Sincera Ernstlicher Abfall von der angebohrnen Papistischen / und hingegen wohlbedächtlicher Zufall und hertzliche Bekehrung zu der wahren Evangelisch-Lutherischen Religion Andreae Wangautzky Nobil: Samogetae. Welche Durch unwiedersprechlichen Antrieb des Heiligen Geistes / und öfftere Besuchungen der Evangelischen Versamblungen in der weitberühmten Churfürstl. Haupt- an See- und Handel-Stadt Königsberg / Anno 1685. geschehen / und zu mehrer Bezeugung Ewiger Beständigkeit hiermit öffentlich / vermittelst refutirten Brieffes bekennet wird. Sey getreu bis in den Todt / so will ich dir die Crone des Lebens geben. Hamburg / Gedruckt im Jahr Christi 1689. 11 JOSEPH JÖRGER, Motiva, Oder Haubt-Ursachen / Welche mich bewogen / Die Lutherische Sect in meinen vorigen jungen Jahren zu verlassen / und den allein seeligmachenden Catholischen Glauben anzunehmen; Zu welchen von Gott wunderbahrer Weiß beruffen worden / und mit Hindannsetzung aller weltlichen Ehr und Hochheit / den geistlichen Ordens-Stand erwöhlt habe. Auff viler Verlangen an Tag geben Von Josepho Jörger / Deß heiligen Cistercienser-Ordens in dem
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berichtet über eine plötzliche, für andere Kirchenbesucher nicht sichtbare Lichterscheinung, die sich einstellte, als er ein Bildnis der Muttergottes anbetete.12 Die Faszination durch den neuen Glauben erscheint damit nicht als eine rein intellektuelle, sondern als ein Einfluss, der den gesamten Menschen ergriff und zudem den Bereich des alltäglichen Fühlens und Erlebens bei weitem überstieg. Obitz stellt diese gefühlsmäßige Faszinationskraft sogar explizit als spezifisches Merkmal des Katholizismus dar, während er das Luthertum mit Gefühlskälte korreliert. Diese Betrachtung findet sich in einer Textpassage, in der er sich lobend über den anteilnehmenden Umgang katholischer Geistlicher mit Sterbenden äußert.13 Dass die emotionale Komponente auch im lutherischen Glauben durchaus eine Rolle spielte, verdeutlicht die Konversionserzählung Wittibars, die als einen Textbaustein eine so genannte „Passions-Rede“ über das Leiden Jesu am „Trost-losen Oelberg“ enthält.14 In dieser Rede gibt Wittibar eine eindrucksvolle, sehr emotionsgeladene Darstellung der Angst und Verlassenheit, die Christus in Gethsemane auszustehen hatte und ermöglicht seinen Lesern und Leserinnen damit einen Zugang zum Glauben, der über die intellektuelle Auseinandersetzung mit der christlichen Lehre hinausgeht. Mit dieser in fast allen hier untersuchten Konversionserzählungen zu beachtenden doppelten Legitimation, einer theologisch-intellektuellen und einer zeichen- und erlebnisgeprägten, korrespondieren zwei Elemente des Meta-Selbstentwurfs als ‚Rechtgläubiger‘, die sich ergänzen oder auch in einem Spannungsverhältnis stehen: Einerseits stellen sich die Schreibenden als gewissenhaft und akribisch Forschende auf der Suche nach dem ‚wahren Glauben‘ dar und weisen sich damit eine aktive Rolle im Konversionsprozess zu, andererseits konzipieren sie sich als willige ‚Objekte‘ der göttlichen Leitung und nehmen eine passive Rolle ein. Bei Jörger ist die gesamte Schilderung des Konversionsprozesses durch einen Wechsel zwischen eigener und göttlicher ‚Verantwortungszuschreibung‘ geprägt, wobei zwischen dem aktiv Forschenden und dem sich lenken lassenden Glaubenden jedoch eher ein komplementäres Nebeneinander als ein Konkurrenzverhältnis zu bestehen scheint: Im Titel seiner Konversionserzählung führt er seine Hinwendung zum Katholizismus zunächst ausschließlich auf die göttliche Einwirkung zurück, indem er angibt, „von Gott wunderbahrer Weiß beruffen worden“ zu sein, was an ein blitzartiges, rational nicht erklärbares ‚Erweckungserlebnis‘ nach paulinischem Fürstlichen Stifft und Closter Lilienfeld Capitularen / und der Zeit Administratoren zu Bergau. Gedruckt zu Wienn / Bey Johann Jacob Kürner / einem Löbl. Ni. Oe. Landschafft Buchdrucker / im Jahr 1710 S. 15 f. 12 JOHANN GEORG OBITZ, Der aufrichtige und überzeugte Convertit, Johann Georg Obitz, Hochfürstlich-Bischöflicher und Domkapitlischer Buchbinder in Augsburg. Mit Erlaubniß der Obern. Augsburg 1787 S. 30 f. 13 Ebd. S. 59. – Vgl. auch 21. 14 JOHANNES IGNATIUS WITTIBAR, Geistlicher Wander-Staab / Welcher mich von vielen gefährlichen Wegen / sonderlich von dem breiten Papistischen Irr-Wege zu den zwar sehr kleinen Wege / welcher durch Distel und Dorn / das ist: durch Trübsahl / Creutz / Armuth / und Noth / zur Seligkeit führet / die wahre Luther- und Evangelische Lehre so weit begleitet / und dem geneigten Leser in Christo durch dieses kleine / von mir erdichtes andächtig / und geistliches Liedlein meinen Stand an Tag zu geben / und in aller Demuth vorgestellet. Sammt einer kleinen beygefügten Passions-Rede von dem schmertzhafften / und an dem Trost-losen Oelberg in dem traurigen Blut-Bad Schwimmenden JESU. Durch Johannem Ignatium Wittibar, Converso Franciscano minorum Conventualium. Gedruckt / im Jahr Christi / 1701 S. 7-12.
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Vorbild denken lässt. Beim Weiterlesen relativiert sich dieser Eindruck allerdings rasch, da Jörger wiederholt einräumt, dass für seine Konversion auch viel eigene, auf kritischer Lektüre und ausgiebigen Gesprächen beruhende Reflexion erforderlich war.15 Höfer schildert einen Konflikt zwischen dem ‚Forschenden‘ und dem ‚Glaubenden‘ bzw. zwischen der göttlichen und der eigenen Aktivität im Konversionsprozess, in dem die göttliche Leitung erst nach einiger Zeit die Oberhand gewinnen konnte: Er berichtet über eine längere Phase der Erkenntnissuche durch intensive Lektüre, an deren Ende er in seinem „Verstand überwiesen“, also auf intellektueller Ebene vom Katholizismus überzeugt gewesen sei.16 Dies befähigte ihn jedoch noch nicht zur Konversion, da er nun „noch einen grössern kampff mit dem Willen“ auszufechten hatte.17 Wittibar hingegen sieht und beschreibt sich ausschließlich als bereitwilliges ‚Objekt‘ der göttlichen Führung; ein eigener aktiver Anteil am Konversionsprozess wird nicht erkennbar bzw. beschränkt sich auf die Zustimmung zu dieser Leitung durch Gott. Dabei kommt der biblischen und im zeitgenössischen lutherischen Protestantismus besonders bedeutungsgeladenen Metaphorik von den zwei unterschiedlichen Lebenswegen, die je nach Entscheidung zu Unheil und Verdammnis oder ins Himmelreich führen können, in Wittibars Konversionserzählung eine geradezu leitmotivische Bedeutung zu. 18 Sie wird bereits im Titel erkennbar: Wittibar spricht hier von einem „geistlichen Wander-Staab“, der ihn „von dem breiten Papistischen Irr-Wege zu dem zwar sehr kleinen Wege“ geleitet habe, der „durch Distel und Dorn / das ist: durch Trübsahl / Creutz / Armuth / und Noth / zur Seligkeit führet“ und betont auf diese Weise den radikalen Bruch zwischen den Lebensphasen vor und nach dem Konfessionswechsel. An anderer Stelle korreliert er die Wegemetaphorik mit Finsternis-Licht-Metaphorik, genauer gesagt, mit vorkonversioneller Verblendung und göttlicher Erleuchtung, die seine Konversion erst möglich machte.19 Reynier nimmt hier insofern eine Sonderstellung ein, als nicht nur der Selbstentwurf als Forschender, sondern auch die theologische Rechtfertigung des Glaubenswechsels völlig fehlt: In seiner Lebensgeschichte, die er einem Herausgeber mit dem sprechenden Namen Christophilus in den Mund bzw. in die Feder legt, wird ausschließlich das Leitmotiv der göttlichen Führung und Bewahrung eines Menschen entfaltet, der – obwohl gebürtiger Katholik – über seine Religion so gut wie nichts wusste und, wie im Folgenden noch genauer erläutert werden soll, zunächst auch lediglich aus pragmatischen Gründen konvertierte. Dieses Leitmotiv verleiht seiner Konversionserzählung ein hohes Maß an Stringenz und Kontinuität, da betont wird, dass ihm die göttliche Rettung aus 15 JÖRGER, Motiva (wie Anm. 11) u.a. S. 3 f., 11 und 25 f. 16 JOHANNES HÖFER, M. Ioannis Höferi. Historia Von seiner Bekehrung zum Catholischen Glauben. An den Durchleuchtigisten Churfürsten in Sachsen / Seinen Gnädigsten Herren underthenigst geschriben. Newlich von dem Author selbs in Latein geschriben / und außgangen zu Wien in Oesterreich. Jetzund aber ins Teutsch versetzt. Gedruckt zu Augspurg / durch Andream Aperger auff unser lieben Frawen Thor, 1631 S. 9. 17 Ebd. 18 Zur Bedeutung der Zwei-Wege-Metapher und ihrer bildlichen Vorstellung als zentralem Bestandteil lutherisch-pietistischer Frömmigkeit und Heiligungsaskese siehe: HANS MEDICK, Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte. Göttingen ²1997 besonders S. 550 ff. 19 WITTIBAR, Wander-Staab (wie Anm. 14) S. 2.
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schwierigen oder gefährlichen Situationen seit seiner Kindheit (und damit lange vor seiner bewussten Hinwendung zu Gott) zuteil wurde.20 Der Selbstentwurf als vernunftgeleiteter, sorgfältig analysierender Forscher ist z. T. korreliert mit anderen Selbstentwürfen, die der Erschließung neuer beruflicher Perspektiven in der aufnehmenden Religionsgemeinschaft dienen sollten. Diese Notwendigkeit der beruflichen Neuverortung bestand vor allem bei jenen Konvertiten, deren Berufstätigkeit unmittelbar an eine bestimmte Konfessionszugehörigkeit gebunden war. Neben dem ehemaligen lutherischen Pfarrer Höfer wäre hier auch Wittibar als Beispiel zu nennen, der vor seiner Konversion Mitglied des Minoritenordens gewesen war. Beide Autoren konzipieren sich in ihren Schriften als ‚Gelehrte‘, genauer gesagt, als umfassend gebildete Theologen, die es würdig sind, auch im neuen konfessionellen Umfeld eine verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen. Dieser Selbstentwurf kommt bei Höfer zum einen darin zum Ausdruck, dass er bereits im Titel auf die lateinische Originalausgabe seiner Konversionserzählung verweist und damit seinen hohen Bildungsstand demonstriert; zum anderen erwähnt er Dispute mit „den fürnehmbsten Theologis zu Dresden / Leipzig / und Wittenberg“21 und spricht explizit davon, dass er es geschätzt habe, seine Erkenntnisse im intellektuellen Schlagabtausch mit anderen Gelehrten nutzbringend einzusetzen: „... sonder es geliebte mir Materi zu haben damit ich im Discurs mit Gelehrten Leuthen desto besser beschlagen wäre / auch etwann [...] manichen flachgelehrten Pracht hansen in dergleichen dingen / inn die Schul zuführen. Daher ich dann zuselben Zeit von dergleichen Materi vil sprach gehalten / zum theil ernstlich, was zu lehrnen / zum theil mich zu Exercieren.“22
Bei Wittibar ist der Selbstentwurf als kompetenter Theologe noch stärker konfessionell geprägt, da er in seiner Konversionserzählung nicht nur das typisch protestantische Genre der Passionspredigt aufgreift, sondern auch ein evangelisches Kirchenlied als Schreibvorlage verwendet und sich dadurch gleich zweifach in die religiöse Kultur seiner neuen Bezugsgruppe einzuschreiben sucht.23 Dabei unterstützte er seine Bemühungen 20 ANONYM, Gods genaderijke handelwijze, betoond in de zonderlinge leiding en bekeering van Andries Reynier, gebooren te Canamari, op het eiland Siciliën, uit Roomschgezinde ouderen; doch thans lidmaat der Hervormde gemeente te Amsterdam. Uitgegeeven door Christophilus. Te Amsterdam, bij Pieter van Os, op de Keizersgracht, bij de Leydschegracht. Amsterdam [1802] S. 13. – Möglicherweise hatte Reynier einen Mitautor, der ihm dabei half, auf Niederländisch zu schreiben, das ja nicht seine Muttersprache war. Zudem dürfte es sich bei dem Namen Andries Reynier um ein Pseudonym oder zumindest um die ‚Niederlandisierung‘ eines italienischen Namens handeln. 21 HÖFER, Historia (wie Anm. 16) S. 2 f. 22 Ebd. S. 5. 23 Wittibars Konversionserzählung beinhaltet ein „geistliches Liedlein“ in 20 Strophen, das, wie der Autor erläutert, zur Melodie des Liedes „Von Gott will ich nicht lassen“ zu singen sei (WITTIBAR, Wander-Staab [wie Anm. 14] S. 2). Dieses Lied ist unter der Nummer 365 im Evangelischen Gesangbuch zu finden: Von Gott will ich nicht lassen. Text: Ludwig Helmbold 1569 / Melodie: Heinrich Schütz 1628. Evangelisches Gesangbuch, Nr. 365, zitiert nach: die christliche liederdatenbank, online unter: http://www.liederdatenbank.de/song/1590 [letzter Zugriff am 20.07.2011]. – Zum Genre der Passionspredigt siehe u.a. ELKE AXMACHER, „Aus Liebe will mein Heyland sterben.“: Untersuchungen zum Wandel des Passionsverständnisses im frühen 18. Jahrhundert. Neuhausen usw. 1984 und WALTER ZWANZGER, Christus für uns gestorben. Die evangelische Passionspredigt. Stuttgart 1985.
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um eine neue berufliche Zugehörigkeit durch die geschickte Wahl seiner Hauptadressaten: Er widmet den „Geistlichen Wander-Staab“ den Geistlichen des Hamburger Domkapitels, die ihn offenbar bereits auf seinem Weg zur Konversion unterstützt hatten und vermutlich ausreichend Einfluss besaßen, um ihm die Etablierung als lutherischer Theologe zu erleichtern.24 Die Konversionserzählungen von Baltheus und Réhn lassen darauf schließen, dass die berufliche Neuverortung für Geistliche auch in den Niederlanden besonders schwierig war: Baltheus nahm nach seiner Konversion ein Theologiestudium auf und kehrte damit zum Status des ‚Auszubildenden‘ zurück; zudem scheint er auf finanzielle Unterstützung angewiesen zu sein, da er seine Schrift mehreren „Mäzenen und Gönnern“ widmet.25 Bezüglich Réhns bemerkt sein Freund und Mitautor Glasbergen, dass dieser durch seine Konversion eine Religionsgemeinschaft verlassen habe, in der er in hohem Ansehen stand, während er in seinem neuen katholischen Umfeld von vielen Menschen misstrauisch oder zumindest mit Vorsicht betrachtet werde und sich auf eine „Laufbahn“ (d.h., auf die Tätigkeit als Priester) vorbereiten müsse, die für ihn völlig neu und fremd sei.26 Die angestrebte Zugehörigkeit zur neuen Konfession war also nicht ausschließlich religiöser Natur, sondern besaß auch eine unmittelbar lebenspraktische Komponente, da ohne eine berufliche Perspektive keine dauerhafte Etablierung im neuen sozialen Umfeld möglich war. Am deutlichsten wird diese lebenspraktische, ja existenzielle Komponente bei Reynier: Einige Tage nach seiner Ankunft in Amsterdam bekam der völlig mittellose Reynier einen Posten als Hausknecht angeboten – jedoch nur unter der Bedingung, dass er sich bereiterkläre, zum reformierten Glauben überzutreten. Er willigte ein und vollzog den Konfessionswechsel zunächst aus rein pragmatischen Gründen; eine innere Hinwendung zu seiner neuen Glaubensgemeinschaft erfolgte erst Jahre später.27 24 WITTIBAR, Wander-Staab (wie Anm. 14) S. 2. – Der im Jahre 1805 abgerissene Hamburger Mariendom war ursprünglich der Bischofssitz des Erzbistums Hamburg, der jedoch bereits im 9. Jahrhundert nach Bremen verlegt wurde, woraufhin in Hamburg lediglich ein Domkapitel verblieb, das seit 1529 lutherisch war. (Vgl. FRANKLIN KOPITZSCH/DANIEL TILGNER, Hamburg Lexikon. Hamburg 32005 130 f.) 25 LAURENS BALTHEUS, Een revocatie der Pauselijcker dwalinghen / midtsgaders een openbaer belijdenis des Geloofs nae de Euangelischer waerheyt / ghedaen tot Leyden den xxvien. May / Anno 1605. in de Hoochlantsche Kercke / door Laurens Baltheus van den Berch / gheweest Pastoor van Overlaer / ende Pater des Convents van Kerckoverlaer by Thienen. In s’Gravenhaghe. By Hillebrandt Iacobssz, woonende aende merckt. Anno 1606 S. 1 f. 26 M. GLASBERGEN, Een woord van liefde aan mijne Protestantische medeburgers en landgenooten, ter gelegenheid van den overgang des eerwaardigen Heere A. Réhn. Uit de gemeenschap der Doopsgezinden, by welke zijn eerwaarde weleer openbaar leeraar was, tot die van de Roomsch-Catholijke kerk. Gedaan binnen Amsterdam, op den 3 october 1804. Door M. Glasbergen, Lz. Pastoor van Helder en Huisduinen. Den Helder o. J. S. 70. – Zur schwierigen beruflichen Neuetablierung von Geistlichen vgl. auch Ines Peper, die u.a. konstatiert, dass die Revokationspredigten ehemaliger Priester nicht zuletzt als „Bewerbungsschreiben“ und „rhetorische Arbeitsproben“ anzusehen seien: INES PEPER, Konversionen im Umkreis des Wiener Hofes um 1700. Wien 2010 S. 219 f. 27 ANONYM, Gods genaderijke handelwijze (wie Anm. 20) S. 46 f. und 50-52. – Das Eingeständnis, aus nicht-religiösen Motiven konvertiert zu sein, bedeutet einen eklatanten Verstoß gegen die Gattungsnormen der Konversionserzählung, der möglicherweise der Grund dafür ist, dass Reynier sich nicht als Autor offenbarte.
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Das Streben nach beruflicher Selbstempfehlung durch Akzentuierung der eigenen intellektuellen Fähigkeiten steht im Kontrast zu einem Selbstentwurf als weltabgewandter, verzichtsbereiter Asket, der wiederum mit dem Selbstentwurf des demütigen Glaubenden korreliert ist: Mehrere Autoren betonen die mit der Konversion verbundenen Nachteile, Verluste und Opfer und sichern sich auf diese Weise gegen den Vorwurf ab, nur aufgrund von Aufstiegsambitionen und Nützlichkeitserwägungen oder aus anderen weltlichen Motiven konvertiert zu sein. Es ist bemerkenswert, dass der Mehrfachkonvertit Weinberger diese Strategie in seinen beiden Konversionserzählungen wählte – 1690 gab er an, als Lutheraner „dem Leibe und dem Zeitlichen nach“ angenehmer gelebt zu haben als im Katholizismus, nachdem er zuvor 1687 keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass die Konversion zum lutherischen Glauben zu einem sozialen Abstieg geführt hatte.28 Da seine Lebensphase als Lutheraner nur wenige Monate umfasste, ist es wenig wahrscheinlich, dass er währenddessen tatsächlich zu Wohlstand gelangt ist, so dass der Widerspruch bestehen bleibt, der die Betonung des Verzichts auf materiellen Vorteil in beiden Konversionserzählungen um so bemerkenswerter macht. Eine allzu deutliche Hervorhebung von Verlusten freilich hätte jedoch wiederum den Verdacht erwecken können, dass man die Konversion bereue. Als Ausweg aus diesem Dilemma bot es sich an, den Verlust zum Verzicht umzudeuten und ihn damit als bewusste und freiwillige Handlung darzustellen. Charakteristischerweise betont auch Jörger schon im Titel seiner Konversionserzählung, dass er nach dem Übertritt zum Katholizismus bewusst auf „alle weltliche Ehr und Hochheit“ verzichtet und sich für ein bescheidenes Leben im Zisterzienserorden entschieden habe. In diesem Zusammenhang werden wiederholt bestimmte Bibelstellen zitiert, in denen die auf Erden erlittenen Verluste angesichts der ewigen Seligkeit bis hin zur Bedeutungslosigkeit bagatellisiert werden (Matth. 5, 10-12; 10, 37; 19, 21. 29; Lk. 14, 26).29 Zugleich erscheinen die Aufgabe welt28 JOHANNES FERDINAND FRANZ WEINBERGER, Mortuus Resuscitatus, Oder Principal-Ursachen / Warum Joan. Baptista Ferdin. Franciscus Weinberger / Des Heil. Röm. Reichs Edler von Hemmersdorff / Oesterreichischen Provincial / aus dem strengen Carmeliter-Orden Theologus in unterschiedlichen Orden Prediger / Secretarius, Feld-Prediger und Missionarius, &c. Aus Der Römisch-Catholischen zu der allein seelig-machenden Evangelischen Religion / welche er als ein anderer Saulus vorhero verfolgte / nunmehr getretten ist / und aus einem Verfolger / ein Nachfolger / durch öffentliche Revocation und Glaubens-Bekänntnüß in der Welt-berühmbten Stadt Leipzig worden ist. Daselbst gedruckt Anno M.DC.LXXXVII S. 4 und 32; DERS., Vere Mortuus, Vere Resuscitatus, Oder / Principal-Ursachen / Warum Joannes Ferdinandus Franciscus Weinberger von Hemmersdorf / Unwürdigster Priester Gottes / Aus Sonderbaren Gnaden des Allerhöchsten schon vor zwey Jahren Anno 1688 / nachdem Er sich im Lutherischen Irrthum zwölf Monat aufgehalten / eilend zur heiliger wahrer uhr-alt-Evangelisch-Roman-Cathol-Apostolisch-allein-seeligmachender Kirchen wiederum begeben; Auch Warum Er im Jahr Christi 1690 diese ReConversions-Predigt Offentlich im Beyseyn vieler tausent Seelen freywilligst und gantz ungezwungen in der Welt-berühmten Stadt Breßlau habe abgelegt. Permissu Superiorum. Mit Hochlöbl. Königl. Ober-Ambts gnädigsten Privilegio nicht nachzudrucken. Breßlau / verlegts George Seydel / Buchhändler o. J. S. 5. 29 U.a. OBITZ, Convertit (wie Anm. 12) S. 86 f. und 89 f.; JÖRGER, Motiva (wie Anm. 11) S. 18. – Zur Gewichtung von irdischen und himmlischen Gütern vgl. auch BALTHEUS, Een revocatie (wie Anm. 25) S. 19 (Übersetzung durch die Autorin): „Es ist wohl wahr, dass ich noch einigen Streit in meinem Herzen habe und das durch die Verdorbenheit der Natur, weil ich verlassen habe das zeitliche Gut, die zeitliche und vergängliche Ehre, die Bequemlichkeit des Fleisches und die Wollust, in der ich lebte etc., so dass der Geist stets Krieg führt gegen das Fleisch, aber was hat dies allemal zu be-
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licher Annehmlichkeiten und der Abbruch früherer sozialer Beziehungen geradezu als ein notwendiger Preis für die Erlangung der Seligkeit mithilfe des neu angenommenen Glaubens. Elers formuliert diese Auffassung sogar in seinen eigenen Worten, indem er sagt, dass er nicht auf die göttliche Gnade hätte hoffen dürfen, wenn er nicht „mit dem Heil[igen]. Genesio allen vormahligen weltlichen Lustigkeiten ... abgesaget“ hätte.30 Eine Identifikation mit einem Heiligen begegnet auch bei Höfer, der sich mit Eustachius vergleicht.31 Der Meta-Selbstentwurf als ‚Rechtgläubiger‘ weist jedoch noch eine weitere Komponente auf, die im Gegensatz zu den bisher genannten nicht an die aufnehmende Glaubensgemeinschaft, sondern an die Angehörigen der Herkunftskonfession gerichtet war: Mehrere Schreibende formulieren den Wunsch, ihre Leserschaft ebenfalls zu einem Konfessionswechsel zu motivieren und Jörger berichtet darüber hinaus, dass er seine beiden Schwestern bereits veranlasst habe, seinem Beispiel nachzufolgen.32 Die Konvertiten nahmen gegenüber den Mitgliedern ihrer früheren Konfession damit eine Art Vermittler- bzw. ‚Brückenfunktion‘ ein, die z. T. jedoch eher ein Fremd- als ein Selbstentwurf gewesen zu sein scheint: So gibt Jörger an, dass seine Schwestern ihn gebeten hätten, die schon früher verschriftlichten „Motiva“ seines Glaubenswechsels durch den Druck auch anderen zugänglich zu machen.33 Obitz hingegen wurde anscheinend von namentlich nicht genannten Katholiken „ersuchet“, seine bisher nur mündlich erzählte Konversionsgeschichte zu publizieren, um öffentlich bekannt zu machen, „wie gar unredlich man lutherischer Seits in dem so wichtigen Geschäffte der Seele darein zu gehen pflege“.34 Bei Jörger und Obitz wird gegenüber der Herkunftskonfession ein Konflikt zwischen notwendiger Abgrenzung und dem weiterhin bestehenden Wunsch nach Zugehörigkeit erkennbar, den sie dahingehend aufzulösen suchen, dass sie zwischen ‚Sache‘ und ‚Person‘ trennen, d.h. sie lehnen den lutherischen Glauben ab, ohne dessen Anhänger pauschal zu verurteilen und ihnen ihre menschlichen Qualitäten abzusprechen. 35 Wangautzky und Baltheus legten offenbar ebenfalls Wert darauf, auch nach dem Überschreiten der konfessionellen Grenze familiäre bzw. freundschaftliche Beziehungen zu ihrem früheren Umfeld aufrechtzuerhalten – in ihre Konversionserzählungen sind Briefe integriert, die ursprünglich an Wangautzkys Bruder bzw. an einen Freund von Baltheus
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deuten, wenn man es vergleichen will mit den Gütern unserer Seele? Ich habe ein wenig verloren, aber dagegen unaussprechliche Reichtümer gefunden,...“. JOHANN ELERS, Joannis Elers Phil. & Med. Stud. Allen wohl- und übel-wollenden ausgezahlter Neu-Jahrs-Wechsel; Oder: Motiva, Warumm er die Lutherische Kirche verlassen / und sich Anno 1700. den 6. Decembr. am Fest des Heil. Nicolai bey denen hiesigen R.R.P.P. Dominicanis zu St. Maria Magdalena mit der Einigen / Heiligen / Catholischen und Apostolischen Kirchen vereiniget. Denen Irrenden zum unterricht und Nachfolge / Ihme selbst aber zum Trost verfasset. Cum Indultu Superiorum. Augspurg / Gedruckt bey Joseph Gruber / Buchdruckern. Zufinden bey Johann Stretter / bey unser Lieben Frauen Thor. Anno 1701 S. 8. – Vgl. auch OBITZ, Convertit (wie Anm. 12) S. 90 und HÖFER, Historia (wie Anm. 16) S. 9 f. HÖFER, Historia (wie Anm. 16) S. 11 f. JÖRGER, Motiva (wie Anm. 11) Dedicatio. Ebd. OBITZ, Convertit (wie Anm. 12) S. 87; vgl. auch 3. JÖRGER, Motiva (wie Anm. 11) Dedicatio, S. 1 und 22 f.; OBITZ, Convertit (wie Anm. 12) S. 6 f., 38 und 89 f.
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aus dem Kloster gerichtet waren, in dem dieser vor seiner Konversion gelebt hatte. Zitter 36 hingegen richtet ihre Konversionserzählungen zwar vorgeblich an ihre Mutter, spricht diese im Text jedoch kaum persönlich an und scheint es nach ihrer Rekonversion auch nicht in Betracht gezogen zu haben, nach Hause zurückzukehren. Bei Réhn und Weppelman reichte die Trennung zwischen Sache und Person so weit, dass sie vor und nach ihrer Konversion konfessions- oder sogar religionsübergreifend Freundschaften pflegten, die in ihren Schriften ausführlich thematisiert werden.37 Die vergleichende Betrachtung der hier untersuchten Quellen macht deutlich, dass das Maß an noch vorhandener bzw. an gewünschter Zugehörigkeit zum früheren konfessionellen Umfeld stark variierte, wobei Wittibar und Weppelman die beiden Extrempositionen einnehmen: Wittibar betont, dass seine Freunde sich infolge seiner Konversion völlig von ihm abgewandt hätten38, während bei Weppelman keinerlei Anzeichen dafür zu finden sind, dass sein umfangreiches soziales Netz durch seinen Konfessionswechsel beschädigt wurde. Eine zusätzliche Variante des Selbstentwurfs als ‚Rechtgläubiger‘ findet sich bei Obitz, der sich als einziger der hier betrachteten Autoren explizit an andere Konvertiten – und damit an eine dritte Bezugsgruppe ‚zwischen den Konfessionen‘ – richtet: Obitz erwähnt immer wieder andere, z. T. prominente Konvertiten und lobt ihre vorbildlichen Eigenschaften und Verdienste.39 Auf diese Weise illustriert er das im Titel seiner Schrift skizzierte Idealbild des „aufrichtigen und überzeugten Convertiten“ und ordnet sich in die ehrenvolle Traditionslinie derer ein, die diesem Idealbild entsprechen und „sich des Namens eines Convertiten nicht geschämet“ haben.40 Zudem definiert er den ‚idealen Konvertiten‘ ex negativo, indem er scharfe Kritik an denjenigen Konvertiten übt, die aus rein weltlichen Gründen einen Konfessionswechsel vollziehen. Von diesen distanziert er sich klar.41 An anderer Stelle wendet er sich direkt an seine „liebe[n] Mitconvertiten“, 36 MARTHA ELISABETH ZITTER, Gründliche Vorstellung Der Heiligen Römisch-Catholischen Lehr von dem Geistlichen Stand / und dessen Gelübden; Verdienst der guten Werck; Anruffung der Heiligen; Ablaß; Beicht; Fegfewer; und Hochheiligstem Sacrament deß Altars: Oder Aufferwachtes Gewissen und Wahrhaffte Ursachen Welche mich Schwester Marthen Elisabeth von JESU bewogen Von dem Lutherthumb und Hof-Leben Zu der H. Catholischen Kirchen under die Clösterliche Zucht widerumb zurück zu tretten. In einem Schreiben an meine liebe Mutter Frau Mariam Margaretham vormahls Zitterin / anjetzo H. Obristen Lieutenants Johann Hübners gewesenen Hochfürstl: Bamberg: Commendantens in Cronach Eheliebste / etc. etc. Zu schuldigster Rettung der Ehr deß von mir höchstbeleidigten Gottseeligen Ursuliner Ordens; und zu Christlicher Bekantnuß deß allein seeligmachenden Catholischen Glaubens / reumüthigst angezeigt. In Verlegung Johann Eliae Höffling / Bibliop. Academ. Getruckt zu Bamberg / In der Hochfürstl: Truckerey / durch Johann Jacob Immel. Im Jahr 1678. 37 Réhn war bereits vor seiner Konversion mit seinem Mitautor Glasbergen befreundet, was vor allem aus dem in der Konversionserzählung mit abgedruckten Briefwechsel hervorgeht (GLASBERGEN, Een woord van liefde [wie Anm. 26] S. 77-102). Weppelman pflegte zahlreiche Kontakte zu Katholiken, Angehörigen verschiedener protestantischer Konfessionen sowie zu Juden und „völlig Ungläubigen“ (JOHANNES WEPPELMAN, Beweegredenen, die Johannes Weppelman hebben genoopt, om van den Hervormden tot den Roomsch-Katholijken godsdienst over te gaan. Benevens zijne afgelegde belijdenis, aanspraak en gebeden, bij die gelegenheid gedaan. Te Amsterdam, bij Geysbeek & Comp. 1816 u.a. S. 11 f.). 38 WITTIBAR, Wander-Staab (wie Anm. 14) S. 6. 39 OBITZ, Convertit (wie Anm. 12) S. 46-48, 58 f. und 85 f. 40 Ebd. S. 86. 41 Ebd. S. 49 f.
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denen er tröstende und ermutigende Worte zuspricht und damit auch zugleich selbst Trost und Halt in dieser solidarischen ‚Leidensgemeinschaft‘ sucht.42 Bisher war ausschließlich von Selbstentwürfen die Rede, die mit innerweltlichen Zugehörigkeiten korreliert waren – darüber hinaus wird in den Konversionserzählungen jedoch immer wieder das Bestreben erkennbar, die eigene Beziehung zu Gott zu beschreiben oder auch ‚festzuschreiben‘: Dabei fällt auf, dass mehrere Autoren darauf bedacht sind, ihren Konfessionswechsel nicht als Bruch, sondern eher als Rückkehr zu einem bereits in der Kindheit angelegten göttlichen Lebensplan darzustellen und so die Kontinuität und innere Logik ihrer Lebensgeschichte hervorzuheben. So sagt Obitz explizit, dass er durch die Konversion seinen Taufbund nicht nur nicht gebrochen, sondern „itzt erst recht in die Erfüllung“ gebracht habe, da er sich „in der Taufe nicht zu einer falschen Religion, sondern zur wahren verbunden habe“.43 Auch Wangautzky führt aus, dass er sich durch den Konfessionswechsel wieder mit der von Christus „gestifftet[en]“ Kirche vereinigt habe, die er zuvor „auß Blindheit verlassen“ hatte.44 Auf diese Weise konzipieren sich die Autoren als von Gott entworfene Wesen, die aufgerufen und verpflichtet sind, diesen göttlichen Entwurf herauszufinden und mit Leben zu erfüllen – oder aber, um mit Brecht zu sprechen, „ihm ähnlich zu werden“.45 Besonders ausgeprägt ist diese Betonung der Kontinuität bei Weppelman, der geradezu leitmotivisch hervorhebt, dass er schon lange vor seiner Konversion gute Kontakte zu Katholiken hatte und eine Affinität zu bestimmten katholischen Glaubenspraktiken, wie etwa zur Marienverehrung und zum Fasten, besaß.46 Dass man unter diesen Umständen nicht bereits früher konvertiert war, wird meist damit begründet, über den ‚wahren‘ Glauben gar nicht bzw. falsch informiert gewesen zu sein – Höfer spielt in diesem Kontext auf den bekannten Bibelvers Lukas 23, 34 an: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“47 Wangautzky argumentiert ähnlich und korreliert seine damalige „Blindheit“ zudem noch mit Krankheitsmetaphorik, indem er schreibt, dass er „ein recht ungesundes mit allerhand Päbstischen Kranckheiten / Staaren und überzogenen Finsternüssen blindes Kind gewesen“ sei, das erst die „tröstliche[n] Medicamenta“ der Unterweisung im lutherischen Glauben zum „rechtsehende[n] Mann“ gemacht hätten.48 Dadurch bringt er zugleich zum Ausdruck, dass er für das ‚falsche‘ Leben vor der Konversion nicht verantwortlich zu machen ist, da man an einer Krankheit üblicherweise keine Schuld trägt. Zudem verbinden Wangautzky und Baltheus die Lebensphasen vor und nach der Konversion mit verschiedenen Altersstufen: Der frühere Glaube wird mit kindlicher Naivität assoziiert und dadurch abgewer-
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Ebd. S. 88 f. Ebd. S. 39 f. – Vgl. auch HÖFER, Historia (wie Anm. 16) S. 11. WANGAUTZKY, Revocatio Sincera (wie Anm. 10) S. 13. BERTOLT BRECHT, Geschichten vom Herrn Keuner, in: DERS., Kalendergeschichten. Hamburg 1953 S. 102-117, zit. 106. 46 WEPPELMAN, Beweegredenen (wie Anm. 37) u.a. S. 5-12, 37 und 44 f. 47 HÖFER, Historia (wie Anm. 16) S. 2. – Vgl. auch OBITZ, Convertit (wie Anm. 12) S. 3 f., 6-9 und WANGAUTZKY, Revocatio Sincera (wie Anm. 10) S. 7. 48 WANGAUTZKY, Revocatio Sincera (wie Anm. 10) S. 2 f.
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tet, während der neue Glaube als die begründete Überzeugung eines Mannes dargestellt wird, der im Vollbesitz seiner Verstandeskräfte ist.49 Die Beziehung zu Gott kommt auch in einem weiteren Selbstentwurf zum Ausdruck, der vor allem in der Konversionserzählung Wittibars deutlich erkennbar wird: Wittibar konzipiert sich in seiner Nachdichtung des Kirchenliedes als ein Mensch ohne jeden innerweltlichen Halt, dessen frühere sozialen Beziehungen durch seinen Konfessionswechsel zerstört worden sind. Die ‚Entschädigung‘ für diese irdische Verlassenheit sucht er in der unmittelbaren Zugehörigkeit zu Gott bzw. Jesus, der ihm „die rechte Himmels-Thüre“50 gezeigt habe: „Stercke mich an meinem Glauben / in dieser bösen Zeit / Daß ich Dir thue vertrauen / in Creutz und Traurigkeit / Auf dich stehet all mein Sinn / hier bin ich gantz verlassen / Meine Freunde thun mich hassen / sie thun nicht wie vor hin.“51
Eine ähnliche Textstelle findet sich bei Wangautzky, der ebenfalls betont, dass er „außer Christum / nichts / begehre zum Gewinn“.52 Zudem ließe sich hier nochmals an den eingangs zitierten Brief des Apostels Paulus an die Philipper anknüpfen, denn dort heißt es in Vers 20 des 3. Kapitels: „Unser Bürgerrecht aber ist im Himmel; ...“ Auch Zitter macht in einem offenbar selbst verfassten Liedtext deutlich, dass weltliche Zugehörigkeiten für sie angesichts ihrer Beziehung zu Jesus bedeutungslos werden, den sie „von gantzen Herzen / Zum Gesponß erwehlet“ habe.53 Zudem kommt die Betonung dieser überweltlichen Zugehörigkeit darin zum Ausdruck, dass sie sich mehrfach als „Schwester Marthen Elisabeth von JESU“ bezeichnet und ihren bürgerlichen Nachnamen unerwähnt lässt.54 Abschließend möchte ich noch kurz darauf eingehen, welche spezifischen Selbstentwürfe aus der bei einer Mehrfachkonversion unvermeidlichen Nicht-Auflösbarkeit von Widersprüchen entstehen können: Selbst bei einer noch so akribischen Dekonstruktion des Argumentationsgebäudes aus der ersten Konversionserzählung bleibt doch immer das Dilemma bestehen, wie man den zunächst als Resultat des göttlichen Wirkens dargestellten ersten Glaubenswechsel nachträglich überzeugend als Irrtum deklarieren soll, ohne dabei die Unfehlbarkeit und absolute Sinnhaftigkeit des göttlichen Handelns anzuzweifeln. Weinberger thematisiert dieses Problem explizit und spricht sich gleich vorauseilend schuldig, wobei er in extreme Selbsterniedrigung verfällt: „Christliche Seelen! war ist es / ich bin der Geringste unter den Rechtgläubigen / unter den Dienern und Priestern Gottes / weilen ich die Kirchen Gottes nicht wie Paulus unwissentlich / sondern wissentlich / vorsetzlich / und aus Bosheit verfolget habe! ja darum bin ich nicht 49 LAURENS BALTHEUS, Een antwoord eens Sentbrieffs / aen den voorgenoemden gheschreven / vol lasteringhen ende blasphemien / van eenen Pater des Cloosters van Sepperen ghenaempt Pater Nicolaes Schafs. In s’Graven-Hague. By Hillebrant Iacobssz, woonende aende merckt. Anno 1606 S. 11. (Publiziert als Anhang zu "Een revocatie..." [wie Anm. 25] mit eigener Seitenzählung.) – WANGAUTZKY, Revocatio Sincera (wie Anm. 10) S. 2 f. 50 WITTIBAR, Wander-Staab (wie Anm. 14) S. 4. 51 Ebd. S. 6. 52 WANGAUTZKY, Revocatio Sincera (wie Anm. 10) S. 1. 53 ZITTER, Gründliche Vorstellung (wie Anm. 36) S. 70. 54 Ebd. Titel und S. 68.
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werth / daß ich ein Priester genennet werde / daß ich das Apostolische Predig-Ampt vertretten sol!“55
An anderer Stelle bemerkt er sogar, dass er durch seine Hinwendung zum Luthertum das Recht völlig verwirkt habe, sich weiterhin zur „Versammlung der Rechtglaubigen“ und zu den „Lämmer[n] Christi“ zu zählen. Stattdessen sieht er sich fortan zu einem Leben als Hund verpflichtet, „welchen jederman mit Füssen stosset“, ja, er sagt ausdrücklich, dass Gott ihn nur unter dieser Bedingung errettet habe: „O ich wuste wohl / daß mich Gott nicht umsonst hätte von diesem schweren Tode auferweckt / daß Er mir solche grosse Gnad nicht umsonst hätte erwiesen und mitgetheilet / Er wolte haben ich solte des himmlischen Ertz-Hirten sein Schaaf-Hund seyn.“56
Die Rolle des Hirtenhundes erscheint also nicht wie ein freiwillig gewählter Selbstentwurf, sondern eher wie ein göttlich zugeteiltes Los, das Weinberger bereitwillig auf sich nimmt und sich dadurch in eine untergeordnete Stellung mit ausschließlich dienender Funktion begibt. Auf den zweiten Blick bietet sich allerdings ein differenzierteres Bild: Die folgende Textstelle demonstriert, dass Weinberger seine neue Tätigkeit als Bewacher der christlichen Schafherde durchaus offensiv verstand – ein Eindruck, der durch die zahlreichen Bekehrungsappelle in seiner Revokationsschrift bestätigt wird: „So fange ich nun an als ein treuester Schaaf-Hund meines himmlischen Oberisten Ertz-Hirten Jesu Christi zu bellen / auch zu streiten wider die grausamen Wölffe / wider die Verführer der allerliebsten Schäfflein Christi...“.57
Anscheinend genügte es ihm nicht, die „Wölfe“ durch seine bloße Präsenz zu verjagen, sondern er tat dies durch lautstarkes pro-katholisches Bellen mit unüberhörbarer Bekehrungstendenz.58 Dieser Selbstentwurf als offensiver Hirtenhund begleitete ihn noch mindestens bis in das Jahr 1693, als Weinberger unter dem Titel Erster Beller Deß Unwürdigsten Schaaf-Hunds Jesu Christi eine weitere Schrift zur Verteidigung der katholischen Glaubenslehren publizierte.59 Martha Elisabeth Zitter hingegen entschied sich dafür, die Ernsthaftigkeit ihrer ersten Konversion und damit auch die Bedeutung ihrer ersten Schrift zu relativieren, indem sie ihre Hinwendung zum Luthertum darauf zurückführt, dass sie sich mit ihrem „schwa55 56 57 58
WEINBERGER, Vere Mortuus (wie Anm. 28) S. 11. Ebd. S. 12. Ebd. S. 13. Der Selbstentwurf als Hirtenhund erinnert an das Selbstverständnis der Dominikaner als „Hunde des Herrn“ („domini canes“); ein Hund mit einer Fackel im Maul ist Attribut des Ordensgründers Dominicus. (Vgl. JUTTA SEIBERT, Lexikon christlicher Kunst. Themen – Gestalten – Symbole. Freiburg usw. 1980 S. 149.) Ob der ehemalige Karmelitermönch Weinberger bewusst auf diese Symbolik anspielt, ist aus seiner Revokationsschrift nicht zu erschließen. 59 JOHANNES FERDINAND FRANZ WEINBERGER, Erster Beller Deß Unwürdigsten Schaaf-Hunds Jesu Christi, Unsers Obristen Ertz-Hirten Menschlicher Seelen; Das ist: Ein kurtzer Tractat / Worinnen Die Warheit der H. Evangel-Römischer Kirchen Von Feg-Feuer / Wider Alle desselbigen Widersager durch Göttlichen Beystand klar / ja Hand-greifflich sich beflissen hat zu entwerffen Joannes Ferdinandus Franciscus Weinberger, von Hemmersdorff / Der H. Römischen Kirchen Priester / SS. Theol. Doctor, &c. Author, Wien 1693.
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chen Verstand“ zu eigenmächtigem Nachdenken über Glaubensfragen habe hinreißen lassen und dadurch irregeleitet worden sei.60 Dieses Vertrauen in ihre „aigne betrügliche Mainung“ sieht sie vor allem aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit als verwerflich an, da Paulus dem „Gebrechlichen Weybsvolck“ doch unmissverständlich geboten habe, in der Kirche zu schweigen.61 Dazu passt auch ihre Selbstbezeichnung als „verirrt gewesenes“ – und infolgedessen der kompetenten Führung bedürftiges – „Schaaf“.62 Indem sie sich als Frau die Fähigkeit und Berechtigung zum selbständigen Gebrauch ihres Verstandes abspricht, diskreditiert sie implizit jedoch zugleich auch die sachlogische Argumentation in ihrer Revokationsschrift. Zudem reduziert sie die Verantwortung für ihre erste Konversionserzählung, indem sie diese rückblickend als ‚Auftragsarbeit‘ des Gothaer Konsistoriums darstellt, bei der ihr „ein wohlerfahrner Lutheraner an die Hand gegangen“ sei. 63 Mit dieser Relativierung des ersten Glaubenswechsels korrespondiert ein Selbstentwurf, der sich als ‚Extremform‘ des demütig Glaubenden bezeichnen ließe: Zitter konzipiert sich in ihrer Revokationsschrift als vorbehaltlose ‚Befehlsempfängerin‘, die „auß Christlicher Demuth“ ihren „Verstand“ „zum Gehorsam deß Glaubens“ „gefangen genommen“ hat64 und sich verpflichtet, von nun an nichts mehr zu hinterfragen: „An diese heilige Kirch halte ich mich / und erforsche nicht ferner / auff deß Teuffels Eingebung / warumb dieses oder jenes zu glauben befohlen worden? mir ist genug / daß meine heilige allgemeine Mutter bekennet und fürstellet / daß es der Herr also zu glauben befohlen habe...“.65
Beide waren mehrfach konvertiert und versuchten durch ihre Rekonversion und deren schriftliche Rechtfertigung an die unterbrochene Kontinuität ihrer Lebensgeschichte anzuknüpfen, beschritten im Hinblick auf die angestrebten sozialen Zugehörigkeiten dabei jedoch verschiedene Wege: Anstatt an frühere katholische Kontakte anzuknüpfen, entschied Weinberger sich für die ‚Flucht nach vorne‘ durch die Wahl eines einflussreichen adeligen Hauptadressaten, von dem er sich vermutlich Schutz und Unterstützung bei der Etablierung in einem neuen Lebensumfeld erhoffte: Er widmete seine Rekonversionserzählung „Hanns Wolff / Frey-Herrn von Franckenberg / und Ludwigsdorf“ und bat diesen, ihn und seine Schrift „unter Dero Hoch-Frey-Herrlichen Gnaden-Schatten der Franckenberge an- und aufzunehmen“.66 Zitter hingegen schwankte zwischen dem Streben nach Kontinuität und Abgrenzung: Eine Rückkehr zu ihrer Herkunftsfamilie kam für sie anscheinend auch nicht in Betracht; bezüglich ihrer früheren Klostergemeinschaft erklärte sie sich zwar zum Verbleib im Orden der Ursulinen bereit, äußerte aber den Wunsch, in einem anderen Konvent zu leben, da sie nach ihrer Flucht aus dem Kloster in Erfurt von den dortigen Nonnen üble Nachrede oder schlimmere Repressalien befürchtete – wobei auch diese Kompromisslösung vermutlich
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ZITTER, Gründliche Vorstellung (wie Anm. 36) S. 11 und 66. Ebd. S. 66, vgl. auch 11. Ebd. S. 7. Ebd. S. 78. Ebd. S. 66. Ebd. S. 90. WEINBERGER, Vere Mortuus (wie Anm. 28) Dedicatio. – Die Seitenzählung beginnt erst mit dem eigentlichen Predigttext.
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nur auf Druck von außen und mangels einer attraktiven Alternative zustande kam. Tatsächlich übersiedelte sie wenig später in das Ursulinenkloster in Kitzingen.67
Fazit Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die hier betrachteten Konvertitinnen und Konvertiten ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Bezugsgruppen offenbar differenziert wahrnahmen und durch den adressatenspezifischen Einsatz von Selbstentwürfen zu steuern suchten. Die Pluralität an Adressaten mit z. T. diametral entgegengesetzten Wertvorstellungen und Erwartungshaltungen machte die Selbstverortung zum Balanceakt und ließ die Grenze zwischen der Koexistenz und Konkurrenz von Selbstentwürfen immer wieder verschwimmen. Die konfligierenden Selbstentwürfe im Meta-Selbstentwurf des ‚Rechtgläubigen‘ auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, war vor allem für Mehrfachkonvertiten bestenfalls näherungsweise möglich. Tatsächlich wird in allen Texten eine Spannung zwischen der Abgrenzung vom Leben vor der Konversion und der Betonung von Kontinuitäten über den Konversionsprozess hinaus erkennbar, wobei die Gewichtung der beiden Komponenten unterschiedlich ist und in hohem Maße vom Verhältnis der Konfessionen und dem Stellenwert der Konfessionszugehörigkeit im jeweiligen Umfeld abhängen dürfte. Dieses Ergebnis zeigt, dass die von Heidrich und anderen Autoren vertretene Position einer klaren Trennung des Lebens vor und nach der Konversion in den hier untersuchten publizierten Konversionsberichten nicht bestätigt wird.68 Um diese Zusammenhänge genauer zu beleuchten, wären daher ergänzende Untersuchungen äußerst wünschenswert, die sich um eine umfassende Kontextualisierung der Quellen bemühen. Zugleich weisen die Selbstentwürfe und die (angestrebten) Zugehörigkeiten der hier betrachteten Konvertiten und Konvertitinnen allerdings auch konfessions- und länderübergreifende Parallelen auf, die in der Natur der religiösen Konversion selbst begründet liegen: d. h., in eben diesem unharmonischen, aber unvermeidbaren Nebeneinander des 67 ZITTER, Gründliche Vorstellung (wie Anm. 36) S. 81. – Vgl. auch PEPER, Konversionen (wie Anm. 26) S. 226 f. 68 Hier wären neben HEIDRICH, Die Konvertiten (wie Anm. 2) S. 10 f. vor allem Berger/Luckmann sowie Walter M. Sprondel zu nennen, die ausdrücklich betonen, dass ein Abbruch der früheren sozialen Beziehungen für einen Konvertiten unerlässlich sei, um die Beständigkeit im neuen Glauben zu gewährleisten: BERGER/LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (wie Anm. 9) besonders S. 169 f. und WALTER M. SPRONDEL, Subjektives Erlebnis und das Institut der Konversion, in: Soziologie und gesellschaftliche Entwicklung. Verhandlungen des 22. Deutschen Soziologentages in Dortmund 1984. Hg. BURKART LUTZ. Frankfurt a. M. usw. 1985 S. 549-558, zit. 555 f. Vgl. auch THOMAS LUCKMANN, Kanon und Konversion, in: Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II. Hg. ALEIDA und JAN ASSMANN. München 1987 S. 38-46, besonders 44 und BERND ULMER, Die autobiographische Plausibilität von Konversionserzählungen, in: Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge. Hg. WALTER SPARN. Gütersloh 1990 S. 287-295, besonders 292 f. – Ines Peper vertritt demgegenüber eine differenziertere Ansicht, indem sie hervorhebt, dass sich die konfessionelle Grenze auch als durchlässig bzw. fließend erweisen konnte und frühneuzeitliche Konversionen „nicht zwangsläufig als ‚Bruch mit sich selbst‘“ aufzufassen seien (PEPER, Konversionen [wie Anm. 26] S. 18).
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Bruchs mit dem „Dahinten“ und der Herstellung eines sinnstiftenden Zusammenhangs der gesamten Lebensgeschichte. Dieses Problem wird dadurch verstärkt, dass religiöse und emotionale Zugehörigkeiten keineswegs immer deckungsgleich sind, d.h. die Absage an bestimmte Glaubensüberzeugungen führt nicht automatisch zum Abbruch der Bindung an jene Bezugspersonen, die diese Überzeugungen weiterhin vertreten. Vor diesem Hintergrund sind die überweltlichen Selbstentwürfe der Konvertiten und Konvertitinnen m.E. nicht zuletzt auch als ein Weg zu sehen, das Dilemma der konfligierenden und häufig nur ‚unter Vorbehalt‘ gewährten oder nur noch eingeschränkt möglichen Zugehörigkeiten zumindest vorübergehend (schreibend) zu überwinden – in einer unmittelbaren, persönlichen Beziehung zu Gott und dem Einswerden mit dem ihm zugeschriebenen Entwurf.
ULRICH MÜCKE
Autobiographisches Schreiben und Kolonialismus in Peru
Zu den zahlreichen Verfahren und Techniken, welche die Spanier im 15. und 16. Jahrhundert in den Amerikas einführten, gehörte nicht zuletzt die Lautschrift. Diese verdrängte innerhalb kürzester Zeit die vorspanischen Schriften bzw. schriftähnlichen Aufzeichnungsverfahren und war eine, vielleicht sogar die maßgebliche Technik, mit der es der spanischen Krone gelang, ihre Herrschaft sowohl gegenüber den indianischen Eliten als auch gegenüber den europäischen Eroberern zu etablieren und drei Jahrhunderte lang zu verteidigen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich die Historiographie zu Lateinamerika seit vielen Jahren intensiv mit der schriftlichen Verwaltung beschäftigt, um zu verstehen, wie die spanische Krone mit so wenig militärischer Gewalt ein so großes Gebiet so lange Zeit beherrschen konnte.1 Während die Bedeutung der Schrift für die lateinamerikanische Geschichte unumstritten ist, hat das autobiographische Schreiben bisher relativ wenig Aufmerksamkeit erfahren. Dieser Umstand verwundert vor allem deshalb, weil zahlreiche herausragende Dokumente der lateinamerikanischen Geschichte als Selbstzeugnisse verfasst wurden. Die spanischsprachige Geschichte der Selbstzeugnisse in Lateinamerika kann man mit dem Bordbuch des Christoph Kolumbus beginnen lassen. Hier sind schon viele jener Motive entwickelt, welche in späteren Jahrzehnten und Jahrhunderten das Kolumbus-Bild prägen sollten. Der Eroberer wird beschrieben als ein aufrichtiger und mutiger Seefahrer, der durch Geschick und Autorität sein Vorhaben gegenüber der zweifelnden Mannschaft durchsetzt. Er tut dies in Loyalität zur Krone aber nicht als unwürdiger Vasall, sondern als ein Diener Gottes, welcher dem Christentum durch die Bekehrung der Heiden neue Gläubige zuführen will.2 Ähnlich wie die Beschreibung des Kolumbus’ im Bordbuch das spätere Bild Kolumbus’ prägte, so haben zahlreiche Eroberer im 16. Jahrhundert ihre Berichte verfasst, um Einfluss auf spätere Wertungen ihrer Taten und ihrer Person zu nehmen. Hernán Cortés versuchte mit seinen Briefen an Karl V. das eigene ohne jeglichen Auftrag durchgeführte Unternehmen zu rechtfertigen und produzierte daher selbstredend eine ausführliche implizite und explizite Selbstbeschreibung.3 Andere Sichten auf die Eroberung des Aztekenreichs führten zu anderen Darstellungen der Er1
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HORST PIETSCHMANN, Die staatliche Organisation des kolonialen Lateinamerika. Stuttgart 1980; DERS., Los principios rectores de la organización estatal en las Indias, in: Inventando la nación. Iberoamérica. Siglo XIX. Hg. ANTONIO ANNINO/FRANÇOIS-XAVIER GUERRA. Mexiko/Stadt 2003 S. 47-84. MARK MÜNZEL/BIRGIT SCHARLAU, Quellqay. Mündliche Kultur und Schrifttradition bei den Indianern Lateinamerikas. Frankfurt a. M. 1986. Das Bordbuch ist nicht im Original überliefert, sondern in einer von Bartolomoé de las Casas veröffentlichten Fassung. So ist häufig unklar, inwieweit der Text auf Las Casas zurückzuführen ist. CRISTÓBAL COLÓN, Textos y documentos completos. Madrid 1992; BARTOLOME DE LAS CASAS, Obras completas. Vol. 14: Diario del primer y tercer viaje de Cristóbal Colón. Madrid 1989; FRAUKE GEWECKE, Christoph Kolumbus. Leben. Werk. Wirkung. Frankfurt a. M. 2006. HERNAN CORTES, Cartas de relación. Madrid 1993.
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oberung, welche wiederum auch Selbstbeschreibungen enthielten.4 Dabei ging es – wie schon bei Kolumbus und Cortés – immer auch um die eigenen Verdienste und die damit verbundenen Hoffnungen, wenn nicht gar Ansprüche auf Gunsterweisungen durch die Krone. Der Übergang von den Berichten der spanischen Eroberer zu jenen der spanischen Siedler, Verwaltungsbeamten, Händler und encomenderos war daher fließend. Denn auch nach Abschluss der ersten Eroberungen und nach Konsolidierung der spanischen Herrschaftszentren erbaten die Spanier und deren Kindeskinder Vergünstigungen unter Verweis auf die eigenen Verdienste und die ihrer Vorfahren. Die spanischamerikanische Verwaltung war daher von Beginn an ein Apparat, welcher Hunderte und Tausende von Texten kanalisierte, die Selbstbeschreibungen enthielten.5 Dies gilt gerade auch für den indianischen Adel, der eine der Säulen der spanischen Herrschaft darstellte. So entstanden im Laufe der Kolonialzeit unzählige Schriften, in denen indigene Autoritäten ihren Anspruch auf ihre herausgehobene Position begründeten, indem sie ihre Geschichte und die ihrer Vorfahren erzählten.6 Neben der weltlichen Verwaltung brachte auch die zweite Säule der spanischen Herrschaft, die Geistlichkeit, eine große Zahl von Selbstzeugnissen hervor. Nicht zuletzt die große Bedeutung der Orden hatte hier zur Folge, dass ungezählte Berichte von Geistlichen an ihre Oberen entstanden, in denen jene Rechenschaft über ihren Lebenswandel ablegten.7 Die Unabhängigkeit des kontinentalen Lateinamerikas markierte auch in der Geschichte des autobiographischen Schreibens bedeutende Veränderungen. Die Kolonialverwaltung verschwand, und die Stellung der Kirche veränderte sich. Insbesondere die Ordensgeistlichkeit verlor im 19. Jahrhundert an Bedeutung. Anders als in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien wurde autobiographisches Schreiben aber kein zentrales Element einer städtisch-bürgerlichen Kultur. Die Vorstellung von bürgerlicher Privatheit in Lateinamerika war nur lose mit der Produktion von Selbstzeugnissen verbunden, so dass eine im Vergleich zu Deutschland, Frankreich und Großbritannien relativ geringe Zahl an Selbstzeugnissen entstand, die nicht für die Publikation bestimmt waren. Autobiographisches Schreiben wurde ab der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem als ein öffentlicher und nicht zuletzt politischer Akt verstanden, mit welchem man – ähnlich wie in Europa – zum einen das eigene Handeln legitimierte und zum anderen Dokumente schuf, mit denen später die Geschichte der jungen Nationen geschrieben werden sollte.8 4 5 6 7 8
PATRICIA FUENTES, The Conquistadors: First-Person Accounts of the Conquest of Mexico. Norman usw. 1993; BEATRIZ PASTOR BODMER, The Armature of Conquest: Spanish Accounts of the Discovery of America, 1492-1589. Stanford 1992. PATRICIA ESCANDÓN, Cartas, diarios y memoriales del periodo colonial como material historiográfico, in: Latino-América. Anuario de Estudios Latinoamericanos 33. 2002 S. 203-216. DAVID CAHILL/BLANCA TOVÍAS (Hg.), Élites indígenas en los Andes. Nobles, caciques y cabildantes bajo el yugo colonial. Quito 2003. Siehe z.B. URSULA DE JESÚS, The Souls of Purgatory: The Spiritual Diary of a Seventeenth-Century Afro-Peruvian mystic. Hg. NANCY E. VAN DEUSEN. Albuquerque, NM 2004. SYLVIA MOLLOY, At Face Value: Autobiographical Writing in Spanish America. Cambridge 1991; TULIO HALPERIN DONGHI, Intelectuales, sociedad y vida pública en Hispanoamérica a través de la literatura autobiográfica, in: El espejo de la historia. Problemas argentinos y perspectivas latinoamericanas. Hg. TULIO HALPERIN DONGHI. Buenos Aires 1987 S. 41-64. Der hier verwendete Begriff der Öffentlichkeit geht auf Jürgen Habermas zurück. Er bezeichnet einen Raum, der zwischen dem Privaten, Staatlichen und Ökonomischen liegt. Die von Habermas entwickelte Chronologie bezüglich der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit muss für Peru allerdings
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Auch Reiseberichte dienten dabei nicht zuletzt dem Ziel, dem eigenen Land ein Modell von historischer Entwicklung aufzuzeigen, welches sich selbstredend in Europa, aber in Ausnahmefällen auch schon in den USA fand.9 Die im 19. Jahrhundert entstandene Tradition der publizierten, sich an eine breitere Öffentlichkeit richtenden Selbstzeugnisse setzte sich im 20. Jahrhundert fort. Auch wenn Selbstzeugnisse (vor allem Briefe) nun im Kontext des städtischen Wachstums eine immer wichtigere Rolle in der privaten Kommunikation spielten, so behielt im Vergleich zu den oben genannten europäischen Ländern das öffentliche Selbstzeugnis doch eine erstaunliche Stellung. Dies lag auch daran, dass sich die Zahl der für den Druck bestimmten Selbstzeugnisse erheblich vergrößerte. Nicht mehr nur Politiker und Reisende, sondern auch Intellektuelle, Künstler und schließlich auch Sportler und Berühmtheiten aus dem Showbusiness veröffentlichten autobiographische Texte unterschiedlichster Natur.10 Es mag mit der Tradition des politischen autobiographischen Schreibens zusammenhängen, dass sich im Anschluss an die kubanische Revolution von 1959 mit der so genannten testimonio-Literatur ein Selbstzeugnis-Genre in Lateinamerika entwickelte, das bis heute als ein Spezifikum des Subkontinents betrachtet wird. Unter testimonio versteht man einen autobiographischen Bericht einer nicht zur Elite gehörenden Person, welcher von einer zweiten Person im Auftrag der ersten verschriftlicht wird und das Ziel verfolgt, die Unterdrückung, unter der diese leidet, zu bekämpfen. Dabei wird die erzählende Person als repräsentativ für eine Gruppe betrachtet. Mit ihrer Geschichte wird die Geschichte dieser Gruppe erzählt und gleichzeitig ein Beitrag zum Kampf um Befreiung geliefert. Das testimonio ist nicht nur ein Text über etwas, sondern auch ein Mittel zum Zweck.
verschoben werden, da hier die Kontrolle des Publikationswesen durch die Krone (die auch das Imprimatur für geistliche Texte besaß) recht erfolgreich war. Der Bruch zwischen ancien régime und Nationalstaat zu Beginn des 19. Jahrhunderts drückte sich daher nicht zuletzt in der Entstehung eines Publikationswesens aus, das innerhalb von wenigen Jahren eine Öffentlichkeit schuf, welche jahrhundertelang nicht existiert hatte. Diese Öffentlichkeit als „bürgerlich“ zu bezeichnen, würde aber in die Irre führen, da die Entstehung eines Bürgertums (als soziale Schicht und kulturelle Praxis) sich in Peru im 19. Jahrhundert nur sehr langsam vollzog. So entstand auf der einen Seite eine gerade für die politischen Auseinandersetzungen bedeutende öffentliche Sphäre, während auf der anderen Seite Privatheit sich nur langsam durchsetzte. JÜRGEN HABERMAS, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1990 (1. Aufl. 1962); FRANÇOIS-XAVIER GUERRA/ANNICK LEMPÉRIÈRE (Hg.), Los espacios públicos en Iberoamérica. Ambigüedades y problemas. Siglos XVIII-XIX. Mexiko/Stadt 1998; NOEMÍ GOLDMANN, Legitimidad y deliberación. El concepto de opinión pública en Iberoamérica, 1750-1850, in: Diccionario político y social del mundo iberoamericano. La era de las revoluciones, 1750-1850. Hg. JAVIER FERNÁNDEZ SEBASTIÁN. Madrid 2009 S. 981-999; ULRICH MÜCKE, Política y burguesía en el Perú. El Partido Civil antes de la Guerra con Chile. Lima 2010 S. 37-63 (hier Überlegungen zum Bürgertum Limas im 19. Jahrhundert, die sich nicht in der deutschen und US-amerikanischen Ausgabe finden). 9 JUAN BUSTAMANTE, Viaje al antiguo mundo. Lima 21845; JOSE ARNALDO MARQUEZ, Recuerdos de viaje a los Estado Unidos de la América del Norte. Lima 1862; CARLOS SANHUEZA, Chilenos en Alemania y alemanes en Chile. Viaje y nación en el siglo XIX. Santiago de Chile 2006. 10 Das einzige lateinamerikanische Land, für das eine Bibliographie des autobiographischen Schrifttums existiert, ist Mexiko. Über 90% der Einträge beziehen sich auf das 20. Jahrhundert. RICHARD D. WOODS, Autobiographical Writings on Mexico: An Annotated Bibliography of Primary sources. Jefferson, NC 2005.
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Dabei vollzieht sich die Befreiung u.a. durch das Wortergreifen der unterdrückten Person.11 Angesichts der skizzierten Tradition autobiographischen Schreibens in Lateinamerika überrascht es, dass Selbstzeugnisse in der Forschung zu Lateinamerika nur selten als solche untersucht wurden. Lediglich die Literaturwissenschaft hat ein größeres Interesse an Selbstzeugnissen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt. Dabei spielt zum einen das Genre des testimonio eine wichtige Rolle. Insbesondere die Debatte über unwahre Behauptungen im Lebensbericht der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú hat zu zahlreichen Publikationen sowohl über diesen konkreten Fall als auch über testimonio-Literatur allgemein geführt.12 Daneben sind es vor allem die autobiographischen Schriften der im Kontext des boom berühmt gewordenen lateinamerikanischen Schriftsteller wie Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa oder Isabel Allende, welche in der Literaturwissenschaft ausführlich diskutiert werden. Dies ist gerade deshalb bedeutsam, weil die Inszenierung der eigenen Person bei diesen Autoren untrennbar mit der literarischen Produktion verwoben ist.13 Im Gegensatz zur Literaturwissenschaft hat sich die Geschichtswissenschaft bisher kaum für das autobiographische Schreiben in Lateinamerika interessiert. Zwar gehören viele autobiographische Texte zum Kanon der historischen Lateinamerikaforschung. Sie werden aber in der Regel als Informationsquelle, nicht als autobiographische Texte gelesen.14 Für die Kolonialzeit gibt es daher nur sehr wenige historische Untersuchungen, welche Selbstzeugnisse nach Aussagen über die Person des Autors untersuchen. Dabei geht es häufig zunächst auch um die grundsätzliche Frage, wie Selbstzeugnisse von der historischen Forschung zu Lateinamerika interpretiert werden können und welchen Stellenwert sie für die Geschichte Lateinamerikas haben.15 Größere Untersuchungen über einzelne Selbstzeugnisse und Selbstzeugnisgruppen beschränken sich bisher auf religiöse Texte. 16 Für das 19. Jahrhundert dagegen liegt eine Reihe von historischen Untersuchungen vor. Nicht zuletzt finden sich historiographische Texte zu Selbstzeugnissen in zahlreichen Neu-Publikationen von Selbstzeugnissen aus dem 19. Jahrhundert. Die historische Forschung beschränkt sich hier aber häufig auf die Rekapitulation biographi11 JOHN BEVERLEY, Testimonio: On the politics of truth. Minneapolis usw. 2004; GEORG M. GUGELBERGER (Hg.), The Real Thing. Testimonial Discourse and Latin America. Durham usw. 1996; RENÉ JARA/HERNÁN VIDAL (Hg.), Testimonio y literatura. Minneapolis 1986. 12 DAVID STOLL, Rigoberta Menchú and the story of all poor Guatemalans. Boulder 1999; ARTURO ARIAS (Hg.), The Rigoberta Menchú controversy. Minneapolis 2001. 13 Siehe z.B. CECILIA ESPARZA, El Perú en la memoria. Sujeto y nación en la escritura autobiográfica. Lima 2006. 14 Briefe bilden dabei einen Grenzfall, haben sie doch schon früh das historiographische Interesse geweckt. Die neuere Forschung hat aber die Interpretation dieser Quellengruppe revidiert: JAMES LOCKHART/ENRIQUE OTTE (Hg.), Letters and people of the Spanish Indies. 16th century. Cambridge usw. 1976; ENRIQUE OTTE, Cartas privadas de emigrantes a Indias. Jerez 1984; WERNER STANGL, Consideraciones metodológicas acerca de las cartas privadas de emigrantes españoles desde América, 1492-1824. El caso de las „cartas de llamada“, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 47. 2010 S. 11-36. 15 ULRICH MÜCKE, Introducción. Escritura autobiográfica e historia en Hispanoamérica, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 47. 2010 S. 1-10. 16 KRISTINE IBSEN, Women’s Spiritual Autobiography in Colonial Spanish America. Gainesville usw. 1999.
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scher Daten des Autors und eine Wiedergabe von Aussagen desselben. So stammt die wichtigste Untersuchung zu Selbstzeugnissen des 19. Jahrhunderts bezeichnenderweise von einer Literaturwissenschaftlerin.17 Diese interessiert sich für die Charakteristika eines literarischen Genres und analysiert daher nur eine kleine Zahl von Texten herausragender Persönlichkeiten der Epoche. Die geschichtswissenschaftliche Frage nach dem Schreiben als kultureller Praxis und nach der Veränderung der Selbstbeschreibung und eventuell -wahrnehmung kommt in einer solchen Perspektive nur am Rande in den Blick. Für das 20. Jahrhundert lässt sich dabei eine ähnliche Dominanz literaturwissenschaftlicher Fragen konstatieren wie für das 19. Jahrhundert. Die historische Selbstzeugnisforschung befindet sich trotz der ungleich größeren Zahl von publizierten und unpublizierten Selbstzeugnissen, die nicht aus der Feder professioneller Schriftsteller stammen, noch in den Kinderschuhen. Während die Autoren von Selbstzeugnissen sich also seit Jahrhunderten über die politische Bedeutung autobiographischen Schreibens bewusst sind, hat die historische Forschung diese Frage erst seit kurzem entdeckt.18 Will man nicht die Auffassung vertreten, dass jeder Text um seiner selbst willen Gegenstand historiographischen Interesses sein sollte, so stellt sich aufgrund des bisher recht geringen Interesses an lateinamerikanischen Selbstzeugnissen die Frage, warum sich die Geschichtswissenschaft mit lateinamerikanischem autobiographischen Schreiben beschäftigen soll. Es reicht sicherlich nicht aus festzustellen, dass es auch in Lateinamerika eine Tradition autobiographischen Schreibens gibt und Lateinamerika in diesem Punkt nicht weniger, wenn auch anderes, zu bieten hat als Europa oder Angloamerika. Die Frage lautet vielmehr, ob sich mit Hilfe von Selbstzeugnissen Perspektiven auf die lateinamerikanische Vergangenheit gewinnen lassen, zu denen man mit Hilfe anderer Do-
17 MOLLOY, At Face Value (wie Anm. 8). 18 Ein Problem, das in der deutschsprachigen Forschung zu „Selbstzeugnissen“ in Lateinamerika zwangsläufig auftritt, betrifft die Bezeichnung der untersuchten Texte. Denn der in der deutschen Forschung etablierte Begriff „Selbstzeugnis“ ist in einem deutschen Text über peruanische „Selbstzeugnisse“ problematisch. Auf der einen Seite zeigt er der deutschen Leserschaft aufgrund der Forschungstradition ein bestimmtes Verständnis der zu diskutierenden Texte an. Auf der anderen Seite steht er aber in deutlichem Widerspruch zum spanischsprachigen Verständnis des Begriffs „Selbstzeugnis“. Der spanische Ausdruck für Selbstzeugnis, „testimonio“, benennt in der literatur- und geschichtswissenschaftlichen Forschung ein literarisches Genre. Dieses Genre ist vielfach definiert und diskutiert worden, und die Casa de las Américas (Havanna) verleiht einen Literaturpreis in der Kategorie „Testimonio“ (neben unter anderem „Essay – ensayo“, „Roman – novela“). Benutzt man also im Deutschen den Begriff „Selbstzeugnis“, verwendet man die Begrifflichkeit der deutschen Forschungstradition und somit auch die damit verbundenen Denkmuster und -modelle. Die Frage ist, inwieweit man (in einem Aufsatz über koloniale Strukturen in „Selbstzeugnissen“!) mit einem solchen Vokabular einen angemessenen Beitrag zur spanischsprachigen Diskussion und zum spanischsprachigen Gegenstand leisten kann. Verwendet man dagegen andere Begriffe (wie z.B. Selbstbeschreibung), so kann mit Recht gefragt werden, warum man sich sprachlich vom etablierten Begriff „Selbstzeugnis“ absetzt. Hier wird daher vor allem der Begriff „Selbstzeugnis“ verwendet und bisweilen der Begriff „Selbstbeschreibung“, der dem m.E. sinnvollen spanischen Begriff „autoescritura“ am nächsten kommt, da dieser letztlich nichts anderes meint als das Schreiben über sich selbst (und eben nicht das Beschreiben von sich selbst). Zum testimonio siehe BEVERLY, Testimonio (wie Anm. 11); GUGELBERGER (Hg.), The Real Thing (wie Anm. 11); JARA/VIDAL (Hg.), Testimonio y literatura (wie Anm. 11).
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kumente nicht gelangen würde. 19 Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, wie Selbstzeugnisse gelesen und interpretiert werden. Dies betrifft zum einen die Lektüre bereits breit rezipierter Texte. Hier geht es um die Frage, ob sich diesen Texten neue Erkenntnisse abgewinnen lassen, wenn man sie als Selbstzeugnisse liest. Zum anderen betrifft dies die Interpretation bisher kaum rezipierter autobiographischer Texte und damit die Frage, zu welchen Aussagen über die Vergangenheit historische Forschung durch die Arbeit mit diesen Texten gelangen kann. Die Betonung einer vermeintlichen Offenheit oder gar Intimität von Selbstzeugnissen führt dabei in die Irre.20 Den faktischen Angaben in Selbstzeugnissen ist häufig nicht zu trauen, da sie zwangsläufig dem Kenntnisstand der Zeit entsprechen und von der Perspektive des Autors/der Autorin geprägt sind, selbst wenn dieser/diese sich darum bemüht, Fakten korrekt wiederzugeben. Die Bedeutung von Selbstzeugnissen liegt vielmehr in erster Linie darin, dass in ihnen Beschreibungen der eigenen Person und der Welt artikuliert werden, in denen sich implizit oder explizit die Vorstellungen der Autoren von sich und der Welt finden. Will man nicht lediglich Erkenntnisse der Selbstzeugnisforschung in Europa wiederholen, dann muss sich die Forschung zu lateinamerikanischen Selbstzeugnissen zunächst einmal die Frage stellen, ob Selbstzeugnisse in Lateinamerika Vorstellungen artikulieren, die sich von Vorstellungen in europäischen Selbstzeugnissen unterscheiden. Es versteht sich von selbst, dass sich eine solche Frage nicht allgemein, sondern nur an konkreten Beispielen untersuchen lässt. Hier soll es um drei Beispiele aus Peru aus dem 17., dem 19. und dem 20. Jahrhundert gehen. Für eine Untersuchung, welche sowohl die Kolonialzeit als auch das 19. und 20. Jahrhundert in den Blick nehmen will, bietet sich neben Mexiko vor allem Peru an, da auch hier schon im 16. Jahrhundert mit der Einrichtung des Vizekönigsitzes, der Gründung einer Universität und der massiven Migration von Spaniern die Grundlagen für eine für damalige Verhältnisse weit verbreitete Schriftkultur geschaffen wurden. Die historische Kontinuität des peruanischen Kerngebietes führt dabei anders als z.B. in Mitteleuropa dazu, dass die Verortungen von Autoren sich über viele Jahrhunderte hinweg auf ziemlich genau dieselben Regionen und Zentren beziehen. Erst dies macht es möglich, die drei hier untersuchten Autoren als Repräsentanten eines historisch-politischen Raums, nämlich Perus, zu betrachten. Anhand der drei Beispiele soll gezeigt werden, dass sich in Selbstbeschreibungen aus Peru ein Element findet, welches in deutschen, französischen, englischen oder angloamerikanischen Selbstzeugnissen zumindest nicht in dieser Kontinuität über viele Jahrhunderte zu finden ist. Für alle drei Autoren hing der Wert ihres eigenen Lebens und ihres Schaffens ganz zentral von der Beurteilung ihrer Person außerhalb Perus ab. Für den Inca Garcilaso de la Vega (1539-1616) spielte die Wertschätzung in Spanien und vor allem der spanischen Kultur eine zentrale Rolle. Für Pedro Paz Soldán y Unánue (1839-1895) war es die Einschreibung in eine klassisch europäische Kultur, welche nur dann als erfolgreich vollzogen betrachtet werden konnte, wenn sie in den Bildungszen19 In welcher Weise Selbstzeugnisse als Quellen für die Gesellschaften, in denen sie entstanden sind, gelesen werden können, diskutiert: GABRIELE JANCKE, Autobiogaphische Texte. Handlungen in einem Beziehungsnetz, in: Egodokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte. Hg. WINFRIED SCHULZE. Berlin 1996. S. 73-106. 20 DAGMAR GÜNTHER, And now for something completely different. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 271. 2001 S. 25-61.
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tren des zeitgenössischen Europas wahrgenommen wurde. Für Julio Ramón Ribeyro (1929-1994) schließlich maß sich das eigene Leben als Schriftsteller in erster Linie daran, ob es gelang, Weltliteratur zu schaffen, also Texte, die ein Publikum in Europa und Anglo-Amerika fanden und die von der dortigen Kritik als literarische Kunstwerke anerkannt wurden. Alle drei Autoren beurteilten sich selbst also unter anderem danach, wie sie in europäischen Ländern betrachtet wurden. Gleichzeitig beschrieben sich aber alle drei als Peruaner und diskutierten zum Teil ausführlich ihre Zugehörigkeit zu Peru. Die Ausrichtung an europäischen Bewertungen ergab sich also keinesfalls aus einer Loslösung von Peru. Sie war vielmehr Teil eines Selbstverständnisses als Peruaner. Der Umstand, dass sich die hier untersuchten Personen auf der einen Seite als Peruaner beschrieben und zum anderen die Bewertung ihres Lebens an der Anerkennung in Europa festmachten, wird hier als Kolonialismus bezeichnet. Der Begriff verweist dabei zunächst auf die spanische Kolonialherrschaft in Peru, welche im ersten Fall ganz unmittelbare Auswirkungen auf Stand und Stellung des untersuchten Autors hatte. Mit Kolonialismus ist darüber hinausgehend auch ein hierarchisches Verhältnis zwischen zwei Räumen bezeichnet, welches es den Autoren verbietet, ihre Wertschätzung allein in dem Lebens- und Wirkungsraum zu suchen, dem sie – ihrer Selbstbeschreibung zufolge – primär angehören. Dass Kolonialismus Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Kolonisierten hat, ist seit Frantz Fanon ausreichend bekannt.21 Es geht im vorliegenden Text aber nicht um die Auswirkungen mittelbarer oder unmittelbarer kolonialer Gewalt in konkreten kolonialen Situationen. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage, wie sich ein so verstandener Kolonialismus in den Selbstbeschreibungen niederschlägt.22
Die Comentarios Reales des Inca Garcilaso de la Vega Die Comentarios Reales des Inca Garcilaso de la Vega sind einer der wichtigsten Texte der peruanischen und lateinamerikanischen Geschichte. Sie sind die erste fundierte und kohärente Darstellung der inkaischen Geschichte, d.h. der unmittelbar vor der spanischen Eroberung liegenden Geschichte eines Raumes, der heute in großen Teilen dem peruanischen Staatsgebiet entspricht. Die zweibändigen Comentarios Reales stellen dabei nur den ersten Teil eines größeren Werkes dar, welches durch die posthum erschienene Historia del Perú vervollständigt wurde. In diesem zweiten Teil beschreibt Garcilaso de la Vega die Eroberung des Inkareichs durch die Spanier. Da über diesen Gegenstand bereits zahlreiche Werke verfasst worden waren, erlangte der zweite Teil des Gesamtwerkes nie die Bedeutung des ersten.23
21 FRANTZ FANON, Les damnés de la terre. Paris 1961. 22 Zum Begriff des Kolonialismus siehe z.B. JÜRGEN OSTERHAMMEL, Kolonialismus. Geschichte. Formen. Folgen. München 62009; WOLFGANG REINHARD, Kleine Geschichte des Kolonialismus. Stuttgart 2008. Zur Debatte über Postkolonialismus siehe GAYATRI CHAKRVORTY SPIVAK, Can the subaltern speak?, in: Colonial Discourse and Post-Colonial Theory: A Reader. Hg. PATRICK WILLIAMS/LAURA CHRISMAN. New York 1994 S. 66-111; DIPESH CHAKRABARTY, Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton usw. 2000. 23 Biographische Angaben finden sich in AURELIO MIRÓ-QUESADA, El Inca Garcilaso. Lima 1994.
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Als Garcilaso de la Vega 1609 die Comentarios Reales publizierte, war er bereits ein alter und geachteter Gelehrter. Er war 1539 als unehelicher Sohn eines spanischen Eroberers und einer indianischen Adeligen in Cuzco, der alten Hauptstadt der Inkas, geboren. Im Alter von 20 Jahren verließ er seine Heimat und reiste nach Spanien, wo er aber nicht jene Stellungen erhielt, die er sich vermutlich erhoffte. Unter Juan de Austria beteiligte er sich in den 1560er Jahren an der Niederschlagung von Moriskenaufständen in Granada. Die Erbschaft eines Onkels sicherte Garcilaso dann ab Anfang der 1570er Jahre ein Auskommen. Er widmete sich seither der Religion und dem Studium. Schon vor den Comentarios Reales galt Garcilaso aufgrund verschiedener Veröffentlichungen als ein Gelehrter und Kenner der Amerikas. Insbesondere seine Darstellung einer Entdeckungsreise in Florida wies ihn als Experten der Neuen Welt aus.24 Dennoch waren es erst die Comentarios Reales, die ihn über einen engeren Kreis hinaus bekannt machten. Der Ruhm, den ihm dieses Werk einbrachte, konnte Garcilaso de la Vega aber kaum noch wahrnehmen, da er 1612 noch vor Veröffentlichung des zweiten Teiles starb. Als Geistlicher hatte er schon Jahre zuvor eine Kapelle in der Kathedrale von Córdoba gekauft, in der seiner bis heute gedacht wird. Trotz vieler Kontroversen galten die Comentarios Reales bis weit ins 20. Jahrhundert als eine mehr oder weniger korrekte Darstellung der Geschichte des Inkareichs. Gerade die Tatsache, dass Garcilaso de la Vega eindeutig Partei für die Inkas ergriff, verlieh dem Text nach der Unabhängigkeit eine besondere Autorität, gab er der peruanischen Geschichte doch ein Altertum, das dem europäischen entsprach. Außerhalb des Wissenschaftsbetriebs dürfte der Text auch heute noch neben den Bildern des Huamán Poma de Ayala die wichtigste Quelle für Vorstellungen über die vorspanischen Anden sein.25 In der Forschung über die Comentarios Reales gibt es dagegen mittlerweile sehr unterschiedliche Ansichten über die Bedeutung des Textes. Auf der einen Seite wird weiterhin die Ansicht vertreten, dass der Text des Inca Garcilaso eine ernst zu nehmende Darstellung des Inkareichs liefert. Diese entspräche zwar nicht völlig den heutigen Standards, käme ihnen aber doch nahe.26 Auf der anderen Seite argumentiert Margarita Zamora, dass es dem Inca Garcilaso gar nicht darum gegangen sei, eine korrekte Beschreibung der Vergangenheit zu liefern, sondern dass er mit seinen Schriften seine Heimat und seine Familie (und letztlich auch sich selbst) habe verteidigen wollen. Daher habe er versucht, die Geschichte Cuzcos (bzw. Perus) in eine hebräisch-christliche Tradition einzuschreiben und sich dabei verschiedener Modelle seiner Zeit bedient, insbesondere der utopischen Darstellung von Gesellschaften. In den Comentarios Reales finde sich daher keine zutreffende Beschreibung des alten Perus. Ihr heutiger Wert liege vielmehr darin, dass sie uns eine Analyse damaliger Vorstellungswelten erlaubten.27 24 GARCILASO DE LA VEGA, La Florida. Madrid 1988 (Lissabon 1605). 25 FELIPE HUAMÁN POMA DE AYALA, Nueva crónica y buen gobierno, 3 Bde. Madrid 1987 (verfasst ca. 1600-1615). 26 KAREN SPALDING, Introduction, in: EL INCA GARCILASO DE LA VEGA, Royal Commentaries of the Incas and General History of Peru. Abridged. Indianapolis usw. 2006 S. XI-XXVIII. Ähnlich argumentiert MIRÓ-QUESADA, El Inca Garcilaso (wie Anm. 23); DERS., Prólogo, in: INCA GARCILASO DE LA VEGA, Comentarios Reales de los Incas, vol. 1. Caracas 1976 S. IX-XLI. 27 MARGARITA ZAMORA, Language, Authority, and Indigenous History in the Comentarios reales de los incas. Cambridge usw. 1988 S. 9. Ähnlich argumentieren ENRIQUE PUPO-WALKER, Historia, crea-
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Hier kann es nicht darum gehen, den historischen Wert der Darstellungen des Inca Garcilaso zu diskutieren, da sich letztendlich in jeder historischen Darstellung die Stile und Vorstellungen der jeweiligen Epoche widerspiegeln. Die skizzierte Diskussion soll vielmehr auf zwei Aspekte verweisen: erstens die große Ernsthaftigkeit, mit der der Inca Garcilaso de la Vega versuchte, eine glaubhafte und gut belegte Darstellung des vorspanischen Peru zu verfassen; und zweitens die konkreten persönlichen Interessen, die hinter diesem Projekt standen. Garcilaso verstand sich als Angehöriger der alten Elite der Inkahauptstadt Cuzcos. Seiner Meinung nach gehörte er zu einer Nebenlinie der Inkas und stammte selber unmittelbar von einem Inka ab. Sein Werk zielte daher darauf ab, die Leistungen eben jener Elite, zu der er sich rechnete, herauszustellen und somit deren Anspruch auf eine herausgehobene Stellung auch unter den Spaniern zu unterstreichen. Da sich die spanische Herrschaft in Peru wie in den meisten Teilen ihrer amerikanischen Besitzungen auf die Zusammenarbeit mit den indigenen Eliten gründete, lautete die Frage zu Beginn des 17. Jahrhunderts nicht, ob die lokalen Eliten eingebunden werden sollten, sondern wie. Dabei ging es zum einen um die Frage, welche indigenen Gruppen Führungspositionen besetzen sollten, und zum anderen darum, bis zu welchen Positionen Angehörige der indigenen Eliten aufsteigen können sollten. Mit den Reformen des Vizekönigs Francisco de Toledo (1569-1581) hatte sich in Peru eine klare Politik der Eingrenzung des indigenen Einflusses durchgesetzt. Gegen diese Politik schrieb der Inca Garcilaso de la Vega in Spanien für ein vornehmlich spanisches Publikum, da er – wie andere vor ihm auch – hoffte, auf diese Weise die spanische Kolonialpolitik beeinflussen zu können. 28 Er tat dies im eigenen Interesse und im Interesse der sozialen Gruppe, welcher er sich zugehörig fühlte. Das vom Autor verwendete Ich ist daher von großer Bedeutung für den Nachweis, dass die im Text gemachten Aussagen zutreffen. Wie bei zahlreichen weiteren Berichten über die neue Welt stellte Augenzeugenschaft ein zentrales Element dar, um die Wahrheit der Aussagen zu belegen.29 Garcilaso de la Vega aber verlässt sich nicht allein auf dieses Verfahren, sondern stellt seinen Text auf ein breiteres autobiographisches Fundament. Dabei bedient er sich dreier Wege, um Glaubwürdigkeit herzustellen. Erstens beschreibt sich Garcilaso de la Vega als ein legitimer Repräsentant, ja als von den Inkas selbst ausgewählter Erzähler ihrer Geschichte. Der Autor, dessen Text wir lesen, ist nicht irgendein zufälliger Zeuge des Geschehens, sondern der von höchster Stelle Beauftragte, das Geschehen zu berichten. „In dieser Zeit erfuhr ich von allem, was ich schreiben werde. [Die Incas] erzählten mir ihre Geschichten, wie man Fabeln den Kindern erzählt. Dann, in fortgeschrittenem Alter, erläuterten sie mir ausführlich ihre Gesetze und Regierung, verglichen die neue Regierung der Spanier mit der der Inkas, insbesondere die Verbrechen und die Strafen und die Härte derselben. Sie sagten mir, wie ihre Könige in Frieden und im Krieg vorgingen, wie sie ihre Vasallen behanción y profecía en los textos del Inca Garcilaso de la Vega. Madrid 1982; JOSE DURAND, El Inca Garcilaso. Clásico de América. Madrid 1976. 28 Der Druckort ist Lissabon, das 1609 aufgrund der Personalunion zur spanischen Monarchie zählte. 29 Die neben dem Bordbuch vielleicht berühmteste Darstellung, Las Casas’ Bericht von der Verwüstung der Westindischen Inseln, gründet die Korrektheit der Aussagen zum Beispiel ganz überwiegend auf Augenzeugenschaft. BARTOLOME DE LAS CASAS, Werkauswahl, 3 Bde. in 4 Teilbde. Paderborn usw. 1994-1997; DERS., Brevísima relación de la destruición de las Indias. Madrid 142005.
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delten und wie diese ihnen dienten. Außerdem erzählten sie mir, wie ihrem eigenen Sohn, all ihren Aberglauben, ihre Riten, Zeremonien und Opfer, ihre wichtigsten und nicht wichtigsten Feste und wie sie sie feierten. Sie erzählten mir ihre Missbräuche und Aberglauben, ihre guten und schlechten Vorhersagen, sowohl die, die sie aus den Opfern lasen als auch andere. Zusammengefasst, sage ich, dass sie mir Nachricht gaben von allem, was es in ihrer Republik gab, so dass, wenn ich es damals geschrieben hätte, diese Geschichte umfangreicher wäre.“30
Zweitens präsentiert sich Garcilaso de la Vega – wie bereits erwähnt – als Augenzeuge. Dies mag überraschen, da er nach der spanischen Eroberung des Inkareichs geboren wurde. Seine Augenzeugenschaft bezieht sich daher auf Beobachtungen von Verhaltensweisen, die seines Erachtens die Eroberung überdauerten, zu Beginn des 17. Jahrhunderts aber nicht mehr existierten. Dieser Sichtweise zufolge, überlebten zahlreiche Aspekte der alten Gesellschaft die spanische Eroberung und verschwanden erst im Laufe der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. „Ich wurde acht Jahre, nachdem die Spanier meine Erde gewannen, geboren, und, wie ich schon gesagt habe, wuchs in ihr bis zum Alter von zwanzig Jahren auf, und so sah ich viele Sachen, welche die Indianer in ihrem vorchristlichen Zustand machten; diese werde ich erzählen, und ich sage, dass ich sie sah.“31
Bei all diesen Darstellungen des von ihm Gesehenen ist Garcilaso de la Vega in der Regel lediglich der Beobachter und nur in seltenen Ausnahmen der Akteur der beschriebenen Handlung. So schreibt er sich zum einen in die Geschichte seines Landes ein, zum anderen aber beschreibt er sich nicht als vorchristlicher Indianer.32 Drittens beschreibt sich der Inca Garcilaso als Gelehrter, welcher sich durch umfangreiche Studien ausreichend Wissen angeeignet hat, um eine ausführliche Darstellung eines verschwundenen Reiches zu verfassen. Seine Darstellung des Inkareichs diskutiert dabei immer wieder andere Auffassungen und Darstellungen, bestätigt diese oder grenzt sich von ihnen ab. Garcilaso de la Vega betont dabei, dass er sich große Mühe gegeben habe, andere Ansichten zu berücksichtigen. So habe er alle seine ehemaligen Mitschüler in Cuzco angeschrieben, um deren Meinungen und deren Wissen über die Vergangenheit in seinem Werk berücksichtigen zu können.33 Auch wenn der Begriff in den Comentarios Reales nicht an zentraler Stelle zu finden ist, so kann man doch sicher davon ausgehen, dass der Inca Garcilaso auch für dieses Werk in Anspruch nahm, keine „Fiktionen“ zu schreiben, so wie er es in einem früheren Werk einleitend explizit beteuert hatte.34 Der nicht-fiktionale Charakter ergab sich dabei bei den Comentarios Reales nicht einfach aus der Konsultation anderer Personen und Texte, sondern gerade auch aus der eigenen Biographie. Werk und Autobiographie sind untrennbar verwoben. Der Inca Garcilaso greift in den Comentarios Reales nicht nur auf autobiographisches Erzählen zurück, um die Richtigkeit seiner Aussagen zu belegen. Autobiograpische Elemente finden sich an zahlreichen Stellen des Textes und ergeben zusammen betrachtet 30 INCA GARCILASO DE LA VEGA, Comentarios Reales de los Incas. Mexiko/Stadt 52006 S. 43 f. (eigene Übersetzung). Im Folgenden abgekürzt als CR. 31 Ebd. S. 44 (eigene Übersetzung). 32 Im Original spricht Garcilaso de la Vega von „tierra“, was sowohl als „Erde“ als auch als „Land“ übersetzt werden kann. 33 CR (wie Anm. 30) S. 44. 34 „No escrivimos ficciones“, heißt es in: GARCILASO, La Florida (wie Anm. 24) S. 102.
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ein facettenreiches Bild von Kindheit und Jugend des Autors. Zwei Aspekte sollen hier betont werden. Erstens wird das Kind Garcilaso de la Vega als undiszipliniertes und neugieriges Wesen dargestellt. Die Einführung von Ochsen in Cuzco, schreibt Garcilaso de la Vega, erinnere er gut, da sie ihn Dutzende von Hieben gekostet habe; „die eine gab mir mein Vater, weil ich nicht zur Schule ging; die andere mein Lehrer, weil ich in der Schule fehlte.“35 Der junge Garcilaso de la Vega erscheint somit als ein unverantwortliches Kind, welches durch Schläge lernen muss, vernünftig zu werden. Das Verhalten des Kindes wird dabei ebenso wenig kritisiert wie die Schläge der Erwachsenen. Im Gegenteil, die ironische Darstellung der Bestrafung signalisiert Verständnis gegenüber dem Kind und Akzeptanz gegenüber den Erwachsenen. Für den autobiographischen Entwurf ist dabei wichtig, dass Kindheit als etwas anderes als Erwachsensein beschrieben wird und dass die eigene Kindheit und das eigene Kindgewesensein thematisiert werden. Ergänzt wird diese Darstellung durch die implizite Selbstbeschreibung als äußerst kluger und begabter Mensch. Die zitierte Geschichte mit den Ochsen ist auch insofern typisch, als sie nicht den Schulbesuch, sondern das Fehlen in der Schule beschreibt. Garcilaso de la Vega erläutert nicht, wie er sich seine zahlreichen Fähigkeiten (vor allem die Kunst des Schreibens und sein umfangreiches Wissen) angeeignet hat. Er beschreibt sich als einen Menschen, welcher Fähigkeiten besitzt, ohne das eigene Lernen zu thematisieren.36 Seine herausgehobene Position in seiner Darstellung ergibt sich nicht nur aus seiner Abstammung und der privilegierten Stellung, die ihm seine Vorfahren nach seiner Darstellung zuteilwerden lassen; sie rechtfertigt sich auch mit den Fähigkeiten des Autors, die fortlaufend beschrieben und demonstriert werden. Der zweite Aspekt der Selbstbeschreibung, der hier betont werden soll, ist die Auseinandersetzung mit der Herkunft des Inca Garcilaso de la Vega. Als Sohn einer Indianerin und eines Spaniers erfüllte er nicht die Anforderungen der sogenannten „limpieza de sangre“, also der ehelichen Abstammung von Christen in väterlicher und mütterlicher Linie. Dies bedeutete den Ausschluss aus allen wichtigen kirchlichen und weltlichen Ämtern. Der Inca Garcilaso versuchte nicht, seine Abstammung umzudeuten, indem er z.B. eine Eheschließung zwischen seiner Mutter und seinem Vater erfand. Er versuchte seine Herkunft aber auch nicht zu verschweigen. Ganz im Gegenteil, er stellte seine Herkunft als besondere Auszeichnung dar. 35 CR (wie Anm. 30) S. 513. 36 Explizit wird dieses Motiv in einem Brief an Juan Fernández Franco von 1592 entwickelt. Dort heißt es: „En mis niñezes oý una poca de gramática, mal enseñada por siete preceptores que a temporadas tuvimos, y peor aprendida por pocos más dicípulos que éramos, por la revolución de las guerras que en la patria avía, que ayudavan a la inquietud de los maestros. Quando se cansó el postrero dellos, que seríamos de treze a catorze años, nos passamos mis condiscipulos y yo al exercicio de la gineta, de cavallos y armas, hasta que vine a España, donde también ha avido el mismo exercicio, hasta que la ingratitud de algún príncipe y ninguna gratificación del Rey me encerraron en mi rincón. Y por la ociossidad que en él tenía, di en traduzir al León Hebreo, cevado de la dulçura y suavidad de su Philosophía. La qual obra, aunque yo no puse nada en ella sino muchas imperfectiones, ha causado que v. m. y otros señores míos me favorezcan, como me favorescen, sin que en mí aya de escuelas más que el perpetuo desseo dellas. Por tanto suplico a v. m. me trate como a soldado que, perdido por mala paga y tarde, se ha hecho estudiante.“ Der Brief des Inca Garcilaso de la Vega vom 31.12.1592 ist wiedergegeben in: EUGENIO ASENSIO, Dos cartas desconocidas del Inca Garcilaso, in: Nueva Revista de Filología Hispánica 7. 1952 S. 585 f.
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„Wir Kinder von Spanier und Indianerin oder von Spanierin und Indianer werden Mestizen genannt, um zu sagen, dass wir aus beiden Nationen gemischt sind; diese Bezeichnung führten die ersten Spanier ein, welche mit Indianerinnen Kinder hatten, und da es der Name ist, den unsere Väter einführten und wegen seiner Bedeutung nenne ich mich so mit lauter Stimme und bin stolz darauf.“37
Diese Aussage widersprach diametral den Vorstellungen seiner Zeit. Zumindest in Spanien war es unumstritten, dass die „Reinheit des Blutes“ ein zentrales Kriterium der sozialen Ordnung darstellte. Garcilaso dagegen betont, dass er mütterlicherseits nicht von Christen abstammt, er also nicht nur unehelich geboren ist, sondern auch Vorfahren aus einer nicht-christlichen Kultur hat. Garcilaso de la Vega beschreibt sich als jemanden, der keiner der beiden Seiten zuzurechnen ist. Er gehört weder eindeutig in die indianische noch in die spanische Welt. Er steht als Mestize zwischen den Welten. Gerade dadurch beschreibt er sich aber auch als einzigartig, als individuell. Dies bedeutet nicht, dass er sich losgelöst von sozialen Beziehungen beschreibt. Aber die Konfiguration seiner sozialen Beziehungen unterscheidet sich in Spanien von jener der Anderen. In Peru dagegen hätte Garcilaso zu jener Gruppe von Kindern aus der indianisch-spanischen Elite gehört, die im 16. und 17. Jahrhundert mit unterschiedlichem Erfolg um ihre soziale Position und Anerkennung rang. Der Inca Garcilaso lebte aber nicht in Peru und schrieb nicht für ein peruanisches Publikum. Er schrieb in Europa auf Spanisch, als Untertan des spanischen Königs in einem spanischen Reich. Die Selbstdarstellung als Kind einer nicht-spanischen, nicht-christlichen Elite zielte nicht darauf ab, innerhalb dieser Elite Anerkennung zu finden, sondern innerhalb einer anderen politischen, religiösen und sozialen Ordnung. Daher war es geradezu provozierend, dass Garcilaso diese Anerkennung einforderte, obwohl er den Normen dieser Ordnung eklatant widersprach. Garcilaso wählte dabei für die eigene Biographie einen anderen Weg als für die seines Vaters. Seinem Vater war vorgeworfen worden, er habe einen Aufstand gegen die Krone unterstützt. Garcilaso bestreitet dies und bestätigt damit, dass eine solche Tat nicht verzeihlich ist. Im eigenen Fall aber unterstreicht Garcilaso, dass er einen Spanier zum Vater und eine Indianerin zur Mutter hat und somit unehelich geboren ist und von einer Heidin abstammt. Auch wenn die Adressaten seines Textes Vertreter der spanischen Ordnung sind, so verlangt er doch für die Anerkennung dieser Ordnung im Gegenzug die Anerkennung seines Anders-Seins. Garcilaso schreibt zwar innerhalb eines kolonialen Systems, das er in seinen Grundbestandteilen akzeptiert. Aber er unterwirft sich der kolonialen Ordnung nicht vollständig. Vielmehr kritisiert er Teile des Systems, nämlich konkret die eigene Stellung und die seiner sozialen Gruppe in Cuzco. Diese Kritik kann – gerade im Zusammenhang mit anderen Stellen im Text – als ein Vorschlag zur Veränderung, nicht aber zur Abschaffung der kolonialen Ordnung in Peru gelesen werden. Wie wenig realistisch seine Forderungen zu Beginn des 17. Jahrhunderts waren, lässt sich u.a. daran erkennen, dass sein Werk die Druckerlaubnis erhielt und in der spanischen Monarchie verbreitet werden konnte. Erst als die Kolonialordnung Ende des 18. Jahrhunderts ernsthaft bedroht schien, entdeckte die Krone die Gefahr, die von den Comentarios Reales ausgehen konnte, und verbot die Schrift. 37 CR (wie Anm. 30) S. 536.
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Memorias de un viajero peruano von Pedro Paz Soldán y Unánue Die Erinnerungen eines peruanischen Reisenden stammen aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts.38 Zu diesem Zeitpunkt war Peru schon über sieben Jahrzehnte ein unabhängiger Nationalstaat. Die Grenzen des Landes waren kurz zuvor nach der Niederlage im Krieg gegen Chile zugunsten Chiles verschoben worden, und abgesehen von den Grenzen im damals noch wenig bekannten Amazonasgebiet entsprach das damalige Staatsterritorium im Großen und Ganzen dem heutigen. Auch die politische Verfassung ähnelte schon der heutigen. Peru war eine Präsidialrepublik mit fast allgemeinem Männerwahlrecht (das dann zwischen 1895 und 1980 radikal eingeschränkt sein sollte). Die politischen und sozialen Realitäten waren aber deutlich von den heutigen unterschieden. Das Land hatte nur etwas mehr als eine Million Einwohner. Die meisten von ihnen lebten im andinen Hochland als arme Bauern, häufig als eine Art Leibeigene auf großen Gütern. Es gab praktisch keine verarbeitende Industrie und der geringe Reichtum des Landes wurde vor allem an der Küste auf Zucker- und Baumwollplantagen erwirtschaftet. Die Besitzer dieser Plantagen – eine Mischung aus alter Kolonialelite und neuem Finanzadel – bildeten die kleine Oberschicht des Landes, lebten in der Regel in der immer noch beschaulichen Hauptstadt Lima und waren kulturell und ökonomisch eng mit Großbritannien und Frankreich verbunden.39 Ein herausragendes Mitglied dieser Elite war Pedro Paz Soldán y Unánue, Abkömmling einer alten adeligen Familie und Enkel eines der bedeutendsten peruanischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts.40 Paz Soldán besaß ein großes Gut im Cañete-Tal im Süden Limas, das den Gepflogenheiten entsprechend nicht von den Besitzern, sondern von Verwaltern geleitet wurde. Nach dem Besuch der Schule in Lima reiste er im Alter von 19 Jahren (1858) nach Europa, wo er nach kurzem Aufenthalt in England an der Sorbonne und im Collège de France Kurse belegte und gleichzeitig sein Französisch verbesserte. Schon während seiner Pariser Zeit besuchte er Spanien, um schließlich am Ende seines Europa-Aufenthaltes eine längere Reise durch Mitteleuropa, Italien, den Nahen Osten und Griechenland zu unternehmen. Seine Reiseroute entsprach somit im Großen und Ganzen der alten Grand Tour und führte ihn zu den bekannten Ursprungsorten der „Zivilisation“, die er noch nicht als „westliche“ oder „europäische“ relativierte. Die Reiseerinnerungen publizierte Paz Soldán zwischen 1891 und 1893 in verschiedenen Zeitungen in Lima in unregelmäßiger Folge. Teile veröffentlichte er in den führenden Zeitungen der Stadt, wie El Comercio oder El Nacional, andere erschienen in weniger bekannten Blättern, vor allem in seiner eigenen Zeitung El Chispazo. Zwischen der Reise und der ersten Veröffentlichung des Textes lagen also dreißig Jahre und in dieser 38 In Buchform erschienen die Erinnerungen erst 1971. PEDRO PAZ SOLDAN Y UNANUE, Memorias de un viajero peruano. Lima 1971. 39 Die besten Überblicksdarstellungen auf Spanisch, Englisch und Deutsch sind PETER KLARÉN, Peru: Society and Nationhood in the Andes. New York usw. 2000; CARLOS CONTRERAS/MARCOS CUETO, Historia del Perú contemporáneo. Desde las luchas por la independencia hasta el presente. Lima 42007; RORY MILLER, Peru, Bolivien, Chile 1830-1920, in: Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 2. Hg. WALTHER L. BERNECKER/RAYMOND TH. BUVE/JOHN R. FISHER/ HORST PIETSCHMANN/HANS WERNER TOBLER. Stuttgart 1992 S. 680-728. 40 Zur Biografie siehe ESTUARDO NÚÑEZ, Estudio preliminar, in: PAZ SOLDÁN, Memorias (wie Anm. 38) S. 9-32.
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Zeit hatte sich Paz Soldán zu einer der führenden Persönlichkeiten im geistigen Leben des Landes entwickelt. Er hatte Gedichtbände, Theaterstücke und wissenschaftliche Abhandlungen über zahlreiche Themen publiziert. Sein ab 1882 in Buenos Aires und Lima publiziertes Diccionario de peruanismos zählt noch heute zu den Grundlagenwerken für das peruanische Spanisch.41 Seine anderen Arbeiten sind dagegen weitgehend vergessen und schon zu Lebzeiten war Paz Soldán in eine Vielzahl von Auseinandersetzungen verwickelt, deren Hintergrund wohl die seines Erachtens zu geringe Wertschätzung seiner wissenschaftlichen und literarischen Leistungen war. Schon aufgrund des späten Publikationszeitpunkts lässt sich das Reisetagebuch nicht als der Bericht eines Reisenden lesen, sondern sollte vielmehr als Erinnerungen an eine Reise in Tagebuchform verstanden werden.42 Paz Soldán äußert sich an keiner Stelle, inwiefern seine – laut dem Text – schon während der Reise gemachten Aufzeichnungen für die Publikation verändert, überarbeitet oder ergänzt wurden. Ein weiteres Problem bei der Interpretation des Textes entsteht dadurch, dass die posthume und von Paz Soldán vermutlich nicht geplante Edition der zahlreichen Artikel über die Reise im Jahre 1971 ohne kritischen Apparat erfolgte. So ist aus der Edition nicht zu erkennen, welche Teile des Textes wann und wo publiziert wurden. Auch macht der Herausgeber, Estuardo Núñez, nicht kenntlich, ob und wenn ja, welche Veränderungen er am Text vorgenommen hat. Die Wahl des Titels und die Einfügung von Überschriften scheint z.B. von Núñez zu stammen.43 Der in Buchform mehr als 500 Seiten umfassende Text hat viel von seiner vermutlich auf die Erstveröffentlichung in verschiedenen Zeitungen zurückzuführende Heterogenität behalten. Zu großen Teilen ist der Text eine Art Reiseführer. Paz Soldán beschreibt die Städte und Orte, die er besucht hat. Dabei erzählt er, wo welche Hotels und Restaurants liegen und welche Vor- und Nachteile diese jeweils bieten. Er erläutert, welche Bilder in welchen Museen hängen und welche Landschaft aus welchen Gründen besonders reizvoll ist. Darüber hinaus beschreibt er, was er für die Sitten und Gebräuche eines Landes oder eines Ortes hält und gelangt so zu Charakterisierungen der Engländer, der deutschen Studenten, der Arbeiter in Straßburg usw. Der Text ist aber gleichzeitig auch eine autobiographische Erzählung. Denn häufig erläutert Paz Soldán nicht einfach, was er gesehen hat, sondern was er gemacht, gedacht und gefühlt hat. Dabei geht es auch immer wieder um die Leiden eines jungen Mannes, der nicht das tun kann, was er möchte, sei es, weil die Umstände es verbieten, oder, weil ihm die Fähigkeiten fehlen. Während die Teile des Textes, welche man als Reiseführer beschreiben kann, vor allem in der Form von Erinnerungen verfasst sind, findet sich in den stärker autobiographisch geprägten Teilen eine Erzählweise, die der eines Tagebuchs entspricht. So wird in diesen Passagen z.B. immer wieder von „heute“ und „gestern“ gesprochen.44 41 PEDRO PAZ SOLDAN Y UNANUE, Diccionario de peruanismos, 2 Bde. Lima 1975 (veröffentlicht unter JUAN DE ARONA, dem Pseudonym von Paz Soldán). 42 Vgl. hierzu den Beitrag von Christa Wetzel in diesem Band, da auch das Tagebuch von Heinrich Witt zahlreiche Berichte von Reisen in Europa enthält. 43 Ob dem so ist, müsste in den genannten Zeitungen kontrolliert werden, was ein mühseliges Unterfangen ist, da Estuardo Núñez als Herausgeber nicht genau angibt, in welchen Nummern welcher Zeitungen der Text erschien. 44 Siehe z.B. PAZ SOLDÁN, Memorias (wie Anm. 38) S. 514 f. Meines Erachtens kann daraus aber nicht geschlossen werden, dass die autobiographischen Abschnitte stärker den ursprünglichen Notizen entsprechen.
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Da Paz Soldán sowohl wissenschaftliche Texte als auch Gedichte und Theaterstücke publizierte, überrascht es nicht, dass auch seine Reiseerinnerungen zeitgenössische literarische Stile aufgreifen und mit verschiedenen literarischen Figuren und Motiven der Epoche arbeiten. Obwohl die Erinnerungen in unterschiedlichen Zeitungen über mehrere Jahre hinweg publiziert wurden, erwecken sie in Buchform den Eindruck eines geschlossenen ambitionierten Werkes, das allerdings unwillkürlich im letzten Teil der Europareise abbricht und dadurch unvollständig wirkt. Aber selbst ein solches Ende könnte noch als literarische Figur verstanden werden. Es unterscheidet sich in jedem Fall vom Beginn, bei dem es Paz Soldán gelingt, innerhalb eines Absatzes in Bildern das gesamte Projekt seines Reiseberichts zusammenzufassen. Hier heißt es: „Am 12. April 1859 stach ich in Callao Richtung Europa in See mit der zu dieser Zeit einzigen Linie und möglichen Verbindung, welche englische Dampfschiffe und Panama Sankt Thomas waren. Ohne dass ich oder meine Eltern es bemerkt hätten, hatten wir eine ausgezeichnete Steigerung meiner Seereisen vollzogen: Mit acht Jahren hatte man mich nach Arequipa gebracht; ich reiste mit meinem Vater von Callao nach Islay. Mit 17 Jahren, um die Verheerungen meines schnellen Wachstums zu bekämpfen, schickte man mich auf ein Segelschiff, die Brigg ‚Boterín‘, welche mich in 24 Tagen bis nach Iquique brachte mit einem Aufenthalt in Cerro Azul auf dem Hinweg und in Arica auf dem Rückweg. Nachdem ich meine ersten Liebesgefechte in Tacna bestanden hatte, kehrte ich auf einem Dampfschiff nach Lima zurück. Mit 18 Jahren reiste ich nach Valparaiso und verbrachte zwischen dessen Hafen und Santiago etwa ein Jahr. Und schließlich, jetzt, vor meinem 19. Geburtstag, schickte man mich auf meine längste und einträglichste meiner Reisen, aus denen und aus der Erinnerung an sie ich noch heute in der formidablen Entfernung so vieler Jahre unsagbare Wonnen und unerschöpfliche Lehren ziehen kann.“45
Der Reisebericht erzählt zwei Geschichten: erstens den Übergang des jungen Pedro Paz Soldán zum Erwachsenen und zweitens damit verbunden den Prozess der Erziehung durch das Reisen. In dem zitierten Absatz wird das Erwachsenwerden mit der immer größeren, im Verlauf seiner Reisen zurückgelegten Distanz und gleichzeitig mit den Aktivitäten während der Reisen zum Ausdruck gebracht. Die erste Reise macht er mit seinem Vater. Die zweite Reise wird explizit mit dem Größerwerden in Verbindung gebracht, und es wird deutlich, dass hiermit nicht nur das rein körperliche Wachstum gemeint ist. Das Ende dieser Reise fällt dann mit der sexuellen Reife zusammen. Die dritte Reise führt den dann schon gereiften Paz Soldán ins Ausland und zu einem längeren Aufenthalt dort. Es handelt sich also nicht mehr um eine Reise im Sinne der Überbrückung von Raum, sondern um eine Reise im Sinne des Verweilens an einem anderen Ort. Damit einher geht der zweite Aspekt des Reisens: die Erziehung. Die Rolle, die Peru dabei zukommt, ist schon in den ersten Zeilen des Buches klar zum Ausdruck gebracht. Es existiert nur eine einzige Dampfschifffahrtslinie, die das Land mit Europa verbindet, und diese Linie ist englisch. Und ähnlich wie der Absatz mit dieser Distanz zwischen Peru und der Welt beginnt, so endet er auch mit dieser Distanz: Trotz vieler Jahre Abstand, sind die Reisen und die Erinnerungen an sie Quelle unzähliger „Lehren“. Diese Verbindung zwischen Reisen und Lernen/Lehren verknüpft das Reisen mit der biographischen Entwicklung des Autors. Paz Soldán wird nicht einfach durch das Älterwerden erwach45 Ebd. S. 33.
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sen, sondern dadurch, dass er lernt. Dieses Lernen vollzieht sich aber nicht in Peru, sondern in erster Linie in Europa. Der Text verfolgt daher zwei Ziele. Zum einen soll er dem Lesepublikum zeigen, wie Paz Soldán ein gebildeter und reifer Mensch geworden ist. Paz Soldán wird als das Beispiel eines gelungenen Erziehungsprozesses präsentiert. Da nicht alle Peruaner nach Europa reisen konnten, hat der Text zum anderen die Aufgabe, die von Paz Soldán gemachten Erfahrungen einer größeren Gruppe von Peruanern zugänglich zu machen. Er erklärt ihnen, wie sie gut erzogene, kultivierte, zivilisierte Menschen werden können. Dies ist ein durchaus beliebtes Motiv in autobiographischen und nicht nur in autobiographischen Texten der Zeit. Die Lebensgeschichte eines Menschen wird erzählt, um als Beispiel und Vorbild zu dienen.46 Im Fall von Paz Soldán handelt es sich nicht um die vollständige Lebensgeschichte, sondern nur um einen kleinen Ausschnitt: seine Reise nach und sein Aufenthalt in Europa. Dabei ist es für den Text von Bedeutung, dass hier ein anerkannter und etablierter Herr der besten Kreise Perus mit der Distanz von rund drei Jahrzehnten über einen jungen Mann schreibt. Dies ermöglicht es Paz Soldán, die eigene Reifung mit häufig distanzierender Ironie zu beschreiben und gleichzeitig darauf zu bauen, dass der Leser bzw. die Leserin versteht, dass der Autor aufgrund der Reise auch danach ein erfolgreiches Leben gelebt hat. Während der Text also auf der einen Seite eine zum Teil penetrante Selbstbeweihräucherung des Autors darstellt und immer wieder herausgestrichen wird, was der Verfasser alles kann und gemacht hat, so enthält er auf der anderen Seite auch eine ätzende Kritik an den Zuständen in Peru, die im Vergleich zu den von Paz Soldán beschriebenen Verhältnissen vor allem in Frankreich und England nur Verachtung hervorrufen können. Der Text bleibt aber nicht bei dieser Kritik stehen, sondern bietet zugleich Vorschläge, welchen Weg Peru beschreiten sollte, um aus seiner misslichen Lage heraus zu kommen. Der entscheidende Aspekt ist auch hier wieder die Erziehung. So heißt es z.B. bei der Beschreibung der Reise von Southhampton nach London: „Hier steht jeder Mann seinen Mann, sagte ich mir während der Reise. Vereinigen sich solche Männer, blüht jeder Staat und schreitet voran, egal unter welcher Regierung, stehe ihr ein Mann oder eine Frau vor, ein geeigneter oder ein unfähiger Bürger. Deshalb bin ich auch nie ausschließlich für die Durchsetzung der Republik weltweit eingetreten, sondern für die weltweite Perfektionierung des Menschen, welche man durch die Erziehung und vor allem die Arbeit erreicht; verstehe das gut, Volk von Lima.“47
Der Unterschied zwischen den Ländern ergibt sich also aus den Unterschieden zwischen den einzelnen Menschen. Eine Gesellschaft verändert sich nicht durch Systemwechsel, sondern durch Erziehung, wobei diese eben auf vielfältige Weise vonstattengehen kann, u.a. durch Arbeit. Aufgrund des Textes kann es keinen Zweifel geben, dass Paz Soldán selbst diesen Erziehungsprozess durchlaufen hat. Er verfügt daher über die Autorität, seinen Landsleuten den richtigen Weg zu erklären, der just darin besteht, einen ähnlichen Erziehungsprozess wie er selbst zu durchlaufen. Der Text ist daher nicht zufällig autobiographischer Natur. Denn dass Paz Soldán die entsprechende Autorität hat, um seinem 46 Vgl. hierzu die Beiträge von Gabriele Jancke und Elke Hartmann und von Angelika Schaser in diesem Band. 47 PAZ SOLDÁN, Memorias (wie Anm. 38) S. 38.
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Land solche Veränderungen vorzuschlagen, ergibt sich aus dem Lernprozess, den er selber durchlaufen hat. Diesen muss er in seinem Text dokumentieren, indem er ihn zum einen beschreibt und zum anderen seine Ergebnisse präsentiert. So ist der Text gespickt mit französischen, englischen und lateinischen Zitaten. Er ist voll mit kleinen von Paz Soldán verfassten Gedichten, und schließlich demonstriert das literarische Niveau des Textes die Fähigkeiten von Paz Soldán. Ähnlich wie bei Garcilaso de la Vega ergibt sich dadurch eine seltsame Ambivalenz. Obwohl Paz Soldán über eine europäische Reise schreibt, ist das Ziel des Textes doch, seine Landsleute für ein politisches Entwicklungsprojekt in Peru zu gewinnen. Paz Soldán will etwas in Peru verändern, genau wie Garcilaso de la Vega. Dass Paz Soldán sich dabei nicht an ein Publikum in Europa, sondern an eines in Peru wendet, ergibt sich aus der Unabhängigkeit Perus. Die politischen Entscheidungsträger sitzen jetzt im Land selbst. Die Strategie dagegen, die Paz Soldán verfolgt, entspricht in einem wichtigen Aspekt jener von Garcilaso de la Vega. Um seine Leserschaft zu überzeugen, muss Paz Soldán sich bestimmte Eigenschaften zuschreiben. Sein Text ist eine ähnliche Mischung von Selbstzeugnis zur Erlangung von Autorität und politischem Projekt wie jenes des Inca Garcilaso de la Vega. Aber die Selbstbeschreibung und das Projekt von Paz Soldán unterscheiden sich grundlegend von der des Inca. Paz Soldán stellt sich gerade nicht als genuin peruanisch dar, sondern versucht sich als ein durch und durch europäisch Gebildeter zu präsentieren. Der Ausweis seiner Bildung besteht gerade darin, sein Heimatland verlassen zu haben. Nicht seine Kenntnisse Perus legitimieren ihn in seinen Augen als jemanden, der dem Land den Weg weisen darf. Es sind vielmehr seine Kenntnisse ferner europäischer und nicht-europäischer Länder. Paz Soldán sieht hierin keinen Widerspruch. Denn er versteht die Kulturen, die er beschreibt, ja nicht als spezifisch französisch, englisch usw., sondern als Ausdruck einer allgemeinen menschlichen Zivilisation, die überall Fuß fassen konnte und sollte. Daher sah er sich sicherlich nicht als jemanden, der sich durch die Einschreibung in anderen Kulturen (statt in der eigenen) auszeichnen wollte. Er verstand sich als peruanischen Patrioten und seinen Text als Beitrag zum Fortschritt in Peru. Anders als bei Garcilaso de la Vega bestand dieser Beitrag nicht in der Betonung von etwas Nicht-Europäischem (wie z.B. der Herkunft, der Sprache oder der Sitten), sondern ganz im Gegenteil in der Betonung der Bedeutung des Europäischen. Daher musste sich auch Pedro Paz Soldán als Europäer beschreiben, um seiner eigenen Lebensgeschichte einen Wert zu verleihen.
Das Persönliche Tagebuch von Julio Ramón Ribeyro Julio Ramón Ribeyro gehört zu jenen lateinamerikanischen Schriftstellern, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die lateinamerikanische Literatur als gleichwertigen Teil der spanischsprachigen und damit schließlich auch der Weltliteratur etablierten. Auch wenn es schon vorher bedeutende lateinamerikanische Autoren gegeben hatte, so war die spanischsprachige Literatur doch weitgehend europäisch. Dies änderte sich erst ab den 1950er Jahren mit einer wahren Welle von lateinamerikanischen Autoren, die schließlich im sogenannten boom die lateinamerikanische Literatur in Europa und Nord-
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amerika etablierten. Julio Ramón Ribeyro steht dabei wie seine Landsleute Mario Vargas Llosa und Alfredo Bryce Echenique für einen urbanen Realismus, welcher die lateinamerikanische Stadt (und das heißt in diesen drei Fällen: Lima) zum zentralen Gegenstand der Literatur machte. Wie die beiden anderen lebte Julio Ramón Ribeyro auch einen großen Teil seines Lebens in Europa und schrieb hier vor allem in Paris (aber z.B. auch in München) seine wichtigsten Werke. Und ähnlich wie bei Vargas Llosa war das Leben in Europa zunächst für viele Jahre geprägt von mäßig bezahlter Berufstätigkeit, welche den Lebensunterhalt sicherte, aber die schriftstellerische Tätigkeit zu einer Art Freizeitbeschäftigung machte. Erst ab den 1970er Jahren finanzierte die peruanische Regierung aufgrund der schriftstellerischen Leistungen und politischen Affinitäten den Aufenthalt Ribeyros in Paris, der dort dann viele Jahre als Botschafter bei der UNESCO tätig war und in dieser Funktion zahlreiche weniger bekannte peruanische Autoren unterstützte. Das Tagebuch von Julio Ramón Ribeyro erschien unter dem Titel „Die Versuchung des Scheiterns. Persönliches Tagebuch“ 1993 und 1995 in drei Bänden und 2003 in einer einbändigen knapp 700 Seiten zählenden Edition.48 Es umfasst die Jahre 1950 bis 1978, also in etwa jene Zeit, in welcher Ribeyro vom jungen Studenten in Lima zum international bekannten, wenn auch nicht berühmten Schriftsteller in Paris wurde. Das Tagebuch ist von Beginn an als ein literarischer Text konzipiert, der über die Jahre hinweg immer wieder überarbeitet wurde. In der kurzen „Einleitung“ von 1992 schreibt Ribeyro, dass das Tagebuch „Teil meiner literarischen Aktivität“ sei. Dies bedeutet zum einen, dass das Tagebuch selbst ein literarisches Werk ist, und zum anderen, dass „Seiten meines Tagebuch Kommentare zu meinen anderen Schriften sind, so wie einige dieser durch die Seiten meines Tagebuchs inspiriert sind.“49 Das Tagebuch beschreibt somit die Entwicklung zum Schriftsteller und ist gleichzeitig als literarisches Werk Ausdruck dieser Entwicklung. Das Tagebuch beginnt daher mit einem Eintrag vom 11. April 1950, in dem Ribeyro festhält, dass er trotz seines Jurastudiums nicht für ein Dasein als Jurist geeignet ist und darin auch keinen Sinn sieht.50 Das Tagebuchschreiben Ribeyros ist also auf eine andere Art Teil seiner literarischen Produktion als z.B. die Erinnerungen von Pablo Neruda, Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa oder Alfredo Bryce Echenique, um nur einige bekannte zu nennen.51 Bei deren autobiographischen Werken handelt es sich um Texte, die innerhalb einer relativ kurzen Zeit nach Erlangung internationalen Ruhmes für ein mehr oder weniger klar umrissenes Publikum in den Amerikas und in Europa geschrieben wurden. Auch wenn jeder dieser Texte ebenfalls das literarische Schaffen reflektiert und als literarisches Werk konzipiert ist, das sich mit der Gattung des autobiographischen Textes durch das Verfassen eines solchen auseinandersetzt, so sind diese Texte für das Gesamtwerk jedes dieser Autoren nicht zentral. Ribeyro dagegen publizierte schon 1953 einen Aufsatz über „intime Tagebücher“, in dem er sich darüber wundert, dass es noch keine größere Arbeit über 48 49 50 51
JULIO RAMÓN RIBEYRO, La tentación del fracaso. Diario personal (1950-1978). Barcelona 2003. Ebd. S. 1 (beide Zitate). Ebd. S. 5. PABLO NERUDA, Confieso que he vivido. Memorias. Barcelona 1974; GABRIEL GARCIA MARQUEZ, Vivir para contarla. Barcelona 2002, MARIO VARGAS LLOSA, El pez en el agua. Memorias. Barcelona 1993; ALFREDO BRYCE ECHENIQUE, Permiso para vivir (antimemorias). Barcelona 1993; ALFREDO BRYCE ECHENIQUE, Permiso para sentir (antimemorias). Barcelona 2005.
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die literarische Struktur solcher Texte gibt. Er entwickelt dann selbst einige Überlegungen, was denn „intime Tagebücher“ auszeichne, wobei er vor allem die „Freiheit der Komposition“ betont. Und so gelangt er zu dem Schluss, dass „alle genannten Charakteristika das intime Tagebuch als spezifisches literarisches Genre typifizieren.“52 Diese Erkenntnis mag schon 1953 nicht gerade überraschend gewesen sein. Der Aufsatz ist denn auch weniger als Teil der Forschung zu Selbstzeugnissen denn als Beitrag zum Verständnis des Tagebuchs von Ribeyro von Bedeutung. Tatsächlich ist sein Tagebuch ein literarisches Projekt mit dem Ziel „eine in unserem Medium [d.h. Peru] zumindest in der spezifischen Form des Tagebuchs eines Schriftstellers niemals verwendete Form der literarischen Äußerung einzuführen. In Peru existiert diese Art von Werken – sieht man von Tagebüchern von Forschern, Reisenden oder Funktionären ab –, so weit ich weiß, nicht.“53
Und so ist das Tagebuch von Ribeyro bis heute das wichtigste peruanische Werk dieser Art und eines der ganz wenigen publizierten über mehrere Jahrzehnte geführten Tagebücher eines bedeutenden lateinamerikanischen Schriftstellers. Wie die Neuauflage im Jahr 2003 zeigt, ist es Ribeyro mit seinem Tagebuch gelungen, ein literarisches Werk entsprechend den selbst gesetzten Maßstäben zu schaffen.54 Denn Ribeyro beschreibt in seinem Tagebuch sein Leben, ohne ihm Kohärenz zu verleihen. Dies geschieht auf zahlreichen Ebenen. Zunächst ist das Tagebuch schon in seiner Form nicht kohärent. Die Themen wechseln in unsystematischer Weise und ergeben keine irgendwie zu erkennende Struktur. Es gibt Zeiten, in denen das Tagebuch vor allem um die Person des Autors kreist, in anderen um sein Werk und in wieder anderen um Drittes, so dass das Tagebuch manchmal geradezu wie eine Ansammlung von Kurzessays oder gar Aphorismen erscheint. Die Einträge sind ungleich lang und häufig. Es gibt große zeitliche Sprünge und am Ende mehrerer Jahre finden sich Einträge, die keinem Datum oder auch nur Monat zugeordnet sind. Der Text ist nicht nur hinsichtlich der Themen, der Struktur und der Erzählweisen äußerst heterogen, sondern auch hinsichtlich der Aussagen über den Autor. Denn einerseits dokumentiert der Text das literarische Können und den literarischen Erfolg des Autors, andererseits beschreibt sich der Autor fast durchgängig als von Selbstzweifeln, ja Selbstverachtung geprägt. Der zweifelnde Beginn des ersten Eintrags wird also im Laufe des Tagebuchs nicht aufgelöst und in eine Erfolgsgeschichte überführt, sondern prägt den gesamten Text. Das Tagebuch endet mit einem Eintrag, in dem Ribeyro seine desaströse finanzielle Situation feststellt und sie damit erklärt, dass er und seine Frau nicht in der Lage seien, mit Geld umzugehen. Die Unfähigkeit, eine bürgerliche Existenz zu führen, die schon im ersten Eintrag beklagt wird, wird auch im letzten bedauert. Im Unterschied zum ersten Eintrag allerdings hat der Autor nun die Hoffnung aufgegeben, dass er irgendwann einmal ein Werk schreiben werde, dass ihn aller Finanzsorgen entledige. Diese Hoffnung – so optimistisch sie auch 52 JULIO RAMÓN RIBEYRO, En torno a los Diarios Intimos [sic], in: DERS., La caza sutil. Lima 1976 S. 11 f. 53 Ebd. S. 2; siehe auch: DERS., Dos diaristas peruanos, in: ebd. S. 119-126. 54 Demnach hat ein literarisches Werk erst dann einen Wert, wenn es „eine persönliche Erfahrung der Realität, etwas das unübertragbar und einzigartig ist“, enthält. RIBEYRO, La tentación del fracaso (wie Anm. 48) S. 448.
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klingt – ist dabei auch eine Variante des laufend wiederholten Bekenntnisses Ribeyros, dass er nicht in der Lage sei, die großen Werke zu verfassen, die er schreiben möchte. Ribeyro beschreibt sich also nicht nur als „gescheitert“ in dem Sinne, dass er keine bürgerliche Existenz führt, sondern auch insofern, als er nicht die von ihm erhoffte Literatur kreiert. Eine weitere Dimension des Scheiterns ist dabei seine frühe Krebserkrankung, die ihn seit Anfang der 1970er Jahre quälte und schließlich zu seinem Tod im Alter von 65 Jahren führte. Ribeyro scheitert auch als biologisches Wesen, da er einen großen Teil seines Lebens lediglich als ein vom Krebs gezeichnetes und am Krebs leidendes körperliches Wrack zubrachte. Dieser körperliche Verfall wird von Ribeyro ausführlich thematisiert. Ribeyro entwirft in seinem Tagebuch also keine kohärente Erfolgsgeschichte, wie dies Pedro Paz Soldán in seinen Reiseerinnerungen tat. Vielmehr gibt er wenig strukturierte Einblicke, die Blitzlichtern gleich einen Blick auf einen Autor zulassen, der kein nachahmenswertes Beispiel abgibt, sondern sich vielmehr als kranker Mensch und gescheiterter Literat darstellt. Während sich Schriftsteller wie Gabriel García Márquez oder Mario Vargas Llosa als lateinamerikanischen Ausdruck von männlicher Lebens- und Liebeskraft und -freude inszenieren, setzt sich Ribeyro als ein in Stücke geschlagenes Wesen in Szene, dem lediglich kleine Geistesblitze und einige herausragende Kurzgeschichten gelingen wollen. Dass Ribeyro sich keine biographische Identität erfindet (bzw. diese als eine des Scheiterns wahrnimmt), erscheint dem heutigen Stand der Diskussionen über Person und Biographie viel eher zu entsprechen, als es die Bedienung von exotisierten autobiographischen Stereotypen bei anderen lateinamerikanischen Autoren vermag. Das Tagebuch zeichnet sich also gerade dadurch aus, dass es Ribeyro gelingt, ein Leben zu erzählen, ohne Kohärenz zu schaffen. Dabei ist diese Absage an die biographische Meistererzählung gleichzeitig die literaturtheoretische Position, die Ribeyro gegenüber anderen Autoren vertritt. Auch in diesem Sinne ist das autobiographische Schreiben Teil des literarischen Werks Ribeyros. Obwohl Jahrhunderte zwischen ihnen liegen, entspricht Ribeyros Werk den besprochenen Texten von Garcilaso de la Vega und Pedro Paz Soldán insofern, als alle drei sich auf der Höhe ihrer Zeit bewegten, mit den literarischen Stilen und Gewohnheiten ihrer Epoche in Europa vertraut waren und sich dieser mit großer Souveränität bedienten. Auch Ribeyro diskutiert – ähnlich wie Garcilaso de la Vega und Paz Soldán – seine Stellung zwischen Peru und Europa. So notiert er z.B. mit Datum vom 31. Mai 1978 zwei Geschichten, die ihm durch den Kopf geschossen seien. Die erste handelt von einer französischen Familie, die sich in einem schwarzafrikanischen Land niederlässt, dort einen Sohn bekommt und mehrere Jahrzehnte lebt, bis ein xenophober Aufstand sie vertreibt. Der Sohn aber bleibt in dem Land, in dem er geboren wurde und aufwuchs. Ribeyro meint, dass er nun von den Landsleuten seiner Eltern als „Verräter“ betrachtet werde und gleichwohl in dem schwarzafrikanischen Land nicht als einer der Landsleute wahrgenommen werde. Solche Heimatlosigkeit (ein Begriff, den Ribeyro nicht verwendet) ist nicht zu überwinden. Dies führt Ribeyro zu einer zweiten, die „kulturelle Mestizierung“55 betreffenden Überlegung bzw. Geschichte. So vergleicht er die Aristoteles-Rezeption eines peruanischen Dichters mit der eines peruanischen Gelehrten und 55 RIBEYRO, La tentación del fracaso (wie Anm. 48) S. 616.
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Aristoteles-Übersetzers und schlussfolgert, dass nur der Dichter, der Aristoteles kaum kenne, eine eigenständige Aristotelesrezeption entwickelt habe, da er im Gegensatz zum gebildeten Übersetzer etwas Neues, bisher nicht Entdecktes in Aristoteles‘ Werk gefunden habe, während der Übersetzer das Werk lediglich in einer anderen Sprache wiederhole. Für Ribeyro kann es daher nicht das Ziel sein, in Frankreich französische Literatur zu schreiben oder gar zu übersetzen. Er hat keine Chance, in diesem Land angenommen zu werden. Seine Aufgabe sieht er vielmehr darin, die Weltliteratur um einen eigenständigen Beitrag zu bereichern, in dem seine Herkunft und seine Verwurzelung in Lima ihren Niederschlag finden. Ribeyro distanziert sich – wenn auch nicht explizit – von der Position von Pedro Paz Soldán. Ihm reicht es nicht mehr aus, in der europäischen Kultur zu Hause zu sein (was für ihn selbstverständlich ist). Er distanziert sich mittelbar aber auch von Garcilaso de la Vega. Denn er will die lokale Kultur seiner Kindheit weder verteidigen noch gar idealisieren. Das Lima seiner Erzählungen ist und bleibt vielmehr ein Ort der Verzweifelten und Entwurzelten. Die Distanz zu den beiden anderen hier besprochenen Autoren wird insbesondere bei der Frage nach dem Ziel von Ribeyros Schreiben deutlich. In seinem Tagebuch vermerkt er, dass er nicht versteht, welches Interesse seine Erzählungen bei einem europäischen Lesepublikum wecken könnten. „Das Peru, das ich präsentiere, ist nicht das Peru, das sie sich vorstellen oder sich präsentieren: es gibt keine indios oder nur wenige, es geschehen keine wundersamen oder ungewöhnlichen Dinge, es fehlt das lokale Kolorit, es fehlt das Barocke oder das sprachliche Delirium ... Bref [sic], inakzeptables Werk, weil es ihre Urteile oder ihre Vorurteile nicht bestätigt.“56 In einem weiteren Eintrag vom selben Tag (5. Juli 1978) heißt es, dass er es trotz seines 18jährigen (zweiten) Aufenthalts in Paris ablehne, sich zu assimilieren. Er respektiere und bewundere die „französische und in Ausdehnung die europäische Kultur“, habe aber kein Bedürfnis, sie zu imitieren. „Die Franzosen sind für mich genau so exotisch, wie wir für sie sein müssen.“57 Gleichzeitig diskutiert Ribeyro aber die Frage, was einen „genialen“ Schriftsteller ausmache (als letzte französische Beispiele nennt er Proust und Céline). 58 Sein Beharren auf seinem Peruanischsein ergibt sich nicht aus einem Kulturrelativismus, auch wenn er Kultur keineswegs mit französisch-europäischer Kultur (in seinem Verständnis) verwechselt. So muss er sich der französisch-europäischen Kultur weder unterwerfen (wie Paz Soldán), noch versuchen, seine Heimat als einen Teil dieser Kultur zu erfinden (wie Garcilaso de la Vega). Vielmehr kreiert Ribeyro einen besonderen Referenzrahmen: die Literatur. In seiner Kritik an Bukowski verteidigt er die Vorstellung, dass Literatur „par rapport [sic] zu anderen Literaturen“ geschrieben wird.59 In seiner Kritik an Alejo Carpentier definiert er das Kriterium, das Literatur ausmacht (nämlich die einzigartige Aussage, welche – die Bukowski-Kritik aufgreifend – auch eine spezifische Form verlange). Das Tagebuch von Ribeyro ist als Versuch zu lesen, Literatur zu produzieren. Der Wert Ribeyros als Schriftsteller und damit der Wert seines Lebens ergibt sich aus dem Urteil über sein Werk. Dieses Urteil wird in einem von Ribeyro imaginierten Raum der Literatur getroffen. Er schreibt zwar angeblich für ein peruanisches Publikum, ob seine Literatur einen Wert hat, 56 57 58 59
Ebd. S. 624. Ebd. Ebd. S. 625. Ebd. S. 644.
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ergibt sich aber seinen eigenen Angaben zufolge nicht aus dem Publikumserfolg in Peru.60 Wie bei Garcilaso de la Vega und Pedro Paz Soldán liegt der Referenzraum für Ribeyro außerhalb Perus. Er ist aber anders als bei den beiden Autoren des 17. und 19. Jahrhunderts nicht mehr eindeutig in Europa zu verorten. Dennoch bleibt die Vorstellung Ribeyros von einer Weltliteratur eindeutig eurozentrisch, da die Literatur, die er vor Augen hat, fast ausschließlich aus Europa und den beiden Amerikas kommt. Afrikanische, asiatische oder mittelöstliche Werke spielen in seinen Überlegungen praktisch keine Rolle. Wenn Ribeyro über Literatur schreibt, so meint er eine letztlich auf wenige europäische Länder zu beziehende Literatur, die er selber bestens kennt.61 Ribeyros Wunsch Teil dieser Weltliteratur zu sein, ähnelt also stärker als auf den ersten Blick erkennbar der Ausrichtung auf Europa bei dem Inca Garcilaso und bei Pedro Paz Soldán. Ribeyro, unterscheidet sich allerdings von den beiden aufgrund seiner nie endenden Zweifel, ob es ihm gelingt, Texte zu produzieren, die zum weltweiten Kanon gehören können. Er unterscheidet sich darüber hinaus von Pedro Paz Soldán, da es für ihn nicht ausreicht, die europäische Kultur zu kennen, quasi ein Teil von ihr zu werden. Gleichzeitig unterscheidet er sich von Garcilaso de la Vega, da es nicht sein Anliegen ist, etwas spezifisch Peruanischem in Europa zur Geltung zu verhelfen (außer sich selbst). Auch wenn Ribeyro also sein Peruanischsein betont, so ist seine eigene Wertschätzung doch noch stärker als bei Garcilaso de la Vega an nicht-Peruanisches gebunden.
60 Diese Auffassung ist auch an seiner Kritik an Mario Vargas Llosa zu erkennen. Ebd. S. 482 und 654. 61 Wie Ribeyros oben zitierte Bewunderung von Proust andeutet, ist seine Vorstellung von Literatur erheblich von Proust beeinflusst. In einer kleinen autobiographischen Erzählung entwirft sich Ribeyro geradezu als gescheiterter peruanischer Proust. Der Ich-Erzähler verbringt wie Marcel aus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ einen großen Teil seines Lebens auf schönen aber letztlich sinnlosen Feiern, bis er – wie Marcel – beschließt, seinem Leben einen Sinn zu geben und ein großes Romanwerk zu verfassen. Anders als bei Proust endet die Geschichte aber nicht mit diesem Entschluss, sondern erzählt wird vielmehr, wie sich der Autor zurückzieht und den Roman schreibt, der – wie er schließlich feststellen muss – literarischen Ansprüchen nicht genügt. Während Proust langatmig entwickelt, dass erst die Kunst den Menschen über den Tod erhebt, muss das literarische Alter Ego von Ribeyro einsehen, dass er nicht in der Lage ist, Kunst zu produzieren. Er kehrt zu seinem alten Leben der Einladungen und Feiern zurück, akzeptiert nun aber, dass seine Bestimmung darin liegt, seinen Gästen und Freunden Freude zu bereiten. Das kurze Werk beschreibt daher nicht nur das vermeintliche Scheitern Ribeyros, sondern auch seine Vorstellung von Literatur und seine Nähe zu Prousts Kunsttheorie. Da Prousts Hauptwerk ein autobiographisches Lebenswerk ist, kann durchaus angenommen werden, dass auch die Vorstellung Ribeyros, sein Tagebuch könne Literatur von Weltrang sein u.a. in seiner Proust-Bewunderung wurzeln. JULIO RAMON RIBEYRO, Ausente por tiempo indefindo, in: DERS., La palabra del mudo. Cuentos 1952-1993, Bd. 4. Lima 1994. S. 45-61; MARCEL PROUST, A la recherche du temps perdu, 7 Bde. Paris 1988-1990.
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Schluss Die drei hier gewählten Werke sollten nicht als herausragende Ausnahmen des autobiographischen Schreibens in Peru betrachtet werden. Im Gegenteil, bezüglich der oben diskutierten Aspekte stellen sie eher die Regel als die Ausnahme dar. Die Comentarios Reales des Garcilaso de la Vega sind zwar eine in der peruanischen und vielleicht sogar der lateinamerikanischen Kolonialliteratur unübertroffene Darstellung der vorspanischen Vergangenheit. Garcilasos Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung der lokalen Eliten (seien es Indianer, Mestizen oder spanische Einwanderer) lässt sich aber auch in Tausenden von anderen Texten finden und prägt einen großen Teil des frühkolonialen Schrifttums.62 Daher ist die Art und Weise, wie Garcilaso seine Heimatstadt Cuzco und seine eigene Biographie beurteilt, sicherlich nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich bei Garcilaso ist vielmehr, dass er die Anerkennung seines Mestizentums nicht nur implizit erwartet, sondern explizit postuliert. Garcilasos Adressat ist hierbei die weltliche Herrschaft. Es wäre zu vergleichen, inwiefern sich seine religiöse Selbstdarstellung ebenso stark auf ein europäisches Zentrum bezieht. Dabei geht es in Anbetracht des schon 1508 von Rom der spanischen Krone übertragenen Patronats nicht um die Frage, ob Geistliche sich stärker nach Rom als nach Spanien orientierten, sondern vielmehr darum, ob sie sich aufgrund religiöser Vorstellungen nicht direkt auf ein Jenseits bezogen. Aber auch in diesem Falle wäre ähnlich wie bei Ribeyro zu fragen, ob das imaginierte Dritte nicht lediglich eine andere Form europäischer Normen darstellt.63 Ähnlich wie bei Garcilaso de la Vega lässt sich auch bei Pedro Paz Soldán und Julio Ramón Ribeyro feststellen, dass wohl kaum einer ihrer peruanischen Zeitgenossen so gut mit der französischen und englischsprachigen Kultur vertraut war wie sie. Das in ihren Texten entwickelte Selbstverständnis unterschied sich deshalb aber nicht grundlegend von jenen Entwürfen, die wir bei anderen Autoren der Zeit finden. Peruanische Reiseberichte aus dem 19. Jahrhundert akzeptieren ähnlich wie jener von Paz Soldán die europäische bzw. US-amerikanische Welt als Vorbild für Peru, und die Autoren beurteilen sich danach, wie stark sie diesem Vorbild entsprechen. Die Einschreibung in andere Kulturen musste dabei nicht auf die Art und Weise von Paz Soldán vollzogen werden. Statt sich Sprachen und Bildung anzueignen, konnte man z.B. auch politische Überzeugungen als Kern des Zivilisiertseins verstehen.64 Das Werk von Julio Ramón Ribeyro ist sicherlich deutlich weniger repräsentativ für das 20. Jahrhundert als jenes von Paz Soldán für das 19. Denn im 20. Jahrhundert wurden deutlich mehr Selbstzeugnisse publiziert als im 19., was dazu beitrug, dass sich die Texttypen ausdifferenzierten. Zumindest bei Schriftstellern und den im akademischen Betrieb Tätigen lässt sich aber wie bei Ribeyro konstatieren, dass der Bezug auf Europa (und später auch auf die USA) für ihre Selbstzeugnisse von zentraler Bedeutung ist. Das Werk von Ribeyro ragt vor allem deshalb heraus, weil es den fragmentierten Menschen der Moderne zwischen Peru und Europa nicht nur auf der inhaltlichen Ebene thematisiert, sondern auch narrativ komponiert. Angesichts der zahlreichen Selbstzeugnisse, die 62 DAVID BRADING, The First America: The Spanish Monarchy, Creole Patriots, and the Liberal State, 1492-1867. Cambridge usw. 1991. 63 DE JESÚS, The Souls of Purgatory (wie Anm. 7). 64 MARQUEZ, Recuerdos de viaje a los Estado Unidos (wie Anm. 9).
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von Angehörigen nicht gebildeter Schichten geschrieben oder zumindest angeregt wurden, wäre zu fragen, welche Rolle in diesen Texten der implizite und explizite Bezug auf Europa spielt. Im Vergleich zu solchen Texten könnte auch diskutiert werden, welche Rolle die soziale Position der hier diskutierten Autoren und ihre langen Aufenthalte in Europa für ihre Selbstbeschreibungen spielen. Die drei hier gewählten Beispiele stammen von Männern, die sich zur Elite Perus zählten. Inwiefern dies auch ihre Position bezüglich kolonialer Herrschaft und kolonialem Erbe prägte, müsste im Vergleich zu Selbstzeugnissen anderer Autoren untersucht werden. Angesichts der Tatsache, dass die spanische Kolonialherrschaft sich fast 300 Jahre in Peru hielt und von spanischer Einwanderung und Akkulturation der Einheimischen in die Kolonialgesellschaft geprägt war, ist aber nicht davon auszugehen, dass peruanische Selbstbeschreibungen ohne jede Bezugnahme auf Europa auskommen. Die Frage ist vielmehr, wie sich diese Bezugnahme gestaltet. Unterschiede zu den hier analysierten Texten sind darüber hinaus bei Fragen nach Geschlecht, sozialer Schicht oder regionaler Herkunft (vor allem Stadt/Land) zu vermuten. Die Analyse der peruanischen Selbstzeugnisse macht deutlich, dass es zur Selbstbeschreibung peruanischer Autoren gehörte, sich auf Zusammenhänge zu beziehen, die außerhalb ihrer eigenen Gesellschaft lagen, sei diese nun national verstanden wie im 19. und 20. Jahrhundert oder regional wie in der Kolonialzeit. Diese Bezugnahme unterscheidet peruanische Selbstzeugnisse von den meisten französischen, englischen oder deutschsprachigen Selbstzeugnissen. Hier ist eine Tausende von Kilometern entfernt liegende Gesellschaft bzw. Kultur keine bedeutsame Referenz (vermutlich mit Ausnahme des religiösen Zentrums Rom). Die Verbundenheit mit anderen Kulturen wird bestenfalls in der Vergangenheit verortet, z.B. als antikes Erbe. Diese Bezugnahme auf ein relativ wenige Länder umfassendes kulturelles Zentrum wird hier als Kolonialismus bezeichnet. Es ist klar, dass damit keine unmittelbare koloniale Herrschaft bezeichnet werden soll, sondern vielmehr ein nicht materielles Abhängigkeitsverhältnis. Der Begriff soll zum einen darauf verweisen, dass koloniale Beziehungen sich auch im Selbstverständnis jener niederschlagen, die sich mit den kolonialisierten Regionen identifizieren bzw. aus ihnen stammen. Den hier besprochenen Autoren ist dies wohl bewusst, und es geht ihnen in ihren Selbstbeschreibungen gerade auch um eine Auseinandersetzung mit diesen Verhältnissen. Zum anderen wird der Begriff verwendet, um darauf zu verweisen, dass die kolonialen Verhältnisse ihre Wirkmächtigkeit nicht mit der politischen Unabhängigkeit verlieren. Diese Ansicht ist heute im Kontext der postcolonial studies weitgehend akzeptiert. Die hier analysierten Selbstzeugnisse zeigen aber auch, dass die Einschreibung kolonialer Beziehungen gerade auch von jenen diskutiert wird, welche an der Spitze der sozialen Hierarchien ihrer Länder stehen. Die hier diskutierten Selbstzeugnisse setzen sich bewusst mit der kolonialen Realität (die sie nicht als solche bezeichnen) auseinander und gehen mit dieser verschieden um. Sie wollen die koloniale Situation ändern (Garcilaso de la Vega) oder durch Identifikation (Paz Soldán) bzw. Schaffung eines Dritten überwinden (Ribeyro). Gemeinsam ist ihnen, dass sie ihr Selbstbild in Auseinandersetzung mit Europa entwickeln und dass sie den Wert der spanischen, französischen, englischen Kultur – gerade für ihre eigene Person – unterstreichen. Auch wenn diese Art der Auseinandersetzung wenig heroisch erscheint,
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so hat sie doch zumindest den Mut, sich einzugestehen, dass die koloniale Vergangenheit nicht rückgängig gemacht werden kann und das eigene Leben prägt.
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Vom Dragoman der Osmanen zum Dragoman der Heimat Mehrsprachigkeit und Personkonstitution im griechischsprachigen Osmanischen Reich
Will man wie Wolfgang Iser1 einen Diskurs entwickeln, „der die Übersetzbarkeit von Kulturen aufeinander ermöglicht, ohne dabei auf die alten Raster einer komparatistischen Kulturtypologie oder gar auf die Pragmatik von Aneignung und Assimilation zurückgreifen zu müssen“, so ist meines Erachtens die Geschichte der Übersetzungspraxis und der Personkonstitution von Übersetzern und Übersetzerinnen, der polyglotten Vermittler und Vermittlerinnen in oft multiplen kulturellen Zusammenhängen, ein privilegiertes Feld für eine Archäologie der Transkulturalität.2 Die interkulturelle Institution des Ermineus oder Diermineus, wie ihn die griechische Schriftsprache des 17. Jahrhunderts kennt, d.h. die Institution des „Interpreten“ oder Dolmetschers bzw. Dragomanen stellt einen wichtigen Faktor in der dynamischen Verbindung und partiellen Integration des osmanischen – islamischen wie christlichen – Orients in die westliche Welt dar. Dabei bilden die Dragomanen das beste Beispiel für den Aufstieg von Nicht-Muslimen in „Beamtenstellen“ der osmanischen Verwaltung und Diplomatie und stehen gleichzeitig für die Herausbildung einer Führungselite innerhalb des osmanischen Griechentums. Sie dienten der quasi gemeinsamen Verwaltung einiger öffentlicher Angelegenheiten des osmanischen Staates.3 Aus diesem Grund können sie einen heuristischen Ansatzpunkt bieten, um den Übergang von der vormodernen kulturellen Formation des Osmanischen Reiches hin zu einer kollektiven Leitvorstellung der europäischen Modernität zu beschreiben, die eng mit dem Konzept eines nationalen 1 2
3
WOLFGANG ISER, Theorie der Literatur. Eine Zeitperspektive. Konstanz 1992 S. 29 f. Vgl. in diesem Kontext: JEAN DELISLE/JUDITH WOODSWORTH (Hg.), Translators through History. Amsterdam usw. 1995 und JUDITH WOODSWORTH, Translators and the Emergence of National Literatures, in: Translation Studies. An Interdiscipline. Hg. MARY SNELL-HORNBY/FRANZ PÖCHHACKER/KLAUS KAINDL. Amsterdam usw. 1992 S. 55-63. Leider existiert für diese Personengruppe noch keine Monografie, welche die archivalischen Quellen kritisch behandelt und die komplexe Rolle des Dragomanen sowohl innerhalb der pluralen osmanischen Kulturformation wie auch beim Prozess der nationalen Identitätsbildungen untersucht. Vgl. jedoch J. H. KRAMERS, Terdjuman, in: E. J. Brills First Encyclopaedia of Islam 1913-1936 und CENGIZ ORHONLU, Τercüman, in: Islam Ansiklopedisi; das Sammelwerk FRÉDÉRIC HITZEL (Hg.), Istanbul et les langues orientales. Paris 1997 und den Ausstellungskatalog: DERS. (Hg.), Enfants de langue et Drogmans / Dil Oğlanarı ve Tercümanlar. Istanbul 1995. Vgl. auch MARIE DE TESTA/ANTOINE GAUTIER, Drogmans et diplomates européens auprès de la porte ottomane. Istanbul 2003, und für den griechischsprachigen Kulturraum mit weiterführender Literatur: MILTOS PECHLIVANOS, Δραγουμάνοι και μεταφραστές: μεταξύ Ανατολής και Δύσης [Dragomanen und Übersetzer. Zwischen Orient und Okzident], in: Η Δύση της Ανατολής και η Ανατολή της Δύσης. Aφιέρωμα στην Έλλη Σκοπετέα [Der Okzident im Orient und der Orient im Okzident. In memoriam Elli Skopetea]. Thessaloniki 2005 S. 69-84.
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Subjekts verbunden war. Die nationalen „imagined communities“4 erfinden sich sukzessive selbst, um dem Anspruch eines nationalen Staates zu genügen, der da lautet: Verteidigung und Ausbreitung der Herrschaft bis hin zu den äußersten jeweils imaginierten Grenzen. Dieser Prozess ist mit vielen Faktoren verknüpft, die das Identitätsbewusstsein festigen und der „imagined community“ Sinn geben, indem ihr als gemeinschaftlichem Subjekt eine neue Öffentlichkeit5 gegeben wird. Der Buchdruck und die massenhafte Verbreitung des gedruckten Wortes, die Presse, die Lexikografie sowie das Interesse an einer homogenen nationalen Sprache, die Nationalpädagogik und die Bildungsinstitutionen, die Kanonisierung der nationalen Literatur und ihrer Geschichte stellen dominante Praktiken in dieser neuen Öffentlichkeit dar, durch welche die nationale Kultur – beispielsweise Griechenlands – Gestalt annehmen und sich von anderen, konkurrierenden nationalen Gemeinschaften abheben konnte, mit denen sie angesichts der vorangegangenen kulturellen Formation des Reiches (nicht immer friedlich) koexistierte. Solche Strategien eines Willens zur Identität lassen sich beim Übergang von einer Koexistenz vielfältiger „ethnischer“ und religiöser Gemeinden in einem imperium zum allmählichen Entstehen einzelner nationaler Identitäten in der Region des Balkans klar beschreiben. Sie äußern sich im Streben nach einer kulturellen Säuberung (sowohl in sprachlicher wie in historiografischer, auf jeden Fall jedoch in ideologischer Hinsicht). Dabei werden Spuren der anderen Kultur isoliert und ausgelöscht oder aber auch angeeignet, indem retrospektiv eine Genealogie des fortwährend Gleichen gefordert und gefördert wird. Für beide Ansätze können zur Genüge Beispiele angeführt werden, und zwar aus der zerstückelten Region des Balkans oder aus dem Nahen Osten, der als geografisches Erbe des Osmanischen Reiches hier von Interesse wäre. Wenn wir bei den Beziehungen zwischen griechischer und türkischer Kultur bleiben, wäre als ein Beispiel etwa die Usurpation des türkischen Schattentheaters (karagöz) durch die griechische Volkskunde des 19. Jahrhunderts erwähnenswert. Auch ließe sich – im weitesten Sinne eines kollektiven Unbewussten – bei den vielen türkischen Lehnwörtern der modernen griechischen Sprache die Beobachtung anstellen, dass eine semantische Abwertung bzw. Persiflage der ursprünglichen Bedeutung stattfindet, häufig in der Weise, als verkörpere das Lehnwort zugleich einen Kommentar.6 Die Welt des Nahen Ostens war seit dem 19. Jahrhundert – bei gleichzeitiger weitgehender gegenseitiger sprachlicher und kultureller Unkenntnis – in eine Vielfalt von Nationen und Staaten mit „nationalen Historiografien“ zerfallen. Die griechische Historikerin Elli Skopetea schreibt in ihrem Buch mit dem mehrdeutigen Titel I Dysi tis Anatolis, „Der Okzident des Orients“ (was zugleich „Der Okzident im Orient“ und „Der Untergang des Orients“ bedeutet): 4 5
6
BENEDICT ANDERSON, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London 1983. Vgl. NASSIA YAKOVAKI, Ένας νέος ρόλος για την επιστολογραφία. Η συμβολή της στη διαμόρφωση της νεοελληνικής δημόσιας σφαίρας στις αρχές του 19ου αιώνα [Eine neue Rolle für die Epistolographie. Ihr Beitrag zur Herausbildung der neugriechischen Öffentlichkeit am Anfang des 19. Jahrhunderts], in: Mesaionika kai Nea Ellinika 8. 2006 S. 199-230. ELLI SKOPETEA, “Weak” and “Strong” in the Balkans, in: “Strong” and “Weak” Languages in the European Union: Aspects of Linguistic Hegemonism 2. Thessaloniki 1997 S. 660-664.
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„Der einzige gemeinsame Nenner und zugleich der eigentliche Spaltungsfaktor der Region war der Begriff des Okzidents. Zur Vervollständigung des Paradoxons muss man sagen, er war auch der eigentliche Einheitsfaktor. Er begleitete den ganzen Vorgang der Auflösung des Osmanischen Reiches vom Anfang bis zum Ende sowie die Gründungsphase der Staaten, die dessen Erbe angetreten haben“.7
Die Untersuchung der Anpassung des Osmanischen Reiches (aber auch der regionalen Nationalstaaten seit dem griechischen Unabhängigkeitskrieg im Jahre 1821 und der Gründung des griechischen Königreichs bis hin zur Herausbildung des modernisierten und europäisierten türkischen Staates) an den Rhythmus der europäischen Modernität, d.h. die Verzeitlichung und Verräumlichung in das Europa der Moderne hinein, stellt ein vordringliches Forschungsanliegen dar, das nur interdisziplinär angemessen zu bewältigen ist. In der Osmanistik hat sich die Diskussion um eine Aufwertung der Diplomatie im 18. Jahrhundert intensiviert. Einer der Gesichtspunkte, die im Vordergrund standen, war die Frage, inwiefern in den Berichten osmanischer Gesandter „eine systematische Inventarisierung der osmanischen Diskussionen von in Europa vorgefundener materieller Kultur“ – womöglich auch gesellschaftlichen Werten – zu erkennen ist.8 Es geht um die „explorateurs de la modernité“9, und damit auch um die komplementäre Frage nach dem Aufstieg von Nicht-Muslimen, für unsere Fragestellung, aus dem Millet-i Rum in „Beamtenstellen“ der osmanischen Verwaltung und Diplomatie und nach deren Funktion. Nach dem Stadtteil Phanari (Fener) von Istanbul, in dem sie wohnten, nannte man die Dragomanen aus dem Millet-i Rum auch Phanarioten. Dort befand sich auch der Sitz des Patriarchats, des eigentlichen Zentrums der christlich-orthodoxen Minorität im Osmanischen Reich.10 Diese Elite hatte eine realistische Aussicht auf Teilhabe an der Macht und nicht selten zugleich utopische Wünsche bezüglich der Transformation des osmanischen Imperiums in eine politische und kulturelle Fortsetzung von Byzanz. „Die Griechen“, wie Arnold Toynbee bemerkt hat, „befanden sich unter dem Einfluss zweier nicht zu vereinender Ziele: auf der einen Seite, der phanariotische Ehrgeiz, am osmanischen Erbe teilzuhaben, indem sie das Osmanische Reich aufrecht hielten; und auf der anderen, der Ehrgeiz, einen eigenen unabhängigen Staat zu schaffen“.11 Diese gegenläufigen Ziele waren nach der Französischen Revolution und unter dem Einfluss eines sich bei den 7
ELLI SKOPETEA, Η Δύση της Ανατολής. Εικόνες από το τέλος της Οθωμανικής Αυτοκρατορίας [Der Okzident des Orients. Bilder vom Ende des Osmanischen Reichs]. Athen 1992 S. 11. 8 SURAIYA FAROQHI, Materielle Kultur und – zuweilen – gesellschaftliche Werte: Das Europabild in den Berichten osmanischer Gesandter des XVIII. Jahrhunderts, in: Strukturelle Zwänge – Persönliche Freiheiten. Osmanen, Türken, Muslime: Reflexionen zu gesellschaftlichen Umbrüchen. Gedenkband zu Ehren Petra Kapperts. Hg. HENDRIK FENZ. Berlin usw. 2009 S. 81-103, zit. 101. Vgl. in diesem Band auch den Beitrag von ABDULLA GÜLLÜOGLU, Dämonen, böse Geister und unreine Hunde: Differenzmarkierungen im Gesandtschaftsbericht des Zülfikâr Efendi von 1688-1692, S. 295-313. 9 STÉPHANE YERASIMOS, Explorateurs de la modernité. Les ambassadeurs ottomans en Europe, in: Genèses 35. 1999 S. 65-82. 10 Vgl. mit weiterführender Literatur: RICHARD CLOGG, The Greek Millet in the Ottoman Empire, in: Christians and Jews in the Ottoman Empire: The Functioning of a Plural Society 1. Hg. BENJAMIN BRAUDE/BERNARD LEWIS. New York usw. 1982 S. 185-207. 11 Zitiert nach: KONSTANTINOS SVOLOPOULOS, Κωνσταντινούπολη 1856-1908. Η ακμή του ελληνισμού [Konstantinopel 1856-1908. Der Aufstieg der Griechen]. Athen 1994 S. 21.
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aufgeklärten Gelehrten der griechischen Diaspora herausbildenden modernen „Patriotismus“ verständlicherweise immer schlechter miteinander zu vereinbaren. Bis zum griechischen Unabhängigkeitskrieg im Jahre 1821 hatten die einflussreichen Familien aus dem Phanari bei einer Reihe von Verwaltungsstellen die Monopolstellung inne – vom Sitz des „Dragomanen der Flotte“ bis hin zum viel bedeutenderen „Großen Interpreten“, dem Dragoman im Diwan, im Staatsrat des Reiches. Aus den Kreisen der phanariotischen Dragomane wurden schließlich seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts die Fürsten der halbautonomen Fürstentümer Walachei und Moldau ernannt. Das Misstrauen der Osmanen gegenüber den Glaubensgenossen des Zaren, ihres Erzfeindes, und die immer bedeutender werdende Rolle des Dragomanen in der Diplomatie, aber auch die häufigen Umstellungen zentraler Machtpositionen innerhalb der osmanischen Verwaltung, bezahlten viele phanariotische Dragomane mit ihrem Leben. Nach 1821 allerdings war die Zeit reif für die Forderung, eine „moderne muslimische diplomatische Elite“ zu bilden, die zur Gründung eines Übersetzungsbüros bei der Hohen Pforte (Bâbiâli Tercüme Odasi) führte. Dessen oberste Funktion war die Ausbildung von Muslimen in der französischen Sprache, damit diese forthin die christlichen Dolmetscher ersetzen konnten.12 Neben den herausragenden Dolmetschern der Zentralverwaltung, wo die Phanarioten weiterhin vorherrschten, aber auch neben den wichtigen Rängen des „Dragomanen der Morea“ und des „Dragomanen von Zypern“ musste auch die Kommunikation im Handelssektor und mit den westlichen Botschaften von Istanbul gewährleistet werden, was eine Flut von jüdischen und christlichen Dolmetschern mit sich brachte. Griechen, Armenier und die Mischkultur der Levantiner entwickelten eine beeindruckende Mehrsprachigkeit, die ihnen die gewinnbringende Stellung eines Dragomanen sicherte sowie die Integration in eine interkulturelle synkretistische soziale Schicht, gewissermaßen in einen Okzident innerhalb des Orients. Vom Norden her kommend lässt der Held des russischen moralistisch-satirischen Romans Iwan Wuishigin von Faddej V. Bulgarin kein gutes Haar an diesen „Levantinern“, d.h. den Peroten, den Bewohnern des Stadtteils Pera, als ihn sein pikareskes Schicksal nach Istanbul verschlägt: „Alle Geschäfte in Konstantinopel, sowohl politische als commerzielle, sind in den Händen der Peroten, d.h. der Bewohner der Vorstadt Pera, welche nicht nur eine eigene Stadt, sondern ein abgesondertes Reich, ein abgesondertes Volk bilden! Hier wohnen die Nachkommen von Italienern (größtenteils Venezianern), Illyriern und anderen südlichen Slaven, Katholischen Armeniern, nebst wenigen Franzosen, und noch wenigeren Engländern und Deutschen. [...] Die Sprache der Peroten ist die Italienische, d.h. alle Italienische Mundarten, gemischt mit Türkischen, Griechischen und Slavischen Wörtern, nebst eigenthümlicher Aussprache. Ihre Unwissenheit in allem, was Wissenschaften und Künste betrifft, kommt der Türkischen gleich; List ersetzt aber alle Eigenschaften, und die Kenntniß vieler Sprachen bildet ihre ganze Weisheit. Kinder, welche kaum lallen können, werden schon gewöhnt Türkisch, Griechisch, Französisch und Italienisch zu sprechen. Diese Sprachkunde führt die Peroten zu Reichthum und Ehren, weil alle diplomatische Geschäfte der Pforte in ihren Händen sind, denn aus ihrer Mitte wählt man die Dragomans oder Dolmetscher bei den Europäischen Gesandtschaften. [...]
12 CARTER VAUGHN FINDLEY, Ottoman Civil Officialdom: A Social History. Princeton, NJ 1989 S. 133 f.
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Der Ehrgeiz eines Peroten strebt nicht über das Amt eines Dragomans hinaus, und sein einziges Streben ist Geld.“13
Dabei handelt es sich um ein auch unter den Muslimen weitverbreitetes Bild der „Levantiner“. Drei Schicksalsschläge, sagte man, habe Istanbul erlitten: die Pest, die häufigen Brände und die Levantiner. Zwischen Orient und Okzident, aber aus einer westlichen Position innerhalb des Orients heraus, entstand aus der Notwendigkeit des interkulturellen Kontakts und der Übersetzbarkeit das Konzept des Dragomanen – an sich schon ein Hybrid, eine Mischform, und aufgrund seiner engen Verbindung mit den Machtinhabern auch häufig Tourkodragomanos genannt.14 Dieses Konzept und der Umgang mit ihm bieten sich an, um die Interaktionen zwischen Okzident und Orient, die Modalitäten und Gattungen einer hierarchischen kulturellen Mehrsprachigkeit zu untersuchen. Der Dragoman stellt eine Schnittstelle zwischen Ost und West, zwischen Islam und Christentum, zwischen Tradition und Moderne dar. Lässt man nun die „Levantiner“ aus Bulgarins satirischer Schilderung beiseite und berücksichtigt auch die phanariotischen Dolmetscher, die zu Fürsten der Moldau und Walachei aufstiegen und zu Trägern einer verspäteten Renaissance und einer okzidentalen Hofgesellschaft im osmanischen Orient wurden, dann bilden diese Dragomanen darüber hinaus eine Schnittstelle zwischen Macht und Wissen, Pflicht und Muße, Diskurs und Schrift und, nicht zuletzt, zwischen Herrn und Untertan, Fürst und Raya.
Die Repertoires eines Dragomanen der Heimat, oder die Encyclopédie nach Ioannina Die Untersuchung der Interaktion zwischen Okzident und Orient – des Orients im engeren Sinne des Nahen Ostens und der osmanischen Welt einerseits und des Okzidents in seiner paradoxalen doppelten Begriffsbestimmung andererseits und als einziger gemeinsamer Nenner in der zersplitterten Welt des modernen Orients und zugleich dessen zersetzende Kraft – zeigt ein Spektrum inter- und transkultureller Begegnungen und Reaktionen auf, das den Arbeiten Edward Saids über den Orientalismus und von Bernard Lewis über die muslimische Entdeckung Europas sowie den dadurch ausgelösten Polemiken hinzugefügt werden muss. Dies gilt insbesondere, wenn man die Ebene der politischen Historiografie verlässt und sich dem Bereich der Mentalitätsgeschichte bzw. der Kultursemiotik zuwendet, der sowohl für die vergleichende Literaturwissenschaft wie auch für die Historische Anthropologie von Belang ist. Die Selbstzeugnisforschung – und zwar aus der transkulturellen Perspektive der Berliner Forschergruppe als Erforschung von Personkonzepten in ihren Beziehungskontexten verstanden – hat in dieser Hinsicht einen wichtigen Beitrag zu leisten. Programmatisch gesehen wären die Akteure in der griechischen Kulturwelt – seit der frühen Neuzeit bis in die Sattelzeit um 1800 und ferner bis hin zum Vergessen bzw. Verdrängen dieser Mehrsprachigkeit in der Zeit der 13 FADDEJ V. BULGARIN, Iwan Wuishigin, moralisch-satyrischer Roman 2. Leipzig 1830 S. 172-174. 14 ATHANASIUS TH. PHOTOPOULOS, Οι δραγομάνοι του Μορέως [Die Dragomanen der Morea], in: Journal of Oriental and African Studies 1. 1989 S. 49-82, hier 71.
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triumphierenden Nationalismen (für Griechenland die Zeit der politischen Romantik ab 1830) – „kontextuelle Benutzer ihrer Repertoires“ und somit Vertreter jener kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten, die den östlichen Mittelmeerraum als einen Raum transkultureller Wechselwirkungen von Körpern, Waren und Ideen in besonderer Weise geprägt haben. Das Feld bleibt jedoch in der Neogräzistik wie auch m.E. in den meisten Nationalphilologien der Region immer noch weitgehend unterbelichtet und wenig erforscht. Der Übergangsphase vom „Dragoman der Osmanen“ zum „Dragoman der Heimat“ entstammen die Selbstzeugnisse zweier zentraler Vertreter der griechischen Kulturwelt um 1800, die im Folgenden im Vordergrund stehen. Beide Selbstzeugnisse lassen aufgrund der multiplen kulturellen Zugehörigkeit ihrer Verfasser und des Zwanges, sich dementsprechend zu positionieren, die Herausbildung eines modernen „Patriotismus“ bei den Gelehrten der griechischen Diaspora erkennen. Aber sie tun dies auf unterschiedliche Weise. Als Beispiel für den „Dragoman der Osmanen“ soll für unsere Zwecke ein gebürtiger Athener dienen: Panagiotis Kodrikas (1762-1827), ein Aufsteiger im phanariotischen Milieu, Schreiber im Patriarchat, anschließend Sekretär phanariotischer Dragomane und Fürsten und zuletzt Erster Dragoman der osmanischen ständigen Gesandtschaft in Paris unter Leitung von Seyid Ali Efendi. Kodrikas kehrte 1802 nicht mit der Gesandtschaft nach Istanbul zurück, sondern blieb bis zu seinem Tod in Paris. Er war dort weiterhin als Übersetzer und Dolmetscher im französischen Auswärtigen Amt tätig, ohne jedoch die Loyalität gegenüber seinem früheren phanariotischen Netzwerk aufzugeben. Er blieb ein Verteidiger der herkömmlichen Lebensweisen des ancien régime, der Phanarioten und des Patriarchats in Konstantinopel, und wurde allmählich zum Gegner der innovationsbereiten Reformer am Horizont der europäischen Aufklärung. Seinem Archiv verdanken wir einen für die neugriechische Literatur einmaligen Text: Kodrikas’ Ephimerides (Journale), tagebuchartige Aufzeichnungen, von der Forschung als journal intime bezeichnet15, verfasst zum größten Teil zwischen 1786 und 1797 in Konstantinopel, Athen, den Donaufürstentümern sowie auf der Reise nach Frankreich. Kodrikas’ Text kann gelesen werden als Mittel der Selbstpositionierung und – dank des offenen Gattungsbegriffs sowie der geheimen Funktion des persönlichen Tagebuches – als ein Versuch, im Integrationsmedium der Aufzeichnung die multiplen Zugehörigkeiten des Verfassers im Osmanischen Reich zu reflektieren. Als „Dragoman der Heimat“16 dagegen bezeichnete sich in polemischer Selbststilisierung Adamantios Korais (1748-1833), ein Vertreter par excellence der neugriechischen Aufklärung, den Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff folgendermaßen zu würdigen wusste: „Erst nach dem Fall von Konstantinopel flüchtet auch die Gelehrsamkeit aus dem Vaterlande, in dem alle höhere Bildung auf Jahrhunderte ganz erstirbt. Um so gewaltiger ist die Tat des Chioten Adamantios Koraes (1748-1833), den nicht nur sein Volk als den Erneuerer seiner Sprache preisen soll, sondern jeder, der ein Herz für die edelste Vaterlandsliebe hat. An seinem Wirken ist zu lernen, daß der Geist unsterblich ist und der Segen der Väter auch nach Jahrhunderten den Enkeln die Kraft gibt, ihr Haus neu zu bauen; denn durch die Hingabe an
15 ALKIS ANGEHLOU, Εισαγωγή [Einleitung], in: PANAGIOTIS KODRIKAS, Εφημερίδες [Journale]. Hg. ALKIS ANGEHLOU. Athen 1991 S. 34*. 16 YAKOVAKI, Epistolographie (wie Anm. 5) S. 219-222.
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das alte Hellas und durch wissenschaftliche Arbeit hat Koraes in der geistigen auch die politische Wiedergeburt seines Volkes vorbereitet. Die Romäer sind wieder Hellenen geworden“.17
Mit seinem editorischen und essayistischen Werk vollzog Korais den „Seitenwechsel“ von einer älteren hin zu einer neuen kulturellen Mehrfachzugehörigkeit, diesmal hin zum aufgeklärten Europa. In seiner kurzen Autobiografie, in seiner Vita (der Text ist in klassizistischer Manier mit Bios betitelt), die er 1829, vier Jahre vor seinem Tod, ebenfalls in Paris, verfasste, inszeniert sich Korais, unter anderem der Herausgeber einiger der Viten Plutarchs, in seiner individualisierten Lebensgeschichte als Dragoman der Heimat, der durch die klassische Bildung und die Französische Revolution seine alte kulturelle Mehrsprachigkeit (die als Unterdrückung durch den Tyrannen stilisiert wird) durch eine neue, hellenisch-europäische, ersetzt.18 Das Thema der Paideia, der Bildung, durchläuft als roter Faden Korais’ Vita. Die Tatsache, dass in seiner Heimatstadt Smyrna (Izmir) die Möglichkeiten fehlten, seinen Wissensdurst zu stillen, „verstärkte den seit [s]einer Geburt tief verwurzelten Hass auf die Türken, die Schuld waren an diesem Mangel, und den Wunsch, [s]einer Heimat den Rücken zu kehren, die, so fand [er], [ihn] eher stiefmütterlich als mütterlich behandelt hatte“. In der Gewissheit, dass „in das heutige Europa sowohl Griechenlands als auch Roms und selbst Palästinas Lichter geflüchtet sind“, entscheidet er sich für die Diaspora, zunächst als Händler in Amsterdam (1771-1778); nach einer kurzen Zwischenperiode in Smyrna, während der er „in eine solche Melancholie überging, dass [er] ernsthaft fürchten mußte, wahnsinnig zu werden“, gelang es ihm, 1782 zum Studium der Medizin nach Monpellier zu fahren. Seine Endstation, nachdem er sein Studium beendet hatte, war Paris: „ich wollte auch Paris, das neue Athen, kennenlernen, um der Schande zu entgehen, wie es für diejenigen damals war, die das alte Athen nicht kennengelernt hatten“; und dort blieb er bis zu seinem Tod: „Die bis dahin offene Frage hinsichtlich meiner Rückkehr in die Heimat, die durch den Tod meiner Eltern nicht mehr so vordringlich war, erledigte sich schließlich endgültig von selbst 17 ULRICH VON WILAMOWITZ-MOELLENDORFF, Geschichte der Philologie. Stuttgart usw. 31998 (1921) S. 5. 18 ADAMANTIOS KORAIS, Προλεγόμενα στους αρχαίους Έλληνες συγγραφείς και η Αυτοβιογραφία του [Vorbemerkungen zu Autoren der griechischen Antike und seine Autobiographie] 1. Athen 1986 (1833) S. ζ΄-λβ΄. Die Metapher des „Dragomanen der Heimat“ hatte Korais schon 1804 in einem Brief verwendet (Αλληλογραφία [Briefwechsel] 2. Athen 1966 S. 142-143): „Wenn die Heimat Bedarf an Reichen hat, dann hat sie auch Bedarf an Dragomanen, um durch sie zu den Reichen zu sprechen, um denjenigen zu danken, die ihr aus eigenem Antrieb helfen, um die noch nicht Helfenden zu motivieren, um, sofern es dessen bedarf, jene zurechtzuweisen, welche weder irgendeine Neigung noch Lust dazu haben, ihr zu helfen. Von diesen Dragomanen bin auch ich einer; das ist mein Beruf, das ist meine Pflicht, ich habe keine andere Art, keine weiteren Mittel, um meiner Heimat nützlich zu sein“ („Αν η πατρίς έχει χρείαν από πλουσίους, έχει χρείαν και από δραγομάνους διά να λαλή διά μέσου τούτων προς τους πλουσίους, να ευχαριστή εκείνους όσοι μετά προθυμίας την βοηθούσι, να παρακινή τους μη βοηθήσαντας ακόμη, και να ελέγχη, αν η χρεία το καλέση, εκείνους όσοι μήτε κλίσιν μητ’ όρεξιν καν μίαν δεν έχουν να την βοηθήσωσιν. Από τούτους τους δραγομάνους ένας είμαι και εγώ· τούτο είναι το επάγγελμά μου, τούτο είναι το χρέος μου, μήτε τρόπον μήτε μέσον άλλο έχω να ωφελήσω την πατρίδα μου παρά τούτο“). Dieser Brief, adressiert an Zois Kaplanis in Moskau, Förderer des griechischen Gymnasiums in Ioannina, begleitete die Rechnung für den Versand zweier Globi und zweier Buchreihen, der 99 Bände der Histoire Naturelle von Buffon und der 135 der Encyclopédie, von Marseille nach Ioannina.
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durch die politische Revolution in Frankreich und ich fasste unwiderruflich den Entschluss, in Zukunft nicht mehr unter einer tyrannischen Herrschaft zu leben. Dies bestärkte dann auch den schon lange gehegten Wunsch, mich mit aller Kraft der Bildung meiner Landsleute zu widmen, zumal ich die Erkenntnis gewonnen hatte, dass die Potenzierung und Verbreitung der Bildung in der französischen Nation den Freiheitsdrang ausgelöst hatte. Einziges Mittel zu diesem Zweck schienen mir die Editionen der altgriechischen Autoren mit langen Vorbemerkungen in der gemeinsamen neugriechischen Sprache zu sein, so dass nicht nur die durch Studium des Altgriechischen Ausgebildete, sondern auch Privatpersonen sie lesen konnten. Dieses Vorhaben aber erforderte weitere Kenntnisse des Altgriechischen, um die Schriften der Autoren kritisch zu edieren. Dem Kenntniserwerb widmete ich also meine ganze Aufmerksamkeit und verzichtete darauf, mich als Arzt niederzulassen oder einer anderen Beschäftigung nachzugehen.“19
Am 6.1.1803 (le 16 Nivôse, an XI) trug Korais vor der „Société des Observateurs de l’homme“ in Paris sein Mémoire sur l’état actuel de la civilisation dans la Grèce vor – ein Text, der nach Benedict Anderson „a stunningly modern analysis of the sociological bases for Greek nationalism“20 enthält. Korais vermittelt mit seiner historiografischen Abhandlung ein „tableau de l’état actuel de [s]es compatriotes“ und skizziert den Bildungsweg „d’un peuple qui se prépare à devenir nation“.21 Seine Autobiografie von 1829 lässt sich als Pendant zur Denkschrift von 1803 lesen. Seine individualisierte Lebensgeschichte, in deren Mittelpunkt die studia humaniora und die Revolution stehen, das alte und das neue Athen, entspricht der kollektiven „révolution morale“, der angestrebten „régénération“ seiner Heimat, von der die Denkschrift handelt.22
19 Ebd. S. ιβ΄ („και τούτο εσφόδρυνε το εκ γενετής τρεφόμενον εις την ψυχήν μου μίσος κατά των Τούρκων, ως αιτίων της τοιαύτης ελλείψεως, και την επιθυμίαν να αρνηθώ την πατρίδα μου, την οποίαν έβλεπα πλέον ως μητρυιάν παρά ως μητέρα μου“), ιη΄ („ότι εις την σημερινήν Ευρώπην κατέφυγαν και της Ελλάδος και της Ρώμης, ακόμη και της Παλαιστίνης, τα φώτα“), κβ΄ („εις τόσην μελαγχολίαν, ώστε εκινδύνευσα να πέσω εις αληθινήν παραφροσύνην“), κδ΄(„επεθύμησα να ιστορήσω και τας νέας Αθήνας, τους Παρισίους, διά να αποφύγω καν τον όνειδος των, όσοι δεν εγνώριζαν άλλοτε τας παλαιάς“), κδ΄-κε΄ („Τας μέχρι τούτου απορίας μου περί της εις την πατρίδα επιστροφής, τας οποίας είχεν μετριάσει ο θάνατος των γονέων μου, έλυσε πλέον ολότελα η πολιτική μεταβολή της Γαλλίας, και απεφάσισα αμεταθέτως να μη συζήσω εις το εξής με τυράννους. Τούτο ηύξησε και την οποίαν έτρεφα επιθυμίαν προ πολλού να συνεργήσω το κατά δύναμιν εις την παιδείαν των ομογενών μου, και μάλιστα αφού επληροφορήθην, ότι η αύξησις και εξάπλωσις της παιδείας εις το Γαλλικόν έθνος εγέννησε τον έρωτα της ελευθερίας. Μόνον μέσον τοιαύτης συνεργίας εύρισκα τας εκδόσεις των ελληνικών συγγραφέων με μακρά προλεγόμενα εις την κοινήν γλώσσαν, ώστε να αναγιγνώσκωνται όχι μόνον από τους σπουδαστάς της παλαιάς γλώσσης, αλλά και από τους ιδιώτας. Εις τοιαύτην επιχείρησιν όμως, εχρειάζετο πλειοτέρα γνώσις της ελληνικής γλώσσης, διά την κριτικήν έκδοσιν του κειμένου των συγγραφέων. Εις ταύτης λοιπόν την απόκτησιν έδωκα όλην μου την προσοχήν, αφίνων και την απαγγελίαν της ιατρικής και πάσαν άλλην ασχολίαν“). 20 ANDERSON, Imagined Communities (wie Anm. 4) S. 70, Anm. 14. 21 CORAY, Mémoire sur l’état actuel de la civilisation dans la Grèce. Paris 1803 S. 8, 58. 22 Vgl. dazu MILTOS PECHLIVANOS, Eκδοχές νεοτερικότητας στην κοινωνία του γένους: Nικόλαος Mαυροκορδάτος – Iώσηπος Mοισιόδαξ – Aδαμάντιος Kοραής [Diskurse der Modernität vor dem griechischen Nationalstaat: Nikolaos Mavrokordatos – Iosipos Moisiodax – Adamantios Korais]. Thessaloniki 1999 S. 155-219.
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Die Repertoires eines Dragomanen der Osmanen „Es ist nicht einfach, Kodrikas’ Persönlichkeit zu skizzieren.“23 So lautet der erste Satz der kurzen Biografie, die K. Th. Dimaras nach der Inventarisierung von Kodrikas’ persönlichem Archiv an der Sorbonne verfasst hat. 1795 war Kodrikas in den Augen seines Freundes Kostas Stamatis „philosophe et tout dévoué à la cause de la liberté“24; unter anderem übersetzte er damals die Entretiens sur la pluralité des mondes von Fontenelle (veröffentlicht in Wien, 1794) und Alexander Popes Essay on Man (diese Übersetzung blieb unveröffentlicht) und versuchte mit Hilfe desselben Freundes in Paris auch ein Exemplar der Encyclopédie zu erwerben.25 Seine späteren Schriften, verfasst in der Zeit polemischer Auseinandersetzungen mit Adamantios Korais zum brennenden Thema der Standardisierung des Neugriechischen, verraten ein ganz anderes Bild. Der Kampf tobte damals im Kontext der Sprachreform, die Korais in der Tradition der französischen grammaire générale und der idéologie einzuführen beanspruchte. Nach Kodrikas dagegen war eine solche Position jedoch zu werten als „eine allgemeine Destabilisierung des status quo“ in Bezug auf die „wichtigsten Gebräuche unserer Glaubensgemeinschaft“26: „Deswegen gebe ich aufrichtig zu, dass ich die Philosophie der Demagogen verabscheue. Ich schreibe weder für Bauern noch für Lebensmittelhändler; ich schreibe lediglich für Adlige und Gebildete. Deswegen versuche ich, mich so genau wie möglich in ihrer Sprache auszudrücken. Ich will, dass die Bauern sich mit ihren Äckern beschäftigen und die Lebensmittelhändler mit dem Handel […]. Die Adligen sollten sich ihrerseits je nach Rang und Erziehung mit dem Studium und der Philologie beschäftigen und einen Beitrag zur Glückseligkeit der Glaubensgemeinschaft leisten. Ich entschuldige mich daher bei den Demagogen. Ich weiß, dass die Ungleichheit dem System der Gymnosophisten entgegensteht. Jeder auf dieser Welt hat jedoch seine Vorurteile, und so auch ich. Ich glaube also, dass eine nationale Staatsform dann gedeiht, wenn nach dem göttlichen Plato die Regierenden philosophieren oder die Philosophen regieren. Das größte Unglück einer Nation ist jedoch, wenn die Philosophen dem vulgären Volk ähneln oder das vulgäre Volk philosophiert.“27 23 K. TH. DIMARAS, Προτομή του Κοδρικά [Büste von Kodrikas], in: DERS. Φροντίσματα A΄. Από την Αναγέννηση στον Διαφωτισμό [Studien 1. Von der Renaissance bis zur Aufklärung]. Athen 1962 S. 67-88, hier 67. 24 Zitiert nach DIMARAS, ebd. S. 72. 25 Ebd. S. 61. 26 PANAGIOTIS KODRIKAS, Μελέτη της κοινής ελληνικής διαλέκτου [Studie zum gemeinsamen neugriechischen Dialekt]. Paris 1818 S. νβ΄ („εις γενικήν αναστάτωσιν των καθεστώτων“, „περί των κυριοτέρων εθίμων του Γένους μας“). Charakteristisch für die antiphanariotische Haltung von Korais ist der letzte Satz seiner Vita: KORAIS, Vorbemerkungen (wie Anm. 18) S. λβ΄ („Να κατακρίνη τις όλους τους ιερωμένους ανατολικούς, διά την τρυφήν ολίγων σαρδανάπαλων αρχιερέων, τρυφώντων εις το Βυζάντιον, είναι το αυτό και να παραβάλλη όλους τους κοσμικούς με τους Φαναριώτας του Βυζαντίου“ / „Alle orthodoxen Geistlichen zu verurteilen wegen der Verschwendungssucht einiger Erzbischöfe, die sich wie Sardanapal dem Luxus in Konstantinopel hingaben, heißt, alle Weltlichen mit den Phanarioten in Konstantinopel zu vergleichen“). 27 „Όθεν μεθ’ ειλικρινείας ομολογώ ότι δεν νοστιμεύομαι τελείως την Δημαγωγικήν Φιλοσοφίαν. Δεν γράφω μήτε διά Γεωργούς, μήτε διά Πακκάλιδες· γράφω απλώς διά Ευγενείς, και πεπαιδευμένους. Διό και προσέχω να εκφρασθώ, όσον το δυνατόν εξηκριβωμένως, εις την συνηθισμένην φράσιν των. Επιθυμώ οι Γεωργοί να καταγίνωνται εις την γεηπονίαν. Οι πακκάλιδες εις την οψοπωλίαν […]. Οι δε Ευγενείς, και κατά τάξιν, και κατ’ αγωγήν, να ενασχολούνται, ως εξ επαγγέλματος, εις την Σπουδήν, και
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Dieses stratifizierte Bild der neugriechischen Gesellschaft, polemisch gewendet gegen Korais und dessen Parteigänger, findet ein Korrelat in Kodrikas’ eigener Sprachtheorie. Abgesehen von den regionalen Idiomen des Neugriechischen seiner Zeit, unterscheidet Kodrikas zwischen vier Stil- oder Ausdrucksebenen der Sprache, der „langage universel de la nation grecque considerée dans son ensemble“, die zugleich Repertoires der kulturellen Mehrsprachigkeit bezeichnen: „1. Le haut style ecclésiastique, qui est, à très-peu de différence près, le grec ancien, tel qu’on l’écrivait à la derniére période du bas empire. 2. Le style politique qui est mêlé de plusieurs termes et expressions françaises, italiennes et turques. 3. Le style mercantile qui, pour tout ce qui a rapport au commerce et à la navigation, est composé de termes italiens. 4. Le style littéraire qui est composé de termes et expressions anciennes d’après la forme et la tournure du dialecte moderne.“28
Im Gegensatz zu anderen publizierten Texten von Kodrikas, wie etwa der Fontenelle-Übersetzung, die im vierten (dem literarischen) Stil geschrieben wurde und deren Prolegomena die getroffene Stilwahl theoretisch verteidigen, ist Kodrikas’ Tagebuch zum größten Teil und mit Ausnahme einiger Passagen, die einen literarischen Anspruch erheben, im zweiten (dem politischen) und im dritten (dem merkantilen) Stil geschrieben. Die Mehrsprachigkeit des Textes, die Kunst, je nach Kontext das soziolinguistisch gesehen treffende Repertoire, die passende Schreibkonvention, einzusetzen, könnte als roter Faden einer ersten detaillierten Lektüre von Kodrikas’ Tagebuch dienen, die der kontext-
Φιλολογίαν, συντελούντες με τα φώτα της μαθήσεως εις την Κοινήν του Γένους μας εύκλειαν και ευδαιμονίαν. Ζητώ κατά τούτο συγγνώμην από τους Δημαγωγούς. Γνωρίζω ότι αυτή η ανισοτιμία αντιβαίνει εις το σύστημα των Γυμνοσοφιστών. Καθ’ ένας όμως, εις αυτόν τον κόσμον, έχει τας προλήψεις του. Έχω κ’ εγώ τας εδικάς μου. Δοξάζω λοιπόν ότι τότε ευδαιμονεί εν Εθνικόν πολίτευμα, όταν, κατά τον θείον Πλάτωνα, οι Άρχοντες φιλοσοφούσιν, ή οι Φιλόσοφοι άρχουσι. Θεωρώ όμως ως τελείαν δυστυχίαν ενός Έθνους το να χυδαΐζουν οι Φιλόσοφοι, ή να φιλοσοφούν οι χυδαίοι“ (KODRIKAS, Studie [wie Anm. 26] S. οε΄-οστ΄). Vgl. auch die Position von DIMARAS, Büste (wie Anm. 23) S. 73: „Man würde hier gerne wissen, ob und inwieweit er seine ursprüngliche Linie verlassen hat, ob die Tendenz zum Konservativismus mit den Jahren eintrat oder eventuell äußerlichen Gründen geschuldet ist. Ein solches Bild des Menschen Kodrikas und seiner Zeit wäre jedoch vollkommen falsch: Kodrikas blieb von Anfang bis zum Ende seines Lebens, was er seit jungen Jahren mit all seinem Ehrgeiz werden wollte: ein guter Phanariot. Wenn sich etwas geändert hat, dann war es nur die Haltung der Phanarioten zu den neuen Ideen und zur Kirche“. 28 P. CODRICA ATHÉNIEN, Obsevations sur l’opinions de quelques héllenistes touchant le grec moderne. Paris 1803-1804 S. 14 f. („1. Der hohe kirchliche Stil, der, abgesehen von winzigen Unterschieden, mit dem Altgriechischen identisch ist, so wie man es schrieb in der letzten Periode des unteren Reichs. 2. Der politische Stil, der mit mehreren Wörtern und Wendungen des Französischen, Italienischen und Türkischen gemischt wird. 3. Der merkantile Stil, der alles betrifft, was sich auf Handel und Schifffahrt bezieht, und italienische Wörter beinhaltet. 4. Der literarische Stil, der Wörter und Wendungen des Altgriechischen beinhaltet nach der Form und Gestalt des modernen Dialekts.“).
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bezogenen Personkonstitution des Schreibenden nachginge – immer noch ein Forschungsdesiderat der Neogräzistik.29 Das Zeugnis eines Zeitgenossen aus den 90er-Jahren des 18. Jahrhunderts, des Barons von Knobelshof, preußischer Gesandter in Konstantinopel, könnte sich anschließend als unverzichtbar erweisen, um sich der kontextbezogenen Personkonstitution des Handelnden für den Fall des Kodrikas anzunähern. In einem Bericht vom 24.3.1797 zeichnete er folgendes Bild von Kodrikas: „Le sieur Contrica, dès le commencement des troubles en France, a affecté publiquement des sentiments favorables à la Révolution et a vécu dans l’intimité des républicains. Cependant on le soupçonnait secrètement attaché à la Mission de Russie. Je n’ai pu me convaincre jusqu’à quel point ce soupçon est fondé, mais ce qu’il y a de certain c’est qu’il est un des Grecs les plus fins et les plus déliés qui existent, auquel on ne saurait se fier. Son faible est la vanité. Il a des talents et est très flatté qu’on les lui reconaisse. En dernier lieu, il a été secrétaire du prince Souzzo, pendant que celui-ci était hospodar de Moldavie, et l’on prétend que le sieur Contrica avais pris un tel ascendant sur le prince que c’était lui proprement qui gouvernait la Moldavie.“30
Kodrikas wird als unzuverlässig beschrieben, als jemand, dem man kein Vertrauen schenken sollte. Die Kunst der Verstellung, die von Knobelshof in seinem Porträt unterstreicht, könnte zum Leitfaden einer zweiten detaillierten Lektüre von Kodrikas’ Tagebuch werden. Hiernach wäre die Personkonstitution als unaufhörliche Selbstinszenierung auf dem gefährlichen Terrain der hierarchischen Mehrfachzugehörigkeiten im Osmanischen Reich im ausgehenden 18. Jahrhundert zu beschreiben. An dieser Stelle muss man nur auf die häufigen Umstellungen der Machtpositionen innerhalb der osmanischen Verwaltung, auf die Konkurrenz der Westmächte und Russlands und nicht zuletzt auf die Kämpfe der phanariotischen Familien untereinander verweisen, von den sonstigen alltäglichen Gefahren des 18. Jahrhunderts ganz zu schweigen. Das Tagebuch lässt sich in diesem Sinne als ein auf den Kopf gestellter Bildungsroman lesen. Der Aufsteiger wird gerade dadurch zum guten Phanarioten, indem er dank der Modalitäten der Verstellung lernt, sich an der Schnittstelle zwischen Herr und Untertan einerseits und Orient und Okzident andererseits zu bewegen.31 Kodrikas kann in seinem Tagebuch offen beken29 Vgl. jedoch ALEXANDRA SPHINI, Langue et mentalités au Phanar (VXIIe-XVIIIe siècles). D’après les „Ephémérides“ de P. Codrica et d’autres texts du milieu phanariote. Doctorat de l’Université de Paris I, Paris 1991. 30 NICOLAS JORGA, Actes et Fragments relatifs à l’Histoire des Roumains 2. Bucarest 1896 S. 358 („Sieur Contrica zeigte öffentlich, vor Beginn der Unruhen in Frankreich, Sympathie mit der Revolution und war mit den Republikanern befreundet. Er wurde jedoch verdächtigt, heimlich mit der russischen Mission verbunden zu sein. Ich konnte mich nicht überzeugen, inwiefern dieser Verdacht begründet ist, vielmehr bin ich sicher, dass er einer der raffiniertesten und subtilsten Griechen ist, die es gibt, und dass man ihm kein Vertrauen schenken sollte. Seine Schwäche ist die Eitelkeit. Er hat Talente und zeigt sich sehr geschmeichelt, wenn sie anerkannt werden. Zuletzt war er Sekrerär des Fürsten Souzzo, während dieser Hospodar der Moldau gewesen ist, und es heißt, dass Herr Contrica eine solche Macht über den Prinzen gewonnen habe, dass er in Wahrheit derjenige gewesen sei, der die Moldau regierte.“). 31 Ein gutes Beispiel bietet im Tagebuch die Episode der Auswahl der Dragomane für die vier ständigen osmanischen Gesandtschaften in Berlin, London, Paris und Wien in 1796. Vgl. KODRIKAS, Journale (wie Anm. 15) S. 101 ff.
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nen: „Der Gott aller Einwohner Konstantinopels ist das finanzielle Interesse und alles Weitere ist nebensächlich. In solch einem Ausmaß hat die Knechtschaft die Glaubensgemeinschaft der Romäer verdorben.“32 Es ist hinsichtlich einer solchen kontextbezogenen Selbsteinschätzung von Personkonstitution einleuchtend, dass Kodrikas von seinem schon erwähnten Freund Kostas Stamatis (1764-1817) kritisch ermahnt wurde. Stamatis gehörte zum Netzwerk der Korrespondenten der Walachei in diversen westeuropäischen Zentren. Er wurde sesshaft in Paris, lebte zwischendurch jedoch auch in Hamburg und Altona und hielt zwischen 1788 und 1794 den Hof des Michail Soutsos in der Walachei und den damaligen Sekretär des Fürsten, Kodrikas, in Fragen der europäischen Krisen und Kriege nach der Französischen Revolution auf dem Laufenden. Aus seinem erhaltenen Briefwechsel mit Kodrikas im Jahre 1793 ergibt sich das Bild eines überzeugten Frankophilen und Befürworters der Revolution, der sich um eine Allianz zwischen Frankreich und der Pforte bemühte.33 Am 3.1.1793, dem ersten Jahr der Freiheit, wie Stamatis den Brief datierte, schrieb er: „Deine Briefe ähneln einander nicht. Manche sind freundlich, manche autoritär, oder zumindest so, wie Du an einen Korrespondenten schreiben würdest, den Du nie kennenlernen wolltest. Also sei bitte Dir selbst ähnlich und hör dich um, sooft Du magst, dass Du in der Welt keinen aufrichtigeren und treueren Freund hast.“34
Sich selbst ähnlich werden: Dabei handelt es sich um ein Personkonzept, das unter den Peroten unzeitgemäß gewesen wäre – man erinnere sich nur an Bulgarins satirische Schilderung. Im Gegensatz dazu scheint Stamatis der Auffassung gewesen zu sein, mit sich selbst identisch sein zu müssen; der Verweis auf die Tugenden der Freundschaft und der Aufrichtigkeit ist jedenfalls aufschlussreich. Als sich Kodrikas in seiner gelehrten Muße mit der Übersetzung von Fontenelle und Pope beschäftigte, schlug Stamatis gleichzeitig vor, Werke Voltaires oder Fénelons Télémaque ins Griechische zu übertragen; 32 Ebd. S. 96 („Θεός γαρ επικρατών πάντων των κατοίκων της Κωνσταντινουπόλεως το χρηματικόν συμφέρον, και τούτου προκειμένου όλα τα άλλα δεύτερα. Εις τοσούτον η σκλαβία εξηχρείωσε το των Ρωμαίων γένος“). 33 JULES LAIR/ÉMILE LEGRAND (Hg.), Documents inédits sur l’histoire de la Révolution Française. Correspondances de Paris, Vienne, Berlin, Varsovie, Constantinople. Paris 1872. Vgl. z.B: „οι Φραντζέζοι έχουν κατά καρδίαν να συμμαχήσουν μετά της Υψηλής Πόρτας, και να παιδεύσουν τους κοινούς μας εχθρούς· τα μέσα δεν τους λείπουν. Διά τούτο είναι ανάγκη οπού, χωρίς αργοπορίας, η Πόρτα να λάβη μίαν απόφασιν οπού να ανταποκρίνεται εις την μεγαλοκορδίαν και την φιλίαν των συμμάχων της“ / „die Franzosen wünschen, mit der Hohen Pforte eine Allianz zu bilden und unsere gemeinsamen Feinde zu bekämpfen, und hierzu fehlen ihnen die Mittel nicht. Daher ist es notwendig, dass die Pforte ohne Verzug eine Entscheidung trifft, um der Großherzigkeit und der Freundschaft ihrer Verbündeten gerecht zu werden“ (S. 36). 34 Ebd. S. 30 („Το ένα σου γράμμα δεν ομοιάζει με το άλλο. Ποτέ παίρνεις ύφος φιλικόν, ποτέ δεσποτικόν, ή το ολιγώτερον καθώς ήθελες εις ένα κορρεσπονδέντε, οπού δεν ήθελες γνωρίσει. Λοιπόν ομοίωσε, σε παρακαλώ, με τον εαυτόν σου, και πληροφορήσου δεκάκις, ει χρεία, πως επάνω εις την οικουμένην γην δεν έχεις φίλον αληθέστερον, ειλικρινέστερον“). Vgl. auch: „το ένα σου γράμμα δεν ομοιάζει με το άλλο (ici deux lignes de chiffres)· εις το δεύτερον σου γράμμα, και τα ακόλουθα, μήτε ακολουθάς αυτήν την ιδέαν, μήτε πάσχεις να με βάλης εις κατάστασιν να την δώσω κάποιαν μορφήν, χωρίς να στοχασθής ότι (chiffres)“ / „Deine Briefe ähneln einander nicht (ici deux lignes de chiffres). In Deinem zweiten Brief und in den weiteren folgst Du dieser Idee nicht, noch ermöglichst Du mir, ihr eine Form zu geben, ohne daran zu denken (chiffres)“ (ebd. S. 47).
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seiner Tochter gab er außerdem 1803 nach dem Titel von Chateaubriands Kultbuch, das er 1805 ins Griechische übersetzte, den Namen Atala. Stamatis’ Korrespondenz aus dem Jahr 1793 zeugt von einer konstanten und konsequenten politischen Haltung. „Welche Knechte des Perserkönigs, welcher Satrap lassen sich – trotz aller Nachteile der Athener Demokratie – mit dem letzten der Athener vergleichen?“35, lesen wir in einem Brief vom 13.1.1793. Aus dem jungen Konstantinopolitaner, der 1787 nach Paris zum Medizinstudium kam, ist ein secret agent der Revolution geworden, der 1798 mit dem sprechenden Pseudonym Φιλόπατρις Ελευθεριάδης (Patriot Freiheiter) ein Pamphlet zum Aufstand der Romäer drucken ließ und sich für Napoleon und gegen die türkisch-russische Allianz einsetzte.36 Der erste Brief von Stamatis an Kodrikas vom 25.11.1788 ist nur in der französischen Übersetzung des Herausgebers der Korrespondenz von 1793, Emile Legrand, erhalten. Stamatis erzählt voller Begeisterung von seinem Leben im gastfreudigen und philhellenischen Paris. In der neuen Umgebung ist aus dem Konstantinopolitaner ein Hellene aus Argos geworden, der dem gebürtigen Athener Kodrikas eine große Zukunft verheißt: „Les savants français ont pour la Grèce la plus grande vénération, et ils professent un tel culte pour notre incomparable langue, que, losqu’il m’arrive parfois de me trouver dans une société où l’on sait que je suis Hellène et d’Argos (c’est la patrie que je me donne, car on méprise les Constantinopolitains), tous me félicitent, m’interrogent, m’admirent comme une antiquaille, comme un vénérable souvenir des temps passés. Je suis sûr que si tu venais par hasard à Paris, toi qui es un vrai Athénien, avec la science et l’esprit naturel que tu possèdes, tu occuperais bien vite la première place, et tu reléguerais au dernier rang ton amis l’Argien.“37
Es ist zweifellos ein Ergebnis dieser frühen Lektion, dass Kodrikas seine gelehrten Veröffentlichungen in Paris wie seine schon erwähnten Observations sur l’opinions de quelques héllenistes touchant le grec moderne (An XII) als „P. Codrica Athénien“ unterschreiben wird.38
35 Ebd. S. 43 („και, με όλα τα ελλατώματα της δημοκρατίας των Αθηνών, ποίοι δούλοι του βασιλέως της Περσίας, ποίος Σατράπης ήτον σύγκριτος με τον έσχατον Αθηναίον;“). Vgl. auch S. 59 ff. 36 LEANDROS VRANOUSSIS, Άγνωστα πατριωτικά φυλλάδια και ανέκδοτα κείμενα της εποχής του Ρήγα και του Κοραή. Η φιλογαλλική και η αντιγαλλική προπαγάνδα [Unbekannte patriotische Pamphlete und unedierte Texte aus der Zeit von Rigas und Korais. Pro- und antifranzösische Propaganda], in: Epetiris tou Mesaionikou Arxeiou 15/16. 1965-1966 S. 125-330, hier 144-167. 37 LAIR/LEGRAND, Documents (wie Anm. 33) S. 9 f. („Die französischen Gelehrten haben für Griechenland die größte Achtung und verehren unsere unvergleichliche Sprache; sooft ich mich in Gesellschaft befand und gesagt wurde, dass ich Hellene aus Argos – es ist die Heimat, die ich mir gegeben habe, weil jeder die Konstantinopolitaner verachtet – sei, gratulierten mir alle, stellten Fragen, bewunderten mich wie eine Antiquität, als kostbare Erinnerung an die Vergangenheit. Wenn Du durch Zufall nach Paris kämest, der Du ein echter Athener bist, mit Deinem Wissen und Deiner natürlichen Begabung, so bin ich sicher, dass Du bald den ersten Platz besetzen und Deinen Freund aus Argos auf den letzten verweisen würdest.“). 38 Zum Begriff der Heimat bei Kodrikas vgl. ALEKSIS POLITIS, Πατρίς, Αλήθεια. Ένα αξίωμα του Π. Κοδρικά, και κάποιες παραλλαγές-του στον δέκατο ένατο αιώνα [Heimat, Wahrheit. Ein Axiom von P. Kodrikas, und einige seiner Varianten im 19. Jahrhundert], in: Ζητήματα ιστορίας των νεοελληνικών γραμμάτων. Αφιέρωμα στον Κ. Θ. Δημαρά [Beiträge zur Geschichte der neugriechischen Literatur. In memoriam K. Th. Dimaras]. Thessaloniki 1994 S. 265-271, hier 267 ff.
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Herr und Knecht, oder die Encyclopédie am Bosporus Selbstzeugnisse von den gesellschaftlichen Rändern und aus den unteren sozialen Schichten sind für die frühe Neuzeit aus der griechischen Kulturwelt kaum zu erwarten; umso mehr wünscht man sich, dem sozial Anderen einer plebejischen Randfigur lauschen zu dürfen, die uns im Tagebuch von Kodrikas begegnet. Von seinem Diener Nikolis oder Nikolakis schreibt Kodrikas in seinen Aufzeichnungen zweimal ganz nebenbei, zum ersten Mal 1791 in der Walachei. Der Knecht, dort ausdrücklich bezeichnet als vulgär, αχρείος, verärgerte seinen Herren so stark, dass er ihn sogar hart verprügelte; nach einer Woche notierte Kodrikas wieder über Nikolakis, dessen Alter wir nie erfahren, dass dieser seinerseits drohte, zum Islam zu konvertieren. Doch erst fünf Jahre später, 1796, war es soweit. Ausgerechnet an einem regnerischen und melancholischen Tag, wie es jedenfalls der schreibende Kodrikas empfand, an dem während eines Umzugs in Konstantinopel alle seine Bücher, unter anderem auch sein kostbares Exemplar der Encyclopédie, vom heftigen Regen nass wurden, erfuhr Kodrikas von dem neuen Diener, den er mittlerweile angestellt hatte, den „Seitenwechsel“ seines ehemaligen Untergebenen. Der inzwischen konvertierte vormalige Nikolakis war damals mit anderen Bewaffneten auf der Suche nach seinem alten Herrn, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Kodrikas wusste, wie er dem rachsüchtigen vormaligen Nikolakis entgehen konnte, auch wenn er sich für einen Moment „fürchtete, durch eine solche seelische Aufregung schlimmen Schaden zu nehmen“.39 Während der nächsten Woche wandte er sich tatsächlich an den Sohn des Großen Dragomanen mit der Bitte um eine „Korrektur des Sachverhaltes“. Doch in den folgenden Seiten des Tagebuches bleibt der vormalige Nikolakis ansonsten leider unerwähnt. Diese Umkehrung des Herr-Knecht-Verhältnisses ist jedoch aufschlussreich für die phanariotische Lebenswelt und für die Unvorhersehbarkeiten der Personkonstitution im Spannungsfeld der sie prägenden hierarchischen kulturellen Mehrsprachigkeiten. Die Personen als „kontextuelle Benutzer ihrer Repertoires“ pendeln zwischen Selbst- und Fremdpositionierung, erproben angesichts von Herausforderungen und Zwängen verschiedene Optionen einer aktiven Selbst-Verortung, indem sie die vorhandenen Repertoires neu arrangieren und hierarchisieren. Seien es nun der vormalige Nikolakis oder der Sohn des postelnikos Manos, der junge Kostakis, der „aus Liebe der heimatlichen Religion abgeschworen hatte und zum Katholiken geworden war“ und von dessen romaneskem Schicksal Kodrikas im April 1797 in Messina, auf der Reise nach Paris erfährt40, seien es Kostas Stamatis, der getarnte „negociante greco“, der 1796 vergeblich 39 Ebd. S. 108 („οπού εμβήκα εις το σπήτι, μοι λέγει ο δούλος μου ότι ο τουρκεύσας δούλος μου, πρώην Νικολάκης, περιέρχεται εις τα χωρία μετά χάρπατζη και ποσταντζίδων ζητώντας με. Με εσύγχυσεν άρα και τούτο, εις βαθμόν οπού εφοβήθην να μη με επέλθη κανένα μεγάλο αποτέλεσμα της τόσης ψυχικής ταραχής“ / „Als ich nach Hause kam, sagte mir mein Diener, dass mein zum Islam konvertierter Diener, der vormalige Nikolakis, mit einem Lanzenträger und einer Leibwache auf der Suche nach mir durch die Gegend streift. Der Schrecken fuhr mir dermaßen in die Glieder, dass ich fürchtete, durch eine solche seelische Aufregung schlimmen Schaden zu nehmen“). 40 Ebd. S. 156 („Εις το λαζαρέτο ήλθε και ο υιός του ποστέλνικου Μάνου, ο νέος Κωστάκης, ος τις εξ έρωτος απαρνηθείς το ρητόν της πατρώας θρησκείας, έγινε κατόλικος και από τόπον εις τόπον περιερχόμενος ετρέφετο εις εν μοναστήριον κατολίκων εν Μισσίνα, όντινα ισχυρώς επιπλήξας παρεκίνησα να επιστρέψη εις την πατρίδα του“ / „Ins Lazarett kam auch der Sohn des postelnikos
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versuchte, Consul général des Directoire in den Donaufürstentümern zu werden, oder auch Panagiotis Kodrikas, „einer der raffiniertesten und subtilsten Griechen, die es gibt“ dem man aber „kein Vertrauen schenken sollte“41, oder Adamantios Korais: Die kulturelle Mehrsprachigkeit dieser Personen an der Schnittstelle zwischen Okzident und Orient, ancien régime und Revolution könnte vieles zur Veranschaulichung der Vielschichtigkeiten in der eigentümlichen Verzeitlichung und Verräumlichung der Region hin zu einem Europa der Moderne beitragen. Die beim Umzug über den Bosporus vom Regen nass gewordene Encyclopédie stellt ein passendes Emblem der kontextuellen Verortung der Person im Jahrzehnt nach der Französischen Revolution dar.
Manos, der junge Kostakis, der aus Liebe der heimatlichen Religion abgeschworen hatte und zum Katholiken geworden war, von Ort zu Ort zog und in einem katholischen Kloster in Messina Unterkunft gefunden hatte. Ich schalt ihn gehörig und brachte ihn dazu, in seine Heimat zurückzukehren“). Im Gegensatz zum vormaligen Nikolakis liefert uns das Tagebuch die Option einer künftigen Wiederherstellung der Ordnung. Als am nächsten Tag Kostakis mit der Bitte zurückkehrte, mit nach Frankreich fahren zu dürfen, stimmte Seyid Ali Efendi zwar nicht zu, versprach jedoch – so das Tagebuch – ein Empfehlungsschreiben, damit er nach Istanbul zurückkehren konnte. 41 Vgl. Anm. 30.
RICHARD WITTMANN
Französische Hemden, österreichische Dampfschiffe und deutsche Lokomotiven Fremde Dinge in der Selbstverortung des islamischen Mystikers Aşçı Dede İbrahim
Das Menschliche läßt sich ja nicht erfassen und retten, wenn man ihm nicht jene andere Hälfte seiner selbst zurückgibt: den Anteil der Dinge. Bruno Latour1
In der Beschäftigung mit Dingen in unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen Disziplinen, wie der historischen Alltagsgeschichte seit Beginn der Annales-Schule, der Befassung mit Material Culture in der Ethnologie oder in den Arbeiten des französischen Wissenschaftshistorikers Bruno Latour, setzte sich in den vergangenen Jahren die Ansicht durch, dass Dinge nicht nur als Studienobjekt geeignet sind, will man über den Gegenstand selbst in Bezug auf seine körperliche Beschaffenheit etwas erfahren. Vielmehr lassen Dinge darüber hinaus erkenntnisreiche Rückschlüsse auf die Personen zu, die mit ihnen umgehen, sei es etwa als deren Erfınder, Hersteller oder Nutzer. Hierdurch eröffnet sich ein Zugang zur Person, der über die Selbstbeschreibung im Text im Einzelfall hinausgehen kann und ansonsten unzugängliche Erkenntnisse erschließt. Das 19. Jahrhundert wird häufig als der Zeitabschnitt angesehen, in dem der überwiegend muslimische Nahe Osten den Anschluss an eine westlich definierte Moderne erstrebte und zumindest teilweise auch fand. Am Sichtbarsten manifestierte sich diese Entwicklung im Vordringen westlicher Gegenstände in Form technischer Erzeugnisse und Konsumgüter. In seinem Monumentalwerk Die Verwandlung der Welt 2 beschreibt Jürgen Osterhammel ein Kaleidoskop an Faktoren, die die Lebenswelten der Menschen im 19. Jahrhundert beeinflussten und tiefgreifend neu gestalteten. So unbestritten die Auswirkungen der hierbei von Osterhammel geschilderten Dynamiken und westlichen Errungenschaften auch im Nahen Osten ihre Spuren hinterlassen haben, so ist doch festzustellen, dass hierdurch in keiner Weise der Deutungsfreiraum der dort lebenden Menschen beschnitten oder bereits inhaltlich ausgefüllt wurde. Selbstzeugnisse, wie sie etwa auch im Geschichtswerk von C. A. Bayly, The Birth of the Modern World, 1780-19143, 1 2 3
BRUNO LATOUR, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a. M. 2008 S. 181 (Titel der französischen Originalausgabe: Nous n’avons jamais été modernes. Essai d’anthropologie symétrique. Paris 1991). JÜRGEN OSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009. C. A. BAYLY, The Birth of the Modern World, 1780-1914: Global Connections and Comparisons. Malden, MA 2004.
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Berücksichtigung finden, bieten hierfür einen unverzichtbaren Zugang zur individuellen Wahrnehmung und Deutung der technischen Modernisierung im 19. Jahrhundert. Ausgehend von neueren Herangehensweisen an Dinge in den Kulturwissenschaften, wird im Folgenden untersucht, wie ein Anhänger mystischer Interpretationen des Islams im Osmanischen Reich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich durch seine Beschreibung des Umgangs mit fremden, aus Europa stammenden Dingen, in seinen Memoiren selbst verortet.
Fremde Dinge im Selbstzeugnis des Aşçı Dede İbrahim „Über viele Jahrhunderte waren die verschiedenen Erdregionen durch gewaltige Reisen voneinander getrennt. In der Antike hatten die Menschen Furcht davor, über die offene See zu reisen, daher reisten sie stets in Küstennähe, und die Reisen dauerten dadurch sehr lange. Dann erfand man die Navigationstechnik, wodurch es möglich wurde, über das offene Meer zu fahren. Das Reisen verkürzte sich dadurch wesentlich und war weniger risikobehaftet. Das Dampfschiff wurde erfunden und seither reist man in kurzer Zeit um die ganze Welt. Für das Festland wurde die Eisenbahn erfunden. Mit ihrer Hilfe durchkreuzt man Kontinente binnen weniger Tage. Man erfand den Telegraphen und durch ihn kommt man schließlich in wenigen Stunden [sic] um die Welt. Nicht anders verhält es sich auf spiritueller Ebene. Auf ihr kommen die verschiedenen Religionen einander näher, wie man bereits sehen kann. Und doch dürfen wir bei unserer Religion keine Abstriche machen, denn so ist es uns aufgetragen, wenn es heißt: ‚Zu meinem Worte sollst Du weder etwas hinzufügen, noch etwas davon weglassen.‘ Daher muss sich die Annäherung der Religionen dadurch vollziehen, dass die Andersgläubigen sich immer stärker der Heiligkeit unseres Gesetzes bewusst werden.“
An anderer Stelle im Text heißt es: „Das Gesetz und die Gebote sind der Telegraph im spirituellen Sinne, wodurch man erkennen kann, wie mächtig die Religion ist. Es ist der spirituelle Telegraph, der in der Schrift genannt wird, wenn die Rede ist von Jakob auf seinem Weg nach Haran und er am heiligen Orte einschläft und in seinem Traum eine Leiter sieht, die von der Erde bis in den Himmel reicht. Dies ist der Telegraph im spirituellen Sinne.“
Dieser Text stammt nicht von Aşçı Dede İbrahim4, sondern von einem zeitgenössischen osmanischen Autor jüdischen Glaubens. Der Rabbiner Yehuda Papo, der diese Passage 4
Die Memoiren Aşçı Dede İbrahims sind mit insgesamt mehr als 2.000 Textseiten das umfangreichste bislang bekannte Selbstzeugnis aus dem Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts. Abgefasst während der aktiven Berufsjahre des hohen Zivilbeamten der Osmanischen Armee und Angehörigen mehrerer mystischer Orden, beschreibt das in vier Handschriften-Bänden erhaltene Werk das Leben des Autors von seiner Geburt im Jahre 1828 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1906. Sämtliche Autographen der Memoiren befinden sich in der Bibliothek der İstanbul Üniversitesi (Risale-i Tercüme-i Ahval-i Aşçı Dede İbrahim, Autograph: Katalog-Nr. TY 3222; Abschrift und Fortsetzung der Memoiren: Katalog-Nr. TY 78-80). Auszüge aus den Memoiren wurden erstmals 1960 in modernem Türkisch von Reşad Ekrem Koçu veröffentlicht (REŞAD EKREM KOÇU, Geçen asrı aydınlatan kıymetli vesikalardan bir eser: Hatıralar. Aşcıdede Halil İbrahim. Istanbul 1960). Weitere Teile des Werks wurden 1997 von Necip Fazıl Duru in der türkischsprachigen Literaturzeitung Hece abgedruckt (NECIP FAZIL DURU, Aşçı İbrahim Dede, in: Hece 9. 1997 S. 32-36; 10.
Französische Hemden, österreichische Dampfschiffe und deutsche Lokomotiven
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als Teil einer theologischen Abhandlung zwischen 1870-1872 in Judeo-Spanisch abfasste, versuchte hierbei eine Deutung neuer Phänomene des technischen Fortschritts im Osmanischen Reich im Rahmen der rabbinischen Kommentarliteratur.5 Versuche, den ins Land kommenden technischen Neuerungen innerhalb vertrauter Kategorien der eigenen Religion eine Bedeutung zuzuschreiben, waren im Osmanischen Reich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit verbreitet. Eine weniger positive Sinnzuschreibung für die gleichen Phänomene, diesmal aus salafitisch-islamischer Sicht, findet sich in einem Büchlein eines anonymen osmanischen Autors aus den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, das der niederländische Islamwissenschaftler Rudolf Peters 1986 veröffentlichte.6 Angelehnt an die Form eines islamischen Rechtsgutachtens (fatwa) gibt der Autor darin auf den insgesamt 56 Textseiten seinen Rat, wie man sich gegenüber einigen westlichen Erfindungen verhalten sollte, die neu ins Osmanische Reich gelangt sind. Im Vorwort der Abhandlung heißt es, einige Glaubensbrüder hätten ihn um Rat gefragt, wie es sich verhalte mit Dampfschiffen, Dampfmaschinen zu Lande und zur See generell, der dampfbetriebenen Fabrik und dem Telegraphen, der bei den „Ungläubigen“ in der christlichen Welt erstmals im Jahre 1240 [1824-1825] auftauchte. Er habe aber nicht gleich auf diese Fragen geantwortet, tue dies aber heute, nachdem er lange über diese Fragen nachgedacht habe.7 Im eigentlichen Textteil folgert der Autor aus der Tatsache, dass diese Errungenschaften zuerst außerhalb der islamischen Welt aufgekommen sind, kategorisch, dass diese Erfindungen Muslimen verboten seien, denn, so schreibt er: „Betrachtete man die kuriosen und seltsamen Dinge, die die Ungläubigen hervorgebracht und verbreitet haben mit Wohlwollen, dann fühlt man sich zu ihnen hingezogen und möchte ihnen nahe sein. Aber es ist wohlbekannt, dass wer sich mit einer Sache oder Person beschäftigt, sich zu ihr zwangsläufig hingezogen fühlt. Daher verbot Gott seinen gläubigen Dienern, mit Übel-
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1997 56-60; 13. 1998 42-45). 2006 erschien die erste Druckausgabe des Gesamtwerkes in lateinischer Umschrift des osmanisch-türkischen Originals (MUSTAFA KOÇ/EYYÜP TANRIVERDI (Hg.), Aşçı Dede’nin Hatıraları. 4 Bde. Istanbul 2006). Der Gesamttext wurde bisher nicht in andere Sprachen übersetzt. Jedoch enthält die 1959 erschienene Dissertation von Marie Bremer eine äußerst ausführliche deutsche Inhaltszusammenfassung (MARIE BREMER, Die Memoiren des türkischen Derwischs Aşçi Dede İbrāhīm. Walldorf 1959). Ansonsten erschöpft sich die Sekundärliteratur in insgesamt drei Veröffentlichungen von Carter Vaughn Findley, in denen er sich (zumindest teilweise) auch mit den Memoiren Aşçı Dedes befasste (CARTER VAUGHN FINDLEY, Ottoman Civil Officialdom: A Social History. Princeton, N.J. 1989; DERS., A Muslim pilgrim’s progress: Aşçı İbrahim Halil and the hajj 1898, in: The Islamic World from Classical to Modern Times: Essays in Honor of Bernard Lewis. Hg. C. E. BOSWORTH/CHARLES ISSAWI/ROGER SAVORY/A. L. UDOVITCH. Princeton, N.J. 1989 S. 479-512; DERS., Social dimensions of Dervish Life as Seen in the Memoirs of Aşçı Dede Ibrahim, in: The Dervish Lodge: Architecture, Art, and Sufism in Ottoman Turkey. Hg. RAYMOND LICHFEZ. Berkeley 1992 S. 175-186. Die beiden Veröffentlichungen enthalten jeweils englische Übersetzungen von Memoirenauszügen). JUDAH PAPO, Pele Yo‘ets. Zitiert in: MATTHIAS B. LEHMANN, Ladino Rabbinic Literature and Ottoman Sephardic Culture. Bloomington 2005 S. 198 (Deutsche Übersetzung von Richard Wittmann). RUDOLPH PETERS, Religious Attitudes towards Modernization in the Ottoman Empire. A Nineteenth Century Pious Text on Steamships, Factories and the Telegraph, in: Die Welt des Islams 26. 1986 S. 76-105. Ebd. S. 87.
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tätern und Ungläubigen zu verkehren mit den Worten: ‚sitze nicht zusammen mit den Übeltätern, nachdem du gewarnt wurdest‘ [Koran 6:68].“8
Es sei bereits in der osmanischen Hauptstadt Istanbul zu beobachten, wie sich die Muslime aus Ignoranz neuerdings immer häufiger mit Nichtmuslimen einließen und vom rechten Glauben abkämen. Der Autor sieht dabei die technischen Neuerungen als Hauptgrund für die Irreleitung der Muslime, da sie auf die Menschen eine so unwiderstehliche Anziehungskraft ausübten, dass sie darüber den Glauben verlören, denn „die Liebe zu Dingen in unserer gegenwärtigen Welt ist der Beginn jeder Sünde und muss im Unglauben enden”. Mit den beiden zitierten Autoren verbindet Aşçı Dede İbrahim, der von ca. 1828 bis 1910 in verschiedenen Provinzen des Osmanischen Reiches lebte, der Umstand, dass sich in seinen Memoiren ebenfalls eine große Anzahl an Beispielen findet, aus denen hervorgeht, dass auch für ihn weltlichen Phänomenen eine religiöse Bedeutung zukommen kann. Naturkatastrophen wie etwa das Istanbuler Erdbeben von 1894 setzt er in Bezug zum mangelnden Glauben der Bevölkerung.9 Als ihn ein Vorgesetzter ungerecht behandelt und in der Nacht darauf der Fußboden unter dem Schreibtisch des Chefs einbricht, sieht er darin Gottes Hand im Spiel, die für ausgleichende Gerechtigkeit sorge. Insofern stellen die umfangreichen Memoiren des Aşçı Dede İbrahim das wohl prominenteste Beispiel dar, an dem für das Osmanische Reich des 19. Jahrhunderts das studiert werden kann, was der Ethnologe Michael Gilsenan einmal die aussterbende „Weltsicht des verwunschenen magischen Gartens” nannte.10 Was Aşçı Dede İbrahim jedoch von den vorgenannten Autoren unterscheidet, ist der Umstand, dass er sich einerseits zwar als Sufi in gleich mehreren Derwischorden als gläubiger Muslim in der mystischen Ausformung des Islams und damit gleichermaßen als ein Vertreter einer Religionsgemeinschaft versteht, für die er Autorität in gleichem Maße in Anspruch nimmt, wie das bei Rabbi Papo und dem anonymen Autor des technikfeindlichen muslimischen Pamphlets der Fall ist; andererseits ist er zugleich Verwaltungsbeamter der nach westlichem Vorbild in Reform begriffenen osmanischen Armee und damit auch ein Vertreter des westlich modernen und zunehmend säkular ausgerichteten osmanischen Staates. Moderne Kasernen, Uniformen im europäischen Stil und westliche Ausrüstung und Militärtechnik veranschaulichten bereits rein äußerlich die Orientierung an einer Moderne westlichen Zuschnitts. Die osmanische Armee kam mitunter zeitgleich mit dem Westen in Kontakt mit modernsten technischen Erfindungen der Epoche wie etwa der Telegraphiertechnik, die ihren ersten Einsatz im Krim-Krieg (1853-1856) fand. 11 Der 8 9
Ebd. S. 101 f. (Übersetzung Richard Wittmann). Memoiren, Bd. 2, S. 335 f. Diese und sämtliche nachfolgende Übersetzungen aus den Memoiren wurden von diesem Verfasser erstellt auf der Grundlage der gedruckten Textausgabe von KOÇ/ TANRIVERDI (Hg.), Aşçı Dede’nin Hatıraları (wie Anm. 4). 10 MICHAEL GILSENAN, Saint and Sufi in Modern Egypt: An Essay in the Sociology of Religion. Oxford 1973 S. 12 (Übersetzung von Richard Wittmann). 11 STANFORD J. SHAW/EZEL KURAL SHAW, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey. Bd. 2. Cambridge 1977 S. 120.
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Stolz, den viele Marine- und Armeesoldaten angesichts ihres westlich-modernen Erscheinungsbildes empfunden haben dürften, lässt sich meines Erachtens deutlich aus den Photographien in osmanischen Zeitschriften der Epoche ablesen, in denen sich die Soldaten vor ihren modernen Transportmitteln und Geschützen ablichten ließen.12
Osmanische Offiziere und Bahnangestellte am Bahnhof der 130 km westlich von Istanbul an der Strecke des Orient-Expresses gelegenen Kleinstadt Muratlı (Servet-i fünūn, 20 Mart 1313 [1.4.1897], No. 316, Titelseite)
12 Die folgenden Photographien sind der seinerzeit äußerst populären Zeitschrift Servet-i Fünūn [Errungenschaften der Technik] entnommen, die von 1891 bis 1944 in Istanbul gedruckt wurde. Zunächst begründet als Organ der naturwissenschaftlichen Fächer, entwickelte sich Servet-i Fünūn ab der Jahrhundertwende zu einer der führenden Literaturzeitschriften im Osmanischen Reich, siehe ALI İHSAN KOLCU, Servet-i Fünûn Edebiyatı. Ankara 2005 S. 17. An dieser Stelle sei Frau İpek Hüner ganz herzlich gedankt für ihre Unterstützung bei meiner Recherche osmanischer Zeitschriften.
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Osmanische Marine (Servet-i fünūn, 27 Šubat 1312 [11.3.1897], No. 313, S. 12 f.)
Auch die Organisationsstruktur des Militärs wurde modernisiert: 1843 wurde das Heer in zunächst fünf, später sechs Armeen (ordu) eingeteilt, die einem Marschall (müşir) als Kommandeur unterstanden. Dem Kommandeur war ein Rat (meclis) beigestellt, der für die Verwaltung zuständig war. Aşçı Dede war vierzig Jahre lang, nahezu sein gesamtes aktives Berufsleben, Beamter in einem solchen Rat bei verschiedenen der sechs osmanischen Armeen. Sein Tagebuch umfasst einen Zeitraum von etwa sechzig Jahren von der Mitte des 19. bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, der als wichtigste Periode der Übernahme westlicher Technologie im Osmanischen Reich und der Annäherung an Europa gilt. Im Folgenden soll anhand von Beispielen des Umgangs Aşçı Dede İbrahims mit fremden Dingen, wie aus Europa stammenden technischen Errungenschaften, Kleidungsstücken und Speisen, untersucht werden, wie der Autor sich im Konfliktfeld zweier sehr unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeiten jeweils positioniert und sich dadurch als Person selbst verortet. Aşçı Dede İbrahim wird während seiner aktiven Zeit in der Militärverwaltung mehrmals von einer osmanischen Provinz in eine andere versetzt. Als reine Selbstverständlichkeit schildert er dabei die Vorzüge der Nutzung der Eisenbahn, deren erste Strecke im Os-
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manischen Reich bereits 1860 in Betrieb genommen worden war.13 Eine große Erleichterung bedeutet hierbei die Eisenbahn sowohl bei der von ihm zu gewährleistenden Versorgung der Truppe mit Nachschub als auch bei dienstlichen und privaten Reisen. Keine Spur findet sich in den Memoiren von Geringschätzung oder gar Ablehnung dieses modernen Massenverkehrsmittels als „Korruption des rechten Glaubens“, wie das bei dem anonymen Autor des zitierten Pamphlets der Fall ist. Ganz im Gegenteil, als 1904 das erste große Teilstück der Hedschas-Eisenbahnlinie14 eingeweiht wird, verfasst Aşçı Dede ein Lobgedicht, das er dem Sultan widmet: „Hedschasbahn-Gedicht Seit Adams Zeiten hat die Welt so etwas nicht gesehen Mensch und Engel sind Tag und Nacht verzaubert von deiner [der Eisenbahn] Erhabenheit. Nicht nur der Hedschas wird unter dem Segen des Königs der Könige Durch die Bahn kultiviert und erfreut, sondern auch alle Engel. Oh ‘Omar, Herrscher über den Aberglauben, Kalif der Welt, Du hast den Hedschas befreit von den aufständischen Stämmen. Da die Entschiedenheit und Tatkraft des Volkes herrliche Veranlagungen sind, Verneigen sich Engel und Menschen stets vor dir. Auf Wunsch Gottes und des Padischahs haben die Heiligen befohlen: Ibrahim, verneige Dein Gesicht zur duftenden Erde. Dem Erhabenen möge es wohlgefallen! Für die Kinder unserer Ahnen habe ich diese fünf Strophen fertiggestellt. Gott, lasse sie unserem Sultan ewig die Ehre erweisen.“15
13 Damals wurden die Strecke Tschernavoda – Constanza und Abschnitte der Bahnlinie von Izmir nach Aydın eröffnet, siehe CHARLES ISSAWI, The Economic History of Turkey, 1800-1914. Chicago 1980 S. 148, 183. 14 Die neben der bekannteren Bagdadbahn bedeutendste Bahnlinie im außereuropäischen Teil des Osmanischen Reiches wurde in den Jahren 1900 bis 1908 errichtet. Auf ihrer Stammstrecke verkehrte die Bahn zwischen den Städten Damaskus und Medina und diente neben strategischen Erwägungen vorrangig dem Ziel, muslimischen Pilgern die Reise zu den heiligen Stätten im Hedschas, einer Landschaft im westlichen Teil des heutigen Saudi-Arabiens, zu erleichtern. Zur Bedeutung der Hedschasbahn im Rahmen der Bemühungen Sultan Abdülhamids II., seine Herrschaft durch eine pan-islamische Ideologie zu legitimieren, siehe JAMES NICHOLSON, The Hejaz Railway. London 2005 S. 11 f. Osterhammel betont demgegenüber die imperiale Bedeutung des Baus der Hedschasbahn als ein letztes Aufbäumen des Osmanischen Staates gegenüber den Ambitionen westlicher Staaten in der Region, da die Eisenbahn als ein entscheidendes „Vehikel nationaler Integration” die arabischen Provinzen an das Osmanische Reich binden sollte, siehe OSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt (wie Anm. 2) S. 1021 f. 15 Memoiren, Bd. 3, S. 392 f.
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Ankunft des ersten Zuges in Medina, dem Endbahnhof der Hedschasbahn am 30. August 1908 (Servet-i fünūn, 13 Tišrīn-i Evvel 1324 [26.10.1908], No. 908, S. 373)
Das Gedicht bringt seinem Verfasser große Anerkennung von Seiten staatlicher Stellen ein. Er wird sogar mit einem Orden des Sultans ausgezeichnet für seine Verdienste um die Hedschasbahn. 16 Die Verleihung von staatlichen Ehrenabzeichen war zu diesem Zeitpunkt selbst noch eine Neuerung, die als Teil der Militärreform nach westlichem Vorbild erst wenige Jahrzehnte alt war.17 Voll Stolz wird im Tagebuch die Ordensverleihung in all ihren Einzelheiten geschildert. Ebenso selbstverständlich ist für Aşçı Dede İbrahim die Fahrt mit den vorwiegend von österreichischen und französischen Reedereien betriebenen Dampfschiffen. Die Schiffspassage von Beirut nach Istanbul, die im Tagebuch neben anderen Fahrten mit dem Dampfschiff geschildert ist, ist frei von jeglicher Skepsis angesichts des modernen Verkehrsmittels: „Als ich in den frühen Morgenstunden des darauffolgenden Tages, es war ein Montag, bemerkte, dass ein österreichisches Postschiff in Beirut vor Anker gegangen ist, bin ich schnurstracks zum Telegraphenamt geeilt, telegraphierte an Herrn Ismail Efendi die Worte ‚Heute ist die Abreise‘ und ging zur Agentur, um eine Fahrkarte zu kaufen und so früh auf das Schiff zu kommen und einen guten Platz zu ergattern. Der Angestellte dort erklärte mir, ‚das Schiff ist bis auf den letzten Platz mit Jerusalem-Pilgern aus Jaffa belegt. Ich kann Ihnen keinen Fahrschein ausstellen.‘ Irritiert wandte ich mich an unseren Major Mehmet, der in der Abteilung für Truppenverlegung Dienst tat. Er erwiderte: ‚Das ist ordentlich daneben gegangen. Ich hätte nie gedacht, dass das Schiff voll sein könnte. Ist es nicht möglich, die Fahrt um eine Woche aufzuschieben?‘ Ich sagte: ‚Das ist vollkommen unmöglich. Es ist schon telegraphiert worden und ich bin fest entschlossen, auf diesem Schiff mitzufahren.‘ So erließ der erwähnte Herr den Befehl: ‚Ich habe hier einen Mann, den ich Ihnen anvertraue, gehen Sie mit ihm zum Schiff und sehen Sie zu, dass er die Kajüte eines Stewards bekommt.‘ Ich sagte: ‚Das ist großartig!‘ So 16 Ebd. S. 523 f. 17 DONALD QUARTAERT, Clothing Laws, State, and Society in the Ottoman Empire, 1720-1829, in: International Journal of Middle Eastern Studies 29/3. 1997 S. 403-425, hier 413.
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ging ich mit dem angesprochenen Mann aufs Schiff und bekam eine Mannschaftskajüte für fünf osmanische Lira zugeteilt. Drei weitere Lira fielen als Oberdeckgebühr für den Kaffeeverkäufer an, eine Lira Gepäckgebühr und eine Lira ‚Bootsgebühr‘ als Trinkgeld für den Mann, der mich aufs Schiff brachte. Insgesamt machte das zehn Lira. Dank der großzügigen Hilfe der Leute, die mir dieses Geld aus der Intendantur des Paschas gaben und mit Gottes Segen hatte ich eine angenehme Überfahrt. Ohne schlechtes Wetter oder garstigen Wind zu erleben, sondern gerade so, als wären wir auf dem Bach von Kağıthane [in Istanbul] unterwegs gewesen, liefen wir am zehnten Tage des Monats Nisan [28. April 1895], einem Sonntag gegen elf Uhr über Yalıköşkü in die Stadt Istanbul ein und gingen dort vor Anker.“18
Dampfbetriebenes Passagierschiff in Istanbul (Servet-i fünūn, 21 Mayis 1311 [2.6.1895], No. 211, Titelseite)
18 Memoiren, Bd. 2, S. 361 f.
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Auch die moderne Kommunikationsweise des Telegraphierens, die seit 1854 im Osmanischen Reich praktiziert wird19, nutzt Aşçı Dede İbrahim mit absoluter Selbstverständlichkeit. Nicht nur informiert er telegraphisch – wie wir gesehen haben – Freunde über den Antritt einer Reise; per Telegramm erfährt er vom Tod naher Angehöriger und durch dieses Medium gratuliert er sowohl seinen militärischen Vorgesetzten zur erfolgten Beförderung als auch dem Scheich eines befreundeten Derwischordens zu seiner Ernennung als Nachfolger seines verstorbenen Vorgängers. Das Telegramm ist für Aşçı Dede İbrahim weder negativ belegt wie im Büchlein seines fundamentalistisch-muslimischen Zeitgenossen, noch kann er darin wie Yehuda Papo irgendwelche positiven Anzeichen einer Annäherung der monotheistischen Weltreligionen erkennen. Die aufkommende Porträtphotographie fasziniert den gläubigen Derwisch ebenfalls. 20 Belustigt kommentiert er das sehr unterschiedliche Verhalten seiner Mitmenschen, die noch unerfahren im Umgang mit der neuen Technik sind. In den Memoiren beschreibt er ein Gruppenphoto mit den Kollegen seiner Dienststelle anlässlich der Einweihung einer staatlichen Bäckerei: „Nun mein Lieber, nach der offiziellen Begrüßung der hochrangigen Würdenträger fuhren wir als beauftragtes Komitee mit den Pferdewagen in unseren Festgewändern zur Eröffnungszeremonie für die staatliche Bäckerei. Das soeben erst fertiggestellte Gebäude befindet sich hinter der Kaserne. Ich inspizierte das Innere der Bäckerei. Der Ofen befand sich unterhalb einer großen Halle, in der Stühle und lange, gedeckte Tische aufgestellt waren. Darüber hatten Bedienstete den Ofen angeheizt und waren damit beschäftigt, auf der einen Seite des Ofens Käsefladen (peynirli pide) zu backen. Ich ging wieder hinaus und sah, wie sämtliche Offizielle und Würdenträger auf zwei Seiten Platz bezogen für ein Gruppenphoto. Ich stellte mich in die zweite Reihe neben meinen Bekannten Hasib Efendi. Ich ließ meinen Blick über die Menschenansammlung schweifen. So bemerkte ich, wie manche wegen der Hitze der Sonne ihr Gesicht verzogen, die Köpfe neigten, während andere lässig herumstanden und jedermann seinem Wesen entsprechend in einer bestimmten Miene oder mit verschrecktem Blick ausharrte. Ich selbst, das sollte sich später auf dem Photo herausstellen, stand Schulter an Schulter mit Hasib Efendi in der zweiten Reihe in mich selbst gekehrt und [mit einem Blick], als könnte ich niemandem etwas Böses anhaben, da ich gerade vor Gott persönlich stünde und jeden Augenblick seinen göttlichen Urteilsspruch über mich erwarten würde. Aber besonders unser Wagengefährte Mustafa Bey stand so verrenkt und eigenartig da, dass er eine wirklich komische Figur abgab. Anschließend kehrten wir in die Bäckerei zurück, setzten uns an die gedeckten Tische, aßen die köstlichen Käsefladen und tranken wunderbare gekühlte Limonade, ehe wir wieder zurückfuhren.“21
Die Leichtigkeit und Gewitztheit, mit der er seine Beobachtungen beim Gruppenphoto schildert, zeugen von einer verblüffenden Unbekümmertheit für einen gläubigen Muslim seiner Zeit angesichts der damals weithin vorherrschenden Ablehnung der Photographie 19 PETERS, Religious Attitudes (wie Anm. 6) S. 82. 20 Waren die ersten Photographen im Osmanischen Reich seit der Erfindung der Daguerreotypie als Urform der Photographie noch europäische und amerikanische Reisende im Jahre 1839, so ist bereits 1842 ein erster in Istanbul ortsansässiger Photograph, „Monsieur Kompa”, bekannt, der auf seine Dienste in einer Tageszeitung aufmerksam machte, siehe NIMET ŞEKER, Die Fotografie im Osmanischen Reich. Würzburg 2010 S. 43 f. 21 Memoiren, Bd. 3, S. 142 f.
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aufgrund des Bilderverbots im Islam. Noch 1920 erließ Scheichülislam Mustafa Sabri Efendi als höchste religionsrechtliche Autorität der sunnitischen Muslime im Osmanischen Reich ein Rechtsgutachten (fatwa), in dem (photographische) Abbildungen von Menschen eindeutig als eine für einen Muslim verbotene Handlung beurteilt werden.22 Zwar ist das Verhältnis von Vorschriften des orthodoxen Islams und der Glaubenspraxis der Sufis alles andere als eindeutig bzw. konsistent; ein für jedermann sichtbarer Verstoß gegen religiöse Tabus des orthodoxen Islams wie das Bilderverbot durch die Teilnahme am Gruppenphoto erscheinen mir jedoch deutlich die Individualität Aşçı Dede İbrahims zum Ausdruck zu bringen, sei es durch bloße Gedankenlosigkeit oder bewusste Missachtung einer orthodoxe Muslime bindenden Konvention. Immer noch vergnügt angesichts des so unterschiedlichen Verhaltens der Menschen beim Phototermin fährt er in den Memoiren mit seiner humorvollen Schilderung des industriellen Backofens fort: „Oh, großer und guter Gott, das sah wirklich wie die Hölle aus! Es schien geradezu, dass hinter unseren Rücken die Öfen aufgrund unserer Sünden wie die Hölle [selbst] brannten. Anschließend würden sie uns dann direkt in die Hölle werfen. Aber weil wir gläubige und gottesfürchtige Menschen waren, waren wir nur an der Oberkante der Hölle, wo wir beim Genuss von Käsefladen und kalter Limonade unsere Sünden abschwitzten, um dann in unsere paradiesischen Wohnhäuser zurückzukehren.“23
Neue Nachrichten erhält Aşçı Dede immer wieder durch seine, wenn auch vielleicht nicht tägliche, so doch regelmäßig erscheinende Lektüre diverser Tageszeitungen, die seit den 1870er Jahren im Osmanischen Reich zaghaft allgemeine Verbreitung finden. 24 Durch die Zeitung erfährt er vom Tode eines Sufi-Scheichs, vom Ablauf der Feierlichkeiten anlässlich der Eröffnung der Hedschas-Eisenbahn und vom Verlauf des russischjapanischen Krieges (1904-1905). Eine Einladung während des islamischen Fastenmonats Ramadan zu einem Festessen im Hause des Gouverneurs, bei dem als gesellschaftliches Ereignis gemeinsam das Fasten am Ende des Tages gebrochen wird, vermittelt Aşçı Dede İbrahim einen Einblick in die neuen Speisemoden der osmanischen Oberschicht. Die Anpassung der Art und Weise, wie gemeinsame Festessen abgehalten werden, an westliche Gebräuche und Tischsitten nimmt Aşçı Dede İbrahim aufmerksam wahr, ohne sie von vorneherein als religiös verpönte Neuerung (bid’a) zu brandmarken und abzulehnen. Die geschilderten Elemente westlichen Lebensstils scheinen für ihn hinnehmbar zu sein, da sie nicht einen neumodi22 Nimet Şeker zitiert die in Reaktion auf die Photographie erlassene fatwa wie folgt: „Sind die von einem Muslim hergestellten Abbildungen von Gestalten von Menschen oder anderen beseelten Lebewesen, wie sie auch immer sein mögen, schariarechtlich verboten? Antwort: Sie sind verboten.“ (ŞEKER, Fotografie [wie Anm. 20] S. 25 Anm. 15). Zwar lassen sich dem Koran und der Hadithliteratur keine zweifelsfreien Belege für ein generelles Bilderverbot im Islam entnehmen, allerdings besteht in der islamischen Jurisprudenz insofern Einigkeit, dass zumindest die Darstellung von Lebewesen in jeder Form als verboten anzusehen ist. Zu Ausmaß und dogmatischer Herleitung des islamischen Bilderverbots im Einzelnen, siehe die Verweise bei RUDI PARET, Die Entstehung des islamischen Bilderverbots, in: Kunst des Orients 11/1/2. 1976-77 S. 158-61. 23 Memoiren, Bd. 3, S. 142 f. 24 OSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt (wie Anm. 2) S. 70.
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schen Ersatz, sondern eine – wenngleich in seinen Augen vielleicht etwas kuriose – „Ergänzung” eigener Tradition darstellten, nämlich des üblichen gemeinsamen Fastenbrechens am Ende eines Fastentages im Ramadan.25 „Am Abend des siebten Tages des Fastenmonats Ramadan des Jahres 1318 [1901], einem Samstag, war ich zum Abendessen anlässlich des Fastenbrechens bei seiner Exzellenz, dem Herrn Arif Pascha, eingeladen. Den Grund dafür, warum im vorangegangen Fastenmonat des Jahres 1317 nicht zu einem solchem gemeinsamen Abendessen eingeladen wurde, hat man uns verschwiegen. Bei der jetzigen Einladung fand ich den Amtssitz [seiner Exzellenz] in völlig neuen Farben und architektonischem Stil vor. Dieses Mal wurde auch nicht wie bei früheren Ramadanabenden beim Fastenbrechen erst zusammen gebetet und dann gegessen. Stattdessen waren wir [zur angesagten Zeit] direkt zur nach europäischer Façon in höchstem Maße festlich gedeckten Tafel geschritten und begannen sogleich mit dem Essen. Ich nahm am unteren Ende der Tafel Platz, damit ich die hohen Herren bei dieser Festivität nach Herzenslust beobachten konnte, ohne irgendjemanden zu stören und dabei mich innerlich auch ein wenig besinnen zu können. Jeder war angehalten, die unterschiedlichsten Speisen in vollsten Zügen zu genießen, keiner sollte enttäuscht sein. Es hat sich so ergeben, dass mir gegenüber ein Arzt saß, der von der Tafelrunde ausgiebigst um sein Urteil zu allen möglichen Speisen gebeten wurde. Es entspann sich eine Folge von Fragen und Antworten darum, ‚wie man diese oder jene Art Fisch kochen und zubereiten müsse, damit sie möglichst magenschonend sei?‘ Ich beobachtete die Schönen und Mächtigen mit überzeugender Bekundung von Interesse und Staunen ob der gestellten Fragen und gegebenen Ratschläge. Ich erinnere mich noch gut daran, wie der Arzt betonte, dass Fisch größere gesundheitliche Vorzüge aufweise als der Konsum von Fleisch und er diesen daher bevorzuge. Daraufhin wurde, an den Arzt gerichtet, eingewandt: ‚Es gibt aber doch auch Ärzte, die genau das Gegenteil behaupten wie Sie. Wenn aber der Eine dieses und der Andere jenes sagt, so heißt das doch, dass manche es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen.‘ Das hat mir gut gefallen! Das Essen war beendet und man zog sich auf sein Zimmer bzw. seine Gemächer zurück.“26
Mag das mystische Religionsverständnis Aşçı Dede İbrahims in diesem Falle die Bereitschaft zu einem freieren Umgang mit religiösen Geboten und Bräuchen erhöht haben, so findet auch sie dort ihre unüberwindliche Schranke, wo Aşçı Dede in den Neuerungen ein komplettes Verdrängen der eigenen Tradition befürchtet. Als die Stadtverwaltung der in der europäischen Provinz Thrakien gelegenen Stadt Edirne 1899 die Einweihung des neuen Rathauses mit einer Feierlichkeit im europäischen Stile im Beisein westlicher Diplomaten und mit dem Ausschank alkoholischer Getränke begeht, sieht er diese Grenze klar überschritten: „Seht doch, auch die Stadtverwaltung [von Edirne] macht sich [nun] einen Namen durch Gottesanmaßung und Überheblichkeit: weil dort auf Stadtfesten nächtliche Festivitäten stattfinden, bei denen die Konsuln fremder Staaten eingeladen werden, wird jetzt auf europäische Art aufgespielt, und Familien tanzen dort wie auf einem Ball; es wird gezecht und Alkohol ge25 Diese Beobachtung steht somit im Einklang mit dem Befund zahlreicher Ethnologen, die für unterschiedliche indigene Gesellschaften und Epochen wiederholt darauf hingewiesen haben, dass nicht die Übernahme von Gegenständen aus fremden Kulturen das eigentlich Bemerkenswerte sei, sondern vielmehr die Art, in der sie neu definiert und verwendet werden, siehe IGOR KOPYTOFF, The cultural biography of things: commoditization as process, in: The social life of things: Commodities in cultural perspective. Hg. ARJUN APPADURAI. Cambridge usw. 1986 S. 64-91, hier 67. 26 Memoiren, Bd. 3, S. 26 f.
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trunken, laut gesungen und dadurch alle möglichen Arten von Sünden und Formen der Gotteslästerung begangen. Sind das auf einmal nun nicht mehr Elemente aus der Hölle der Ungläubigen (dar-i cahim), sondern soll das nun das neue Paradies (dar-i na’im) sein?“27
Der Konsum von Alkohol wird unabhängig von den konkreten Umständen, ob dies in der Öffentlichkeit oder privat geschieht, einhellig im orthodoxen sunnitischen und schiitischen Islam als verboten angesehen. 28 Wenngleich einzelne Sufiorden, wie etwa der 1826 aufgelöste Bektaschi-Derwischorden, Alkoholgenuss billigten, so stellt sich Aşçı Dede İbrahim im Einklang mit den Lehren der Orden, denen er zugehört, auf die Seite der Orthodoxie mit ihrer kompromisslosen Verdammung jeglicher Form des Alkoholkonsums.29 Auch was seine Kritik an gemeinsamer Geselligkeit von Männern und Frauen in Form von Tanz und Gesang angeht, hält er es in diesen Punkten mit den konservativ-orthodoxen islamischen Vorstellungen, wonach derartiges Verhalten für Muslime verpönt sei. Die heikle Gratwanderung zwischen Akzeptanz europäischer Neuerungen bei gleichzeitiger Ablehnung all dessen, was die eigene Religion und Kultur in ihrer Existenz zu bedrohen scheint, die Aşçı Dede İbrahims Beurteilung von westlichen Produkten und Gewohnheiten kennzeichnet, findet sich wohl bei keinem Beispiel deutlicher aufgezeigt als bei seinem Umgang mit westlicher Kleidung. Als Aşçı Dede İbrahim von seiner Frau ein neumodisches Hemd im Stil der Europäer geschenkt bekommt, stürzt ihn dieses Geschenk in größte Gewissenskonflikte: „Heute Morgen, als ich mich auf den Weg ins Derwischkonvent machen wollte, reichte mir meine Frau zum Anziehen ein europäisches Hemd im französischen Stil. Ich konnte einfach nicht nein sagen! Schließlich war es das erste Kleidungsstück und überhaupt das erste Geschenk, das ich von ihr bekam [in der kurzen Zeit, in der wir verheiratet sind]. Ich zwang mich also es anzuziehen, und fühlte mich unheimlich schuldig dabei. Und tatsächlich geschah es im Handumdrehen, dass Schakir Efendi [ein Derwischbruder] vom Kloster, den anders geschnittenen Kragen an meinem Hemd bemerkte und unseren ehrwürdigen Scheich darauf hinwies mit den Worten: ‚Der Armee-Buchhalter trägt ein europäisches Hemd!‘ Ich war augenblicklich schweißgebadet!“30
Was ist der Hintergrund für diese profunde Verunsicherung Aşçı Dedes beim Tragen dieses speziellen Hemdtyps? Ein landesweiter politischer Diskurs über die Bedeutung westlicher Kleidung, so wie er zeitgleich in Britisch-Indien in Bezug auf englische Textilien geführt wurde und schließlich etwa in der „commodity resistance“ unter den Anhängern Gandhis resultierte,
27 Ebd., Bd. 2, S. 588 f. 28 Einwände von westlichen Islamwissenschaftlern wie etwa Hartmut Bobzin, die die Ansicht vertreten, es müssten noch weitere Umstände, wie etwa bestimmte Formen des Glückspiels, vorliegen, um den Alkoholkonsum zu einer verbotenen Handlung im Sinne des Korans zu machen, finden und fanden unter orthodoxgläubigen Muslimen keine Resonanz. Siehe HARTMUT BOBZIN, Der Koran. Eine Einführung. München 2004 S. 78. 29 Zu den Lehren des Bektaschi-Ordens siehe: JOHN KINGSLEY BIRGE, The Bektashi Order of Dervishes. London 1937. 30 Memoiren, Bd. 1, S. 521.
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ist aus dem Osmanischen Reich in vergleichbarer Schärfe und Tragweite nicht bekannt.31 Auch die Irritationen eines von C. A. Bayly in seiner Weltgeschichte The Birth of the Modern World. 1780-1914 zitierten osmanischen Konservativen der 1880er Jahre, der daran Anstoß nahm, dass die Kombination von Kleidungsstücken unterschiedlicher Provenienz zu einer „absurden Parodie Europas“ werde, dürfte kaum Aşçı Dedes Sorge gewesen sein.32 Stattdessen scheinen zwei unterschiedliche Motive aus der islamischen Tradition hier einen Erklärungsansatz zu bieten. Zum einen lässt der direkte Kontakt des Körpers mit Kleidungsstücken, die von Europäern hergestellt wurden, diese Bekleidung aus dem Gesichtspunkt ritueller Reinheit nach bestimmten konservativen Interpretationen des Islams als äußerst problematisch erscheinen. Der Grund hierfür liegt nach Ansicht muslimischer Theologen darin, dass sich an von Nichtmuslimen hergestellten Kleidungsstücken Spuren von Wein (sic), Schweinefleisch oder menschlichem Schweiß befinden könnten, die sämtlich als unrein nach den Kultus- und Rechtsvorstellungen im Islam gelten.33 In derartigen Fällen von Unreinheit im Rechtssinne bestünde nach weit verbreiteter Ansicht die Gefahr, dass Muslime das Gebet mit unreinem Körper verrichten könnten und damit unreine Substanzen in die Moschee gelangten. Aus Sicht der islamischen Theologie kann das Tragen europäischer Kleidungsstücke auch problematisch erscheinen aufgrund einer Überlieferung aus dem Leben des Propheten, wonach derjenige, der einen Christen oder Juden äußerlich nachahmt, selbst einer von ihnen wird. In der für das islamische Recht ganz zentralen Disziplin der wissenschaftlichen Analyse sämtlicher Aussprüche und Überlieferungen, die dem Propheten Mohammed zugeschrieben werden, den sog. Hadithen, findet sich eine umfangreiche Diskussion über den Anwendungsbereich dieser konkreten Überlieferung und ihre unbedingte Gültigkeit. Zu Lebzeiten Aşçı Dede İbrahims scheint die Vorstellung, dieses Hadith untersage es Muslimen, westliche Kleidung zu tragen, weit verbreitet gewesen zu sein. Die Tatsache, dass Aşçı Dede İbrahim trotz der bestehenden Bedenken bezüglich der Legitimität des Tragens eines europäischen Hemdes sich entschließt, ein solches Kleidungsstück zu tragen, bringt seine Individualität durch die Abkehr vom gesellschaftlich Gebotenen zum Ausdruck. Denn auch in religiösen Zirkeln im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts wird die Zugehörigkeit zu einem mystischen Orden durch die Einhaltung bestimmter normierter Kleidungsformen, die in früheren Traktaten festgeschrieben waren, zum Ausdruck gebracht34, ganz ähnlich der Situation wie sie von Andrea Hül-
31 ARJUN APPADURAI, Introduction: commodities and the politics of value, in: The social life of things. Hg. DERS. (wie Anm. 25) S. 3-63, hier 30. 32 BAYLY, The Birth of the Modern World (wie Anm. 3) S. 17. 33 Auf die Einzelheiten der theologischen Herleitung dieser Vorstellung und zur Vergleichbarkeit der Situation der Verwendung von Papier aus christlichen Ländern für die Herstellung von Koranausgaben wird an anderer Stelle eingehender eingegangen, siehe RICHARD WITTMANN, ‘Fine feathers make fine birds’. Aşçı Dede İbrahim and his ‘chemise à la mode française’, in: Fashioning the Self in Transcultural Settings. The Uses and Significance of Dress in Self-Narratives. Hg. CLAUDIA ULBRICH/DERS. Würzburg erscheint 2012. 34 Siehe hierzu etwa HELGA ANETSHOFER/HAKAN T. KARATEKE, Traktat über die Derwischmützen (Risāle-i tāciyye) des Müstaqīm-zāde Süleymān Sa'deddīn (st. 1788). Leiden usw. 2001.
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sen-Esch für Gelehrte im Spätmittelalter beschrieben wurde, oder wie das auch der Fall war bei der von Martin Dinges untersuchten höfischen Gesellschaft.35 Das Überschreiten der Aşçı Dede İbrahim wohl bewussten Erwartungen bezüglich der seiner religiösen Funktion angemessenen Kleidung, wie auch seine anschließende Verunsicherung, machen offenbar, dass unser Memoirenschreiber sich hierdurch seine Identität selbst geben will. Er verhält sich dabei ganz im Sinne von Charles Taylor, nach dessen Auffassung Personen ihre Identität stets selbst definieren teils im Dialog, teils auch im Widerstreit mit den Identitäten, die Außenstehende, die ihnen etwas bedeuten, gerne in ihnen sehen möchten.36
Selbstverortung im Umgang mit fremden Dingen Die Eigenschaft der Fremdheit ist, wie Martin Doll eindringlich klarstellte, nicht eine Beschaffenheit, die „einem Ding wesentlich zukommt“.37 Vielmehr ist sie das Resultat von Zuschreibungen, die stets einem konkreten Kontext geschuldet sind. Dies wirft die Frage auf, wie spezifisch sich der Kontext gestaltet, der die erörterten Dinge für Aşçı Dede İbrahim jeweils fremd erscheinen ließ. Waren die Dinge insbesondere für Aşçı Dede İbrahim persönlich fremd oder bewegte er sich vielmehr in einem größeren kulturellen Kontext, in dem die diskutierten Dinge generell (noch) für fremd erachtet wurden? Anders formuliert: Gab es im Osmanischen Reich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen mentalen Kontext, in den sich die modernen Dinge aus der westlichen Welt einfügen und somit einen vergleichbaren Bedeutungsgehalt erlangen konnten, wie er denselben Dingen in Europa zukam? Eine vorgängige oder gleichzeitige Aufklärung im westlichen Sinne fand nicht statt. Die Kulturkonfrontation erreichte das Osmanische Reich durch westliche Waren ohne eine vermittelnde Abfederung durch eine Entwicklung im Bereich der Vorstellungswelten und ihres reflexiven Potentials, etwa in der Form wie die Aufklärung in Europa die Industrialisierung begleitete bzw. diese erst ermöglichte. Wie neuere Forschungen aufzeigen, waren Osmanen nicht an die Netzwerke der europäischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts direkt angeschlossen. Die Rezeption der europäischen Aufklärung im Osmanischen Reich fand mangels Printkapitalismus erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt und dann auch nur, wie der Osmanist Christoph Herzog kürzlich nachwies, auf personaler Basis, indem einige Heroen der Aufklärung wie Voltaire „quasi ikonisch
35 ANDREA VON HÜLSEN-ESCH, Kleider machen Leute. Zur Gruppenrepräsentation von Gelehrten im Spätmittelalter, in: Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekte. Hg. OTTO GERHARD OEXLE/DIES. Göttingen 1998 S. 225-257. MARTIN DINGES, Von der „Lesbarkeit der Welt” zum universalisierten Wandel durch individuelle Strategien. Die soziale Funktion der Kleidung in der höfischen Gesellschaft, in: Saeculum 44. 1993 S. 90-112. 36 CHARLES TAYLOR, The ethics of authenticity. Cambridge, MA 1992 S. 32 f. 37 MARTIN DOLL, Monströse Gegenstände. Über Fälschungen als Erkenntnisobjekte im zweifachen Sinne, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1. 2007 S. 39-51, hier 39.
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Eingang in den osmanischen Diskurs fanden”, ohne die Ideen der Aufklärung in ihren Konsequenzen zu beleuchten.38 Wenngleich die Frage des Bestehens von Formen autochthoner Aufklärung in der islamischen Welt in der deutschsprachigen Islamwissenschaft vor allem in den 1990er Jahren äußerst kontrovers diskutiert wurde, geht die neuere Forschung praktisch einhellig davon aus, dass es lediglich einzelne bescheidene Ansätze einer autochthonen Aufklärung im Osmanischen Reich gab, die über private Gelehrtenzirkel nicht hinausgingen.39 Die westlichen Produkte, mit denen es der Memoirenverfasser zu tun hat, brechen jedenfalls ein in eine Welt fernab der Vorstellungen der europäischen oder auch einer lokalen, autochthonen Aufklärung. Somit bezogen die fremden Dinge des Westens für Aşçı Dede İbrahim ihren Sinn nach Maßgabe seiner spezifisch islamisch-mystischen religiösen Vorstellungen. Dies hatte jedoch bemerkenswerte mehrschichtige Folgen. Es führte aber nicht zu einer grundsätzlichen Ablehnung der modernen Kommunikationsund Verkehrsmittel als „islamfeindlich”, wie dies etwa beim anonymen Verfasser des islamisch-fundamentalistischen Pamphlets der Fall ist.40 Stattdessen weiß Aşçı Dede İbrahim im Umgang mit den Neuerungen danach zu unterscheiden, ob er darin die Gefahr einer Verdrängung der eigenen Religion sieht. Dies führt dann konsequent, wie im Falle des Stadtfests mit Alkoholausschank und Paartanz, zur kompromisslosen Ablehnung. Ansonsten wird hingegen eine Neuerung grundsätzlich gebilligt, solange sie keinen Schaden anzurichten droht, wie etwa die westliche Tischdekoration beim Fastenbrechen; oder, als dritte Möglichkeit: sie wird implizit dadurch gutgeheißen, dass sie als selbstverständlich hingenommen wird. Dies ist immer dann der Fall, wenn die Aussicht oder Überzeugung besteht, das Leben durch sie im Rahmen der als verbindlich erachteten sittlichen und religiösen Vorstellungen angenehmer und bequemer gestalten zu können. Auch bei Aktivitäten, die wie das Versenden eines Telegramms an einen anderen Derwischorden mit der Ausführung der Pflichten als Ordensmann zu tun haben, ist der Gebrauch moderner technischer Hilfsmittel durch Aşçı Dede İbrahim in keinster Weise verpönt. Nach dem eben Gesagten geht der Gebrauch westlicher Produkte somit nicht zwangsläufig einher mit der Billigung oder auch nur einem generellen Verständnis für einen westlich-europäischen Lebensstil. Nachdem Aşçı Dede İbrahim seinen Entschluss, das französische Hemd zu tragen, bereits bereut hatte, weiß der Scheich, der dem Orden voransteht, ihn dadurch zu beruhigen, dass er ihn belehrt, nichts Falsches getan zu ha38 CHRISTOPH HERZOG, Aufklärung und Osmanisches Reich. Annäherung an ein historiographisches Problem, in: Die Aufklärung und ihre Weltwirkung. Hg. WOLFGANG HARDTWIG. Göttingen 2010 S. 291-321, zit. 311. 39 Die Diskussion wurde 1990 angestoßen von dem Berner Islamwissenschaftler Reinhard Schulze, siehe REINHARD SCHULZE, Das islamische achtzehnte Jahrhundert. Versuch einer historiographischen Kritik, in: Welt des Islams 30. 1990 S. 140-59; DERS., Was ist islamische Aufklärung?, in: Welt des Islams 36. 1996 S. 276-325. Zur Kritik an den Thesen Schulzes, siehe u.a. RUDOLPH PETERS, Reinhard Schulze's Quest for an Islamic Enlightenment, in: Die Welt des Islams 30. 1990 S. 160-62; GOTTFRIED HAGEN/TILMAN SEIDENSTICKER, Reinhard Schulzes Hypothese einer islamischen Aufklärung. Kritik einer historiographischen Kritik, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 148. 1998 S. 83-110. 40 Siehe Anm. 4 und die zugehörigen Textpassagen.
Französische Hemden, österreichische Dampfschiffe und deutsche Lokomotiven
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ben: „Trägt ein Europäer ein solches Hemd, dann ist es ein europäisches Hemd. Trägt aber ein Muslim solch ein Hemd, dann ist es ein muslimisches Hemd”.41 Der muslimische Ordensvorsteher des 19. Jahrhunderts urteilte damit in verblüffender Übereinstimmung mit Marshall Sahlins, der ein Jahrhundert später als Ethnologe die Übernahme westlicher Kulturgüter durch verschiedene indigene Völker untersuchte als Reaktion auf die vor allem von den Vertretern seiner Wissenschaftsdisziplin befürchtete schrittweise Vernichtung indigener Kulturen. Anhand zahlreicher Beispiele aus den indigenen Kulturen Japans, der Eskimos, Neu-Guineas und vor allem der Hawaiischen Inseln glaubt er belegen zu können, dass indigene Völker sich ihre Traditionen ihren jeweiligen Bedürfnissen entsprechend konstruieren durch selektive Übernahme der westlichen Kultur. Außerhalb des Westens würde die Moderne „indigenisiert“ mit Hilfe eines für neue Elemente offenen Traditionsbegriffes. Statt Verdrängung des Eigenen käme es zur Vereinnahmung des Fremden: „Eskimo culture, Western techniques“.42 Aşçı Dede İbrahim verhält sich somit nicht grundsätzlich anders als sein oberster Dienstherr, der osmanische Sultan, beim bereits oben erwähnten Bau der Eisenbahn in den Hedschas. Praktisch die gesamte Eisenbahnausstattung kam hierfür aus dem Westen. Die deutschen Firmen Hohenzollern, Kraus, Jung und Hartmann lieferten zusammen mit den belgischen Eisenbahnbauern St. Leonard und La Meuse die insgesamt 25 Lokomotiven; sämtliche 56 Fahrgastwaggons, die sich ganz nach europäischem Vorbild aus einem Schlafwagen und Abteilen der ersten, zweiten und dritten Klasse zusammensetzten, wurden in Belgien gefertigt. Jedoch gab es eine Ausnahme, die einen einzigen Waggon betraf, der vom Sultan bei der staatlichen osmanischen Schiffswerft in Istanbul in Auftrag gegeben wurde und dem europäischen Fuhrpark hinzugesellt wurde: Der Zug hatte einen Moscheewaggon, in dem die muslimischen Pilger auf der Fahrt zu den heiligen Stätten des Islams ihre vorgeschriebenen täglichen fünf Gebete verrichten konnten.43 Das moderne westliche Verkehrsmittel der Eisenbahn wurde somit seinem gewünschten kulturspezifischen Zweck angepasst: der bequemen und schnellen Anreise von Muslimen zu den heiligen Orten des Islams, um einer größeren Anzahl an Personen als bisher die Erfüllung einer Grundpflicht ihres –nichtwestlichen – Glaubens zu ermöglichen bzw. zu erleichtern.
41 Memoiren, Bd. 1, S. 521. 42 MARSHALL SAHLINS, What is Anthropological Enlightenment? Some Lessons of the Twentieth Century, in: Annual Review of Anthropology 28. 1999 S. I-XXII, hier XV. 43 NICHOLSON, The Hejaz Railway (wie Anm. 14) S. 29.
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Moschee-Abteil der Hedschasbahn (Servet-i fünūn, 23 Aġustos 1323 [23.8.1907], No. 854, Titelseite)
Der selektive Gebrauch und Aşçı Dede İbrahims individueller – und aus heutiger Sicht bisweilen eigenwilliger – Einbezug einzelner fremder Dinge in die eigene kulturelle und religiöse Tradition machen den Autor der Memoiren zum Individuum, das sich bewusst im Spannungsfeld widerstreitender Kulturen und Erwartungen selbst verortet. Getreu seinem Verständnis der islamisch-mystischen Tradition, der er anhängt, weiß er ohnehin jeden Widerspruch rhetorisch für sich aufzulösen, denn ein aufmerksames Hören auf das gläubige Herz beseitige alle Widersprüche in der Welt.44 Im individuellen und selektiven Umgang mit fremden Dingen, wie Aşçı Dede İbrahim ihn in seinen Memoiren schildert, nimmt er seinen eigenen Platz ein zwischen den zu seiner Zeit im Osmanischen Reich immer stärker werdenden Reformern westlicher Prägung und den hartnäckigen Vertretern einer fortschrittsskeptischen Religiosität unterschiedlicher monotheistischer Traditionen. Schließt man sich jedoch der Modernekritik des Soziologen Bruno Latour an, so stellt sich die Frage nach möglichen Widersprüchen zu einer modernen Welt westlichen Zuschnitts, die aus Aşçı Dede İbrahims Verhalten resultieren mögen, andererseits letztlich gar nicht, da auch die westliche Welt als Kontrastrahmen sich keineswegs so modern darstellt als gemeinhin angenommen wird. In Bruno Latours Verständnis, so wie er es vor allem in seinem Werk Wir sind nie modern gewesen45 darlegte, beruht die vorherrschende Vorstellung von Moderne auf fiktiven Grundannahmen und Ausblendungen, ohne die der Begriff nicht nutzbar ist. Zu den von der Aufklärung geprägten Grundannahmen 44 FINDLEY, Social Dimensions of Dervish Life (wie Anm. 4) S. 176. 45 LATOUR, Wir sind nie modern gewesen (wie Anm. 1) siehe insbesondere S. 18-21, 64-66.
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zählt etwa die absolute Gegensätzlichkeit von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen oder von Natur und Kultur sowie das zwanghafte Ausblenden von Hybriden oder Mischformen zwischen beiden Polen.46 Während diese Widersprüche unter anderem Reaktionen wie den Postmodernismus hervorgebracht hätten, fordert Latour dazu auf, den Begriff der Moderne als Illusion zu entlarven und sich einzugestehen, wir seien „nie modern gewesen”.47 Eine derartige intellektuelle Redlichkeit zolle der Tatsache Tribut, dass die moderne kritische Analyse inkonsequent, wenn nicht gar widersprüchlich agierte, und dass wir stets in einer nicht-modernen Welt lebten, in der hybride Zusammenstellungen von natürlichen und sozialen Objekten und Subjekten in Eintracht nebeneinander bestehen durften. Erst durch die Berücksichtigung von Dingen in Folge der Auflösung des Kontrasts zwischen Mensch und Objekt wird das Menschliche vollständig und adäquat erfasst.48 Aşçı Dede İbrahim begegnet uns demnach in seinem variablen, wenn auch nicht willkürlichen Umgang mit westlichen Gegenständen als nichtmoderner Mensch – wie wir selbst –, der „sowohl die Verfassung der Modernen berücksichtigt als auch die Populationen von Hybriden, die sich unter dieser Verfassung ausbreiten, aber von ihr verleugnet werden.”49
46 47 48 49
Ebd. S. 19 f. Ebd. Ebd. S. 181. Ebd. S. 65.
KIRSTEN RÜTHER
Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten Ein Kommentar aus der Perspektive afrikawissenschaftlicher Forschung
Das Dilemma kultureller Mehrfachzugehörigkeiten Viele Menschen gehen mit kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten um, die im Zusammenspiel mit Symboliken und Politiken der Zugehörigkeit gesellschaftlich relevant werden und Fragen nach Verortung aufwerfen. Dynamiken zwischen kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten, deren gesellschaftlichen Kontexten und den Verortungspraktiken historischer Akteure entfalten sich in zeitlich, regional, politisch, ökonomisch und sozial spezifisch determinierten Räumen. Diese wiederum sind durch das Handeln historischer Akteure und Gruppen ebenso konturiert wie durch strukturell wirkende Umgrenzungen, Austauschbeziehungen und natürlich auch durch gekappte Verbindungen. Sie sind nach innen wie nach außen durch Hierarchien und Machtverhältnisse geprägt. Oft erweisen sich deshalb kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten als hochkomplex und widersprüchlich. Unter anderem verunsichern und prekarisieren sie die kulturell Mehrfachzugehörigen, manchmal über Generationen hinweg, und geraten sogar zum Dilemma. Aus Gründen, die hier nicht näher erläutert werden sollen, werden in der afrikawissenschaftlichen Forschung – jenem Bereich, aus dem ich meinen Blickwinkel auf die hier zusammengestellten Beiträge ableite – Zugehörigkeiten und auch kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten intensiv und variantenreich diskutiert. Oft geschieht dies in Verbindung mit der Analyse von Migrations- und Mobilitätsphänomenen, und meist werden dabei die integrativen Tendenzen afrikanischer Gesellschaftsdynamiken betont. In einer jüngeren Arbeit hat allerdings der Anthropologe Peter Geschiere gegenwartsbezogen gerade auf die Fallstricke kultureller Mehrfachzugehörigkeiten hingewiesen.1 Zwar haben diese immer schon existiert, nehmen aber im Kontext der Globalisierung besondere Ausdrucksformen an. Die im Rahmen dieses Kapitels vorgelegten Beiträge gehören sicher nicht in den Kontext der noch recht jungen Globalisierungsforschung, untersuchen aber, wie Akteure und Gruppen mit kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten zu vergleichbaren Zeiten der Transformation umgingen, in denen ihre Welten sich maßgeblich vergrößerten und neu ordneten. Dies geschah zum Beispiel durch den Kontakt mit „der Moderne“, dem Denken in Kategorien des Nationalstaates oder infolge der Formulierung des universalen und zivilisatorischen Anspruchs des sich an der europäischen Expansion beteiligenden Christentums. Geschiere zeigt in seiner gegenwartsbezogenen Untersuchung, dass Zugehörigkeit zum Lokalen, insbesondere zu Erde, Grund und Boden – ein 1
PETER GESCHIERE, The Perils of Belonging: Autochthony, Citizenship, and Exclusion in Africa and Europe. Chicago 2009.
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ganz altes Motiv mythischer Herkunft, das aber seit der Zeit der Kolonialisierung neue politische und kulturelle Bedeutungen erhielt – heute eine Art Gegengewicht für diejenigen darstellt, die in anderen Städten als denen ihrer Herkunftsregionen oder gar in der weiten Welt leben (müssen). Er macht deutlich, dass mit dieser Zugehörigkeit zu einem Herkunftsraum, dessen Bedeutung an Graden einer Verbundenheit mit Erde, Grund und Boden gemessen wird, Politiken der In- und Exklusion betrieben werden. Tatsächlich wird vielen kulturell Mehrfachzugehörigen ihre „eigentliche“ Zugehörigkeit häufig strittig gemacht, werden Authentizität, Glaubwürdigkeit und Echtheit ihrer Verortung geprüft oder müssen im wahrsten Sinne des Wortes teuer erkauft werden. 2 Geschieres Beobachtungen werfen Leitfragen und Fragekontexte auf, die sich als Grundlinie für diesen Kommentar gut eignen. Die hier vorgelegten Beiträge befassen sich anhand unterschiedlicher Selbstzeugnisse, mit Bezug auf unterschiedliche Regionen und für jeweils verschiedene Zeiträume mit Aspekten kultureller Mehrfachzugehörigkeiten und entsprechenden Verortungsnöten. Auf der Grundlage schriftlicher Konversionsberichte aus dem 17.-19. Jahrhundert dekonstruiert Gesine Carl die Vorstellung, innerchristlich Konvertierende hätten sich im Zuge ihres Religionswechsels eindeutig in entweder dieser oder jener Variante des Christentums verortet. Obwohl sie die Konfessionszugehörigkeit wechselten und dadurch mit ihrem ehemaligen Bekenntnis brachen, betonten die Schreibenden in ihren Selbstzeugnissen vor allem auch Kontinuitäten im Lebenslauf, gerade so, als wollten sie damit ein Gegengewicht zu dem in ihrer Religion vorgegebenen Diktum schaffen, ein Christ dürfe nur einer einzigen religiösen Ausrichtung eindeutig zugehören. Auch Richard Wittmann widmet sich einem religiös verorteten Protagonisten, der aber aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sufischen Tradition des Islam Elementen unterschiedlicher Kulturen offener entgegen trat. Allerdings sah sich der Mystiker und militärische Amtsträger im Osmanischen Reich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgefordert, sich in der immer greifbarer werdenden Abgrenzung zwischen europäischer Moderne, angeeigneten Reformen westlichen Ursprungs und einer expliziten Skepsis gegenüber allem Neuen und Fremden zu positionieren. Er tat dies im Umgang mit ungewohnten Dingen. Diese stellten für ihn weit mehr als tote Objekte dar, da sie soziale Beziehungen bezeichneten, qualifizierten und modifizierten. Wie weiter unten ausgeführt werden soll, entwickelte auch der hier vorgestellte Sufi Aşçı Dede İbrahim eine aus seinem Selbstzeugnis ablesbare Strategie, sich gegen eine sich versteifende und Konflikt implizierende Polarisierung seines Umfeldes soweit als möglich zu verwahren. Miltos Pechlivanos wiederum widmet sich unter Auswertung tagebuchähnlicher Aufzeichnungen einer in Netzwerken verankerten Berufsgruppe des Osmanischen Reiches, den Dragomanen. Diese hatten im 19. Jahrhundert als nicht-muslimische und mehrsprachig aufgewachsene Übersetzer und Diplomaten fortwährend mit denjenigen kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten umzugehen, mit denen seinerseits auch der Beamten- und Diplomatenapparat des Osmanischen Reiches konfrontiert war. Die auf zahlreichen Ebenen greifbare Polarisierung ihrer Welt und Gesellschaft machte sie zu „kontextuellen Benutzern ihrer Repertoires“. Dragomanen mischten keine kulturellen Eigen2
Ebd. S. 1-38. Geschiere versteht die „Gefahren der Zugehörigkeit“ im übrigen nicht nur als ein Phänomen afrikanischer Gesellschaften, sondern vergleicht es mit ähnlichen Denkweisen in den Niederlanden und anderen Ländern Europas.
Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten
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heiten, sondern hielten sie separat, um sich situationsspezifisch verschiedener Systeme zu bedienen. Verglichen mit den Herausforderungen, die der von Richard Wittmann eingeführte Sufi bewältigen musste, scheint bei den Dragomanen die Kulturkonfrontation früher und verhärteter angekommen zu sein, so dass diese – wie weiter unten zu erläutern sein wird – andere Strategien des Umgangs mit dieser Herausforderung entwickelten. Mit einer langzeitperspektivischen Betrachtung der Modalitäten von Literaturproduktion und autobiographischem Schreiben3 in Lateinamerika beteiligt sich Ulrich Mücke an der Diskussion um das Dilemma kultureller Mehrfachzugehörigkeiten. Er befasst sich mit historischen Subjekten, die ähnlichen Dichotomien und Grundproblemen der Verortung in sich neu ordnenden Herrschafts- und Ideengefügen ausgesetzt waren wie der Sufi und die Dragomanen. Anders als diese agierten die Verfasser autobiographischer Schriften in Lateinamerika jedoch unmittelbar im kolonialen und postkolonialen Kontext. Mit seiner Langzeitperspektive wirft Ulrich Mücke insbesondere die Frage auf, wie lange kolonial erworbene Umgangsweisen mit kultureller Mehrfachzugehörigkeit nachwirkten und nachwirken, selbst wenn die unmittelbare „koloniale Situation“4 längst vergangen, aber noch nicht abgestreift ist. Die sehr unterschiedlichen Akteure, kulturell mehrfachzugehörig und teilweise sowohl regional wie sozial mobil, agierten in gesellschaftlichen Kontexten, in denen es, um dazuzugehören, darauf ankam, als echt, glaubwürdig und authentisch anerkannt zu werden. Sie agierten in Kontexten, in denen jeweils Andere explizite Mechanismen der Ausgrenzung, Kontrolle und Sanktion entwickelten, um die Zugehörigkeit Hinzutretender oder Rückkehrender zu prüfen und ihr manchmal auch einen Riegel vorzuschieben. Selbstzeugnisse lassen damit die vielen Dilemmata kultureller Mehrfachzugehörigkeiten facettenreich sichtbar werden, verschleiern sie aber auch. Insofern wird in diesem Kommentar nicht nur aufzugreifen sein, welche Aspekte kultureller Mehrfachzugehörigkeit in den Beiträgen zur Geltung gebracht werden, sondern auch, inwieweit sich Selbstzeugnisse zur Analyse des Umgangs mit kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten als alleinige Quellengrundlage eignen.
Mobilität, kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten als Ressource und Probleme der Verortung Infolge eines verstärkten Interesses an Phänomenen der Mobilität, Migration und gesellschaftlicher Interaktion rückten in jüngerer Zeit auch Prozesse des kulturellen Austausches, der Verflechtung und der Mehrfachzugehörigkeiten stärker in den Blick. Zahlreiche Menschen bewegen sich in unterschiedlichen Kulturen, jonglieren mit ihrem Selbst 3
4
Das Genre der Autobiographie ist generell männlich (und historisch oft „weiß“) konnotiert. Die – wiederum auf meine Forschungsregion bezogene – englischsprachige Literaturwissenschaft hat daher auf der Ebene der Begriffe das Problem zu entschärfen versucht, indem sie die Analysekategorie „life writing“ eingeführt hat, unter die auch autobiographisches Schreiben fällt. Der immer noch einschlägige Begriff wurde 1959 von Georges Balandier theoretisch und konzeptionell in die Forschung eingeführt. GEORGES BALANDIER, La Situation Coloniale: Approche Théorique, in: Cahiers Internationaux de Sociologie 11. 1959 S. 44-79.
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in unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen oder vermitteln an Schnittstellen, an denen Kulturen zueinander in Beziehung treten. Der von Bernd Hausberger herausgegebene Band elf globaler Lebensläufe aus dem 15.-20. Jahrhundert zeigt solche Erfahrungen und Strategien, die diesbezüglich entwickelt werden, exemplarisch an Personen auf, die aus verschiedenen Weltregionen und unterschiedlichen Zeitbezügen kamen und sich im Laufe ihres Lebens an verschiedene Orte in verschiedenen Weltregionen bewegten oder Mobilität innerhalb von Netzwerken organisierten.5 In einer Art Resümee weist Dietmar Rothermund explizit auf Unsicherheiten und so genannte „Transaktionskosten“ hin, die gerade in den Lebensläufen jener entstünden, die den „überschaubaren Rahmen des täglichen Lebens in einer begrenzten Umwelt [überschreiten], in der es Handelnde miteinander zu tun haben, die sich bereits kennen und erwarten, dass sie auch in Zukunft miteinander auskommen müssen“. 6 Um solche Unsicherheiten geht es letztlich auch Peter Geschiere, wenn er darauf verweist, dass der Status der einst Dazugekommenen diese über Generationen hinweg prekarisieren kann, eine Rückverortung an Erde, Grund und Boden ihrer Herkunft erzwungen und gleichzeitig aber auch verweigert werden kann.7 Die von Gesine Carl beschriebenen innerchristlich Konvertierenden begaben sich in eine ähnlich prekäre Lage. Sie waren aufgefordert, sich zu legitimieren und ihre Zugehörigkeit zur neuen Gemeinschaft zu beweisen. In diesem Zusammenhang wäre interessant zu fragen, welche Sanktions-, Kontroll- und Ausgrenzungsmechanismen sowohl die „verlassenen“ Gemeinschaften ebenso aber jene entwickelten, in die die Konvertiten „zuwanderten“. Die Selbstzeugnisse scheinen diesen Aspekt konsequent auszublenden. Sie weisen allerdings auf die Gemeinschaft der „lieben Mitconvertiten“ hin, die aller Wahrscheinlichkeit nach jenseits der streng determinierten Konfessionszugehörigkeit lag. In der auf außereuropäische Konversionen bezogenen Forschung wird neuerdings gefragt, inwieweit Konversionen von Menschen, die auch anderen Kulturen zugehörten, die Grenzziehung um religiöse Gemeinschaften veränderte und damit Religionen zumindest regionalspezifisch auch neue Kontur verlieh. Auch im Kontext der auf Europa bezogenen Forschung könnte diese Frage durchaus noch aufgeworfen werden. Gesine Carl stellt Männer und Frauen dar, die offenbar durch ihren Konfessionswechsel an diesen Grenzen nicht zu rütteln vermochten, sondern stattdessen ihr polyvalentes Selbst einem Szenario zuordneten, in dem religiöse Mehrfachzugehörigkeit durchweg negativ sanktioniert war und – das wäre zu erwarten – damit auch Kontrollmechanismen und Politiken der Zugehörigkeit unterworfen war, die diejenigen bestimmten, die bereits als zugehörig galten. Gerade bei den Mehrfachkonvertiten dürfte das eine Rolle spielen. Andere in den Beiträgen vorgestellte Akteure wurden mit dem Problem der Verortung deshalb konfrontiert, weil die sie umgebenden gesellschaftlichen Kontexte an Durchlässigkeit verloren und Differenzen und Unterschiede zunehmend hierarchisiert wurden, ein Aspekt, der im nächsten Abschnitt näher betrachtet wird.
5 6 7
BERND HAUSBERGER (Hg.), Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen. Wien 2006. DIETMAR ROTHERMUND, Unsichere Transaktionen in globalen Lebensläufen, in: HAUSBERGER (Hg.), Globale Lebensläufe (wie Anm. 5) S. 283-288, hier 283. GESCHIERE, Belonging (wie Anm. 1) S. 1-38.
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Hierarchien, Machtverhältnisse und das Erzielen von Zugehörigkeit(en) Dieses Kapitel profitiert davon, dass seine Beiträge unter Bezugnahme auf verschiedene Regionen entstanden sind, so dass es sich lohnt, jenseits der Einzelbetrachtung einige von ihnen in Verbindung miteinander zu lesen. Da sich die Beiträge Ulrich Mückes und Gesine Carls mühelos in dem Spannungsfeld von Kolonie und Metropole verorten lassen – Kolonialisierung und Christianisierung stellten immerhin zwei der wichtigsten Prozesse dar, Welten zu erweitern und auf kultureller Unterschiedlichkeit gründende Abhängigkeiten und Verbundenheiten überregional herzustellen – zeigen diese Beiträge, in Konjunktion gelesen, die Notwendigkeit, die konzeptionellen Grundannahmen einer Geschichte kultureller Mehrfachzugehörigkeiten für europäische Gesellschaften noch einmal kritisch zu denken. In der Lebenswelt der Kolonisierten wurden und blieben die Mehrfachzugehörigkeiten konstitutiv und geradezu unabstreifbar. Das Dilemma ergibt sich bis heute daraus, dass mit diesen kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten im Großraum von Kolonie und Metropole jongliert werden muss.8 Denn Status, Privilegien und Anerkennung, die über das Lokale herausragten und herausragen, fanden und finden die von Ulrich Mücke ins Visir genommenen autobiographisch Schreibenden nur, wenn „die Metropole“ sie gewährt(e). In der langen Geschichte „fremder“ und von außen erfahrener Herrschaft lateinamerikanischer Gesellschaften verschob sich diese „Metropole“ zwar von Spanien später auf „die Welt“; dies änderte aber, so das Argument, nicht die Kernfunktion spanischsprachiger Selbstzeugnisse, formalisierte Anfragen nach Privilegierung im kolonialen und globalen Kontext zu repräsentieren. Das Prinzip dieses auch nach dem Ende der Kolonialisierung durchaus kolonial weiterfunktionierenden Machtverhältnisses besteht also darin, dass „die Metropole“ sich ihre Untertanen einverleibte und gleichzeitig auf Abstand hielt. Eine Verschmelzung mit der Metropole wurde denjenigen verwehrt, die als Kolonisierte oder ehemals Kolonisierte galten. Mehrdeutigkeit und Unklarheit strukturierten dieses Verhältnis. Die autobiographisch Schreibenden übernahmen literarisch-ästhetische Formen, gegen die sie sich zugleich auch wehren und absetzen mussten. Sie versuchten diese Ausdrucksformen und -stile zwar zu verändern, mussten sie aber in einer Grundform belassen, damit „die Metropole“ sie überhaupt erkannte. Die Anerkennung lateinamerikanischer Produkte autobiographischen Schreibens als authentisch und erfolgreich hing also langzeithistorisch davon ab, dass literarische Konventionen der einstigen Metropole und aus dem einstigen kolonialen Herrschaftskontext angeeignet wurden. Aufgrund der langen Verflechtungsgeschichte ging dies, wie es scheint, völlig auf Kosten von Elementen lokaler Erzähltraditionen. Dennoch sollen – zu Vermarktungs- und Anerkennungszwecken – diese literarischen Produkte sich gleichzeitig durch ein besonderes Lokalkolorit auszeichnen, das sich aus der Herkunft der Autoren ergibt. Insofern sind Autoren hier zur Mehrfachverortung gezwungen, die nach wie vor aus der Hierarchie ihrer kulturellen Zugehörigkeiten resultiert. Im krassen Gegensatz dazu stehen die Selbstzeugnisse, die kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten in europäischen Gesellschaften, hier in Deutschland und den Niederlanden, 8
ANN LAURA STOLER/FREDERICK COOPER, Between Metropole and Colony: Rethinking a Research Agenda, in: Tensions of Empire: Colonial Cultures in a Bourgeois World. Hg. DIES./DERS. Berkeley 1997 S. 1-56.
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im Kontext religiöser Konversionen thematisieren, und deren Verfasser und Verfasserinnen ihrerseits um Verortung bemüht waren. Jenes Europa, zu dem aufstiegsorientierte Protagonisten in Lateinamerika sich positionieren mussten und das die dortigen Verfasser von Selbstzeugnissen so lange und relevant band, wird in der Selbstzeugnistradition, wie sie für Europa aufgegriffen wird, überhaupt nicht sichtbar. Hier reichte für einen Zugehörigkeitserwerb zu einer universalen Religion eine rein lokale Verortung aus; die Selbstzeugnisse funktionieren sogar unter Ausblendung jeglicher Sphäre jenseits einer innerweltlich auf Religion und Selbst bezogenen Welt. Hier würde eine Einbettung der Konversionsberichte in die breitere Landschaft von Selbstzeugnissen, wie für den kolonialen Kontext vorgenommen, unter Umständen die von den Konvertierenden angelegte verengende Perspektive sprengen und weitere Bruchstellen dieser Variante von Selbstzeugnissen analysierbar machen. Andere Strategien im Umgang mit kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten lassen sich in den Texten erkennen, die sich mit dem kulturell äußerst heterogenen Raum des Osmanischen Reiches befassen und hier akteurs- und akteursgruppenspezifisch die Positionierung zu Dingen und Ideen eruieren, die aus Europa kamen. In beiden Texten wird im Sinne Frederick Coopers deutlich, dass Globalisierung, soweit darunter das Zirkulieren von Ideen, Waren, Menschen, Symbolen und Kapital im 19. Jahrhundert gefasst ist, das Lokale rekonfiguriert.9 Mit Peter Geschiere ließe sich hinzufügen, dass in dieser Transformationsdynamik Politiken und Symboliken der In- und Exklusion vor Ort neu formuliert oder angepasst wurden.10 In der Welt des Sufi dominierten zwar solche Dichotomien wie Tradition und Moderne oder Ost und West weniger deutlich, werden in der Interpretation aber als gegeben vorausgesetzt. Deutlich kreiste hier das Fremde das als Eigen Betrachtete und das sich als Eigen Rekonfigurierende ein und verengte dessen Spielraum. Der Sufi nutzte die Eisenbahn und Telekommunikation, wusste sie aber dennoch auf Abstand zu halten, denn sie bedrohten sein Eigen-Verständnis nicht. Bei den Geselligkeitsfeiern in der Straße war das bereits anders. Sie bedrängten ihn stärker, so dass er sich ihnen gegenüber skeptischer äußerte. Nicht zuletzt berührte diese Form des Feierns auch Fragen der Geschlechterordnung sowie der inneren und äußeren Werte einer Kultur. Definitiv wurde das Unbehagen, als ihm die Ehefrau gewissermaßen mit einem Hemd auf den Leib rückte und damit etwas „Fremdes“, von außen Erworbenes mit dem existentiellen Kern des Sufi in Berührung brachte. Während zwischen dem Mann und seiner Frau das Dilemma nicht gelöst werden konnte, schuf die Definitionshoheit des Cheikhs Klarheit in der Situation. In diesem Fallbeispiel ermöglicht es der sufische Islam, den Dichotomien zwischen „Alt“ und „Neu“ auszuweichen, auch wenn das Grundproblem nicht ausgeschaltet wird. Frappierend ähnlich positionierte sich um 1873 ein Inder, der eine auf persönlicher Erfahrung basierende historische Betrachtung zu „Früher und Jetzt“ verfasste. Partha Chatterjee, der dieses Werk bespricht, zitiert fast parallele Stellen, die ebenfalls eine regelrechte „Einkreisung“ des gelehrten indischen Subjektes bezeichneten. In jener historischen Schrift wird der Wandel bedauert, in dessen Folge Festlichkeiten von einst religiöser Echtheit und Tiefe zu Geselligkeiten mit bloßem Pomp und äußerlicher Fröhlich9
FREDERICK COOPER, What is the Concept of Globalization Good For? An African Historian's Perspective, in: African Affairs 100. 2001 S. 189-213, hier 193. 10 GESCHIERE, Belonging (wie Anm. 1).
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keit verflachen. Eine Nuance bedrängender wird in der Beschreibung das „Jetzt“, wenn der indische Autor die Auswirkungen des Wandels auf den von kolonialer Unterwerfung bedrohten Körper beschreibt. Nicht die Kleidung, sondern eine neue, weit verbreitete physische Schwäche wird thematisiert, die sich in einer vorher nicht bekannten Kränklichkeit und der kürzeren Lebensdauer indischer Männer ausdrückte. 11 Die indischen Männer, kolonial dominiert, steckten dieser Auffassung nach tief in diesem Dilemma und „schwächelten“, während der Sufi, gemeinsam mit seinem Cheikh, zumindest individuell und für den Moment aus der bedrängenden Situation heraustreten konnte. Der Dragoman hingegen entfloh der Konfrontation nach Paris, indem er auf ein Netzwerk kulturell Mehrfachzugehöriger zurückgriff. Geographisch-regional versetzte er sich damit an einen Punkt außerhalb des unmittelbaren Konfliktfeldes, um sich gegen die politischen und mentalen Neuerungen zu positionieren. Seine Verortung im Denken des ancien régime nahm dieser Mann, dessen nationale Zugehörigkeit alles andere als eindeutig war, unter – vielleicht verstärkter? – Rückbindung an ästhetische Traditionen und Literaturstile vor. Eine ethnische Positionierung, wie sie in Bezug auf das Phänomen der Definition nationaler Einheiten auch denkbar gewesen wäre, umging er offenbar. Peter Geschiere, jener Analyst gegenwartsbezogener Verortungsnotwendigkeit im Lokalen, führt aus, dass Vorstellungsweisen von Dazugehörigkeit strategisch eingesetzt werden. 12 Für die Dragomanen nimmt Miltos Pechlivanos dies ganz explizit in Anspruch, indem er von Selbstinszenierungen spricht, die mit politischen Agenden verbunden waren. In den Beiträgen Gesine Carls und Richard Wittmanns wird eine solche Strategie weniger sichtbar. Anders wiederum liest sich das Handeln der Akteure bei Ulrich Mücke, in dessen Beitrag Vorstellungsweisen von Dazugehörigkeit sowohl von den autobiographisch Schreibenden wie von den ihnen Privileg und Respekt gewährenden Institutionen strategisch eingesetzt wurde. Dass kulturelle Mehrfachzugehörigkeit und erfolgreiche Verortung aber nicht immer eindeutig mit politischen Strategien einhergehen müssen, wird mit Blick auf die Gesamtheit der Beiträge deutlich. Man muss diesen Aspekt also auch nicht überbetonen bzw. die Politiken und Strategien der Verortung bei kultureller Mehrfachzugehörigkeit historisch noch einmal genauer in den Blick nehmen. Dieser Impuls, Geschiere kritisch zu hinterfragen, geht von den Beiträgen zu dieser Sektion definitiv aus. Ganz kurz soll zum Abschluss dieses Kommentars darüber reflektiert werden, dass der Komplex kultureller Mehrfachzugehörigkeiten und ihrer Abbildung in Selbstzeugnissen uns hier als ein Thema sozial Privilegierter und überwiegend im Blickwinkel von Männern als Handelnden entgegentritt. Im Hintergrund der Texte tauchen aber auch Bezugspersonen der Schreibenden auf, die von kultureller Mehrfachzugehörigkeit ebenso betroffen waren, ohne allerdings Selbstzeugnisse zu hinterlassen. Miltos Pechlivanos bezieht sich auf den Knecht des Dragomanen, der über keine Möglichkeit verfügte, sich über ein Netzwerk in Bezug auf die kulturelle Mehrfachzugehörigkeit seines Herrn zu positionieren. Statt dessen wählte er sein eigenes Instrumentarium, indem er zu seiner Selbstbehauptung seine Konversion zur Religion der Osmanen, dem Islam, ankündigte. Damit begab er sich in ein Feld, in dem er zumindest einen Teil solcher Definitionshoheit für sich beanspruchen konnte, gegenüber der sein Herr nichts auszurichten ver11 PARTHA CHATTERJEE, Our Modernity. Rotterdam usw. 1997 S. 4. 12 GESCHIERE, Belonging (wie Anm. 1) S. 26-31.
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Kirsten Rüther
mochte. Darüber, wie die Konversion von der ihn aufnehmenden Gesellschaft bzw. Gemeinschaft wahrgenommen wurde oder wahrgenommen worden wäre, lässt sich nur spekulieren. Auch seine genaue Strategie bleibt in der Darstellung des Selbstzeugnisses seines Herrn zu schemenhaft, als dass sie sich detailliert interpretieren ließe. Der Knecht könnte die Absicht verfolgt haben, sich national zuzuordnen, oder aber auch ein Gegengewicht zu seinem Herrn auszuhandeln. Auch der Knecht verfügte im übrigen über kulturelle Repertoires, die er zu seinem Vorteil einsetzen konnte. Ebenso veranlasst das Verhalten der Ehefrau des Sufi zum Nachdenken. Vorausgesetzt, dass sie ihren Ehemann nicht mutwillig in einen Konflikt stürzen wollte, bleibt zunächst einmal festzustellen, dass sie die Bezugsmomente ihres Mannes anders einschätzte als dieser. Auch ist davon auszugehen, dass ihre Bezugsgemeinschaft geschlechtsspezifisch eine durchaus andere war als die ihres Mannes und sie mit der Übergabe des französischen Hemdes an ihn nicht demselben Konflikt wie er ausgesetzt war bzw. auf andere Regelungs- und Lösungsmechanismen als ihr Mann hätte zurückgreifen können. Trotzdem bleiben die Hinweise auf ihren Umgang mit kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten für eine systematische Interpretation zu kursorisch, sie weisen aber – wie im Falle des Knechtes – darauf hin, dass der Umgang mit kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten eingebunden war in die Handlungsstrategien anderer, den Schreibenden nahe stehender Akteure, und auch als Reflektion auf deren Strategien gedeutet werden sollte.
Schlussbemerkung Selbstzeugnisse legen viele verschiedene und historisch spezifische Dimensionen des Umgangs mit kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten offen. In ihnen wird der akteurs- und akteursgruppenspezifische Umgang mit Kontexten wie „der Moderne“, „dem Nationalstaat“, „Europa“ oder einer „anderen Religion“ sichtbar und greifbar. In einem nachfolgenden Schritt ließen sich deshalb auf Basis der Forschungsergebnisse der hier zusammengestellten Beiträge die Konzeptualisierungen der „großen Kontexte“ kritisch hinterfragen. Solchen Projekten kann man nur freudig entgegen sehen.
ANDREAS BÄHR/PETER BURSCHEL/CHRISTINE VOGEL
Einführung: Differenzmarkierungen
Dass das Fremde kein essentieller, sondern ein relationaler Begriff ist, gilt in der Fremdheitsforschung längst als Binsenweisheit. Dasselbe trifft damit auch auf die Kategorie des Selbst zu: Selbstbilder und Fremdbilder, Beschreibungen des Eigenen und des Anderen, sind untrennbar miteinander verbunden und konstituieren sich in je wechselseitiger Bezugnahme aufeinander. Insofern ist die Thematik auch für die Selbstzeugnisforschung relevant, zumal wenn diese in „transkultureller“ Perspektive arbeiten und überkommene Konzepte von Individualität, Identität und Subjektivität hinterfragen will. Der Begriff der Differenzmarkierung erlaubt es, die historischen Unterscheidungen von Eigenem und Fremdem, die den Prozessen der Selbstkonstituierung zugrunde liegen, zu untersuchen, ohne auf die analytisch und vor allem historisch problematische Kategorie der Identität zurückzugreifen. Er könnte somit geeignet sein, die mit diesen Prozessen jeweils verbundenen und häufig getrennt behandelten Fragestellungen zu integrieren. Als bislang wenig reflektiertes Analyseinstrument soll er deshalb im Zentrum dieser Sektion stehen. Ziel ist es dabei, seinen möglichen Erkenntniswert für die Selbstzeugnisforschung anhand verschiedener Fallbeispiele auszuloten. Dabei wird danach gefragt, auf welche Weise Differenz in den untersuchten Selbstzeugnissen artikuliert wird, in welchen Bereichen sie beschrieben wird (Geschlecht, Religion, Sprache) und in welchen situativen Kontexten dies geschieht. Die Wahl des Begriffs der Differenz-„Markierung“ ist zudem der Überzeugung geschuldet, dass er dichotomische Beschreibungsmodelle konsequenter zu hinterfragen erlaubt als das mit vielschichtigen Problemen behaftete Konzept der Differenz-„Erfahrung“.
ANDREAS BÄHR
„Flucht und Zueflucht“ „Türkenfurcht“ im Tagebuch Balthasar Kleinschroths (1686)
Heiligenkreuz 1683 Drei Jahre nach der Belagerung Wiens durch die Truppen des Großwesirs Kara Mustafa Pascha erfüllte Balthasar Kleinschroth, Präfekt der Sängerknabenschule des Zisterzienserklosters Heiligenkreuz im Wienerwald, ein ungewöhnliches Gelübde: Er schrieb ein Tagebuch. Der nicht zur Veröffentlichung bestimmte Text umfasst etwa 320 Blatt und trägt den barocken Titel: „Flucht und Zuefluchts Eigentliche und Wahrhaffte beschreibung, welche sich zuegetragen in der Türckhischen und Tarterischen Landesverwiestung in Österreich Anno 1683, als ich mit 12 Knaben von den alten und berüehmbten Closter Heiligen Creuz durch den ankhomenten feind vertriben entfliehen musste. So ich Zuesamen getragen vnd verfertigt Anno 1686 den 5. Marti vnd mit schuldigster Danckhsagung, vermög meines gethanen Gelüebds zue Alten Ötting den 4. Septembris Anno 1686 abgelegt.“1
Das Diarium, das in der jüngeren Forschung bisher kaum beachtet worden ist2, erzählt von der Furcht und Flucht vor „Türken und Tataren“: von Kleinschroths eigener 1
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Für Hinweise und Anregungen danke ich Peter Hersche (Bern), Yigit Topkaya (Basel) und den Herausgeber/innen. Stiftsarchiv Heiligenkreuz, Rubr. 3/Fasc. V. Etwa zwei Drittel des Textes sind ediert als BALTHASAR KLEINSCHROTH, Flucht und Zuflucht. Das Tagebuch des Priesters Balthasar Kleinschroth aus dem Türkenjahr 1683. Hg. P. HERMANN WATZL S. O. CIST. Graz usw. 21983. Die fehlenden Teile – die Vorrede (Bl. 2r-4v), der Bericht über Kleinschroths Erkrankung in Kremsmünster (Bl. 204r-215v) sowie ein umfangreicher Abschnitt, in dem Kleinschroth neben seiner Reise von Wien nach Hall in Tirol die tödliche Erkrankung des Chorknaben Anton Liedtmayr beschreibt (Bl. 249v-319v) – liegen als von Watzl angefertigte Transkription im Klosterarchiv vor. Mein Dank gilt Stiftsarchivar P. Dr. Alberich Strommer, der mir das Typoskript zur Verfügung gestellt hat. Offensichtliche Fehler in Watzls Transkription habe ich anhand der überlieferten Handschrift korrigiert. Ungenauigkeiten und Inkonsistenzen weist das Typoskript insbesondere bei Groß- und Kleinschreibung auf. Da diese jedoch aus praktischen Gründen bisher nicht vollständig überprüft werden konnte und die Handschrift zudem eine zweifelsfreie Entscheidung vielfach nicht erlaubt, wurde die Groß- und Kleinschreibung für den vorliegenden Aufsatz modernisiert – im Gegensatz zur publizierten Edition, in der Watzl, von Satzanfängen und Namen abgesehen, durchgängig Kleinschreibung gewählt hat. Der Kurztitel „Tagebuch“ zitiert im Folgenden die Edition, das Kürzel „Flucht und Zueflucht“ das Manuskript. Auszüge des Tagebuchs sind abgedruckt in WALTER STURMINGER, Die Türken vor Wien in Augenzeugenberichten. München 1983. Ausnahmen sind: MARTIN SCHEUTZ/KURT SCHMUTZER, Schwirige baurn – pfaffen – Jesuviter. Die „Große Angst“ 1683 in Niederösterreich am Beispiel des Fluchtberichtes von Balthasar Kleinschroth (geb. 1651), in: Unsere Heimat. Zeitschrift für Landeskunde von Niederösterreich 68. 1997 S. 306-335; HARALD TERSCH, Erfahrung und Autorität. Bildungsgänge im Fluchtbericht des
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Andreas Bähr
Furcht, von der seiner zwölf Chorjungen3 und von der Furcht all jener, die der kleinen Gruppe auf ihrer wochenlangen Flucht begegnen – und die ihrerseits von Furcht und Flucht erzählen, von ihrer eigenen und von der der anderen. Balthasar Kleinschroth, kurz gesagt, berichtet von Furcht und Flucht und darüber hinaus von Furcht- und Flucht-Berichten. Unter diesen erzählten Erzählungen sticht die eines Mannes aus Gaaden hervor, eines „Heiligen Creuzerische[n] undterthan[s]“, „dessen sohn deß herrn praelaten gutscher“ gewesen sei. Kleinschroth begegnete ihm, als er sich zusammen mit dem Chorknaben Caspar Liedtmayr am 30. Oktober 1683 auf dem Weg nach Altenmark befand und all die Orte „betrachtete“, „wo wir in der flucht einmahlß in gfahr waren“ – es „schaurete“ ihm, wie er bemerkt, „noch offt die hauth darüber.“ Der „guete bauersman“ entwirft ein weiteres Mal das Panorama der Grausamkeit und die Topologie des Diabolischen, wie sie seit der Eroberung Konstantinopels in der christlichen Erinnerung an „Türken und Tataren“ verankert sind; und er nimmt dabei eine signifikante Differenzierung vor. Grausam, seiner Beobachtung nach, sind nicht primär die „Türken“; die sind es zwar auch, doch noch viel grausamer sind die „Tataren“. Unter ihnen, so berichtet der Bauer, hatten vor allem die Kinder zu leiden. Sie wurden „theilß zerhackhet, theilß ertrosslet und theilß ertränckhet“. Der Erzähler, dem Vernehmen nach, hatte es selbst gesehen. Als ein „knäblein bey 5 oder 6 jahren“, den sie in die Leitha geworfen hatten, ihn anfleht, er „sollte ihm gar herauß helffen, dan es vor forcht zitterte und daß maul aufrisse mit kläglichen schreyen“, und als er es fassen will, hätten ihn „dise unmenschliche menschen darvon geschlagen“. Das Kind wird zurückgestoßen ins Wasser, es schreit weiter um Hilfe und wehrt sich, machtlos gegen die Strömungen des Flusses, und ertrinkt. Dem Erzähler zerspringt das Herz fast im Leibe, aber „dise recht teufflische leuth [hatten] ein freud an einer solchen der natur selbsten wider strebenten mordthat.“ Nicht weniger schlimm erging es den Frauen. „Wie sie mit denen weibsbildern verfahren“, so der Bauer, „kan kein christliches und ehrliches ohr anhören, deren sie weder schwachen, noch minderjährigen, noch schwangeren, noch kranckhen, noch halb totten, ja so gar der totten selbsten nit verschonet, ihren viechischen willen gnueg zuthuen“. 4 Derartige Gräuel können und müssen auf allen Seiten des Krieges unterstellt werden; hier soll die Frage sein, wie von ihnen die Rede ist. Die Beschreibung des Bauern, authentifiziert durch die Behauptung eigener Anschauung, ruft ein weiteres Mal das Diabolische der Täter in Erinnerung; sie delegitimiert die verübte Gewalt über die Zumessung von
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niederösterreichischen Sängerknaben, Kapellmeisters und Schulmeisters Balthasar Kleinschroth, in: Vormoderne Bildungsgänge. Selbst- und Fremdbeschreibungen in der Frühen Neuzeit. Hg. JULIANE JACOBI/JEAN-LUC LE CAM/HANS-ULRICH MUSOLFF. Köln usw. 2010 S. 189-205; BRITTA ECHLE, Magisches Denken in Krisensituationen, in: Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Hg. HARTMUT LEHMANN/ANNE-CHARLOTT TREPP. Göttingen 1999 S. 189201, hier 193 f., 198 f.; lokalgeschichtlich: KARL GUTKAS (Hg.), Niederösterreich im Türkenjahr 1683. St. Pölten 1983; DERS., Das Jahr 1683 in Niederösterreich, in: Die Türken in Wien. Europa und die Entscheidung an der Donau 1683. Hg. ROBERT WAISSENBERGER. Salzburg 1982 S. 151-161. Zu den Heiligenkreuzer Sängerknaben und ihrer Ausbildung siehe TERSCH, Erfahrung und Autorität (wie Anm. 2), insbes. S. 192-201. Sämtliche Zitate dieses Absatzes sind entnommen aus KLEINSCHROTH, Tagebuch (wie Anm. 1) S. 196-199.
„Flucht und Zueflucht“
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Grausamkeit und bringt darüber hinaus eine Widernatürlichkeit des violenten Treibens ins Spiel.5 Kleinschroths Gewährsmann hegt keinen Zweifel: Diese Menschen sind keine Menschen; sie sind, wahrlich, der Antichrist. In dieser Passage nun, wie gesagt, spricht der Erzähler von „Tataren“ und nicht von den „Türken“. Und so meint er auch zu wissen, dass jene Frauen, die vergewaltigt und missbraucht worden waren, „sich nit gnueg zuerfreuen wüsten, wan sie denen Türckhnen seint verkaufft worden.“ Was andere Christinnen (und Christen) in größte Furcht versetzte, schien diesen Frauen die Rettung zu bringen: Sklaverei und Gefangenschaft, die in den Augen vieler verbunden waren nicht allein mit Gewalt am Körper, sondern auch an der Seele: mit Zwangskonversion.6 Dies bedurfte einer Erklärung: Obwohl auch die Türken, so der Bauer, „grausambe barbern seint, so gehen sie doch nit so unmenschlich umb mit denen weibsbildern. Die Türckhen halten all ihr sachen ordentlich in betten [beten] und andern glaubensbräuchen, die Tartern aber […] hab ich selten waß betten gesehen oder an ihnen ein glaubenszeichen verspüret. Bisweilen hat ein ihriger pfaff in einen winckhl einer zeldt sizent und die ohren zuehaltent ein abscheuliches geschrey gehabt, wanß gedonnert hat, seint sie wohl forchtsamb und andächtich herumb gangen, sonsten haben sie kein einziges zeichen einer verehrung Gottes oder der ehrbarkheith sehen lasßen.“7 Dreierlei springt hier ins Auge. Zum Ersten: Die „Türken“ werden zwar als „grausame Barbaren“ dargestellt, aber es gibt von ihnen offenbar auch Positives zu berichten: Sie gehorchen – immerhin – den Gesetzen ihrer Religion. Diese partielle Wertschätzung ist so alt wie die „Erbfeind“-Rhetorik, die sie zu hintertreiben scheint. Kleinschroths Erzählung beweist einmal mehr: Die Betonung der religiösen Vorbildlichkeit der „Türken“ ist komplementärer Bestandteil des verschärften christlichen Feindbildes, wie es seit der Reformation bis ins späte 17. Jahrhundert hinein publizistisch verbreitet wurde, und stellt es keineswegs in Frage. Sie dient einer rhetorischen Effektivierung der Kritik an den Sündern in den eigenen Reihen und darüber hinaus am Antichrist auf der jeweils anderen konfessionellen Seite.8 Zum Zweiten ist eine Ausdifferenzierung des „Erbfeinds christ5
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Zur zeitgenössischen Unterscheidung von gerechter und grausamer Gewalt siehe MICHAELA HOHKAMP, Grausamkeit blutet – Gerechtigkeit zwackt: Überlegungen zu Grenzziehungen legitimer und nicht-legitimer Gewalt, in: Streitkulturen. Studien zu Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.-19. Jahrhundert). Hg. MAGNUS ERIKSSON/BARBARA KRUGRICHTER. Köln usw. 2003 S. 59-79. Für die Definition von Grausamkeit über die Freude an der Gewalt sowie über ihre Widernatürlichkeit siehe Art. „Grausamkeit“, in: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. Hg. JOHANN HEINRICH ZEDLER. Halle usw. 1732-1754 Bd. 11, Sp. 747-753, hier 748-750, zu den „barbarischen Völckern, […] dem Geschlechte derer Muselmänner“: Sp. 749. Vgl. dazu KLEINSCHROTH, Tagebuch (wie Anm. 1) S. 212. Ebd. S. 196 f.; vgl. auch S. 201 f. Siehe dazu THOMAS KAUFMANN, „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation. Göttingen 2008 Kap. 2, 5 und 6; auch MARTIN WREDE, Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg. Mainz 2004 S. 210-216; KARL VOCELKA, Geschichte der Neuzeit, 1500-1918. Wien usw. 2010 S. 314-316, 415 f. Zunächst weniger sichtbar ist das Feindbild in vielen Reisebeschreibungen der Zeit, in denen früher als in der Publizistik der Islam nicht mehr als „Sekte“ oder als „Gesetz“, sondern als „Religion“ aufgefasst wurde. Doch auch als Religion blieb der islamische Glaube ein falscher: Diese Texte stellen das tradierte
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lichen Namens“ festzustellen. „Türken und Tataren“ treten zueinander quasi in Grausamkeitskonkurrenz. Die „unbeschreibliche“ Gewaltsamkeit der Tataren erscheint hier dem Umstand geschuldet, dass diese – im Gegensatz zu den Türken – nicht einmal „beten“ oder andere „glaubensbräuche“ praktizieren. Damit gerät, zum Dritten, nach der Furcht vor den Tataren eine den Tataren selbst eigene Furcht in den Blick. Ihre Furcht vor Blitz und Donner, wie Kleinschroths Zeuge sie beschreibt, gilt zwar einem Gott, doch wird sie in jeder Hinsicht als religiös defizitär vorgestellt. Ihre Beschreibung folgt genuin christlichen Vorgaben. Die theologische Tradition hielt für eine derartige Furcht den Begriff des „Knechtischen“ bereit. Die Furcht der Tataren im Gewitter, so suggeriert der Text, ist ein timor servilis: die Furcht von Sklaven. Seit Augustinus, über Thomas von Aquin und bis in die frühe Aufklärung hinein wurde ihr eine rechte Furcht entgegen gestellt, die „kindliche“ und „reine“ Gottesfurcht: lateinisch timor castus oder filialis.9 Im 17. Jahrhundert findet sich diese Unterscheidung bei Theologen aller Konfessionen. Wenn sie stritten, dann allein über die Frage, ob der knechtischen Furcht auch eine positive Funktion zugesprochen werden konnte: ob man durch sie zur kindlichen gelangte. Hatte Luthers Rechtfertigungstheologie dies noch ausdrücklich verneint (um es praktisch dann doch vorauszusetzen), sahen sich bereits seine geistigen Erben zu subtilen Konzessionen an die katholische Seite gezwungen. Einschlägig ist vor allem die Kontroverse zwischen dem Jesuiten Roberto Bellarmino und dem orthodoxen Lutheraner Johann Gerhard. Sie entspann sich über der Frage nach dem Verhältnis von Gnade und Willensfreiheit und sie zeigt: Protestanten wie Katholiken verurteilten die knechtische Furcht, auf die eine oder andere Weise, und beide kamen ohne sie nicht aus.10 Feindbild ebenso wenig grundlegend zur Disposition, sondern setzen es vielmehr voraus; der „ethnographische“ „Wille zum Wissen“ zielte stets auch auf die Befähigung zur Bekämpfung des Gegners: ALMUT HÖFERT, Den Feind beschreiben. „Türkengefahr“ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450-1600. Frankfurt a. M. 2003; kurz gefasst in: DIES., Das Gesetz des Teufels und Europas Spiegel. Das christlich-westeuropäische Islambild im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, in: Orient- und IslamBilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus. Hg. IMAN ATTIA. Berlin 2007 S. 85-110, hier 101-105. Für Quellen aus dem 17. Jahrhundert siehe unten Anm. 57. Vgl. außerdem Anm. 56. 9 AURELIUS AUGUSTINUS, Vorträge über das Evangelium des hl. Johannes. Übers. und mit einer Einl. versehen v. THOMAS SPECHT. Bd. 2. München 1913 Vortrag 43, S. 224-236, hier 227 f.; THOMAS VON AQUIN, Summa Theologica. Übers. v. Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs. Hg. Albertus-Magnus-Akademie Walberberg bei Köln. Heidelberg usw. 1933-1961 Bd. 10, I-II, qu. 42,1 und 3, Bd. 11, I-II, qu. 67,4, Bd. 13, I-II, qu. 92,2, Bd. 15, II-II, qu. 7,1; Art. „Gottes=Furcht“, in: Universal Lexicon. Hg. ZEDLER (wie Anm. 5) Bd. 11, Sp. 392–394. Im Einzelnen dazu ANDREAS BÄHR, Vom Nutzen der Paradoxie für die Kulturhistorie. Furchtlose Furcht in frühneuzeitlichen Selbstbeschreibungen, in: Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen. Hg. FRANZ X. EDER. Wiesbaden 2006 S. 305-321; DERS., Gottes Wort, Gottes Macht und Gottes Furcht. Gewaltdrohung und Sprache im 17. Jahrhundert, in: Blutige Worte. Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. JUTTA EMING/CLAUDIA JARZEBOWSKI. Göttingen 2008 S. 213-232, hier 217 f. 10 ROBERTO BELLARMINO SJ, Controversiarum de poenitentia liber secundus. Qui est de contritione, in: Opera omnia. 12 Bde. Hg. JUSTIN FÈVRE. Paris 1870-1874 Bd. 4, S. 499-551, hier 544-551; JOHANN GERHARD, De iustificatione per fidem, in: Loci theologici cum pro adstruenda veritate tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate per theses nervose solide et copiose explicati. Hg. EDUARD PREUSS. Bd. 3-4. Berlin 1865-1866, hier Bd. 3, Kap. 16, S. 366, 453-455; De poeniten-
„Flucht und Zueflucht“
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Theologische Feinheiten trieben Kleinschroth nicht um, und an den Türken und Tataren störte den jesuitisch geprägten Zisterzienser11 kein Missverhältnis von „äußerem“ Glaubensbrauch und einer „inneren“ Aufrichtigkeit des Herzens. Die theologische Begriffsunterscheidung an sich jedoch ist für sein Diarium zentral – auch wenn er sie nicht ausdrücklich verwendet. Ich werde seine Fluchtbeschreibung somit nicht allein nach dem „Türken“-Bild befragen, das sie entwirft, sondern darüber hinaus nach der differenzierten historisch-kulturellen Semantik der „Furcht“, die ihr zugrunde liegt, sowie nach deren Funktionen im autobiographischen Text. Um es gleich zu Beginn auf den Punkt zu bringen: Kleinschroths Tagebuch präsentiert sich als Überlebensbericht. Mit der Flucht, dies sagt schon sein Titel, beschreibt es die „Zueflucht“, mit der Furcht (und all ihren Folgen) deren Überwindung. Der Sängerpräfekt erzählt von „Türken und Tataren“, die in Furcht versetzen, weil sie keine rechte Gottesfurcht haben, sondern selbst gefangen sind in knechtischer Furcht; und er erinnert an die Furcht vor ihnen, um die eigene Furchtlosigkeit zu erweisen: die Befreiung aus der Furcht durch seine kindliche Furcht vor dem Herrn. Die folgenden Überlegungen fokussieren das Diarium Balthasar Kleinschroths, weil es als die maßgebliche autobiographische Beschreibung von Furcht und Angst in der Zeit der späten Türkenkriege gelten kann.12 Untersucht wird, von welcher Furcht der Verfasser erzählt (Abschnitt 2) und warum er es tut: wie diese Erzählungen die Selbstbetia (Loci theologici 3.15) S. 222, 231 f., 245, 252; De lege Dei (Loci theologici 3.12) S. 108; De bonis operibus (Loci theologici 4.12) S. 108. Siehe darüber hinaus die Paradoxierung des Problems beim jansenistischen Mathematiker und Philosophen BLAISE PASCAL, Pensées. Hg. PHILIPPE SELLIER. Paris 1991 Nr. 645, dt.: Gedanken über die Religion und einige andere Themen. Hg. JEAN-ROBERT ARMOGATHE. Stuttgart 2002 Nr. 785/776 (S. 416). – Für eine existenztheologisch und -philosophisch sowie psychologisch orientierte Interpretation von Luthers Auffassungen zur Furcht vgl. THORSTEN DIETZ, Der Begriff der Furcht bei Luther. Tübingen 2009. 11 Kleinschroth hatte in Wien die jesuitische Lateinschule besucht, er hatte an der Wiener Universität studiert, die sich seit Beginn des Jahrhunderts in den Händen der Jesuiten befand, und er zeigte sich auch als Lehrer von den Grundsätzen der Societas Jesu beeinflusst. Beigetreten ist er dem Orden jedoch nie: HERMANN WATZL, Zur Biographie des Verfassers, in: KLEINSCHROTH, Tagebuch (wie Anm. 1) S. 11-14; TERSCH, Erfahrung und Autorität (wie Anm. 2) S. 199-204. 12 Zentral für den Beginn des Jahrhunderts ist v.a. der Reisebericht von MICHAEL HEBERER VON BRETTEN, Ægyptiaca Servitvs: Das ist / Warhafte Beschreibung einer Dreyjährigen Dienstbarkeit / So zu Alexandrien in Egypten jhren Anfang / vnd zu Constantinopel jhr Endschafft genommen. Heidelberg [1610]. ND: Aegyptiaca Servitus. Mit einer Einleitung v. KARL TEPLY. Graz 1967, zur Rettung aus Furcht, Angst und Gefahr: S. 2 f., 56, 63 f., 85 f., 90-94, 100, 306, 333 f. Zu Gewaltbeschreibungen bei Heberer vgl. CLAUDIA ULBRICH, „Hat man also bald ein solches Blutbad, Würgen und Wüten in der Stadt gehört und gesehen, daß mich solches jammert wider zu gedenken.“ Religion und Gewalt in Michael Heberer von Brettens „Aegyptiaca Servitus“ (1610), in: Religion und Gewalt. Konflikte, Rituale, Deutungen (1500-1800). Hg. KASPAR VON GREYERZ/KIM SIEBENHÜNER. Göttingen 2006 S. 85-108, zu Heberers ambivalenter Bewertung der „Türken“: S. 102-108. – Im Bericht des Herzogenburger Chorherrn Gregor Nast, auch wenn er von dem gleichen Ereigniszusammenhang erzählt wie Kleinschroth, sind Furcht und Angst schon nicht mehr dominant. Der Text wurde erst um 1724/25 verfasst, im Wissen um die endgültige Überwindung der Gefahr. Er ist ediert in MARTIN SCHEUTZ, Schwarze Raben auf den Feldern. Kriegserfahrung und Profilierungschance. Der Herzogenburger Chorherr Gregor Nast (1653-1728), sein Selbstzeugnis über das Jahr 1683 und der „Erbfeind“, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 117/1-2. 2009 S. 74-131. Auch Nast jedoch hatte die Furcht nicht vergessen: S. 113, 118, 121, 124-129.
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schreibung strukturieren (Abschnitt 3) und welche Markierungen von Differenz sie enthalten (Abschnitt 4).
Erzählungen von Furcht und Flucht Bevor die Beschreibung der „Türkenfurcht“ in Kleinschroths Fluchtbericht analysiert wird, seien einige Rahmendaten des berichteten Geschehens genannt. Der Verfasser floh im Laufe des Juli 1683 zweimal aus dem Stift Heiligenkreuz. Als Anfang des Monats die ersten Nachrichten vom Nahen der türkischen und tatarischen Streifscharen im Kloster eintrafen, führte er seine Chorknaben zunächst in das nahe gelegene Tochterkloster Lilienfeld. Unter Missachtung der Anweisung des bereits geflohenen Abtes Klemens Schäffer, den der Sängerpräfekt in Säusenstein an der Donau wiedergetroffen hatte, begab er sich anschließend noch einmal zurück nach Heiligenkreuz, um auch diejenigen Ordensbrüder zur Flucht zu bewegen, die sich entschlossen zeigten, die Abtei gegen die anrückenden Truppen zu verteidigen. Angesichts ihres zähen Widerstands gegen Kleinschroths Ersuchen verließ der Zug der Flüchtigen erst wenige Stunden vor dem Einfall der Türken das Stift. Als auch sie in Lilienfeld angekommen waren, zog Kleinschroth mit seinen Chorknaben weiter nach Westen durch die niederösterreichischen Eisenwurzen13 und brachte die Jungen schließlich in Klöstern in Kremsmünster und Linz in Sicherheit. Nach einem nochmaligen Treffen mit Abt Schäffer in Passau kehrte Kleinschroth Ende August nach Kremsmünster zurück, wo seine „Raiß“ ihr Ende fand.14 In Kleinschroths Diarium nährt sich die Furcht aus der beständigen Nähe türkisch-tatarischer Kriegsgewalt. Doch nicht nur das: Maßgeblich gesteigert wird sie noch dadurch, dass der Gegner dabei stets in der Unsichtbarkeit verbleibt. Kleinschroth, der den Türken immer wieder entkommt, bekommt sie nie zu Gesicht; er hört wieder und wieder von ihnen und weiß doch nie genau, wo sie sich gerade aufhalten. Es ist diese Unsicherheit über den Zeitpunkt und den Ort der Gefahr, die die imaginäre Ausarbeitung des Drohenden gestattet und die Furcht bis zum Äußersten steigert. So konnte auch Kleinschroth bestätigen, was Affektologen und Philosophen wussten: Furcht barg das Potential besonderen affektuellen Leidens; so manche Zeitgenossen beschrieben sie als gewaltsamer als die gefürchtete Gewalt – weil sie künftige Übel als bereits gegenwärtig imaginierte und sie zudem noch mit der Ungewissheit über ihr Eintreten verband.15 13 Die Eisenwurzen ist ein im Dreiländereck von Oberösterreich, Niederösterreich und der Steiermark gelegener Wirtschaftsraum, der im Westen von den Flüssen Krems und Traun begrenzt wird, im Norden von der Donau, im Osten von der Erlauf und im Süden von den Gebirgszügen Hochschwab und Pyhrn sowie den Eisenerzer Alpen. 14 Die Bezeichnung der Flucht als „Reise“ findet sich bei KLEINSCHROTH, Tagebuch (wie Anm. 1) S. 149; Flucht und Zueflucht (wie Anm. 1) Bl. 256r, 258v. – Weiteres zum historischen Hintergrund: SCHEUTZ/SCHMUTZER, Schwirige baurn (wie Anm. 2). 15 Besonders pointiert formuliert wird dies von MICHEL DE MONTAIGNE, Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung v. HANS STILETT. 3 Bde. Frankfurt a. M. 2002 I, 18, S. 120; II, 17, S. 475. Siehe außerdem JOHANN HEINRICH ALSTED, Encyclopædia / Septem tomis distincta, Herborn 1630 (ND hg. von WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN. 4 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989-1990) S. 2369; LAELIUS PEREGRINUS, De noscendis et emendandis animi affectionibvs [1603]. Leipzig 1714 S. 190 f.; JUSTUS GEORG SCHOTTELIUS, Ethica. Die Sittenkunst oder Wollebenskunst. Hg. JÖRG JOCHEN
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Noch brisanter wurde die Lage, wenn falsche Gewissheiten kursierten. Dann entfalteten rumor und fama mala ihre Macht; die waren, wie schon Vergil wusste, ein „monstrum horrendum ingens“16. Das Gerücht vom Nahen des Feindes nährte die Furcht und die Furcht im Gegenzug das Gerücht. Kleinschroths Tagebuch schildert eine Dynamik der Fluchtbewegungen, die sich immer auch einer prekären Nachrichtenlage verdankte und diese ihrerseits verschärfte. Vermittelt über das „Geschrei“, zeitigte Furcht vielfach unnötige Flucht und führte die Flucht des öfteren in grundlose Furcht. Zwar musste Kleinschroth wiederholt beklagen, dass begründete Warnungen missachtet worden seien; wer unnötig üble Kunde brachte, jedoch, dem wurde es nicht minder scharf verwiesen. Die Gefahr zu unterschätzen, da gab es keinen Zweifel, war gefährlich, sie zu überschätzen jedoch auch.17 Dass Furcht und Schrecken in die Flucht trieben, wussten die Ärzte physiologisch zu erklären: aus den Bewegungen der Säfte und Lebensgeister.18 Dieser Mechanismus an sich bot Schutz in der Gefahr. Hatte die Vorstellungskraft jedoch den Bezug zur Wirklichkeit verloren, das heißt: imaginierte sie eine Bedrohung, die gar nicht existierte, dann schuf sie mitunter erst die Gefahr, vor der sie warnte. Dann trieb die Furcht dem Feind in die Arme, den sie zu fliehen suchte. Und dann zeitigte sie, wie es schien, auch im Innern des menschlichen Körpers ungewollte Prozesse. Nicht selten, so berichten zahlreiche Texte, führte sie in lebensgefährliche Krankheiten oder gar unmittelbar zum Tod. Auch in dieser Hinsicht vermochte Furcht das Gefürchtete nicht nur imaginär zu verwirklichen, sondern auch ganz körperlich. Gerade hier entfaltete die Furcht vor Gewalt selbst eine gefährliche Gewalt. Dafür stand freilich ebenfalls eine medizinische Erklärung zur Verfügung; als eine pathologische jedoch besaß sie zudem einen straftheologischen Hintergrund: Mit derartigen Folgen der Furcht sanktionierte Gott das mangelnde Vertrauen auf seinen gnädigen Schutz.19
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BERNS. Bern usw. 1980 (ND der Ausgabe Wolfenbüttel 1669) S. 224; CHRISTOPH LEHMANN, Florilegium Politicum. Politischer Blumen Garten. Faksimiledruck der Auflage von 1639. Hg. WOLFGANG MIEDER. Bern usw. 1986 S. 227, vgl. auch S. 224. Siehe auch unten Anm. 19. VERGIL, Aeneis IV, 173-188, zit. 181. Vgl. dazu DOROTHEE GALL, Monstrum horrendum ingens – Konzeptionen der fama in der griechischen und römischen Literatur, in: Die Kommunikation der Gerüchte. Hg. JÜRGEN BROKOFF/JÜRGEN FOHRMANN/HEDWIG POMPE/BRIGITTE WEINGART, Göttingen 2008 S. 24-43; JÜRGEN BROKOFF, Fama: Gerücht und Form. Einleitung, in: ebd. S. 17-23, hier 17 f.; HANS JOACHIM NEUBAUER, Fama. Eine Geschichte des Gerüchts. Berlin 22009 S. 67 f., zum Verhältnis von Furcht und Gerücht: S. 35-37, 55-57, 73-75, 104, 110, 122. KLEINSCHROTH, Tagebuch (wie Anm. 1) S. 21, 27, 35, 100, 126-128, 131-133, 176; zu falscher Sorglosigkeit: S. 18 f., 21, 25, 28. Siehe etwa CORNELIS BONTEKOE, Tractatus ethico-physicus de animi & corporis passionibus, Earundemque certissimis remediis. Hg. JOHANNES FLENDERUS. Amsterdam 1696 S. 38. Im Einzelnen dazu, mit Literatur: BÄHR, Vom Nutzen der Paradoxie (wie Anm. 9), insbes. S. 305, 309 f.; DERS., Gottes Wort (wie Anm. 9), insbes. S. 216-224. Zur pathogenen Macht der Affekte siehe auch MICHAEL STOLBERG, „Zorn, Wein und Weiber verderben unsere Leiber“. Affekt und Krankheit in der Frühen Neuzeit, in: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. Hg. JOHANN ANSELM STEIGER. Wiesbaden 2005. Bd. 2 S. 1051-1077. Der Hinweis, schädlicher und gewaltsamer als die Pest sei die Furcht vor ihr, findet sich bei JOHANN WILHELM MANNAGETTA, Pest=Ordnung / Oder der gantzen Gemein Nutzlicher Bericht und Gutacht / Von der Eigenschafft und Ursachen / der Pestilentz in Genere, Wie dieselbige zu erkennen / auch mit was Maaß / und Mittlen Jederman derselben vorzukommen / sich dafür bewahren und hütten / oder da sie einen angegriffen / wiederumb könne außgetriben und geheylet werden. Bd. 2. Wien 1681 S. 32-34,
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Was Mediziner, Naturphilosophen und Theologen wiederholt problematisierten, konnte Balthasar Kleinschroth auch an sich selbst beobachten. Unter dem 13. August klagt er über Schmerzen im linken Fuß und eine Verkürzung der Nerven, die ihn zwangen, „mit gnädigster erlaubnuß des herrn praelaten von der taffel hinwegg [zu] gehen“. Kleinschroth wusste nicht, wie ihm war: „Besorgte mich sehr, eß möchte der eingenohmbene schrockhen und meine alte schwachheit, aniezo herauß brechen.“ Wiederholt befürchtet der Schreiber, die Furcht und Angst, die er während der Türkenbelagerung ausgestanden hatte, könnten sich auf seine Gesundheit auswirken: „Vnd eß sieht mirs keiner an, was ich dise Zeit gelitten hab, ich förchte lauter, ich werde noch disen Schrockhen vnd die grossen Sorgen mit der Hauth bezallen müessen.“ Diese Furcht sollte sich zunächst bewahrheiten. Über längere Zeit hatte der Sängerpräfekt mit „attritis“ oder „glidersucht“ zu kämpfen. An medizinischen Therapieversuchen mangelte es nicht, sowohl gegen die Folgen des „eingenohmenen schrockhen[s]“ als auch gegen ihn selbst 20 , doch verfehlten sie die Ursache des Problems. Aussicht auf nachhaltige Besserung, so schien es, eröffnete erst die Bannung der Türkengefahr. Kurz nach dem 12. September 1683 erhielt der Verfasser, wie er berichtet, „die fröhliche zeitung, das vergangenen sonntag die statt Wien seye glickhlich entsezet worden. Die herrn patres ermahneten mich gleich, das ich die belägerung oder vill mehr bethlagerung nach meinen wordten wahrhafftig ausgestanden habe und am sonntag ebenfallß seye ergözlich entsezet worden.“21 Das Wortspiel kann nicht verschleiern, dass der analogische Kurzschluss von der „angstigkeith“ des Bettlägerigen22 und der „Ängstigung“ der belagerten Stadt23 nicht nur als ein sprachlicher vorgestellt wird, sondern auch als ein kausaler. Der
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siehe auch S. 2 und 19 f.; Christian Sigismund Fingers Dissertation „Über den schädlichen Einfluss von Furcht und Schreck bei der Pest“ (Halle 1722). Ein Beitrag zur Geschichte psychosomatischer Konzepte und zur Psychologie der Seuchenbekämpfung. Hg. HULDRYCH M. KOELBING. Aarau usw. 1979 S. 13. Die vorangehenden Zitate sind entnommen aus KLEINSCHROTH, Tagebuch (wie Anm. 1) S. 179-183; Flucht und Zueflucht (wie Anm. 1) Bl. 204r-216v, 281r, 290r. DERS., Tagebuch (wie Anm. 1) S. 182; Flucht und Zueflucht (wie Anm. 1) Bl. 214r. DERS., Tagebuch (wie Anm. 1) S. 182. Die Charakterisierung der Stadt (und nicht nur ihrer Bewohner) als ge- bzw. beängstigt findet sich bei CHRISTOPH FÜRER VON HAIMENDORF, Die bekriegte / und triumphirende Donau in Londen eingeführt und vorgestellt / Als des Kayserlichen Herrn Abgesandtens in Engelland etc. Hrn. Grafen von Thun Excellentz alldorten die Nachricht erhalten / Vber Den Entsatz Der Von TVrCken / VIeL geängstIgten StaDt VVIen. Nürnberg 1683; GEORG CHRISTOPH VON KUNITZ, Diarium Welches Der am Türckischen Hoff / und hernach beym Groß=Vezier in der Wienerischen Belägerung gewester Kayserl. Resident Herr Baron Kunitz eigenhändig beschrieben […]. O. O. 1684 Bl. B 1r; JOHANN FERDINAND FISCHER, Diarium, Oder Weitläuffig und gründliche Beschreibung / von der Käys. Haupt= Und Residentz=Stadt Wien / In Unter=Oesterreich / im Viertel unterm Wiennerwald liegend; welche vom 14. Julij / biß 12. Septemb. Anno 1683. 61. Tag von des Türckischen Käysers Sultan Machomet Kriegs=Volck anfänglich in die 200000. Mann bestehend / so ihr Logament rings umb die Stadt mit 22. Lagern gemacht / ist belägert worden […]. Regensburg o. J. [S. 10]; JOHANN PETER VON VAELCKEREN, Wienn von Türcken belägert / von Christen entsezt. Das ist: Kürtzliche Erzehl= vnd Beschreibung alles dessen / was sich vor= in= vnd nach der grausamben Türckischen Belägerung der Kayserlichen Residentz Statt Wienn in Oesterreich Anno 1683. vom 6. Maij an / biß 19. Septembris von Tag zu Tag denckwürdigs zugetragen […]. Linz 1684 S. 94, vgl. auch 88; EBERHARD WERNER HAPPEL, Der Ungarische Kriegs=Roman, Oder Außführliche Beschreibung / Deß jüngsten Türcken=Kriegs […]. Ulm 1685 S. 658, 772;
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Begriff der „Angst“, dies zeigt die Etymologie, beschreibt die räumliche „Enge“ ihres affektuellen Erlebens und impliziert damit auch dessen körperliche Auswirkungen.24 Als weitere Belege, neben Kleinschroths Leiden, fungierten jene Frühgeburten, die geängstigte Frauen erlitten 25 , ebenso wie das Schicksal der Chorjungen Caspar und Anton Liedtmayr, die in der Folge der Flucht nicht nur die Rote Ruhr ans Bett fesselte, sondern auch die „Ungarische Krankheit“, die die Medizingeschichte als Fleckfieber identifiziert hat und die noch Zedlers Universal Lexicon auf die Furcht vor den tödlichen Säbeln der Türken zurückzuführen wusste.26
Autobiographische Funktionen der Furcht All dies nun beschreibt Kleinschroth, um es mit Ingo Schulze zu sagen, „von sicheren Gestaden“27. Als er sein Tagebuch verfasst, ist er wieder befreit von seinen Krankheiten ebenso wie Wien von den „Türken“; die Chorknaben und ihr Präfekt befinden sich, nach
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CHRISTIAN WILHELM HUHN, Nichts Neues und Nichts Altes / oder umbständliche Beschreibung, Was Anno 1683. Vor / bey und in der Denckwürdigen Türckischen Belagerung Wien, vom 7 Julii biß 12 Septembr. täglich vorgelauffen / entworffen / von einem Teste Oculato Christian Wilhelm Huhn. Breslau 1717 S. 70 f., zit. nach STURMINGER, Türken vor Wien (wie Anm. 1) S. 135; JOHANN MARTIN LERCH, Warhaffte Erzehlung: Welcher gestalt in der ängstlichen Türckischen Belägerung der Käyserlichen Haupt= und Residentz=Stadt Wien in Oesterreich Durch das feindliche Lager gedrungen / und die erste Kundtschafft zur Käyserlichen Haupt Armada, wie auch von dar glücklich wieder zuruck gebracht worden. O. O. 1683 Bl. 3r, vgl. 1v; Eyness traurig Krieg Anfangs des 1683 Jahr verwandelt in den frölichen Lorber Herrlicher Victorien gegen Ende ermelten Jahrs. Aus bewehrten Relationen verlässlichen Sendtschreiben und gewissen Nachrichten zusammengezogen, Bibl. Acad. R. S. Romania, ms. germ. 114, Bl. 6, zit. nach CONSTANTIN SERBAN, Einige unveröffentlichte oder wenig bekannte Handschriften zur Belagerung Wiens 1683, in: Studien zur Geschichte Wiens im Türkenjahr 1683. Hg. PETER CSENDES. Wien 1983 S. 130-141, hier 137. Erasmus Francisci bestimmt die Möglichkeit der „Angst=Presse“ als ein Grundproblem von Städten überhaupt – im Gegensatz zum Leben auf dem Land: ERASMUS FRANCISCI, Schau= und Ehren=Platz Christlicher Tapfferkeit / Das ist: Aller Denck= und Ruhmwürdig=ausgestandenen Belägerungen der Weltberühmten Römisch=Käyserlichen Ansitz=Stadt Wien in Oesterreich […]. Nürnberg 1684 S. 1-4, zit. 3. M. M. S., Ausführ= und gründliche Erzählung dessen / was sich vor würklicher Belagerung der Käiserlichen Haupt= und Residenz=Stadt Wienn in Oesterreich / im Jahr Christi M. DC. LXXXIII. zugetragen. Nürnberg 1684 S. 63, bezeichnet Wien als „Angst=Kerker“. Verwiesen sei hier lediglich auf den Art. „Angst“, in: Universal Lexicon. Hg. ZEDLER (wie Anm. 5). Bd. 2 Sp. 301-304, hier 301, 304. Vgl. dazu STOLBERG, Affekt und Krankheit (wie Anm. 19) S. 1060 f., 1072 f.; HARTMUT BÖHME, Vom phobos zur Angst. Zur Transformations- und Kulturgeschichte der Angst, in: Pathos, Affekt, Emotion. Transformationen der Antike. Hg. MARTIN HARBSMEIER/ SEBASTIAN MÖCKEL. Frankfurt a. M. 2009 S. 154-184, hier 168 f. KLEINSCHROTH, Tagebuch (wie Anm. 1) S. 91. DERS., Flucht und Zueflucht (wie Anm. 1) Bl. 253v-256v. Zur Ungarischen Krankheit: Art. „Hungarica Febris“, in: Universal Lexicon. Hg. ZEDLER (wie Anm. 5). Bd. 13 Sp. 1223-1227. Siehe dazu ANDREAS BÄHR, Die Semantik der Ungarischen Krankheit. Imaginationen von Gewalt als Krankheitsursache zwischen Reformation und Aufklärung, in: Gewalt in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur 5. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im VHD. Hg. CLAUDIA ULBRICH/ CLAUDIA JARZEBOWSKI/MICHAELA HOHKAMP. Berlin 2005 S. 359-373. INGO SCHULZE, Neue Leben. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze. Berlin 2005 S. 586.
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wiederholter Errettung aus lebensbedrohlicher Gefahr, in Sicherheit in verschiedenen österreichischen Klöstern. Diese räumliche und zeitliche Distanz zum Geschehen ist in mehrfacher Hinsicht die Voraussetzung dafür, dass Kleinschroth von vergangener Unsicherheit berichten kann. Von tödlicher Gefahr vermag nur zu schreiben, wer sie überlebt hat; dies ist nicht trivial, und es erhält in Kleinschroths Bericht einen spezifisch katholischen Sinn: Wenn du uns rettest, gelobte der Verfasser seinem Gott und der Heiligen Jungfrau in der Not, dann werde ich aufschreiben, dass du uns gerettet hast – und nach Altötting „wahlfahrten gehen und alldorten neben schuldigster danckhsagung“ den „verlauff unserr gantzen fluchtraiß beschribner [Weise] vor einen opfer ablegen zum zeugnuß der erzaigten hilff und gnad.“28 Was zunächst an einen Tauschhandel erinnert, nach den Gesetzen des do ut des, mochte der Priester selbst anders verstehen. Gottes Hilfe konnte und wollte Kleinschroth sich nicht erkaufen; er erbat sie und versprach Dank – und stellte sie der Gnade des Himmels anheim.29 Er wusste: Letztlich konnte das Leiden nicht ausgesetzt werden ohne das Wissen um den „billigen Zorn Gotteß“, der aus ihm sprach. Hier traf sich Kleinschroth mit den Protestanten seiner Zeit. Auch der Sängerpräfekt wurde am Ende nur deswegen aus der Furcht befreit, weil er bekannte, eine „so grosße Gnadenzeit […] niehmallß verdienet“ zu haben.30 Maßgeblicher Bestandteil dieses Bekenntnisses jedoch war auch das Gelöbnis, einst an die Befreiung zu erinnern. So ist das Tagebuch nicht allein der Bericht von der Rettung und nicht allein der Dank für sie: Es ist ein Stückweit ihre Voraussetzung. Es berichtet von einem Überleben, das Gott auch deswegen gnädig gewährte, weil der zu Rettende versprach, davon zu berichten. Im Falle Anton Liedtmayrs nun schien die Rettung zunächst sehr ungewiss. Auch bei ihm, wie erwähnt, hatte die Flucht ihre Spuren hinterlassen. Aus beständiger Furcht, Angst und Schrecken hatte der Junge ein hitziges Ungarisches Fieber davongetragen, von dem er am Ende nicht geheilt werden konnte. Anton war der einzige aus der Sängerschule, der den Türkeneinfall mit dem Leben bezahlte. Dies war jedoch für Kleinschroth nicht das entscheidende Problem. Schlimmer noch als der Tod des Jungen wog die Art seines Sterbens. Im Vertrauen auf die Kompetenz des Arztes Lienhardt hatte Kleinschroth den Jungen zu einer Therapie gezwungen, die diesen sichtlich leiden ließ und ihn, wie sich herausstellen sollte, nicht heilte, sondern tötete. Da Kleinschroth damit nicht gerechnet hatte, schien der Junge „plötzlich“ gestorben zu sein, das heißt: ohne geistliche Vorbereitung, ohne Beichte und Absolution. Der Sängerpräfekt sah sich in der Mitverantwortung für einen Tod, der nicht allein das irdische Leben des Jungen vor der Zeit beendete, sondern zudem sein ewiges Heil in Gefahr brachte.31 28 KLEINSCHROTH, Flucht und Zueflucht (wie Anm. 1) Bl. 3r, 207r, 210r, 215r, 258r/v, 259v, 277r, 295r, 311r; Tagebuch (wie Anm. 1) S. 75 f., 129, 148 f., 153 f., zit. 149. 29 Siehe dazu LENZ KRISS-RETTENBECK, Zeichen, Bild und Abbild im christlichen Votivbrauchtum. Zürich usw. 1972 S. 298 f.; PETER HERSCHE, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter. Freiburg usw. 2006 Bd. 2, S. 838. 30 KLEINSCHROTH, Flucht und Zueflucht (wie Anm. 1) Bl. 3v-4r; vgl. auch Bl. 208v. 31 Ebd. Bl. 268v, 278v, 285v, 299v, 300v, 303r/v. Zur Bedrohlichkeit des plötzlichen Todes: SEBASTIAN LEUTERT, Geschichten vom Tod. Tod und Sterben in Deutschschweizer und oberdeutschen Selbstzeugnissen des 16. und 17. Jahrhunderts. Basel 2007 Kap. 3, 4 und 8; UTE MONIKA SCHWOB, Sorge um den „guten Tod“ – Angst vor dem „jähen Tod“. Religiös-moralische Mahnungen und Reaktionen seitens der Gläubigen, in: Du guoter tôt. Sterben im Mittelalter – Ideal und Realität. Hg. MARKUS J. WENNINGER. Klagenfurt 1998 S. 11-30; BENIGNA VON KRUSENSTJERN, Seli-
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Ob die Seele jedoch ebenso verloren war wie der Körper, konnte Kleinschroth zunächst nicht wissen. Um hier Gewissheit zu erlangen, bedurfte es einer göttlichen Botschaft, und sie wurde dem gottesfürchtigen Priester nicht verwehrt. Das letzte Drittel des Tagebuchs, das von Antons Leiden und Sterben berichtet, nachdem der eigentliche Fluchtbericht bereits abgeschlossen ist und sein Verfasser Vorbereitungen für die Wallfahrt nach Altötting getroffen hat, ist strukturiert durch vier divinatorische Träume.32 Den ersten träumt Kleinschroth ganz zu Beginn der Erkrankung des Jungen; wie er sich nach deren tödlichem Verlauf erinnert, stellt die nächtliche Erscheinung die Hinrichtung des Träumers vor Augen. In ihr wird die Strafe allerdings noch nicht vollzogen, sondern lediglich in Aussicht gestellt.33 Der Traum beschreibt eine mögliche und keine unausweichliche Zukunft. Wie er im Unklaren belässt, ob Kleinschroth wirklich durch die Hand des Henkers sterben wird, so hält er offen, ob der Strafe tatsächlich Anlass gegeben werden wird. Und so motiviert dieser Traum, der den leiblichen Tod des Jungen nicht zu verhindern vermochte, eine umfassende Fürbitte für dessen Seele. Wie jedoch ließ sich Gewissheit erlangen, ob dieses Bitten erhört worden war? Hier bedurfte es weiterer Träume. Auch sie wurden gesandt nach einschlägigem Gelübde, das Kleinschroth zu erfüllen versprach, wenn Gott „an disen mein verstorbenen vnd von mir so vernachlässigten Knaben ein Gnaden Zeichen widerfahren lassen [sollte], eß möge sein, wie eß wolle“.34 Als Kleinschroth an Antons „E[h]rtag“, einen Monat nach dessen Tod, im Begriff war, die dreißigste Messe zu lesen, erklärte ihm ein „frome[s] einfältige[s] Weib“, das er zu Speisung und Fürbitte geladen hatte, den Jungen im Traum „an eine[m] gueten Orth“ gesehen zu haben, in den Räumen ewiger Seligkeit.35 Kleinschroth vernahm dies zwar mit trostreicher Freude, doch konnte er zunächst nicht wissen, ob es sich bei der nächtlichen Erscheinung der Frau nicht um eine diabolische Täuschung handelte: um einen „Betrug deß Feinds“. Was mochte da helfen? Natürlich ein weiterer Traum. Zunächst Antons Bruder Caspar und dann Kleinschroth selbst sahen bald darauf den seligen Anton in der Nacht. Beiden habe er versichert: „eß ist alleß gueth vmb mich“ und „stehet alleß wohl“. Die Jenseitsvisionen bestätigten die Behauptung des „guete[n] Weibes“: Sie hatte von einer bereits erlösten Seele geträumt. Dass es Anton gewesen war, der im Traum zu ihnen sprach, und nicht der Teufel in engelsgleichem Gewand, bewies am Ende die Tatsache, dass die Erscheinung die drei Träumenden nicht erschreckt hatte – im Gegensatz zu Kleinschroths imaginärem Gericht, das seinen göttlichen Ursprung eben durch die Furcht indizierte, in die es den Verurteilten versetzte.36 Die vier Traumerzählungen und ihre komplizierte Ausdeutung innerhalb des Fluchtberichts rechtfertigten eine eigene Abhandlung – zumal sie der Forschung bisher entgangen sind, nicht zuletzt deswegen, weil sie, wie die gesamte Krankengeschichte auch,
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ges Sterben und böser Tod. Tod und Sterben in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, in: Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe. Hg. DIES./HANS MEDICK. Göttingen 22001 S. 469-496, insbes. 475 ff.; außerdem RUDOLF MOHR, Der unverhoffte Tod. Theologieund kulturgeschichtliche Untersuchungen zu außergewöhnlichen Todesfällen in Leichenpredigten. Marburg 1982. Siehe dazu auch unten Anm. 37. KLEINSCHROTH, Flucht und Zueflucht (wie Anm. 1) Bl. 304v-314r. Ebd. Bl. 304v-305r. Ebd. Bl. 279r. Ebd. Bl. 309r, 310r. Ebd. Bl. 312v-313v.
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bis heute nicht ediert worden sind. Ich beschränke mich daher an dieser Stelle auf die hier maßgebliche Essenz. Am Ende des Träumens steht die Gewissheit, dass die Seele Anton Liedtmayrs gerettet ist und Kleinschroths eigene damit auch. Die letzte Gefahr, die letzte „Spätfolge“ der Flucht und der Furcht vor „Türken und Tataren“, ist gebannt. Kleinschroth, so erkennt er am Ende, hat die Seele des Jungen nicht gemordet, sondern befreit: aus einer „eÿtlen“ und furchterfüllten Welt; er hat die Gnade Gottes nicht verwirkt, sondern war ihr heimliches Werkzeug. 37 Zu guter Letzt hatte auch Anton Liedtmayr seine Furcht überwunden und mit ihr Kleinschroth seine Angst. Nun konnte und musste das Gelübde erfüllt werden: Der Sängerpräfekt erzählte die Geschichte und hinterlegte sie, nach weiter Reise, in Altötting38 – an jenem Wallfahrtsort, der seine herausragende Bedeutung auch im Barockzeitalter nicht einbüßte39 und wo der bayerische Kurfürst Max Emanuel mit Kaiser Leopold die „Heilige Allianz“ gegen die Türken geschlossen und vor seinem Aufbruch zum Entsatz Wiens die Gnadenmutter Maria um ihren Segen gebeten hatte.40 Dieser Teil von Kleinschroths Tagebuch berichtet nicht allein von Träumen, sondern mit ihnen auch von der Genese, der Struktur und der Funktion seines autobiographischen Schreibens. Er kündet vom Überleben und von den Bildern, die es offenbaren, wo es mit menschlichen Mitteln nicht zu erkennen ist. Gott rettet den Jungen nicht nur, sondern lässt es Kleinschroth auch wissen, damit dieser davon erzählt, zum Dank für die Rettung ihrer Seelen. Die Entschlüsselung des Traums erlaubt und erzwingt die Erfüllung des Gelübdes: den Bericht vom Traum und von seiner Entschlüsselung. Die Passage weist eine narrative und eine epistemologische Einheit auf. Der Bericht von Krankheit und Tod Anton Liedtmayrs stellt einen zweiten eigenständigen Teil des Tagebuchs dar, der erst verfasst wird (und dessen Inhalt erst erlebt wird), nachdem der Bericht von Flucht und Zuflucht bereits abgeschlossen ist. An seinem Ende liefert er die Bedeutung des Traums, der am Anfang des Erzählten steht. Die epistemologische Struktur dieser 37 Ebd. Bl. 260r, 271r, 272v, 279v, 284r, 286r/v, zit. 279v. Vorausgesetzt war, dass sich eine zentrale Befürchtung Kleinschroths als gegenstandslos erwiesen hatte: Anton hatte die Generalbeichte, die er wiederholt erbeten und die Kleinschroth bis zuletzt hinausgeschoben hatte, ohne dessen Wissen doch noch abgelegt: Bl. 276v-278v, 287r, 289r/v. Zudem hatte Kleinschroth seinen Schutzbefohlenen in vielfältiger Weise auf den „gähen Tott“ vorbereitet: Bl. 306v-307v. 38 Ebd. Bl. 314r. Angesichts dessen liest TERSCH, Erfahrung und Autorität (wie Anm. 2) S. 191 f., das Diarium als Mirakelbericht. Für diese Interpretation spricht, dass andere Texte vergleichbaren Inhalts an Wallfahrtsorten gewöhnlich nicht begegnen. Sie geht jedoch von der Voraussetzung aus, dass Kleinschroth nicht nur die Übergabe des Fluchtberichts, sondern auch die berichtete Flucht als eine „kollektive Bußwallfahrt“ verstand (ebd. S. 192). Dafür gibt es im Text keinen Anhaltspunkt. Zudem wird das Tagebuch von Kleinschroth selbst nicht als Mirakelbuch präsentiert, sondern als ein Votiv: nicht allein als Bericht von himmlischen Wunderwerken, sondern vor allem als ein (gelobter) Dank für sie. Angesichts dessen entzieht sich diese eigentümliche Text-Gabe einer vorschnellen Kategorisierung, auch wenn gattungsspezifische Ähnlichkeiten zu Mirakelbüchern ebenso wie zu Reiseberichten und der einschlägigen Flugschriftenpublizistik durchaus auszumachen sind. 39 HERSCHE, Muße (wie Anm. 29) S. 801, 819. 40 KLAUS SCHREINER, Kriege im Namen Gottes, Jesu und Mariä. Heilige Abwehrkämpfe gegen die Türken im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung. Judentum, Christentum und Islam im Vergleich. Hg. DERS. München 2008 S. 151-192, hier 173. Dies wird auch erwähnt bei VAELCKEREN, Wienn (wie Anm. 23) S. 98 f.
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Passage lässt sich auch auf den vorangehenden Fluchtbericht abbilden, auch wenn der selbst keine Träume enthält. Auch er ist strukturiert durch das Wissen um den Ausgang des Beschriebenen, der von Beginn an angelegt ist in der Vorsehung Gottes und der den Anfang allererst beschreibbar macht. Dies stellt Kleinschroths Diarium jenen protestantischen Autobiographien an die Seite, die die Freiheit des Menschen, wie sie von orthodoxen Katholiken und – stärker noch – von Jesuiten akzentuiert wurde, hinter einer sich im Traum offenbarenden göttlichen Prädestination zurücktreten ließen. Der postreformatorische Streit, wie er in dieser Frage unter den Theologen entbrannt war, ist kompliziert und für das vorliegende Problem von untergeordneter Relevanz; in ihm tritt vor allem zu Tage, welche Schwierigkeiten Angehörige sämtlicher Konfessionen damit hatten, die Freiheit zur Sünde mit dem Gnadenwerk des Herrn zu vereinbaren. An dieser Stelle heißt das: Auch dort, wo der himmlische Eingriff in irdisches Geschehen auf dem Wege des Wunders erfolgte, agierte ein Gott, dessen Providenz, wie es ihr Name besagt, mit den eigenen Entscheidungen auch jene des Menschen immer schon kannte.41 Angesichts dessen konnte nicht allein ein calvinistischer Handwerker wie Augustin Güntzer sein Leben als die Bewahrheitung eines divinatorischen Traumes verstehen. Auch ein katholischer Humanist wie Girolamo Cardano vermochte in warnenden Träumen und Visionen die Güte einer schützenden Vorsehung zu erkennen. Gleiches gilt für den jesuitischen Universalgelehrten Athanasius Kircher (dessen musiktheoretische Musurgia Universalis der Abt von Heiligenkreuz kurz nach ihrem Erscheinen hatte anschaffen lassen).42 Und es gilt für Balthasar Kleinschroth. So ist festzuhalten: Der Sängerpräfekt erzählt von Gefährdungen des Körpers und der Seele; er stellt sich damit als Retter der Jungen vor und er erklärt, dass auch der Verlorene unter ihnen nicht verloren war. Und all dies erzählt er, um zu sagen, dass der gute Ausgang der Dinge unmöglich gewesen war ohne Gottes helfende Hand. Kleinschroth berichtet von Gefahren, die Gott herbeigeführt hatte, um sie bannen zu können.
41 Für die jesuitische, auch innerhalb der Papstkirche keineswegs unumstrittene Betonung menschlicher Freiheit siehe LUIS MOLINA SJ, De concordia liberi arbitrii cum gratiæ donis, divina præscientia, providentia, prædestinatione, et reprobatione ad nonnullos primæ partis divi Thomæ articulos. Lissabon 1588, zu kindlicher und knechtischer Furcht: S. 44b; siehe auch S. 64a und 76b. 42 ATHANASIUS KIRCHER SJ, Vita R. P. Athanasii Kircheri S. J. Romæ in Collegio Romano post obitum eius inventa, ibidemque, agente R. P. Conrado Hollgreve, cum facultate R. P. Provincialis Romani 7. Sept. anno 1682 primùm, deinde iterum anno 1683 descripta Neuhusij à J. K. S. J. Hochschul- und Landesbibliothek Fulda Hs. 8° B 103 Bl. 30r-32r. Zur Musurgia Universalis in Heiligenkreuz siehe TERSCH, Erfahrung und Autorität (wie Anm. 2) S. 203. Zur Funktion der Traumerzählungen in den Autobiographien Güntzers und Cardanos siehe ANDREAS BÄHR, Furcht, divinatorischer Traum und autobiographisches Schreiben in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 34/1. 2007 S. 1-32. Für weitere protestantische Texte siehe DERS., Spaces of Dreaming: Self-Constitution in Early Modern Dream Narratives, in: Space and Self in Early Modern European Cultures. Hg. DAVID SABEAN/MALINA STEFANOVSKA. Toronto 2012 (im Druck). Vgl. außerdem SEBASTIAN LEUTERT, „All dies, was mir mein Genius vorgezeichnet hatte“. Zur Psychologisierung des Traumes in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts, in: Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500-1850). Hg. KASPAR VON GREYERZ/HANS MEDICK/PATRICE VEIT. Köln usw. 2001 S. 251-273. Zur Wissensgeschichte des Traums vgl. jetzt CLAIRE GANTET, Der Traum in der Frühen Neuzeit. Ansätze zu einer kulturellen Wissenschaftsgeschichte. Berlin 2010.
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Daraus folgt für die Furcht vor den „Türken“: Sie kommt dort zur Darstellung, wo ihre Überwindung erzählt wird und deren Bedingungen und Ursachen vor Augen geführt werden. Beschriebenes Leiden ist auch hier überstandenes Leiden.43 Bei Kleinschroth wird dies in Wenigem derart anschaulich wie im Bericht von einem bemerkenswerten Wettbewerb der Chorknaben: „Seint alß die arme kinder ganz erschrockhen und voller forcht zu mir, der ich ihnen weit bin entgegen gangen, ankomen. Ein ieder erzehlete mir, waß er aus gestandten, mit zähren [Tränen], zitern und sehr nachtrückli[c]he worten. Eß hab ein iedwederer mehr wollen ausgestandten haben, alß der andre.“ 44 Die Jungen wollten nicht mehr erleiden als die anderen, natürlich nicht: Sie wollten mehr erlitten haben. Nicht nur Kleinschroth, sondern auch sie, so scheint es, verspürten, während sie sich erinnerten, einen „Schauer“, der nicht allein um vergangene Gefahren weiß, sondern auch darum, dass sie mittlerweile gebannt sind.45 In ihm tritt ein Wesenszug der autobiographischen memoria zu Tage: Furcht wurde erzählbar als notwendige Bedingung ihrer Überwindung. Ihre Beschreibung, mithin, folgte den Möglichkeiten und Regeln der Beschreibung der eigenen Person. In der Erzählung von der Furcht vor den Türken und ihren pathologischen oder gar tödlichen Folgen stellt Kleinschroth seine eigene Furchtlosigkeit unter Beweis ebenso wie die Gottesfurcht, durch die er sie erlangt hat. Von dieser Furcht war er nicht erst zur Zeit der Erinnerung befreit, sondern immer wieder bereits in der erinnerten Geschichte. Kleinschroth hatte, so geht sein Bericht, die Furcht überwunden, so schwer dies auch war, und die Geängstigten gerettet. Er selbst begann erst in dem Augenblick wirklich zu „erzittern“, als er nicht in den Ketten der Türken gefangen gesetzt wurde, sondern in Heiligenkreuz: von jenen Ordensbrüdern nämlich, zu denen er aus Säusenstein zurückgekehrt war, unter Gefährdung seines Lebens, um ihnen zur Flucht zu verhelfen, und die nicht gerettet werden wollten, sondern das Kloster bis zum sicheren Märtyrertod zu verteidigen unternahmen – die, mithin, eine gefährliche Furchtlosigkeit an den Tag legten, weil sie die Gefahr verkannten. Diese „Angst“ bezwang Kleinschroth erst, als er sich gänzlich dem Willen Gottes übergab, im Bewusstein, aus eigener Kraft weder gegen die Angreifer vor den Toren etwas ausrichten zu können noch gegen die verblendeten Verteidiger innerhalb der Mauern.46 Dies ist einer der Momente des Gelübdes. Es besagt: Kleinschroths Furchtlosigkeit ist Furchtlosigkeit im Herrn. Sie verdankt sich Gottes gnädiger Intervention und ist ohne die rechte Furcht vor Gott nicht zu haben.
43 Dies gilt etwa auch für autobiographische Texte aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges: ANDREAS BÄHR, „Unaussprechliche Furcht“ und Theodizee. Geschichtsbewusstsein im Dreißigjährigen Krieg, in: WerkstattGeschichte 49. 2008 S. 9-31. 44 KLEINSCHROTH, Tagebuch (wie Anm. 1) S. 44; auch S. 133 und 146. 45 Ebd. S. 196. Vergleichbar ist eine Aussage in der Autobiographie Athanasius Kirchers: KIRCHER, Vita (wie Anm. 42) Bl. 7v: „periculum sanè tantum fuit, ut in hunc usque diem sine horrore illud memoria evolvere non possim.“ 46 KLEINSCHROTH, Tagebuch (wie Anm. 1) S. 75 f.; vgl. auch S. 129. Eine ähnliche Situationsbeschreibung findet sich bei KIRCHER, Vita (wie Anm. 42) Bl. 22v-25r; dazu BÄHR, Gottes Wort (wie Anm. 9).
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Differenz Wer die Furcht vor dem „Erbfeind christlichen Namens“ untersucht, stößt immer auch auf Beschreibungen und Markierungen von Differenz. Wo und wie, so die abschließende Frage, finden sich diese in Kleinschroths Text? Ein bisher nur kurz angesprochener Aspekt ist für eine Antwort zentral. Kleinschroth erweist seine Gottesfurcht nicht allein im Bericht von der Überwindung der Furcht und davon, dass er mit ihm sein Gelübde erfüllt; den entscheidenden Nachweis erbringt er im Wissen, dass „Türkengefahr“ und „Türkenfurcht“ geschickt sind, um die Sünder zu strafen und die Gläubigen zu prüfen, und dass Gott nur jene retten wird, die das wissen.47 Diese Verbindung von Straftheologie und Differenzbeschreibung ist abschließend zu erörtern. Sie führt zurück zur Unterscheidung zwischen kindlicher und knechtischer Gottesfurcht sowie zur Aufspaltung des Feindes in „Türken“ und „Tataren“. Die Tataren, so Kleinschroth, fürchteten Gott im Gewitter, aber sie litten deswegen keine Höllenqual: nicht die Angst des bösen Gewissens, die Jesuiten ebenso gut kannten wie Protestanten.48 Die Tataren fürchteten die göttliche Strafgewalt, aber nicht die Sünde, die zu bestrafen stand. Sie suchten die Sanktion zu umgehen und das drohende Übel, aber sie scheuten nicht deren Anlass. Sie verkannten, mithin, die Gerechtigkeit des Donnerschlags, und welches Instrument ihn abzuwenden vermochte. Kleinschroth belässt keinen Zweifel: Wenn es blitzte und krachte, half kein Verschließen der Ohren, sondern allein die Öffnung der Herzen: die Liebe zu Gott und seiner Gerechtigkeit. In der protestantischen Wetterpredigt der Zeit richtete sich eine derartige Kritik gegen magische Praktiken „abergläubischer“ Bauern und gottloser Katholiken49; im Bericht des Heiligenkreuzer Sängerpräfekten erklärt sie die Grausamkeit der „Tataren“ aus ihrer Kleinmütigkeit. Die Zuschreibung einer derart spezifischen und zugleich differenzierenden Furcht ist keineswegs so überraschend, wie es zunächst scheinen mag. Nach dem erfolgreich abgewehrten Angriff auf Wien modifizierte so mancher christliche Bericht das Bild von den furchterregenden Türken in grundlegender Weise. Nach dem Ende der Bedrohung wollte man schon immer (und erneut) von der „Hasenherzigkeit“ des Feindes gewusst haben, die beobachten zu können meinte, wer ihm nur mit hinreichend Mut und Tapferkeit entgegen trat. 1683, an der historischen Wende von der berichteten Furcht der Christen vor den Türken zur Furcht der Türken vor den Christen, gewann dies eine besondere topische Qualität50 – pointiert im wiederholten Bedauern kaiserlicher Befehlshaber, nach 47 KLEINSCHROTH, Flucht und Zueflucht (wie Anm. 1) Bl. 3v-4r; Tagebuch (wie Anm. 1) S. 25. Siehe auch oben Anm. 30. 48 Für die Protestanten: MARTIN LUTHER, Verantwortung der aufgelegten Aufruhr. 1533, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1883 ff. Bd. 38, S. 96-127, hier 113. Für die Jesuiten: JACQUES SALIAN SJ, De timore Dei, libri novem. Lutetia Parisiorum 1629 S. 624-636. Salian unterscheidet die Furcht vor der Sünde (timor peccati), vor dem göttlichen Urteil (timor divini iudicii) und die Furcht vor der Hölle (timor inferorum) als die drei „Söhne” der Gottesfurcht (timor Dei). 49 Grundlegend dazu: HEINZ DIETER KITTSTEINER, Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a. M. usw. 1991 Teil A. 50 VAELCKEREN, Wienn (wie Anm. 23) S. 92; Summarische Relation, Was sich in währender Belägerung der Stadt Wien in= und ausser deroselben zwischen dem Feind und Belägerten von Tag zu
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„beängstigender“ Belagerung am Ende leider einen unwürdigen Gegner besiegt zu haben.51 Kleinschroth weiß um diese neue militärische Lage, argumentiert jedoch grundsätzlicher: Er führt die Furchtsamkeit des Feindes auf dessen Gottesverhältnis zurück. Damit wiederum stellt er zwischen der knechtischen Gottesfurcht der Tataren und ihrer Grausamkeit eine Kausalverbindung her. „Hasenherzige“ Furcht im Gewitter und Furcht erregende Gewalt bilden hier keinen Gegensatz, sondern erklären sich wechselseitig. Das barbarische Wüten der Tataren wird nicht etwa aus einer Furchtlosigkeit verständlich, sondern aus ihrer Furcht: aus einer verzagten Furcht vor Gott. Die Tataren schienen gefangen in ihrer Grausamkeit, die sich, wie ein jeder Christ wusste, am Ende gegen sie selbst richtete, ob mit Blitz und Donner oder den Qualen der Hölle. Auch im heilsgeschichtlichen Sinne gehen aus Kleinschroths Erzählung der Verfasser als Sieger und die Furcht erregenden Tataren als Verlierer hervor. Gott vergalt den Tataren ihre Grausamkeit, nach dem Prinzip des Talion: Sie, die bei ihren Opfern eine Furcht erregten, die sie selbst hatten, versetzte er in die Furcht, in die sie die Christen versetzt hatten und aus der er diese befreite. Was folgt daraus für die Frage nach Markierungen von Differenz? Die servile Furcht der Tataren im Gewitter erscheint als eine genuin christliche Figur. Sie kontrastiert die kindliche Gottesfurcht Balthasar Kleinschroths, die die gewaltsamen Folgen der tatarischen Furcht als gerechte Strafe erkennt für die Sünden der Christen und damit am Ende auch für deren eigene knechtische Furcht. Diese Furcht empfand auch Kleinschroth selbst immer wieder: eine allzu große Furcht vor dem Tod, ohne Hoffnung auf göttliche Intervention.52 Auch wenn sich in seinem Diarium keine ausgeprägte Bußparänese findet, auch wenn es die Furcht seines Verfassers nicht als ihre eigene Bestrafung paradoxiert, auch wenn es also theologisch mehr Bellarmino enthält als Luther oder auch als Pascal53, unterscheidet es sich in diesem Punkt nicht grundlegend von der protestantischen Autobiographik. Dies resultiert nicht aus einer konfessionsübergreifenden Verständigung, wie sie manche zur Bekämpfung der Türkengefahr seit geraumer Zeit geforTag zugetragen […]. Nürnberg o. J. S. 12; Relation, Oder Eigentliche Beschreibung / Wie / vnd wo der Angriff der Entsatzung der Kayserl. Residentz=Statt Wienn angeordnet vnd beschehen / auch was man nach glücklich erfolgenden Entsatz an Beuth erobert / vnnd was sonsten Schrifftwürdiges sich dabey zugetragen / ist alles hierin ordentlich beschriben. O. O. 1683 [S. 1]; HAPPEL, Kriegs= Roman (wie Anm. 23) S. 812. 51 VAELCKEREN, Wienn (wie Anm. 23) S. 91; Graf Taaffe an Earl of Carlingford, 12. September 1683, in: FRITZ KARMINSKI, F. M. Franz Graf Taaffe im Kriegsjahr 1683, in: Armee- und Marine-Zeitung, Jg. 1883. Wien 1883 S. 25 ff., hier 22 f., zit. nach STURMINGER, Türken vor Wien (wie Anm. 1) S. 356; [JOHANN GEORG WILHELM RUEß,] Glaubwürdiges Diarium Und außführliche Beschreibung / Dessen Was Zeit wärender Türckischen Belagerung der Käyserl. Haupt= und Residentz=Stadt WIEN vorgangen. Von einem käyserl. Officirer, so sich vom Anfang biß zum Ende darinnen befunden / warhafftig verzeichnet und zusammen getragen. Und was noch weiter und ferner passiren wirdt / zubekommen. O. O. [1683] Bl. E 2v-E 3r; DERS., Warhaffte vnd Gründliche Relation Uber Die den 14. Iulii Anno 1683. angefangene / den 12. Septembris aber glücklich auffgehebte Belägerung der Käys. Haupt= vnd Residentz=Statt WIENN […]. Wien 1683 S. 106; M. M. S., Ausführ= und gründliche Erzählung (wie Anm. 23) S. 66 f.; vgl. auch HAPPEL, Kriegs=Roman (wie Anm. 23) S. 819. Vgl. dazu MATHIEU LEPETIT, Die Türken vor Wien, in: Deutsche Erinnerungsorte. Hg. ETIENNE FRANÇOIS/HAGEN SCHULZE. Bd. 1. München 2001 S. 391-406, hier 398, 402. 52 KLEINSCHROTH, Tagebuch (wie Anm. 1) S. 128, 132. 53 Zum Jansenisten Pascal siehe oben Anm. 10.
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dert hatten54, sondern aus gemeinsamen, unausgesprochenen Glaubensgehalten: aus der komplexen frühneuzeitlichen Semantik des timor Dei, deren Aporien die gelehrten Kontroversen nicht lösten, sondern lediglich zum Vorschein brachten. All das heißt: Balthasar Kleinschroth stellt seine kindliche Gottesfurcht am Ende nicht der knechtischen eines „Anderen“ oder gar „Fremden“ gegenüber, seien dies Türken, Tataren oder unchristliche Christen, sondern vielmehr seiner eigenen: einer knechtischen Furcht, die es brauchte, um sie zur kindlichen überwinden zu können. Die eine Furcht war ohne die andere nicht zu denken und ihr stets schon immanent. Der timor servilis des „Antichrist“ wäre damit nicht lediglich als „diabolisch pervertiertes Derivat des Eigenen“ zu bezeichnen55 – und zwar nicht wegen einer partiellen Vorbildlichkeit und Faszination der „Türken“, sondern weil selbst dort, wo diese als negative Kontrastfolie des Christlichen entworfen werden, immer auch eine bußtheologische Sicht formuliert wird. Aus einer derartigen Perspektive entstand ein christliches „Eigenes“ allein im Wissen um dessen konstitutive Desintegration. Sündhaftigkeit war nicht die Verneinung des Christlichen, sondern sein Wesen. Sie markierte die unausweichliche Distanz zum Schöpfer, die es brauchte, um sich ihm nähern zu können, und in diesem Sinne stand sie für die unhintergehbare Distanz des einzelnen Menschen zu sich selbst. Der Begriff des „Eigenen“ setzt die Möglichkeit einer „Identität“ des „Selbst“ voraus, die in den vorliegenden Zusammenhängen nicht gegeben und auch gar nicht angestrebt ist. (Und so ist das Diarium des Sängerpräfekten auch nicht als ein „Selbst-Zeugnis“ zu verstehen.) Die religiösen und die narrativen Dimensionen von Kleinschroths Fluchtbericht zeigen, dass diese Begriffe die historisch-kulturelle ebenso wie die personale Selbstbeschreibung verfehlen.56 54 Siehe etwa WREDE, Das Reich (wie Anm. 8) S. 166-171; aus den Quellen beispielsweise [ERASMUS FRANCISCI,] Die heran dringende Türcken=Gefahr: Das ist; Wohlgemeinte / doch unvorgreiffliche Erinnerung / in was hochbesorgtem und gefährlichem Zustande / unser liebes Vatterland Teutscher Nation / und das gantze Heil. Röm. Reich jetziger Zeit stecke: auch wie diesem blutdürstigem Erb= und Ertz=Feinde fruchtbar und ersprießlich zu begegnen wäre: Vermittelst einer Unterredung fürgestellet / durch C. M. [Nürnberg?] 1663 Bl. F 3r-4r, K 4v; TOBIAS WAGNER, Türcken=Büchlein / Das ist: Summarische Beschreibung deß Ottomanischen Hauses Herkommen / und Kriegen / biß auf gegenwärtige Zeiten. Vom Autore auß seinem Genealogischen Lateinischen Libell, ins Deutsch übersetzt / und zu Erweckung wahrer Buß und Wachtsamkeit / gegenwärtiger grossen TürckenNoth / an Tag gegeben. Ulm 21664 S. 206, 235-238. 55 So die Formulierung von KAUFMANN, „Türkenbüchlein“ (wie Anm. 8) S. 20. 56 Die Interpretation der Erbfeindrhetorik als Akt der Identitätsbildung ist ein weitestgehend unhinterfragter Basso continuo der (mittlerweile recht umfangreichen) Forschungsliteratur, sei es, dass diese Identität als eine christliche, sei es, dass sie als eine europäische, wenn nicht gar nationale vorgestellt wird. An dieser Stelle sei dazu lediglich verwiesen auf die religionsgeschichtliche Studie von KAUFMANN, „Türckenbüchlein“ (wie Anm. 8), insbes. Kap. 6, sowie auf LEPETIT, Türken vor Wien (wie Anm. 51) S. 398-402, und JOSEF KÖSTLBAUER, Europa und die Osmanen – Der identitätsstiftende „Andere“, in: Studien zur europäischen Identität im 17. Jahrhundert. Hg. WOLFGANG SCHMALE/ROLF FELBINGER/GÜNTER KASTNER/JOSEF KÖSTLBAUER. Bochum 2004 S. 45-71. HÖFERT, Den Feind beschreiben (wie Anm. 8), interpretiert die „ethnographischen“ Berichte über den osmanischen Gegner als den Versuch, sich seiner „epistemologisch zu bemächtigen“ (S. 319). Im „Türken“-Diskurs des 15. und 16. Jahrhunderts sieht sie eine Kompensation politisch-militärischer Unterlegenheit und macht in ihm die Anfänge orientalistischen Herrschaftswissens der Moderne aus. Diese Interpretation kritisiert die bis dato vorherrschende Meinung, dass dieses Wissen aus der Überlegenheit geboren worden sei. Auch sie jedoch kommt nicht ohne die Kategorie einer
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Damit ist zu resümieren: Kleinschroths Gewährsmann konstatiert eine Differenz: dass nämlich zu unterscheiden sei zwischen gesetzestreuen „Türken“ und nahezu gottvergessenen „Tataren“. Er wirft damit die Frage auf, wie der religiöse Gehorsam der „Türken“ zwischen der Gottesfurcht des Verfassers und der tatarischen Furcht im Gewitter eigentlich zu verorten ist. Für eine Antwort ist zu bedenken: Die barbarische Grausamkeit der Türken stellt der Bauer aus Gaaden nicht zur Diskussion. Wenn Luther die Ordnung der türkischen Religiosität als diabolischen Schein entlarvt (und mit dem katholischen Ritus gleichsetzt), dann lehrt dies, dass der Respekt vor ihr nicht über ihre Verwerflichkeit hinwegtäuschen konnte. Wenn Erasmus Francisci 1663 die Furcht der Türken vor „der göttlichen Gewalt“ herausstreicht, die sie in „Andacht und Eiver über ihrem Gesetz hefftig entbrennen“ ließ, dann tut er dies zwar, um seine Mitchristen mit ihrem beschämenden Spiegelbild zu konfrontieren, doch stellt er auch diese Furcht als eine knechtische vor: Sie entsprang der „falsche[n] Religion“ und nicht der „wahren“.57 Ungeachtet dessen also, dass Kleinschroths Ausdifferenzierung des „Erbfeindes“ bemerkenswert ist und in eigener Weise Anlass gibt, die dichotomisierende Historiographie der „Türkenfurcht“ zu revidieren: Die primäre Grenzziehung verortet die Christen weiterhin auf der einen Seite und grausame „Türken und Tataren“ gemeinsam auf der anderen. Diese Grenze allerdings, und das ist entscheidend, ist eine innerchristliche. Den Beweis erbringt der autobiographische Text. Kleinschroths Tagebuch zeigt, inwiefern die Beschreibung von „Türken und Tataren“ als Teil einer genuin christlichen Selbstbeschreibung anzusehen ist. Die persona seines Verfassers konstituiert sich in Unterscheidungen, die nicht zwischen einem „Selbst“ bzw. „Eigenen“ und einem „Anderen“ oder „Fremden“ aufgemacht werden, sondern durch die autobiographische Erzählung, das „Identität“ und eines „Eigenen“ aus, die sich über das „Fremde“ bzw. „Andere“ formieren: über ein negatives „Spiegelbild“. Die dichotomische Struktur dieser Kategorie wird auch nicht durch deren Dynamisierung und Pluralisierung überwunden. Siehe HÖFERT, Den Feind beschreiben S. 23 f., 316; DIES., Das Gesetz des Teufels (wie Anm. 8) S. 85, 104-107. Von „epistemologischer Bemächtigung“ spricht auch KAUFMANN, „Türckenbüchlein“ S. 24 f., jedoch in einem religiösen Sinne. – In ebenfalls allzu moderner Betrachtungsweise lösen die einschlägigen diskurs- und mentalitätsgeschichtlichen Studien die heilsgeschichtlichen Grundierungen der Furchtbeschreibungen lediglich als Instrumente der Bewältigung krisenhafter Gewalterfahrung einerseits und der Legitimation von Gewaltausübung andererseits auf. Zur Krisenbewältigung: ULRICH ANDERMANN, Geschichtsdeutung und Prophetie. Krisenerfahrung und -bewältigung am Beispiel der osmanischen Expansion im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, in: Europa und die Türken in der Renaissance. Hg. BODO GUTHMÜLLER/WILHELM KÜHLMANN. Tübingen 2000 S. 29-54; DERS., Vom Amselfeld nach Wien. Osmanische Kriegsdrohung, Apokalypse und Geschichtsdeutung vom späten Mittelalter bis zum Konfessionellen Zeitalter, in: Der Krieg in religiösen und nationalen Deutungen der Neuzeit. Hg. DIETRICH BEYRAU. Tübingen 2001 S. 41-60. Zur Gewaltlegitimation: SCHREINER, Kriege im Namen Gottes (wie Anm. 40); ANTON SCHINDLING, Türkenkriege und ‚konfessionelle Bürgerkriege’. Erfahrungen mit ‚Religionskriegen’ in der Frühen Neuzeit, in: Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens. Hg. ANDREAS HOLZEM. Paderborn usw. 2009 S. 596-621, hier 602. 57 FRANCISCI, Türcken=Gefahr (wie Anm. 54) Bl. H 1r-3v. Ähnlich zwei Jahrzehnte später: HAPPEL, Kriegs=Roman (wie Anm. 23) S. 736; GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ, Bedencken wegen der unglücklichen Retirade aus Ungarn, in: Sämtliche Schriften und Briefe. Hg. Akademie der Wissenschaften der DDR. Vierte Reihe: Politische Schriften. Bd. 2: 1677-1687. Berlin 1984 S. 605-609, hier 609. Zu Leibniz vgl. HEINZ DIETER KITTSTEINER, Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 1618-1715. München 2010 S. 316 f.
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heißt: zwischen schreibender und beschriebener Person, zwischen ihrer Furcht und ihrer Furchtlosigkeit.58 Wenn der Autor an die Furcht vor den „Türken“ erinnert, sei es die eigene oder die der anderen, dann erinnert er an Gottes Befreiungstat und an deren Bedingungen; in der Beschreibung dieser Furcht beschreibt er sich selbst als furchtlos in kindlicher Furcht vor dem Herrn. Der Sängerpräfekt berichtet vom Überleben: von der Rettung der Kinder und seiner selbst, wie sie möglich wurde durch ihn selbst und am Ende durch Gott, der sich seiner bediente und der jene rettete, die erkannt hatten, dass Furcht und Flucht vor den „Türken“ zur Strafe und Prüfung geschickt waren. Differenz, mithin, wird markiert in einem spezifisch religiösen Sinne: im Wissen um die eigene Sündhaftigkeit und die Distanz zu Gott, die es brauchte als Bedingung seiner Gnade und der Auszeichnung vor denen, die gefangen blieben in Furcht.
58 Eine „Erfahrung“ von Differenz macht Kleinschroth daher nur im Sinne des zeitgenössischen Verständnisses von „experientia“ (vgl. etwa KLEINSCHROTH, Tagebuch [wie Anm. 1] S. 91), nicht im Sinne eines identitätsstiftenden inneren Erlebens, wie es in der Moderne konzipiert und zur Grundlage der Debatte über den Begriff der „Differenzerfahrung“ gemacht worden ist. Insofern ist die hier „erfahrene“ Differenz weder als Erklärungsgrund für gesellschaftliche Wirklichkeit zu betrachten noch als deren Resultat. Auch Joan Scotts (wichtige) dekonstruktivistische Kritik, die in der „experience of difference“ kein Explanans, sondern das Explanandum sieht, basiert auf einem modernen Konzept von „Identität“: JOAN WALLACH SCOTT, The Evidence of Experience, in: Critical Inquiry 17. 1991 S. 773-797, wiederabgedruckt in: Questions of Evidence: Proof, Practice, and Persuasion across the Disciplines. Hg. JAMES CHANDLER/ARNOLD I. DAVIDSON/HARRY HAROOTUNIAN. Chicago usw. 1994 S. 363-387. Zur Geschichte des Erfahrungsbegriffs siehe hier nur MARTIN JAY, Songs of Experience: Modern American and European Variations on a Universal Theme. Berkeley usw. 2005, zur „Erfahrung“ in historischem Denken: Kap. 6, darin zu Scott: S. 249-255.
ABDULLAH GÜLLÜOĞLU
Dämonen, böse Geister und unreine Hunde Differenzmarkierungen im Gesandtschaftsbericht des Zülfikâr Efendi von 1688-1692
„Seine Majestät, unser Herr, der erlauchte, mächtige, kühne und geehrte Herrscher und verehrter Schah, Sultan Süleymân Khan, Sohn Sultan İbrâhîm Khans, Sohn Sultan Ahmed Khans – Gott, der erhaben ist, möge die Tage seiner Herrlichkeit andauern und seine Herrschaft bis an das Ende der Tage währen lassen! – hat am zweiten Tag, dem Samstag, des geheiligten Muharrem des Jahres 1099 [8.11.1687] mit dem Segen, Glück und durch die Gunst des Schicksals den kaiserlichen Thron bestiegen. (Daher) ist am 12. des edlen Ramazân des Jahres 1099 [11.7.1688] der Anlaß eingetreten, daß wir, dieser sein Diener, voll von Fehlern, und Iskerletzâde Alexander, der der Oberdolmetsch des großherrlichen Diwan ist, von königlicher ruhmleuchtender Seite mit seinem großherrlichen Beglaubigungsschreiben auf Gesandtschaft an den römischen Kaiser Leopold befohlen wurden. Wir fühlten uns krank und es herrschte schönes Wetter.”1
Mit diesen Sätzen leitet der osmanische Gesandte Zülfikâr Efendi (?-1696) seinen Gesandtschaftsbericht ein. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird hierbei auf eine politische Veränderung an der Staatsspitze in Istanbul gelenkt. Am 8. November 1687 hatte Sultan Süleymân (1687-1691), der zweite dieses Namens in der osmanischen Dynastie, den Thron bestiegen. Um dieses Ereignis bekannt zu machen, wurde beschlossen, wie es bei den Osmanen üblich war, Gesandte in die Länder des Islams (Indien, Persien, Zentralasien und Jemen) und des Christentums (Frankreich, England, Niederlande und Deutschland) zu schicken.2 Zülfikâr Efendi erhielt den Auftrag, sich zusammen mit dem Oberdolmetsch des großherrlichen Diwan İskerletzâde Alexander3 (1636-1709) nach Wien zu 1
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WOLFGANG JOBST, Der Gesandtschaftsbericht des Zü l-Fiqār Efendi über die Friedensverhandlungen in Wien 1689. Unveröffentlichte Diss. Wien 1980 S. 191. Das Zitat wurde mit einigen kleineren Abweichungen, die nicht Inhaltliches, sondern mehr Formalien betreffen, aus der Übersetzung von Jobst übernommen. Bei der Wiedergabe habe ich aus pragmatischen Gründen darauf verzichtet, bei osmanischen Namen und Wörtern die diakritischen Zeichen zu übernehmen, die Jobst in seine Übersetzung aufgenommen hatte. Bei osmanischen Wörtern, die zum Bestandteil des deutschen Wortschatzes geworden sind, wie etwa Schah, Khan oder Diwan, werden die deutschen Varianten bevorzugt. Bei der Umschrift des Osmanischen wird eine vereinfachte Wiedergabe benutzt, die sich am modernen Türkisch orientiert. Lange Vokale werden mit dem Zeichen ˆ auf den entsprechenden Lauten angezeigt. Dabei richte ich mich nach İSMAIL PARLATIR, Osmanlı Türkçesi Sözlüğü. Ankara 2006. Vgl. DEFTERDAR SARI MEHMED PAŞA, Zübde-i Vekayiât. Tahlil ve Metin (1066-1116 / 1656-1704). Hg. ABDÜLKADIR ÖZCAN. Ankara 1995 S. 292. In den europäischen Quellen besser bekannt als Alexander Mavrokordato. Zur Person und Wirkung der ersten beiden phanariotischen Hauptdragomane und dem Posten des Hauptdragomans an der Pforte siehe DAMIEN JANOS, Panaiotis Nicousios and Alexander Mavrocordatos. The Rise of
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begeben. Neben der Thronbesteigungsmitteilung sollten Friedensverhandlungen mit dem Kaiser aufgenommen werden. Am 11. Juli 1688 verließ die Gesandtschaft Edirne, am 14. Oktober kam sie in Pottendorf, einem kleinen Ort etwa 10 km nordöstlich von Wiener Neustadt, an und wurde in Schloss Pottenbrunn einquartiert. Die nächsten vier Monate, bis zur Audienz bei Kaiser Leopold I. (1658-1705) am 8. Februar 1689, hatte die Gesandtschaft in Pottendorf unter strengem Gewahrsam zu verbringen. Nach der Audienz wurden die Friedensverhandlungen4 mit den Vertretern des Kaisers, Polens und Venedigs aufgenommen. Diese zogen sich ohne greifbare Ergebnisse bis in den Sommer 1689 hin. Für die Osmanen waren die überhöhten Friedensbedingungen der Alliierten nicht annehmbar, weil sie „weit über den aktuellen Besitzstand hinausgingen und die osmanische Bereitschaft zu einem realistischen Kompromiß zunichte machten“.5 Die Verhandlungen waren zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon gescheitert.6 Die osmanische Delegation hatte wiederholt um ihre Abfertigung und Erlaubnis zur Rückreise gebeten. Erst im Februar 1690 wurde sie, mit Reisedokumenten ausgestattet, nach Komorn gebracht, um von hier aus mit Schiffen auf der Donau die Rückreise antreten zu können.7 Zu ihrem Entsetzen wurde sie dort für die nächsten acht Monate interniert, bis sie am 11. November 1690 wieder nach Pottendorf zurückgeführt wurde und dort weitere 14 Monate verbleiben musste. Im Januar 1692 durfte sie ihre Heimreise antreten. Anschließend musste Zülfikâr Efendi über die letztlich gescheiterte Friedensmission Bericht erstatten. Die einleitenden Äußerungen über seinen schlechten Gesundheitszustand, die er zusammen mit Bemerkungen über das schöne Wetter bei der Abreise formuliert, deuten den Tenor des gesamten Berichtes an. Verweise auf die schlechte körperliche Verfas-
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the Phanariots and the Office of Grand Dragoman in the Ottoman Administration in the Second Half of the Seventeenth Century, in: Archivum Ottomanicum 23. 2006 S. 177-196. Auf die Einzelheiten der Verhandlungen kann hier nicht näher eingegangen werden, deshalb sei auf die Studie von Höbelt verwiesen: LOTHAR HÖBELT, Die Sackgasse aus dem Zweifrontenkrieg. Die Friedensverhandlungen mit den Osmanen 1689, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 97. 1989 S. 329-380. HANS GEORG MAJER, Ein Brief des Serdar Yeğen Osman Pascha an den Kurfürsten Max Emanuel von Bayern vom Jahre 1688 und seine Übersetzungen, in: Islamkundliche Abhandlungen. Aus dem Institut für Geschichte und Kultur des Nahen Orients an der Universität München. Hans Joachim Kissling zum 60. Geburtstag gewidmet von seinen Schülern. München 1974 S. 130-145, hier 143. Die Studie Höbelts versucht zu klären, ob die Entscheidung des kaiserlichen Hofes, einen Zweifrontenkrieg mit den Osmanen und den Franzosen zu riskieren, eine diplomatisch tragbare Entscheidung war, die den politischen Gegebenheiten der Zeit entsprach und ob die Friedensverhandlungen des Jahres 1689 nicht eine verpasste Gelegenheit waren. Das Resümee Höbelts kommt über die kaiserliche Diplomatie zu einem vernichtenden Urteil: „Die Resultante war ein Fiasko der kaiserlichen Diplomatie, die 1689 wider besseres Wissens das Wagnis eines Zweifrontenkrieges in Kauf nahm und eine chronische Überspannung der Kräfte der Habsburgermonarchie provozierte. Erst die Siege des ‚Türkenlouis‘ und der Tod des letzten Koprülü [!] haben dieses imperiale Va-banque-Spiel gerechtfertigt erscheinen lassen. Das Mirakel des Hauses Habsburg traf pflichtschuldigst ein.“ Vgl. HÖBELT, Sackgasse (wie Anm. 4) S. 378. Diese vorgetäuschte Entlassung der osmanischen Delegation mit der anschließenden Internierung in Komorn gehörte zur Verhandlungstaktik der kaiserlichen Unterhändler, die durch diese „Schocktherapie“ die Osmanen gefügiger zu machen hofften, falls diese noch irgendeinen Verhandlungsspielraum oder irgendwelche geheime Instruktionen für Notfälle haben sollten. Vgl. dazu HÖBELT, Sackgasse (wie Anm. 4) S. 368 f.
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sung, die eingangs durch die Kontrastierung mit dem Wetter besonders betont wird, ziehen sich in Wiederholungen wie ein roter Faden durch den ganzen Text. Zülfikâr Efendi muss den Bericht unmittelbar nach der Rückkehr der Gesandtschaft im Sommer 1692 seinen Auftraggebern vorgelegt haben. Die Originalversion ist nicht mehr erhalten, doch gab es mehrere Abschriften. Bislang geht die Forschung von zwei Überlieferungen aus, eine in Wien8 und eine weitere in München9. Weitere sollen sich in Istanbul und Kairo erhalten haben.10 Wolfgang Jobst hat 1980 im Rahmen seiner Dissertation an der Universität Wien eine Teiledition zusammen mit einer Teilübersetzung des Textes ins Deutsche angefertigt, die nicht publiziert wurde.11 Inzwischen liegen zwei vollständige Editionen des Textes vor.12 Der Wert des Berichtes als historisches Dokument ist für die Geschichtsforschung als hoch einzuschätzen, zumal er auf osmanischer Seite die einzige Quelle für diese Friedensverhandlungen ist. Gleichzeitig steht er am Anfang einer neuen osmanischen Literaturgattung, der sefâretnâmes (Gesandtschaftsberichte), die erst ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vorliegen.13 Obwohl dieser 8 9 10
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Österreichische Nationalbibliothek, Handschriftensammlung, Signatur H.O. 90. Bayrische Staatsbibliothek München, Handschriftensammlung, Signatur Cod. Turc. 117, fol. 34v-105v. Auf zwei weitere Handschriften hat der Wissenschaftshistoriker Ekmeleddin İhsanoğlu hingewiesen. Seinen Angaben zufolge befinde sich die eine in der Sammlung Türkischer Handschriften der Bibliothek İstanbul Üniversitesi Merkez Kütüphanesi in Istanbul unter der Signatur: İÜMK, TY, Nr. 416. Eine zweite Handschrift befinde sich in der Bibliothek Fatih Millet Kütüphanesi ebenfalls in Istanbul unter der Signatur: Nr. K 21477, Tasnif [Klassifizierung] Nr. 920. Vgl. zu diesen Angaben EKMELEDDIN İHSANOĞLU, Osmanlılar ve Bilim. Kaynaklar Işığında Bir Keşif. Istanbul 2003 S. 256. Zwei weitere Handschriften werden im Online-Handschriftenkatalog des Ministeriums für Kultur und Tourismus der Türkei aufgeführt. Nach den dortigen Angaben befindet sich eine Handschrift in der Sammlung Mehmet Zeki Pakalın Koleksiyonu der Handschriftenbibliothek Atıf Efendi Yazma Eser Kütüphanesi in Istanbul unter der Signatur 34 Mzp 67. Schließlich wird eine letzte Handschrift in der Sammlung Türkische Handschriften der Ägyptischen Nationalbibliothek in Kairo unter der Signatur Tarih-i Türkî Talat 109 aufgeführt. Bei dieser letzten Handschrift handelt es sich laut Online-Katalog um eine Abschrift aus dem Jahre 1208 h./1793-1794 n. Chr. Vgl. zu diesen Angaben den Online-Handschriftenkatalog auf der Website des Ministeriums unter folgender Adresse: https://www.yazmalar.gov.tr [Stand 22.4.2011]. Da ich mich bei diesen Angaben auf die Sekundärliteratur und den Online-Handschriftenkatalog stütze, sind sie bis zu ihrer endgültigen Verifizierung vor Ort mit Vorsicht zu genießen. JOBST, Gesandtschaftsbericht (wie Anm. 1). Jobst hat in seiner Dissertation etwa 2/3 der Wiener Handschrift ediert, wobei er die Variationen des Münchener Manuskripts in den Fußnoten wiedergab. Für die von ihm edierten Teile des Textes fertigte er zugleich eine deutsche Übersetzung an. Der Umstand, dass die Edition von Jobst unvollständig war und auch nie veröffentlicht wurde, rechtfertigte eine neue und vollständige Edition des ganzen Textes. Wie es der Zufall wollte, widmeten sich dieser Aufgabe in der Türkei gleich zwei Historiker unabhängig voneinander, so dass 2007 zwei verschiedene Editionen des Textes erschienen sind: [ZÜLFIKÂR EFENDI], Zülfikâr Paşa’nın Viyana Sefâreti ve Esâreti (1099-1103/1688-1692). Cerîde-i Takrîrat-i Zülfikâr Efendi Der Kal’a-i Beç. Hg. MUSTAFA GÜLER. Istanbul 2007 und [ZÜLFIKÂR EFENDI], Viyana’da Osmanlı Diplomasisi. Zülfikâr Paşa’nın Mükâleme Takrîri 1688-1692. Hg. SONGÜL ÇOLAK. Istanbul 2007. Der Edition von Mustafa Güler liegt die Münchener Handschrift zugrunde. Die Abweichungen der Wiener Handschrift werden jedoch in den Fußnoten angezeigt. Songül Çolak hingegen hat ausschließlich die Münchener Handschrift ediert, ohne auf die Abweichungen der Wiener Handschrift hinzuweisen. Das mittlerweile etwas veraltete aber dennoch sehr nützliche Handbuch zur Gattung sefâretnâme stammt von dem türkischen Historiker Unat. Es wurde Anfang der 1940er Jahre abgeschlossen, aus
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Bericht zu den ersten gehört – genau genommen ist er der zweite Text dieser neuen Gattung – haben wir mit ihm einen der umfangreichsten sefâretnâmes überhaupt. Der Text ist chronologisch angeordnet und setzt sich hauptsächlich aus der diplomatischen Korrespondenz, den Urkunden und Dokumenten zusammen, die im Umfeld der Friedensmission Zülfikâr Efendis in dem Zeitraum 1688-1692 entstanden sind. Er kann daher als eine Dokumentensammlung oder als ein Konglomerat angesehen werden. In meinem Beitrag möchte ich den Bericht des Zülfikâr Efendi in Hinblick auf Differenzmarkierungen untersuchen. Wo und wenn ja, mit welchen Mitteln werden in diesem Text Differenzen markiert und wie lassen sie sich interpretieren? Lassen sich Diskurse identifizieren oder können einzelne Äußerungen in allgemeinere Argumentationszusammenhänge eingebettet werden, mit denen sich etwaige Differenzmarkierungen in Verbindung bringen lassen? Sind Erzähl-, Wahrnehmungs- oder Deutungsmuster erkennbar, die sich in bestimmte Traditionen verorten lassen?
Dschinn und gûl oder Geister und Dämonen „Der dämonenhafte und unwissende Hauptmann ist, wenn er seinen Helm aufhat, wie ein toter Gegenstand. Wenn er ihn herunternimmt und seine Haare sich ausbreiten, ergreift eine[n] solcher Schrecken, als ob aus dem Grabe böse Geister entstiegen. Wie zuwider und von welch üble[m] Charakter er war, möge man daran erkennen, daß wir jedesmal, wenn er zu uns kam, wie [ein] Kranke[r], der seinen Arzt nicht liebt und keine Heilung findet, eine Krankheit erwischt haben. Wenn wir schon vorher krank waren, haben sich durch den bösen Einfluß des Erwähnten alle unseren [!] Krankheiten verschlimmert und sind stärker geworden. Auch die österreichischen Vertreter haben gewußt, daß dieser böse Geist diese Eigenschaften hatte. Wir zweifelten nicht, daß sie dem Islam zum Trotz und wegen der zwischen (uns) herrschenden Feindschaft und der Kriegshandlungen ihn wie ein vom Himmel geschicktes Unheil, nur um uns Mühseligkeiten zu bereiten, auf den Hals gehängt [gehetzt] haben. Was konnten wir tun? Wir betrachteten es als das beste, eine gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Wie wenn man sagt: Hopp mein Hund – hat er manchmal zugestimmt und manchmal nicht. Kurz und gut, es hat sich heraus gestellt, daß wir dem erwähnten Gesandten keinen Kurier senden konnten, solange ihre Heerführer damit nicht einverstanden waren.“14
Zülfikâr Efendi erwähnt diese Episode in Zusammenhang mit dem vergeblichen Wunsch der osmanischen Gesandten der polnischen Delegation einen Kurier zu schicken. Die Schilderung der zurückweisenden Haltung des für die Überwachung der osmanischen Gesandtschaft verantwortlichen österreichischen Hauptmanns führte bei dem bis dahin in seiner Sprachwahl eher zurückhaltenden Zülfikâr Efendi dazu, die Etikette zu vergessen und seinen aufgestauten Emotionen und zum Teil auch der Verbitterung freien Lauf zu lassen. Was aber könnte es bedeuten, dass er den Hauptmann in diesem Zusammenhang als Dämon bezeichnet? verschiedenen Gründen jedoch erst nach dem Tod des Autors 1968 veröffentlicht: FAIK REŞIT UNAT, Osmanlı Sefirleri ve Sefaretnameleri. Hg. BEKİR SITKI BAYKAL. Ankara 1968. Für eine etwas neuere Studie zur gleichen Thematik mit einer Neubewertung siehe KEMAL BEYDİLLİ, Sefaret ve Sefaretnâme Hakkında Yeni Bir Değerlendirme, in: Osmanlı Araştırmaları 30. 2007 S. 9-30. 14 JOBST, Gesandtschaftsbericht (wie Anm. 1) S. 315 f.
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Um diese Frage zu beantworten, wird es hilfreich sein, sich zu vergegenwärtigen, welche Geister- und Dämonenvorstellungen in der osmanischen Kultur verbreitet waren. Da diese Kultur islamisch geprägt war, muss die Perspektive erweitert und die islamische Kultur generell berücksichtigt werden. Im vorislamischen Arabien, der Dschahilija, galten die Dschinn/Geister (arab. ğinn) als Nymphen und Satyrn der Wüste.15 Dem Koran zufolge erschuf Gott die Menschen aus Ton, die Engel aus Licht und die Dschinn aus Feuer. Aufgrund ihrer Beschaffenheit sind weder die Dschinn noch die Engel für die Menschen sinnlich wahrnehmbar. Die Dschinn können verschiedene Gestalten annehmen und sind auch vernunftbegabt. 16 Wie die Menschen, sind auch die Dschinn als Geschöpfe Gottes nicht von Natur aus böse. Sie können sich, ähnlich wie die Menschen aber anders als die Engel, für oder gegen das Gute entscheiden.17 In der Dschinn- oder Geisterlehre des Korans haben neben den Dschinn im engeren Sinne auch Dämonen (arab. şayâtîn, Singular: şaitân) ihren Platz. Der „Satan“ (şaitân) gilt im Koran als oberster Dämon und ist in vieler Hinsicht mit dem Satan der christlich-jüdischen Tradition vergleichbar. Neben dem şaitân ist iblîs einer der wichtigsten Erscheinungsformen der Dschinn. Auch iblîs ist die Entsprechung des Teufels aus der jüdisch-christlichen Tradition. Er spielt im Koran bei der Schöpfungsgeschichte Adams eine wichtige Rolle, weil er dem Befehl Gottes nicht nachkam, sich vor Adam niederzuwerfen. Für unseren Zusammenhang ist der Glaube wichtig, dass die Dschinn negative Auswirkungen auf die Menschen haben können.18 Eine weitere Traditionslinie, die für das Verständnis des Textes wichtig sein könnte, bezieht sich auf die gûl. Nach dem muslimischen Gelehrten al-Qazwînî19 (ca. 1203-1283) ist die gûl eine Wüstendämonin, die ein unebenmäßiges und hässliches Lebewesen ist. Weiterhin ist sie wild und sucht insbesondere die öden Gegenden auf. Vor allem Reisende können ihr begegnen, wenn sie alleine in der Nacht und zu einsamen Zeiten reisen. Der Reisende wird von ihr daran gehindert, den richtigen Weg zu gehen. AlQazwînî überliefert auch ihre Fähigkeit, in verschiedenen Gestalten und Gewändern aufzutreten. Ihre Eselsbeine kann sie allerdings nicht verwandeln, wodurch sie manchmal durchschaut wird. Die gûl ist in der Folklore des Vorderen Orients vielfältig als eine Dschinnart tradiert. In der Wurzel des Wortes gûl scheinen die beiden Vorstellungen enthalten zu sein: 1. verschiedene Gestalten annehmen und 2. hinterhältiges Überfallen und Morden. Über die altarabischen und insbesondere persischen gûl-Mythen und Legenden haben gûl-Vorstellungen in Form von verschiedenen Bezeichnungen wie cadı (Nachtgespenst, alte Hexe), umacı (schwarzer böser Mann), dev anası (weiblicher Dämon), gûl-yâbanî oder karakoncolos (Schreckgespenst, Mensch von absonderlicher Hässlichkeit) Einzug in die 15 Vgl. dazu D. B. MACDONALD/H. MASSÉ, Djinn, in: The Encyclopaedia of Islam 2. New Edition. Leiden 1965 S. 546-548, hier 547. 16 Vgl. dazu BERNHARD MAIER, Koran-Lexikon. Stuttgart 2001 S. 60 und MACDONALD/MASSÉ, Djinn (wie Anm. 15) S. 547. 17 Vgl. dazu MAIER, Koran-Lexikon (wie Anm. 16) S. 60. 18 Siehe für eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Dschinnarten die einschlägige Studie von KORNELIUS HENTSCHEL, Geister, Magier und Muslime. Die Dämonenwelt und Geisteraustreibung im Islam. München 1997 S. 27-43. 19 AL-QAZWÎNÎ ZAKARIYYÂ`IBN MUHAMMAD IBN MAHMÛD ABU YAHYÂ, Die Wunder des Himmels und der Erde. Stuttgart usw. 1986 S. 180 f.
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türkisch-anatolische Folklore gehalten.20 Für unseren Zusammenhang ist die Konstruktion gûl-yâbanî von Interesse, weil sie von Zülfikâr Efendi in einer ähnlichen Form gûl-i beyâbanî im Text verwendet wird und eine Variante von gûl-yâbanî darstellt. Diese Konstruktion scheint von der persischen Form ĝul-e biâbâni21 in die türkische Folkloristik als gûl-i beyâbanî oder gûl-i biyâbanî aufgenommen worden zu sein, der wir im modernen Türkisch als gûl-yâbanî begegnen. Mit diesen Bezeichnungen werden bis in die Gegenwart meistens Vorstellungen wie Menschenfresser oder Dämon assoziiert. In den persischen und türkischen Epen trifft man häufig auf die dîv als Dämonen, die von Helden bekämpft und getötet werden. Im Şâhnâme22, dem persischen Nationalepos, muss der Held Rostam oft gegen die dîv ins Feld ziehen. Zwar kommt der Ausdruck gûl für die Dämonen in diesen Werken nur vereinzelt vor23, doch gibt es Hinweise auf das Vorkommen von ĝul-e biâbâni in den mündlich tradierten Prosaversionen des Epos. Dort werden die Gefängniswärter, die mit der Überwachung des in Gefangenschaft gehaltenen legendären persischen Königs Kaykâvus beauftragten Dämonen, als ĝul-e biâbâni bezeichnet.24 Hier sollen noch einmal die Aspekte zusammengetragen werden, die für die Analyse der Textpassage eine Rolle spielen. Die als gûl oder gûl-i biyâbanî bezeichneten Dämonen treten vorwiegend in öden Gegenden wie Wüste, Steppe oder Wildnis auf. Sie können verschiedene Gestalten annehmen, sind grausam, menschenfeindlich, hinterhältig, lauern Reisenden auf, um sie von ihrem Weg abzubringen, sie zu töten und zu fressen. Ihre abstoßende äußere Erscheinung macht sie zu einem Symbol der Hässlichkeit. Als eine Dschinnart können sie bei den Menschen physische und psychische Krankheiten verursachen; beispielsweise durch den „bösen Blick“ (ayn oder nazar). Schließlich fungieren sie als Gefängniswärter. Betrachten wir den Gesandtschaftsbericht insgesamt, so entsteht der Eindruck, dass Zülfikâr Efendi die skizzierten Traditionen bekannt waren. Zahlreiche Anspielungen und eine mit Symbolen beladene Sprache lassen erkennen, dass er Kenntnisse der drei klassischen islamischen Literaturtraditionen des Arabischen, Persischen und Türkischen hatte. Man kann davon ausgehen, dass auch die Adressaten des Textes über dieses kulturelle Wissen verfügten. Vor diesem Hintergrund kann man vermuten, dass Bezüge zwischen den dämonischen Gefängniswärtern aus dem Epos und dem österreichischen Hauptmann sowie zwischen der Gefangenschaft des Königs Kaykâvus und der eigenen Einquartierung von Zülfikâr Efendi bewusst hergestellt und eingesetzt wurden. So wie der „gute“ König 20 Vgl. İLYAS ÇELEBİ, Gûl, in: Türkiye Diyanet Vakfı İslâm Ansiklopedisi 14. Istanbul 1996 S. 177. 21 So wie die beiden Formen ĝul-e biâbâni und dîv im modernen Persisch, so werden auch die türkischen Entsprechungen gûl-yâbanî und dev als synonym verwendet. Zu der synonymen Verwendung dieser beiden Bezeichnungen im Persischen siehe MAHMOUD OMIDSALAR/TERESA P. OMIDSALAR, Ĝul, Encyclopaedia Iranica 11. Hg. EHSAN YARSHATER. New York 2003 S. 393-395, hier 393. 22 Einen Einblick in diesen Klassiker der persischen Literatur gewährt die in Auswahl ins Deutsche übertragene Ausgabe von Jürgen Ehlers: ABÛ`L-QÂSEM FERDAUSI, Rostam. Die Legende aus dem Šâhnâme. Hg. JÜRGEN EHLERS. Stuttgart 2002. 23 Auf manchen gûl-Dämon stößt man auch in den Geschichten von Tausendundeiner Nacht. Dschinne hingegen treten dort häufiger auf. Vgl. dazu ROBERT IRWIN, Die Welt von Tausendundeiner Nacht. Frankfurt 2004. 24 Vgl. OMIDSALAR/OMIDSALAR, Ĝul (wie Anm. 21) S. 394.
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Kaykâvus von „bösen“ Dämonen in Gefangenschaft gehalten wurde, so wurden nun auch die „guten“ Osmanen von den „bösen“ Österreichern eingesperrt. Eingesperrtoder Gefangensein werden insbesondere im letzten Drittel des Textes häufig erwähnt. Ziel ist es, die unbegründete und ungerechtfertigte Inhaftierung durch die „unberechenbaren, dämonischen und bösen“ Österreicher und das damit verbundene Leiden hervorzuheben. In diesem Zusammenhang werden „gute“ Osmanen und „dämonische/böse“ Österreicher binär konstruiert. Der Hauptmann wird im Text mit der sprachlichen Konstruktion kapûdân-ı gûl-i beyâbân eingeführt, die mit „der dämonhafte Hauptmann“ oder „der Hauptmann, der ein Dämon ist“ übersetzt werden kann. Anschließend werden ihm weitere pejorative Eigenschaften zugeschrieben, indem er als „dumm und mit einer bösen Zunge“ (nâdân-ı bed-zebân) bezeichnet wird. Wenn die beiden sprachlichen Konstruktionen zusammen betrachtet werden, fällt auf, dass der Autor hier auf Literarität und auf die Reimbildung achtet. Das persische Wort zebân bedeutet Zunge und Sprache und hat mit dem arabischen Wort zebâni25, das Höllenwärter bedeutet – nach Redhouse26 sogar einen grausamen Höllendämon bezeichnen kann –, auf der Bedeutungsebene nichts Gemeinsames. Weil der Autor aber hier ein Wortspiel betreibt, ist es nicht auszuschließen, dass er mit der Verwendung des Wortes zebân (Zunge) auf das arabische zebânî (Höllenwärter oder Höllendämon) anspielt. Diese Interpretation scheint nicht abwegig zu sein, weil Zülfikâr Efendi mit einem Sprachspiel den Hauptmann zweifach mit Dämonenhaftigkeit belegt und zusätzlich auch die Hölle mit ins Spiel bringt. Wörter aus dem Wortfeld Qual, Leid, Pein oder Strapaze werden im Text oft eingesetzt. Damit sollen die erlittenen Leiden und die durchgemachten Strapazen in die Nähe der Höllenqualen gerückt werden, die den Höllenbewohnern von den Höllenwärtern und -dämonen zugefügt werden. Verwandelt sich der Hauptmann durch das Abnehmen seines Helmes nicht von einem „leblosen Gegenstand“ (cemâd) zu einem gûl-Dämon, der dem Menschen Angst und Schrecken einflößt? Wie erwähnt, gehört es zu den Eigenschaften der gûl-Dämonen, sich verschiedene Gestalten anzueignen, um die Menschen zu täuschen und ihnen zu schaden. Es scheint als würde hier bewusst auf diesen Aspekt der Dämonenwelt Bezug genommen. Auf diese Weise ließ sich eine Analogie zwischen dem Hauptmann und den gûl-Dämonen herstellen. Die ausgebreiteten langen Haare des Hauptmanns mögen wohl eine Anspielung auf die langen, ungepflegten, wilden und abstehenden Haare der gûl-Dämonen sein. In seiner neuen Gestalt versetzt der Hauptmann die Osmanen in einem solchen Maß in Angst und Schrecken, als hätten sie aus dem Grabe emporsteigende böse Geister (mezârdan çıkmış ervâh-ı habîse) gesehen. „Wie zuwider und von welch üblen Charakter er [der Hauptmann] war“27 (ne mertebe mackûs ve bed-sîret olduğı) wird nun an einem Gedankenexperiment veranschaulicht. So wie ein Kranker, der seinen Arzt nicht mag, keine Hoffnung auf Heilung hat, so hatte der verhasste Hauptmann, immer wenn 25 Nach islamischer Auffassung sind die als zebânî bezeichneten Wesen Engel, die mit der Bewachung der Hölle beauftragt sind und sich den Befehlen Gottes unterordnen. Vgl. dazu BEKİR TOPALOĞLU, Zebânî, in: İslâm Ansiklopedisi 13. Istanbul 1986 S. 479. Die negativen Konnotationen, die mit diesem Wort in Verbindung gebracht werden, haben sich im Laufe der Zeit in Mythologie und Folklore des Vorderen Orients entwickelt. 26 SIR JAMES W. REDHOUSE, A Turkish and English Lexicon. Istanbul 32006 S. 1004. 27 JOBST, Gesandtschaftsbericht (wie Anm. 1) S. 316.
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er zu dem Gesandten kam, gleichzeitig auch eine Krankheit mitgebracht und übertragen, genau so wie man das von „Dämonen“ und „bösen Geistern“ erwarten würde. Nach Zülfikâr Efendi wurde seine Krankheit durch die negativen Ausstrahlungen dieses „üblen Charakters“ vermehrt und verschlimmert. Hatte er die Reise nicht schon mit einer angeschlagenen Gesundheit angetreten, wie in den ersten Zeilen des Berichtes zu lesen war? Die Strapazen der Reise, die strengen Einquartierungsbedingungen sowie die Begegnung mit „Dämonen“ und „bösen Geistern“ verhinderten, dass er seine Krankheit auskurieren konnte. All diese Strapazen und Mühen konnten nur deshalb ertragen werden, weil er sich einredete und seinem Publikum vor Augen führte, dass „die Mühsal, die im Dienste des Pâdişâh erlitten wird, Ruhm für seine Sklaven sei.“28 Zülfikâr Efendi ist sich sicher, dass dieser „böse Geist“ (ervâh-ı habîse) bewusst auf die Gesandtschaft losgelassen wurde, um ihr genau das anzutun, was der Hauptmann ihr antat. Denn die „Qualitäten“ dieses „bösen Geistes“ waren seinen Vorgesetzten, den Vertretern Österreichs, wie der Autor sagt, nicht verborgen. Sie waren somit nicht frei von Schuld. Die Gründe für das, was sie taten, lagen auf der Hand. Es herrschte Krieg und Feindschaft zwischen beiden Seiten, und die politischen Feinde waren zugleich die Gegner des Islam. Deshalb besteht für den Autor kein Zweifel daran, dass die Österreicher den „Plagegeist“ (Hauptmann) wie eine himmlische Plage (kazâ-i âsmânî) absichtlich auf sie losgelassen hatten, um sie zu quälen und zu peinigen. Den Osmanen waren die Hände gebunden, sie selbst konnten nichts dagegen unternehmen, denn gegen ein himmlisches Unheil ist der Mensch machtlos. Der Verweis auf ein himmlisches Unheil signalisiert somit auch die eigene Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein und die Aussichtslosigkeit der eigenen Situation, aus der es kein Entrinnen gibt. Deshalb blieb ihnen nichts anderes übrig als dem „Unreinen“ gegenüber Freundschaft zu heucheln, wollten sie ihre Lage nicht noch mehr verschlimmern, als sie eh schon war. Die Beschreibung des Hauptmanns im Text erlebt einige Zeilen weiter eine Transformation. Die bisherige Darstellung als Dämon und böser Geist wird in die Beschreibung eines unreinen Hundes überführt und vom Hauptmann hin zu den österreichischen Soldaten erweitert. Wenn man bedenkt, dass Geister und Dämonen sich nach islamischer Literatur und Folkloristik unter anderem auch in Hunde verwandeln können, wäre es nicht allzu abwegig anzunehmen, dass Zülfikâr Efendi sich, trotz dieser Transformation in der Beschreibung, immer noch im Rahmen des Dämonendiskurses aufhält. Zu dem Dämonendiskurs tritt an dieser Stelle im Text ein zweiter hinzu; nämlich ein Reinheitsdiskurs, der sich der Hundemetaphorik bedient.
28 Ebd. S. 213.
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Unreine Hunde, Ochsenaugen und Pflaumen Die ambivalente Bewertung des Hundes findet sich in vielen Kulturen. Nach islamischem Recht gilt der Hund generell als unrein, auch wenn dieses Urteil nicht direkt aus dem Koran hergeleitet werden kann. 29 Seine Unreinheit wird ähnlich wie die des Schweines auf die Natur zurückgeführt. Alles was mit dem Speichel des Hundes in Berührung kommt, wird verunreinigt und muss deshalb siebenmal gereinigt werden. 30 François Viré meint, der Hund sei „generally if not despised, then at least avoided, throughout Islam. This is particularly true of urban areas […].”31 Nichts desto trotz waren Hunde in der Frühen Neuzeit aus dem Stadtbild Istanbuls nicht wegzudenken, wie in vielen europäischen Reiseberichten festgehalten wurde. 32 Auch auf dem Land gab es viele Hunde. Den Nomaden und den Menschen auf dem Land waren die positiven Qualitäten des Hundes als Nutztier nicht verborgen geblieben. Die Verwendung von Schäfer-, Wach- und Jagdhunden wurde von den muslimischen Juristen gebilligt. Das Halten von Hunden im Haushalt war jedoch untersagt. Nach einem Ausspruch des Propheten wird ein Haus von den Engeln nicht besucht, wenn ein Hund sich darin aufhält. Die Reserviertheit der Muslime gegenüber dem Hund mag vielleicht auch mit der Vorstellung zu tun haben, nach der er als eine dämonische Emanation betrachtet und mit bösen Geistern in Zusammenhang gebracht wird.33 29 Einen guten Einblick in die Rechtsproblematik Unreinheit des Hundes bietet ERWIN GRÄF, Jagdbeute und Schlachttier im islamischen Recht. Eine Untersuchung zur Entwicklung der islamischen Jurisprudenz. Bonn 1959 S. 129-151. 30 Vgl. ALI BARDAKOĞLU, Köpek, in: Türkiye Diyanet Vakfı İslâm Ansiklopedisi 26. Istanbul 2002 S. 251-252, hier 251. 31 FRANÇOIS VIRÉ, Kalb, in: The Encyclopaedia of Islam 4. New Edition. Leiden 1997 S. 489-492, zitiert 489. 32 Neben vielen anderen Tieren wurden auch die Hunde in die Reiseberichte aufgenommen. So schreibt der kaiserliche Botschafter Ogier Ghiselin de Busbecq in seinen vier Briefen aus der Türkei zu den Hunden in Istanbul: „The dog is regarded by them as a foul and unclean animal, and they therefore exclude it from their houses […]. […] Although they have this feeling about dogs, which are public property and have no masters and act as watchers over quarters and districts rather than any particular houses, and live on the refuse which is thrown out into the streets, yet, if there is a bitch with puppies in the neighbourhood, they go to her and make a heap of bones and scraps of porridge and bread, and regard such actions an entirely pious.“ OGIER GHISELIN DE BUSBECQ, The Turkish Letters of Ogier Ghiselin de Busbecq: Imperial Ambassador at Constantinople 1554-1562. Oxford 1968 S. 114. Einige Jahrzehnte später sollte Reinhold Lubenau, der als Apotheker in der Gesandtschaft des kaiserlichen Gesandten Bartholomäus Pezzen 1587 nach Istanbul reiste, in seiner Reisebeschreibung eigens den Katzen und Hunden ein kleines Kapitel mit der Überschrift „Wie Katzen und Hunde umb Gottes willen gegeben wirdt“ reservieren. Lubenau schreibt zur Speisung der Katzen und Hunde: „Darzu seindt viel Gahrkoche erbauet, in welchen nichts anders als vor die Hunde und Katzen Lebern und ander gering Fleisch, Plautzen, Nieren klein zerschnitten auf Spislein gebraten werden, umb welche Gahrkoche sich die Hunde und Katzen mitt Haufen aufhalten. Den gehet der Gahrkoch herumb auf den Gassen, treget ein Haufen Spislein auf dem Nacken; wan nun die Turcken aus den Moskeen oder Kirchen komen, kaufen sie dieselben und gebens den Hunden und Katzen umb Gottes willen zu fressen, und solches aus groser Andacht.“ REINHOLD LUBENAU, Beschreibung der Reisen des Reinhold Lubenau, 1. Teil. Hg. W. SAHM. Königsberg 1914 S. 273. 33 VIRÉ, Kalb (wie Anm. 31) S. 489.
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Die ambivalente Einstellung zum Hund wird auch in der sufischen Literatur deutlich, in der die Treue des Hundes häufig thematisiert wurde.34 Die Bescheidenheit ist eine weitere Eigenschaft des Hundes, die die Sufis aufgegriffen und in der mystischen Literatur vielfältig zum Ausdruck gebracht haben. Einer, der die verborgenen Qualitäten dieses Tieres mehr schätzte als manch einen seiner Artgenossen, war der arabische Literat Muhammad ibn Halaf ibn al-Marzubân, der im 9. Jahrhundert ein Buch mit dem Titel: „Der Vorzug der Hunde über viele derer, die Kleider tragen“ verfasste.35 Zusammenfassend lässt sich über den Status des Hundes in der islamischen Welt feststellen, dass „the dog thus has a highly ambiguous status, depending ultimately more on the functions that the animal fulfills than on social norms, which are often contradicted or simply ignored in practice.”36 Neben der offiziellen Haltung der islamischen Rechtssprechung, die ihn einerseits als substanziell unrein diskreditiert aber andererseits als Nutztier in der Form eines Jagd-, Schäfer- oder Wachhundes wiederum legitimiert, gibt es „eine – ebenso islamische – Ebene, auf der Tierliebe, und konkret eine positive, warmherzige Einstellung zu allen Lebewesen, selbst zum unreinen Hund, mit der Anerkennung seiner positiven Eigenschaften wie Treue und Genügsamkeit vorhanden ist.“37
Schließlich lässt sich eine dritte Ebene unterscheiden, die im Volksglauben in der islamischen Welt bis zu einem bestimmten Grad verbreitet war, nach der der Hund mit dem Teufel, Satan, Dämonen, bösen Geistern und dem bösen Blick in Verbindung gebracht wird. Diese Vorstellungen sind nicht unbedingt als genuin islamisch zu betrachten. Sie signalisieren vielmehr das Fortbestehen von alten Vorstellungen aus der vorislamischen Ära bei diesen Völkern. Solche Vorstellungen finden sich auch bei Zülfikâr Efendi, wenn er schreibt: „Gott kennt die Mühen, die wir ertragen haben, seitdem wir von der Festung Pottendorf aufgebrochen sind und in der Vorstadt von Wien einquartiert wurden. Unser Tor hielten sie immer verschlossen. Rechts und links haben sie Wachhäuschen aufgestellt. Diese schmutzigen und üblen österreichischen Soldaten haben uns ununterbrochen drinnen und draußen mit ihren Gewehren in der Hand mit brennender Lunte bewacht. Sie haben nicht einmal die Hunde, mit denen sie verwandt sind und mit denen sie aus derselben Schüssel fressen, hin[ein]gelassen, sondern haben sie weggejagt; geschweige denn, die muslimischen Gefangenen hätten uns begrüßen und mit uns Worte wechseln dürfen. Am Fuße unserer Treppe und an einigen Stellen entlang der Mauer sind sie auch in dieser Manier gestanden.“38
Zülfikâr Efendi leitet diese Passage mit einem Hinweis auf die erlittenen Mühseligkeiten (çekdiğimiz eziyyetleri) ein. Die Wortkombination çekdiğimiz eziyyetleri kann hier auch als er34 Für einige dieser Hundeerzählungen siehe ANNEMARIE SCHIMMEL, Die drei Versprechen des Sperlings. Die schönsten Tierlegenden aus der islamischen Welt. München 1997 S. 219 ff. 35 Für die englische Übersetzung dieses Textes siehe, IBN AL-MARZUBÂN, The Book Of The Superiority Of Dogs Over Many Of Those Who Wear Clothes. Hg. G[ERALD] R[EX] SMITH/M. A. S. ABDEL HALEEM. Warminster 1978. 36 JEAN-PIERRE DIGARD, Dog: III. Ethnography, in: Encyclopaedia Iranica 7. Hg. EHSAN YARSHATER. Costa Mesa 1996 S. 469 f., hier 470. 37 GISELA PROCHÁZKA-EISL, Gerechtigkeit für einen Hund. Eine Traumgeschichte aus der Hamse des Nergisî, in: Osmanlı Araştırmaları 28. 2006 S. 165-181, hier 178. 38 JOBST, Gesandtschaftsbericht (wie Anm. 1) S. 316 f.
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littene Qualen verstanden werden. Die Intensität der erlittenen Mühseligkeiten wird durch den Bezug zu Gott noch einmal gesteigert. Im nächsten Schritt werden die Leser darüber aufgeklärt, worin diese bestanden haben. Nämlich eine sehr strenge Überwachung des Quartiers durch Wachmannschaften, die tags und nachts mit ihren Gewehren in der Hand vor den Türen Wache hielten und darauf achteten, dass keiner vom Gesandtschaftspersonal das Quartier ohne Begleitung durch Wachpersonal verlassen konnte. Die Überwachung empfand Zülfikâr Efendi als dermaßen streng und übertrieben, dass nicht einmal die um das Quartier umherstreifenden Hunde sich in die Nähe der Gesandtschaft wagen konnten, weil sie von den Wachen getreten und weggejagt wurden. Noch viel weniger erlaubten die Soldaten den osmanischen Gefangenen, die damals in und um Wien herum zahlreich vertreten waren und sich von der Gesandtschaft Hilfe für ihre Auslösung erhofften, Kontakt mit dem Gesandtschaftspersonal aufzunehmen, geschweige denn sie zu grüßen. Genau an dieser Stelle setzt der Reinheitsdiskurs mit Hilfe der Hundemetapher ein. Denn Zülfikâr Efendi bezeichnet die österreichischen Wachsoldaten als unrein und böszüngig (murdâr ve bed-lehçe Nemçe soltatları). Es fällt auf, dass der Autor hier das Wort murdâr benutzt, das sowohl unrein als auch schmutzig bedeuten kann. Er scheint damit beide Bedeutungen des Wortes intendiert zu haben. Wenn er die Soldaten lediglich als schmutzig bezeichnen wollte, als ein äußerer Makel, hätte er diesen Effekt durch die Verwendung anderer Wörter wie pis oder nâ-pâk auch erzielen können. Zumindest eine aufschlussreiche Verwendung von pis und nâ-pâk ist im Bericht belegt. Das kaiserliche Heerlager, das die Gesandten auf dem Weg nach Wien bei Belgrad gesehen hatten, wird von Zülfikâr Efendi als schmutzig [pis] und dreckig [nâ-pâk] bezeichnet.39 Hier ist von einem äußeren Schmutz oder Dreck die Rede.40 Mit der Verwendung von murdâr für die Soldaten geht es dem Autor darum, neben dem Schmutz die substanzielle Unreinheit der Soldaten zu markieren und hervorzuheben. Interessant ist hier die Verwendung von bed-lehçe für böszüngig, wofür der Autor im ersten Zitat im Zusammenhang mit dem Hauptmann das Wort bed-zebân benutzt hatte. Für die gleiche Bedeutung werden je nach Kontext verschiedene Wörter eingesetzt. Bestimmendes Prinzip scheint dabei die Reimbildung oder das Wortspiel zu sein. Auch hier liegt eine Reimbildung vor, denn die jeweils letzten Silben von bed-lehçe und Nemçe (österreichisch oder deutsch) reimen sich. Ein zweiter bemerkenswerter Punkt an dieser Stelle ist die Verallgemeinerung. Es ist nicht mehr wie im Dämonendiskurs der Hauptmann allein, dem die Unreinheit zugeschrieben wird, sondern allen österreichischen Wachsoldaten gemeinsam. Erst in einem nächsten Schritt wird die Hundemetaphorik mit ins Spiel gebracht, um den Reinheitsdiskurs an diesem schönen Beispiel des substanziell unreinen Tieres zu verdeutlichen. Die Soldaten werden vom Autor zu den Artgenossen (hem-cinsleri) der um das Quartier herum streifenden Hunde gemacht. Um diese Artge39 Vgl. ebd. S. 27. Jobst hat pis mit „schmutzig“ und nâ-pâk mit „unrein“ übersetzt. Treffender wäre es allerdings nâ-pâk mit „dreckig“ wiederzugeben, weil „unrein“, im Sinne von innerer oder substanzieller Unreinheit, durch die Bezeichnung murdâr besser gekennzeichnet wird. Zur Übersetzung dieser Stelle bei Jobst vgl. ebd. S. 203. 40 In dem darauffolgenden Satz wird allerdings ein bemerkenswerter Gegensatz gebildet, indem Zülfikâr Efendi festhält, dass sie ihre Kanonen und Kriegsgeräte jedoch sauber (pâk) halten. Interessant könnte hier die Frage sein, ob der Autor mit dieser Feststellung irgendwelche Erklärungsansätze andeutet, warum die Kriege der letzten Jahre für die Osmanen gegen die Habsburger in Ungarn so erfolglos verlaufen sind. Vgl. ebd. S. 27 und 203.
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nossenschaft hervorzuheben, werden sie mit hem-kâseleri zu den Schüsselgenossen der Hunde erklärt, mit anderen Worten, sie fressen aus derselben Schüssel. Auch hier treibt der Autor seine Reimspiele, denn beide Wortkonstruktionen teilen das gemeinsame Präfix hem, das erst die Reimbildung ermöglicht. Die Konstruktion hem-kâseleri könnte eine Wortschöpfung Zülfikâr Efendis sein. In den Augen des Gesandten sind die österreichischen „Hunde“ (Soldaten) so niedrige Wesen, dass sie nicht einmal ihren eigenen Artgenossen, den Hunden, Vertrauen entgegen bringen und diese deshalb treten und aus der Nähe der Gesandtschaft wegjagen. Die ambivalente Einstellung gegenüber dem Hund in vielen Kulturen hat die Hundemetapher besonders dazu prädestiniert als Schimpfwort eingesetzt zu werden, denn, wenn „es ein internationales und universales Schimpfwort gibt, dann dürfte es ‚Hund‘ sein.“41 Wie funktioniert die Tiermetaphorik bei einem Schimpfwort? Nach Aman ist der Einsatz einer Metapher ein gekürzter Vergleich, bei dem zwei Wesen oder Dinge miteinander verglichen werden. Dabei wird immer eine besondere Eigenschaft betont, die den beiden verglichenen Wesen gemeinsam ist; bei Schimpfwörtern immer etwas Pejoratives. Diese gemeinsame Komponente wird als tertium comparationis – das Dritte des Vergleichs – bezeichnet.42 Angewendet auf unsere Textpassage würde die Übertragung der negativen Eigenschaften des Hundes auf die österreichischen Soldaten folgendermaßen vor sich gehen: 1. Behauptung: Der Hund ist substanziell unrein. 2. Vergleich (Simile): Die österreichischen Soldaten sind Hunde. 3. Vergleich (Metapher): Die österreichischen Soldaten sind substanziell unrein. Wichtig ist dabei, dass für die Adressaten des Textes die Behauptung – der Hund ist substanziell unrein – eine allgemein bekannte Tatsache ist. Wenn das nicht zuträfe, würde der Vergleich nicht funktionieren. Die negative Eigenschaft substanziell unrein wäre hier das tertium comparationis, das den beiden miteinander Verglichenen, dem Hund und den österreichischen Soldaten, gleichzeitig zukäme. Hier sollte jedoch darauf hingewiesen werden, dass das Schimpfwort in unserem Beispiel nicht in der Gegenwart der Soldaten ausgesprochen wird, sondern in einem Text eingesetzt wird, der nicht für die Österreicher als Publikum vorgesehen ist; d.h. der Einsatz der Hundemetapher als Schimpfwort im Kontext eines Reinheitsdiskurses richtet sich ausschließlich an einen sehr kleinen Kreis von osmanischen Adressaten. Die Hundemetapher wird im Text einige Zeilen später herangezogen, um einen weiteren neuen Aspekt ins Spiel zu bringen. Zu der Unreinheit der Soldaten gesellt sich nun die Verdorbenheit ihres Naturells: „Abgesehen davon, daß wir notgedrungen Freundlichkeit und Nachgiebigkeit zeigten und gegenüber ihren unsinnigen Handlungen und Worten, soweit sie nicht die offiziellen Verhandlungen betrafen, Nachsicht übten, haben wir, da sich die bei uns befindlichen Österreicher über Hunger beklagten und man ihnen wirklich bis zum Abend nichts zu essen gab, sie mit Brot und Wohltaten gesättigt. Wenn sie hungrig waren, haben sie wie die Hunde geheult.
41 REINHOLD AMAN, Bayrisch-österreichisches Schimpfwörterbuch. München 1973 S. 163. 42 Vgl. ebd. S. 170.
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Wenn sie satt waren, haben sie wegen ihres verdorbenen Naturells ihre alten schlechten Angewohnheiten behalten.“43
Um ihre Situation nicht noch mehr zu verschlimmern, wurde gegenüber den „unsinnigen Handlungen und Worten“ (nâ-mâkûl işlerine ve sözlerine) der Soldaten Nachsicht geübt (müsâmaha olduğundan) und „zwecks der Geschäfte notgedrungen Freundlichkeit und Nachgiebigkeit“ gezeigt (berâ-yı maslahat müdârâ ve mülâyemet üzre hareket), soweit es nicht die offiziellen Verhandlungen betraf. Da den Soldaten von ihren Vorgesetzten bis zum Abend nichts zu essen gegeben wurde und diese sich, wie Zülfikâr Efendi schreibt, über Hunger beklagten, indem sie wie die Hunde heulten (köpek gibi ürerler idi), blieb den „wohlwollenden“ und „gütigen“ Osmanen nichts anderes übrig als sie mit Brot und Wohltaten (nân u nimet) zu nähren. Sie taten dies offensichtlich, obwohl sie selbst Versorgungsschwierigkeiten hatten, denn Zülfikâr Efendi hatte sich immer wieder bei den kaiserlichen Vertretern darüber beschwert, dass sie zu wenig Tagegelder bekämen und ihnen auf dem Markt die Waren zu überhöhten Preisen verkauft würden. Die Osmanen mussten die österreichischen „Hunde“ ernähren, weil ihnen auch ihre religiösen Bestimmungen vorschrieben, hungernden und dürstenden Tieren zu helfen, um sich Verdienste im Jenseits zu erwerben. Zahlreich überliefert sind die Tiergeschichten, in denen der tierliebende Sünder mit dem Paradies belohnt wird.44 Die Gefälligkeiten der Osmanen konnten die Österreicher jedoch nicht honorieren, denn nachdem ihr Hunger gestillt war, hörten sie zwar auf wie „Hunde“ zu heulen, aber von ihren schlechten Angewohnheiten, mit denen sie der osmanischen Gesandtschaft viel Kummer und Mühsal bereiteten, konnten sie nicht ablassen. Die Frage ob sie das nicht wollten oder konnten, scheint für Zülfikâr Efendi eindeutig zu sein. Sie konnten davon nicht lassen, weil sie über ein verdorbenes Naturell (cibilliyet-i fâsideleri) verfügten. Darauf positiv einzuwirken oder sie gar zu verändern schien ihm nicht möglich zu sein. Hier tritt der Hund als Symbol für Undankbarkeit und innere Verdorbenheit in Erscheinung. Beides sind Eigenschaften, für die sich keine Bezüge in der islamischen Literatur und Volksgläubigkeit finden lassen. Einige Zeilen weiter kommt Zülfikâr Efendi wieder auf den Hauptmann zu sprechen. Seine Beschreibung erfährt noch einmal eine Wendung. Dabei bleibt er im Rahmen der Tiermetaphorik, wechselt jedoch von dem unreinen Hund zu einem Ochsen über. „Wir haben das Benehmen des erwähnten ochsenäugigen Hauptmanns und des Dolmetschers nicht mehr ertragen. Damit sie gerügt und bestraft würden, haben wir einen Beschwerdebrief geschrieben.“45
Man ist geneigt zu sagen, dass nach der Dämonisierung am Anfang der Hauptmann an dieser Stelle im Text als Ochse milder davonkommt. Denn mit dem Ochsen werden generell solche Assoziationen verbunden wie dumm, primitiv oder auch grob. Im osmanischen Text wird „ochsenäugiger Hauptmann“ mit kapûdân-ı aynü l-bakar ausgedrückt. Bei der Vorliebe des Autors für Wortspiele und Mehrdeutigkeiten wundert es nicht, dass die Konstruktion kapûdân-ı aynü l-bakar mehr als eine Bedeutung aufweist. In seiner Über43 JOBST, Gesandtschaftsbericht (wie Anm. 1) S. 318. 44 Zu zwei dieser Geschichten siehe SCHIMMEL, Versprechen (wie Anm. 34) S. 229 und KATHLEEN GÖPEL, Tiere des Himmels. Geschichten aus dem Orient. Kreuzlingen 2002 S. 67. 45 JOBST, Gesandtschaftsbericht (wie Anm. 1) S. 318.
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setzung des Textes hat Jobst sich für die Variante „ochsenäugiger Hauptmann“ entschieden. Hier werden die Augen des Hauptmanns mit denen eines Ochsen verglichen und auf die Ochsenhaftigkeit des ersteren geschlossen. Daneben kann kapûdân-ı aynü l-bakar aber auch mit „der Hauptmann, der ein Ochse ist“ oder „der mit einem Ochsen identische Hauptmann“ übersetzt werden, denn ayn kann sowohl Auge als auch gleich/identisch bedeuten, und bakar bedeutet Ochse oder Rind. Bei dieser Lesart wird die Ochsenhaftigkeit nicht durch einen Vergleich hergestellt, sondern direkt ausgedrückt. Drittens kann die Konstruktion aynü l-bakar – auch in den Formen ayn-ı bakar46 oder aynabakar 47 anzutreffen – in der Bedeutung von „große, wässrig-fleischige und ovale Pflaume“ vorkommen. Eine Anknüpfung an diese Bedeutung der Wortkombination ist nicht gänzlich auszuschließen, denn mit der „großen ovalen Pflaume“ lässt sich sehr schön auf die großen Augen des Hauptmanns anspielen. Damit hätte Zülfikâr Efendi zu der Verwendung der Dämonen-, Geister- und Tiermetaphorik an dieser Stelle im Text schließlich auch die Pflanzenmetaphorik bei seiner Beschreibung der Österreicher mit ins Spiel gebracht. Bemerkenswert bei dem Einsatz all dieser Metaphern in dem von mir hier thematisierten Textabschnitt aus dem Gesandtschaftsbericht ist die Beobachtung, dass ihre Intensität auf einer Negativskala allmählich abnimmt. Zülfikâr Efendi fing mit Dämonen an, ging über zu bösen Geistern, wechselte dann in die Tierwelt der Hunde, kommt schließlich bei dem Ochsen an, um endlich mit der Pflaumenmetapher abzuschließen. Die vorwiegend am Beispiel des Hauptmanns und der übrigen Soldaten illustrierten pejorativen Zuschreibungen des Autors bleiben nicht nur auf diese Gruppe beschränkt. Die Dolmetscher des Wiener Hofes gehörten zu den wenigen, mit denen die osmanische Delegation Kontakt hatte, weil sie die Mittelsmänner zwischen ihnen und dem kaiserlichen Hof waren. Auch auf diese ist Zülfikâr Efendi nicht gut zu sprechen. Schon im oben erwähnten Zitat macht der Autor deutlich, wie unerträglich der Dolmetscher zusammen mit dem Hauptmann war. An einer anderen Textstelle kommt er wieder auf die Dolmetscher zurück und äußert sich über ihre Türkischkenntnisse nicht gerade positiv. „Was die Dolmetscher betrifft, so sind sie unhöflich und können kein Türkisch. Sie bewegen sich nur in ihrer eigenen Sprache. Was wir gesagt haben, haben sie verdreht gesagt.“48 Nicht nur, dass sie ungehobelt waren (âdab bilmez), sie konnten auch kein Türkisch (ne Türkçe bilir), so dass sie die Botschaften der Osmanen nicht korrekt übersetzten. Der Autor scheint das Attribut des verdorbenen Naturells, das er am Beispiel der Soldaten und des Hauptmanns eingeführt hatte, somit auch auf die Dolmetscher übertragen zu wollen. Wie wir sehen werden, sollte es nicht dabei bleiben. Zülfikâr Efendi wird nicht müde im Verlaufe des Textes immer wieder darauf hinzuweisen, dass er die Vertreter des Kaisers – namentlich den Grafen Kinsky49 – über ihre schlechte Lage mit Beschwerdebriefen unterrichtet habe. 46 Vgl. PARLATIR, Osmanlı (wie Anm. 1) S. 129 und REDHOUSE, Turkish (wie Anm. 26) S. 1332. 47 Vgl. KARL STEUERWALD, Türkisch-Deutsches Wörterbuch/Türkçe-Almanca Sözlük. Istanbul 1988 S. 76. 48 JOBST, Gesandtschaftsbericht (wie Anm. 1) S. 317. 49 Graf Franz Ulrich Kinsky war seit 1683 Oberstkanzler in Böhmen und ab 1690 Mitglied des Geheimen Konferenzrates des Kaisers. Zusammen mit Ernst Rüdiger von Starhemberg, Antonio Caraffa und Theodor Althet Stratmann bildete er das Quartett, das den kaiserlichen Hof bei den Friedensverhandlungen von 1689 vertrat; vgl. ebd. S. 412.
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„Als wir ihn [den Beschwerdebrief] dem Grafen Kinsky gesandt hatten, entsprachen auch diesbezüglich seine Worte nicht seinen Handlungen. Zu unserer Tröstung schrieb er viele schöne und maßvolle Worte.“50
Der kaiserliche Hof war somit über die Internierungsbedingungen der osmanischen Delegation und über deren schlechte Behandlung vor Ort durch Wachleute und anderes Personal unterrichtet. Er zeigte allerdings keine Bestrebungen, etwas Ernsthaftes dagegen zu unternehmen. Den schönen und maßvollen Worten folgten keine dementsprechenden Handlungen; d.h. hier zeigt sich eine Diskrepanz zwischen dem, was die Hofbeamten schriftlich oder mündlich von sich gaben und dem, was in der Folge in die Tat umgesetzt wurde, oder besser gesagt, gerade nicht umgesetzt wurde. Das Äußere entsprach nicht dem Inneren, weil die Hofbeamten in den Augen Zülfikâr Efendis ein verdorbenes Naturell besaßen. Nicht selten werden die schönen Worte der Vertreter des Hofes deshalb auch als Lügen (yalan, kizb, iftira) gebrandmarkt.51 Da die Befehlshierarchie am Wiener Hof bis zum Kaiser hinauf steigt und dieser als höchster Repräsentant die Verantwortung für die Handlungen seiner Untergebenen trug, wäre es nicht abwegig, die pejorativen Zuschreibungen des Autors im Dämonen- und Hundediskurs bis zum Kaiser hinauf auszudehnen und zu verallgemeinern. Somit wäre auch der Kaiser zumindest mitverantwortlich, wenn nicht gar hauptverantwortlich für all das, was der osmanischen Gesandtschaft angetan wurde.
Barbaren, Dämonen und die Konstruktion des Fremden In der bisherigen Untersuchung konnte gezeigt werden, dass Differenzmarkierungen im Text des Zülfikâr Efendi situativ und kontextgebunden waren, ihre Bedeutung aber durch die Rückbindung an einen in der Tradition verhafteten Dämonen- und Geisterdiskurs erhielten. Der Autor dieses Gesandtenberichtes musste sich gegenüber dem Sultan rechtfertigen für eine Mission, die ohne Erfolg geblieben war. Er tat dies, indem er den Gegner dämonisierte. Diese Dämonisierung erweist sich, wenn man den Text genauer betrachtet und die aufgezeigten Diskursstränge berücksichtigt, als viel grundsätzlicher und umfassender als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Mit der Dämonisierung der Österreicher wird zwar ihre besonders gesteigerte „Fremdheit“ hervorgehoben und darauf hingewiesen, dass das „Fremde“ zugleich auch „böse“ sein muss. Doch zugleich geht es dem Autor darum, seine eigene Situation zu sichern, sein Scheitern ebenso wie sein Leiden zu erklären. Damit konnte er im Endeffekt erfolgreich verhindern am osmanischen Hofe in Ungnade zu fallen.52 Die Konstruktion eines Fremd- und Feind50 Ebd. S. 318 f. 51 Vgl. dazu folgende Textstellen in der Ausgabe von Güler: [ZÜLFIKÂR EFENDI], Zülfikâr (wie Anm. 12) S. 125, 127 und 159. 52 Nach der Rückkehr der Gesandtschaft ins Osmanische Reich im Sommer 1692 wurde Zülfikâr Efendi erneut zum Aufseher (emîn) der alljährlich nach Mekka entsandten sog. Ehrengeschenke (surre-i hümâyun) bestellt. Kurz vor seinem Tod in der Schlacht an der Béga unweit von Olasch in Ungarn am 20. August 1696 wurde er zum Sekretär der Janitscharen (yeniçeri kâtibi) ernannt. Siehe dazu FRANZ BABINGER, Die Geschichtsschreiber der Osmanen und ihre Werke. Leipzig 1927 S. 233.
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bildes mit Hilfe des Dämonendiskurses unterstreicht zugleich den imperialen Anspruch des Osmanischen Reiches.53 Dass Fremdheit und das Böse auch in anderen Texten ähnlich konstruiert wurden, vermag ein Verweis auf Differenzmarkierungen und Feindbildkonstruktionen bei dem ersten osmanischen Großbotschafter nach Russland Mehmed Emnî Paşa verdeutlichen, der in seinem Gesandtschaftsbericht54 der Jahre 1740-1742 von der Unterscheidung dâr-ı islâm (islamische Welt) und dâr-ı harb (Kriegsgebiet) Gebrauch macht. Das Russische Reich wäre nach dieser Unterscheidung als dâr-ı harb zu betrachten und wurde von dem Gesandten zu einem „Reich des Bösen“ (emâkin-i eşrâr) erklärt, denn im Staube ihres Landes (gûbâr-ı diyârlarında) könne man, so schreibt er, die Funken des Höllenfeuers [nâr-ı cehennem şerârı] sehen. Der zweijährige Aufenthalt in diesem „Reich des Bösen“ bereitete dem Großbotschafter sowohl seelische Qualen (azâb-ı rûhânî) als auch körperliche Qualen (ezây-i cismânî), so dass er sich in der Zeit während seines Aufenthalts in Russland als gequält, gepeinigt (muazzeb) und ohne innere Ruhe (bî-huzûr) sah.55 Die Gemeinsamkeiten der Differenzmarkierungen und der Feindbildkonstruktionen zwischen den Berichten des Zülfikâr Efendi und des Mehmed Emnî Paşa sind bemerkenswert. Durch die Gleichsetzung des Russischen Reiches mit dem „Reich des Bösen“, durch den Bezug auf Höllenfeuer und den Rekurs auf die seelischen und körperlichen Qualen, die der Protagonist im „Reich des Bösen“ zu erleiden hatte, wird bei Mehmed Emnî Paşa ebenfalls ein Dämonen- und Geisterdiskurs aufgegriffen und entfaltet. Beide Autoren scheinen von ihren eigenen Fremderfahrungen ausgehend ihr muslimisches Publikum vor einer Reise ins „Reich des Bösen“ warnen zu wollen. So könnte ihr Motto lauten: Betreten auf eigene Gefahr!56 Der Bericht des Zülfikâr Efendi kann auch mit christlichen Berichten über das Osmanische Reich verglichen werden. Einen möglichen Anknüpfungspunkt bildet die aufgezeigte Hundemetaphorik, mit der die Unreinheit des „Fremden“ unterstrichen wird. Dabei stellt sich die Frage, ob das „Böse“ gleichzeitig auch schmutzig oder unrein sein muss. Almut Höfert hatte europäische Reiseberichte über das Osmanische Reich aus dem 15. und 16. Jahrhundert auf diese Fragestellung hin untersucht.57 Die Reisenden waren mit der äußeren Sauberkeit und Vorbildlichkeit der Osmanen konfrontiert und 53 Imperien im Sinne von Herfried Münkler, der das politische Ordnungsmodell Imperium von dem des Staatensystems unterscheidet. Beide Modelle unterscheiden sich nicht nur in ihren institutionellen Strukturen der politischen Ordnung, sondern auch in ihren kognitiven Mustern und mentalen Dispositionen bei der Verarbeitung von Fremdheit. Vgl. dazu HERFRIED MÜNKLER, Barbaren und Dämonen. Die Konstruktion des Fremden in Imperialen Ordnungen, in: Selbstbilder und Fremdbilder. Repräsentation sozialer Ordnungen im Wandel. Hg. JÖRG BABEROWSKI/HARTMUT KAELBLE/JÜRGEN SCHRIEWER. Frankfurt usw. 2008 S. 153-189, hier 153; DERS., Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin 2005. 54 [MEHMED EMNÎ PAŞA], Mehmed Emnî Beyefendi (Paşa)`nın Rusya Sefâreti ve Sefâret-Nâmesi. Hg. MÜNİR AKTEPE. Ankara 21989. 55 Vgl. ebd. S. 85. 56 Diese Geisteshaltung der beiden osmanischen Gesandten könnte ein kleines Indiz dafür liefern, warum muslimische Reisende in der Frühen Neuzeit im christlichen Europa viel weniger anzutreffen waren als ihre christlichen Kollegen im Osmanischen Reich. 57 ALMUT HÖFERT, Ist das Böse schmutzig? Das Osmanische Reich in den Augen europäischer Reisender des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 11. 2003 S. 176-192.
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mussten diese Beobachtung mit den Vorgaben des Diskurses über die „Türkengefahr“ in Einklang bringen. Von ihren Befunden ausgehend kommt Höfert zu dem Schluss, „daß auch im 15. und 16. Jahrhundert davon ausgegangen wurde, daß das Böse in seinen Niederungen – oder eben seinem Innersten – schmutzig sein mußte. Mit der Verbindung von äußerer Sauberkeit versus innerer Unreinheit war die Formel gefunden […]. […] Die Kategorien von Unreinheit und Reinheit wurden damit in die Dichotomie von Außen und Innen überführt […].“58
Für Zülfikâr Efendi waren die Verhältnisse eindeutiger, denn er war nicht mit dem Problem der äußeren Sauberkeit konfrontiert, die er mit seinen Vorgaben aus islamischen Reinheitsdiskursen hätte verarbeiten müssen. Für ihn waren die Österreicher sowohl äußerlich als auch innerlich schmutzig und unrein und hatten zudem noch ein verdorbenes Naturell. Somit brachte Zülfikâr Efendi bei der Beschreibung der Österreicher auch die Kategorien von Außen und Innen mit ins Spiel. Das Einzige was an ihnen nicht schmutzig oder unrein war, waren ihre Kanonen und Kriegsgeräte.59 Da der Dämonendiskurs gleichzeitig auch das Böse mit sich brachte, wäre es nicht verfehlt zu behaupten, dass für Zülfikâr Efendi das Böse zugleich auch schmutzig und unrein war. Eine weitere Parallele bei der Konstruktion des „Fremden“ lässt sich im Gebrauch der Tiermetaphorik beobachten. Die Hundemetapher ist auch in habsburgischen Berichten über das Osmanische Reich neben dem Ausdruck „Barbar“ ein sehr beliebtes Motiv. Auf beiden Seiten scheint es eine Vorliebe gegeben zu haben, den Glaubensgegner mit Tiermetaphern, insbesondere mit Hund zu bezeichnen. 60 Benedikt Kuripešič lässt in seiner Reisebeschreibung aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die zu den ersten zählt, welche in Begleitung einer habsburgischen Gesandtschaft nach Istanbul entstand, aus dem Munde eines Griechen die „Türken“ als „wütenden und tyrannischen Hund“ oder als „türkischen Bluthund“ bezeichnen. 61 Ähnliches findet sich auch bei Stephan Gerlach, für den die „Türken“ zwar starke und wendige Leute sind, die beim Laufen, Springen, Schießen und mit dem Schwert gut umzugehen wissen, ansonsten aber „ein Barbarisch/viehisch Gesind“ sind, die die ehemals schöne Stadt Ofen „zu einem Säu= und Hundstall“ verunstaltet hätten.62 Bei Salamon Schweigger hingegen lässt sich der Einsatz einer sehr differenzierten Tiermetaphorik beobachten. Die osmanische Staatselite wird von ihm neben „Barbar“ und „Tyrann“ mit Vorliebe als „Bestia“, „böse Bestien“, 58 Ebd. S. 191. 59 Vgl. dazu JOBST, Gesandtschaftsbericht (wie Anm. 1) S. 203 und Anm. 39 in diesem Artikel. 60 Auch im Christentum wurde die Hundemetapher als Schimpfwort eingesetzt. Diese Tradition lässt sich bis auf Paulus zurückverfolgen, der seine Widersacher als Hunde bezeichnete. Das Schimpfwort konnte sich grundsätzlich gegen Juden, Heiden sowie Häretiker richten; vgl. dazu HEINZ-JÜRGEN LOTH, Hund, in: Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der Antiken Welt 16. Hg. ERNST DASSMANN. Stuttgart 1994 Sp. 773-828, hier 825. 61Vgl. MARK FEUERLE/JAN ULRICH BÜTTNER, Von Wien nach Konstantinopel 1530. Deutsch-türkische Diplomatie am Beginn des 16. Jahrhunderts. Hannover 2010 S. 95. Das Wort Bluthund wird auf Luthers Bibelübersetzung ab 1522 zurückgeführt und kommt im 2. Buch Samuel 16.7 und 16.8 vor. Höchst bemerkenswert ist die Feststellung, dass diese Bezeichnung binnen weniger Jahre in Bezug auf die „Türken“ verwendet wird. 62 Vgl. STEPHAN GERLACH, Stephan Gerlachs des Ältern Tage-Buch. […] Franckfurth am Mayn 1674 S. 11.
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„Bluthund“, „Raubvögel“ oder „Schnappvögel“ bezeichnet. 63 Schließlich bezeichnete selbst der Altmeister der Osmanistik, Joseph von Hammer-Purgstall, noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Verhältnis zwischen der Habsburgermonarchie und dem Osmanischen Reich im 16. und 17. Jahrhundert als eine Auseinandersetzung „zwischen Cultur und Barbarey“.64 Die Liste der Autoren mit ähnlichen Textstellen ließe sich über viele Jahrhunderte hinweg weiterverfolgen. Ich will es hier an dieser Stelle bei diesen Beispielen belassen. Einige dieser Reiseberichte gewähren uns auch einen Einblick, mit welchem Vokabular die Osmanen auf die Fremden aus dem europäischen Ausland Bezug nahmen. So schreibt Stephan Gerlach beispielsweise, dass die Osmanen sowohl die Christen als auch die Perser vorzugsweise als „Hunde“, „Heiden“, „Ungläubige“ und „Verfluchte“ bezeichneten.65 Ein sehr anschauliches Beispiel vom Ende des 16. Jahrhunderts liefert uns der Apotheker Friedrich Seidel, der in seinem Bericht die Geschichte eines Mitglieds aus der Gefolgschaft der Gesandtschaft erzählt, welcher in Ofen die „Seiten wechselte“ und zum Islam konvertierte. Als der Konvertit in einem inszenierten feierlichen Umzug auf einem Schimmel durch die Stadt und eben auch an der kaiserlichen Gesandtschaft vorbeigeführt wird, verdeutlicht dieser seinen Religionswechsel gegenüber seinen ehemaligen Religionsbrüdern, indem er sie als Hunde beschimpfte.66 Schließlich setzt Zülfikâr Efendi in einem dritten Schritt für die Differenzmarkierung die Ochsenmetapher ein, um die Ungehobeltheit, Grobheit und Rüpelhaftigkeit der Österreicher zu veranschaulichen. Zusammen mit der Ochsenmetaphorik tritt auch eine Pflaumenmetapher in Erscheinung, mit der die pflaumenartig großen Augen der österreichischen „Ochsen“ noch einmal unterstrichen werden. Die Differenzmarkierung bei Zülfikâr Efendi weist jedoch auch eine Asymmetrie auf. Zum einen definiert er bei der Grenzziehung das „Eigene“, das Osmanische Reich, mit einem auf den Islam Bezug nehmenden Vokabular. Für ihn ist im Text das Osmanische Reich memâlik-i mahrûse67 (die wohlbehüteten Länder) und zugleich auch immer memâlik-i islâmiyye68 (die islamischen Länder) oder memâlik-i mahrûse-i islâmiyye69 (die wohlbehüteten islamischen Länder). Der Sultan ist gleichzeitig pâdişâh-ı islâm70 (der Herrscher des Islam), die osmanischen Heere sowohl asker-i âl-i osman71 (die osmanischen Soldaten) als auch asker-i islâm72 (die Soldaten des Islam) und der Feind düşman-ı din73 (der Glaubensfeind). Wir sehen, dass hier das Osmanische Reich mit dem Islam gleichgesetzt wird. Diese 63 Vgl. SALAMON SCHWEIGGER, Zum Hofe des türkischen Sultans. Hg. HEIDI STEIN. Leipzig 1986 S. 32, 59, 63, 69, 71, 78, 79 und 92. 64 Vgl. JOSEPH VON HAMMER, Geschichte des Osmanischen Reiches 3. Grossentheils aus bisher unbenützten Handschriften und Archiven. Pest 1828 S. 221. 65 Vgl. GERLACH, Tage-Buch (wie Anm. 62) S. 191. 66 Vgl. FRIEDRICH SEIDEL, Denckwürdige Gesandtschafft an die Ottomannische Pforte. […] Görlitz 1711 S. 2. 67 Vgl. JOBST, Gesandtschaftsbericht (wie Anm. 1) S. 119 und 148. 68 Vgl. ebd. S. 16 und [ZÜLFIKÂR EFENDI], Zülfikâr (wie Anm. 12) S. 150. 69 Vgl. [ZÜLFIKÂR EFENDI], Zülfikâr (wie Anm. 12) S. 150. 70 Vgl. JOBST, Gesandtschaftsbericht (wie Anm. 12) S. 64. 71 Vgl. ebd. S. 83. 72 Vgl. ebd. S. 16, 17, 18, 19 und 64 und [ZÜLFIKÂR EFENDI], Zülfikâr (wie Anm. 12) S. 150. 73 Vgl. JOBST, Gesandtschaftsbericht (wie Anm. 1) S. 17; [ZÜLFIKÂR EFENDI], Zülfikâr (wie Anm. 12) S. 129 und 145.
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Auffassung ist mit dem Führungsanspruch des Reiches in der islamischen Welt leicht in Einklang zu bringen. Auf der anderen Seite jedoch werden die Feinde des Reiches oder das „Fremde“ nicht als eine Einheit in Form eines christlichen Blockes definiert. Sie werden differenziert wahrgenommen und ohne Zuhilfenahme religiösen Vokabulars gekennzeichnet. Bei der Bestimmung des „Eigenen“ spielt Religion eine identitätsstiftende Rolle, bei der Bestimmung des „Fremden“ hingegen kaum. Wenn auch die osmanische Sprache kein äquivalentes Wort für „Barbar“ oder „Barbarei“ hatte, so war ihr das Konzept des Barbarischen nicht fremd; das Wort gâvur oder gâvurluk (mit den Bedeutungen Ungläubiger, ungläubig, gottlos, unbarmherzig, grausam, gefühlsroh, eigensinnig oder stur) kam dem relativ nahe. Interessant ist es festzustellen, dass Zülfikâr Efendi in seinem Bericht gâvur zur Differenzmarkierung nicht heranzieht. Von den im Bericht des Zülfikâr Efendi identifizierten Differenzmarkierungen ausgehend würde ich die Grenzziehung zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“ entlang der Grenze des Osmanischen Imperiums zur Habsburgermonarchie festmachen, die somit für die Osmanen eine Barbaren- und Dämonengrenze 74 zugleich war. Diese Grenze mochte gleichzeitig auch eine Zivilisationsgrenze sein, jedoch nicht unbedingt eine Religionsgrenze. Somit wären für Zülfikâr Efendi sein orthodoxer Gefährte Alexander Mavrokordato und mit ihm auch alle anderen Christen und Juden im Osmanischen Imperium als Untertanen des Sultans keine „Fremden“, wie es die Österreicher waren. Andererseits würden nach diesem Verständnis die Christen und Juden auch nicht in der Kategorie des „Eigenen“ aufgehen. Sie wären demnach als Angehörige einer anderen Religionsgemeinschaft im eigenen Reichsverband als die „Anderen“ zu betrachten. Von den Befunden dieser Arbeit ausgehend lässt sich die These aufstellen, dass in den Reise- und Gesandtschaftsberichten zwischen der europäischen Wahrnehmung des Osmanischen Reichs einerseits und der osmanischen Wahrnehmung europäischer Länder andererseits durchaus ähnliche Wahrnehmungsmuster bestehen. Eine transkulturelle und vergleichende Erforschung von Reise- und Gesandtschaftsberichten der Frühen Neuzeit scheint interessante Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede in den gegenseitigen Differenzwahrnehmungen und Feindbildkonstruktionen offenzulegen. Am Ende dieser Arbeit konnte auf einige Parallelen bei der Differenzmarkierung nur kurz hingewiesen werden.
74 Zu diesem Konzept der Barbaren- und Dämonengrenze und ihrer Anwendung bei der Konstruktion des Fremden in imperialen Ordnungen siehe MÜNKLER, Barbaren (wie Anm. 53) S. 173-189 und DERS., Imperien (wie Anm. 53) S. 127-166.
CHRISTINE VOGEL
Osmanische Pracht und wahre Macht Zur sozialen Funktion von Differenzmarkierungen in diplomatischen Selbstzeugnissen des späten 17. Jahrhunderts
Eine osmanische Herrschaftszeremonie: Edirne 1675 Im Sommer 1675 schickte der französische Botschafter im Osmanischen Reich, Charles de Nointel, einen sorgsam redigierten und bereits seit längerem angekündigten Bericht an den Hof. Den rund 50 Manuskriptseiten langen Text versah er mit einem Begleitschreiben, das direkt an Ludwig XIV. gerichtet war, und in dem er dem König sein Werk als Beweis seiner tiefsten und achtungsvollsten Untertänigkeit empfahl.1 Es handelte sich um die detaillierte Schilderung eines der größten Feste, das damals seit rund einem Jahrhundert im Osmanischen Reich stattgefunden hatte: Vier Wochen lang hatte man im Mai und Juni in der Residenzstadt Edirne die Beschneidung der beiden Söhne Sultan Mehmeds IV. sowie die Hochzeit einer seiner Töchter gefeiert.2 Solche groß angelegten Beschneidungs- und Hochzeitsfeste von Sultanskindern waren die bedeutendsten Herrschaftszeremonien der Osmanen. Sie fanden seltener statt als nur bedingt vergleichbare westeuropäische Herrschaftszeremonien wie etwa Krönungen, Stadteinzüge oder Hoffeste, denn nicht jeder Sultan gab ein solches Fest. Meist zog es sich dann aber gleich über mehrere Wochen hin und erforderte langwierige Vorbereitungen. Es handelte sich somit um außergewöhnliche Ereignisse, die im Übrigen häufig mit außen- oder innenpolitischen Krisensituationen zusammenfielen. Die Feste dienten der Inszenierung der dynastischen Legitimität und des universellen Herrschaftsanspruchs der Osmanen. In ihnen wurde durch eine festgelegte Abfolge zeremonieller Handlungen und unter breiter Beteiligung von Vertretern aller Untertanengruppen sowie von Delegationen aus allen Teilen des Imperiums die Ordnung der Welt mit dem Sultan im Zentrum symbolisch erneuert.3 1
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[CHARLES DE NOINTEL], Circoncision de Sultan Moustafa fils Du grand Seigneur d’apresent. Paris, Bibliothèque de l’Institut, ms. 66, fol. 51r-98r; Nointel an Ludwig XIV, ohne Datum [Sommer 1675], ebd. fol. 49rv. Zu Nointel liegt eine Monographie älteren Datums vor: ALBERT VANDAL, L’Odyssée d’un ambassadeur. Les voyages du marquis de Nointel (1670-1680). Paris 1900. Im Gegensatz zu den bekannteren Beschneidungsfeiern von 1582 und 1720 findet das Fest, das 1675 in Edirne stattfand, in aktuellen Studien bestenfalls am Rande Erwähnung. Auf Türkisch liegen vor: ÖZDEMIR NUTKU, IV. Mehmet’in Edirne Şenliği (1675). Ankara 1972; MEHMET ARSLAN, Osmanlı Dönemi Düğün ve Şenliklerinde Nahıl Geleneği, 1675 Edirne Şenliği ve Bu Şenlikte Nahıllar. Osmanlı Edebiyat-Tarih-Kültür Malaleleri. Istanbul 2000 S. 593-618; eine ausführliche Beschreibung des Fests, die jedoch weitgehend unkritisch die unten zitierten publizierten Schriften des französischen Botschaftssekretärs La Croix übernimmt, findet sich bei JOSEPH VON HAMMER-PURGSTALL, Geschichte des Osmanischen Reiches 6. Pest 1830 S. 307-316 und 704-713. Zu solchen Festen im Allgemeinen, jedoch zumeist mit einem Schwerpunkt auf den Beschneidungsfeiern von 1582 oder 1720, siehe SURAIYA FAROQHI, Subjects of the Sultan: Culture and Daily
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Während der Feier fanden vormittags Huldigungen und Geschenkübergaben an den Sultan und seine Söhne statt sowie Gebete vor seinem Prunkzelt. Mittags folgten Festmahle, die der Sultan jeweils für Repräsentanten bestimmter sozialer Gruppen gab, sowie Prozessionen von Handwerksgilden, die ihre Kunstfertigkeit auf verschiedenerlei Weise und teils auch parodistisch inszenierten. An diesen Prozessionen nahmen nicht nur die muslimischen, sondern auch die christlichen und jüdischen Untertanen des Sultans teil. Nachmittags wurden Schaukämpfe, Musikvorführungen und Volksbelustigungen dargeboten, abends kamen Feuerwerke und Lichtinstallationen hinzu. Der Ablauf wiederholte sich mit kleineren Varianten und wechselnden Akteuren täglich bis zum Tag der eigentlichen Beschneidung. Nach einer achttägigen Pause folgte dann die Hochzeitsfeier, die nach einem ähnlichen rituellen Schema ablief. Die Feierlichkeiten beinhalteten also staatstragende Zeremonien, sie weisen aber auch volksfestartige, parodistische und karnevaleske Elemente auf. Sie inszenierten damit auf komplexe Weise Reichtum, Pracht und Überfluss sowie die gerechte Ordnung der Welt unter der Herrschaft des Sultans.4 Westlichen Beobachtern war im Frühjahr 1675 durchaus bewusst, dass ihnen hier eine nicht alltägliche Gelegenheit geboten wurde, den Machtanspruch des Sultans und das osmanische Herrschaftsverständnis gleichsam symbolisch verdichtet zu erleben, und so verfügen wir gleich über mehrere Festbeschreibungen aus westeuropäischer Perspektive, die allesamt in verschiedene Arten von Selbstzeugnissen eingebettet sind und aus dem Umkreis diplomatischer Missionen stammen. 5 Dies ist insofern bemerkenswert, als Mehmed IV. anders als seine Vorgänger und Nachfolger keine Vertreter europäischer Mächte eingeladen hatte. Anwesend waren aber die Gesandten tributpflichtiger Mächte, der Republik Ragusa und des Fürsten von Siebenbürgen, die bei dieser Gelegenheit ihren Vasallenstatus durch Geschenkübergaben symbolisch bestätigten.6 Es war deshalb un-
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Life in the Ottoman Empire. London usw. 2000 S. 164-168; DERIN TERZIOĞLU, The Imperial Circumcision Festival of 1582: An Interpretation, in: Muqarnas. An Annual on Islamic Art and Architecture 12. 1995 S. 84-100; MEHMET ARSLAN, A Great Ottoman Festivity: Circumcision Feast of Prince Mehmed III, in: The Turks, vol. 3: Ottomans. Hg. HASAN CELÂL GÜZEL/C. CEM OĞUZ/ OSMAN KARATAY. Ankara 2002 S. 974-984; ESIN ATIL, Levni and the Surname: The Story of an Eighteenth-Century Ottoman Festival. Istanbul 1999. Kurze Hinweise finden sich auch bei METIN AND, A History of Theatre and Popular Entertainment in Turkey. Ankara 1963-64, insbesondere S. 17. Zur Rolle solcher Beschneidungsfeiern für das osmanische Herrschaftsverständnis im Kontext des Problems der dynastischen Legitimität vgl. HAKAN T. KARATEKE, Legitimizing the Ottoman Sultanante: A Framework for Historical Analysis, in: Legitimizing the order: The Ottoman Rhetoric of State Power. Hg. DERS./MAURUS REINKOWSKI. Leiden usw. 2005 S. 13-52, insbesondere 32. Daneben existieren mindestens zwei offizielle osmanische Beschreibungen. Im Auftrag Mehmeds IV. fertigte Yusuf Nabi eine poetische Festbeschreibung an, die ediert ist bei AGAH SIRRI LEVEND, Nabi’nin Surnâmesi Vakaayi-i hitan-i Sehezadegan-i Hzret-i Sultan Muhammed-i Gaazi li Nabi Efendi. Istanbul 1944, vgl. HEIDRUN WURM, Der osmanische Historiker Hüseyin b. Gafer, genannt Hezarfenn, und die Istanbuler Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Freiburg 1971 S. 30. Eine weitere osmanische Festbeschreibung, das Surname-i Abdi, stammt vom Sekretär des Chefs der Schwarzen Eunuchen Yusuf Ağa, eine Abschrift dieses osmanischen Festberichts mit französischer Übersetzung aus dem frühen 18. Jahrhundert liegt in Paris, Bibliothèque nationale, manuscrits orientaux, supplément turc 880. Zum osmanischen Geschenkwesen vgl. HEDDA REINDL-KIEL, Pracht und Ehre. Zum Geschenkwesen im Osmanischen Reich, in: Das Osmanische Reich in seinen Archivalien und Chroniken. Nejat Göyünç zu Ehren. Hg. KLAUS KREISER/CHRISTOPH K. NEUMANN. Istanbul 1997 S. 161-189.
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gewöhnlich, dass sich der englische Botschafter John Finch zum Zeitpunkt der Feier ebenfalls in Edirne aufhielt. Er war erst kurz zuvor im Osmanischen Reich eingetroffen, wartete auf seine Antrittsaudienz beim Sultan und versuchte vergebens, trotz des festlichen Ausnahmezustands mit seinen Verhandlungen über eine Erneuerung der englischen Handelsprivilegien (Kapitulationen) voranzukommen.7 Er achtete indes sorgsam darauf, sich von den offiziellen Feierlichkeiten fernzuhalten, um keinen protokollarischen Eklat zu provozieren. Für seine Mitreisenden und Bediensteten galt diese Beschränkung freilich nicht. Zwei zeitgenössische Festbeschreibungen aus westeuropäischer Perspektive stammen denn auch aus dem Umkreis der englischen Botschaft; eine davon, die im Folgenden näher betrachtet wird, findet sich im Tagebuch des Botschaftskaplans John Covel.8 Der französische Botschafter Nointel residierte bereits seit 1670 in Konstantinopel, das er ohne Erlaubnis des Großwesirs nicht verlassen durfte. Um zuverlässige Nachrichten über das anstehende Großereignis erhalten und seinem Dienstherrn persönlich Bericht erstatten zu können, schickte er seinen Sekretär Edouard de la Croix nach Edirne mit dem Auftrag, ihm einen detaillierten Bericht anzufertigen.9 Nointels eigene Schilderung für den Hof ist also ein Bericht aus zweiter Hand, eine Überarbeitung des Berichts seines Sekretärs. Nun weichen nicht nur die englische und die französischen Beschreibungen, sondern auch La Croix’ Augenzeugenbericht und Nointels Überarbeitung bei aller Ähnlichkeit immer gerade dann sehr deutlich voneinander ab, wenn es um die Frage der Fremdartigkeit der osmanischen Herrschaftszeremonie geht, wenn also die Differenz zwischen westeuropäischen und osmanischen Gepflogenheiten, Zeremonien und Verhaltensweisen in den Texten mehr oder weniger stark markiert wird. Diese Beobachtung soll im Folgenden systematisiert werden und als Ausgangspunkt für einige Überlegungen zur sozialen Funktion von Differenzmarkierungen in diplomatischen Selbstzeugnissen dienen.
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G.-F. ABBOTT, Under the Turk in Constantinople: A record of Sir John Finch’s embassy (1674-1681). London 1920. Extracts of the Diaries of Dr. John Covel, 1670-1679, in: Early Voyages and Travels in the Levant. Hg. J. THEODORE BENT. London 1893. Im Folgenden zitiert als Covel, Diaries. Die Angaben zur Abwesenheit des englischen Botschafters S. 227, vgl. auch ABBOTT, Under the Turk (wie Anm. 7) S. 110. Der Ökonom Dudley North verfasste einen Festbericht in italienischer Sprache, der an den Großherzog der Toskana gerichtet war. Er findet sich mit englischer Übersetzung, allerdings ohne weitere Quellenangaben, bei ROGER NORTH, The Life of the honourable Sir Dudley North […] and of the honourable and reverend Dr. John North. London 1754 S. 210-228, vgl. hierzu auch RICHARD GRASSBY, The English Gentleman in Trade: The life and works of Sir Dudley North, 1641-1691. Oxford 1994. Über La Croix siehe PAUL SEBAG, Sur deux orientalistes français du XVIIe siècle: F. Pétis de la Croix et le sieur de la Croix, in: Revue de l’occident musulman et de la méditerranée 25. 1978 S. 89-117; CORINNE THEPAUT-CABASSET, Introduction, in: Le sérail des empereurs turcs. Relation manuscrite du sieur de la Croix à la fin du règne du sultan Mehmed IV. Hg. DIES. Paris 2007 S. 11-35.
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Diplomatische Selbstzeugnisse im 17. Jahrhundert Wenn autobiographisches Schreiben konsequent als soziale Praxis verstanden werden soll und entsprechend zu historisieren ist10, dann können die historische Analyse sozialer Handlungs(spiel)räume und die Untersuchung der diesen jeweils adäquaten Praktiken des Schreibens über sich selbst sich wechselseitig erhellen. Der Einstieg in diesen Zirkel soll im Folgenden über die Analyse der Texte versucht werden: Die Festbeschreibungen sollen im Hinblick auf die von den unterschiedlichen Autoren jeweils verwendeten sprachlichen und textlichen Verfahren zur Markierung von Differenz miteinander verglichen werden. Im Zentrum stehen also weniger die Inhalte, Deutungen und Wertungen von Fremdheit, sondern vielmehr narrative Strategien sowie rhetorische Verfahren, mit denen die osmanischen Sitten und Gebräuche als anders oder fremdartig oder auch als ähnlich markiert werden. Ganz konkret wird nach Vergleichen und Analogien, aber auch nach „asymmetrischen Gegenbegriffen“ im Sinne von Reinhart Koselleck gesucht.11 Unterschiedliche Strategien der Differenzmarkierung in den untersuchten Selbstzeugnissen sollen dabei als Indizien für spezifische soziale Handlungsorientierungen und -spielräume der Verfasser gewertet werden. Es geht hier also weniger um die Klärung des Verhältnisses von Fremd- und Selbstbildern, weniger um eine Hermeneutik des Fremdverstehens und die Frage nach der Identitätskonstruktion der Autoren durch Abgrenzung vom Anderen oder Ausgrenzung des Fremden 12 , als um die Funktion rhetorischer 10 Grundlegend hierzu FABIAN BRÄNDLE/KASPAR VON GREYERZ/LORENZ HEILIGENSETZER/SEBASTIAN LEUTERT/GUDRUN PILLER, Texte zwischen Erfahrung und Diskurs. Probleme der Selbstzeugnisforschung, in: Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500-1800). Hg. KASPAR VON GREYERZ/HANS MEDICK/PATRICE VEIT. Köln 2001 S. 3-21; GABRIELE JANCKE, Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Köln usw. 2002. Aus der reichhaltigen neueren Selbstzeugnisforschung seien hier zusätzlich nur noch erwähnt: ANDREAS BÄHR, Furcht, divinatorischer Traum und autobiographisches Schreiben in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 34. 2007 S. 1-32; GABRIELE JANCKE/CLAUDIA ULBRICH, Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, in: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. Hg. DIES. Göttingen 2005 S. 7-27. 11 REINHART KOSELLECK, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: DERS. Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt 31995 S. 211-259 (zuerst in: Positionen der Negativität. Hg. HARALD WEINRICH. München 1975), vgl. auch PETER BURSCHEL, Das Eigene und das Fremde. Zur anthropologischen Entzifferung diplomatischer Texte, in: Kurie und Politik. Stand und Perspektiven der Nuntiaturberichtsforschung. Hg. ALEXANDER KOLLER. Tübingen 1998 S. 260-271; ARNO STROHMEYER, Wahrnehmungen des Fremden. Differenzerfahrungen von Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert: Forschungsstand – Erträge – Perspektiven, in: Wahrnehmungen des Fremden. Differenzerfahrungen von Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert. Hg. MICHAEL ROHRSCHNEIDER/DERS. Münster 2007 S. 1-50, hier 10. 12 Hierzu JÖRG BABEROWSKI/HARTMUT KAELBLE/JÜRGEN SCHRIEWER (Hg.), Selbstbilder und Fremdbilder. Repräsentation sozialer Ordnungen im Wandel. Frankfurt a. M. usw. 2008, darin insbesondere: HERFRIED MÜNKLER, Barbaren und Dämonen: Die Konstruktion des Fremden in imperialen Ordnungen, S. 153-189; siehe auch HERFRIED MÜNKLER/BERND LADWIG, Dimensionen der Fremdheit, in: Furcht und Faszination: Facetten der Fremdheit. Hg. HERFRIED MÜNKLER unter Mitarbeit von BERND LADWIG. Berlin 1997 S. 11-44; PETER J. BRENNER, Die Erfahrung der Frem-
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Alteritätskonstrukte im Hinblick auf die Situierung der Verfasser innerhalb ihrer eigenen sozialen Ordnung. Auf welche Weise und an welchen Stellen die Autoren das osmanische Fest als anders- oder fremdartig markieren, hängt demnach davon ab, wo sie sich selbst innerhalb ihrer sozialen Beziehungsnetze verorten und wie groß oder wie beschränkt ihr sozialer Handlungsspielraum ausfällt. Der Grad der Fremdheit der osmanischen Zeremonien beruht dann in den diplomatischen Selbstzeugnissen weniger auf der kulturellen Zugehörigkeit oder der geographischen Entfernung des Beobachters; sie erweist sich vielmehr als Funktion seines sozialen Ortes. Die sozialen Netzwerke, in denen sich die hier betrachteten Autoren bewegten, haben die Struktur frühneuzeitlicher Patronagebeziehungen. 13 In unterschiedlichen Ausprägungen bestimmten Patronageverhältnisse in der Frühen Neuzeit sämtliche sozialen Organisationsformen. Soziales Prestige ließ sich nur innerhalb dieser multipolaren Beziehungsgeflechte aufbauen, berufliche und ökonomische Erfolge hingen zu einem Gutteil ab von der Effizienz der eigenen Beziehungen zu Schutzherren, Freunden und Klienten. Dies gilt für den englischen Geistlichen am Beginn seiner Karriere ebenso wie für die französischen Adligen im diplomatischen Dienst. Allerdings herrschten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und Schichten durchaus verschiedene Werte und Verhaltensnormen vor; in englischen (protestantischen) Gelehrtenkreisen galten andere Umgangsformen und moralische Imperative als in der höfischen Gesellschaft Frankreichs unter Ludwig XIV. So unterschiedlich sie im Einzelnen auch sein mochten, in jedem Fall bestimmten diese moralischen und gesellschaftlichen Imperative auch das Schreiben über sich selbst. Adressaten und potentielle Leser waren zunächst und zumeist die übrigen Mitglieder des Sozialverbandes, dem man angehörte. Nointel etwa schrieb seine Briefe an seine Vorgesetzten zwar auf den ersten Blick lediglich „von Amts wegen“, doch die diplomatische Korrespondenz dieser Zeit war ebenso sehr Medium der Selbstdarstellung eines höfischen Aufsteigers wie frühes Verwaltungsschriftgut.14 Nointel war eben nicht nur ein de. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts, in: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Hg. DERS. Frankfurt a. M. 1989 S. 14-49. 13 Zum Folgenden grundlegend WOLFGANG REINHARD, Freunde und Kreaturen. “Verflechtung” als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600. München 1979; aus der reichhaltigen Patronageforschung seien nur genannt: HEIKO DROSTE, Patronage in der Frühen Neuzeit. Institution und Kulturform, in: Zeitschrift für historische Forschung 30. 2003 S. 555-590; BIRGIT EMICH/NICOLE REINHARDT/HILLARD VON THIESSEN/CHRISTIAN WIELAND, Stand und Perspektiven der Patronageforschung. Zugleich eine Antwort auf Heiko Droste, in: Zeitschrift für historische Forschung 32. 2005 S. 23-266 sowie, speziell in Bezug auf Frankreich, SHARON KETTERING, Patrons, Brokers, and Clients in Seventeenth-Century France. New York usw. 1986; ELIE HADDARD, Noble Clienteles in France in the 16th and 17th Centuries. A Historiographical Approach, in: French History 20. 2006 S. 75-109. Im Zusammenhang mit Selbstzeugnissen siehe JANCKE, Autobiographie als soziale Praxis (wie Anm. 10) S. 75-165, sowie DIES., Patronagebeziehungen in autobiographischen Schriften des 16. Jahrhunderts – Individualisierungsweisen?, in: Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit. Individualisierungsweisen in interdisziplinärer Perspektive. Hg. KASPAR VON GREYERZ, unter Mitarbeit von ELISABETH MÜLLER-LUCKNER. München 2007 S. 13-31. 14 Ausführlicher zu dieser Frage siehe demnächst CHRISTINE VOGEL, The Caftan and the Sword. Dress and Diplomacy in Ottoman-French Relations around 1700, in: Fashioning the Self in Tran-
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Untergebener, sondern auch ein Klient des Staatssekretärs für Äußeres, Arnauld de Pomponne, der wiederum ein Protegé Colberts war. 15 Er gehörte damit zu jenem Patronagenetzwerk der „noblesse du conseil“, das schon Wolfgang Reinhard als paradigmatischen Untersuchungsgegenstand für eine historische Verflechtungsanalyse beschrieben hat. 16 Als Nointels Sekretär war La Croix ebenfalls Teil dieses Patronagenetzwerks. Über ihn ist allerdings wenig bekannt außer, dass er nach seiner Zeit bei Nointel noch mehrmals in halboffiziellem Auftrag ins Osmanische Reich reiste und dass er ein Vielschreiber war, der neben Reiseberichten und Denkschriften auch ein Tagebuch und Memoiren hinterlassen hat.17 Einige seiner Schriften ließ er drucken, mehrere widmete er dem König oder Colbert.18 La Croix und Nointel bewegten sich also in demselben sozialen Milieu, dem aufstrebenden, dabei in sich äußerst heterogenen französischen Amtsadel – wenn auch La Croix sich an der Peripherie dieser Gruppe befand, während Nointel dem Machtzentrum schon recht nahe war. John Covel hingegen, der später Master des Christ’s College und schließlich Vizekanzler der Universität Cambridge wurde 19 , interessierte sich vor allem für die Glaubensinhalte und Riten der griechisch-orthodoxen Kirche, über die er nach seiner Rückkehr eine Abhandlung publizierte. 20 Das Beschneidungsfest von 1675 beschrieb er in seinem Reisetagebuch. Dieses blieb zwar zu seinen Lebzeiten unpubliziert, ist von ihm jedoch in Teilen bereits zur Publikation überarbeitet worden.21 Weshalb und für wen er schrieb, ist weniger offensichtlich als bei La Croix oder Nointel, doch kann davon ausgegangen werden, dass er sich mit seinem Publikationsprojekt als Mitglied der Gelehrtenrepublik an seinesgleichen wenden und sich in die Menge jener Schriftsteller einreihen wollte, die ein gebildetes Publikum mit Reiseberichten informieren und unterhalten
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scultural Settings. The Uses and Significance of Dress in Self-narratives. Hg. CLAUDIA ULBRICH/ RICHARD WITTMANN. Würzburg 2012 (in Vorbereitung). Nointel korrespondierte ebenfalls mit Pomponnes älterem Bruder Antoine Arnauld, seine Mutter nahm im jansenistischen Kloster Port-Royal ihren Alterssitz, vgl. VANDAL, L’Odyssée (wie Anm. 1) S. 37-41. REINHARD, Freunde (wie Anm. 13) S. 42-45. Einige biographische Elemente finden sich bei SEBAG, Sur deux orientalistes (wie Anm. 9) sowie bei KATARINA DE VAUCORBEIL-MASALOVITCH, L’empire ottoman et les relations franco-turcques dans le dernier tiers du XVIIe siècle, d’après le témoignage du sieur de la Croix (v. 1645-v. 1704). Thèse de l’Ecole nationale des Chartes 1985 [Paris, Archives nationales, AB XXVIII 841]. Zur vollständigen Bibliographie La Croix’ vgl. SEBAG, Sur deux orientalistes (wie Anm. 9). Zu John Covel vgl. die biographische Einleitung in Dr John Covel Voyages en Turquie 1675-1677. Texte établie, annoté et traduit par Jean-Pierre Grélois avec une préface de Cyril Mango. Hg. JEAN-PIERRE GRELOIS. Paris 1998 S. 7-12. JOHN COVEL, Some account of the present Greek church, with reflections on their present doctrine and discipline […], Cambridge 1722. Die Abhandlung entstand im Rahmen einer theologischen Kontroverse, die in diesen Jahren in Europa zwischen Protestanten und Katholiken über die Frage nach dem Eucharistieverständnis im orthodoxen Christentum geführt wurde. Auch Nointel war über seine jansenistischen Verbindungen an dieser Kontroverse beteiligt, die auf katholischer Seite maßgeblich von Pierre Nicole und Antoine Arnauld geführt wurde. Zu dieser Einschätzung kommt der Herausgeber J. THEODORE BENT, Introduction, in: COVEL, Diaries (wie Anm. 8) S. XXVI.
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wollten.22 Der Schwerpunkt des Vergleichs wird deshalb auf den beiden Franzosen liegen. Covels Festbericht soll dennoch als Kontrastfolie hinzugezogen werden, um die Bandbreite möglicher Textstrategien zur Beschreibung der osmanischen Herrschaftszeremonie zu illustrieren.
Edouard de La Croix: Distanz und Detail Der originale Bericht des Augenzeugen La Croix für seinen Vorgesetzten ist offenbar nicht überliefert, zumindest nicht unter jenen Papieren, die den Weg ins Archiv des französischen Außenministeriums gefunden haben. Trotzdem verfügen wir über sehr gute Anhaltspunkte, um eine Vorstellung von Inhalt und Aufbau jenes Textes zu entwickeln, auf dessen Grundlage der offizielle Festbericht des französischen Botschafters entstanden ist, denn La Croix hat auch in seinen überlieferten Schriften die Beschneidungsfeier von 1675 geschildert. Zwei leicht voneinander abweichende Versionen seines Berichts lassen sich rekonstruieren. Die eine erschien zuerst in seinen Memoiren, einer zweibändigen Sammlung von Briefen, die zwischen 1670 und 1679 datiert sind und damit seinen gesamten Aufenthalt als Botschaftssekretär im Osmanischen Reich abdecken. Sie sind in mehreren handschriftlichen Exemplaren überliefert und wurden 1684 auch gedruckt.23 Die andere, etwas kürzere Version entstammt seinem Journal, das eine chronologisch geordnete Aufzeichnung der Erlebnisse und Tätigkeiten des Botschaftssekretärs beinhaltet und dabei auch Verhandlungen erwähnt, die eigentlich der Geheimhaltung unterlagen. Es ist mehr als zehn Jahre nach den Ereignissen entstanden und ausschließlich handschriftlich überliefert, allerdings in mehreren Exemplaren.24 Fast wortwörtlich ist diese gestraffte Festbeschreibung aus dem Journal außerdem einige Jahre später auch noch in eine gedruckte Publikation von La Croix zum Osmanischen Reich eingegangen.25 Abgesehen von einer toposhaften Erwähnung osmanischer Hoffart und Prunksucht zu Beginn der Festbeschreibung im Journal bleiben die beiden überlieferten Versionen des Festberichts von La Croix überwiegend deskriptiv. Sie beinhalten vor allem detaillierte Beschreibungen der Zeltstadt, die vor den Toren des alten Sultanspalastes in Edir22 Die Teiledition des Tagebuchs, mit der ich gearbeitet habe, lässt aufgrund der zahlreichen Kürzungen keine genaueren Schlüsse auf mögliche implizite oder explizite Adressaten zu. So beginnt der Auszug mit dem Kapitel 2. 23 [EDOUARD DE LA CROIX], Mémoires du sieur de la Croix, cy-devant Secretaire de l’Ambassade de Constantinople. Contenans Diverses Relations tres curieuses de l’Empire Othoman. Premiere Partie. [Seconde Partie] A Paris, Chez Claude Barin, au Palais, sur le second Perron de la Sainte Chapelle, 1684. Avec Privilege du Roy, im Folgenden zitiert als [LA CROIX], Mémoires. Manuskriptfassungen BNF, MS, FR 6094-6095 mit Widmung an den König, BNF, MS, FR 6096-6097 mit Widmung an Colbert. 24 [EDOUARD DE LA CROIX], Journal du S.r de la Croix Secretaire de l’Ambassade de France à la Porte Otomane, BNF, MS, FR 6101, 6102 und NAF 1724, im Folgenden zitiert als [LA CROIX], Journal; 2. Exemplar ebd., NAF 10839-10841. 25 [EDOUARD DE LA CROIX], Etat General de l’Empire Otoman, depuis sa fondation jusqu’apresent. Et l’abregé des Vies des Empereurs. Par un Solitaire Turc. Traduit par M. de la Croix. 3 Bde. Paris 1695. Die Festbeschreibung findet sich in Bd. 1, S. 192-224.
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ne eigens für das Fest errichtet worden war, sowie der verschiedenen Zeremonien in ihren Abläufen und mit ihren jeweiligen Akteuren, deren Kleidung ebenso detailgenau geschildert wird wie die Ausstattung der Zelte oder die Beschaffenheit und der Wert der Geschenke, die der Sultan erhielt. Dabei kann sich der Augenzeuge La Croix allerdings der Wirkung des osmanischen Zeremoniells mit seiner ungeheuren Prachtentfaltung offensichtlich nicht gänzlich entziehen. So seien Zelte und Pferde der Würdenträger „sehr schön“, die verschiedenen Dienstboten des Sultans, die über Stunden in vollständiger Stille bewegungslos verharrten, voller Sittsamkeit und Bescheidenheit („modestie“) gewesen; die täglichen Festmahle waren ebenso reichhaltig und „herrlich“ wie die Geschenke („magnifiques“) und von größtmöglicher Pracht („avec toute la sumptuosité possible“), das Schattentheater bereitete den Zuschauern „große Freude“ („grand plaisir“) und das Feuerwerk war außergewöhnlich und sehr schön („prodigieux, […] très-beau“), die Illuminationen waren tadellos („aucun défaut“), die Maskaraden schließlich „ziemlich gut gemacht“ („assez bien inventées“). 26 Diesen zahlreichen positiven Wertungen stehen nur einige sehr wenige explizit negative gegenüber. Alles in allem ist die Beschreibung durchdrungen von verhaltener Bewunderung für das offensichtlich beeindruckende Spektakel. Die längere Version der Festbeschreibung in den Memoiren unterscheidet sich dadurch, dass in die deskriptiven Passagen immer wieder kleinere Anekdoten eingestreut sind, die bestimmte Momente der Feier besonders hervorheben. Drei Beispiele sollen dies illustrieren. Die Speisung der Janitscharen am ersten Festtag wirkte wohl auf manchen westlichen Beobachter seltsam, weil sie traditionsgemäß als Ritual der Plünderung der Festtafel stattfand: Auf ein Signal hin erstürmten rund 3000 dieser Elitesoldaten die für sie seit Stunden bereitstehenden Festtafeln, machten sich in Windeseile über die längst erkalteten Speisen her, packten das Tischgeschirr gleich mit ein und zogen sich auf ein weiteres Signal hin ebenso blitzartig wieder zurück. La Croix schildert den Vorgang mit einer Mischung aus Erstaunen und Wohlwollen: „Nach der Übergabe all dieser großartigen Geschenke erklang erneut Musik und gab den Janitscharen ein Signal, das ihnen, wie ich glaube, angenehmer war als das zum Kampfe. Es war schön anzusehen, wie all diese Soldaten die Festtafel erstürmten, sich gleich hungrigen Wölfen auf die Fleischtöpfe stürzten und alle Reste bis hin zu den Tellern mitnahmen […]. Die Tische wurden weitaus schneller ab- als aufgedeckt, und wenn die Janitscharen zuvor auch Kummer und Ungeduld empfunden hatten, weil sie zusehen mussten, wie ihr Fleisch abkühlte, so verschaffte ihnen doch nun dieses Festessen eine außerordentliche Freude, denn es war sehr viel reichhaltiger als sie es normalerweise gewohnt sind.“27
26 [LA CROIX], Journal (wie Anm. 24) Bd. 1, BNF, MS, FR 6101, resp. S. 378, 385, 394, 396, 400, 401. 27 [LA CROIX], Mémoires (wie Anm. 23) Bd. 1, S. 101 f.: „Après la reception de tous ces magnifiques presens, la musique recommença, & donna un signal aux Janissaires qui leur plut, je crois, davantage pour lors que celuy d’un combat. Il faisoit beau voir toute cette milice courir à l’assaut de ces tables, se jetter sur les viandes en loups ravissans, enlever le reste jusques aux plats, […]. Les tables furent bien plûtost déservies qu’elles n’avoient esté posées, & si les Janissaires eurent du chagrin, & de l’impatience de voir refroidir leurs viandes, ils eurent un plaisir extréme de ce régal, qu’ils n’avoient pas accoûtumé de goûter avec tant d’abondance.“ Alle Übersetzungen der zitierten Quellen stammen von mir.
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Ein zweites Thema, das La Croix’ besonderes Interesse fand, waren die Frauen. Wiederholt richtet sich sein Blick auf den Harem des Sultans, dessen Bewohnerinnen von einem speziellen Pavillon aus die verschiedenartigen Darbietungen beobachteten: „Die Sultaninnen nahmen auch an den Vergnügungen teil; sie standen hinter den Jalousien ihres Pavillons, vor dem die Spiele stattfanden. Von dort aus sahen sie recht hübsche Jungen, die, verkleidet als Mädchen, mit äußerst lasziven und schamlosen Haltungen tanzten, und es steht zu fürchten, dass all jene, die nicht das Glück haben, in den Genuss der Zärtlichkeiten ihres Kaisers zu kommen, trotz der strengen Überwachung durch die alten [Frauen] und die schwarzen [Eunuchen] untereinander nichts unversucht ließen, um die schöne Erregung zu befriedigen, in die sie durch derartige Vorführungen versetzt wurden.“28
La Croix greift hier einen Topos aus dem Genre der Haremsbeschreibungen auf, die sich gerne in Spekulationen über die vermeintliche sexuelle Not der Haremsbewohnerinnen ergingen und mit großer Lust am Detail die verzweifelten Versuche der Frauen beschrieben, trotz strengster Überwachung und härtester Strafen auf die eine oder andere Art sexuelle Befriedigung zu erlangen. Selbst Autoren, die anders als La Croix um einen kritischen Standpunkt bemüht waren und viele der in Europa kursierenden Gerüchte über den Harem ins Reich der Phantasie verwiesen, spekulierten über die sexuellen Praktiken am Sultanshof. Der weit gereiste Diamantenhändler Jean-Baptiste Tavernier etwa prangerte zur selben Zeit zwar die Phantasmen unwissender Europäer an, glaubte aber dennoch zu wissen, dass die rigorose Geschlechtertrennung im Sultanspalast bei Männern wie Frauen zur Ausbreitung des „abominable vice“ homosexueller Praktiken führe, wie überhaupt die „Vielweiberei“ der Muslime sexuelle Ausschweifungen bei beiden Geschlechtern zur Folge habe.29 Für La Croix war das Thema zweifellos eine willkommene Gelegenheit, seinen überwiegend doch sehr trockenen Bericht durch einen kleinen erotischen Exkurs aufzulockern.30 Bei einem anderen Thema ließ der Sekretär dann allerdings seiner Bewunderung für die Türken freien Lauf – und tatsächlich haben wir es hier erstmals mit einer expliziten Thematisierung von Differenz zu tun, die sprachlich als Vergleich präsentiert wird. Am Abend des ersten Festtages beobachtet La Croix erstaunt, wie die Feiern für das Gebet unterbrochen werden, sobald der Ruf des Muezzins ertönt:
28 Ebd. Bd. 1, S. 102 f.: „Les Sultanes avaient leur part du divertissement, elles estoient aux jalousies du Pavillon, sous lequel l’on venoit representer ces jeux, & voyoient d’assez beaux garçons habillez en filles, lesquels danssoient avec des postures fort lascives, & fort impudiques, & il est à craindre que toutes celles, qui ne sont pas assez heureuses pour joüir des caresses de leur Empereur, n’ayent fait entr’elles tous leurs efforts, malgré l’exacte garde des vieilles, & des noirs, pour satisfaire à la belle humeur où ces sortes de representations les pouvoient mettre.“ 29 JEAN-BAPTISTE TAVERNIER, Nouvelle Relation de l’intérieur du Serrail du Grand Seigneur. Amsterdam 1678 (Paris 1675) S. 248 f., zu dieser Fragestellung siehe auch SILKE R. FALKNER, "Having It Off" with Fish, Camels, and Lads: Sodomitic Pleasures in German-Language Turcica, in: Journal of the History of Sexuality 13/4. 2004 S. 401-427; RUTH BERNARD YEAZELL, Harems of the Mind. Passages of Western Art and Literature. New Haven usw. 2000. 30 La Croix selbst kam auf das Thema zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal ausführlicher zurück in einer zwischen 1686 und 1687 verfassten Beschreibung des Serails, die er dem König widmete, und in der zahlreiche sexuelle Klischees über die Haremsbewohnerinnen reproduziert wurden, vgl. THÉPAUT-CABASSET (Hg.), Le Sérail (wie Anm. 9).
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„[…] alle zusammen wandten sich gen Süden und begannen, Gott zu loben. Tiefe Stille, außerordentliche Aufmerksamkeit, keinerlei Ablenkung noch umherschweifende Blicke sowie unzählige Verbeugungen, all dies nötigte mir Bewunderung ab. Und ich kann nicht müde werden zur Schande der Christen zu sagen, dass diese Völker ihrem Glauben sehr viel treuer ergeben sind als wir. Denn ganz plötzlich, nur auf die Stimme eines einzigen Mannes hin, stellten sie von großer Fröhlichkeit um auf tiefes Gebet, von großem Tumult auf extreme Andacht. Und ein solches Ausnahmeereignis [wie dieses Fest] vermochte die gewöhnliche Stunde des Gebets nicht um einen Augenblick zu verschieben.“31
Ausgerechnet im Bereich der Frömmigkeit also zeigt sich für La Croix die Andersartigkeit der Türken, und zwar in Form einer Überlegenheit, die den Christen als Spiegel vorgehalten wird. Eine solche explizite Thematisierung von Differenz ist allerdings in La Croix’ Festbeschreibungen die Ausnahme. Sein Bericht zeichnet vielmehr alles in allem ein distanziertes, um Detailgenauigkeit bemühtes, dabei tendenziell eher positives Bild des osmanischen Festes, das fast gänzlich ohne Vergleiche oder Analogien auskommt.
John Covel: Inmitten des Geschehens Die Beschreibung des Engländers John Covel ist weitaus ambivalenter als die von La Croix. Und das liegt nicht nur daran, dass er sich weniger beeindruckbar zeigt und manche Darbietung schlichtweg als „langweilig“ („dull“) bezeichnet, oder dass er neben den von La Croix beschriebenen hübschen Pagen des Sultans auch jenen arabischen Gaukler erwähnt, den er für einen „so hässlichen Kerl“ hielt, „dass Du hättest schwören mögen, er sei der ältere Bruder des Teufels höchstpersönlich“. 32 Der ambivalente Eindruck kommt vielmehr vor allem dadurch zustande, dass der gesamte Text um die Idee der Differenz zwischen Osmanen und Europäern bzw. Engländern herum organisiert und strukturiert ist. Durchweg werden in Covels Festbeschreibung „they“ und „us“ kontrastiert, so dass der gesamte Text eine implizite, häufig auch explizite Oppositionsstruktur aufweist. Dabei fallen die Vergleiche gelegentlich neutral aus, etwa wenn Covel die Kleidung der Pagen mit anglikanischen Soutanen vergleicht 33 oder wenn er sich darüber wundert, dass die Soldaten selbst bei ihren feierlichen Aufmärschen keine Waffen tragen, „während doch unsere Ritter bei solchen Anlässen stets bewaffnet erscheinen, ganz so
31 [LA CROIX], Mémoires (wie Anm. 23) Bd. 1, S. 103 f.: „L’on entendit sortir une voix du coin de la tente du grand Seigneur, laquelle annonçoit au peuple que la nuit s’approchant, il falloit se disposer à la priere. Incontinent tout le monde se mit en estat de s’acquitter de ce devoir à l’exemple de l’Empereur, & de ses Ministres […] & tous ensemble tournez au midi commencerent à loüer Dieu. Un silence profond, une attention extréme, point de distraction, ni d’égarement des yeux, & des genuflexions sans nombre attirerent mon admiration […] & je ne sçaurois me lasser de dire à la confusion des Chrestiens que ces peuples sont bien plus fideles à leur Religion que nous, puisque tout d’un coup à la voix d’un seul homme, ils passerent d’une grande réjoüissance à une profonde Oraison, d’un grand tumulte à un recueillement extréme, & qu’une action aussi extraordinaire ne fut pas capable de differer un moment l’heure ordinaire de la priere.“ 32 COVEL, Diaries (wie Anm. 8) resp. S. 237, 220: „There was one, an Arab, so ill-looking a fellow as you would have sworne that he was elder brother to the Divel himself.“ 33 Ebd. S. 199: „they are exactly like our cassocks“.
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als wollten sie jederzeit dem Feind begegnen“.34 Weitaus häufiger jedoch sind Covels Vergleiche eindeutig wertend, und dann meist zuungunsten der Osmanen. So resümiert der Kaplan seine Schilderung der volkstümlichen Theateraufführungen mit den Worten: „Insgesamt übertrafen die besten dieser Stücke nicht unsere gewöhnlichen Weihnachtsspiele.“ Die Jongleure hielt er ebenfalls für mäßig, „die meisten waren Dummköpfe im Vergleich zu denen, die wir in England haben.“35 Auch der Geschmack der Osmanen ließ nach Covels Meinung zu wünschen übrig, priesen sie doch ihre „armseligen Hirtenspiele“ noch mehr für ihren vermeintlichen Einfallsreichtum als die Engländer zuhause ihre Theaterstücke.36 Die türkischen Feuerkünstler schließlich gaben Covel „die perfekteste Vorstellung von der Hölle, die ich jemals auf Erden gesehen habe; und doch halten die Türken sie für eine himmlische Sache“.37 Die Illuminationen und Feuerwerke hingegen fanden Covels uneingeschränkte Bewunderung, die Seiltänzer fand er gar „ebenso gut, und in manchem besser als alles, was ich in meinem Leben je gesehen habe.“38 Durch seinen subjektiveren Stil und die beständige direkte Ansprache seines Lesers ist Covel weit von der Position des distanzierten Beobachters entfernt, die der Franzose La Croix eingenommen hatte. So findet man den englischen Geistlichen wiederholt inmitten des Getümmels, wie er sich – teils in zweifelhafter, teils sogar ganz ohne Begleitung – seinen Weg durch die Menge bahnt, was ihm allerdings nach eigenen Angaben nicht schwer fiel, da die „Türken“, wie er voller Bewunderung schreibt, „selbst im größten Gedränge allesamt Ruhe und Ordnung bewahrten, so wie unsereins während der Predigt. Ich konnte es kaum glauben, bis ich feststellte, dass es sich stets so verhielt, und mir dürfen Sie dieses Wunder wohl glauben.“39 Außerdem begegneten die Osmanen ihm wie auch anderen „Franken“ allenthalben mit ausgesuchter Höflichkeit („civility“) und bemühen sich darum, ihm einen unverstellten Blick auf all die Sensationen zu verschaffen – so zum Beispiel auch auf den Sultan selbst: „Ich war viele Male dem Großherrn sehr, sehr nahe (manchmal eine halbe Stunde am Stück, so lange ich wollte), mit meinem Hut und meiner Perücke, was sie doch beides wie den Teufel hassen. Und [jedes Mal] bin ich durch die ganze Stadt zurückgekehrt (ein- oder zweimal ganz allein) inmitten der großen Menge von Türken, und doch versichere ich Ihnen, dass ich nicht
34 Ebd.: „One thing is remarkable, that whereas our swordmen never goe in companys thus but armed, as if they were ready to meet an enemy, here the devil of sword, gun, or weapon, should you see.“ 35 Ebd. S. 216: „In sume, the best of them did not exceed our ordinary Christmasse gambals.“ 220: „the generality were loggerheads to what we have in England.“ 36 Ebd. S. 216: „Such pour pastorals we had in great variety, and they passe here for greater ingenuity than your playes can doe in England.“ 37 Ebd. S. 212: „[They] gave me the perfectest representation of Hell that ever I yet saw upon earth; yet the Turkes count it a heavenly thing.“ 38 Ebd. S. 222 (Feuerwerk), 238: „but the best entertainment was rope-dancing […]; bit here every day as good, and in some things better than all that ever I beheld in my life.” 39 Ebd. S. 204: „[…] and amongst these vast multitudes all are as husht and orderly as we are at a sermon. I could not possibly believe it till I found it alwayes so, and from me you may believe this wonder.”
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den kleinsten Affront zu ertragen hatte, sondern vielmehr außerordentliche Freundlichkeit erfuhr.“40
Ähnlich wie La Croix zeigt sich auch Covel erstaunt darüber, dass die Feiern durch den Ruf des Muezzins unterbrochen werden und sich alle zum gemeinsamen Gebet gen Mekka wenden. Doch relativiert Covel seine Bewunderung sogleich, indem er die Frömmigkeit der Muslime mit ihren Ausschweifungen anlässlich der Feier kontrastiert: „Dann war es in der Tat wunderbar zu sehen, mit welcher Ehrerbietung, Einheit und äußerst bewundernswerter Frömmigkeit alle (besonders die hochgestellten Herren) sich öffentlich zum Gebet rüsteten. […] Ich müsste ihre Frömmigkeit von ganzem Herzen loben, hätte ich nicht an eben jenem Orte all die Gaunerei und Bestialität und all das gesehen, was dort öffentlich und mit dem Applaus und der Billigung der höchsten Männer wie der niedrigsten Bagage aufgeführt wurde.“41
Auch wenn also kaum etwas von dem, was Covel sah und hörte, seinem kritischen Vergleich mit England oder Europa standhalten konnte, so bleibt die Tatsache, dass der englische Kaplan ganz offensichtlich keinerlei Zweifel an der grundsätzlichen Vergleichbarkeit von Osmanen und Engländern hegte. Sicher zeugen seine Bemerkungen beinahe durchweg von der Herablassung eines Beobachters, der zumindest die eigene Unterhaltungskultur für überlegen hielt und mit Amüsement und Lust am Detail die fremdartigen Sitten und Gebräuche der Osmanen für einheimische Leser kommentierte. Doch wird bisweilen auch die eigene Unterlegenheit artikuliert, etwa wenn Covel die Disziplin der feiernden Menge beschreibt, oder wenn er klagt, dass während des gesamten Festes insgesamt wenigstens 200 Christen öffentlich zum Islam konvertiert seien: „Das gereicht uns zur Schande, denn ich glaube wohl, dass ganz Europa in den letzten 200 Jahren nicht so viele Türken [für das Christentum] gewonnen hat.“42 Festzuhalten bleibt also, dass Covels „Türken“ nur relativ und partiell anders sind. Die von ihm artikulierten Differenzen haben keine universelle Dimension, sie zielen nicht auf eine systematische Absonderung der Osmanen von der (zivilisierten) Menschheit, seine asymmetrischen Vergleiche münden nicht in eine begriffliche Ausgrenzung der „Türken“.43
40 Ebd.: “I have been many times very, very near the G. Signor himself (sometimes 1/2 an hour together, as long as I pleased), with my hat and in my hair, both which they hate as the Divel; and have return’d quite through the City (once or twice al alone) in the midst of the great multitide of Turkes, and yet I assure you I never met the least afront in the world, but rather extraordinary kindnesse.” 41 Ebd. S. 210 f.: „Then, indeed, it was wonderfull to see with what reverence, uniformity, and most admirable devotion all (especialle the men of note) betook themselves to their prayers in publick […]. I should heartily have commended their piety, had I not seen in the very same place all the roguery and beastliness, and the like, acted there publickly with the applause and approbation of the chief men amongst them as well as the rabble […].“ 42 Ebd. S. 209: „There were at least 200 proselytes made in these cases here. It is our shame, for I believe all Europe have not gained so many Turkes to us these 200 yeares.“ 43 KOSELLECK, Asymmetrische Gegenbegriffe (wie Anm. 11) S. 212 f.
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Nointel: Im Reich des Scheins „Die Fülle eines gänzlich reinen und dauerhaften Ruhmes, der durch keinerlei Beimischung getrübt ist, gehört Eurer Majestät allein […]. Anders verhält es sich mit dem Kaiser der Osmanen, der in der Vorstellung größer ist als in der Wirklichkeit […]. Ich bitte Euch untertänigst, Sire, [den folgenden Bericht] anzunehmen […] als eine Huldigung, die der größte und künstlichste Hochmut dem echten Ruhm zu erweisen hat.“44
Schon in seinem Begleitschreiben für Ludwig XIV. macht Nointel unmissverständlich klar, wie sein Festbericht zu lesen ist: im Zeichen der grundlegenden Differenz nämlich zwischen dem französischen König und dem Sultan. Was beide unterscheidet, ist der Gegensatz zwischen „idée“ und „vérité“, zwischen Vorstellung und Wirklichkeit also, und zwischen „affecté“ und „véritable“, gekünstelt und echt: Hier handelt es sich nun um veritable asymmetrische Gegenbegriffe im Sinne Kosellecks. Die Andersartigkeit der Osmanen wird damit nun nicht mehr, wie bei Covel, relativ verstanden, sondern absolut gesetzt. Nointels Bericht folgt der Logik der Umkehrung, dem, was der französische Althistoriker François Hartog „Inversion“ genannt hat, was den anderen auf ein Gegen-ich („anti-même“) reduziert und dabei eigentlich nur das Eigene thematisieren will.45 Alles, was Nointel im Folgenden in Anlehnung an den Bericht seines Sekretärs an Großartigem, Prächtigem und auch Wunderbarem schildert, steht damit unter dem Vorzeichen der Scheinhaftigkeit, ist von vornherein als wertloses Trugbild entlarvt und dient damit zugleich der Glorifizierung des Eigenen. Verdeutlicht werden soll dies der Einfachheit halber nur an einigen wenigen Beispielen, die nochmals genau jene Themensequenzen aufgreifen, die schon bei der Analyse von La Croix’ Festbeschreibung ausgewählt wurden. Die rituelle Erstürmung der Festtafel durch die Janitscharen nimmt Nointel zum Anlass, einige Reflexionen über Macht und Legitimität des Sultans anzustellen: So hätten die Elitesoldaten des Sultans bei der Plünderung der Festtafeln ausnahmsweise einmal eine gewisse Ähnlichkeit mit den französischen Truppen gehabt, wenn diese, inspiriert von der Gegenwart und den Befehlen ihres Monarchen, die stärksten Festungen im Sturm eroberten. Der französische König nämlich sei im Gegensatz zum Sultan stets an vorderster Front zu finden und verstecke sich nicht hinter seinen Kanonen und Janitscharen. Der Sultan hingegen erfreue sich lieber am Anblick der Gier seiner Soldaten, die ihm wie hungrige Wölfe erschienen.46 Das Bild der hungrigen Wölfe übernimmt Nointel hier zwar von seinem Sekretär, unterstellt jedoch, dass es sich dabei um eine Assoziation Mehmeds IV. handelt und suggeriert damit auf geschickte Weise, dass dem Sultan der Anblick seiner derart entfesselten Soldateska selbst nicht ganz geheuer war. Etwas maliziös erinnert Nointel bei dieser Gelegen44 Nointel an Ludwig XIV, ohne Datum [Sommer 1675] (wie Anm. 1), S. 49: „C’est a vostre maiesté seul qu’appartient la plénitude d’une gloire toutte pure Et solide, qui ne soit altérée par aulcun meslange, […]; Il n’en est pas de mesme de l’Empereur des Othomans plus grand dans l’idée, que dans la vérité […]. Je vous suplie, Sire, tres humblement de l’accepter […] comme un hommage que le plus grand orgüeil du monde, le plus affecté et le plus Eslevé Doit Rendre a la véritable gloire, qui Environne Vostre personne sacrée.“ 45 FRANÇOIS HARTOG, Le Miroir d’Hérodote. Essai sur la représentation de l’autre. Paris 2001 (Paris 1980) hier S. 332. 46 [NOINTEL], Circoncision (wie Anm. 1) S. 62 f.
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heit daran, dass Mehmed IV. als sechsjähriges Kind durch einen Staatsstreich der Janitscharen zur Herrschaft gelangt war und kurz darauf von den Soldaten gezwungen worden sei, das Todesurteil seines eigenen Vaters zu unterzeichnen. Der Preis für diese illegitime Machtübernahme, so deutet Nointel an, sei die permanente Angst des Herrschers vor seinen eigenen Soldaten und seine unwürdige Abhängigkeit von ihrem Wohlwollen.47 Die Speisung der Janitscharen bietet Nointel also einen Vorwand, um die Fragilität der Militärmacht des Sultans zu betonen und zugleich seine Herrschaft als illegitimes und würdeloses Zerrbild einer Monarchie zu porträtieren. Auch das Thema der Sultaninnen greift Nointel auf. Den Topos der unbefriedigten Lust und sexuellen Unersättlichkeit der Frauen nutzt er dann, um zu demonstrieren, dass durch die bei diesen Feiern übliche Freizügigkeit letztlich der eigentliche Zweck der gesamten Veranstaltung untergraben wird: Anstatt nämlich „die Fülle eines gänzlich reinen und dauerhaften Ruhmes“ des Sultans zu zelebrieren, erscheint das Fest im Grunde als eine einzige öffentliche Demütigung des Großherrn: „Am bemerkenswertesten jedoch ist die Freizügigkeit und die Unverfrorenheit mancher Darbietungen, die in aller Öffentlichkeit den Respekt verletzen, den man dem Fürsten schuldet, und die eigentlich seine Eifersucht bezüglich der Sultansfrauen aufs Schwerste beleidigen müssten, fänden sie nicht mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis statt. Diese Janitscharengarden, die für die Aufrechterhaltung der Ordnung sorgen […], diese genauen und strengen Bewacher der Jungfräulichkeit, die nicht erlauben, dass ihre Schützlinge Gurken, Kerzen oder ähnlich geformte Dinge auch nur berühren […], sind nichts als Grimassen und vergeblicher äußerer Schein – bedenkt man die lasziven Posen, die sich vor den Augen des Sultans und in aller Öffentlichkeit abspielen und auch von den Sultaninnen gesehen werden. […] [Es sind] lüsterne Tänze von hübschen Jungen in Mädchenkleidern und Jungen ohne Verkleidung, welche die Geheimnisse des Aretino vorstellen ohne den Unterschied der Geschlechter in Betracht zu ziehen. Es fehlte nur noch die Nacktheit, doch offensichtlich behinderte dieser Mangel nicht den Eindruck, den das Ganze auf die Damen machte, vor allem auf jene, die nicht das Glück haben, in den Genuss der Zärtlichkeiten ihres Fürsten zu kommen.“48
Auch hier sind die wörtlichen Anlehnungen an La Croix’ Textvorlage unübersehbar, doch der eigentliche Fokus Nointels liegt weniger auf der erotischen Unterhaltung als vielmehr auf der politischen Dimension des Spektakels. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die von ihm selbst angesprochene Geschlechterdifferenz. Unterschiedlich 47 Ebd. S. 63. 48 Ebd. S. 64: „Ce qui est de plus remarquable, c’est la liberté et l’insolence de certaines représentations qui blesseroient publiquement le respect deu au Prince et offenseroient grièvement Sa Jalousie a l’esgard des Sultanes, Si elles ne le faisoient de son consentement : ces guardes de Janissaires qui maintien[n]ent tout dans le devoir,[…] ces exactes et sévéres gardiens de la virginité, qui ne permettent pas que celles qu’Ils ont en déspost touchent des concombres, des chandelles ou autres choses de pareille figure, […] tout cela disje ne conciste [sic] qu’en grimaces et dans un vain Esclat extérieur, quand l’on considére les postûres lascives, qui se font soubs les yeux du grand Seigneur, et a la face publique qui se voient par les Sultanes […]. [Il s’agit de] danses lubriques, par de beaux garçons habillés en filles, et par des garçons non deguisés, qui représentent les secrets de l’aretin et n’ont point d’égard a la différence des sexes. Il n’y manquoit que la nudité, mais ce deffault apparemment n’empeschoit pas […] l’impression qu’en devoient reçevoir les dames, et particuliérement celles qui ne sont pas assez heureuses pour Joüir des caresses de leur Prince.“
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sind die Geschlechter nach frühneuzeitlicher Auffassung nämlich unter anderem im Hinblick auf ihre Ehre. Zwar wird der Begriff an dieser Stelle nicht ausdrücklich benannt. Es ist aber klar, dass mit der Thematisierung der Sexualität der Sultaninnen ihre Ehre mit thematisiert wird – war doch nicht nur im Mittelmeerraum, sondern auch im übrigen Europa die weibliche Ehre bis weit ins 19. Jahrhundert hinein aufs Engste mit der sexuellen Integrität der Frau verknüpft.49 Ehrverletzungen der Frau zielten auf ihre Sexualität – und trafen dabei nicht nur sie selbst, sondern ihre gesamte Familie, insbesondere ihre Ehemann. Einen verheirateten Mann konnte man durch einen Angriff auf die Ehre seiner Ehefrau ebenso gut beleidigen wie durch eine direkte Ehrverletzung.50 Dass die Sultaninnen als unkeusch beschrieben werden, hat folglich direkte Auswirkungen auf die Ehre des Sultans. So wie Nointel und auch La Croix den Harem beschreiben, entehrt dieser den Sultan im Grunde permanent, da seine Bewohnerinnen in der Vorstellung der europäischen Beobachter ständig unbefriedigt und lüstern sind und sich auf verschiedenerlei Arten Erleichterung verschaffen – nicht nur durch die erwähnten Gurken und Kerzen, sondern vor allem auch durch sexuelle Beziehungen untereinander. Doch damit nicht genug: Nointel insistiert darauf, dass der Sultan selbst es seinen Frauen gestattet, sich in aller Öffentlichkeit an lasziven Vorstellungen zu erregen. Damit stimmt er in den Augen des Franzosen frohen Mutes seiner eigenen öffentlichen Entehrung zu. Nicht nur präsentiert der Sultan sich auf seinem Fest vor aller Welt als gehörnter und entehrter Ehemann; ihm fehlt dazu noch jegliches Ehrgefühl. Damit bewegt er sich außerhalb der von Nointel und seinen westeuropäischen Zeitgenossen als universell angesehenen Normen menschlichen Zusammenlebens. Diese Idee spinnt Nointel an einer späteren Stelle auf besonders drastische Weise weiter. Dort beschreibt er, wie man zur Volksbelustigung mehrere Tiere, darunter einen Esel, in brennende und mit Feuerwerkskörpern bestückte Decken gehüllt hatte. In seiner Todesangst flüchtet ein Esel ausgerechnet in den Pavillon der Frauen, was Nointel zu den folgenden Ausführungen veranlasst: „Es war ein lebendiger Esel dem fast nichts fehlte, das Feuer, das ihn außen quälte, war ein Zeichen seines inneren Feuers. Es lässt sich leicht vorstellen, wie dieses zu löschen war. […] Die Damen hatten große Freude, als sich das äußere Feuer verzogen hatte, da sie sich nun ein anderes Vergnügen versprachen. Doch ihre Hoffnung wurde nicht erfüllt, denn sei es, dass der Esel aus Respekt für die Ehre seines Kaisers abgehalten wurde, sei es, dass er sich schämte, 49 Vgl. UTE FREVERT, Ehre – männlich/weiblich. Zu einem Identitätsbegriff des 19. Jahrhunderts, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 21. 1992 S. 21-68; DIES., Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München 1991; LYNDAL ROPER, ‚Wille‘ und ‚Ehre‘: Sexualität, Sprache und Macht in Augsburger Kriminalprozessen, in: Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit. Hg. HEIDE WUNDER/CHRISTINA VANJA. Frankfurt a. M. 1991 S. 180-197; RICHARD VAN DÜLMEN, Der ehrlose Mensch, Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der frühen Neuzeit. Köln usw. 1999 insbesondere S. 9; MAUREEN J. GIOVANNI, Female Chastity Codes in the Circummediterranean: Comparative Perspectives, in: Honor and Shame in the Unity of the Mediterranean Hg. DAVID D. GILMORE. Washington D.C. 1987 S. 61-75; SUSANNA BURGHARTZ, Geschlecht – Körper – Ehre. Überlegungen zur weiblichen Ehre in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Basler Ehegerichtsprotokolle, in: Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. KLAUS SCHREINER/GERD SCHWERHOFF. Köln usw. 1995 S. 214-234. 50 Vgl. hierzu VAN DÜLMEN, Mensch (wie Anm. 49) insbesondere S. 9; YVONNE WILMS, Ehre, Männlichkeit und Kriminalität. Berlin 2009.
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kein Untertan des französischen Kaisers zu sein, jedenfalls hielt er sich zurück. […] Und so blieben die Sultaninnen auf ihrer Begierde sitzen, was sicher nicht passiert wäre, wenn sich ein paar französische Ritter in Eselshäuten diesen Prinzessinnen genähert hätten, denn die Franzosen sind bei solchen Gelegenheiten ebenso furchtlos wie in den heißesten Kriegsschlachten.“51
Die satirische Vorstellung der sexuellen Eroberung des Harems durch als Esel verkleidete französische Ritter ist ganz sicher eines der prägnantesten Narrative, mit denen Nointel den Sultan als macht- und würdelosen, als impotenten Herrscher verspottet. Seine Erzählung ist in dieser Hinsicht durchaus vergleichbar mit den politpornographischen Schmähschriften gegen Ludwig XVI. und Marie-Antoinette, die gut einhundert Jahre später das Ende des Ancien Régime mit einläuteten.52 Wie La Croix und Covel thematisiert auch Nointel die Unterbrechung der Festivitäten durch den Ruf des Muezzins. Die muslimische Frömmigkeit nötigt dem Botschafter im Gegensatz zu seinem Sekretär allerdings nicht die geringste Bewunderung ab, sondern gilt ihm lediglich als „eine andere Seite des Theaters“ („l’autre face du théâtre“). Den rituellen Bewegungsablauf des Gebets beschreibt er als Folge von „Grimassen“, seine Schilderung gipfelt in der grotesk ausgemalten Vorstellung, wie sämtliche Würdenträger des Reiches, der Sultan ebenso wie seine Frauen, die Wesire und die Paschas genau wie die einfachen Dienstboten und das Volk sich alle miteinander gleichzeitig zu Boden werfen, „Kopf zu Boden und Hintern in die Höhe“.53 Ähnlich wie Covel kritisiert Nointel die unmittelbare zeitliche und räumliche Nähe von Frömmigkeit und unkeuschen Darbietungen, „welche die Türken als wahre Heuchler so gut vereinbaren können.“54 Das Abendgebet als folgerichtige Fortsetzung der schamlos-sinnlichen Gaukeleien des Nachmittags, das ganze Fest als ein Theater, ein unwürdiger Reigen karnevalesker Darbietungen und grotesker Spektakel – so zumindest nimmt es sich unter der Feder des französischen Botschafters aus. Konsequent markiert Nointel die Andersartigkeit dessen, was er beschreibt, indem er das gesamte Arsenal der Alteritätsrhetorik bemüht: Vergleiche, Antithesen, Analogien sowie vor allem Ironie und immer wieder Topoi sexueller Devianz. So kontrastiert er osmanisches und französisches Herrschaftsverständnis, die scheinbare militärische Stärke des Sultans und die wahre Macht des Sonnenkönigs, die 51 [NOINTEL], Circoncision (wie Anm. 1) S. 68 f.: „C’estoit un asne vivant, auquel Il ne manquoit quasi rien, le feu qui l’embrasoit au dehors estoit une marque de son ardeur, le moyen de la satisfaire se peut facilement Imaginer […]. Le feu Extérieur s’estant dissipé a la veüe des dames ce qui leur donna beaucoup de plaisir, Il y [a] lieu de croire qu’elles s’en promettoient un autre; leur espérence n’eut point d’effect par la timidité de cet animal lequel se retint ou par la considération du respect deu a son Empereur, ou par la honte de n’estre pas subjet de l’Empereur de France […], ainsy les Sultanes demeurérent sur leur appetit, cequi ne seroit pas arrivé, si des cavaliers françois sans peur en cette occasion, comme dans les plus chaudes rencontres de la guerre eussent pû sous une peau d’asne aborder ces Princesses.“ 52 ROBERT DARNTON, The forbidden best-sellers of pre-revolutionary France. New York 1995; ANTOINE DE BAECQUE, Le corps de l’histoire. Métaphores et politique (1770-1800). Paris 1993; CHANTAL THOMAS, La reine scélérate. Marie-Antoinette dans les pamphlets. Paris 1989, sowie kritisch zu den genannten Studien JENS IVO ENGELS, Königsbilder. Sprechen, Singen und Schreiben über den französischen König in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Bonn 2000 S. 148-154. 53 [NOINTEL], Circoncision (wie Anm. 1) S. 66 : „testes à terre, et culs en l’air“. 54 Ebd.: „[…] que les Turcs francs hipocrites sçavent si bien accorder.“
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osmanische und die französische Gesellschaftsordnung und auch die geheuchelte Frömmigkeit der Muslime und die wahre Frömmigkeit der Christen. Dies ist nun keine partielle und relative Differenz mehr wie bei Covel, sondern eine umfassende und absolute: Osmanen und Franzosen sind nicht auf einer Ebene miteinander vergleichbar, sondern sie bewegen sich in unterschiedlichen Ordnungen, die sich zueinander verhalten wie Schein zu Sein und Karneval zum höfischen Fest. Das Osmanische Reich mit seinem Herrschaftssystem, seinen Sitten und Gebräuchen erscheint als das spiegelverkehrte Zerrbild der französischen Monarchie. So kann Nointel den Ruhm des Sultans als Simulacrum entlarven und dem echten Ruhm des Sonnenkönigs gegenüberstellen, dessen Universalitätsanspruch damit zugleich seine Bestätigung findet.
Alteritätsrhetorik und Personkonzept Nointel hatte verstanden, dass es für ihn völlig inopportun gewesen wäre, die Pracht der osmanischen Herrschaftszeremonie in seiner Korrespondenz mit dem Hof so ungebrochen zu schildern wie La Croix oder so differenziert wie Covel. Dennoch hatte er als Botschafter auch die Aufgabe, seine Auftraggeber mit möglichst ausführlichen und vollständigen Informationen über ein so wichtiges Ereignis zu versorgen. Doch wie ließ sich die Aufzählung all der Reichtümer, all der Geschenke, der prächtig gekleideten Menschenmassen, der opulenten Festmahle mit der Inszenierung des Sonnenkönigs vereinbaren, deren zentrale Elemente ja bekanntermaßen neben dem Bild des Kriegshelden ausgerechnet Pracht und Großzügigkeit waren?55 Das ging eben nur dann, wenn die osmanische Pracht nicht echt war. Nointel musste die Festbeschreibung seines Sekretärs gründlich überarbeiten und zog dabei alle Register einer Alteritätsrhetorik, bis hin zu ihrer literarischen Übertreibung durch Satire. Mit seiner Beschreibung der osmanischen Herrschaftszeremonie im Modus der Inversion, als Porträt des „anti-même“, gelang Nointel eine originelle Form des Herrscherlobs, die ihm einen ordentlichen Prestigegewinn bei Hofe garantieren sollte. All die pikanten Details und drastischen Bilder sollten dabei vor allem eines bewirken: dass sich der französische König selbst beim Anhören der Festbeschreibung womöglich amüsierte. Nointel setzte seine eigene Person mit seinem Bericht als geistreicher und rhetorisch versierter Höfling in Szene. Es waren also Nointels sozialer Ort und seine Position im Patronagenetzwerk des französischen Amtsadels, die ihn dazu brachten, die osmanische Staatszeremonie anders als sein Sekretär im Modus der Differenz, als absolute Andersartigkeit zu beschreiben. Doch worin genau unterschied sich Nointels Position von der seines Sekretärs? Der Unterschied war nicht nur gradueller Natur. Er bestand nicht einfach darin, dass Nointel innerhalb der sozialen Hierarchie des französischen Adels einen höheren Rang bekleidete als La Croix, dass er den Clans der Arnaulds und der Colberts und damit dem Machtzentrum näher stand. Es gab vielmehr einen qualitativen Unterschied. In seiner Funktion als Botschafter Ludwigs XIV. war Nointel nämlich gleichsam selbst integraler Bestandteil der Inszenierung des Sonnenkönigs – zum einen, weil die Botschafter zu dieser Zeit als 55 Vgl. hierzu PETER BURKE, Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs. Berlin 22001 insbesondere S. 86, 93-105 (The Fabrication of Louis XIV. New Haven usw. 1992).
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sichtbares Zeichen der Souveränität ihres Auftraggebers galten, zum anderen, weil er seinen König qua Amt im engsten Wortsinn repräsentierte. Die diplomatische Bühne war einer der wichtigsten Orte, an dem die Inszenierung des Sonnenkönigs aufgeführt wurde. Im Osmanischen Reich bewegten sich zahlreiche und bedeutende diplomatische Akteure, die zugleich Zuschauer waren, und der dortige Botschafter hatte ebenso dafür Sorge zu tragen, dass die Repräsentanten der anderen europäischen Mächte den Franzosen ihren Vorrang nicht streitig machten, wie dafür, dass das osmanische Zeremoniell die Würde und den Ranganspruch des Sonnenkönigs nicht verletzen konnte. All dies markierte und begrenzte den Handlungsspielraum eines Botschafters Ludwigs XIV. im Osmanischen Reich. Was Nointel als Botschafter tat und auch was er als Botschafter schrieb, das hatte der Logik der Inszenierung des Sonnenkönigs und damit seiner imperialen Herrschaftsideologie zu entsprechen. Umgekehrt gilt damit aber auch, dass Nointel mit Pracht und Macht des Sonnenkönigs immer auch sich selbst als Teil dieser Ordnung thematisierte. Das galt nicht für La Croix. Als dieser nach der Rückkehr aus dem Osmanischen Reich seine Memoiren, sein Journal und seine vielen anderen Schriften verfasste, war er zunächst und vor allem darum bemüht, eine neue Anstellung im diplomatischen Dienst oder zumindest eine königliche Gratifikation zu erlangen. Sicher, La Croix widmete eines der handschriftlichen Exemplare seiner Memoiren 1682 dem König und bewies in seiner Widmung, dass er dessen Inszenierungsstrategie verstanden hatte, indem er schrieb, die osmanische Pracht sei nur ein Schatten, der sich durch die Kraft der Sonne auflöse.56 Doch auch wenn der König zu den expliziten Adressaten seiner Schriften zählte, war La Croix damit noch lange nicht selbst Teil der königlichen Herrschaftsinszenierung. Er war nichts weiter als ein ehemaliger Botschaftssekretär ohne Anstellung, der seine Kenntnisse und sein Insiderwissen über die Osmanen möglichst gewinnbringend innerhalb eines Patronagenetzwerks verkaufen wollte, das ihn selbst stets an der Peripherie hielt, weit entfernt vom Zentrum der Macht. Seine autobiographischen Schriften fungierten als Medien der Selbstvermarktung – daher die Detailgenauigkeit seiner Festbeschreibung und sein Bemühen um Objektivität. Sich selbst zu präsentieren oder besser: anzupreisen bedeutete für La Croix, das eigene Wissen auszubreiten und die eigene Beobachtungsgabe unter Beweis zu stellen. Es ging darum, seine Nützlichkeit, womöglich sogar Unentbehrlichkeit für den königlichen Dienst im Osmanischen Reich zu beweisen. All dies in der Hoffnung, einen mächtigen Schutzherrn zu finden, der ihm den sozialen Aufstieg ermöglichte. Er brachte es am Ende aber nur zum inoffiziellen Informanten des neuen Staatssekretärs für Äußeres, Colbert de Croissy, der ihm eine bescheidene Gratifikation verschaffte und ihn einige Male ohne offizielle Mission ins Osmanische Reich schickte – eine halbherzige Protektion, die zumindest La Croix’ Ansehen bei Nointels Nachfolgern eher geschadet als genützt hat, wurde er doch von diesen als Spion des Ministers gemieden.57 56 BNF, MS, FR 6094, Mémoires de Delacroix (wie Anm. 23) t. 1, p. v: „Le faste othoman n’est qu’une ombre qui se dissipe par la force du Soleil.“ 57 Vgl. z.B. La Croix an Colbert de Croissy, 8.1.1685. Paris, Archives du Ministère des affaires étrangères, CP Turquie 17, fol. 88r-89v. Das Misstrauen des Botschafters gegenüber dem kleinen Informanten bringt am deutlichsten Nointels Nachfolger Girardin zum Ausdruck, vgl. PIERRE GIRARDIN, Journal de mon Ambassade à la Porte. Paris, Bibliothèque nationale de France, MS, FR
Osmanische Pracht und wahre Macht
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John Covel schöpfte bei der Beschreibung des osmanischen Festes weitaus größere sprachliche Gestaltungsfreiräume aus als La Croix und Nointel, auch deshalb hebt sich seine Festbeschreibung von den französischen deutlich ab. Ob er einfach nur interessierter und mutiger war als La Croix, ob er über einen weiteren geistigen Horizont verfügte oder einfach einen anderen Schreibstil hatte als die beiden Franzosen, das lässt sich kaum begründet entscheiden. Es könnte aber immerhin sein, dass sich der englische Gelehrte in einem gänzlich andersartigen sozialen Verflechtungsgefüge bewegte, das ihm eben eine größere Freiheit des Ausdrucks in seinem Schreiben erlaubte oder sogar abverlangte. Jedenfalls gilt für Covel wie für La Croix und Nointel: Wie und was sie über sich selbst und das, was sie erlebten, schrieben, war nicht nur Gattungskonventionen unterworfen und hing nicht nur mit ihren persönlichen Neigungen und Begabungen zusammen, sondern es war wesentlich bestimmt durch die spezifischen Notwendigkeiten ihres jeweiligen sozialen Ortes.
7162, fol. 72r-73r: „Je fus surpris en parcourant les lettres de Monsieur de Guilleragues d’ en trouver du S.r de la Croix qui avoit esté cy-devant secretaire de M.r de Nointel, escrites en Chiffres a M.r de Croissy […]. Je m’en defiay donc d’abord comme d’un Espion des actions d’un ambassadeur, et je me trouvay muny de bonnes raisons pour rejetter la proposition que je sceus que Bergeret me vouloit faire de le prendre pour secretaire.“
PETER BURSCHEL
„j’avais le plaisir de me voir comparée à tous les astres“ Gelebte Räume in den Memoiren der Kurfürstin Sophie von Hannover*
„There is no living without a ground, without a sense of space that is not only external but internal – mental loci.” Siri Hustvedt, The Summer Without Men. London 2011 S. 13.
Als ich begann, über einen Beitrag für diesen Band nachzudenken, war mein erster Gedanke, Überlegungen zur höfischen Arkanpraxis in der frühen Neuzeit „räumlich“ weiterzuführen, die ich bereits an anderer Stelle publiziert hatte.1 Ich wollte mehr über die Orte, ich wollte vor allem mehr über die Wege von Gerüchten in einer Welt erfahren, die das Geheimnis nicht nur symbolisch bis zur Selbstdenunziation kultivierte2 – und die es uns vielleicht auch deshalb so leicht macht, ihr Ende immer mitzudenken.3 Nachdem ich vor diesem Hintergrund bereits die Briefe der Kurfürstin Sophie von Hannover investigativ gelesen hatte4, beschloss ich, auch die Memoiren dieser Meisterin arkaner * 1
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Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten. PETER BURSCHEL, „sachen, da ich kein journal von machen werde“. Geheimnisrede oder Der Fall Königsmarck in den Briefen der Kurfürstin Sophie von Hannover, in: Herrschaftspraxis und soziale Ordnungen. Ernst Schubert zum Gedenken. Hg. PETER AUFGEBAUER/CHRISTINE VAN DEN HEUVEL. Hannover 2006 S. 465-476. Wiederabdruck in erweiterter Form als: Geheimnisrede. Der Fall Königsmarck in den Briefen der Kurfürstin Sophie von Hannover, in: Krumme Touren. Anthropologie kommunikativer Umwege. Hg. WOLFGANG REINHARD. Wien usw. 2007 S. 205-219. Vgl. hier nur die einschlägigen Beiträge im Themenheft: Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 6/1-4. 2002. LUCIAN HÖLSCHER, Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit. Stuttgart 1979, vor allem S. 55-80; JON R. SNYDER, Dissimulation and the Culture of Secrecy in Europe. Berkeley 2009. So vor allem: Briefwechsel der Herzogin Sophie von Hannover mit ihrem Bruder, dem Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz. Hg. EDUARD BODEMANN. Leipzig 1885; Briefe der Kurfürstin Sophie von Hannover an die Raugräfinnen und Raugrafen zu Pfalz. Hg. EDUARD BODEMANN. Leipzig 1888 (Nachdruck: Osnabrück 1966); Briefe der Königin Sophie Charlotte von Preußen und der Kurfürstin Sophie von Hannover an hannoversche Diplomaten. Hg. RICHARD DOEBNER. Leipzig 1905 (Nachdruck: Osnabrück 1965); Briefwechsel der Kurfürstin Sophie von Hannover mit dem Preußischen Königshause. Hg. GEORG SCHNATH. Berlin usw. 1927. – Zu Sophie immer noch grundlegend: MATHILDE KNOOP, Kurfürstin Sophie von Hannover. Hildesheim 1969; zur raschen (auch dynastischen) Orientierung: CHRISTINE VAN DEN HEUVEL, Sophie von der Pfalz (1630-1714) und ihre Tochter Sophie Charlotte (1668-1705), in: Deutsche Frauen der Frühen Neuzeit. Dichterinnen, Malerinnen, Mäzeninnen. Hg. KERSTIN MERKEL/HEIDE WUNDER. Darmstadt 2000 S. 77-92; BRITTA HEGELER, Sophie von Hannover – ein Fürstinnenleben im Barock, in: Niedersäch-
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Rede in den Blick zu nehmen5, die mich nicht mehr losließen und die mich schon bald davon überzeugten, die höfischen Bahnen von Geheimnis und Gerücht zu überschreiten und den Versuch zu unternehmen, dieses Selbstzeugnis in einem sehr viel umfassenderen Sinne „räumlich“ zu entziffern.6 Denn nicht nur, dass mir die Memoiren einmal mehr vor Augen führten, wie sorgfältig Selbstthematisierungen gerade in der Welt der Höfe räumlich artikuliert wurden, ja, artikuliert werden mussten. Und zwar keineswegs nur metaphorisch. Sie ließen mich zudem in aller Deutlichkeit erkennen, dass sich das spezifische Profil dieser „Räume des Selbst“ ganz wesentlich jenen Beziehungszeichen verdankte, die nach Erving Goffman und anderen dazu dienen, Begegnungen, insbesondere unmittelbare Begegnungen mehr oder weniger einvernehmlich zu regeln, indem sie Hierarchien sichtbar machen und möglicherweise neu justieren, indem sie Handlungsspielräume begrenzen und indem sie damit nicht zuletzt auch Verhaltensmuster vorgeben, kurz, indem sie Differenzen markieren.7 Das aber hieß auch: Die Memoiren der Kurfürstin Sophie von Hannover gaben mir unmissverständlich zu verstehen, dass die Räume, die sie entfalteten, „gelebte“ und „erlebte“ Räume waren, um den fast vergessenen Raum-Phänomenologen und Raum-Hermeneutiker Otto Friedrich Bollnow zu zitieren 8 , lebensweltliche Erfahrungs-, Erinnerungs- und Bedeutungsräume von handlungsleitender Kraft, die nicht nur Einblicke in die Vielfalt räumlicher Orientierungen erlauben, sondern auch in die Dynamik dieser Orientierungen.9 In anderen Worten: Wenn ich in diesem Beitrag versuche, die Memoi-
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sisches Jahrbuch für Landesgeschichte 74. 2002 S. 147-188; vgl. darüber hinaus auch KARIN FEUERSTEIN-PRAßER, Sophie von Hannover (1630-1714). „Wenn es die Frau Kurfürstin nicht gäbe …“. Regensburg 2004. SOPHIE DE HANOVRE, Mémoires et Lettres de voyage. Hg. DIRK VAN DER CRUYSSE. Paris 1990. Die Edition von Dirk Van der Cruysse, aus der im Folgenden zitiert wird, ist der Ausgabe von Adolf Köcher vorzuziehen: Memoiren der Herzogin Sophie nachmals Kurfürstin von Hannover. Hg. ADOLF KÖCHER. Leipzig 1879. Eine (durchaus akzeptable) Übersetzung bietet: Die Mutter der Könige von Preußen und England. Memoiren und Briefe der Kurfürstin Sophie von Hannover. Hg. ROBERT GEERDS. Leipzig 1913. Ein Versuch, der u.a. methodisch-theoretische Überlegungen umsetzt und weiterführt, die Andreas Bähr, Gabriele Jancke und ich einleitend in dem Sammelband: Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell. Hg. ANDREAS BÄHR/PETER BURSCHEL/GABRIELE JANCKE. Köln usw. 2007 S. 1-12 skizziert haben. ERVING GOFFMAN, Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a. M. 1971 (Interaction Ritual. Essays on Face-to-Face Behavior. New York 1967); DERS., Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt a. M. 1974 (Relations in Public. Microstudies of the Public Order. London 1971). Vgl. dazu auch DOROTHEA NOLDE, Vom Umgang mit Fremdheit. Begegnungen zwischen Reisenden und Gastgebern im 17. Jahrhundert, in: Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Hg. RAINER BABEL/WERNER PARAVICINI. Ostfildern 2005 S. 579-590; sowie DIES., Andächtiges Staunen – Ungläubige Verwunderung. Religiöse Differenzerfahrungen in französischen und deutschen Reiseberichten der Frühen Neuzeit, in: Francia 33. 2006 S. 13-35. OTTO FRIEDRICH BOLLNOW, Mensch und Raum. Stuttgart 1963 S. 13-25. Zu diesen Begriffen programmatisch vor allem JOHANNA ROLSHOVEN, Von der Kulturraum- zur Raumkulturforschung. Theoretische Herausforderungen an eine Kultur- und Sozialwissenschaft des Alltags, in: Zeitschrift für Volkskunde 99. 2003 S. 189-213 – sowie darüber hinaus: HERMANN BAUSINGER, Räumliche Orientierung. Vorläufige Anmerkungen zu einer vernachlässigten kulturellen Dimension, in: Wandel der Volkskultur in Europa. Festschrift für Günter Wiegelmann zum 60. Geburtstag, Bd. 1. Hg. NILS-ARVID BRINGÉUS/UWE MEINERS/RUTH-E. MOHRMANN/DIETMAR
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ren der Kurfürstin Sophie von Hannover räumlich zu lesen, dann deshalb, weil mich diese Memoiren davon überzeugen konnten, wie geboten es ist, Fragen nach dem Selbst, Fragen nach der Person10 in stärkerem Maße als bisher auch als Raum-Fragen verstehen zu lernen.11 Als Fragen, die ohne die Bereitschaft, „to spatialize the historical narrative“, wie der Stadtplaner und Geograph Edward W. Soja das einmal ausgedrückt hat, kaum zu beantworten sind.12
„ma patrie“ Im Winter 1680/1681 in Französisch geschrieben, sind die Memoiren allein in einer 70 Blatt umfassenden Abschrift des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz überliefert, der das Vertrauen der Herzogin und späteren Kurfürstin so einschränkungslos genoss, dass sie ihm ihre Aufzeichnungen überließ13, obwohl sie bereits im ersten Satz hervorgehoben hatte, ausschließlich für sich selbst schreiben zu wollen: „cet écrit ... n’est que pour moi“, um nicht als „l’héroïne d’une histoire“ zu erscheinen oder gar den Eindruck zu erwecken, jene „dames romanesques“ nachahmen zu wollen, deren Leben durch eine „conduite extraordinaire“ „célèbre“ geworden sei.14 Wie auch immer man solche Äußerungen taxiert – auf die „dames romanesques“ wird noch zurückzukommen sein –, fest steht, dass Sophie von Hannover ihre Memoiren im Herbst eines Jahres zu schreiben begann, das für sie alles andere als erfreulich gewesen war, hatte sie doch im Februar ihre Schwester
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SAUERMANN/HINRICH SIUTS. Münster 1988 S. 43-52; BERNHARD WALDENFELS, In den Netzen der Lebenswelt. Frankfurt a. M. 1985, zum Beispiel S. 189; ARJUN APPADURAI, Globale ethnische Räume. Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen Anthropologie, in: Perspektiven der Weltgesellschaft. Hg. ULRICH BECK. Frankfurt a. M. 1998 S. 11-40; Themenheft: Mental Maps: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 28/3. 2002; DORIS BACHMANN-MEDICK, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006 S. 284-328; ALEXANDER MEJSTRIK, Welchen Raum braucht Geschichte? Vorstellungen von Räumlichkeit in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 17. 2006 S. 9-64. „Person“ hier im Sinne der Einleitung des vorliegenden Bandes. Vgl. dazu auch JULIA WATSON, The Spaces of Autobiographical Narrative, in: BÄHR/BURSCHEL/ JANCKE (Hg.), Räume des Selbst (wie Anm. 6) S. 13-25. EDWARD W. SOJA, Postmodern Geographies: The Reassertion of Space in Critical Social Theory. London usw. 82003 (1989); DERS., Thirdspace: Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places. Malden, Mass. usw. 72004 (1996). – Es braucht vor diesem Hintergrund nicht hervorgehoben zu werden, in welchem Maße eine historisch-anthropologisch orientierte Hofforschung von der Umsetzung dieser Forderung profitieren würde. Vgl. dazu aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive UTE DANIEL, Zwischen Zentrum und Peripherie der Hofgesellschaft: Zur biographischen Struktur eines Fürstinnenlebens der Frühen Neuzeit am Beispiel der Kurfürstin Sophie von Hannover, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 8/2. 1997 S. 208-217, die allerdings von einer „räumlichen Entzifferung“ der einschlägigen Selbstzeugnisse in einem „emischen“ Sinne weit entfernt ist. Niedersächsisches Landesarchiv, Hauptstaatsarchiv Hannover, Hann. Des. 91 (Nachlass: Memoiren der Herzogin Sophie). SOPHIE DE HANOVRE, Mémoires (wie Anm. 5) S. 35.
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Elisabeth, die Äbtissin der Reichsabtei Herford 15 , und im August ihren Bruder Karl Ludwig, den Kurfürsten von der Pfalz, verloren. 16 Todesfälle, die sie am Ende ihrer Aufzeichnungen nicht nur erwähnt, sondern zur raison d’être ihres Schreibens erhebt.17 Denn daran hat sie keinen Zweifel: Schreiben angesichts des Todes ist Schreiben gegen die Melancholie, was einer Frau ihres Alters – sie ist fünfzig Jahre alt – wohl anstehe, die noch dazu milzkrank, „mal de rate“, sei.18 Ganz davon abgesehen, dass sie sich auf diese Weise die Zeit bis zur Rückkehr ihres Mannes habe vertreiben können, der auch den Winter 1680/1681 fern von ihr in Venedig verbrachte. Sie schließt in der Hoffnung, dass die Rückkehr des Herzogs sie wieder völlig herstellen werde, damit sie noch nicht den Weg aller Sterblichen gehen müsse: „J’espère que le retour de M. le duc, qui sera en peu de jours, me remettra tout à fait, pour n’aller pas si tôt le chemin de tous les mortels.“19 Einsetzend mit ihrer Geburt im Jahre 1630, die den Eltern keine andere Freude bereitet habe als jene, „que je n’occupais plus le poste que j’avais tenu“20, erzählt Sophie von Hannover ihr Leben als Leben von Ort zu Ort, als Leben von Ankunft zu Ankunft, von Abschied zu Abschied, obwohl sie allein an den Exilhöfen in Leiden und Den Haag zwanzig Jahre verbrachte21 und weitere acht bis zu ihrer Hochzeit am Hof ihres Bruders in Heidelberg.22 Gleichzeitig fällt auf, dass sie sich selbst nicht territorial „verortet“. Jedenfalls nicht in emotional-identifikatorischer Hinsicht. So spricht sie zwar einmal von der Pfalz als „ma patrie“23, lässt aber keinen Zweifel daran, dass sie damit das Land ihres Vaters, des Kurfürsten Friedrich V., in einem durch und durch politischen Sinne meint:
15 Elisabeth von der Pfalz, Äbtissin von Herford, 1618-1680. Eine Biographie in Einzeldarstellungen. Hg. HELGE BEI DER WIEDEN. Hannover 2008. 16 FEUERSTEIN-PRAßER, Sophie von Hannover (wie Anm. 4) S. 155-160. 17 „Ma joie n’y dura pas longtemps, car j’appris peu de jours après notre retour, comme j’y pensais le moins, que j’avais perdu que M. l’électeur mon frère, et qu’une fièvre de huit jours l’avait emporté, ce qui m’affligea à un point que je ne saurais exprimer. Il m’avait toujours chérie comme sa fille, et me faisait l’honneur d’avoir une si grande confiance en moi qu’il m’écrivait tous les ordinaires, et cela d’un style si plein de feu et d’agrément que cette correspondance faisait un des plus grands plaisirs de ma vie. Cette perte a si fort augmenté mon mal de rate que je songe toujours qu’à present que j’ai cinquante ans, je ne tarderai pas longtemps à suivre ma sœur et mon frère.” SOPHIE DE HANOVRE, Mémoires (wie Anm. 5) S. 173. 18 Zu diesem (auch jenseits höfischer Selbstthematisierungen weit verbreiteten) Motiv zum Beispiel HELGA MEISE, ‘Wahr ich den gantzen Nachmittag betrübt’: Trauer und Melancholie in der Diaristik von Frauen in der Frühen Neuzeit, in: Autobiography by Women in German. Hg. MERERID PUW DAVIES/BETH LINKLATER/GISELA SHAW. Oxford usw. 2000 S. 69-85 – sowie CONRAD WIEDEMANN, Zwei jüdische Autobiographien im Deutschland des 18. Jahrhunderts: Glückel von Hameln (ca. 1719) und Salomon Maimon (1792), in: Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion. Hg. STÉPHANE MOSES/ALBRECHT SCHÖNE. Frankfurt a. M. 1986 S. 88-113. 19 SOPHIE DE HANOVRE, Mémoires (wie Anm. 5) S. 173. 20 Ebd. S. 37. 21 Ebd. S. 37-50. 22 Ebd. S. 51-74. 23 Ebd. S. 75. – Allgemein zum Begriff „patria“ in der frühen Neuzeit: AXEL GOTTHARD, In der Ferne. Die Wahrnehmung des Raums in der Vormoderne. Frankfurt a. M. usw. 2007 S. 72-76. Vgl. darüber hinaus ERIC PILTZ, Verortung der Erinnerung. Heimat und Raumerfahrung in Selbstzeugnissen der Frühen Neuzeit, in: Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts. Hg. GUNTHER GEBHARD/OLIVER GEISLER/STEFFEN SCHRÖTER. Bielefeld 2007 S. 57-79.
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als das Land, das dieser verlor24, den sie im Übrigen ebenso durchgängig als „Roi“ bezeichnet wie ihre Mutter Elisabeth, die Tochter König Jakobs I. von England und Schottland, als „Reine“.25 Angesichts dieser Beobachtung scheint es auf der anderen Seite nur konsequent zu sein, dass sie lediglich einmal explizit zum Ausdruck bringt, sich als Deutsche „dépaysée“ gefühlt zu haben – und zwar bezeichnenderweise auf ihrer Italienreise in den Jahren 1664/1665, die ihr mehr als einmal Anlass gab, sich in moralischer Hinsicht zu wundern. Denke man in Italien, wo sich Damen ohne Liebhaber um ihre Ehre sorgen müssen, doch nur an das Eine. Sie habe gelernt, dass Gefallsucht ein Verbrechen sei; die Sitten dieses Landes aber seien dem entgegengesetzt: „On peut s’imaginer comme une Allemande comme moi se trouvait dépaysée dans un pays où l’on ne pense qu’à faire l’amour, et où les dames se croiraient déshonorées si elles n’ont des galants. J’avais toujours appris que la coquetterie était un crime, et je trouvais la morale d’Italie contraire à celle-là.“26
„fauteuil“ und „tabouret“ Da mich diese Befunde nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Raum- und Reiseforschung erstaunten, entschied ich mich für einen zweiten, für einen weniger „territorial“ orientierten Lektüregang – und wurde schon bald auf eine Reihe zeremoniell ausgestalteter Situationen, Begegnungen und Handlungen aufmerksam, die mir in aller Deutlichkeit vor Augen führten, was ich als These so formulieren möchte: Wenn es den Memoiren der Kurfürstin Sophie von Hannover an räumlichen Selbstthematisierungen oder in der Sprache des „spatial turn“ an räumlichen Selbstverortungen von territorialer Identifikationskraft fehlt, dann deshalb, weil die Räume des Selbst, die in den Memoiren entfaltet werden, in erster Linie zeremonielle Räume sind. Räume also, die entstehen, wenn politische und soziale Ordnungen im Rahmen standardisierter symbolischer Handlungssequenzen verräumlicht werden. 27 Das aber bedeutet: Wer versucht, die Memoiren räumlich zu entziffern, hat es mehr oder weniger durchgängig mit symbolischen Differenzmarkierungen zu tun, die einen gemeinsamen Interaktionsraum schaffen, dessen Einheit durch die im Prinzip universal geltenden Regeln höfischer symbolischer Kom24 Vgl. dazu auch eine Passage, die den Besuch Sophies in Santa Maria della Vittoria in Rom 1665 festhält, wo ein Geistlicher sie auf ein Geschenk Kaiser Ferdinands II. anlässlich des katholischen Sieges in der Schlacht am Weißen Berg aufmerksam macht: „Le religieux qui me fit voir ce beau présent me dit qu’une grande princesse comme moi devait aussi lui donner quelque chose. Je répliquai qu’oui, si la Vierge eût été de l’autre côté. Toute l’église était ornée des drapeaux et des enseignes qu’on avait pris dans cette bataile.“ SOPHIE DE HANOVRE, Mémoires (wie Anm. 5) S. 102. 25 Exemplarisch: ebd. S. 37, 102. – Zu den Hintergründen hier nur BRENNAN C. PURCELL, The Winter King: Frederick V of the Palatinate and the Coming of the Thirty Years’ War. London 2003; Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.), Der Winterkönig. Friedrich von der Pfalz. Bayern und Europa im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Begleitband zur Bayerischen Landesausstellung im Stadtmuseum Amberg (9. Mai 2003 – 2. November 2003). Stuttgart 2003. 26 SOPHIE DE HANOVRE, Mémoires (wie Anm. 5) S. 93. 27 Beispiele: WERNER PARAVICINI (Hg.), Zeremoniell und Raum. 4. Symposion der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Sigmaringen 1997; CHRISTOPH DARTMANN/MARIAN FÜSSEL/STEFANIE RÜTHER (Hg.), Raum und Konflikt. Zur symbolischen Konstituierung gesellschaftlicher Ordnung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Münster 2004.
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munikation 28 gewährleistet wird, was Fremdheitserfahrungen gewiss nicht ausschließt, was sie aber ganz erheblich abschwächt.29 Man kann es auch so sagen: Wenn Sophie von Hannover ihr Leben von Ort zu Ort erzählt, dann in der Gewissheit einer umfassenden räumlichen Einheit, die zeremonielle Berechenbarkeit als räumliche Praxis der Selbstthematisierung verbürgt oder doch zumindest verbürgen sollte.30 Was aber heißt das konkret? Das heißt, dass die Memoiren höfische Begegnungen grundsätzlich als zeremonielle Begegnungen im Raum ausweisen, wobei sie Raum – übrigens ganz im Sinne der Raum-Soziologin Martina Löw – aus der je spezifischen relationalen und nicht zuletzt auch prozessualen Anordnung von Menschen und Dingen hervorgehen lassen.31 Um nur ein Beispiel zu nennen: Als Sophie auf ihre erste große Audienz Anfang 1653 anlässlich des Reichstags von Regensburg32 zu sprechen kommt, die sie und eine ihrer Schwestern als Begleiterinnen ihrer kurfürstlichen Tante bei der Kaiserin zu absolvieren hatten, übersetzt sie das solenne Geschehen in ein sorgfältig vermessenes Stühlerücken. So habe die Kaiserin ihren Gästen die Ehre erwiesen, sie an der Stufe zu mehreren Vorzimmern zu empfangen und ihnen dabei zudem die Hand nach deutscher Art zu geben. Sie seien ihr ins Audienzzimmer gefolgt, wo sie auf einem Armstuhl Platz nahm, der vor einem Tisch unter einem großen Baldachin stand. Ihr gegenüber habe auch die Kurfürstin einen Armstuhl erhalten, während Sophie und ihre Schwester auf Stühlen mit Rückenlehnen platziert wurden: „... après quelques jours de repos M. l’électeur eut audience de l’empereur, et Mme l’électrice de l’impératrice qui lui fit l’honneur de la recevoir au degré au travers de plusieurs antichambres et nous donna la main à l’allemande. Nous la suivîmes jusque dans sa chambre d’audience, où elle prit sa place sur un fauteuil qui était devant une table sous un grand dais. On donna vis-à-vis d’elle un fauteuil aussi à Mme l’électrice, et des chaises à dos à ma sœur et à moi.“33
Versucht man die vergleichende Probe auf dieses Exempel zu machen, so bietet sich die Beschreibung einer Audienz bei der französischen Königin am Ende der Memoiren 28 Zum Begriff der symbolischen Kommunikation grundlegend: BARBARA STOLLBERG-RILINGER, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31. 2004 S. 489-527. 29 Vgl. dazu (allerdings nur bedingt in diesem Sinne) NOLDE, Vom Umgang mit Fremdheit (wie Anm. 7); sowie: THOMAS GROSSER, Reisen und soziale Eliten. Kavalierstour – Patrizierreise – bürgerliche Bildungsreise, in: Neue Impulse der Reiseforschung. Hg. MICHAEL MAURER. Berlin 1999 S. 135-176, hier 142 f.; ULRICH KLEIN, Der Kavalier und die Fremde. Drei Spielarten von Reiseberichten über Kavaliersreisen im 17. Jahrhundert und ihre Notierungsmuster, in: Euphorion 85. 1991 S. 85-97, hier vor allem 96; THOMAS WELLER, Andere Länder, andere Riten? Die Wahrnehmung Spaniens und des spanischen Hofzeremoniells in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen aus dem deutschsprachigen Raum, in: BÄHR/BURSCHEL/JANCKE (Hg.), Räume des Selbst (wie Anm. 6) S. 41-55, hier 46. 30 Nur am Rande sei vermerkt, dass die Untersuchung von „Räumen des Selbst“ aus der Perspektive symbolischer Kommunikation immer noch als Forschungsdesiderat bezeichnet werden darf. Vgl. dazu hier nur PETER BURSCHEL, Topkapı Sarayı oder Salomon Schweiggers Reise ans Ende der Zeit, in: BÄHR/BURSCHEL/JANCKE (Hg.), Räume des Selbst (wie Anm. 6) S. 29-40. 31 MARTINA LÖW, Raumsoziologie. Frankfurt a. M. 2001. 32 Ausführlich zu diesem Reichstag: BARBARA STOLLBERG-RILINGER, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. München 2008 S. 137-225. 33 SOPHIE DE HANOVRE, Mémoires (wie Anm. 5) S. 60.
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an, einer Audienz, die 1679 im Palais Royal stattfand. Die Königin, so führt Sophie aus, habe sich auf einen „fauteuil“ gesetzt, während der Herzog von Orléans, ihr, Sophie, bedeutet habe, sich wie er auf einen Hocker – auf einen „tabouret“ – zu setzen, was sie empört abgelehnt habe, um gleich nach einer tiefen Verbeugung wieder zu gehen. Der Herzog, immerhin Bruder des Königs und Mann ihrer Nichte Elisabeth Charlotte34, habe sie daraufhin gefragt, warum sie sich nicht auf den Hocker setze, und hinzugefügt, dass sie bei seiner Frau selbstverständlich eine andere Sitzgelegenheit erwarten könne, nicht aber bei der Königin; woraufhin ihre Antwort gewesen sei, nicht gewagt zu haben, sich vor der Königin von Frankreich mit einem „tabouret“ zu begnügen, nachdem ihr die Kaiserin die Ehre einer „chaise à dos“ erwiesen habe. Auf die Erwiderung des Herzogs, dass jedes Land nun einmal seine „coutume“ habe und dass er diesen Vorfall besser nicht den König wissen lasse, habe sie nur kurz geantwortet, sich deswegen keine Sorgen zu machen.35 Obwohl Irritationen dieser Art in den Memoiren der Kurfürstin Sophie von Hannover vielfach variiert durchaus ihren Platz haben, brauche ich nicht zu betonen, dass sie die höfische Gewissheit umfassender räumlicher Einheit keineswegs in Frage stellen. Im Gegenteil, gerade sie erlauben es den Protagonistinnen und Protagonisten dieser Gewissheit, die symbolischen Markierungen immer wieder neu zu justieren, die den gemeinsamen zeremoniellen Interaktionsraum ihrer Selbstthematisierungen konstituieren. Ja, die Memoiren lassen sogar erkennen, dass solche Aushandlungsprozesse nicht zuletzt auch dort stattfinden, wo die höfische Welt im engeren Sinne verlassen wird, was auf den besonderen zeremoniellen Regelungsbedarf jenseits der Höfe verweist, was aber auch vor Augen führt, dass die Gewissheit räumlicher und damit zeremonieller Einheit in den Memoiren keine „Ortsgrenzen“ kennt. In anderen Worten, ob in der Postkutsche36, auf dem Rhein37 oder beim Alpenübergang38: Das Leben von Ort zu Ort, das die Memoiren entfalten, kennt kein zeremonielles Niemandsland – und damit auch keine Räume des Selbst ohne zeremonielle Vermessung, ohne, wenn man so will, „fauteuil“ und „tabouret“.
34 Philippe I., duc d’Orléans, wird auch in den Memoiren zumeist „Monsieur“ genannt. – Zu Elisabeth Charlotte, Liselotte von der Pfalz, immer noch grundlegend: DIRK VAN DER CRUYSSE, Madame Palatine, Princesse Européenne. Paris 1988 (deutsch, gekürzt: „Madame sein ist ein ellendes Handwerck“. Liselotte von der Pfalz – eine deutsche Prinzessin am Hof des Sonnenkönigs. München usw. 1990). 35 SOPHIE DE HANOVRE, Mémoires (wie Anm. 5) S. 153. – Vgl. in diesem Kontext auch ANDRÉ KRISCHER, Ein nothwendig Stück der Ambassaden. Zur politischen Rationalität des diplomatischen Zeremoniells bei Kurfürst Clemens August, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 205. 2002 S. 161-200, hier 173-187. 36 SOPHIE DE HANOVRE, Mémoires (wie Anm. 5) S. 75. 37 Ebd. S. 137 f. 38 Ebd. S. 88.
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Inkognito Angesichts dieser Befunde ist es alles andere als erstaunlich, dass wir Sophie von Hannover in ihren Memoiren immer wieder auch dabei beobachten können, wie sie versucht, ihre zeremoniellen Spiel-Räume zu erproben. Spiel-Räume, die vor allem dann entstehen, wenn sie inkognito reist39 und ihrem jeweiligen Gegenüber auf diese Weise zu verstehen gibt, sie jenseits der Regeln höfischer Kommunikation so zu behandeln, dass diese Regeln auf gar keinen Fall verletzt werden.40 So berichtet sie zum Beispiel, dass sie es nicht habe unterlassen können, die Fürstin Maria Colonna während eines Spaziergangs in Rom auf die zeremonielle Probe zu stellen, indem sie die einstige Geliebte Ludwigs XIV. überholt habe, um sie auf einer Treppe hinter sich zu lassen, was ihr der Rang zwar gestattete, das Inkognito aber verbot.41 Während die Fürstin, so Sophie weiter, diese Provokation mehr oder weniger ignoriert habe, „car elle n’était pas façonnière“42, habe ihr Mann – Herzog Ernst August hatte die beiden begleitet43 – wenig erfreut reagiert. Denn: „aimait à lui plaire“.44 Am Rande nur: Sophie hatte vor ihrem Treffen mit der illustren Nichte Mazarins in Erfahrung gebracht, dass diese sie mit „Hoheit“ anreden werde: „On me disait aussi que je pouvais bien aller chez elle sans conséquence, puisqu’il n’y avait point d’égalité entre nous, et qu’elle me donnerait l’Altesse“.45 Wir dürfen im Übrigen davon ausgehen, dass Maria – Mancini – Colonna, die ihre Memoiren 1676 veröffentlicht hatte46, eine jener „dames romanesques“ war, die Sophie von Hannover zu Beginn ihrer eigenen Lebenserinnerungen erwähnt.47
39 Allgemein zum Inkognito-Reisen hier nur NORBERT CONRADS, Das Incognito. Standesreisen ohne Konventionen, in: BABEL/PARAVICINI (Hg.), Grand Tour (wie Anm. 7) S. 591-607; und LOTTE VAN DE POL, From Doorstep to Table. Negotiating Space in Ceremonies at the Dutch Court of the Second Half of the 18th Century, in: BÄHR/BURSCHEL/JANCKE (Hg.), Räume des Selbst (wie Anm. 6) S. 76-94, hier 85 f. 40 Eine auf den ersten Blick paradox anmutende Beobachtung, die meiner Ansicht nach vor dem Hintergrund der frühneuzeitlichen (höfischen) „dissimulatio“-Diskurse zu untersuchen wäre. Vgl. in diesem Zusammenhang ULRICH SCHULZ-BUSCHHAUS, Über die Verstellung und die ersten „Primores“ des Héroe von Gracián, in: Romanische Forschungen. Vierteljahrsschrift für romanische Sprachen und Literaturen 91. 1979 S. 411-430; KLAUS CONERMANN, Der Stil des Hofmanns. Zur Genese sprachlicher und literarischer Formen aus der höfisch-politischen Verhaltenskunst, in: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert, Bd. 1: Vorträge. Hg. AUGUST BUCK. Hamburg 1981 S. 45-56; PEREZ ZAGORIN (Hg.), Ways of Lying: Dissimulation, Persecution, and Conformity in Early Modern Europe. Cambridge, Mass. usw. 1990; URSULA GEITNER, Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992; CLAUDIA BENTHIEN/STEFFEN MARTUS (Hg.), Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Tübingen 2006; SNYDER, Dissimulation (wie Anm. 3). 41 SOPHIE DE HANOVRE, Mémoires (wie Anm. 5) S. 99. 42 Ebd. S. 100. 43 Zum Verhältnis Ernst Augusts zu Maria Colonna vor allem ebd. S. 102: „Il trouva bon que je devais partir la première, parce qu’il avait fait un parti avec Mme Colonne pour aller avec elle à la campagne.” 44 Ebd. S. 99 f. 45 Ebd. S. 99. 46 MARIE MANCINI, Les Mémoires de M[adame] L[a] P[rincesse] M[arie] M[ancini] Colonne G. Connétable du Royaume de Naples. Cologne: Pierre Marteau 1676 (weitere Ausgaben 1677 und
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In welchem Ausmaß das Inkognito als Raum-Spiel dazu dienen konnte, in Erfahrung zu bringen, ob und inwieweit die eigene zeremonielle „Selbstverortung“ akzeptiert wurde, lässt der ausführliche Bericht Sophies über ihre Reise an den französischen Hof im Jahre 1679 erkennen, was nicht zuletzt daran liegt, dass Sophie in dem bereits erwähnten Herzog von Orléans einen ebenbürtigen Mitspieler gehabt zu haben scheint. Um nur eine Variante dieses Raum-Spiels zu nennen: Obwohl Sophie keinen Zweifel daran lässt, dass der Herzog um ihr Inkognito wusste, beschreibt sie mehrfach, wie er ihr zum Teil erhebliche zeremonielle Raumgewinne verschafft – darunter einige durchaus problematische Vortritte bzw. Vorspanne –, um anschließend auf ihren Hinweis, sie sei doch inkognito, erleichtert zu antworten, dass man die Angelegenheit dann ja wohl einigermaßen gelassen betrachten könne.48 So amüsant sich solche Episoden lesen, sie alle zeugen von einer Raum-Ordnung, die immer „das Ganze“ sichtbar macht49 und die damit auch die Grenzen eines Spiels markiert, fast möchte man sagen: eines „deep play“, ohne das frühneuzeitliche höfische Selbstthematisierung nicht auszukommen scheint – so wenig das bislang auch untersucht wurde. 50 Eines jedenfalls steht fest: Der Herzog kannte diese Grenzen. Als Sophie Fontainebleau besuchte, so berichtet sie wenig amüsiert, habe er sie in ihr Zimmer geführt, sich entschuldigt, dass es nicht schöner sei, und hinzugefügt, Madame de Montespan, die Mätresse des Königs, habe ohne Zweifel das schönere; dieses aber entspreche ihrem, Sophies Inkognito: „que Mme de Montespan avait le meilleur appartement, mais que celui-ci s’accordait à mon incognito.“51 Obwohl es Sophie von Hannover während ihres Aufenthalts am französischen Hof nicht gelungen war, eine Ehe ihrer einzigen Tochter Sophie Charlotte mit dem Dauphin anzubahnen, die sie nebenbei bemerkt mit Blick auf den einschlägigen europäischen Heiratsmarkt konfessionell indifferent erzogen hatte 52 , betont sie in ihren Memoiren immer wieder, wie freundlich man sie in Frankreich zeremoniell taxiere.53 Trost habe, so heißt es am Ende der Reise, vor allem ihre Nichte nötig, die das Mädchen gern als Dauphine gesehen hätte. Keine Frage, auch Sophie von Hannover kannte die Grenzen des Spiels.54
47 48 49 50 51 52 53 54
1678). Vgl. auch die jüngste Übersetzung ins Englische: HORTENSE MANCINI/MARIE MANCINI, Memoirs. Hg. SARAH NELSON. Chicago 2008. SOPHIE DE HANOVRE, Mémoires (wie Anm. 5) S. 35. Ebd. S. 141-144. In diesem Sinne auch WELLER, Andere Länder, andere Riten? (wie Anm. 29) S. 46. Der Begriff „deep play“ (vorsichtig) nach CLIFFORD GEERTZ, Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight, in: Daedalus 101. 1972 S. 1-37. SOPHIE DE HANOVRE, Mémoires (wie Anm. 5) S. 144 f. Zusammenfassend: VAN DEN HEUVEL, Sophie von der Pfalz (wie Anm. 4) S. 83-85; vgl. auch KNOOP, Kurfürstin Sophie von Hannover (wie Anm. 4) S. 113. Vor allem: SOPHIE DE HANOVRE, Mémoires (wie Anm. 5) S. 142, 149. Ebd. S. 161-163.
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„connaître le terrain“ Wenn wir Sophie von Hannover in ihren Memoiren durchgängig dabei beobachten können, wie sie sich und andere immer wieder zeremoniell vermisst und damit eben auch zeremoniell taxiert, dann ist eines nicht zu vergessen: Die Räume, die sie in diesen Prozessen der Selbstthematisierung entfaltet, sind jenseits des „großen“ Machttheaters immer auch Räume, die dazu dienen, das „kleine“ höfische Leben zu bewältigen, ja, zu ertragen. So beschreibt sie zum Beispiel minutiös, wie sie in den ersten Ehejahren die Annäherungen ihres herzoglichen Schwagers Georg Wilhelm, der sie ursprünglich hatte heiraten wollen, dann aber seinem Bruder Ernst August überließ55, abzuwehren versuchte, indem sie alle höfisch sanktionierten Mittel zeremonieller Distanzierung nachdrücklich geltend gemacht habe: von immer neuen Arrangements räumlicher Separierung bis hin zu wohlvermessenen Einschränkungen des Blickkontakts. 56 Nur konsequent, dass Sophie die fortwährenden Avancen ihres Schwagers ebenfalls räumlich zum Ausdruck bringt. So begründet sie ihre Maßnahmen ihm gegenüber einmal damit, dass er nicht in seinen Schranken – „dans les bornes“ – geblieben sei57, um ein anderes Mal nach Empfang eines kompromittierenden Briefes festzuhalten: „il devait connaître le terrain“.58 Gleichzeitig fällt auf, dass sie darüber hinaus auch alle Abweichungen vom zeremoniellen Code im engeren Sinne sorgfältig (und zumeist ablehnend) registriert, wobei sie grundsätzlich auf Distanz setzt. Die Liebesbezeugungen, die ihr kurfürstlicher Bruder seiner Frau auch in zeremoniellen Situationen nicht verweigert habe: „C’étaient des embrassades continuelles“59, sind ihr so zuwider, dass sie ihm eindringlich rät, die Kurfürstin nicht mit auf den bereits erwähnten Reichstag von Regensburg zu nehmen, wo einfach zu viele Menschen zu erwarten seien: „Je voyais la jalousie de M. l’électeur d’un côté, et les manières affectées et façonnières de Mme l’électrice de l’autre, ce qui ne pouvait causer que des méchants effets dans un lieu où il y aurait tant de monde.“60 Auf der anderen Seite kommentiert sie selbst umständliche (und etwas altmodische) zeremonielle Praktiken wohlwollend, wenn sie nur auf einer räumlichen Strenge beruhen, die wenig Platz für die verwirrenden Formen performativer Emotionalität bietet. So etwa die hessische „cérémonie“, verheiratete und unverheiratete Prinzessinnen niemals gemeinsam in einer Kutsche fahren zu lassen, eine „cérémonie“, die Sophie einen Platz allein neben der Landgräfin und deren Schwiegertochter bescherte; oder die ebenfalls hessische „mode“, die Hofdamen beim Betrachten eines Feuerwerks von ihrer Herrin zu
55 Ebd. S. 59-72. (Die Hochzeit fand am 30. Oktober 1658 statt.) – Zusammenfassend zu diesem sogenannten „Brauttausch“ mit weiterführender Literatur: MICHAEL SIKORA, Eléonore d’Olbreuse. Die Herzogin auf Raten, in: Mächtig verlockend. Frauen der Welfen. Eléonore d’Olbreuse, Herzogin von Braunschweig-Lüneburg (1639-1722) – Sophie Dorothea, Kurprinzessin von Hannover (1666-1726). Hg. Bomann-Museum Celle. Celle 2010 S. 17-43, hier 19-23. Vgl. dazu auch die einschlägigen Passagen in: SOPHIE RUPPEL, Verbündete Rivalen. Geschwisterbeziehungen im Hochadel des 17. Jahrhunderts. Köln usw. 2006. 56 SOPHIE DE HANOVRE, Mémoires (wie Anm. 5) S. 78-86. 57 Ebd. S. 64. 58 Ebd. S. 85. 59 Ebd. S. 56. 60 Ebd. S. 59.
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trennen. 61 Sophies Fazit: „Je partais le troisième jour de cette cour avec les mêmes cérémonies que j’y étais venue, fort contente de tous les honneurs que j’y avais reçus.“62 All das aber bedeutet auch, dass wir immer wieder beobachten können, wie schwer es Sophie von Hannover fällt, andere, insbesondere sakrale Zeichensysteme symbolischer Kommunikation – und keineswegs nur solche katholischer Provenienz – in ihre Räume des Selbst zu überführen, ohne dass Spott an die Stelle wohlkalkulierter zeremonieller Vermessung tritt.63 Oder wie weit sie davon entfernt ist, ihre Räume des Selbst so offen zu gestalten, dass Distanzierungsroutinen räumlich dynamisiert werden können – etwa dann, wenn es um die Vergrößerung dynastischer Handlungsspielräume geht. So ist es zum Beispiel bezeichnend, dass sie ihren langjährigen Konflikt mit der nicht ganz standesgemäßen Eléonore d’Olbreuse, die ihr Schwager Georg Wilhelm 1676 gegen alle Versprechungen geheiratet hatte64 und die wir ebenfalls den erwähnten „dames romanesques“ zurechnen dürfen65, ganz wesentlich als einen Konflikt in Szene setzt, der jenseits aller erbrechtlichen Vereinbarungen zeremoniell nicht eingeholt werden konnte.66 Die neue Herzogin, „cette nouvelle duchesse“, so schreibt sie, habe Grenzen, „bornes“, überschritten, die sie nicht hätte überschreiten dürfen67, so sehr ihr Schwager auch beteuere, seine Frau nicht „en duchesse“ zu behandeln.68
61 Ebd. S. 75. 62 Ebd. S. 76. 63 Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: ebd. S. 52 f. (Besuch bei Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg: „l’aimait à faire des conversions“ ); S. 84 f. (Einzug Ernst Augusts als protestantischer Fürstbischof ins Hochstift Osnabrück: „On trouva que je serais hors d’œuvre à cette cérémonie ecclésiastique“); S. 95 (Besuch der Santa Casa in Loreto: „On s’arrêta un jour en ce lieu-là pour bien considérer le miracle qui était effectivement bien grand, de voir des gens assez sots pour venir de si loin pour adorer une si vilaine figure de la Vierge qui avait le nez cassé, pour y chercher leur salut“); S. 106 (Besuch Bolognas: „Sa conversation me donna bien plus de plaisir qu’à voir la momie de sainte Catherine qu’on me montra pour un miracle“). Aufschlussreich zur Einordnung dieses Befundes: KASPAR VON GREYERZ, Religiöse Erfahrungsräume im Reformiertentum, in: „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte. Hg. PAUL MÜNCH. München 2001 S. 307-316 – sowie vor allem: NOLDE, Andächtiges Staunen (wie Anm. 7) S. 19, 29-33. 64 SIKORA, Eléonore d’Olbreuse (wie Anm. 55) S. 23-40. 65 Die fiktionalisierte Lebensgeschichte Eléonores erschien 1679 anonym sowohl auf Französisch („Avanture Historique“) als auch auf Deutsch („Sonderbahre Geschichte unserer Zeit“), geht aber aller Wahrscheinlichkeit nach auf ihren Auftrag zurück: ADOLF KÖCHER, Denkwürdigkeiten der zellischen Herzogin Eleonore, geb. d’Olbreuse, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen 6. 1878 S. 25-41, hier 37 f. Vgl. darüber hinaus DOROTHEA NOLDE, Eléonore Desmier d’Olbreuse (1639-1722) am Celler Hof als diplomatische, religiöse und kulturelle Mittlerin, in: Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure und Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit. Hg. DIES./CLAUDIA OPITZ. Köln 2008 S. 107-118; DIES., Une histoire peut en cacher une autre: mémoires de femmes et historiographie au XVIIe siècle. Sophie de Hanovre (1630-1714) et Éléonore d’Olbreuse (1639-1722), in: Les Femmes et l’écriture de l’histoire, 1400-1800. Hg. JEAN-CLAUDE ARNOULD/SYLVIE STEINBERG. Rouen 2008 S. 143-153. 66 SOPHIE DE HANOVRE, Mémoires (wie Anm. 5) S. 109-136. 67 Ebd. S. 114. 68 Ebd. S. 133.
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„liberté“ Sophie von Hannover sagt es selbst: Freiheit – „liberté“ – gewährt dieses zeremoniell vermessene Leben nicht.69 Was aber meint sie, wenn sie von Freiheit spricht? Auch daran lässt sie keinen Zweifel: Freiheit ist das, was bleibt, wenn „die Welt“, wenn „le monde“, wenn „tout le monde“ zu schweigen beginne und eine große Stille, „une grande tranquillité“, mehr noch, „la plus grande tranquillité du monde“ Einzug halte.70 Die Welt aber, die nicht sehr wohlwollend sei: „le monde n’est pas fort charitable“71, ist die Instanz – wir würden heute wohl von höfischer Öffentlichkeit sprechen –, die zeremonielle Berechenbarkeit sicherstellt und auf diese Weise die Gewissheit umfassender räumlicher Einheit gewährleistet.72 In anderen Worten, Sophie von Hannover weiß sehr genau, dass Freiheit, dass Stille nur jenseits der Räume zu haben ist, die sie in ihren Memoiren entfaltet, und sie scheint zu ahnen, dass in diesen Räumen nur derjenige zumindest zeitweilig „dans un état bien plus heureux au-dessus de tout cela“73 sein kann, der ohne Macht ist. Der Bruder des französischen Königs jedenfalls habe inmitten der Zeremonien anlässlich der Heirat seiner Tochter so glücklich gewirkt, „qu’il le peut être“, weil er sich der Tatsache bewusst war, „sans pouvoir“ zu sein.74 Und es ist gewiss kein Zufall, dass die wenigen glücklichen oder vorsichtiger vielleicht: geglückten Momente in Sophies erinnertem Leben, Momente „au-dessus de tout cela“, solche Momente sind, in denen die Fürstin maskiert war – oder in denen es ihre Gegenüber vorzogen, unerkannt zu bleiben, um auf diese Weise soziale Spiel-Räume jenseits „der Welt“ zu schaffen.75 So ist es bezeichnenderweise ein Maskenball in Vicenza, der diese Spiel-Räume soweit ausdehnt, dass Sophie am Ende geradezu begeistert von dem „bonheur“ der „dames“ sprechen kann, durch wenig zu gefallen, „de plaire par fort peu de chose“, habe sie doch das Vergnügen gehabt, sich mit allen Sternen verglichen zu sehen: „j’avais le plaisir de me voir comparée à tous les astres“.76
69 70 71 72
73 74 75
76
Exemplarisch: ebd. S. 77. Ebd. S. 59, 80 f., 84, 117. Ebd. S. 117. Vgl. dazu auch BURSCHEL, „sachen, da ich kein journal von machen werde“ (wie Anm. 1); sowie: PETER MICHELSEN, Ein Genie des Klatsches. Der deutsche Briefstil der Herzogin Elisabeth-Charlotte von Orléans, in: Pathos, Klatsch und Ehrlichkeit. Liselotte von der Pfalz am Hofe des Sonnenkönigs. Hg. KLAUS J. MATTHEIER/PAUL VALENTIN. Tübingen 1990 S. 151-174; VOLKER KAPP, Pathos der Ehrlichkeit und Kunst des Schreibens in den Briefen der Liselotte von der Pfalz, in: ebd. S. 175-199; MICHEL LEFEVRE, Die Sprache der Liselotte von der Pfalz. Eine sprachliche Untersuchung der deutschen Briefe (1676-1714) der Herzogin von Orleans an ihre Tante, die Kurfürstin Sophie von Hannover. Stuttgart 1996; JÖRG BERGMANN, Geheimhaltung und Verrat in der Klatschkommunikation, in: Geheimnis und Geheimhaltung. Erscheinungsformen – Funktionen – Konsequenzen. Hg. ALBERT SPITZNAGEL. Göttingen usw. 1998 S. 139-148. SOPHIE DE HANOVRE, Mémoires (wie Anm. 5) S. 147. Ebd. S. 148. Vgl. dazu auch CLAUDIA SCHNITZER, Das verkleidete Geschlecht. Höfische Maskeraden der Frühen Neuzeit, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 8/2. 1997 S. 232-241; sowie DIES., Höfische Maskeraden. Funktion und Ausstattung von Verkleidungsdivertissements an deutschen Höfen der Frühen Neuzeit. Tübingen 1999. SOPHIE DE HANOVRE, Mémoires (wie Anm. 5) S. 89.
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Obwohl es nicht eben leicht fällt, solche Einsichten adäquat zu gewichten, führen sie uns doch eine zeremonielle und damit eben auch räumliche Sensibilität vor Augen, die allem Anschein nach – nicht zuletzt aufgrund ihrer selbstreflexiven Seiten – auch im europäischen Vergleich ihresgleichen sucht.77 Wie auch immer man diese Sensibilität erklärt – die langen Exilerfahrungen der späteren Kurfürstin scheinen sich dafür ebenso anzubieten wie die vorsichtig formuliert komplexe und wenig berechenbare dynastische Situation in den Welfenlanden –, soviel hoffe ich gezeigt zu haben: Wer versucht, die Memoiren der Sophie von Hannover räumlich zu entziffern, hat es mit handlungsleitenden Erfahrungs- und Bedeutungsräumen zu tun, die unseren Blick dafür schärfen, wie Menschen die Ordnungen ihres Lebens in Selbstbeschreibungen räumlich entwarfen, räumlich reproduzierten und nicht zuletzt auch räumlich überwanden – und dabei keinen Zweifel daran lassen, dass die Frage nach der Bedeutung des Raumes im und für das Schreiben über das eigene Leben eine Frage nach immer neuen Selbst-Markierungen ist. Das aber heißt auch: Die Räume des Selbst, die hier eröffnet werden, lenken den Blick auf Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen, auf Grenzverletzungen, Grenzverlagerungen und Grenzaufhebungen, ohne dass all diese Prozesse auch nur annähernd mit dichotomischen Konzepten zu erfassen sind.78 Gewiss, die Räume, die wir in den Memoiren rekonstruieren können, sind immer auch „Macht-Räume“, sind immer auch „Geschlechter-Räume“.79 Die Art und Weise aber, wie sie „gelebt“, wie sie „erlebt“ und wie sie nicht zuletzt auch „erinnert“ werden, macht Zwischentöne hörbar oder besser vielleicht: Zwischenräume sichtbar, die wir uns nicht entgehen lassen sollten. Zwischenräume, die in aller Deutlichkeit vor Augen führen, welche Chancen eine Raumforschung, die nicht mehr Kulturraumforschung, sondern Raumkulturforschung sein will80, auch für die Untersuchung von Selbstzeugnissen eröffnet.
77 Eine Einschätzung, die nicht zuletzt auf Gespräche mit Andreas Bähr, Gabriele Jancke, Hans Medick, Lotte van de Pol und Claudia Ulbrich zurückgeht. 78 In diesem Sinne bereits BÄHR/BURSCHEL/JANCKE, Räume des Selbst (wie Anm. 6). 79 Zu diesen Begriffen hier nur: CHRISTIAN HOCHMUTH/SUSANNE RAU (Hg.), Machträume der frühneuzeitlichen Stadt. Konstanz 2006; MARGARETE HUBRATH (Hg.), Geschlechter-Räume. Konstruktionen von „gender“ in Geschichte, Literatur und Alltag. Köln usw. 2001. 80 ROLSHOVEN, Von der Kulturraum- zur Raumkulturforschung (wie Anm. 9).
BARBARA KELLNER-HEINKELE
Die große Geschichte in der kleinen Geschichte Ein Kommentar aus osmanistischer Perspektive
Alle vier Beiträge dieser Sektion entfalten anhand ganz unterschiedlich gestalteter Selbstzeugnis-Texte überraschende Überlegungen zum Komplex der Differenzmarkierung. Drei der Beiträge beziehen das Anregungspotential ihrer Argumentation zu einem wesentlichen Teil aus dem historischen Kontext des Osmanischen Reiches in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts. Daher wird hier zunächst knapp auf diese Geschichte eingegangen. Das 17. Jahrhundert wird von der osmanistischen Forschung in jüngerer Zeit nicht mehr ausschließlich oder vornehmlich unter dem Gesichtspunkt des Niedergangs des Osmanischen Reiches betrachtet. Stattdessen werden die Aspekte einer Dezentralisierung der Macht und der Herausbildung neuer Gesellschaftsschichten in den Blick genommen. Die Dichotomie Sultan-Untertanen, die das 16. Jahrhundert bestimmte, machte einer Diversifizierung der Machtzentren Platz, die sich sowohl in der Hauptstadt als auch auf Provinz- und Lokalebene etablierten.1 Diese Entwicklung wurde von der Fraktionierung der Macht im Sultanshaushalt begünstigt, die ab dem frühen 17. Jahrhundert zu beobachten ist. Der zunehmende politische Einfluss von Frauen im Palast, der seinen Höhepunkt im sog. Zeitalter der Sultansmütter um die Mitte des 17. Jahrhunderts fand2, erregte schon zu seiner Zeit die Aufmerksamkeit der osmanischen Geschichtsschreiber und der ausländischen Beobachter. In der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts beschleunigten zunächst die Erfolge der Großwesire aus der Familie Köprülü im Reichsinneren wie in der Außenpolitik die Konzentration der Macht außerhalb des großherrlichen Palastes. Der Lange Krieg von 1683 bis 1699 gegen Habsburg zeigte das Ende der militärischen Überlegenheit des Osmanischen Reiches gegenüber den konkurrierenden Territorialmächten Habsburg, Polen und Russland. Mit dem gescheiterten Versuch, Wien einzunehmen (1683) und dem ersten größeren Verlust osmanischer Territorien, wie er im Frieden von Karlowitz (1699) festgeschrieben wurde3, begann in Europa das Bild vom übermächtigen Osmanischen Reich langsam an Schrecken zu verlieren. Dieser Wandel der politischen Verhältnisse wird auch individuell und facettenreich in den Selbstzeugnissen sichtbar, die in unterschiedlicher Weise den Beiträgen in diesem Abschnitt zugrunde liegen.
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Vgl. CARTER VAUGHN FINDLEY, The Turks in World History. Oxford 2005 S. 118-121. LESLIE P. PEIRCE, The Imperial Harem. Women and Sovereignty in the Ottoman Empire. New York/Oxford 1993 S. 91-112. KLAUS KREISER/CHRISTOPH K. NEUMANN, Kleine Geschichte der Türkei. Stuttgart 2003, S. 188-189, 197-217; CAROLINE FINKEL, Osman’s Dream. The Story of the Ottoman Empire 13001923. New York S. 196-328.
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Barbara Kellner-Heinkele
Nur ein Jahrzehnt vor der monumentalen politischen Wende im Krieg gegen Habsburg und nur wenige Jahre nach dem Ende des mit einigem Erfolg geführten Krieges mit Venedig (1645-1670) und nach den Gebietserwerbungen in Polen (1672) wusste man im osmanischen Reichszentrum noch prächtige Feste zu feiern. Diese waren Teil des osmanischen Herrschaftszeremoniells. Das Fest der Prinzenbeschneidung von 1675 in der Sultansresidenz Edirne war allerdings ein außergewöhnliches Ereignis, das in osmanischen wie europäischen Berichten als solches seinen Widerhall fand. Wenn sekundäres Botschaftspersonal wie der Engländer John Covel und der Franzose Edouard de la Croix gewissermaßen inkognito daran teilnahmen, wie Christine Vogel erläutert, so kann man annehmen, dass sie wie ihre Vorgesetzten, die Botschafter Englands und Frankreichs, die prunkvollen Festlichkeiten unter dem Eindruck der noch ungeschmälert erscheinenden politischen Macht des Osmanischen Reiches wahrnahmen, auch wenn sie, wie Christine Vogel schreibt, primär und subjektiv für ihre soziale Gruppe schrieben. Die Bewunderung, die La Croix dem während des oft burlesken Festes ungebrochenen religiösen Ernst der Osmanen entgegenbrachte, erinnert an ein im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts verbreitetes Osmanenbild: die militärische Überlegenheit der Osmanen wurde nicht zuletzt deren religiösem Eifer zugeschrieben. Bei Clovels Festbericht kommt dagegen eine eher distanzierte Wertung des religiös Anderen zum Ausdruck. Da für den Engländer keine Ängste und Emotionen bestanden, die sich aus über Jahrhunderte geführten Kriegen speisten und auch keine unmittelbar politischen Interessen seines eigenen Königs berührt waren, konnte er sich gegenüber seiner protestantischen Leserschaft ganz seinen idiosynkratischen Gefühlen einer europäisch-christlichen Überlegenheit über die muslimischen Orientalen hingeben. Botschafter Nointel hingegen zielt in seiner Gegenüberstellung von „trügerischer“ osmanischer Herrschaftsinszenierung und „wahrhaftiger“ Majestät des französischen Königs karrierebewusst auf höfische Schmeichelei. Diese drei europäischen Berichts-Miniaturen von osmanischer Prachtentfaltung lassen darüber hinaus auch durchaus erkennen, dass es nicht nur darum ging, die jeweilige Leserschaft mit selbsterlebten exotischen Geschichten zu beeindrucken, sondern diese unerhörte Szenerie auch durch geschickte Vergleiche der europäischen Lebenswelt anzunähern, um so persönlich zu reüssieren. Der als Tagebuch einherkommende Bericht des Zisterzienser-Präfekten Balthasar Kleinschroth aus dem Jahr 1686, den Andreas Bähr analysiert, wiederum erzählt von der Flucht und Furcht vor Türken und Tataren aus eigener und fremder Erfahrung während der habsburgisch-osmanischen Kriegshandlungen seit 1683. Zu diesem Zeitpunkt konnte das Osmanische Reich für Kleinschroth nichts anderes als der übermächtige Feind Habsburgs sein, der schon seit mehr als 200 Jahren Leib, Gut und Seelenheil der Christenmenschen bedrohte; die weltgeschichtliche Wende nach der 2. Belagerung Wiens brachte allerdings noch für lange Jahre keine Erleichterung für den Alltag der Bevölkerung. Auffallend ist in diesem Zusammenhang der Gegensatz, den Kleinschroth zwischen Türken und Tataren zeichnet und der kaum kleiner erscheint als der zwischen Türken und Habsburger Untertanen. Disziplinierten türkischen Soldaten weist er religiösen Ernst und daher bei allem Barbarentum ein gewisses Maß an Menschlichkeit zu, während er die animalische Wildheit der Tataren mit dem Fehlen jeglicher religiöser Praxis begründet. Tatsächlich spiegelt sich in dem von Kleinschroth geltend gemachten Ge-
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gensatz auch die kulturelle Distanz und gegenseitige Abneigung, die Osmanen und Krimtataren füreinander hegten, seitdem der Krimkhan im frühen 16. Jahrhundert faktisch zum osmanischen Vasallen geworden war und damit an osmanischen Kriegen teilzunehmen hatte. Osmanische Truppen waren in städtischem oder dörflichem Milieu ausgebildet, an Disziplin gewöhnt und besoldet, während die krimtatarischen Hilfstruppen und Späher vorwiegend tribal organisiert waren und sich aus den Beute-Einnahmen finanzierten. Das geringe religiöse Wissen und der nonchalante Umgang mit religiöser Praxis unter muslimischen Steppenbewohnern ist ein alter Topos der islamischen Geschichtsschreibung, der seine Entsprechung zu einem gewissen Maße in der Dichotomie christlicher Glaubenspraxis in der Stadt und auf dem Land findet. Vom Wege abirrende Glaubensbrüder werden oft schärfer beurteilt als Angehörige konkurrierender Religionen. Wenn es um Tataren ging, dürften türkische und christliche Menschen öfters größere Affinitäten empfunden haben. Kleinschroth hat während seiner Flucht nie persönlich Türken oder Tataren zu sehen bekommen, doch wie tief deren Schreckensbild in ihm steckte, zeigt sich in seiner völlig unhinterfragten Übernahme von Erlebnissen anderer. Auch dass er sogar zu erzählen weiß, wie sehr sich die Tataren vor Blitz und Donner fürchten – eine Information, die sich seit der Mongolenzeit (13. Jahrhundert) in Europa verbreitete – zeigt, dass gewisse Bilder von den Barbaren aus dem Osten ihm wohl bekannt waren. 4 So könnte der Topos von den bestialischen Tataren in Kleinschroths Text durchaus den Superlativ aller leiblichen und seelischen Qualen markieren, denen sich der Zisterzienser ausgesetzt sah. Er mag diesen Topos aber auch durchaus bewusst eingesetzt haben, um sein eigenes Fehlverhalten zu beschönigen, wenn er beklagt, dass der ihm anvertraute Chorknabe Anton sich aus Türkenfurcht das Fleckfieber zugezogen habe. Die Gesandtschaftsreise des Zülfikar Efendi nach Wien (Juli 1688-Sommer 1692), mit der sich Abdullah Güllüoğlu befasst, fällt in die Zeit latenter Kriegsbereitschaft im Langen Krieg gegen Habsburg. Voraufgegangen war die osmanische Niederlage vor Wien (1683), die auch als eine Demonstration osmanischer Stärke gewertet werden kann, denn wie knapp entging Wien damals der Eroberung durch die osmanische Armee! Nach dem unrühmlichen Rückzug der Sultanstruppen war die Provinz Ungarn verloren gegangen, nachdem habsburgische Truppen Buda eingenommen hatten (1686); Sultan Mehmed IV. (1648-1687) war daraufhin abgesetzt worden und Süleyman II. hatte den Thron bestiegen. Wenn Zülfikar Efendi dieses Ereignis nun offiziell dem Wiener Hof mitzuteilen hatte und zugleich Friedensfühler ausstrecken sollte, führte ihn die letzte große Etappe seines Reiseweges durch eine Landschaft, die noch wenige Jahre zuvor osmanisches Reichsgebiet gewesen war und noch alle Zeichen einer rund 150 Jahre währenden muslimischen Herrschaft trug. Die Hoffnung der osmanischen Seite auf einen baldigen Kompromissfrieden zerschlug sich schnell angesichts der von den Alliierten Habsburg, Polen und Venedig gestellten Friedensbedingungen. Die Enttäuschung über die eigene Erfolglosigkeit und die Empörung über die arrogante Behandlung in Wien prägen Zülfikar Efendis gesamten Gesandtschaftsbericht und färben den Ton, in dem er die 4
Siehe Mission to Asia. Narratives and Letters of the Franciscan Missionaries in Mongolia and China in the Thirteenth and Fourteenth Centuries. Edited with an Introduction by CHRISTOPHER DAWSON. New York 1966 S. 17.
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Barbara Kellner-Heinkele
Ausnahmesituation in der Fremde beschreibt. Waren Osmanen bis dahin schlicht gewohnt, angrenzende Reiche als militärisch und religiös unterlegen und daher als gerechtes Kriegsziel zu betrachten, so zeigt sich in Zülfikar Efendis Gesandtschaftsbericht eine neue Einsicht: persönliche Machtlosigkeit und auf der Gegenseite die Geringschätzung seines Landes, das er selbst zuvor nur als politisch dominant wahrzunehmen gewohnt war. Die Bitterkeit des Gesandten äußert sich ganz konkret in der drastischen Weise, in der er alltägliche Vorkommnisse der Reise und des Aufenthaltes in Wien beschreibt, wie z.B. wenn er den österreichischen Hauptmann, der zur Bewachung der Gesandtschaft abgeordnet war, als hässlichen Dämon charakterisiert oder das Wachpersonal als schmutzig und moralisch verdorben bezeichnet. Zülfikar Efendi dürfte im Übrigen gewusst haben, dass europäische Botschafter in Istanbul regelmäßig in Isolation und Handlungsunfähigkeit, ja Gefangenschaft gehalten worden und vielerlei Misshandlungen ausgesetzt waren. Doch das politische Blatt hatte sich gewendet, und Zülfikar Efendi versuchte, seine daraus resultierenden persönlichen Erfahrungen im Dar al-harb (Land des Krieges/Unglaubens) der osmanischen Führung in drastischster Weise vor Augen zu führen, nicht zuletzt, um seine eigenen Leistungen ins rechte Licht zu rücken. Die Beiträge zeigen in beeindruckender Weise, wie die Schreiber sich selbst positionierten, indem sie die eigene Kultur mit der anderen, fremden kontrastierten. Den Gegenpart definierten sie häufig über die Hierarchisierung von Räumen, in denen sie selbst sich bewegen konnten oder mussten oder von denen sie ausgeschlossen blieben. Andere differenzierende Elemente, die die Schreiber häufig einsetzten, sind die Dämonisierung des Fremden und Anderen (Andreas Bähr, Abdullah Güllüoğlu) sowie Vorwürfe der Grobheit, Unzivilisiertheit, moralischen Verkommenheit und Gottlosigkeit. Situationsbedingt, und keineswegs immer clichéhaft, zeichnen die Schreiber ihren eigenen Wertekanon in diese Selbst- und Fremdbilder ein. Kulturelle Gegensätze können dabei unausgesprochen absolut gesetzt, wie auch situations- und persönlichkeitsbedingt relativiert werden. Ein wichtiges Ergebnis dieser Aufsätze ist, dass sie die wechselseitigen Bezugnahmen aufdecken und uns, wie Peter Burschel es nennt, in „Zwischenräume“ führen, in denen Differenzen markiert, in denen aber auch Austauschprozesse wahrgenommen werden. Die große und die kleine Geschichte erweisen sich mit all ihren Kontrasten als eng miteinander verflochten. Es zeigt sich, dass sich mit dem Ansatz der weit aufgefächerten Differenzmarkierungen mehr Informationen aus den Selbstzeugnistexten gewinnen lassen als mit dichotomischen Beschreibungsmodellen.
ANGELIKA SCHASER
Einführung: Schreiben und Erinnern
In diesem Kapitel stehen die Schreibtechniken und die narrative Konstitution von Selbstzeugnissen des 19. und 20. Jahrhunderts im Vordergrund, die hier mit der Untersuchung von Formen und Praktiken der Erinnerung in Zusammenhang gebracht werden. Ausgangspunkt für die Beiträge war die Frage, wie sich Schreiben und Erinnern zueinander verhalten. Was erinnern die Autoren und Autorinnen, wie integrieren sie das Erinnerte in ihre Texte und wie gestalten sie diese Erinnerungen? Wie erinnerten sie sich schreibend an Vergangenes? Selbst wenn Autorinnen und Autoren ihren Schreibprozess reflektieren und darüber Auskunft geben: Erinnern und Schreiben stellen Prozesse dar, die in der Phase der Produktion – wie auch der Rezeption – ineinander übergehen. So stellt sich die erste Schwierigkeit bereits dadurch, dass bei der Frage nach Schreiben und Erinnern Schaffensprozesse unterschieden werden sollen, die synchron und teils undokumentiert stattgefunden haben. Das Geschriebene und Veröffentlichte bildet wiederum die Grundlage für das weitere Erinnern der Autoren und Autorinnen und ihrer Leser und Leserinnen. Bei der Untersuchung von Selbstzeugnissen bleiben wir in diesem Punkt weitgehend auf die Hinweise der Autorinnen und Autoren auf ihre Schreibtechniken angewiesen sowie auf unsere Fähigkeit, die Erinnerungen, die in den Texten aufscheinen oder eben nach unserer Kenntnis fehlen, in den uns bekannten historischen Kontext einzuordnen. Das Schreiben von Selbstzeugnissen ist in den in diesem Kapitel untersuchten Fällen netzartig und flexibel geschehen, die veröffentlichten Texte dürften über mehrere Stufen entwickelt worden sein. Eigene systematische Vorarbeiten haben den jeweiligen Schreibprozess ebenso geprägt wie Zufallsfunde, spontane Assoziationen, erzwungene Konzentration auf die eigene Vergangenheit, Kritik und das Verwerfen des Erarbeiteten. Die untersuchten Selbstzeugnisse entstanden jeweils in einem spezifischen kulturellen und sozialen Kontext, in einer bestimmten Schreibsituation. Sie lassen sich in historische, literarische und wissenschaftliche Zusammenhänge einordnen und an anderen – nicht nur autobiographischen Texten – messen. Die Beiträge dieses Kapitels beschäftigen sich mit den Scharnierstellen zwischen individueller Erinnerung, dem Entstehen von gruppenspezifischen Erinnerungen und dem Einschluss bzw. Ausschluss aus der öffentlichen kollektiven Erinnerung. Alle untersuchten Autoren und Autorinnen positionieren sich zu den jeweiligen nationalen Narrativen: zum Gründungsmythos des türkischen Staates und zur Idee des Pan-Turanismus, zu den Entwürfen für die Ausgestaltung des deutschen Nationalstaats und zum Gründungsmythos des heutigen Nachkriegsjapans. Nicht nur der Prozess des Schreibens dieser Selbstzeugnisse ist von aktivem und passivem Erinnern und Vergessen geprägt, sondern auch die „Erschreibung“, die Herstellung von Gruppenerinnerungen, von Erinnerungsgemeinschaften, wie sie hier am Beispiel japanischer
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Angelika Schaser
Kriegsheimkehrer, deutscher Konvertiten und jungtürkischer Revolutionäre vorgestellt werden. Die untersuchten autobiographischen Entwürfe sagen über die Schreibsituation, Gegenwart und die Zukunftsentwürfe der Autorin und Autoren mindestens ebensoviel wie über die beschriebene Vergangenheit aus. Dabei wird deutlich, dass Erinnerung nicht die Reproduktion von Gewesenem, sondern vor allem Stiftung einer Kontinuität zur Gegenwart hin ist. Alle vorgestellten Autoren sowie die eine Autorin wollten auf die Gesellschaften, in denen sie lebten, mit ihren Publikationen Einfluss nehmen. Mit Hilfe literarischer wie nichtliterarischer autobiographischer Texte wurden langlebige Erinnerungsgemeinschaften begründet, die zum Teil in die dominierende Erinnerungskultur Eingang gefunden haben, zum Teil ausgeschlossen wurden oder aber nach einer Phase der Integration nun wieder verdrängt zu werden drohen. Die in diesem Kapitel versammelten Beiträge liefern Beispiele für die Dynamiken des Ein- und Ausschließens und zeigen wie individuelle Erinnerungen über Erinnerungsgemeinschaften in das dominierende kulturelle Gedächtnis eingeschrieben werden können.
HÜLYA ADAK
Beyond the Catastrophic Divide Walking with Halide Edib (the Turkish “Jeanne d’Arc”) through the Ambiguous Terrains of World War I
Antigone has shown us how humanity is constituted by mourning and how the interdiction of mourning is a denial of the human. - David Kazanjian -1
The destruction of the “archive” of documents relating to World War I to conceal the activities of the Special Organization and the Committee of Union and Progress2, renders history, according to Marc Nichanian, “perfectly powerless” as a discipline. 3 As history is robbed of facts, the only “fact” that remains is “archival destruction.” Following Nichanian’s sophisticated argument that the “will to exterminate” entails not only massacring but destroying archives, obliterating memory, and interdicting mourning of the victims, I would like to proffer a different possibility for “(Turkish) history” that challenges the “hierarchization” of the “archive” and provides space for “collective mourning.”4 An often-overlooked discursive space which could provide resources for scholars working on World War I, is what I would like to coin “public archives” of auto/ biographical and fictional narratives. 5 Literature (both auto/biographical and fictional sources) could serve history in two ways: first, crudely as historical evidence (or possibly
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This line is from an exchange between David Kazanjian and Marc Nichanian where Kazanjian quotes Nichanian. DAVID KAZANJIAN/MARC NICHANIAN, Between Genocide and Catastrophe, in: Loss: The Politics of Mourning. Eds. DAVID L. ENG/DAVID KAZANJIAN. Berkeley etc. 2003 pp. 125-147, 129. Taner Akçam points to a variety of sources in the Ottoman archives that document the Armenian massacres. In this respect, documents of the CUP and Special Organization might have been destroyed but others endorse the “factuality” of the massacres. TANER AKÇAM, Osmanlı-Türk belgelerine göre İttihat ve Terakki’nin 1915’te Ermenilere yönelik politikaları [CUP Political Activities Toward the Armenians According to Ottoman-Turkish Documents], in: Tarih ve Toplum [History and Society]: Yeni Yaklaşımlar 5. 2007 pp. 179-220, 179. MARC NICHANIAN, Writers of Disaster: Armenian Literature in the Twentieth Century. Vol. 1. The National Revolution. Princeton etc. 2002 p. 14. By “collective mourning,” I mean the possibility of transcending “national mourning.” My position here also pertains to how we should interpret state archives: If we rely solely on the “archive” for “memory,” we only serve to fetishize the “archive” and dismiss other documents, monuments, rituals, etc. that are produced outside of the “archive” and that influence public opinion and history-writing (sometimes) more profoundly than state archives which are mostly inaccessible to those who are not scholars.
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“fact” or as alternative sources of “memory”), and second, as texts exploring sites of unfulfilled possibility and desire (utopia).6 In Turkey, most memoirs of state or military leaders, journalists, writers, etc. who have written their first-person accounts of the period represented 1915-1916 devoid of “event,”7 and concomitantly described those years as “non-event.” Unionist apologias (such as Talat Paşa’nın Hatıraları [Talat Paşa’s Memoirs] (1921), Cemal Paşa’s Hatırat [Memoirs] (1920)) as well as “transition from empire to nation” autobiographies (Mustafa Kemal’s Nutuk [The Speech] (1927) or Kazım Karabekir’s İstiklal Harbimizin Esasları [The Facts of our Independence Struggle] (1933) and Ermeni Mezalimi: 1917-1920 arasında Erzincan’dan Erivan’a [The Armenian Atrocities: From Erzincan to Erivan between 1917-1920] (2000)) serve not only as “testimonies,” but as “testimonies of the state.” Written by the pens of state and military leaders, these testimonies have a high degree of credibility; for instance, Nutuk carries mythic quality and has influenced most history-writing of the Turkish Republic in the twentieth century8, acting as witness to the “non-event,” or inscribing “historical event” in the form of atrocities committed by the Armenians against the Muslims between 1917 and 1920.9 Hence the “will to annihilate” connotes not only the destruction of the archive of documents of the Special Organization and the CUP regarding World War I, but the willful and prolific production of “testimonies” which testify and act as witness with unchallengeable authority and credibility (in the national context) to the “non-event.” Hence, in the Turkish context, history is robbed of “fact” as it is supplied with “non-event” presented in superabundance as “fact.” A sweeping generalization of such testimonies entails underscoring their conformity to the basic premises10 of the “Republican defensive narrative” which roughly dictates 6
For an exploration of desire and utopia in fiction as a source for “life histories,” see also HÜLYA ADAK, Gender(ing) Biography: Ahmet Mithat (on Fatma Aliye) or the Canonization of an Ottoman Male Writer, in: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. Hg. GABRIELE JANCKE/CLAUDIA ULBRICH. Göttingen 2005 pp. 189-204, 203 f. 7 For an analysis of how Turkish state and military leaders’ auto/biographical narratives and other memoirs of the twentieth century represent the events of 1915-1916, see HÜLYA ADAK, Ötekileştiremediğimiz kendimizin keşfi: 20. yüzyıl otobiyografik anlatıları ve Ermeni tehciri [The Discovery of our Un-otherizable Self: Twentieth Century Auto/biographical Narratives and the Armenian Deportations], in: Tarih ve Toplum: Yeni Yaklaşımlar 5. 2007 pp. 231-253. For a detailed analysis of Talat Paşa’s Memoirs, see HÜLYA ADAK, Identifying the “Internal Tumors” of World War I: Talat Paşa’nın Hatıraları [Talat Paşa’s Memoirs] or the Travels of a Unionist Apologia into History, in: Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell. Eds. ANDREAS BÄHR/PETER BURSCHEL/GABRIELE JANCKE. Köln etc. 2007 pp. 151-169. 8 For an exploration of national myths in Nutuk, see HÜLYA ADAK, National myths and Self-na(rra)tions: Mustafa Kemal’s Nutuk and Halide Edib’s Memoirs and The Turkish Ordeal, in: South Atlantic Quarterly 102/2/3. 2003 pp. 509-528. 9 For an exploration of the narrative strategies used in Nutuk, see also FATMA ÜLGEN, Reading Mustafa Kemal Atatürk on the Armenian Genocide of 1915, in: Patterns of Prejudice 44/4. 2010 pp. 369-391. 10 Please refer to the following section of this article for salient characteristics of the “Republican defensive narrative.” For the analysis of narratives of atrocities in World War I and their legitimizaiton through “patriotism,” see also FATMA MÜGE GÖÇEK, What is the Meaning of the
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that all Ottoman Armenians were “rebels, betrayers, secessionists,” and were “manipulated by ‘our enemies’ into partitioning the Ottoman Empire and establishing an autonomous Armenia,” and hence were “responsible for the massacres that took place in 1915-1916.”11 However, in order to underline nuances between these texts, let us analyze the document/monument distinction in the words of Michel Foucault: “I shall call an archive [...] the series of rules which determine in a culture the appearance and disappearance of statements, their retention and their destruction, their paradoxical existence as events and things. To analyze the facts of discourse in the general element of the archive is to consider them, not at all as documents (of a concealed significance or a rule of construction) but as monuments.”12
Nichanian adds that a document “is always already instrumentalized, it is always for something else: for a possible biography, for revealing thrashed and maimed existences, for restoring a context, for describing a larger set that would encompass the particular events documented in the document” whereas a “monument is only for itself.”13 Hence by questioning the assumption that all or most of these testimonies serve as documents supporting the “Republican defensive narrative,” by analyzing these testimonies as “monuments” will show differences in the way they represent the “Republican defensive narrative” while illustrating the ways they diverge from this narrative. These texts might explicitly refer to or criticize the massacres, deportations, and forced conversions, and create possibilities of mourning the victims of 1915-1916. In this article, I argue that Halide Edib’s autobiography in two volumes, i.e. Memoirs of Halidé Edib14 (1926) and The Turkish Ordeal: Being the further memoirs of Halidé Edib15 (1928) were published in exile after Edib left Turkey with her husband Dr. Adnan Adıvar to live in London (1926-1929) and Paris (1929-1939). The couple went into self-imposed exile after the “irrevocable split” from Mustafa Kemal in 1925. A few causes of the “split” included Kemal’s establishment of a single-party regime, the closing of the opposition party (to which Halide Edib and Dr. Adnan belonged), and the failure of the newly-assembled government to grant women political suffrage which hindered Edib from becoming actively involved in parliamentary politics.16 In 1926, the first volume of the autobiography (Memoirs of Halidé Edib) was published in London and New York, narrating Edib’s childhood years and early adulthood during
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1908 Young Turk Revolution? A Critical Historical Assessment in 2008, in: İstanbul Üniversitesi Siyasal Bilgiler Fakültesi Dergisi 38. 2008 pp. 179-211, 208-211. TALAT PAŞA, Talat Paşa’nın Hatıraları. Ed. HÜSEYIN CAHIT YALÇIN. Istanbul 1946 pp. 51-56. MARC NICHANIAN, Testimony: From Document to Monument, in: The Armenian Genocide. Ed. RICHARD HOVANNISIAN. New Brunswick etc. 2007 pp. 41-62, 44. Quoted from MICHEL FOUCAULT, Essential Works of Foucault. Ed. PAUL RABINOW. New York 1998 p. 310, 333 note. NICHANIAN, Testimony (cf. fn. 12) p. 45. HALIDE EDIB ADIVAR, Memoirs of Halidé Edib. New York 1926. HALIDE EDIB ADIVAR, The Turkish Ordeal: Being the Further Memoirs of Halidé Edib. New York 1928. Further analysis is required to judge to what extent Halide Edib’s gender contributed to her resistance to the CUP during World War I. Such a study could contextualize Edib’s resistance among other Otoman woman intellectuals and activists (i.e. her contemporaries). In the early years of the Republic, the delay in granting political suffrage to women contributed to the reasons for Edib’s exile.
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the Ottoman Empire. The first volume underscored reminescences of the multiethnic, multireligious character of the empire (1886-1910) and the different phases of Turkish nationalism (1912-1918). 17 Narrating the aftermath of World War I, Mütareke Dönemi [The Armistice Period] and the Greco-Turkish War (1919-1922), the second volume, The Turkish Ordeal was written in response to Mustafa Kemal’s Nutuk challenging and complementing the solipsistic narration of the Greco-Turkish war à la Nutuk, i.e., an account portraying Mustafa Kemal as the sole leader of the struggle and the sole founder of the Turkish Republic. Not only the autobiography itself but also Halide Edib’s biography illustrates many moments of resistance despite her proximity to Unionist circles and despite her role as national propagandist and soldier in the immediate aftermath of World War I.
Voicing the “Silences” of the “Republican Defensive Narrative” The “Republican defensive narrative”18 which denies the Armenian massacres of 1915 might have had its origins in the immediate aftermath of World War I. This narrative is disseminated mostly through the apologias and interviews of self-defense that the Unionists published both within Turkey and in the countries to which the Unionists fleed, the Unionists atempted in order to be exculpated from the charges of the War Courts and to gain recognition from the Turkish-Muslim world for the establishment of a pan-Turanistic union. 19 Today, alongside the “postnationalist critical narrative” that Göçek so aptly points out, the “Republican defensive narrative” continues. Below, I would like to list the common attributes of a “narrative” that extends from 1918 to date; and, at the expense of ahistoricizing the narrative, I would like to open up the possibility of pointing out several of its most salient characteristics. According to the “Republican defensive narrative”, the massacring of Armenians (and the Christian population of Asia Minor) is justified through the atrocities committed against the Turkish-Muslim population in Europe during the Balkan Wars, as the events of 1915-1916 are delineated as “retaliation”; equating the massacres of 1912 against the 17 HÜLYA ADAK, An Epic for Peace. Introduction to Memoirs of Halide Edib, by Halide Edib Adıvar. New Jersey 2004 pp. V-XXVII, XIII. 18 Müge Göçek argues that during the twentieth century, three diffierent (Ottoman and later Turkish) narratives were disseminated regarding the events of 1915. In the first phase, between 1915-1918, the “Ottoman investigative narrative” acknowledged the massacres that took place, and asked questions pertaining to “what happened and why.” Not questioning the “facticity” of the massacres or deaths, the Ottoman state published proceedings of the military tribunal that tried some of the perpetrators. In the second phase, the “Republican defensive narrative” entailed denying the Armenian massacres of 1915. In fact, the moral blame of the incidents belonged to anybody but the Otoman Turkish perpetrators. In the period after the 1990s, the “postnationalist critical narrative” incorporated works that were “directly or indirectly critical of the nationalist master narrative but d[id] not focus specifically on the Armenian deaths.” FATMA MÜGE GÖÇEK, Reading Genocide: Turkish Historiography on the Armenian Deportations and Massacres of 1915, in: Middle East Historiographies, Narrating the Twentieth Century. Eds. ISRAEL GERSHONI/AMY SINGER/Y. HAKAN ERDEM. Seattle 2006 pp. 101-127, 110 f. 19 ADAK, Identifying (cf. fn. 7) p. 168.
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Turks-Muslims of the Balkans with those committed against the Christians of Asia Minor in the ensuing few years.20 Following the retaliatory justification is the “myth of mutuality”, i.e. that casualties were the same on both sides, and the process of “number crunching” which mostly manifests itself in the demographic shrinking of the numbers of the Ottoman-Armenian citizens in Asia Minor.21 Further, the “Republican defensive narrative” conceals the pan-Turanic ambitions of Unionist leaders on the eve of World War I. Pan-Turanism as a state policy and a form of “territorial nationalism” entailed the desire to establish an ethno-linguistic empire expanding from Asia Minor to Central Asia. One of the most expansive territorial fantasies of Turan might have been entertained by Enver Paşa who, according to several sources, dreamed of a Turan expanding from Morocco to Korea. 22 The silencing of pan-Turanism as a state policy and as the drive to enter World War I on the side of Germany concealed the fact that the annihilation of Armenians in Asia Minor and the conversion of the survivors (mostly women and children) could have been motivated by such an imperialistic fantasy.23 The “narrative” also forges an antithetical relationship between the “deportations” and “massacres” in an attempt to prove that the deportations were a measure of “defense” against the Armenians rebelling against their own government. Accordingly, the government had peaceful aims and with the intention of protecting its Armenian citizens, punished severely those responsible for murdering Armenian citizens during the deportations.24 This myth prepares the “historical” background to the resistance (continuing to date) to the use of the term “genocide” to delineate 1915-1916 and the choice to use “tehcir/deportations” in its lieu (derobing of course “massacres” or “genocide” from “tehcir” and explicating the deaths of Armenian deportees as the consequence of hunger, starvation, random crimes, disease, etc.) Thus the massacres were “haphazard” or derobed of “intent,” they were not even “massacres,” rather “random crimes.”25 Hence the “will to annihilate” the Ottoman Armenian population in 1915-1916, organized by the Special Organization, backed up by funds of the CUP is obliterated as it becomes a “non-event.” Finally, several factors may have been influential in reinforcing the “Republican narrative of defensiveness:” the Armenian atrocities against Muslims in 1917, the ethnic cleansing of Muslims in the Democratic Republic of Armenia (1918-1920), the Greek massacres of the Muslims in 1919-1922, the threat of the Treaty of Sèvres (1920) through which “Woodrow Wilson promised to grant Armenia certain key cities in Asia Minor, including Van, Erzurum, Bitlis, and Trabzon,” 26 the occupation of Istanbul and Asia 20 Ibid. p. 160. 21 Ibid. p. 167. Quoted from AYŞE GÜL ALTINAY/YEKTAN TÜRKYILMAZ, Unraveling Layers of Silencing: Converted Armenian Survivors of 1915. Paper presented at the workshop “Absent Spheres, Silent Voices: Recovering Untold Histories”, Sabancı University and Tel Aviv University. Istanbul, May 27-31, 2007. 22 ZAREVAND, United and Independent Turania: Aims and Designs of the Turks. Leiden 1971 p. 44. 23 See ADAK, Identifying (cf. fn. 7) p. 159, 163. 24 Ibid. p. 162. 25 Ibid. p. 167. 26 Ibid. p. 152.
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Minor by the Allies (1919-1922), the establishment of War Courts to try the Unionists held responsible for war crimes in the immediate aftermath of World War I27, and the ASALA assassinations of Turkish diplomats in the 1970s and 1980s.
Unsettling the Republican Narrative: The Life History of Halide Edib (1908-1928) “Mme Halide Edib is more than a scholarly Turkish woman: there is something of the Amazon about her. An Italian journalist who recently visited her at Angora waited for her in a room whose walls gleamed with rifles, revolvers, daggers and swords. Suddenly he heard a horse approaching at a gallop and looking through the window, he saw Mme. Halide Edib mounted on a magnificent thoroughbred, her veil streaming behind in the wind. She wore high brown riding boots, and at her waist hung a revolver. […] She then began to talk propaganda.”28
Halide Edib’s life history and work illustrate that analyzing historical persons as biographical protagonists entails more complexity than an alliance with a side in the “perpetrator/victim” divide which only essentializes Turks/Muslims as perpetrators, those close to Unionist circles or even nationalists in opposition to the CUP as criminals/murderers, and dismisses historical complexity and change, the possibility of agency and resistance, and the possibilities of writing against (if not directly acting against) military and para-military violence. As one of the first Muslim graduates of the American College for Girls in Istanbul, Halide Edib profited immensely from the Young Turk Revolution of 1908, becoming a journalist, social activist, and novelist. Embracing Turanism, Edib took part in the literary and cultural clubs known as Türk Yurdu [Türkish Homeland]; and the pan-Turanistic organizations Türk Ocakları [Turkish Hearths] founded in 1911.29 Her literary, political and social work, the success of her novels, particularly Yeni Turan [New Turan] (1913) which proposed a utopia for the Unionists, brought her closer to Unionist leaders. According to a multitude of sources, Halide Edib is undeniably a nationalist siding with the Unionists between 1908-1913, but falling out of favor with Unionist policies with the advent of World War I. Despite her disagreement with Unionist policies, in 1916, she was engaged in educational work in Syria together with Cemal Paşa. In 1922, the portrait provided by an Italian journalist30 of Halide Edib’s room with rifles, revolvers, daggers, and a woman who comes riding on horseback to talk propaganda already sets the depiction of Halide Edib as “soldier” and “propagandist” during
27 For a succinct analysis of the “annihilation anxiety” that is otherwise termed the “Sèvres Syndrome” in Turkey (and its persistence to date), see MURAT PAKER, Egemen Politik Kültürün Dayanılmaz Ağırlığı [The Unbearable Weight of the Dominant Political Culture], in: ID., PsikoPolitik Yüzleşmeler [Psycho-Political Encounters]. Istanbul 2007 pp. 131-152; FATMA MÜGE GÖÇEK, Why is There Still a ‘Sèvres Syndrome’? An Analysis of Turkey’s Uneasy Association with the West. Unpublished paper. 28 Kemal’s Fair Press Agent, in: New York Times. September 6, 1922. 29 ADAK, Epic (cf. fn. 17) p. X. 30 Kemal’s Fair Press Agent (cf. fn. 28).
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the Greco-Turkish War (1919-1922).31 In the immediate aftermath of World War I, she gave public speeches to catalyze local resistance against the Greek occupation and the occupation of Anatolia by the Allies.32 Between 1919-1922, she acted as journalist, writer, editor, and war reporter to the national army under Mustafa Kemal. Her nationalism is delineated as a threat to the Allied Forces in an article in the New York Times published on March 20, 1920: The name of Halide Edib appears next after Mustafa Kemal and Rauf Bey, as Edib is described to be “the most prominent woman leader among the Turkish Nationalists” and “the best-known speaker and organizer in the Nationalist movement.” Her ability to organize and address mass meetings is praised as causing the Turks to be “so inflamed […] against alleged plans for the dismemberment of the country that the allied High Commissioners forbade further meetings.” The British press describes her as “a firebrand and a dangerous agitator.”33 Most national sources agree that in the immediate aftermath of World War I, Edib was vouching for the American mandate and engaged in domestic propaganda to incite active struggle against the occupation of Istanbul and Anatolia. During her three years working together with Mustafa Kemal for the National Army (1920-1922), she acted as journalist and war reporter writing reports, newspaper articles and fiction delineating the atrocities of the Greeks (Greek Army) in Anatolia during the invasion of Western Anatolia. Her short story collections regarding Greek atrocities include Dağa Çıkan Kurt [Wolf on the Mountain] (1922) and İzmir’den Bursa’ya [From Izmir to Bursa] (1922). The latter work was co-written with Yakup Kadri, Falih Rıfkı, and Mehmet Asım. Ateşten Gömlek [The Shirt of Flame] (1922) and Vurun Kahpeye [Thrash the Whore] (1923) are among Edib’s most famous and popular “national romances” dealing with the war, considered “foundational myths” of the Turkish Republic. But even if Edib were, in the words of M. Zekeria, “the soul of the Turkish Nationalist movement,” “an ever-burning volcano, throwing flames of patriotism around her, stirring and stimulating revolt and enthusiasm in her readers and hearers,”34 does this type of “national sentiment” entail direct complicity in the “Catastrophe?” Armenian accounts of the 1920s respond in the affirmative. The Armenian writer Aghavnie Yeghenian, who claims to have known Halide Edib and her sisters from the American College for Girls in Istanbul, draws an “Armenian picture of Remarkable Halide Edib Hanoum”35 in response to a previous article36 which praises Halide Edib’s nationalism, patriotism, etc. coining her the Turkish “Jeanne d’Arc.” According to Yeghenian, “[Edib] saw her chance for fame and power, as every typical Turk instinctively does, with the beginning of the Armenian persecution, and she be31 32 33 34
Ibid. ADAK, Epic (cf. fn. 17) p. XI. Turk Nationalists Organize to Resist, in: New York Times. March 20, 1920. M. ZEKERIA, Turkey’s Fiery ‘Joan of Arc’; Her Double Role as Leader, in: New York Times. November 26, 1922. 35 AGHAVNIE YEGHENIAN, The Turkish Jeanne d’Arc: An Armenian Picture of Remarkable Halide Edib Hanoum, in: New York Times. September 17, 1922. I thank İpek Çalışlar for pointing out this reference. 36 For details of the “idealistic” depiction of Halide Edib published in the same newspaper a week prior to Yeghenian’s article, see The Turkish Jeanne d’Arc, in: New York Times. September 10, 1922.
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gan her famous career during the ‘some two years she spent in and around Damascus’”37 which Yeghenian describes as the catalyst putting Halide on her road to Angora and to her “present heights of fame as being acclaimed the Turkish Jeanne d’Arc.”38 Yeghenian claims that, because of Edib’s political stance on the Armenian massacres, she became the close associate of the triumverate of dictators, Enver, Talat and Cemal. The latter is depicted by Yeghenian as “the Dictator of Syria, the Supervisor General of the Armenian deportations, [who] came to be known as the cruelest man on the triumvirate;” in the words of one Turkish journalist, Ali Kemal Bey, “he rose to eminence mainly because of his gifts for murder and pillage.”39 Yeghenian argues that Edib’s activities in Damascus illustrate complicity in the CUP plans of massacring the Armenians and converting the survivors: “after calmly planning with her associate forms of human torture for Armenian mothers and young women, [Halide Edib] undertook the task of making Turks of their orphaned children.”40 Yeghenian expresses her disappointment with the possibility of Halide Edib’s visit to America to give a series of lectures: “Halide Edib’s friends have been urging her to take a trip to America to repudiate the Armenian massacres.”41 In fact, the series of articles that appear in the New York Times between May 25 and November 26, 1922 about Halide Edib convey a “battle of representation” polarizing Edib either on the side arguing for Edib’s “genocidal intent” or the polar opposite denying “intent” and proximity to Unionists. Only contemporary discussions of Halide Edib’s biography have addressed her complicated and oppositional stance regarding the Catastrophe. For instance, in 2008, in the roundtable discussion entitled “Different Approaches to Halide Edib,” Sima Aprahamian captures Edib in two contradictory moments.42 The first instance involves the turkification of Armenian orphans in the Aintoura orphanage43, the second her refusing to shake hands with Bahaettin Şakir whom she considers “a butcher.”44 Even though Sima Aprahamian’s presentation begins by problematizing Edib’s work and her stance in the Catastrophe, it ends by affirming that her novels Yeni Turan and Ateşten Gömlek monolithically embrace turkish nationalism advocated by the Young Turks (in the former novel) and the nationalist army (regarding the latter novel).45 Regarding Edib’s involvement in the Aintoura orphanage, I personally believe more historical research is ahead of us to reach a conclusion as to Edib’s particular role and mission. Armenian 37 38 39 40 41 42
YEGHENIAN, The Turkish Jeanne d’Arc (cf. fn. 35), my italics. Ibid. Ibid. Ibid. Ibid. SIMA APRAHAMIAN, Feminism(s) and Representations: Halide Edib Adıvar and Zabel Yesayian, Paper presented at the roundtable discussion of “Different Approaches to Halide Edib” at the Middle East Studies Association of North America meeting, Washington D.C. November 22-25, 2008. 43 Aprahamian infers this from the caption of a photograph in The Lions of Marash by Stanley E. Kerr which reads “Halide Edib becomes directress of the orphanage for Armenian children.” Ibid. 44 Ibid. The original reference is FALIH RIFKI ATAY, Zeytindağı [Olive Mountain]. Istanbul 1981 p. 64. 45 APRAHAMIAN, Feminism(s) (cf. fn. 42).
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sources claim Edib was indubitably complicit in converting Armenian orphans46, Turkish sources (particularly male writers such as Yahya Kemal) mock Edib’s “educational activities” altogether in Syria, depicting such activity as a waste of resources, wealth and energy rather than a conscious effort of “conversion” (and delineating this activity as only serving the purpose of confirming Cemal Paşa’s military authority in Syria)47; and lastly, Edib herself questions Cemal Paşa’s “conversion policies” in Aintoura in her autobiographical account.48 In sum, gathering further sources on Aintoura would contribute to drawing a more accurate portrait of Edib’s activities in Syria. In this paper, I would like to point out more resistance points in Halide Edib’s auto/biography and work than have been previously acknowledged.49 On the one hand, she criticizes Talat Paşa’s political stance in inflicting violence on the Ottoman Armenians, and libels Bahaettin Şakir a “murderer;” on the other, she collaborates with Cemal Paşa in Syria.50 Did she believe Cemal Paşa to be innocent of war crimes? Did she believe “conversion of Armenian orphans” to be innocuous in comparison to mass murder? Ergo, did she resist the latter and perhaps contribute to the former? Did she change her mind entirely regarding the Armenian deportations/massacres in the post-1916 period? Did her position as “propagandist” during the Greco-Turkish war blind her to the violent past of World War I? As a bilingual writer writing simultaneously in Turkish and English and being published in Turkey, England, the United States, and India, did she 46 Ibid. See also NORA PARSEGHIAN, New Revelations on the Armenian Genocide: The French College in Aintoura, Lebanon or Jemal Pasha’s Orphanage where Armenian Children Were to be Turkified, in: Aztag English Supplement. URL: http://www.aztagdaily.com/EnglishSupplement/ FEA_02012006_0001.htm. 47 See YAHYA KEMAL, Siyasi ve Edebi Portreler [Political and Literary Portraits]. Istanbul 2002 p. 37. Yahya Kemal claims Edib catalyzed many other women teachers to work in Syria and was trying to bring the Ottoman language and education to a Syria which desired neither “us” nor “our language.” Kemal argues that Edib’s efforts in Syria were strategically misdirected when Anatolia was “empty” and “direly in need (of such educational activity).” The original is as follows: “Birçok muallimleri seferber ederek Suriye’ye götürdü; bu manzarada biraz hiffet ve gülünç bir şey vardı; Anadolu bomboş dururken, yalnız Cemal Paşa’nın muvakkat bir hükümranlığını tezyin etmek için, bizi ve lisanımızı pek özlemeyen Suriye’de bir maarif feyezanı, bahusus o felaketler ortasında, birçok insanı acı acı gülümsetiyordu. Vakıa Cemal Paşa’nın Suriye’den kaldırılacağı ve İstanbul’a getirileceği şayi olur olmaz, Halide Edip Hanım Suriye’yi, o maarif intibahını, o mektepleri ve muallimeleri bıraktı ve Cemal Paşa’dan önce İstanbul’a geldi. O kadar masraf, zahmet ve nümayiş muvakkat bir moda gibi geçmişti.” Ibid. 48 According to Edib’s Memoirs, Cemal Paşa’s argument for “converting” Armenian orphanages was “lack of resources.” Cemal Paşa claimed that he could have only filled Muslim orphanages with Muslim children but that, in the absence of places to put Armenian children in Armenian orphanages in Syria, he saved their lives by placing them in Muslim orphanages. Edib is quite disappointed and exclaims: “I will have nothing to do with such an orphanage.” EDIB, Memoirs (cf. fn. 14) p. 429. 49 Previous articles where I talk about moments of resistance in Edib’s biography and work include ADAK, Epic (cf. fn. 17); ID., Ötekileştiremediğimiz Kendimizin Keşfi (cf. fn. 7) and ID., The Protracted Purging of the Tyranny of Nationalism: Turkish Egodocuments and the Possibility of Armenian-Turkish Reconciliation, in: Der Völkermord an den Armeniern. Die Türkei und Europa. Eds. HANS LUKAS KIESER/ELMAR PLOZZA. Zürich 2006 pp. 107-116. 50 In Memoirs, Edib delineates her educational activities in Syria under the leadership of Cemal Paşa, however denies complicity in “converting” Armenian orphans. EDIB, Memoirs (cf. fn. 14) p. 429.
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write differently to different reading groups?51 In the following, I will try to wrestle with these questions without necessarily reaching definitive conclusions about their answers. In so doing, I will analyze the ambiguities, contradictions and complexities in Edib’s life history, writings and auto/biography rather than attempting to draw a “black or white” portrait delineating her either as a perpetrator or a definite objector to the Armenian deportations and massacres.
The Adana Massacres (1909) On May 18, 1909, in the Unionist newspaper Tanin [The Voice], Halide Edib published a letter of apology to Armenians regarding the Adana massacres in 1909. When she wrote the letter, Edib was in exile in Alexandria fleeing from the counterrevolution in Istanbul. Two Armenian women, Serpuhi Makaryan and Bayzer Torkomyan thanked Halide Edib in the same newspaper immediately following her apology; the articles were dated May 26, 1909 and May 29, 1909 respectively. In the letter, Edib mourned her Armenian sisters and brothers and appealed to the CUP authorities for the murderers to be found and executed. 52 During and after 1909, she does not find the Unionists culpable for the Adana massacres and in fact, in Memoirs, she praises them for restoring order and bringing justice after the tragic incidents. According to Edib, the chaotic atmosphere of the counterrevolution was to blame for the Adana massacres, the fact that the Armenian Tashnaks were allowed to keep their arms caused panic in the Turkish neighborhoods in Adana, and the massacres started as
51 This paper explores Edib’s biography focusing particularly on the period between 1910-1930. The following is a synopsis of her life history during and in the aftermath of her self-imposed exile. After leaving Turkey in 1925, Halide Edib and Dr. Adnan relocated first to England, and later to France where they lived between 1929-1939 as Dr. Adnan taught Turkish at the École des Langues Orientales Vivantes in Paris. In 1928, Edib was invited to the Williamstown Political Institute’s roundtable conference as the first woman lecturer on politics and was hailed as the extraordinary woman of “The New Turkey.” Her lectures were published as Turkey Faces West in 1930. The following year, Edib worked as a visiting professor at the History Department of Columbia University, Barnard College for one semester. In 1935, she was invited to give lectures at the opening of a Muslim University, Jamia Millia in India. Her lectures delivered in various universities and cities throughout India were published as Conflict of East and West in Turkey in 1935. Her portraits of prominent political and intellectual figures in India, including Mahatma Gandhi, Jawaharlal Nehru, Sarojini Naidu, and Mohammad Iqbal, entitled Inside India was published in 1937. In 1939, immediately following Mustafa Kemal’s death, Halide Edib and Dr. Adnan returned to Turkey permanently. Halide Edib became the Chair of the English Language and Literature Department at Istanbul University. She wrote a three-volume work on the history of English literature in Turkish (İngiliz Edebiyatı Tarihi [History of English Literature]) and translated into turkish a number of plays by William Shakespeare. From 1940 onwards, Halide Edib was preoccupied with a criqitue of totalitarian regimes in her literary work best exemplified by her absurdist play Maskeli Ruhlar [Souls with Masks] (1938) translated into English as Masks or Souls? in 1953. In 1950, Halide Edib became an independent member of parliament from Izmir but after her four-year term was over, resigned becoming disillusioned with the Democrat Party and with politics in general. She died on January 6, 1964. See ADAK, Epic (cf. fn. 17) pp. XV-XVIII for further details on her biography. 52 İPEK ÇALIŞLAR. Halide Edib: Biyografisine Sığmayan Kadın [Halide Edib: The Woman Who Defies her Biography]. Istanbul 2010 p. 74 f.
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the endresult of mutual feelings of distrust and fear between the Armenians and Turks.53 Edib argues that the political opposition to the CUP which was busy fighting and murdering Young Turks in Istanbul was responsible for massacring the Armenians in Adana.54 In Memoirs, she praises the efforts of Cemal Paşa who was sent to Adana after the reestablishment of the Unionist regime and claims that order was restored immediately following the massacres.55 Halide Edib’s account of the massacres in Adana is not altogether incorrect. Local Muslims in Adana opposing the “modernizing mission of the 1908 revolution” attacked Armenians because the latter supported the aims and ideals of the “Young Turk revolution.” The CUP distanced itself from the massacres; around 124 Muslims were executed after they were found guilty in the killings of over 20,000 Armenians. Taner Akçam argues that even though the CUP was not directly involved in the events in Adana, certain documents illustrate that local Unionist leaders were involved in the massacres.56 Halide Edib’s account in Memoirs dismisses such involvement.
1915: Halide Edib Opposes the CUP According to national sources, in March 1915, Halide Edib attended the meeting of “Bilgi Derneği” [Science Society]57, organized by Talat Paşa to discuss strategies of defense if the battle of Dardanelles ended in defeat and the Allied armies entered Anatolia. Turkish intellectuals feared this defeat would incite the Greeks and Armenians of the Ottoman Empire against the Ottoman Army.58 The meeting polarized into two camps fighting over feasible modes of action, the Unionists and those in the Unionist opposition who still considered themselves Turkists (Türkçü). According to Yahya Kemal’s account, this was not the first occasion when Halide Edib defined herself in the oppositional group to the Unionists. In that particular meeting, Yahya Kemal reports that the severe intellectual disagreement between Halide Edib and Ahmet Ağaoğlu culminated with Ağaoğlu shouting in a rather loud tone at Halide Edib that nobody who was not a Unionist could be a turkist.59 Further, Yahya Kemal reports that each time he socialized with Halide Edib, she was being followed by the Merkez-i Umumi. Kemal surmised that this was because of her intimate relationship with Armenians and Americans, speculating that she was probably not at all liked by the government.60
53 54 55 56 57 58 59 60
EDIB, Memoirs (cf. fn. 14) p. 284. Ibid. p. 283. Ibid. p. 284. TANER AKÇAM, A Shameful Act: The Armenian Genocide and the Question of Turkish Responsibility. New York 2006 p. 69 f. KEMAL, Siyasi (cf. fn. 47) p. 32. Those who attended the meeting included Hamdullah Suphi, Ziya Gökalp, Köprülüzade Fuad, Celal Sahir, Halim Sabit, Hüseyinzade Ali, Doktor Adnan, Yusuf Akçura, Mehmet Ali Tevfik, Ömer Seyfettin. Ibid p. 33. Ibid. p. 33. Ibid. p. 34. Ibid. p. 37. The fact that Edib fell out of favor with Unionists after 1913 is seconded by the journalist M. Zekeria, described in his terms as a political strife which lasted between the Balkan Wars and the armistice signed with the Allies in 1918. ZEKERIA, Turkey’s Fiery (cf. fn. 34).
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In 1916, Halide Edib lectured condemning the violence against the Armenians in a meeting of the Türk Ocağı [Turkish Hearth].61 Yahya Kemal reports that Ziya Gökalp and Fuad Köprülüzade attended the lecture. The details of the lecture were censored however from the text of Siyasi ve Edebi Portreler [Political and Literary Portraits].62 In Yahya Kemal’s account, the turning point in Halide Edib’s political and perhaps humanitarian stance was after the Greco-Turkish war. A woman who spoke and acted against war or atrocities to minorities, had become, according to Kemal, caught in the war-machine because she had become affiliated rather intimately with the Turkish army and was promoted to the rank of başçavuş [sergeant major].63 Yahya Kemal reported that Halide Edib had changed radically from an anti-militarist to an ambitious and aggressive “soldier,” lusting for political power64 toward the end of the Greco-Turkish war. However Edib’s stance against the Armenian massacres of 1915-1916 did not change throughout her life and even during this period of active involvement in the Greco-Turkish war according to her biographer İpek Çalışlar.65 Edib’s ambivalent stance towards “war” and “militarism” during and immediately after the Greco-Turkish war is manifested in her autobiography and fiction, particularly in Ateşten Gömlek [The Shirt of Flame] (1922), Vurun Kahpeye [Thrash the Whore] (1923) and The Turkish Ordeal (1928). Regarding the Catastrophe, I would like to argue that most of her literary work conveys ambivalence or points of resistance and cannot be categorized as a monolithic justification of the events of 1915-1916. Published a few years after the 1909 Adana massacres, Edib’s political utopia Yeni Turan [New Turan] (1913) envisions, in lieu of the then-prevalent political composition of the Ottoman Empire, federal states with Armenia (as one among many other states) enjoying religious (and “racial”) autonomy.66 If her stance against militarism became ambiguous in the 1920s, this did not affect the opening section of Ateşten Gömlek which narrates how the foundational national myth of Turkey was founded upon “collective amnesia” regarding the Catastrophe and how in order to believe in the nation and fight in the national struggle of Turkey, one had to coerce oneself into forgetting and obliterating the violent past. In the excerpt below, the narrator is making reference particularly to the massacres of 1915-1916. “I see that we did this not for others, but for ourselves. […] Publications in French or English, let alone Europe, could not be published if it were to our praise. […] When we told the world that they had committed worse crimes than the ones they threw at our faces as mistakes, murder, etc., we felt that the entire world had heard us and that it had thought us right. […] Maybe the best part of this profoundly childish propaganda was this. In order to suffer the 61 KEMAL, Siyasi (cf. fn. 47) p. 36. I thank İpek Çalışlar for this reference. This lecture will be discussed further in the section on Memoirs. 62 Ibid. 63 Ibid. p. 38. 64 Ibid. 65 See ÇALIŞLAR, Halide Edib (cf. fn. 52). 66 According to Oğuz, the leader of the “Yeni Turan” party, the overarching language of the Turanian empire should be turkish and the overarching religion – Islam. But each state under the Turanian federal states should still enjoy religious and “racial” autonomy, and should be responsible for the progress of its own “civilization” and “national character.” HALIDE EDIB-ADIVAR. Yeni Turan/Raik’in Annesi [New Turan/Raik’s Mother]. Istanbul 1913 pp. 36-39.
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pains of the Independence Struggle, […] initially, we needed to start from believing in ourselves.”67
Reading the first chapter of Ateşten Gömlek, I cannot refrain from posing the following question: Which foundational myth could be more cognizant of its self-construction? In the following section, I hope to enfranchise Memoirs of Halidé Edib from the chains of “direct” compliance to the “will to annihilate” the Armenian population of the Ottoman Empire during World War I.
The “Republican Defensive Narrative” in Memoirs “The Cretan is as bitter against the Greek as the Armenian is bitter against the Turk.”68 “Thousands of refugees from Macedonia passed on into Anatolia with their tales of carnage and this impaired the friendly relations of the Moslems and Christians of Anatolia.”69
In Memoirs, Edib makes direct references to “mutuality” or “retaliation,” particularly illustrating that the Ottoman involvement in World War I and perhaps even the deportations and massacres in 1915-1916 could be a response to the Balkan Wars and the dismissal of the massacres of Muslims and Turks in Europe.70 This is why Memoirs focuses on the early stages of Turkish nationalism as an outcome of the Balkan Wars. By analyzing the Balkan Wars as the starting point of the massacres, and that European powers ignored the massacring of Turks and Muslims in Europe, Edib prepares the tale of revenge that resulted in 1915-1916 and the brutal lesson that, for the Turks, avoiding extermination or “survival” meant exterminating others: “[T]he massacre of three thousand Macedonian Turks and Moslems – one of the greatest massacres of the last hundred years […] did not arouse one quarter of the indignation which 67 Here is the original version of the excerpt from the opening passage of Ateşten Gömlek: “Bu günlerde dikkatle bakınca görüyorum ki bunları başkaları için değil, kendimiz için yaptık. Kendi içimizden kaynadık. Yoksa Fransızca, İngilizce neşriyat; değil Avrupa’da, İstanbul’da bile lehimizde olursa intişar edemiyordu. Böyle olduğu halde bile bu makaleler dişleri dökülmüş, ihtiyar ağızlar gibi, delik deşik çıkıyorlar. […] Kendi kendimize yüzümüze hata, cinayet diye attıkları şeylerin daha fenalarını onların yapmış olduklarını söyledikten sonra, güya dünya bütün dediğimizi işitmiş ve bize hak vermiş gibi sakin ayrılıyorduk. Davamızın, hakkımızın kuvvetini hissettikçe bunu herkes anladı gibi hissediyorduk. Belki bu deruni çocuk propagandasının en güzel yeri burasıdır. Çünkü İstiklal Harbi’nde çektiklerimizi çekmek […] için en evvel kendimiz kendimize inanmaya muhtaçtık.” HALIDE EDIB-ADIVAR, Ateşten Gömlek [The Shirt of Flame]. Istanbul 1997 pp. 15-17. 68 EDIB, The Turkish Ordeal (cf. fn. 15) p. 8. 69 HALIDE EDIB ADIVAR, Conflict of East and West in Turkey. Lahore 1963 p. 72 f. 70 In Conflict of East and West in Turkey, Edib argues that the Ottoman decline was hastened through the Powers playing with the non-Moslem groups in the Balkans. “They were more or less semi-independent and formed national units, and they became pawns in the international game for the dismemberment of the Ottoman Empire. The two trump cards of the Powers were religion and nationalism.” Ibid. p. 44. In Conflict, Edib cites the Congress of Berlin (1878) as the beginning of problems in Anatolia. This is the congress where the term “Armenia” is pronounced for the first time, and reforms in the eastern provinces are demanded. According to Edib, “[t]his meant clearly that the racial and national struggles of Macedonia, with the Powers using each nation as a pawn in the game, were going to be repeated in Anatolia.” Ibid. p. 56.
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the Armenian massacres had done… I believe that the two different measures meted out by Europe to the Moslem Turks and to the Christian peoples in Turkey keenly intensified nationalism in Turkey. They also aroused the feeling that in order to avoid being exterminated the Turks must exterminate others.”71
In response to many “biased” works of history, Edib propagates tenets of the thesis of mutuality. For instance, the gist of Edib’s argument against A. Mandlestan’s “Le Sort de l’Empire Ottoman” is to underscore the “origin of violence”: “There is a detailed account of Armenian massacres and a series of exaggerated accusations with reference to the other minorities, whom he asserts the Turks meant to exterminate. I do not, however, find a word about the great massacre of the Turks by the Bulgarians nor its accompaniment of atrocities in 1912, not a word about the great massacre of the Turks by the Armenians who entered Oriental Turkey in 1915 with the Russian army, which has been simply told by the Russian officers of the same Russian army who revolted against the Armenian cruelties.”72
And, in fact, Edib directly blames European diplomacy for the atrocities of 1915-1916: “I am sorry to put the case so brutally, but I am only relating the effect on the Turks of the European diplomacy of those days, and its responsibility for the bloodier development of later years.”73 Even “the Greek occupation and atrocities under British patronage and the Armenian atrocities against Adana under the patronage of the French were talked of as the symptoms of the allied justice and rule in Turkey foreseen by the Unionists before the war.”74
71 EDIB, Memoirs (cf. fn. 14) p. 333. The same argument can be found in Conflict: “In the early stages of the war Turkish women had met in the University Hall at Istamboul and appealed to European Queens to intervene from a humanitarian point of view in favour of the Moslem population in the Balkans. No answer was received. But when the same savagery was let loose on the Christian population, the anxiety and horror of the Western world was extreme. This brutal partiality was revolting to the Turks. And it was not the educated Turks only who were affected.” EDIB, Conflict (cf. fn. 69) p. 72 f. 72 EDIB, Memoirs (cf. fn. 14) p. 378. 73 Ibid. p. 334. 74 Ibid. p. 380. In Conflict, Edib also blames Christian elements in the Empire for their nationalistic tendencies and secessionist fantasies and their tendency to break the Empire apart dismissing the Unionist attempts at reforming the government and making the judicial system more egalitarian toward non-Muslims: “The Christian part of the Ottomans, on the other hand, took to Nationalism. The Tanzimatists never realized or admitted that any such explosive and separatist sentiment could be genuine, regarding it as entirely a reaction against bad government. They were convinced that reform, good government and the preaching and practicing of democratic principles would cure the non-Moslem subjects of the empire of their nationalism […] Therefore all the efforts and reforms of the Tanzimatists were mostly for the benefit of the Prodigal Son of the Ottoman State, that is, for the Christian who was no longer content to remain in the Ottoman fold.” EDIB, Conflict (cf. fn. 69). p. 51.
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Toward Witnessing/Inscribing 1915-1916 as “Event” Testifying to the “Factuality of the Fact”75 With the exception of those instances when the text promotes the “Republican defensive narrative,” Memoirs testifies to scenes of Armenian suffering. The compassion the narrator feels for the victims running away from being massacred sets the stage for Edib’s climactic moments of resistance and criticism to the defensive narrative of the Republic: “In Konia the station greeted us with a scene of misery. A large number of Eastern Anatolians, mostly refugees and Kurds, were crowded with their families and few belongings in the station. They were the remainder of the Armenian victims, running from the Armenian massacres…”76
In Memoirs, the deportations are reported as acts of “violence,” as “events” turning the people away from the government. Memoirs attempts to record the helplessness of the Turkish people in resisting the Ottoman army in the time of war (particularly at a moment when defeat was probable): “When the deportations became general public opinion was sincerely against the government. But the country was then in the thick of the fight, and nothing was published on the subject. It was an extremely difficult time for the Turkish population; in spite of the public disapproval of the government’s acts, every Turk was deeply conscious of Turkey’s danger, and that it would mean complete spoliation and extermination of the Turks if the Turkish army should be defeated.”77
Why does Edib narrate the scene with Goumidas Vartabet, particularly emphasizing the lines that Goumidas uses to direct his anger at the “perpetrators of violence” (Unionists) during World War I: “I will destroy all the wicked of the land: that I may cut off all the wicked doers from the city of the Lord.”78 What statement could equate the “perpetrators” more with “violence” than that which acknowledges the “fact” that there are “wicked doers” in the Empire? Edib’s most blatant expression of resistance is the speech she delivered in 1916 in the Türk Ocağı where she equated “national economics” – nationalizing the wealth of Empire, transferring wealth of the victims of the massacres in order to create a Turkish and Kurdish bourgeoisie – with the “Armenian question” and “bloodshed”: “In 1916 I spoke to a very large audience, mostly Unionists, in the Turk Ojak on the Armenian question and national economics. […] I spoke with conviction against blood shed, which I believed would hurt those who indulge in it more than it hurt their victims. There were some seven hundred present.”79 75 76 77 78 79
NICHANIAN, Testimony (cf. fn. 12) p. 41. EDIB, Memoirs (cf. fn. 14) p. 392. Ibid. p. 386. Ibid. p. 374. Ibid. p. 387. For other references regarding Halide Edib’s lecture at the Türk Ocağı, see KEMAL, Siyasi (cf. fn. 47) p. 36, who reports that the lecture, in favor of “massacred Armenians” was narrated to him by Ziya Gökalp and Köprülüzade Fuad. The original is as follows: “Halide Edip
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Edib narrates how Unionists were quite disappointed in her speech and that as protest, they stopped paying visits to her house, and proposed to Talat Paşa that Edib be punished. The former refused.80 In Halide Edib’s private conversations with Talat Paşa, she seems to continue her tone of harsh criticism as she notes her surprise at Talat Paşa’s politeness: “[he] kept up his friendliness to the last” even “when I was bitterly criticizing his personal politics and the policy of his party.”81 But perhaps the passage that articulates most emphatically not only the “factuality of the fact” but the “suffering” of the victims, the certainty of the identification of the “perpetrators” as the Unionists and Talat Paşa-as-lead in particular, and the fact that “it” (the event) is infinitely, indescribably “immoral” is the monologue of Talat Paşa uttered in response to Halide Edib’s criticism of the Armenian deportations and massacres: “There are two factors which lead man to the extermination of his kind: the principles advocated by the idealists, and the material interest which the consequences of doing so afford certain classes. The idealists are the more dangerous, for one is obliged to respect them even if one cannot agree with them. Talat was of that kind. I saw Talat very rarely after the Armenian deportations. I remember well one day when he nearly lost his temper in discussing the question and said in a severe tone: ‘Look here, Halide Hanum. I have a heart as good as yours, and it keeps me awake at night to think of the human suffering. But that is a personal thing, and I am here on this earth to think of my people and not of my sensibilities. If a Macedonian or Armenian leader gets the chance and the excuse he never neglects it. There was an equal number of Turks and Moslems massacred during the Balkan war, yet the world kept a criminal silence. I have the conviction that as long as a nation does the best for its own interests, and succeeds, the world admires it and thinks it moral. I am ready to die for what I have done, and I know that I shall die for it.’”82
From the very first sentence, it is very clear that we are talking about “extermination,” and that even if we are talking about “idealists,” the narrator, the readers (“we”), etc. cannot “agree with them.” Already, we are in disagreement with Talat Paşa and those who “exterminate” their kind. Already, Talat Paşa “nearly lost his temper,” lost control, displaying “severity in tone,” and already we are in the zone beyond “rationality” and reason. In this domineering tone, Talat Paşa attempts (and perhaps quite “unconvincingly”) to persuade Halide Edib and thereby, “us,” the readers that “he has a heart as good as ‘ours’ and a ‘conscience’ which ‘keeps him awake at night’ thinking of the ‘human suffering’.” I think it is rather significant that Talat Paşa himself has admitted to “the human suffering” as undeniable, inescapable, and concrete fact. The Macedonian or Armenian leader never got the opportunities that Talat Paşa himself enjoyed to execute “it,” the “happening,” the “event,” the confirmation of the “massacres” since the numbers of Hanım, Türk Ocağı’nda, katliam edilen Ermenilerin lehinde bir konferans vermiş. Ziya Gökalp, yanında Köprülüzade Fuad olarak, Ada iskelesinde, bu hadiseyi naklettiler.” I thank İpek Çalışlar for pointing out this reference. 80 EDIB, Memoirs (cf. fn. 14) p. 388. 81 Ibid. p. 349. After this lecture of resistance, Edib notes that, regarding the “Armenian question,” her stance changed. She was notified of “Armenian crimes” against Turks, and witnessed that “in similar cases others could be a hundred times worse than the Turks.” Ibid. p. 388. 82 Ibid. p. 387.
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these “massacres” (of the Armenians) equal those of the Turks and Moslems during the Balkan War. “It” was done out of “national interests,” selfishly, egoistically, and “immorally.” It is only if there is victory in war, then can the nation convince the world (with the discourse of the superior, the conqueror, the glorious83) that it is “moral.” Till then, till the ultimate “lie” of morality can be disclosed, “we,” like the European powers during the Balkan Wars, must keep a “criminal silence.” Crushed under the weight of his crimes, Talat Paşa acknowledges he is ready to die for “it” and knows that he will die for “it.” (And, in the last line of this passage, Edib admits that in 1922, Talat Paşa is assassinated by an Armenian for “it.”) In the absence of documents which prove Unionist complicity in the events of 1915-1916, this passage can serve as a concise supplement.
“The Sins of the Father”: De-mystifying “National” Heroes Memoirs lists many examples of “good practices” and “exceptions” during the deportations84, including Cemal Paşa’s “protective attitude” toward the Christians exiled to Syria, his punishment of two Unionists for starting a massacre against the Christians in Syria, his supply of food to the orphanages during the famine; Rahmi Bey’s (the governor of Izmir) refusal “to deport the Christians, […] guarantee[ing] to keep order in his province”85 and Hüseyin Kazım Bey’s (the ex-governor of Aleppo) “undertak[ings] to organize and help the Armenian refugees to settle in Syria with real humanity and capacity”86 prior to resigning from his position because of a difference of opinion with the central government. Nonetheless, the most significant challenge Memoirs poses to a naive mythification of nationalism, or patriarchy carried to the extent of legitimizing violence, is the challenge the text poses to “hero worship” particularly in the case of Unionist leaders. Edib starts with her extreme disappointment with Ziya Gökalp, a philosopher and sociologist who was an infinite source of inspiration to Edib’s work, and, whose “apostolic sincerity and austerity”87 helped her formulate her political utopia of Turan in her famous novel Yeni Turan. Despite Edib’s admiration for Gökalp, she cannot refrain from criticizing how Gökalp fell prey to eulogizing Unionist leaders and formulated and justified their “materialistic philosophy” during the last few years of the war: “As I think of him now, sitting under the green shade of my lamp, smiling mildly and indulgently at the sharp and rather sarcastic remarks of Youssouf Akhchoura, dreaming of a better state in religion, in literature, in moral beauty, for a better state for Turkish women and children, I can hardly believe that he tolerated and even developed the materialistic philosophy of the Union and Progress during the last years of the World War. 83 Here Talat Paşa seems to have identified what Benjamin will call “history,” or the document of the victors. WALTER BENJAMIN, Theses on the Philosophy of History, in: Twentieth Century Political Theory: A Reader. Ed. STEPHEN ERIC BRONNER. New York etc. 1997 p. 221. 84 Here, we must perhaps keep in mind that these are exceptions and that the commanders have personally taken initiative to “amend things.” The narration of “exceptional practices” only serves to confirm the “general order” of things, mismanagement, massacres and deportations. 85 EDIB, Memoirs (cf. fn. 14) p. 389. 86 Ibid. p. 400. 87 Ibid. p. 319.
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In spite of his opposition to hero worship which he expressed in a line, “No individual, but society” he yet wrote epics to the military and civil leaders of the Union and Progress, and in later years to those of the Nationalists. These epics are quoted as among his inconsistencies.”88
Edib’s strategies of overcoming the idealization of “national heroes” include exposing historical figures in historical change. For instance, the “Enver Bey of Tripoli” (The Italo-Turkish War of 1911-1912) was no longer the same person in the post-1913 period, or rather, the post-military coup period.89 Edib recounts, through the account of Dr. Adnan, that Enver Bey, the man “of incredible purity of life and spirit,” “the beloved Enver of 1908”90 was “now the hated military dictator”. Dr. Adnan often repeated the saying of our famous writer Süleyman Nazif: “Enver Pasha has killed Enver Bey.”91 In Memoirs, contradictions and inconsistencies in character and action of Unionist leaders are exposed; without much recourse to censorship, their weaknesses and their misdemeanors are juxtaposed next to their merits. Hence, in one scene in Memoirs, Cemal Paşa is portrayed as a just ruler in Syria. Nonetheless, his policy of sending Armenian orphans to Muslim orphanages and converting them with the hope that “none is too small to realize his race” and will convert back after the war92, is seriously questioned by Edib who claims that she “will never have anything to do with such an orphanage.”93 Edib’s assessment of the CUP regime is of a similar nature, accepting “historical change” and articulating both strengths and weaknesses, a regime which began “with a bloodless revolution promising liberty, justice, equality, and fraternity” and thus brought both the “sublime” but also the “infernal to Turkish lands and Turkish people.”94 The most noteworthy reforms of the period were in finance and the army (1913-1915), “the reorganization of the Anatolian army of independence was possible only because of the sound basis that Enver had laid.”95 However, Edib severely criticizes their military policies, narrating, for instance, the “severity and violence [of the CUP regime] in putting down an insurrection in Albania”96; or, how the Unionists, i.e., “the military clique which sought material advantages from the war” wasted away highly qualified men, such as the “Sheik-ul-Islam Hairi Effendi”: “He […] was beaten by the military policy of the Unionist regime. Rarely had a regime such a large collection of able and intelligent men at its command but its narrowness and shortsightedness, fostered by the clique who wished to snatch material advantages from the ugly scenes of war, caused it to annihilate its own chances as well as those of Turkey.”97
88 Ibid. 89 Here, Edib is referring to the “Bab-ı Ali Baskını,” or the military coup organized by the Committee of Union and Progress on January 23, 1913. 90 “1908” refers to the “Young Turk Revolution of 1908” when the constitution of 1876, suspended by Sultan Abdül Hamid during his thirty-two year rule (1876-1908), was restored by the Committee of Union and Progress members, with Enver in the lead as their Napoleonic figure. 91 EDIB, Memoirs (cf. fn. 14) p. 355. 92 Ibid. p. 429. 93 Ibid. 94 Ibid. p. 472, my italics. 95 Ibid. p. 346. 96 Ibid. p. 329. 97 Ibid. p. 361.
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If Talat Paşa is coined “idealist” in one passage of Memoirs98, then we find out that the autobiography in its entirety harshly criticizes “idealism” because it was in the name of ideals that many wars, particularly World War I was fought costing the lives of millions of innocent people: “The renaming of ideals, which is too often a mere political game in the hands of unscrupulous leaders, is not enough; it is the rules of the game that must be changed.”99 Her own conclusion is to question “ideals,” challenge “hero worship” and “to teach all the coming generations the love of our kind, the constant struggle for a higher state of national morality, a better adjustment and greater equality among all peoples” which she believes are “the only fundamental conditions which can make life possible and lasting on the globe.”100 In Memoirs and The Turkish Ordeal, Edib identifies her hero(ine) during World War I not as Enver, Talat or Cemal Paşas, not as Mustafa Kemal or Kazım Karabekir but as Sister Anna, a Protestant Armenian who “sensed the double tragedy [Armenian and Turkish] and simply brought her lovely heart to the service of the sick. That suffering has no race, sex, and class, and that the appeasing of it is the only human act which brings a lasting satisfaction [...].”101
Denying Political Pan-Turanism Political pan-Turanism during World War I, i.e. the territorial nationalism serving the fantasm of establishing a single ethno-linguistic empire reaching from Anatolia to Central Asia might have prepared the ground for the extermination of the Armenians of the Empire and the forced conversion of the survivors.102 Halide Edib’s association with Turanism is best known via her novel Yeni Turan. In order to distance the novel from being interpreted as the propaganda of the Union and Progress party103 and hence, her utopia from the political Turanism of the Unionists, Edib provides interpretations of her Yeni Turan in Memoirs and Mor Salkımlı Ev [The Wisteria-Covered House]. According to Edib, the pacific, progressive, egalitarian, idealistic New Turan party in the novel represents “a chastised and mature Union and Progress.”104 In Mor Salkımlı Ev, Edib notes her satisfaction at finding out that British critics have dismissed the possibility that Yeni Turan could be the political expression of pan-Turanism.105 If Yeni Turan is a political utopia, it endorses a Turanian empire that unites Albanians, Arabs, Armenians with a federal state106 with the hope that Iran and other small states in the region will join the federation. The route to this federal state does not pass through war, conquest or mass murder but through political re-organization and consent. 98 99 100 101 102 103 104 105
Ibid. p. 387. Ibid. p. 328. Ibid. Ibid. p. 414. ADAK, Identifying (cf. fn. 7) p. 163. EDIB, Memoirs (cf. fn. 14) p. 332. Ibid. HALIDE EDIB ADIVAR, Mor Salkımlı Ev. Istanbul 1996 p. 185. The original is as follows: “1926’da Chattam House’da Türkiye’ye ait yazıları gözden geçirirken nihayet İngilizlerin bu eserin siyasi bir Panturanizm olmadığını ifade eden pasajlara tesadüf ettim.” 106 EDIB, Yeni Turan (cf. fn. 66) p. 38.
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Halide Edib also makes a plethora of references to the ambiguities in and the failure of Enver Paşa’s dreams of a pan-Turanist and pan-Islamist empire: “Had the Christian Turks any place in the Pan-Turanism expressed by the Ottoman Turks? Or was it only meant for the Moslem Turks, which would be some form of the Pan-Islamism of Enver Pasha, who would add racial unity to the religious unity he vaguely imagined to bring forth, and failed.”107
Memoirs in the Turkish Context Memoirs and The Turkish Ordeal were translated into turkish by Halide Edib herself as Mor Salkımlı Ev in 1963, and Türk’ün Ateşle İmtihanı [The Turk’s Ordeal with Fire] in 1962. Turkish readers inquiring into some of the resistance points offered by Edib were to be disappointed since, in the turkish version of Memoirs, i.e. Mor Salkımlı Ev, the chapter entitled “The World War, 1914-1916” was condensed to such an extent that the discussion of the causes of World War I and the CUP decision to enter the war, the discussion of academic works published in Europe giving European accounts of 1915-1916, and Edib’s own lecture against the massacres in 1915-1916 were entirely omitted. Hence, in the turkish context, the complexities of Halide Edib’s autobiography in depicting World War I and the tragic events of “1915-1916” were not analyzed.
From “National Monument” to Literature Beyond the “Genocidal Divide” “The two months from September to November 1916, were to me the most painful during the war. I was in utter despair; the great calamity and hopeless misery which overwhelmed my country seemed to be everlasting. The war seemed endless and human suffering unlimited. I was unable to write a line, and if there had been a monastic life for women in Islam I should have entered it without hesitation.”108
If, prior to the contemporary “testimonial revolution” (à la Nichanian)109, most Armenian survivor memoirs on 1915-1916 have been analyzed as “documents” to serve the archive and not as “monuments” which deserve analysis on their own right, then a similar argument could be made for Turkish accounts/memoirs/self-narratives of 1915-1916 because they were analyzed homogenously as serving the public archive of “obliterating the event,” or at the service of the “Republican defensive narrative” as they mourned the dead exclusively on the Turkish side (in the context of World War I). But if, as Nichanian aptly observes, recent historiography and autobiography studies have pointed to the significance of analyzing “testimony” as a piece of writing that could be discussed in terms of its own “artistic value,” then the “stable (and immemorial) coexistence be-
107 EDIB, Memoirs (cf. fn. 14) p. 314. 108 Ibid. p. 431. 109 See NICHANIAN, Testimony (cf. fn. 12) p. 41 f.
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tween historiography, testimony, and the factuality of ‘facts’” has been and will continue to be put into question by scholars.110 Hence, if studied as “monuments,” as texts in their own right, and in their own complexities, not all Turkish self-narratives serve the “seamless” Turkish public archive of “non-event.” Rather, they serve as “mausoleums” for the losses on the Turkish side and also on the Armenian, Kurdish, Greek sides. I am not necessarily talking about a plethora of self-narratives, I might be referring to a minority of texts which include Halide Edib’s Memoirs and The Turkish Ordeal. By witnessing and inscribing the Catastophe-as-event, exhibiting the “will to annihilate” on the part of the perpetrators, criticizing modes of worshipping “national heroes,” and challenging political pan-Turanism, Memoirs (in particular) manifests multiple points of resistance to the “Republican narrative of defensiveness.” Edib’s own inability to write or represent the horror she witnessed in 1915-1916111 echoes Essayan’s delineation of the Catastrophe as “infinitely indescribable, undefinable, and incomprehensible.”112 The infinity of the Catastrophe leads a prolific writer such as Edib to drop the pen for a period of two years (1916-1917). Edib and Essayan meet where language ends. In conclusion, I would like to second a number of scholars who suggest that the possibility of “collective mourning” has perhaps a precondition and/or a wider context of mourning the loss of the Ottoman Empire, and the confrontation with and acceptance of the defeat in World War I.113 In historicizing the period, Edib’s Memoirs and The Turkish Ordeal serve the purpose of a type of mourning not allowed by national myths of the turkish republic which relate to the past only through various manifestations of “dissociation” (à la Paker). Memoirs and The Turkish Ordeal historicize the transition from the Ottoman Empire to the Turkish Republic rather than reifying the Republic through a myth of naissance, mourning the loss of an empire and its people and the loss of the coexistence of a multitude of ethnicities and languages. This general mourning provides a wider context for the mourning of Armenian victims of 1915-1916.114 110 NICHANIAN, Writers (cf. fn. 3) p. 41 f. 111 Please refer to the quote above from EDIB’S, Memoirs (cf. fn. 14) p. 431. 112 These are Nichanian’s interpretations of Essayan’s Among the Ruins (1911). MARC NICHANIAN, Catastrophic Mourning, in: Loss. Eds. ENG/KAZANJIAN (cf. fn. 1) pp. 99-124. 113 Murat Paker, in his analysis of the dominant political culture in Turkey, terms the “discontinuity” between the Ottoman Empire and the Turkish Republic, the need for creating a “zero point” with the establishment of the Turkish Republic because of the difficulty of confronting the rapid and traumatic loss and dissolution of the Ottoman Empire particularly as a result of World War I, “dissociation.” For a process of democratization, he proposes a serious confrontation with – and mourning of this loss and a reconciliation with the past. MURAT PAKER, Egemen Politik Kültürün Dayanılmaz Ağırlığı [The Unbearable Weight of the Dominant Political Culture], in: ID., Psiko-Politik Yüzleşmeler [Psycho-Political Encounters]. Istanbul 2007 pp. 131-152, 143, 148. The loss that needs to be mourned and confronted, according to Paker, should be broadly defined, including a rapid loss of 90% of the land of the Empire (lost during the 19th and early 20th centuries), population, power and wealth. MURAT PAKER, Türk-Ermeni Meselesinin psiko-politik düğümleri [The Psycho-Political Knots of the Turkish-Armenian Conflict], in: Ibid. pp. 169-189, 185. 114 For a succinct analysis of the difficulty of this type of historical confrontation and an exploration of “amnesia” and “conscious distortion” of history as constituent elements of national identity in Turkey, see AYŞE HÜR, “Forgetting” as a Constituent Element of our National Identity, in: From
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If the definition of “genocide” is based on interdicting as simultaneously “prohibiting and silencing” the mourning of the survivors115, then the autonomy of literature only exists to the extent to which it transcends the “national,” the myths of the “perpetrators” (and sometimes also the myths of the “victims” who, in their incessant struggle for recognition of “being genocided,” blind their eyes to the fact that there were other “victims”116), so as to allow for “collective mourning.”117 Returning to Nichanian’s example from Greek tragedy, Antigone must mourn not only her own but all the deceased brothers and sisters. If certain texts provide space for “collective mourning,” the analysis (and sharing through translations) of such texts as “monuments,” i.e., not just as “national monuments” on each end of the genocidal divide, but as “monuments” for all bring those who are not essentialized/libeled as “perpetrators” just for being “Turkish” closer to accepting the happening of the “event” (1915-1916) as historical “fact.” In the “Theses of the Philosophy of History” Walter Benjamin reminds us that “[o]nly that historian will have the gift of fanning the spark of hope in the past who is firmly convinced that even the dead will not be safe from the enemy if he wins. And this enemy has not ceased to be victorious.”118 According to Benjamin, “there is no document of civilization which is not at the same time a document of barbarism.”119 And thus, if a “historical materialist” does not intervene by dissociating himself/herself from history-as-the narrative of the victors as much as possible, history will continue to be written as the document of the victors. If we follow Benjamin’s line of thought, writing history which pays justice to the victims or “the dead” is difficult but perhaps not impossible. And there are fissures, inconsistencies, resistance even in the texts of the victors. A critical reading strategy might then “brush history of the victors against the grain”120 by reading these sources sometimes against themselves and sometimes in line with their intentions (not all texts of the victors serve the narrative of the victors).
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the Burden of the Past to Societal Peace and Democracy: Coming to terms with the past: Why? When? How? Ed. HEINRICH BÖLL STIFTUNG. Istanbul 2007 pp. 37-40; MURAT PAKER, Turkey’s Problems of Coming to Terms with the Past: What and How? in: Ibid. pp. 41-45. This is in reference to the double sense of “interdiction” as it is used in French. NICHANIAN, Catastrophic Mourning (cf. fn. 112) p. 120. Here, I am referring to the violence against Muslims in Eastern Anatolia in 1917 and the ethnic cleansing of Muslims during the short history of the “Democratic Republic of Armenia” (1918-1920). My intention in pointing out these events should not be seen as an attempt to serve “the thesis of mutuality” or to underestimate the violence of 1915-1916. In reference to the distinguishing quality of literature as opposed to “testimony,” Nichanian observes that “literature, in the sense in which it is usually defined, avoids the interdiction of mourning.” NICHANIAN, Catastrophic Mourning (cf. fn. 112) p. 111. This, I think necessitates a closer analysis of Turkish fiction which might proffer a plethora of possibilities for sites of “collective mourning.” BENJAMIN, Theses (cf. fn. 83) p. 220. I thank Marc Nichanian for pointing out this reference. For the proof of this statement see the article by ELKE HARTMANN/GABRIELE JANCKE, Roupens Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs (1921/1951) im transepochalen Dialog – Konzepte und Kategorien der Selbstzeugnis-Forschung zwischen Universalität und Partikularität in this book, pp. 31-72. BENJAMIN, Theses (cf. fn. 83) p. 221. Ibid.
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In the Turkish case, the memory boom of World War I manifested in the proliferation of histories, testimonies, memoirs, and fiction in the last decade has provided a wide array of sources to explore the Armenian genocide. Further, particularly in the last decade, scholarship in Turkey (in a variety of fields including literature, history, anthropology, sociology among others) has undergone a process of “denationalization” which unblinded scholars to moments of “resistance” (to official history) in earlier texts of the twentieth century. Hence, both the recent production of sources on World War I (i.e. the memory boom of the last decade) and the re-visiting of earlier sources thanks to the “denationalization of scholarship” enable the possibility of radical change in the analysis of Turkish sources and memory studies in the twentieth century.121 In the hope of “brushing history against the grain,” let us try to broach the possibilities posed by Turkish self-narratives and literary sources. If read with a critical eye on sites of “collective mourning,” turkish sources, by bearing witness to “the event,” by inscribing it as historical evidence or testimony, thereby resisting the rationale of “genocide-as-historical erasure,” and annulling the “incessant” necessity for proof that the victims have been “genocided,” will help, if only gradually and infinitesimally, “the survivors of the ‘will to annihilation’ to escape madness.”122
121 See HÜLYA ADAK/AYŞE GÜL ALTINAY, Guest Editors’ Introduction: At the Crossroads of Gender and Ethnicity: Moving Beyond the National Imaginaire, in: New Perspectives on Turkey 42. Spring 2010 pp. 23-26. 122 NICHANIAN, Writers (cf. fn. 3) p. 15.
ANGELIKA SCHASER
Schreiben um dazuzugehören Konversionserzählungen im 19. Jahrhundert
In diesem Artikel wird die Bedeutung des Schreibens von Selbstzeugnissen im oder nach dem Konversionsprozess, die sprachliche und textliche Struktur der Konversionsberichte sowie die Rolle dieser Konversionserzählungen in der Erinnerung von Einzelnen und von Kollektiven untersucht. Dabei stehen Konversionserzählungen des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt, wobei ich mich hier auf Texte von Protestanten konzentriere, die zum Katholizismus konvertierten.1 Diese Texte teilen über die Schreibsituation, Gegenwart und die Zukunftsentwürfe der Autorinnen und Autoren mindestens ebensoviel mit wie über die beschriebene Vergangenheit. Erinnerung stellt sich in diesen Texten nicht nur als Re-Produktion von Gewesenem, sondern vor allem als Stiftung einer Kontinuität zur Gegenwart hin dar. Konvertiten eigneten sich durch das Schreiben über ihre Konversion ihre eigene Geschichte an, beanspruchten damit die Deutungshoheit über ihr Leben und ihre Konversion, um anderen Interpretationen entgegenzutreten, die bevorzugt von Angehörigen der verlassenen Religionsgemeinschaft verfasst wurden. Dabei entwarf jeder Konvertit und jede Konvertitin einen eigenen diskursiven Rahmen für die persönliche Geschichte, so dass jede Konversionserzählung zwar ein Unikat darstellt, aber aufgrund des Rahmens auch Bezüge zu anderen Konversionserzählungen aufweist, welche die Grenzen der persönlichen Geschichte überschreiten. 2 Die Konvertiten und Konvertitinnen ordneten dabei ihre eigene Geschichte jeweils in größere Zusammenhänge ein. Ihre Selbstzeugnisse bildeten gerade aufgrund dieser Konstruktionsmerkmale das Fundament für langlebige Erinnerungskartelle, die von Konvertiten im 19. Jahrhundert aufgebaut wurden, indem sie sich in ihren Texten gemeinsamer Narrative bedienten, Zusammenhänge zwischen ihren Texten und Leben herstellten und Verweise innerhalb des Erinnerungskartells als Authentisierungs- und Autorisierungsstrategien benutzten. Konvertiten entwarfen in ihren Konversionserzählungen die Genealogie einer Konvertitenfamilie und schrieben sich
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Dieser Aufsatz stützt sich auf Ergebnisse eines DFG-finanzierten Forschungsprojekts, für das Konversionsberichte evangelischer und katholischer Konvertiten ausgewertet wurden. Vgl. dazu GESINE CARL/ANGELIKA SCHASER, Konversionsberichte des 17. bis 19. Jahrhunderts als Selbstzeugnisse gelesen: Ergebnisse und Forschungsperspektiven, in: Das Religiöse der Gesellschaft – Das Gesellschaftliche der Religion. Hg. MARC FÖCKING/BRUNO REUDENBACH. Münster usw. (erscheint voraussichtlich 2012). Dieses Ergebnis deckt sich mit der Untersuchung autobiographischer Texte der Frühen Neuzeit, vgl. GABRIELE JANCKE, Autobiographische Texte – Handlungen in einem Beziehungsnetz. Überlegungen zu Gattungsfragen und Machtaspekten im deutschen Sprachraum von 1400 bis 1620, in: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Hg. WINFRIED SCHULZE. Berlin 1996 S. 73-106, besonders 104.
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in diese Familie ein. Diese Erinnerungsgemeinschaft scheint unterschiedlich stark ausgeprägt in den Selbstzeugnissen der Konvertiten auf. In den autobiographischen Konversionserzählungen lassen sich nicht nur Verbindungen und Querverweise unter den Konvertiten finden. Konversionsberichte wurden vielfach, seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts systematisch, für die Selbstdarstellung der katholischen Kirche genutzt. Diese Instrumentalisierung von Konversionsberichten klingt in den Selbstzeugnissen ebenfalls häufig stereotyp an, konnte aber eine durchaus eigene Dynamik entfalten. Die ursprünglichen Texte der Konvertiten wurden schon bei der Publikation neu gerahmt. Durch Paratexte wie Hinweise des Herausgebers oder des Verlegers, durch Vorworte, Anmerkungen und Aktualisierungen von anderer Hand wurden die Texte der Konvertiten anders gewichtet und neu interpretiert.3 Diese Umrahmung konnte sehr weit gehen. Wenn etwa „Seelenleiter“, die den Konvertiten oder die Konvertitin begleitet hatten oder Angehörige, zu Lebzeiten oder nach dem Tod der Konvertiten, diese Texte ganz oder auszugsweise veröffentlichten, wurden diese persönlichen Geschichten zuweilen quasi enteignet. Die Selbstzeugnisse wurden dabei in eine biographische Darstellung integriert, die auf die konfessionellen Auseinandersetzungen der Zeit und auf die aktuelle politische Situation reagierte. Die Konversionserzählungen wurden dafür gekürzt, kommentiert, es wurden Auszüge aus Tagebüchern und Briefen der Konvertiten zitiert. Auch Briefe von namentlich genannten oder anonymen Korrespondenzpartnern wurden als Ergänzung beigefügt und in eine biographische Darstellung eingepasst, die dem Leben des Konvertiten oder der Konvertitin eine Exemplum-Funktion zuwies und einen erweiterten Interpretationsraum eröffnete.4 Wie stark dieser Gestaltungswille sein konnte, klingt in dem Buch „Aus dem Leben einer Konvertitin“ an: „Nachdem wir die Entschlafene zu ihrer Ruhestätte geleitet“, schrieb der zusammen mit seiner Frau 1855 zum Katholizismus konvertierte Wilhelm Gustav Werner Volk ein Jahr nach deren Tod, „[…] können wir uns nicht enthalten, auf einige Momente hinzuweisen, welche einen Beitrag für die Annahme der tröstlichen Ueberzeugung geben, wie jedes Menschenleben mit allen anscheinenden Zufälligkeiten doch ein ganz organisches providentiell gefügtes Ganzes darstellt.“5 Nach einem kurzen Hinweis auf die Schreibsituationen und den politischen Kontext werden im Weiteren die Schreibanlässe, die Schreibmotive sowie der zeitliche und räumliche Rahmen der beschriebenen Konversionsprozesse vorgestellt. Danach werden die wichtigsten Legitimations- und Schreibstrategien und der Einsatz dieser Konversionserzählungen für die katholische Propaganda untersucht.
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Smith und Watson unterteilen Paratexte noch einmal in Peritexte (alle Materialien im Buch, wie Umschlag, Motto, Widmung, Einleitung, Nachwort etc.) und Epitexte (Elemente außerhalb der Veröffentlichung wie Interviews und Buchbesprechungen), siehe SIDONIE SMITH/JULIA WATSON, Reading Autobiography: A Guide for Interpreting Life Narratives. Minneapolis ²2010 S. 99. Vgl. dazu auch GERARD GENETTE, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a. M. 2001. Vgl. zur Exemplumfunktion von Selbstzeugnissen auch den Text von ELKE HARTMANN/ GABRIELE JANCKE in diesem Band, S. 44 ff. Aus dem Leben einer Konvertitin. Mitgetheilt von Ludwig Clarus (d. i. Wilhelm Gustav Werner Volk). Schaffhausen 1859 S. 212 f.
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Zu den Schreibsituationen und zum politischen Kontext Die Konversionserzählungen des 19. Jahrhunderts, das von Olaf Blaschke als „zweites konfessionelles Zeitalter“ charakterisiert wurde 6 , ähneln in vielen Punkten denen der Frühen Neuzeit. Daraus wurde vorschnell der Schluss gezogen, diese Texte seien so stark von Stereotypen geprägt, dass sie nicht als Selbstzeugnisse gewertet werden könnten. Doch bei näherer Untersuchung der Konversionsberichte zeigt sich, dass zum einen neben den aus den Anfängen des Christentums, der Reformations- und der Gegenreformationszeit stammenden Erzählmustern und wiederkehrenden Motiven auch die Ereignisse, Normen, Werte und Erfahrungen der jeweiligen Entstehungszeit ihren Niederschlag in den Texten fanden. Zum anderen lassen nicht nur persönliche Schilderungen unterschiedlichen Umfangs, sondern auch gerade die „Sammlung von Gesagtem“ das Personkonzept der Konvertiten erkennen.7 Keiner dieser Berichte kann ohne Kenntnis des jeweiligen historischen Kontexts gelesen und verstanden werden. Der konfessionelle, der politische und der soziale Kontext des 19. Jahrhunderts finden implizit oder explizit Eingang und Widerhall in den Konversionserzählungen. So stellten etwa die Texte zu Beginn des 19. Jahrhunderts Reaktionen auf die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege dar. Die Konversionserzählungen, die in den 1840er und 1850er Jahren publiziert wurden, spiegeln die vorrevolutionäre oder die nachrevolutionäre Stimmung der französischen Julirevolution von 1830, des Hambacher Festes von 1832 und der europäischen Revolution von 1848 wider. Diese Revolutionen sind von vielen Konvertiten als Frucht des Protestantismus gewertet worden – bei Ida von Hahn-Hahn findet man diese Sicht der Dinge ganz plakativ aufgetragen8, in anderen Texten eher zwischen den Zeilen. In den Jahren zwischen 1848 und dem Ersten Vatikanischen Konzil 1869/1870 rückten Liberalismus, Nationalismus, die Reaktionen des Vatikans auf Gefährdung des Kirchenstaates sowie die innerkirchlichen Auseinandersetzungen zwischen Konzil und Papst auf die Agenda. Papst Pius IX. setzte bekanntlich auf Zentralisierungsmaßnahmen und stützte sich in seiner Politik auf die Scholastik. Die 1854 erfolgte Verkündigung des Dogmas von der „Unbefleckten Empfängnis Ma6
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OLAF BLASCHKE, Das 19. Jahrhundert: Ein zweites konfessionelles Zeitalter?, in: Geschichte und Gesellschaft 26. 2000 S. 38-75 und DERS. (Hg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970, ein zweites konfessionelles Zeitalter. Göttingen 2002. Zur Kritik an Blaschke vgl. MARGARET L. ANDERSON, Living Apart and Together in Germany, in: Protestants, Catholics, and Jews in Germany, 1800-1914. Hg. HELMUT WALSER SMITH. Oxford, N. Y. 2001 S. 317-322. – LUCIAN HÖLSCHER, The Religious Divide: Piety in Nineteenth Century Germany, in: ebd. S. 33-47.– MARTIN FRIEDRICH, Das 19. Jh. als „Zweites Konfessionelles Zeitalter“? Anmerkungen aus evangelisch-theologischer Sicht, in: Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter. Hg. OLAF BLASCHKE. Göttingen 2002 S. 95-112. – MARTIN SCHULZE WESSEL, Das 19. Jh. als „Zweites Konfessionelles Zeitalter“? Thesen zur Religionsgeschichte der böhmischen Länder in europäischer Hinsicht, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 50. 2001 S. 514-530. – CARSTEN KRETSCHMANN/HENNING PAHL: Ein „Zweites Konfessionelles Zeitalter“? Vom Nutzen und Nachteil einer neuen Epochensignatur, in: Historische Zeitschrift 276. 2003 S. 369-392. MICHEL FOUCAULT, Über sich selbst schreiben. Schriften in vier Bänden. Dits et écrits, Band IV, 1980-88. Frankfurt a. M. 2005 S. 503-521, hier 512. Von Hahn-Hahn bezeichnet 1848 als „Jahr der Schmach“ (IDA VON HAHN-HAHN, Von Babylon nach Jerusalem. Mainz 1851 S. 102).
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riens“ löste nicht nur unter Katholiken leidenschaftliche Diskussionen aus. Im Kampf gegen Liberalismus und Säkularisierung schritt Pius IX. konsequent mit der Enzyklika Quanta Cura von 1864 und dem Unfehlbarkeitsdogma von 1870 fort, mit dem er nicht nur die Moderne verdammte, sondern auch den Einfluss des bischöflichen Kollegiums zugunsten der päpstlichen Macht zurückzudrängen suchte. Diese Entwicklung führte nicht nur in den konfessionellen Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken, sondern auch innerkatholisch zu heftigen Diskussionen und zur Bildung der altkatholischen Nationalkirchen. Die Konversionserzählungen des 19. Jahrhunderts können auch als Stellungnahmen und Kommentare zu diesen Entwicklungen und Ereignissen gelesen werden. Als Adelige oder als Bürgerliche, als Schriftsteller/innen oder Künstler, als Beamte und Wissenschaftler aus verschiedenen Gebieten des deutschsprachigen „Europa[s] der Religionen“9 bezogen die Konvertiten und Konvertitinnen mit ihren Texten in einer konfessionell gespaltenen Gesellschaft Stellung und versuchten nicht nur die Gründe für ihre Konversion darzulegen, sondern häufig auch die Politik und die Maßnahmen des Vatikans zu rechtfertigen.
Schreibanlässe, Schreibmotive, zeitlicher und räumlicher Rahmen der beschriebenen Konversionsprozesse Konversionsberichte wurden oftmals kurz nach dem Übertritt veröffentlicht. Sie erschienen zum Teil im Jahr nach der Konversion, etwa bei Albert von Ruville (1909/1910), Friedrich Hurter (1844/1845), Georg Friedrich Daumer (1858/1859), Ida von Hahn-Hahn (1850/1851) und bei den Brüdern Reinhold und Hermann Baumstark (1869 und 1870/1870). Die Berichte über die Konversion des Ehepaars Volk erschienen vier bzw. sechs Jahre nach der Konversion 1855. Das deutet darauf hin, dass zum Teil sehr umfangreiches Material bereits während des Konversionsprozesses gesammelt und eine Veröffentlichung vorbereitet worden war. Andere, wie etwa Cordula Wöhler schrieben ihre Berichte erst am Lebensende, zum Teil auf Drängen anderer: „[…] daß es meiner ganzen Natur widerstrebe, ein Buch zu schreiben, in welchem meine Person selbstverständlich in den Vordergrund und mit ihrem tiefsten und stärksten Empfinden, ihrem Suchen und Sehnen, Ringen und Kämpfen, Lieben und Leiden an die Öffentlichkeit treten mußte, wurde mir stets – von Priestern wie von Laien – entgegen gehalten, daß ich diese Scheu überwinden und zum Opfer bringen müsse, indem ein Convertitenbild immer zur Ehre Gottes und zum Nutzen gar mancher suchenden Seele diene.“10
Wenn über die Schreibmotive in der Regel auch nicht viel zu erfahren ist, so kann vermutet werden: Je bekannter ein/e Konvertit/in als Wissenschaftler, Geistlicher oder Schriftsteller/in war, um so größer dürfte der Druck gewesen sein, sich zu rechtfertigen 9
FRIEDRICH WILHELM GRAF/KLAUS GROßE KRACHT, Einleitung: Religion und Gesellschaft im Europa des 20. Jahrhunderts, in: Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert. Hg. DIES. Köln usw. 2007 S. 1-41, hier 5. 10 CORDULA PEREGRINA (d. i. Cordula Wöhler), Aus Lebens Liebe, Lust und Leid, ein Pilgersang zur Abendzeit. Innsbruck 1898 S. VII f.
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und die Gründe für den Übertritt darzulegen. Die lokale, zum Teil auch die überregionale Öffentlichkeit, die Gemeinde, die Leserschaft, Verleger, Kollegen, Arbeitgeber, die Familie und andere Gruppen erwarteten eine Erklärung für die Konversion. In den Vorreden und Vorworten der Publikationen werden zum Teil Motive genannt, die als Wendepunkte und Grenzerlebnisse eingeführt werden. So nennt etwa Elisabeth Gnauck-Kühne den „religiösen Bankerott“ 11 und Ida von Hahn-Hahn den Tod Bystrams12, ihr „erster großer Schmerz, der einzig wahre Schmerz meines Lebens“, der ihr gezeigt hätte, dass Stolz und Selbstvertrauen nicht mehr trügen. Diese „Waffen“ taugten angesichts des Todes nichts mehr.13 Friedrich Daumer benennt indirekt als Motiv seine tiefe seelische Verzweiflung14, die den Übertritt beschleunigt hätte. Bei Friedrich Hurter tritt zur seelischen Verzweiflung eine Auseinandersetzung mit den kirchlich-politischen Ereignissen während seiner Antisteszeit als Beweggrund hinzu. In den Konversionserzählungen, die zum Teil auch explizit als „Erinnerungen“ betitelt wurden15, wurde das eigene Leben in eine sinnvolle Struktur gebracht. An das autobiographische Muster der Zeit angepasst, teils auch mit direktem Bezug auf Goethes Wilhelm Meister16, erstreckte sich der beschriebene zeitliche Rahmen meist von der eigenen Geburt, die mit einem Rückblick auf die Herkunftsfamilie verbunden wurde, bis hin zur Konversion. Die Erinnerungen, die diesbezüglich präsentiert wurden, setzten meist in der frühen Kindheit ein. In manchen der Konversionserzählungen begann der Text nicht nur mit der Beschreibung der eigenen Herkunftsfamilie, sondern führte auch weiter entfernte, aber katholische Teile der Familie mit ein, um so die eigene Person noch fester im Katholizismus verankern zu können.17 Andere, wie Cordula Wöhler, Friedrich Hurter und Ida von Hahn-Hahn betonten, im Herzen bereits vor der Konversion Katholiken gewesen zu sein: „Es kommt mir vor, als sei meine Seele von je her eine schlafende Katholikin gewesen“18, schrieb Ida von Hahn-Hahn. Zum Teil wurde bei der Beschreibung der Herkunft chronologisch sehr weit ausgeholt. Friedrich Hurter beschrieb die Geschichte seiner Vorfahren seit dem 15. Jahrhundert.19 11 ELISABETH GNAUCK-KÜHNE, Aufzeichnungen zum Glaubenswechsel, in: Digitale Quellenedition Konversionserzählungen, 21.08.2008. Online unter http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/konversionen/konversionserzaehlungen/ordner_gnauckkuehne/index.html [Stand 25.05.2011] o. S. 12 Adolf von Bystram war für viele Jahre ein enger Vertrauter und Begleiter von von Hahn-Hahn, bevor er am 25. Mai 1849 starb. 13 VON HAHN-HAHN, Babylon (wie Anm. 8) S. 30 f. 14 GEORG FRIEDRICH DAUMER, Meine Conversion. Ein Stück Seelen- und Zeitgeschichte. Mainz 1859 S. 11 f. 15 Z.B. Untertitel bei FRIEDRICH HURTER, Geburt und Wiedergeburt. Erinnerungen aus meinem Leben. Erstes Bändchen. Schaffhausen 1845. 16 DAUMER, Conversion (wie Anm. 14) S. 254. 17 So erwähnt Albert von Ruville katholische Familienangehörige. ALBERT VON RUVILLE: Zurück zur heiligen Kirche. Erlebnisse und Erkenntnisse eines Konvertiten. Berlin 1910 S. 23. Friedrich Hurter beginnt seine biographische Erzählung mit den vorreformatorischen Ahnen. HURTER, Geburt (wie Anm. 15) S. 7-21. 18 VON HAHN-HAHN, Babylon (wie Anm. 8) S. 12. Vgl. auch HURTER, Geburt (wie Anm. 15) S. 102; PEREGRINA, Lebens Liebe (wie Anm. 10) S. XII. 19 HURTER, Geburt (wie Anm. 15) S. 7-21.
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Wenn der zeitliche Rahmen grosso modo von der Geschichte der Eltern bis zur Gegenwart reichte, so wurde die eigene Geschichte in den Erzählungen doch ganz unterschiedlich eingeführt. Hurter etwa begann mit der Interpretation des Wappenspruchs seiner Familie20, Friedrich Georg Daumer wies in seinem Selbstverständnis als Wissenschaftler zunächst auf eigene, ältere Veröffentlichungen mit wissenschaftlichem Anspruch hin, bevor er auf die „Fülle von Erinnerung“ und die „Menge von Bildern, besonders aus [seiner] […] Jugend- und Kinderzeit“21 zu sprechen kam. Das Ende dieser Texte ist oft durch die Konversion und die unmittelbare Reaktion der Umwelt auf den Übertritt markiert. Die Zeit nach der Konversion wird häufig kaum oder gar nicht thematisiert. Wurde der Konversionsbericht erst posthum veröffentlicht, folgte gewöhnlich eine Ergänzung des autobiographischen Textes von anderer Hand bis zum Tod des Konvertiten/der Konvertitin. Der geographische und der politische Raum, in dem sich die Konversion vollzog, konnte ausführlich beschrieben werden, wie etwa in dem von Ida von Hahn-Hahn verfassten Text, der als Reisebericht angelegt worden war und die politischen Verhältnisse der 1840er Jahre in den besuchten Staaten kommentierte.22 Dabei wurden jeweils Erinnerungen an die Reisen und die Orte ausgewählt, denen im Konversionsprozess eine wichtige Rolle zugewiesen wurde. So hob Ida von Hahn-Hahn den Aufenthalt in Jerusalem 1843 und die Reise durch Irland im Hungerwinter 1846 hervor: „Da sah ich die Kirche wieder in ihrer Schönheit, in Armuth, Unterdrückung, Märtyrerthum – und in ihren Priestern heiligmäßige Männer, voll apostolischer Liebe und Barmherzigkeit. Diese Aufopferung, diese Treue, diese Hingebung ist nicht zu beschreiben und nicht zu vergessen.“23
Andere Konvertiten, wie Wilhelm Gustav Werner Volk, legten den Schwerpunkt auf das „innere Glaubensleben in den Entscheidungskämpfen“, auf „die geistigen Processe der Convertiten“.24 Auch wenn sich die Konversionserzählungen auf das Innere des Menschen konzentrierten und der Konversionsprozess als „ein Stück Seelengeschichte“ 25 geschrieben wurde, wiesen die Konvertiten doch auch in diesen Texten den Reisen „in den katholischen Süden“, nach München26, Österreich und Italien, wo intensive Begegnungen mit dem Katholizismus möglich waren, häufig große Bedeutung zu. Die Berührung mit der Welt des Katholizismus und die Erfahrungen, die mit Katholiken gemacht wurden, erhielten in diesen Texten einen hohen Stellenwert, während negative Erinnerungen und Gefühle gerne mit dem Protestantismus verbunden wurden. Die nüchternen Predigten, die verwirrende Meinungsvielfalt im Protestantismus, die fehlende emotionale
20 21 22 23 24 25 26
Ebd. S. 3-7. DAUMER, Conversion (wie Anm. 14) S. 23. VON HAHN-HAHN, Babylon (wie Anm. 8) S. 126-128, 174-176. Ebd. S. 176 und 128 (Aufenthalt in Jerusalem). Aus dem Leben einer Konvertitin (wie Anm. 5) S. 1. DAUMER, Conversion (wie Anm. 14). Auf der Hochzeitsreise nach München betrat Caroline Volk dort zum ersten Mal eine katholische Kirche; die Reise galt auch dem Besuch des Konvertiten-Ehepaars Georg und Charlotte Phillips. Aus dem Leben einer Konvertitin (wie Anm. 5) S. 47 f., 57, 75.
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Geborgenheit und die unzureichende Seelsorge wurden hier immer wieder erwähnt.27 Die positive Bedeutung der katholischen Mystik und der katholischen Kunst wurde unterstrichen und mit der Nüchternheit und Kälte der protestantischen Kirche kontrastiert. So strukturierte gerade die Abgrenzung des Katholizismus vom Protestantismus nicht nur den beschriebenen geographischen Raum, sondern auch den behandelten geistigen und geistlichen Raum der konkurrierenden christlichen Kirchen bzw. spezieller Milieus wie etwa der Görres-Gesellschaft. Während der Prozess der Konversion in diesen Texten meist sehr ausführlich beschrieben wurde, konnte die Darstellung des Aktes der Konversion ganz unterschiedlich ausfallen. Von der bloßen Nennung des Datums bis hin zur ausführlichen Beschreibung der Handlung und der beteiligten Personen gibt es vielfache Varianten. Immer wurde in diesen Texten der Übertritt eines Erwachsenen geschildert, der unter göttlicher Führung und aus freiem Willen die Konversion vornahm. Die ausführliche und gewissenhafte Selbstprüfung und Abwägung aller Für und Wider wurde dabei betont: „Glaube niemand, ich hätte mich, bestochen durch das Aeussere, verleiten, gleichsam bethören lassen, einzutreten in das Innere der katholischen Kirche.“28 Göttliche Fügung und eigener, aktiver Anteil an diesem Prozess konnten unterschiedlich gewichtet werden, sie gehörten jedoch untrennbar zusammen. Welche Ungerechtigkeiten, Bedrückungen und Diskriminierungen, welches unsichere Schicksal auch immer die Konversionswilligen erwartete, sie konnten letztlich von ihrem Weg nicht abgehalten werden. Je dunkler Krankheit, Verfolgungen, Vereinsamung sowie die schmerzhafte Erkenntnis, geschätzten und geliebten Menschen durch diese Entscheidung unsägliches Leid zuzufügen, geschildert wurden, umso heller erschien die Katharsis am Ende dieser Tragödie. „Ich war ein Thor gewesen und sah es ein an der Schwelle des Greisenalters, nachdem ich auf‘s Jämmerlichste mein Leben verpfuscht und, Irrlichtern und Scheinbildern nachjagend, in Nichts, als Sümpfe, Einöden und Wildnisse gerathen war“, formulierte der 1859 konvertierte Georg Friedrich Daumer.29 Der Punkt, an dem die Konversion nahe rückt, ist der, „wo mir endlich ein Licht zu dämmern und zu tagen begann“.30 Nicht alle formulierten diesen Weg so drastisch. Andere beschrieben ihre Konversion nüchtern, wie eine Versuchsanordnung, deren professionelle Auswertung den Übertritt zum Katholizismus als logische Konsequenz erforderte. Die Schreibenden eigneten sich ihre Geschichte an, indem sie ihre Konversion in das Kontinuum ihres Lebens einbetteten und sie dabei als zwingend notwendig beschrieben. Nahezu alle in der Vergangenheit liegenden Ereignisse, Erfahrungen und Empfindungen ließen sich im Rückblick als Wegweiser hin zum Katholizismus interpretieren.
27 VON HAHN-HAHN, Babylon (wie Anm. 8) S. 182; HURTER, Geburt (wie Anm. 15) S. 57 f.; DAUMER, Conversion (wie Anm. 14) S. 24; GNAUCK-KÜHNE (wie Anm. 11) o. S. 28 FRIEDRICH HURTER, Geburt und Wiedergeburt. Erinnerungen aus meinem Leben und Blicke auf die Kirche. Zweites Bändchen. Schaffhausen 1845 S. 31. 29 DAUMER, Conversion (wie Anm. 14) S. 11. 30 Ebd. S. 22.
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Legitimations- und Schreibstrategien Legitimiert wurden diese Texte in der Regel als Apologie gegenüber der verlassenen Religionsgemeinschaft, sie lassen sich aber auch als Rechtfertigung gegenüber dem Katholizismus lesen, da damit auch die unverbrüchliche Zugehörigkeit zur katholischen Kirche unter Beweis gestellt werden sollte. Gleichzeitig sind die meisten dieser Texte keine einseitige Abrechnung mit der alten Religionsgemeinschaft, sondern wollten von den Konvertiten als Brücke verstanden werden, die die vorherigen Glaubensbrüder nur betreten mussten, um das eigene Seelenheil zu retten. Um die Wahrhaftigkeit des Katholizismus zu unterstreichen, wurden berühmte Katholiken, berühmte Konvertiten, die Bibel, die Kirchenväter, aber auch klassische Autoren und zeitgenössische bekannte Schriftsteller und Wissenschaftler zitiert. Die Zugehörigkeit zu führenden politischen und katholischen Kreisen wurde gerne betont. Friedrich Hurter etwa erwähnte Begegnungen mit Bischöfen und Erzbischöfen, Äbten, Professoren, bekannten Konvertiten und mit regierenden Fürsten wie Metternich.31 Wilhelm Gustav Werner Volk verwies auf seine Kontakte zum Görres-Kreis, zu Clemens Brentano und auf seine Freundschaft mit dem Rechtshistoriker und Kirchenrechtler Georg Phillips. 32 Mit der Nennung dieser Personen rückten sich die Konvertiten nicht nur in die Nähe der politischen Macht und der katholischen Autoritäten, sondern zeigten auch andere Zugehörigkeiten als die zur Konfession an: die Zugehörigkeit zum Adel, zu Wissenschaftskreisen, zu Schriftsteller-Kreisen und zur politischen Elite.33 Diese Mehrfachzugehörigkeiten lassen sich oft schon an den gewählten Zitaten erkennen, die den Büchern und/oder einzelnen Kapiteln der Konversionserzählung vorangestellt wurden. So findet sich z.B. auf dem Schmutztitel von Daumers Konversionsschrift das Christus-Zitat „Richtet nicht nach dem Scheine, sondern richtet mit gerechtem Gericht“, aus dem Johannes-Evangelium 7,24. Auf der Rückseite des Schmutztitels folgt ein eigenes Gedicht „Ob zu den guten, zu den schlechten zähle […]“. Das erste Buch wird mit einem lateinischen Zitat des Kirchenvaters Lactantius eröffnet: „Primus sapientiae gradus est, falsa intellegere, secundus, vera cognoscere“34, dem auf der Rückseite ein Goethe-Vers folgt („Nun aber bricht aus jenen ewigen Gründen […]“). Zu Beginn des zweiten Buches wird ein Cicero-Zitat mit einem Shakespeare-Zitat kombiniert, im dritten wiederum werden ein Sprichwort des römischen Dichters Terentius („Quot homines, tot sententiae“35) und ein eigener Vers an den Anfang gestellt. Damit schrieb sich Daumer nicht nur in die katholische Theologie, sondern auch in die Welt der Gelehrten und der Dichter ein, indem er bereits auf der Ebene der einführenden Zitate Texte weltbekannter Autoren mit seinen eigenen Texten kombinierte. In den drei Büchern diskutierte er dabei nicht nur protestantische, katholische, jüdische und heidnische 31 HURTER, Geburt, (wie Anm. 28) S. 45-52. 32 Aus dem Leben einer Konvertitin (wie Anm. 5) S. 45, 52, 59, 75 f. 33 Diese relationalen Identitäten hat auch Gabriele Jancke für die von ihr untersuchten Autorinnen und Autoren der Frühen Neuzeit herausgestellt. Vgl. dazu GABRIELE JANCKE, Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Köln usw. 2002 S. 166-210. 34 Das Falsche einzusehen, ist der erste Schritt zur Wahrheit, das Richtige zu erkennen, ist der zweite. 35 Es gibt so viele Meinungen wie es Menschen gibt.
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Positionen, sondern zitierte auch ausgiebig aus den Schriften zeitgenössischer Philosophen, Historiker und bekannter Literaten, womit er seinen Anspruch als Universalgelehrter unterstrich. Als weitere Autorisierungsstrategie wurde der Wechsel zwischen normativer und autobiographischer Ebene eingesetzt. Die Textteile, die über die autobiographische Ebene hinausweisen, sind in der Regel weit umfangreicher und lassen nicht nur die propagierte Überlegenheit des Katholizismus, sondern auch die angestrebte Weltordnung, die kritisierten bzw. favorisierten Gesellschafts- und Geschlechterordnungen erkennen. Wenn auch generell die Kritik an den bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in diesen Texten zu finden ist, so zeugen nicht alle, wie gerne von den Protestanten unterstellt wurde, von reaktionären politischen Haltungen. Zwar wurden durchgehend die Vorteile der katholischen Kirche und der katholisch regierten Länder betont und die Zeit vor der Reformation idealisiert. Positive gesellschaftliche Entwicklungen wurden als katholische charakterisiert, negative als protestantische. Am Beispiel der Geschlechterordnung lässt sich aber zeigen, dass die zeitgenössische Geschlechterhierarchie dabei durchaus positiv, aber auch negativ interpretiert werden konnte. Die Konvertitin Cordula Wöhler unterstrich und akzeptierte die hierarchische Geschlechterordnung in ihren Texten. Auch Wilhelm Gustav Werner Volk kombinierte in der Beschreibung des Lebens seiner Frau Caroline Volk deren autobiographische Schriften mit seinen Kommentaren in einer Weise, dass diese Ehe wie ein Spiegelbild der damals herrschenden Norm erscheint. Die historischen Rückblicke, theologischen Erklärungen und Kommentare wurden vom Biographen eingefügt und ergänzten in paternalistischer Weise die niemals abgeschlossene Konversionserzählung seiner Frau, deren wenige Mußestunden aufgrund ihrer hausfraulichen Verpflichtungen nicht ausreichten, um die Aufzeichnungen zu beenden. Eingriffe und Auslassungen wurden von ihm mit der „Rücksicht auf noch lebende Personen“, mit den „historischen Lücken“ in der Konversionserzählung von Caroline Volk sowie „den ganz fehlenden oder nur unvollkommen angedeuteten Hinweisen auf den eigentlichen Glaubensstoff“ in ihrem Text begründet.36 Für die Authentizität der Passagen aus den autobiographischen Schriften von Caroline Volk, die er stets in Anführungszeichen setzen wollte, bürgte der Gatte ebenso wie für „die Wahrheit“ seiner Ergänzungen.37 Obwohl Gustav Werner Volk sich jahrelang wissenschaftlich mit dem Katholizismus auseinandergesetzt hatte, konvertierte er erst, nachdem sich seine Gattin, die sich als „ungelehrte Frau“ bezeichnet haben soll38, angesichts einer lebensbedrohenden Erkrankung zur Konversion entschlossen hatte, da sie „nicht protestantisch sterben“ wollte.39 Noch kurz vor ihrem Tod soll sie, nach Angaben ihres Biographen, die selbstlose und fürsorgliche Rolle gegenüber ihrem Mann und ihrer 1856 ebenfalls konvertierten Tochter betont haben: „Was wäret ihr beiden ohne mich, hätte ich nicht die Cholera bekommen. Es ist das einzige Mal, dass ich Euch zu Etwas gut gewesen bin […].“ 40 Konvertitinnen wie Ida von Hahn-Hahn oder Elisabeth Gnauck-Kühne kritisierten dagegen die hierarchische Geschlechterordnung scharf. Sie 36 37 38 39 40
Aus dem Leben einer Konvertitin (wie Anm. 5) S. 3 f. Ebd. Ebd. S. 87. Ebd. S. 111. Ebd. S. 192.
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charakterisierten diese Geschlechterordnung als lutherisch und setzten ihre Hoffnungen auf ein zukünftiges „katholisches“, gleichberechtigtes Geschlechtermodell, dessen Vorbild sie in den Frauenklöstern des Mittelalters gefunden zu haben glaubten. Ob Weltbilder, Nationen, Gesellschafts- und Geschlechterordnungen oder das eigene Leben thematisiert wurden: Das protestantische Gegenüber, so kann zugespitzt formuliert werden, schrieb immer mit. Die dialogische Struktur prägte die Konversionserzählungen des 19. Jahrhunderts. Zum Teil sind sie, auch hier älteren Mustern folgend, als Gespräche zwischen Protestanten und Katholiken angelegt.41 Eine Schriftstellerin wie Ida von Hahn-Hahn spricht den Leser direkt an.42 Aber auch wenn das Gegenüber nicht direkt adressiert wird, werden Argumente von Protestanten, Einwände, Vorwürfe und die Unterstellung außerreligiöser Motive für den Übertritt mitgedacht und Antworten auf im Text nicht formulierte Fragen gegeben: „Eine Wendung zur katholischen Kirche indessen ist durch den Verlust meiner Kinder nicht bewirkt worden. Solche Vermutungen sind irrig“43, schrieb etwa Albert von Ruville, ohne in der Erzählung seiner Konversion auch nur die Existenz oder den Tod eines seiner Kinder zu erwähnen. Der Dialog mit den Vertretern der ehemaligen Konfessionsgemeinschaft ist jedoch nur die eine Melodie, die sich durch die Texte zieht. Die Argumente und Erklärungen können auch auf eigene Angehörige, den Freundeskreis, die eigene Berufsgruppe oder die Leserschaft der früheren Werke zielen. So werden trotz aller Polemik gegen den Protestantismus oft die guten und edlen Charaktereigenschaften von Protestanten aus dem Bekanntenkreis sowie deren ernsthaftes Bemühen um den rechten Glauben unterstrichen. Der eigenen Eltern wird zum Teil auch dann noch in Liebe gedacht, wenn diese im Vorfeld und nach der Konversion drastische Maßnahmen ergriffen hatten, um die Konversion der Kinder zu verhindern oder zu bestrafen. So schrieb Cordula Wöhler etwa am Tag des Übertritts (2. Februar 1870): „sollte der b i t t e r s t e Abschied genommen werden, den ein liebend’ Kindesherz nur immer nehmen kann; ich nahm ja n i c h t d e n S e g e n der so heiß geliebten und dennoch – durch mein Vorhaben – bis z u m T o d b e t r ü b t e n und g e k r ä n k t e n E l t e r n mit mir, vielmehr klangen ihre Klagen, ihre Vorwürfe, ihre Beschwörungen, ihre Prophezeihungen bitt’rer Reue meinerseits und eines unglückseligen Loses für die Zeit und Ewigkeit noch in meiner Seele und in meinen Ohren wieder, als ich wie g e b r o c h e n über die heimathliche Schwelle schritt.“44
Historiker erläuterten in ihren Texten der gelehrten Welt ihre Sicht auf die europäische Geschichte seit der Reformation und konvertierte Wissenschaftler stellten den „objekti-
41 Siehe z.B: Katholizismus oder Darlegung der Gründe, die einen Protestanten bewogen, zur katholischen Kirche zurückzukehren. In drei Briefen von J. Probst. Speyer 1827. [Brief an einen fiktiven Freund]. 42 VON HAHN-HAHN, Babylon (wie Anm. 8) S. 41 f., 83, 145, 152, vor allem am Ende des Textes S. 244. 43 VON RUVILLE, Zurück zur heiligen Kirche (wie Anm. 17) S. 14. 44 PEREGRINA, Lebens Liebe (wie Anm. 10) S. XVII. Hervorhebungen im Original.
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ven Charakter“ des deutschen Wissenschaftsbetriebs in Frage.45 Die Meinung, dass die Geschichte seit der Reformation bis zur Gegenwart, wie sie an protestantischen Schulen und an den renommierten Lehrstühlen betrieben wurde, ein Ergebnis konsequenter und erfolgreicher Geschichtsfälschung sei, wurde nicht nur von Historikern und Wissenschaftlern vertreten, sondern taucht als Topos bei vielen Kindheits- und Schulerinnerungen von Konvertiten auf. Durch falsche Belehrung und irreführenden Unterricht fühlten sich die Konvertiten auf den falschen Weg geführt, so dass sie erst über den Umweg des Protestantismus zum wahren Glauben „zurückkehren“ konnten.46 Auf diesem Weg wurde wiederholt die Erinnerung an Begegnungen mit Katholiken bemüht und an die jeweiligen Gefühle, die mit diesen Begegnungen verbunden waren.47 Der Konversionsprozess wurde als unterschiedlich lang, oft beschwerlich und gefährlich und von Krisen begleitet beschrieben. Der Übertritt selbst, zum Teil ausführlich, zum Teil sehr knapp beschrieben, konnte, musste aber nicht als absoluter Höhepunkt des Lebens dargestellt werden. Das Motto „durch die Dunkelheit ans Licht“ charakterisiert jedoch viele dieser Texte, die mit der Konversion die Erlösung, die Seelenruhe und das Licht ans Ende des Berichts stellen. Fast nie wurden Zweifel und Unsicherheiten über die neue konfessionelle Zugehörigkeit erwähnt. Wenn von Problemen nach der Konversion die Rede war, dann von Bedrückungen, Schwierigkeiten und den Ängsten, die durch existentielle Probleme nach der Konversion, durch die Abwendung von Nahestehenden und die Häme der Protestanten verursacht wurden. Dabei fanden die meisten der hier vorgestellten katholischen Konvertiten neue Arbeitsfelder und zum Teil gelang es ihnen sogar, die konfessionelle Spaltung der Familie zu überwinden, indem auch Familienangehörige zur Konversion bewegt werden konnten. So wechselte Friedrich Hurter nach Österreich, wo er als Hofhistoriograph angestellt wurde, seine engeren Familienmitglieder konvertierten bis auf einen Sohn zum Katholizismus. Ida von Hahn-Hahn fand in der eigenen Familie zum Teil Zustimmung, ein Bruder konvertierte 1858 mit seiner Frau ebenfalls. Die Konversion tat dem Verkauf ihrer Werke offensichtlich keinen Abbruch. Volk verlor nach der Konversion zwar seinen Posten, konnte sich aber als Schriftsteller etablieren. Friedrich Daumers Situation war und blieb auch nach der Konversion prekär. Cordula Wöhler fand, wenn auch nicht im bürgerlichen Sinne, ihren Lebensunterhalt, bezahlte allerdings die Konversion mit dem vollständigen Bruch mit der Familie. Die Reaktionen der Umwelt wurden in den Konversionsberichten erstaunlich wenig thematisiert, es finden sich dazu eher Andeutungen. Hier müssen meist andere Quellen herangezogen werden wie Korrespondenzen, Rezensionen und Gegenschriften.
45 Vgl. dazu etwa ALBERT VON RUVILLE, Der Goldgrund der Weltgeschichte. Zur Wiedergeburt katholischer Geschichtsschreibung. Freiburg 1912. 46 VON HAHN-HAHN, Babylon (wie Anm. 8) S. 12 f.; HURTER, Geburt (wie Anm. 15) S. 55-64; DAUMER, Conversion (wie Anm. 14) S. 24. 47 Hurter beschreibt ausführlich seinen Aufenthalt im Kloster St. Blasien, HURTER, Geburt (wie Anm. 15) S. 149-165. Er schildert auch ausführlich die Begegnungen auf seiner ausgedehnten Italienreise, FRIEDRICH HURTER, Geburt und Wiedergeburt. Erinnerungen aus Italien. 3. Bändchen. Schaffhausen 1845 S. 36-45, 50-54, 339-378.
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Die Instrumentalisierung der Konversionsberichte für die Selbstdarstellung der katholischen Kirche Selbstzeugnisse der katholischen Konvertiten wurden im 19. Jahrhundert systematisch gesammelt und mit biographischen Ergänzungen versehen. 48 In den publizierten Konvertitenanthologien sind autobiographische und biographische Abschnitte eng miteinander verknüpft worden. Es entstand eine Art „katholische Familienbiographie“. Über deren Zusammensetzung entschieden allerdings nicht mehr die Konvertiten und Konvertitinnen, sondern Bischöfe, katholische Verleger und Herausgeber. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden so biographische Sammlungen, in denen von der Reformationszeit bis zur Gegenwart das Bild einer wachsenden katholischen Gemeinschaft entstand, in der die Konvertiten eine Vorbildfunktion zugewiesen bekamen. Die Aufgabe der Konvertiten wurde darin gesehen, die Katholiken in ihrem Glauben zu bestärken und den Nichtkatholiken mit diesen Texten und Bekenntnissen den Weg „zurück zur heiligen Kirche“ zu weisen. Von Biographen wurde die in den verschiedenen Konversionserzählungen erwähnte Beschäftigung mit Texten über Bekehrungserlebnisse und Konversionen von Augustinus bis zur jeweiligen Gegenwart stringent zu einer Argumentationslinie verdichtet, die in zahlreichen Varianten immer wieder ein Motiv in den Vordergrund rückte: Die „Rückkehr“ der Evangelischen „zur heiligen Kirche“. Auf diese Weise wurden die vorgestellten individuellen Konversionen als Teil einer kollektiven Bewegung dargestellt, die nicht notwendigerweise zur Voraussetzung hatte, dass die Konvertiten miteinander kommunizierten.49 Während die Konvertiten in ihren Selbstzeugnissen persönlich bekannte Konvertiten namentlich benannten oder auf Konvertiten eingingen, deren Übertritt sie beeindruckt hatte, wurde in Darstellungen zur katholischen Kirche und zu den Konversionen nun ein Kanon „hervorragender Übertritte“ festgelegt, an den immer wieder in nur wenig voneinander abweichenden Varianten erinnert wurde. So wurden 1841 in einer aus dem Französischen übersetzten und als Gespräch konzipierten Konversionserzählung 77 „der vorzüglichsten Bekehrungen seit dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts“ vorgestellt.50 Bereits eine Dekade zuvor hatte Friedrich W. Ph. v. Ammon eine „Gallerie der denkwürdigsten Personen, welche im XVI., XVII. und XVIII. Jahrhunderte von der evangelischen zur katholischen Kirche übergetreten sind“, zusammengestellt. 51 1844 48 Derartig ambitionierte protestantische Anthologien wurden im 19. Jahrhundert nicht aufgelegt. Wie stark dies als Defizit von den Protestanten empfunden wurde, zeigt ERNST KOCHS, Übertritte aus der römisch-katholischen zur evangelischen Kirche in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. Leipzig 1903. 49 Vgl. auch EDITH SAURER, Romantische Konvertitinnen. Religion und Identität in der Wiener Romantik, in: Paradoxien der Romantik. Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in Wien im frühen 19. Jahrhundert. Hg. CHRISTIAN ASPALTER. Wien 2006 S. 229-255, hier 239. 50 Freundschaftliche Gespräche eines zur katholischen Kirche übergetretenen protestantischen Geistlichen mit einem seiner frühen Glaubensgenossen, einer Biographie des Verfassers, und einem Verzeichniß der vorzüglichsten Bekehrungen seit dem Anfang des XIX. Jahrhunderts / von Abbé Esslinger. Solothurn 1841 S. 388-406. 51 FRIEDRICH WILHELM PHILIPP VON AMMON, Gallerie der denkwürdigsten Personen, welche im XVI., XVII. und XVIII. Jahrhunderte von der evangelischen zur katholischen Kirche übergetreten
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wurde eine in Frankreich zusammengetragene Sammlung von Konversionen unter dem Titel „Uebersichtliche Darstellung der wichtigsten Bekehrungen zur katholischen Kirche, welche unter den Protestanten und andern Religionsangehörigen seit dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts stattgefunden haben“, ins Deutsche übertragen.52 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfasste Andreas Räß, damals Bischof von Straßburg 53 , eine auf intensiven Quellenrecherchen basierende dreizehnbändige „Geschichte der Convertiten seit der Reformation nach ihrem Leben und aus ihren Schriften dargestellt“.54 Räß war durch sein Studium von kirchlichen und theologischen Traditionen des vorrevolutionären Frankreich geprägt. Er sprach deutsch und französisch, ließ viel aus dem Französischen übersetzen und vermittelte in großem Stil katholische theologische und erbauliche Literatur vom französischen in den deutschen Sprachraum. Für diese Aktivitäten erhielt er 1822 den theologischen Ehrendoktor der Universität Würzburg.55 Seine Konvertitengeschichte enthält ca. 400 Beispiele für Konversionen zum Katholizismus von Männern und Frauen aus mehreren europäischen Ländern seit der Reformation bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. F. Janner betonte im Vorwort zum Registerband, dass die Sammlung von Räß auf gründlichen Quellenrecherchen basiere und „ein wahres Arsenal für die Apologetik, eine Rüstkammer für die Behandlung der katholischen Lehren“ biete.56 Räß stellte seine Herausgebertätigkeit in die Traditionslinie der Gegenreformation, um vorrangig „mit den Waffen der Wissenschaft […] die vorgefaßten Ansichten der Gegner zu vernichten, ihre Trugschlüsse an’s Licht zu ziehen und ihrer Unwahrhaftigkeit die Larve abzureißen.“ 57 Er wies darauf hin, dass die Konvertitenbiographien dazu geeignet wären, den Leser „auf einen höheren Punkt der historischen Betrachtung zu erheben […] und […] einzuführen in das tiefere Verständnis
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sind. Erlangen 1833. Von Ammon (1791-1855) war Professor der Theologie und Stadtpfarrer in Erlangen. Vgl. JOHANNES WISCHMEYER, Friedrich Wilhelm Philipp von Ammon, in: Biographisch-Bib- liographisches Kirchenlexikon Bd. XXVI. 2006 Sp. 25-31. Uebersichtliche Darstellung der wichtigsten Bekehrungen zur katholischen Kirche, welche unter den Protestanten und andern Religionsangehörigen seit dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts stattgefunden haben, größtentheils nach Abbé Rohrbacher für Deutsche bearbeitet und mit den neuern Bekehrungsfällen und andern Zugaben bereichert, erster Theil. Schaffhausen. 1844. Die Darstellung erschien zum ersten Mal 1827 unter dem Titel Tableau général des principales conversions qui ont eu lieu parmi les protestants, depuis le commencement du dix-neuvième siècle. Die zweite Auflage erschien in Frankreich 1841. René François Rohrbacher (1789-1856) war katholischer Theologe und Verfasser einer 29-bändigen Kirchengeschichte 1841-49, vgl. JOSEF THEODOR RATH, René François Rohrbacher, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Bd. VIII. 1994 Sp. 608-609. Geboren 1794 im elsässischen Sigolsheim, wurde Räß nach einer erfolgreichen Laufbahn als Theologe 1842 Bischof von Straßburg. Er engagierte sich für eine Erneuerung streng katholisch-kirchlichen Denkens in Deutschland, gründete zusammen mit N. v. Weis die Zeitschrift Der Katholik (1821) und publizierte über 160 Schriften und Übersetzungen. ANDREAS RÄß, Die Convertiten seit der Reformation nach ihrem Leben und aus ihren Schriften dargestellt, 13 Bde., 1 Registerband. Freiburg im Breisgau 1866-1880. ERWIN GATZ, Räß, Andreas, in: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803-1945. Ein biographisches Lexikon, Hg. DERS. Berlin 1983 S. 584-590, hier 584. F. JANNER, Vorwort, in: RÄß, Convertiten (wie Anm. 54), Personen- und Sachregister zu den zehn Bänden der „Convertiten“. Freiburg im Breisgau 1872 S. V-VI. Die folgenden Zitate aus: ANDREAS RÄß, Einleitung, in: DERS., Convertiten (wie Anm. 54) Bd. 1: Vom Anfang der Reformation bis 1566. Freiburg im Breisgau 1866 S. VII-XVI, hier S. VII.
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des Geistes, welcher in der Geschichte waltet.“58 Als wichtigste Quelle dienten Räß nach eigenen Angaben dabei die autobiographischen Texte der Konvertiten, die „unter der Benützung der besten Quellen“ durch biographische Angaben von ihm ergänzt wurden. Um dem Vorwurf der Parteilichkeit zu entgehen, wurden auch die „Zeugnisse der Gegner über den Character der Convertiten“ gesammelt und eingearbeitet.59 Dabei unterstrich Räß den authentischen Charakter seiner Darstellung, in der die Konvertiten dem Leser immer wieder in eigenen Worten entgegentraten. 1884 wurden unter Auswertung dieser Räßschen Sammlung und der „Uebersichtlichen Darstellung“ im Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon, das im Herder-Verlag in Freiburg erschien, die bekanntesten europäischen Adeligen, Gelehrten und Künstler sowie summarisch die nordamerikanischen Konvertiten wie Perlen auf einer Reihe vorgeführt.60 In den katholischen Nachschlagewerken wurden nun regelhaft über den französischen und deutschen Sprachraum hinaus außereuropäische Regionen mit in die Darstellungen einbezogen, um so die Weltgeltung und den Monopol-Anspruch der katholischen Kirche zu unterstreichen. Etwa zu derselben Zeit wie Räß hatte sich auch der vom Judentum zum Katholizismus übergetretene Arzt David August Rosenthal zum Ziel gesetzt, eine Geschichte der Konvertiten des 19. Jahrhunderts auf der Basis von Quellen, ebenfalls vorzugsweise Selbstzeugnissen, zu schreiben, von der drei Bände erschienen sind. 61 Der Breslauer Arzt konzentrierte sich zunächst auf Konversionen in Deutschland, um in zwei weiteren Bänden seine Sammlung auf Konversionen in England, Frankreich, Amerika und Russland zu erweitern. Rosenthal verstand sein Werk, in dem er mehr als 650 Konversionen behandelte, als Fortsetzung der Anthologie von Andreas Räß und reihte es in die Entwicklung der biobibliographischen Sammlungen und Enzyklopädien ein. Als ehemaliges Mitglied einer religiösen Minderheit zeigt er einen scharfen Blick für die Ausgrenzungsmechanismen in der Wissenschaft gegenüber Katholiken und Konvertiten: „Fast alle größeren und kleineren litteraturhistorischen und biographischen Sammelwerke und Encyclopädien sind von Protestanten redigirt und herausgegeben; da kann man sich leicht denken, in welcher Art über verschiedene Katholiken, wenn sie überhaupt Aufnahme finden, berichtet wird, zumal über Konvertiten.“62 Rosenthal wies zu Recht darauf hin, dass nicht nur die Konversionserzählungen von der Konkurrenzsituation zwischen Protestantismus und Katholizismus geprägt waren, sondern dass in den bekanntesten Lexika, die in protestantischen Verlagen erschienen,
58 Ebd. S. VIII. 59 Ebd. S. IX f. 60 GRUBE, Art. Convertiten, in: Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon oder Encyclopädie der katholischen Theologie und ihrer Hülfswissenschaften. 12 Bde. Freiburg i. Breisgau 1884, Bd. 3, 2. Aufl. S. 1053-1076. 61 DAVID AUGUST ROSENTHAL, Convertitenbilder aus dem 19. Jahrhundert. Band 1, Abt. 1-3 Deutschland. Schaffhausen 1866-1870. Band 2 England. Schaffhausen 1867. Band 3 Frankreich/Amerika /Rußland. Schaffhausen 1869. Die zweite Auflage der Convertitenbilder zu Deutschland erschien 1871-1872. – DAVID AUGUST ROSENTHAL, Konvertitenbilder aus dem neunzehnten Jahrhundert. 3. Aufl. Regensburg 1889-1902. 62 ROSENTHAL, Vorwort, in: Convertitenbilder. (wie Anm. 61) Bd. 1 S. VIII.
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Konversionen zum Katholizismus nicht neutral behandelt wurden.63 Während im Zedler von 1733 noch zu lesen war: „Conversus wird genennet der, so von einer Religion zu der andern öffentl[ich] getretten ist“64, so findet sich in den Lexikon-Einträgen seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine klare anti-katholische Position. Der katholische Klerus wurde der „Proselytenmacherei“ beschuldigt, und es wurde verbreitet, dass die Konvertiten bei ihrem Übertritt „ihren bisherigen Glauben verfluchen und ihre verlassene Kirche verdammen“ müssten. 65 Dieser Punkt erregte in der Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts immer wieder großes Aufsehen. Im Brockhaus von 1852 liest sich das dann so: Seit der Reformation sei „eine Galerie höchst ausgezeichneter Männer und Frauen“ zum Katholizismus konvertiert, „die theils durch Würde und Rang, theils durch Geist und Talent oder Schicksale hervorragten.“ Weiter wurde festgehalten: „Außer einer nicht geringen Zahl besonders von Künstlern und Dichtern, aber auch von Staatsmännern und Gelehrten […] zählte […] [die katholische Kirche] auch 77 deutsche regierende Herren und ehemaligen Reichsfürsten und Reichsgrafen unter ihren Convertiten, deren Häuser aber, bis auf wenige, erloschen sind.“ Als Ursache für diese Entwicklung, die in der hier vorgestellten Lesart herrschenden Häusern offensichtlich nicht viel Glück gebracht haben konnte, wird der „allgemeine Geist der Reaction, welche der Aufregung von 1848 gefolgt ist, und die von den Jesuitenmissionen trefflich benutzt wird“, genannt. Und abschließend wird noch hinzugefügt: „Gemäß ihrem ausschließenden Charakter verlangt die kath. Kirche von ihren C[onvertiten] einen förmlichen Absageeid […] und, trotz wiederholter Ableugnung von Seiten der Katholiken, eine förmliche Verwünschung der verlassenen Glaubensgenossen. In der protest. Kirche genügt die durch eine Prüfung des Glaubens bewahrheitete Erklärung, dass man die Absicht habe, überzutreten und der Genuß des Abendmahls in der protest. Gemeinde.“ 66 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts initiierte Friedrich Beetz, Direktor des Erzbischöflichen Priesterhauses in Weiterdingen (Baden), eine Kompilation ausgewählter Konvertitenbiographien aus den Werken von Räß und Rosenthal.67 Geplant waren wohl zunächst 30
63 Wie Verlage im Kaiserreich den „Konfessionalismus bestärkt und die Gräben zwischen katholischer und protestantischer Kirche vertieft“ haben, siehe GANGOLF HÜBINGER/HELEN MÜLLER, Politische, konfessionelle und weltanschauliche Verlage im Kaiserreich, in: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert 1,1: Das Kaiserreich 1871-1918. Hg. im Auftr. des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels hg. von der Historischen Kommission. Frankfurt a. M. 2001 S. 347-405, zit. 347. 64 Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Hg. JOHANN HEINRICH ZEDLER. Halle usw. 1732-1754 Bd. 6, Sp. 1172. Die Verleugnung und Abschwörung gehörten in der Frühen Neuzeit auch zur Konversion, wurden hier aber in einem anderen Artikel behandelt: „Religions-Veränderung“, Bd. 31, Sp. 523. 65 Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge. Hg. v. J. S. ERSCH und J. G. GRUBER. Neunzehnter Theil. Leipzig 1829 S. 226 f. 66 Brockhaus, 4. Bd., 10. Aufl. Leipzig 1852 S. 395 f. 67 FRIEDRICH BEETZ, Klare Köpfe. Charakterzeichnungen deutscher Protestanten, die katholisch geworden sind. Nach den Konvertitenbildern von Räss und Rosenthal. Aachen 1903. Friedrich Beetz (1846-1919) war erzbischöflich geistlicher Rat und theologischer Schriftsteller, der Betrachtungsbücher für Erwachsene, Unterrichtsbücher für Kinder, Aufsätze in Zeitschriften und in der Tagespresse veröffentlichte. Vgl. Necrologium Friburgense. Verzeichnis der Priester, welche im ersten
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Hefte, die je drei Konvertitenbilder enthalten sollten. Der Verlag kündigte an: „Um auch die Massenverbreitung einzelner, dazu besonders geeignet erscheinender Biographien als Flugblätter zu ermöglichen, liefere ich solche das Tausend für 15 Mark“.68 Die Ordnung der Konvertiten war weder chronologisch noch alphabetisch angelegt.69 Klares Ziel war eine weitere Verbreitung der Konvertitenbilder durch die Aufteilung der umfangreichen Dokumentationen von Räß und Rosenthal in leserfreundlichere Portionen.70 Hinsichtlich ihres Umfangs sind Räß’ Werk und die Sammlung von Rosenthal bis heute nicht nur in der katholischen Kirchengeschichtsschreibung unerreicht geblieben. Diese Sammlungen können wie die einzelnen Konversionsberichte des langen 19. Jahrhunderts aus der jeweiligen Sammel- beziehungsweise Schreibsituation heraus interpretiert werden und als Zeugnisse für das 19. Jahrhundert gelesen werden. Welche Wirkung und Anziehungskraft die katholischen Konversionserzählungen entfalteten, lässt sich nicht zuletzt daran ersehen, dass ein protestantischer Theologe, Ernst Kochs, 1903 eine wissenschaftlichen Anspruch erhebende Schrift über die „Übertritte aus der römisch-katholischen zur evangelischen Kirche in Deutschland während des 19. Jahrhunderts“ verfasste, die explizit als Gegenentwurf zu der Rosenthalschen Sammlung konzipiert war. 71 Kochs wies in seiner Einleitung darauf hin, dass es die katholische Kirche verstanden habe, „sich als Hort der […] wahren lebendigen Religiosität und […] als die einzige feste Autorität gegenüber allen politischen Revolutionen“ zu empfehlen.72 Bereits Jahrzehnte zuvor hatte der evangelische Kirchenhistoriker Friedrich Nippold die Erfolge der katholischen Propaganda den Jesuiten und der Welle der katholischen Klosterreaktivierungen zugeschrieben und den Konvertiten pauschal eine „Verbitterung gegen die Gegenwart“ bescheinigt.73 Die Anziehungskraft dieser erbaulichen Konversionserzählungen, die in hohen Auflagen, zum Teil auch in Volksausgaben publiziert wurden74, und immer wieder an die
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Semisaeculum des Bestandes der Erzdiözese Freiburg im Gebiete und Dienste derselben verstorben sind. 1827 ff. S. 240-242. BEETZ: Klare Köpfe (wie Anm. 67). Der Text findet sich auf der hinteren, inneren Umschlagsseite. Die „Klaren Köpfe“ sind auch als Einzelhefte verkauft worden, jeder Band à 10 Hefte, d.h. 30 Konvertitenskizzen pro Heft. Der Heftpreis betrug 25 Pfennige; Preis eines Bandes: 2,50 Mark. Ebd. S. 100. Die umfangreichen Bände von Räß wurden pro Stück für 2 Thlr. 2 sgr [Silbergroschen] angeboten, der einzelne Band der dritten Auflage von Rosenthals „Konvertitenbilder“ kostete 6 Mark 30 Pfennige. Preise für die Räß-Sammlung stammen aus einer Anzeige in: REINHOLD BAUMSTARK/ HERMANN BAUMSTARK: Unsere Wege zur katholischen Kirche. Freiburg im Breisgau 1870. Die Preise für die Rosenthal-Sammlung, in: CHRISTIAN GOTTLOB KAYSER, Bücher-Lexikon. Bd. 20. Graz 1962 (Leipzig 1877) S. 354. KOCHS, Übertritte (wie Anm. 48) S. 3 f. Ebd. S. 13. FRIEDRICH NIPPOLD, Welche Wege führen nach Rom. Geschichtliche Beleuchtung der römischen Illusion über die Erfolge der Propaganda. Heidelberg 1869 S. 428. – DERS., Die Confessionswechsel in unserem Jahrhundert, in: Protestantische Monatsblätter für innere Zeitgeschichte 27/1. 1866 S. 333-377. Geburt und Wiedergeburt von Friedrich Hurter erlebte eine zweite Auflage 1847 als zweibändige Ausgabe, 1867 eine vierte Auflage, ebenfalls in zwei Bänden. Von Babylon nach Jerusalem von Ida Gräfin Hahn-Hahn erschien 1851 bereits in zweiter Auflage, dann als Bd. 31 einer Ausgabe „Gesammelte Werke“. Regensburg 1904. Innerhalb der Sammlung Deutsche Literatur von Frauen von
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Namen der bekannten Konvertiten wie Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1800), Friedrich von Schlegel (1808), Luise Hensel (1818), Ludwig von Haller (1820), Friedrich Hurter (1844) u.a. erinnerten, hat Kochs nicht von ungefähr in den Vordergrund gestellt. Denn die Rezeption dieser stetig in Erinnerung gerufenen Konversionserzählungen bekannter Konvertiten lässt sich in Akten unbekannter Konvertiten wiederfinden, in denen zum einen die Muster dieser Texte in der Rechtfertigung vor dem Magistrat, dem Pfarrer oder ihrer Familie aufscheinen und zum anderen deutlich wird, dass auch weniger gebildete Konversionswillige mit den Prämissen der kirchenrechtlichen Anerkennung von religiösen Konversionen vertraut waren.
Fazit Die autobiographischen Konversionsberichte können als Beleg für Mehrfachzugehörigkeiten der Konvertiten und als Quelle für die konfessionellen Differenzen des 19. Jahrhunderts gelesen werden. In diesen Texten schrieben sich die Konvertiten nicht nur in die katholische Gemeinschaft ein, sondern sie legten ebenso Zeugnis über ihre politischen Einstellungen, ihre gesellschaftlichen und beruflichen Ambitionen ab und ermöglichten damit der Leserschaft oft auch Einblicke in ihre beruflichen und sozialen Netzwerke und in ihre Vorstellungen wünschenswerter Welt-, Gesellschafts- und Geschlechterordnungen. Im Schreiben verbanden die Konvertiten das Suchen mit dem Erinnern und bestätigten ihre Zugehörigkeit zur neuen Religionsgemeinschaft durch die Abgrenzung von der, die sie verlassen hatten. Schreibend stellten die Konvertiten ihrer Leserschaft Teile ihrer persönlichen Geschichte vor und erinnerten dabei an die Geschichte, Normen und Werte ihrer Familie, ihres Standes, ihres Landes, ihrer Berufsgruppe und den Lauf der Weltgeschichte. Diese autobiographischen Konversionsberichte bildeten wiederum die Basis für biographische Darstellungen, die in die Geschichte des Katholizismus eingewoben wurden. Passagen der autobiographischen Texte wurden dort mit biographischen Informationen zu den Konvertiten und verschiedenen Paratexten kombiniert und so in Broschüren, Büchern, Zeitungen und Zeitschriften publiziert. Mit der Publikation von Anthologien Catharina von Greiffenberg bis Franziska von Reventlow. Hg. MARK LEHMSTEDT. Digitale Bibliothek 45. 2001 in einer auf 115 Seiten gekürzten Ausgabe. Der Konversionsbericht von Albert von Ruville erreichte im Erscheinungsjahr 1910 bereits 28 Auflagen und 1916 (Bonn) eine weitere Titelauflage. Zu Ruvilles Buch erschienen 1910 gleich zwei protestantische Antworten: Ein bestechender Irrtum und sein Opfer! des zum Katholizismus übergetretenen Universitäts-Professors Dr. v. Ruville Buch: „Zurück zur heiligen Kirche“ mit einem heiteren und einem tränenden Auge betrachtet von HERMANN KLINGEBEIL. Leipzig 1910. – Vorwärts zum Glauben! eine evangelische Antwort auf die Schrift des Herrn Ruville „Zurück zur heiligen Kirche“ von JOHANNES MEINHOF. Berlin 1910 (Meinhof war Pastor und Superintendent in Halle/Saale). Rosenthals Convertitenbilder des ersten Bandes (3 Teile) Deutschland wurden insgesamt dreimal aufgelegt, wobei die dritte Auflage nach Rosenthals Tod (1875) in den Jahren 1889, 1892 und 1901 erschien, ergänzt um zwei Supplementbände. Bei den protestantischen Konvertiten gab es ein vergleichbar hohes Interesse, das sich in mehreren Auflagen der Schriften manifestierte. Vgl. etwa PAUL GRAF VON HOENSBROECH, Mein Austritt aus dem Jesuitenorden. Berlin 1893 erreichte im gleichen Jahr sechs Auflagen, 1902 wurde das 9. u. 10. Tsd., 1910 das 11. Tds. gedruckt.
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und den immer wiederkehrenden Aufzählungen bekannter Konvertiten, die bis in die Universallexika hineinreichten, wurde ein Erinnerungskartell der Katholiken aufgebaut, in das die Lebens- und Bekehrungsgeschichten der Konvertiten als Gradmesser für die „Wahrheit“ und die Weltgeltung des Katholizismus eingeschrieben wurden. In diesen Texten der ecclesia triumphans wurde der Raum für andere Zugehörigkeiten ausgespart, den die Selbstzeugnisse der Konvertiten ursprünglich durchaus thematisierten. Hier standen die Konversionsberichte in ihrer Exemplum-Funktion für die „hervorragenden Übertritte“. In den konfessionellen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts, die in der „Vielfalt der Moderne“ 75 ein Charakteristikum darstellen, kam diesen Texten eine wichtige Rolle zu.
75 SHMUEL EISENSTADT, Die Vielfalt der Moderne. Weilerswist 2000.
PETRA BUCHHOLZ
Schreiben tut weh Die Erinnerungen der Chinaheimkehrer an den Vernichtungskrieg
Einleitung Warum tut Schreiben weh? Dass Erinnern weh tun kann, ist bekannt, man spricht von schmerzlichen oder schmerzhaften Erinnerungen. Wenn solche Erinnerungen erzählt werden, geschieht dies oft in der Form von Aposiopesen, also einem bewussten Abbruch der Erzählung. Erzähler und Erzählerinnen signalisieren emotionale Überwältigung, sie können und möchten nicht deutlicher werden. Wenn es anfängt, weh zu tun, wird die Erzählung abgebrochen, und die Zuhörenden signalisieren dann zumeist, dass sie schon verstanden haben, und das Schmerzhafte nicht weiter ausgeführt zu werden braucht. Wenn es ums Töten und Sterben geht, ist diese Erzählfigur besonders aus der Oral history wohlbekannt1, aber auch in schriftlichen Selbstzeugnissen sind solche Auslassungen nicht selten zu finden. Man kann sich auch beim Schreiben vage ausdrücken, mit Andeutungen arbeiten und schmerzhafte Passagen übergehen. Diejenigen, die so ein Selbstzeugnis lesen, sind oft eher froh darüber. In den schriftlichen Erinnerungen der Chinaheimkehrer2 an den Vernichtungskrieg gibt es keine Auslassungen, alles wird in grausamer Deutlichkeit benannt. Die Verfasser haben sich zur genauen Formulierung ihrer Erinnerung gezwungen, um das Geschehen sowohl für sich selbst als auch für die Leserschaft sichtbar und nachvollziehbar zu machen. Erinnerung besteht aus Bildern, Geräuschen, Gerüchen oder Gefühlen; die Formulierung mit Worten ist genauer, sie geht tiefer und zwingt zu einer Auseinandersetzung, die man ohne genaue Formulierung vermeiden kann. Es ist dieser Formulierungsprozess, der dem Schreibenden weh tut, und es ist das dadurch erzeugte Nachempfinden, das nicht nur ihm sondern auch denjenigen, die es lesen, weh tut. Ich werde in meinem Beitrag zunächst auf die Seite der Schreibenden eingehen: Wie sind sie dazu gekommen, ihre eigenen Verbrechen so schonungslos zu beschreiben und in welcher Situation haben sie diese Selbstzeugnisse verfasst? Anhand eines Auszugs aus Mikami Takashis Mutprobe werde ich sodann fragen, wie der Verfasser seine eigene Per1 2
Vgl. LUDGER TEKAMPE, Kriegserzählungen. Eine Studie zur erzählerischen Vergegenwärtigung des Zweiten Weltkrieges. Mainz 1989 S. 115 ff. Nach intensiver Recherche konnten 276 Selbstzeugnisse, die von den ausschließlich männlichen Chinaheimkehrern veröffentlicht wurden, erschlossen werden. Es handelt sich überwiegend um Aufsätze, die in Sammelbänden oder Zeitschriften abgedruckt wurden, 32 Selbstzeugnisse sind Bücher im Umfang von mehreren hundert Seiten, drei davon zweibändig. Die Quellenbibliographie ist abgedruckt in: PETRA BUCHHOLZ, Vom Teufel zum Menschen. Die Geschichte der Chinaheimkehrer in Selbstzeugnissen. München 2010 S. 362-392; für diesen Band wurde eine Auswahl von sechzehn Sebstzeugnissen übersetzt, aus denen im Folgenden mehrfach zitiert wird.
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son schildert. In einem zweiten Schwerpunkt werde ich eine in diesem, aber auch in vielen anderen Selbstzeugnissen aus demselben Fundus besonders auffällige Erzählfigur untersuchen: Immer wieder erinnern die damaligen Täter sich an die zornigen Augen ihrer Opfer. Woran liegt es, dass dieser Blick der wehrlosen Opfer auf den Täter so furchterregend wirkte? Zum Abschluss werde ich den Platz, den das Schreiben der Chinaheimkehrer in der japanischen Erinnerungslandschaft einnimmt, näher beleuchten. Wovon fühlt der Leser sich provoziert, welche Sagbarkeitsregeln werden verletzt? Schließlich werde ich fragen, warum in Japan das schmerzhafte Schreiben über den Krieg so lange anhält, und die Erinnerung daran bis heute so umkämpft geblieben ist. Zuvor soll jedoch kurz erläutert werden, wie die drei Stichworte Chinaheimkehrer, Kriegsverbrechen und Vernichtungsstrategie in diesem Zusammenhang zu verstehen sind. Chinaheimkehrer: Es handelt sich hier keineswegs um alle japanischen Soldaten oder Siedler, die nach der Niederlage 1945 aus China nach Japan zurückkehrten. Chinaheimkehrer (Chūgoku kikansha) ist die Selbstbezeichnung einer bestimmten Gruppe von Spätheimkehrern, die rund eintausend Personen, bzw. genauer gesagt: Männer umfasste. Sie hatten zunächst fünf Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft verbracht und waren 1950 an die neugegründete Volksrepublik ausgeliefert und dort einer Umerziehung unterzogen worden. Bis zur Entlassung im Jahre 1956 hatten alle ein Geständnis ihrer Kriegsverbrechen abgelegt. Auch nach ihrer Heimkehr haben sie dieses Geständnis weder zurückgenommen noch abgeschwächt, sondern sich im Gegenteil bis zum Ende ihres Lebens für den Frieden und japanisch-chinesische Freundschaft engagiert. Was bedeutet nun in diesem speziellen Zusammenhang der Begriff Kriegsverbrechen? Die Chinaheimkehrer haben diesen Begriff entsprechend der ihnen während der Umerziehung nahe gelegten chinesischen Auffassung verwendet. Darunter ist Folgendes zu verstehen: Ein Angriffskrieg, und um einen solchen handelte es sich bei der japanischen Invasion des chinesischen Festlandes zweifellos, ist an sich ein Verbrechen; nach chinesischer Auffassung machte sich jeder Teilnehmer an einem solchen Krieg folglich eines Verbrechens schuldig. Das Argument eines Befehlsnotstandes wurde nicht anerkannt. Nicht nur der Befehlshaber wurde als Kriegsverbrecher angesehen, sondern auch derjenige, der den Befehl ausgeführt hatte. Die Begründung lautete: Dem Opfer ist es gleichgültig, ob es auf Befehl oder ohne Befehl getötet wird. Der Ausgangspunkt für die Beurteilung ist das Leid des Opfers und seiner Angehörigen. Die Gefangenengruppe setzte sich zu zwei Dritteln aus Soldaten niederer Ränge, nur zu einem Drittel aus hochrangigen Militärs und Verwaltungsangehörigen zusammen. Es war folglich die große Mehrheit der Gefangenen, die mit dem Feind bzw. der chinesischen Bevölkerung direkt in Kontakt gekommen war und auf Befehl gefoltert und getötet hatte. Es fiel den niedrigen Soldaten, die auf Befehl gehandelt hatten, letztlich wesentlich leichter, ihre Taten als Verbrechen zu begreifen, als den Generälen, die die Befehle dazu gegeben, die Ausführung aber nicht mit eigenen Augen gesehen hatten. Vor Gericht ge-
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stellt wurden jedoch nur die höheren Ränge, deren Handlungen und Befehle auch nach internationalem Recht ein Kriegsverbrechen darstellten.3 Und noch ein Drittes möchte ich zuvor klären: Es soll um die schmerzhaften Erinnerungen an den Vernichtungskrieg gehen. Was ist hier mit Vernichtungskrieg gemeint? Nachdem die chinesischen Kommunisten mit ihrer Achten Feldarmee und großangelegten Guerillaoffensiven den Japanern 1940 und 1941 im Norden Chinas beachtliche Verluste zugefügt hatten, ordnete General Okamura Yasuji im Dezember 1941 eine Strategie der „verbrannten Erde“ an, um der Achten Feldarmee die Grundlage zu entziehen. Ganze Dörfer wurden niedergebrannt und die Bewohner unterschiedslos getötet. Vieh und Vorräte wurden abtransportiert, um den schlecht bis gar nicht gesicherten Nachschub für die japanischen Truppen zu ergänzen. Es handelte sich also, wie Omer Bartov es genannt hat, um eine „entmodernisierte“4 Form der Kriegsführung: Die Kontrahenten standen sich „Auge in Auge“ gegenüber, was in den Selbstzeugnissen der Chinaheimkehrer eine große Rolle spielen wird. Die Chinesen nannten diese Art der Kriegsführung die „Drei-Strahlen-Strategie“, womit die „drei Strahlen der Vernichtung“ gemeint sind: Alles plündern, alles abbrennen, alle umbringen. Auf Japanisch wird diese chinesische Wendung sankō ausgesprochen, und Sankō ist auch der Titel eines der Sammelbände, aus denen die Selbstzeugnisse stammen, um die es hier gehen soll.5
Literarisierte Tätergeschichten Diese Selbstzeugnisse wurden in den letzten Monaten der Gefangenschaft, im Frühjahr 1956, geschrieben, und zu dieser Zeit herrschte nach Aussage der ehemaligen Gefangenen in der Kriegsverbrecheranstalt eine ganz besondere Atmosphäre.6 Die Verhöre und Kritikversammlungen waren abgeschlossen, die Schuldanerkenntnisse geschrieben, das Grübeln war vorbei, und die Stimmung wurde zumeist als sehr gelöst geschildert; manche schrieben in ihren späteren Erinnerungen an diese Zeit, man habe sich „wie neugeboren“ gefühlt. Die Zellen waren mittlerweile offen, die Gefangenen konnten sich innerhalb ihrer Baracke frei bewegen, und es wurden Kulturgruppen gegründet, Musik-, Tanz-, Chor-, Theater-, Sport-, Lektüregruppen. Schließlich wurde auch eine Schreibgruppe eingerichtet, die auf Anregung aus der Anstalt entstand. Ein Angehöriger des Anstaltspersonals hatte den Vorschlag gemacht, die Kriegserlebnisse in literarisierter Form, als Aufsatz, niederzuschreiben, und diesmal ganz besonders auch die Situation der 3 4 5 6
45 Gefangene aus der Gesamtgruppe wurden im Juli 1956 in den Kriegsverbrecherprozessen von Shenyang und Taiyuan angeklagt und zu Haftstrafen bis zu 20 Jahren verurteilt, die in Gefangenschaft verbrachte Zeit wurde angerechnet. OMER BARTOV, Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges. Hamburg 1995 (New York 1991) S. 27 ff. CHŪGOKU KIKANSHA RENRAKUKAI (Hg.), Kanzenhan Sankō [Vernichtungsstrategie, Gesamtausgabe]. Tokyo, Banseisha 1984. Vgl. z.B. IZUMI KIICHI, Wie ich mich wieder in einen Menschen verwandelt habe. Elf Jahre als Kriegsverbrecher, in: BUCHHOLZ, Teufel (wie Anm. 2) S. 94 f.; siehe auch SAWADA JIRŌ, Von der Niederlage bis zur Heimkehr, in: ebd. S. 175.
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leidtragenden Chinesen zu berücksichtigen.7 Der Vorschlag wurde zunächst mit Skepsis aufgenommen, weil die Gefangenen sich ein solches literarisches Schreiben nicht zutrauten; es wurden dann aber doch – auf freiwilliger Basis, wie immer betont wird – Schreibgruppen gebildet, und es kamen über zweihundert Aufsätze zusammen. In den zurückliegenden Jahren hatten die Gefangenen ihre Tage hauptsächlich mit Lesen und Lernen, dem Aufschreiben ihrer Taten und Gesprächen über ihre Erinnerungen verbracht. Sie hatten sich ihre Geständnisse gegenseitig vorgelesen und darüber diskutiert, und befanden sich überdies in einem abgeschlossenen Raum, in den Informationen von außen nur in sehr beschränkter und vor allem gefilterter Form eindrangen.8 Die vorzufindende hohe strukturelle Ähnlichkeit der Aufsätze ist also mit Sicherheit auch auf eine Angleichung ihrer Erinnerungen zurückzuführen. Dies ist eigentlich nichts Besonderes, denn „niemand erinnert sich alleine und individuell, sondern immer innerhalb der kulturellen Rahmen bestimmter Erinnerungsgemeinschaften“. 9 In diesem Fall war die Erinnerungsgemeinschaft allerdings besonders eng und überdies genau definiert, denn sie umfasste die namentlich bekannten etwa tausend Kriegsgefangenen, die während der Umerziehung in China zu einer Erinnerung an ihre Taten während des Krieges gedrängt worden waren. Die literarisierten Tätergeschichten handeln ausnahmslos vom Töten, Foltern und Vergewaltigen im Krieg. Marodierende japanische Soldaten, grausame Folterknechte und kaltblütige Mediziner misshandeln und töten chinesische unschuldige Opfer. Alle Aufsätze sind aus diesem Blickwinkel geschrieben und folgen – auch aufgrund ihrer Entstehung als Gemeinschaftswerk 10 – einem ähnlichen Grundmuster. Die Sprache ist erschreckend direkt, das Blut fließt in Strömen. Diese Texte vermitteln uns viel über die Gewalterfahrung, und zwar vor allem von der Seite desjenigen, der sie ausübt. Die sorgfältige Ausarbeitung einzelner Vorkommnisse während des Krieges sollte vor allem der Selbstbefragung und dem Verständnis für das Leid der Opfer dienen. Die Geschichten seien nicht geschrieben worden, um später damit an die japanische Öffentlichkeit zu treten, wie die Beteiligten übereinstimmend betonten. 11 Das gesamte Material blieb bei der Heimkehr der Gefangenen in China.
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KUNITOMO SHUNTARŌ, Wie es zu den Aufzeichnungen der Kriegsverbrecher kam (Auszug), in: BUCHHOLZ, Teufel (wie Anm. 2) S. 185-188. 8 Vgl. PETRA BUCHHOLZ, Geständnisse japanischer Kriegsgefangener im geschlossenen Raum. Einsicht unter Zwang, in: Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell. Hg. ANDREAS BÄHR/PETER BURSCHEL/GABRIELE JANCKE. Köln usw. 2007 S. 197-216. 9 PATRICK KRASSNITZER, Historische Forschung zwischen „importierten Erinnerungen“ und Quellenamnesie. Zur Aussagekraft autobiographischer Quellen am Beispiel der Weltkriegserinnerung im nationalsozialistischen Milieu, in: Militärische Erinnerungskultur. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen. Hg. MICHAEL EPKENHANS/STIG FÖRSTER/KAREN HAGEMANN. Paderborn usw. 2006 S. 212-222, hier 214. 10 Die Aufsätze wurden von anderen Gefangenen, die mit dem Schreiben Erfahrung hatten, z.B. einem ehemaligen Journalisten, korrigiert und auch stilistisch überarbeitet. 11 KUNITOMO, Aufzeichnungen (wie Anm. 7) S. 187; siehe auch TOMINAGA SHŌZŌ, Atogaki [Nachwort], in: Tennō no guntai. Chūgoku shinryaku. Nihonjin senpan no shuki kara daiichi shū [Die Truppen des Tenno. Invasion in China. Aus den Aufzeichnungen japanischer Kriegsverbrecher, Teil 1]. Hg. CHŪGOKU KIKANSHA RENRAKUKAI. Ōsaka, Nihon kikanshi shuppan sentā 1988 S. 259-262, hier 260.
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Im Februar 1957, nur sechs Monate nach der Heimkehr, wurde dann allerdings doch eine Auswahl von fünfzehn literarisierten Tätergeschichten aus diesem Fundus in Japan publiziert. Kanki Haruo, ein besonders rühriger Verleger, hatte die Texte auf Umwegen12 in die Hände bekommen, sie für bestsellerverdächtig gehalten und schon kurz darauf – unter dem Titel Sankō – als Taschenbuch in einer gerade erst neu von ihm konzipierten Reihe herausgegeben.13 Der Verkauf entsprach seinen Erwartungen, in nur drei Wochen waren 50.000 Exemplare abgesetzt. Von der Herausgabe einer zweiten Auflage nahm er jedoch Abstand, weil er sich von rechtsextremen Gruppierungen unter Druck gesetzt fühlte und überdies das Käuferpotential vorerst für ausgeschöpft hielt. 14 Die Chinaheimkehrer ließen sich daraufhin die Manuskripte aushändigen und gaben in den Folgejahren mehrere Neuauflagen und weitere Sammelbände in eigener Regie heraus.15 Der folgende Ausschnitt aus einem dieser Selbstzeugnisse ist deshalb ausgewählt worden, weil er eine Erfahrung schildert, die von sehr vielen japanischen Soldaten geteilt wird. Es geht um das gemeinschaftliche Töten eines wehrlosen Gefangenen, das unter dem Namen „praktische Liquidation“ (shitotsu kunren) ein regelmäßig durchgeführter Teil der Ausbildung japanischer Rekruten war. Ich fasse die Vorgeschichte des folgenden Auszugs kurz zusammen: Mikami, damals ein einfacher Soldat, verschleppte zusammen mit zwei Mitsoldaten einen Bauern, der anschließend unter Schlägen verhört wurde, ob er etwas über die Achte Feldarmee wisse. Als sich herausstellte, dass der Bauer zu keiner Aussage bereit war, sollte er auf Befehl des Ausbilders von den Rekruten mit dem Bajonett erstochen werden. Mikami bekam den Befehl, als erster zuzustechen. Mikami Takashi, Die Mutprobe (Auszug) „Der Schnurrbart fing auch wieder zu brüllen an. ‚Ihr Idioten! Bindet ihm schnellstens eine Augenbinde um!‘ Mikami meinte, nun ginge es endlich zur Sache, sein Herzklopfen verstärkte sich, seine Backenzähne mahlten aufeinander und gaben ein knirschendes Geräusch von sich; je mehr er das zu unterdrücken versuchte, desto mehr begann sein Körper zu zittern. Wie von jemandem geschoben begab er sich hinter den Bauern, zu viert fesselten sie ihm die Hände und banden ihn an den Dattelbaum. Dann zerriß er dessen blutverschmiertes Unterhemd und wollte daraus eine Augenbinde machen. Da sagte der Bauer in einem entschiedenen, ja sogar verächtlichen Ton: ‚Ich habe keine Angst, die Vergeltung wird über euch kommen.‘
12 Dies soll auf Vermittlung von Kang Dachuan, dem damaligen Chefredakteur der japanischsprachigen Ausgabe von „People’s China“, geschehen sein; vgl. Nihon guntai no zangyaku. Kanki Haruo-hen ›Sankō‹ [Die Brutalität der japanischen Armee. Der von Kanki Haruo herausgegebene Band Sankō], in: Shūkan Asahi 32/4. 1957 S. 67. 13 KANKI HARUO (Hg.), Sankō. Nihonjin no Chūgoku ni okeru sensō hanzai no kokuhaku [Vernichtungskrieg. Bekenntnisse von Kriegsverbrechen, die von Japanern in China begangen wurden]. Tokyo, Kōbunsha 1957. 14 Ausführlicher hierzu BUCHHOLZ, Teufel (wie Anm. 2) S. 47 f. 15 CHŪGOKU KIKANSHA RENRAKUKAI/SHINDOKUSHOSHA (Hg.), Shinryaku. Chūgoku ni okeru Nihon senpan no kokuhaku [Invasion. Bekenntnisse japanischer Kriegsverbrecher in China]. Tokyo, Shindokushosha 1982 (Tokyo 1958); CHŪGOKU KIKANSHA (Hg.), Sankō (wie Anm. 5); CHŪGOKU KIKANSHA (Hg.), Tennō no guntai, Teil 1 (wie Anm. 11); CHŪGOKU KIKANSHA RENRAKUKAI (Hg.), Shinryaku, gyakusatsu o wasurenai. Tennō no guntai. Nihonjin senpan no shuki daini shū [Invasion und Massaker dürfen nicht vergessen werden - Die Truppen des Tenno. Aus den Aufzeichnungen japanischer Kriegsverbrecher, Teil 2]. Ōsaka, Nihon kikanshi shuppan sentā 1989.
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Er schüttelte den Kopf hin und her und warf den Stoffetzen ab; auf seiner Stirn erschienen zwei oder drei tief eingegrabene Falten, und mit seinen unerschrockenen Augen, in denen sich eine furchtlose Kampflust spiegelte, fixierte er die Soldaten, als ob er sie durchbohren wollte. Mikami wurde immer mehr von Grauen ergriffen, er fühlte ein Frösteln, seine Nackenhaare sträubten sich. ‚Du Mistkerl! Dir werd’ ich helfen, uns so auf den Arm zu nehmen!‘ Ein Schnürstiefel kam auf den Bauern zugeflogen. Mikami, der einen Schritt zurücktrat, wurde von den umstehenden Soldaten angefeuert: ‚Los, gibs ihm!‘ Der Schnurrbart zog seinen Säbel und ließ ihn durch die Luft sausen. ‚Liquidieren‘, befahl er. ‚Uaaah!‘ Mikami stach wie besessen zu. Aber die Spitze des Bajonetts rutschte ab und drang nur sechs Zentimeter tief in die Schulter ein. Sofort floß Blut, und die Schulter des Bauern begann krampfartig zu zucken. ‚Was ist denn das für eine Art zuzustechen!‘ Der Gürtel des Truppenführers sauste mit aller Kraft auf Mikamis Kopf. ‚Du mußt ruhig und fest zustechen.‘ ‚Jawohl.‘ ‚Zum Teufel mit iiihm!‘ Mikami nahm sich fest vor, nicht noch einmal zu versagen und stürzte voran; aber auch diesmal rutschte sein Bajonett ab und traf die linke Schulter. ‚Du Idiot! Du sollst die Brust treffen!‘, schrie der Truppenführer und knirschte mit den Zähnen. Der Bauer war nach wie vor ungebrochen, sein Gesicht war angespannt, der Mund zu einem schmalen Strich verzogen; mit feurigen Augen fixierte er die Soldaten, dann wanderten seine Augen zu der Wunde. Mikami fiel, fast dem Weinen nahe und jegliche Scham vergessend, ein drittes Mal über ihn her, sein Bajonett sank, einen schauderhaften Ton von sich gebend, in die linke Seite ein; sofort waren sein Gewehr und seine Uniform mit Blut bespritzt, Blutspritzer verteilten sich ringsumher. ‚Also jetzt! Stecht zu!‘, brüllte der Schnurrbart. Der Gefreite Ōbayashi schob zwei, drei andere Soldaten zur Seite, sprang wie von blinder Kraft getrieben voran und stach zu. Sein Bajonett durchbohrte die Kehle, blieb in dem Baumstamm stecken und löste sich von dem Gewehr. Der sofort völlig blutüberströmte Bauer nahm seine ganze Kraft zusammen und schrie mit gepreßter Stimme, die aus der Tiefe seines Bauches zu kommen schien ‚Ihr Teufel!‘ Dann fiel sein Kopf nach vorne. Auf diesen Schrei reagierte der Schnurrbart mit einem unheimlich verzerrten Grinsen und rief: ‚Es hat geklappt! Jetzt die Mutprobe für alle jungen Rekruten! Zustechen, der Reihe nach!‘ Sofort erhob sich ein an Wahnsinn grenzendes Gebrüll, die blutüberströmte Bauchdecke des Bauern wurde herabgerissen, Fleisch und Gedärme quollen hervor. Itō, der Stotterer, stand beim Anblick dieser Bestialität wie versteinert da, sah kurz zum Ausbilder hinüber, schloß die Augen und stürzte los. Die Augen des Bauern blickten starr und furchteinflößend geradeaus, mit ihrem starren, sich nie mehr abwendenden Blick mußten sie die Soldaten einfach in Furcht und Schrecken versetzen. Auch der Truppenführer und der Schnurrbart waren blaß geworden, tauschten kurz einen Blick aus und schrien dann zu den Soldaten herüber: ‚Reißt ihm die Augen heraus!‘ Noch einmal wurden fünf oder sechs Bajonette geschleudert, trafen den Kopf, das Gesicht, den Leib, bohrten sich in jeglichen Körperteil. Der schnurrbärtige Ausbilder schien endlich befriedigt: ‚Habt ihr ihn endlich abkratzen lassen?‘ Bei diesen Worten stieß er einen tiefen Atemzug aus.
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(Aah, ich habe …. zum erstenmal einen Menschen getötet.) Das blutbeschmierte Gewehr flatterte in Mikamis Händen. (Aber, ich muß noch ein viel stärkerer, besserer Soldat werden. Wegen sowas derartig ins Zittern zu kommen ....)“16
Was hier so erschreckt, ist die lange, ausführliche Beschreibung des Tötens, oder – andersherum gesehen – des grauenhaften Sterbens. Es war genau diese schmerzhafte Form der Erinnerung, die im Umerziehungslager von den Kriegsgefangenen verlangt wurde, und die sie dann in den Schreibgruppen zu Papier brachten. Es steht außer Frage, dass der Verfasser, Mikami Takashi, und die Hauptfigur Mikami in diesem Text miteinander identisch sind, auch wenn der größte Teil der Geschichte aus der Er-Perspektive erzählt wird. Dafür sprechen nicht nur die zahlreichen Gedankenzitate der Hauptfigur, belegen lässt sich dies auch durch die abschließende Passage, die hier nicht zitiert wurde, und die diesen Vorfall in der Gegenwart des Schreibens bewertet. Hier wechselte Mikami in die Ich-Form, womit er offenbar deutlich machen wollte, dass sein gegenwärtiges Ich sich von der damaligen Figur unterscheidet. Mikami hatte diesen Text nach dem Ablegen seines Geständnisses geschrieben, er hatte sich bekehrt und war ein anderer, neuer Mensch, der sein früheres Ich aus der Distanz betrachtete. Aus dieser Distanz betrachtet hatte er „Herzklopfen“, war „von Grauen ergriffen“, „fühlte ein Frösteln und seine Nackenhaare sträubten sich“ und er war „fast dem Weinen nahe“. Mit anderen Worten, er war kein Held, sondern eher eine erbärmliche Figur. Alle Männlichkeitsideale 17 wie Aggressivität, Durchhaltevermögen und Zähigkeit, Selbstbeherrschung und Mut scheinen ihm völlig zu fehlen. Stattdessen wurden all diese männlich-heldenhaften Eigenschaften auf das Opfer projiziert: „Der Bauer sagte in einem entschiedenen, ja sogar verächtlichen Ton: ‚Ich habe keine Angst!’“ Er hatte „unerschrockene Augen“, zeigte „furchtlose Kampflust“, und war „trotz schwerer Verwundung nach wie vor ungebrochen“. Das Opfer als Held und Märtyrer hatte alle männlichen Eigenschaften, die dem Täter in seiner Selbstbeschreibung fehlen. Und dies trifft in den Aufsätzen der Chinaheimkehrer im Übrigen auch dann zu, wenn das Opfer eine Frau war!18 Wenn die Opfer in diesen Texten auch eher holzschnittartig und als rein ideelle Figuren auftreten, so wird ihr Leiden und Sterben jedoch in der jeweils eigenen Grauenhaftigkeit geschildert. Die Person des Opfers definiert sich über die Art der Qualen, die man ihm zugefügt hat. Nicht das Opfer taucht als bestimmte Person in der Erinnerung auf, sondern die eigene Handlung, die einen anderen zum Opfer gemacht hat. Die Aufgabe, sich auch und vordringlich an die Folgen ihres Handelns, nämlich das Leiden der Opfer zu erinnern und dieses in nachfühlbare Worte zu fassen, hatte schmerzhafte Auswirkungen auf die Schreibenden selbst: Eine ganze Reihe der Gefangenen berichtete später, dass sie nach dem Aufschreiben und anschließenden Verlesen ihrer Geständnisse krank wurden.19 16 MIKAMI TAKASHI, Die Mutprobe, in: BUCHHOLZ, Teufel (wie Anm. 2) S. 200-202. 17 Vgl. JOANNA BOURKE, Dismembering the Male: Men’s Bodies, Britain and the Great War. London 1996 S. 25: “Aggression and stoicism were regarded as characteristically masculine.” 18 Vgl. z.B. SHINTANI KŌTARŌ, Onna horyo [Die weibliche Gefangene], in: CHŪGOKU KIKANSHA (Hg.), Sankō (wie Anm. 5) S. 176-188. 19 Vgl. z.B. UNO SHINTARŌ, Chrysantheme und japanisches Schwert (Auszug), in: BUCHHOLZ, Teufel (wie Anm. 2) S. 163 f.
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Dass japanische Kriegsverbrecher nach sechsjähriger Umerziehung in China die chinesischen Opfer durchweg als heldenhafte Revolutionäre zeichnen, erscheint nicht weiter verwunderlich.20 Die überaus freundliche Erinnerung an die Chinesen als Kriegsgegner und spätere Sieger ist allerdings, darauf muss hingewiesen werden, nicht etwa ein Sonderfall, der nur in den Geschichten der Chinaheimkehrer auftritt. Auch in den Erinnerungen anderer Kriegsheimkehrer werden die Chinesen – insbesondere nach der japanischen Niederlage – als hilfsbereit dargestellt, während die Plünderungen und Vergewaltigungen den Russen und Koreanern zugeschrieben werden.21 Dieser Heroisierung des ehemaligen Feindes, den man zuvor gar nicht mehr als Menschen wahrgenommen hatte, mag man skeptisch gegenüberstehen. Es muss sich jedoch nicht nur um reine Verklärung handeln, denn während der Wirren der Repatriierung waren tatsächlich mehrere tausend japanische Kinder von chinesischen Familien aufgenommen und großgezogen worden. Und auch mit dieser Erinnerung wird in Japan auf eine – nach unseren Begriffen – sehr schmerzhafte, die eigene Person nicht schonende Weise umgegangen: Während die ostpreußischen „Wolfskinder“22, von denen ebenfalls mehrere tausend in litauischen Familien Aufnahme fanden, in unserem Sprachgebrauch „von ihren Eltern auf tragische Weise getrennt wurden“, spricht man in Japan von den „zurückgelassenen Kindern“, und jeder weiß, dass sie in der Regel ausgesetzt worden sind.23
Die Bedeutung des Blicks Ich möchte nun zu einem weiteren Aspekt kommen, der in dem zitierten Ausschnitt aus Mikamis Selbstzeugnis besonders hervorsticht: der furchteinflößende Blick des Opfers. Der Bauer beeindruckte die Soldaten mit seinen „feurigen, unerschrockenen Augen“, sein zornerfüllter Blick ließ sie sogar entsetzt vor ihm zurückweichen. Immer wieder werden die Augen des Opfers und sein drohender, hasserfüllter Blick von Mikami, aber auch in vielen anderen Texten aus demselben Fundus, mit deutlichem Schaudern erwähnt. So schrieb auch ein ehemaliger Staatsanwalt, der einen Tag vor der Bekanntgabe der japanischen Niederlage noch einen hohen Funktionär der KPCh hinrichten ließ: „Mit
20 Zur Problematik von Umerziehung, „Gehirnwäsche“ und politischer Konversion siehe: PETRA BUCHHOLZ, Die „Strategie der Milde“ gegenüber japanischen Kriegsverbrechern in China: Japanische Selbstzeugnisse, in: Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung 31. 2007 S. 117-141; auch einsehbar unter der URL http://www.eu-ro-ni.ch/publications/Buchholz_chinesische_Strategie_ Milde.pdf. 21 Vgl. PETRA BUCHHOLZ, Schreiben und Erinnern. Über Selbstzeugnisse japanischer Kriegsteilnehmer. München 2003 S. 279-285; diese Tendenz beobachteten auch MARIKO ASANO TAMANOI, Memory Maps: The State and Manchuria in Postwar Japan. Honolulu 2009 S. 87 ff. und DONALD KEENE, Dawn to the West: Japanese Literature in the Modern Era. Fiction. New York 1984 S. 1006. 22 RUTH LEISEROWITZ, Von Ostpreußen nach Kyritz. Wolfskinder auf dem Weg nach Brandenburg. Potsdam 2003. 23 TAMANOI, Memory Maps (wie Anm. 21) S. 85; häufig wurden die Kinder auch von verzweifelten Eltern an Chinesen verkauft, ebd. S.77 f.
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seinen weit geöffneten Augen, die von brennendem Haß und Zorn und Schmerz erfüllt waren, starrte er mich an, als ob er mich verschlingen wollte.“24 Das Motiv der Augen des Opfers, die den Mörder sein Leben lang verfolgen, lässt sich auch in anderen Kriegserzählungen aus Japan finden25, in den Selbstzeugnissen der Chinaheimkehrer ist es jedoch besonders auffällig und präsent. Wie ist es nun zu verstehen, dass gerade der Blick der wehrlosen Opfer mit ihren vor Zorn funkelnden Augen in diesen Texten eine solche Bedeutung hat? Das Phänomen des Blicks ist bisher ein randständiges Thema der kulturwissenschaftlichen Forschung geblieben, wie das IFK in Wien bei der Formulierung seines Schwerpunktes „Kulturen des Blicks“ im Jahre 2005 feststellte. Der damalige Direktor des IFK und Leiter dieses Schwerpunkts, Hans Belting, formulierte anlässlich der ersten Tagung: „Blicke sind der Stimme im Ausdruck nächstverwandt und reagieren auf andere Blicke ähnlich wie das Ohr auf andere Stimmen. Wir drücken unser Selbst in Stimme und Blick aus. Die Stimme dient ebensowenig allein der Sprache wie der Blick allein dem Sehen.“26
Das direkte Anblicken einer anderen Person kann Zu- oder Abneigung, Zorn oder Freude, Missbilligung oder Neid ausdrücken. Man kann jemanden mit seinem Blick durchbohren oder auch verzaubern. Blicke können verschlingen oder sogar töten. Wir kennen auch den bösen Blick.27 Ähnliche Redewendungen gibt es auch im Japanischen, und sie gehören genauso zum alltäglichen Wortschatz wie im Deutschen. Die Bewertung von Blickkontakt ist aber sehr wohl kulturabhängig. Belting sagte hierzu: „Der Blick wird in jeder Gesellschaft kollektiv eingeübt, obwohl ihn jeder als seinen eigenen Blick empfindet. Ähnlich, wie man Menschen verschiedener Herkunft an der Körperhaltung oder am Tanz erkennen kann, so bekunden sie auch im Blicken ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur.“28
Der direkte Augenkontakt gilt in manchen Kulturen als Zeichen von mangelndem Respekt oder als Provokation, in anderen hingegen eher als Zeichen von Offenheit und 24 MIZUGUCHI TAKAO, Geständnis eines Staatsanwalts, in: BUCHHOLZ, Teufel (wie Anm. 2) S. 245. 25 Eine Kurzgeschichte, die allein dieses Augenmotiv zum Thema hat und aus dem Jahre 1921 stammt, liegt in deutscher Übersetzung vor. Es sind auch hier die Augen eines getöteten Gefangenen, die den Erzähler noch Jahre später verfolgen: KANEKO YŌBUN, Augen, in: Linke Literatur in Japan 1912-1923. Hg. WOLFGANG SCHAMONI. München 1973 S. 88 f. Auch das in Japan zuerst 2001 veröffentlichte Kriegstagebuch von Azuma Shirō, in dem er seine Teilnahme am Feldzug nach Nanking beschreibt, enthält mehrere ähnliche Passagen: AZUMA SHIRŌ, The Diary of Azuma Shirō. Jiangsu 2006, z.B. S. 346 und 349; der ehemalige Soldat Okumura Wa’ichi erinnert sich ebenfalls an die furchterregenden Augen eines gefangenen Chinesen, den er auf Befehl zu erstechen hatte: OKUMURA WA’ICHI/SAKAI MAKOTO, Watashi wa „ari no heitai“ datta. Chūgoku ni nokosareta Nihonhei [Ich war ein „Ameisensoldat“. Japanische Soldaten, die in China zurückgelassen wurden]. Tokyo, Iwanami junia shinsho 2009 S. 22 f. 26 HANS BELTING, Das Schauspiel des Blicks, in: Wiener Zeitung vom 18. November 2005. URL: http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/wzreflexionen/kompendium/126555_Das-Schauspiel-des-Blicks.html [Stand 15.10.2010]. 27 Vgl. hierzu THOMAS HAUSCHILD, Der böse Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen. Berlin 1982. 28 BELTING, Schauspiel (wie Anm. 26).
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Zuwendung. In Japan geht die Tendenz eher in die erstere Richtung, der gesenkte Blick signalisiert Bescheidenheit und Respekt, und offenes Anstarren aus purer Neugier, wie man es beispielsweise in Indien sehr häufig erleben kann, ist ein eher seltenes Phänomen. Die japanische Psychiatrie kennt auch eine Phobie vor Augenkontakt bzw. eine Blickphobie (shisen kyōfu, seishi kyōfu), die einen Teilaspekt der Sozialphobie oder Menschenangst (taijin kyōfu) bildet. Es wird weiterhin unterschieden, ob die Phobie darin besteht, von anderen angeblickt zu werden (tasha shisen kyōfu) oder selbst jemanden direkt anzublicken (jiko shisen kyōfu). Es besteht also durchaus Grund zu der Annahme, dass in Japan eine erhöhte Sensibilität für den direkten Blick des Anderen besteht, die aber meines Erachtens die auffällige Häufigkeit, mit der in den Kriegserzählungen die Furcht vor dem Blick des Opfers beschrieben wird, noch lange nicht zufriedenstellend erklären kann. Schließlich spielt das Augenmotiv auch in deutschen Erinnerungen an den Krieg durchaus eine – wenn auch etwas weniger auffällige – Rolle29, und der Glaube an den bösen Blick wird von vielen Kulturen geteilt.30 Bei meiner Suche nach Erklärungen für die Bedeutung des Blicks bin ich schließlich auf Jean-Paul Sartre und das in seinem philosophischen Werk Das Sein und das Nichts enthaltene Kapitel „Der Blick“31 gestoßen. Dort findet sich die Aussage: „Der Blick, den die Augen manifestieren, von welcher Art sie auch sein mögen, ist reiner Verweis auf mich selbst.“32 Durch die Spiegelung der eigenen Person in den Augen des anderen nimmt man sich selbst als das wahr, was man für den anderen, d.h. in der Welt außerhalb des eigenen Ich, darstellt. Sartre sagt weiterhin: „Ich bin, jenseits aller Erkenntnis, die ich haben kann, dieses Ich, das ein anderer erkennt.“33 Oder kürzer noch: „Es genügt, dass der Andere mich anblickt, damit ich das bin, was ich bin.“34 In der Doppelbedeutung des deutschen Wortes ansehen (als transitivem Verb) und dem Ansehen (als Substantiv) im Sinne von Wertschätzung oder Würde wird eben diese Bedeutung des fremden Blicks auf die eigene Person deutlich transportiert. Mein Ansehen resultiert aus dem Blick des anderen. In diesem Sinne ließe sich also schließen: Wenn die folternden und mordenden Soldaten den Blick ihres Opfers nicht ertragen können, dann können sie folglich ihr eigenes Ansehen nicht ertragen. Der Blick des Opfers macht den Täter zum Mörder, und die Soldaten fürchten sich vor ihrer eigenen Mordlust, die sich in den Augen des Opfers spiegelt. Besonders furchteinflößend sind die Augen eines Sterbenden, der ersterbende und dann starre Blick. Mikami schrieb: „Die Augen des Bauern blickten starr und furchteinflößend geradeaus, mit ihrem starren, sich nie mehr abwendenden Blick mußten sie die Soldaten einfach in Furcht und Schrecken versetzen.“ Was ist an den offenen Augen 29 Vgl. z.B. BRUNO HAMPEL, Das mit dem Mais, in: AufräumungsArbeiten. Erzählungen aus Deutschland 1945-1948. Hg. THOMAS FRIEDRICH. Berlin 1983 S. 10-15; oder FRANZ FÜHMANN, Erzählungen 1955-1975. Rostock 1977, hierin besonders „Das Gottesgericht“ S. 49-71, „Das Erinnern“ S. 101-112 oder „König Ödipus“ S. 141-217. 30 HAUSCHILD, Der böse Blick (wie Anm. 27) S. 5. 31 JEAN-PAUL SARTRE, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Hamburg 2009 (Paris 1943) hier S. 457-538. 32 Ebd. S. 467. 33 Ebd. S. 471. 34 Ebd. S. 473.
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eines Toten so beängstigend? Warum werden den frisch Verstorbenen als Erstes die Augen zugedrückt? „Entsetzliche Angst haben die meisten Völker vor dem Auge der Toten“35, wird im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens konstatiert; die Mongolen sollen die Augen der Leiche sogar zugenäht haben.36 Ariès beschreibt die Verhüllung des Toten und vor allem seines Gesichts als eine wichtige Zäsur in der Geschichte des Todes, die vom 13. Jahrhundert an zu beobachten war. 37 „Das Antlitz des Toten, das früher gelassen akzeptiert worden war, wird nun abgewehrt, weil es Gefühle zu wecken, also Angst zu machen droht.“ 38 Damit ist jedoch die Ursache für diese Angst noch nicht geklärt. Hierzu konnten wiederum nur im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens einige Hinweise gefunden werden: „Allgemein Brauch ist es, daß dem Toten die Augen zugedrückt werden, sobald der Tod eingetreten [...] Unterläßt man das Schließen der Augen [...] und hat der Tote einen starren Blick, so sieht er sich nach jemand aus der Verwandtschaft um, der ihm bald folgen soll [...] Die offenen Augen speziell können den bösen Blick haben.“39
Sowohl den Augen des Toten wie auch dem des Sterbenden oder zur Hinrichtung Geführten wird hier der böse Blick zugeschrieben, vor dem man sich schützen muss.40 Von der Angst vor dem Blick bis zur Augenbinde ist es nur ein kurzer Schritt. Damit wäre eigentlich die Augenbinde, die dem Bauern ganz zu Anfang des zitierten Ausschnitts angelegt wurde, erklärlich, und auch die brutale letzte Aufforderung des Ausbilders, dem Toten die Augen herauszureißen, bekäme einen Sinn. Ähnlich hatte es wohl auch der österreichische Künstler Ernst Logar verstanden, der im Gedenken an seinen Vater, der in den letzten Kriegstagen als Verräter erschossen wurde und dem hierzu ebenfalls eine Augenbinde aufgezwungen worden war, eine Installation geschaffen hatte. Logar gab seinem Arrangement den beeindruckenden Titel „Den Blick hinrichten“.41 Dieses Verständnis stimmt auch mit dem Gedanken Sartres überein, wonach die eigene Person durch das Gesehenwerden verletzlich wird, denn der Blick des anderen macht das Ich zum Objekt, es ist nicht mehr „Herr der Situation“.42 Dem anderen die Fähigkeit zu nehmen, mich anzublicken, entzieht diesem wiederum seinen Status als Subjekt, macht ihn ungefährlich und wehrlos. Es ist die Macht, die über den Blick verfügt. Allerdings hatte der Bauer in Mikamis Erzählung die Augenbinde mit den Worten, er habe keine Angst, wieder abgeschüttelt. Alles was ich bisher zusammengetragen habe, 35 Art.: bedecken, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. EDUARD HOFFMANNKRAYER/HANNS BÄCHTOLD-STÄUBLI. 10 Bde. Berlin usw. 1927-1942; hier Bd. 1 (1927) Sp. 970. 36 Ebd. 37 PHILIPPE ARIÈS, Geschichte des Todes. München usw. 1980 (Paris 1978) S. 217 f. 38 Ebd. S. 780. 39 Art.: Leiche, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (wie Anm. 35) Bd. 5 (1932-33) Sp. 1031-1034. 40 Art.: Auge, in: Ebd. Bd. 1 (1927) Sp. 699. 41 ERNST LOGAR, Den Blick hinrichten. Wien 2005. 42 SARTRE, Sein (wie Anm. 31) S. 478.
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verweist jedoch auf die Angst derjenigen, die sich vor dem Blick des Sterbenden fürchten, nicht etwa auf die Angst des Todeskandidaten, und im weiteren Verlauf von Mikamis Erzählung wird ja auch deutlich, dass es die Soldaten sind, die sich vor dem Blick des Bauern fürchten. Wen schützt die Augenbinde, den Henker oder den Todeskandidaten?43 Fürchtet der Henker sich vor dem Blick seines Opfers, oder fürchtet der Hinrichtungskandidat sich vor dem Anblick des Galgens? Dieser Widerspruch lässt sich vielleicht etwas aufhellen, wenn auch nicht unbedingt lösen, wenn man den Zusammenhang von Furcht und Schuld in die Überlegungen miteinbezieht. Andreas Bähr hat sich eingehend mit der Semantik der Furcht in der Frühen Neuzeit beschäftigt und die Gegensätze von Schuld und Schuldlosigkeit sowie Furcht und Furchtlosigkeit zueinander in Beziehung gesetzt. In zahlreichen autobiographischen Erzählungen aus dem 17. Jahrhundert, so sein Befund „verweist Furcht auf Schuld, deren Abwesenheit auf Schuldlosigkeit. Gerechtigkeit und Schuld konturieren sich entlang der Entgegensetzung von Unerschrockenheit und Furcht. Das Opfer konstituiert sich als Opfer und damit als gerecht nicht allein in der Furcht vor dem Täter, sondern auch und vor allem in der Fähigkeit, diesem in dieser Furcht die Stirn zu bieten: in der Fähigkeit, die eigene Furcht zu beherrschen. Der Täter hingegen wird zum Täter, indem er andere in Furcht versetzt und die eigene nicht beherrschen kann: indem er am Ende selbst der Furcht erliegt, in die er andere zu versetzen sucht.“44
Diese frühneuzeitliche Lesart hatte Bähr im Rahmen einer Gegenlektüre innerhalb der Forschergruppenarbeit auch an Mikamis Text erprobt und damit für die weitere Interpretation erstaunliche Perspektiven eröffnet: Die Furchtlosigkeit des Bauern im Angesicht seiner Peiniger wäre aus dieser Perspektive als Zeichen seiner Schuldlosigkeit zu deuten, und eben diese Schuldlosigkeit befähigt ihn, seinen Peinigern unerschrocken ins Auge zu blicken. Wir kennen die Furchtlosigkeit im Angesicht des Todes ebenfalls von Hinrichtungskandidaten, die – wie der Bauer in Mikamis Selbstzeugnis – auf die angebotene Augenbinde verzichteten. Insbesondere Menschen, die dem Widerstand angehörten, wie Graf von Stauffenberg oder Hans Scholl wollten auf diese Weise unter Beweis stellen, dass sie die Taten, für die sie hingerichtet wurden, nicht als Verbrechen betrachteten und sich unschuldig fühlten. Andere, wie z.B. der Schriftsteller und Politiker Robert Blum (1807-1848), die Spionin Mata Hari (1876-1917) oder vor wenigen Jahren erst Saddam Hussein lehnten die Augenbinde ebenfalls ab. In all diesen Fällen wird die Augenbinde wie eine Gunst aufgefasst, die dem Todeskandidaten gewährt wird, und diesem steht es frei, diese Gunst anzunehmen oder auf sie zu verzichten. Es gibt also verschiedene Versionen der Macht über den Blick: Er wird genommen, um den Subjektstatus zu entziehen – oder er wird fürsorglich verdeckt, um die Angst zu mildern. Bei Hinrichtungen soll die Augenbinde entweder Henker und Zuschauer vor
43 Die Augenbinde kommt nicht nur bei Hinrichtungen – auch der Bauer in Mikamis Erzählung wurde zweifelsfrei „hingerichtet“ – zum Einsatz, sie wird auch als Mittel der Furchterzeugung, als Foltermethode im Rahmen sensorischer Deprivation, eingesetzt. Hier soll sie den Träger nicht schützen, sondern in Angst versetzen. 44 ANDREAS BÄHR, Vom Nutzen der Paradoxie für die Kulturhistorie. Furchtlose Furcht in frühneuzeitlichen Selbstbeschreibungen, in: Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen. Hg. FRANZ X. EDER. Wiesbaden 2006 S. 305-321, hier 312.
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dem gefährlichen Blick des Sterbenden schützen oder aber den Todeskandidaten vor seiner eigenen Angst bewahren. Wann und vor allem mit welchen Intentionen wurde die Augenbinde bei Exekutionen eingeführt? Die Nachforschungen in der einschlägigen Literatur zur Geschichte der Todesstrafe45 gestalteten sich schwierig. Auch wenn die Augenbinde in der Literatur erwähnt wird, wird die Frage nach dem Woher und Warum dort in der Regel nicht gestellt. Lediglich Schubert führt einen Beleg an, nach dem zu Beginn des 15. Jahrhunderts dem „armen Sünder“ bei der Enthauptung eine Augenbinde angelegt wurde, und er konstatiert klar und deutlich: „Das aber geschah zum Schutz des Henkers, den der letzte Blick des Gerichteten mit seinem furchtbaren Erschrecken nicht verfolgen sollte, es geschah nicht aus Fürsorge für den Hinzurichtenden, an dessen Gefaßtheit selten Zweifel bestanden.“46
Wie hat sich dies in einen Schutz des Opfers vor der eigenen Angst verkehrt? In den Selbstzeugnissen der Chinaheimkehrer finden sich zum Anlegen der Augenbinde zwei weitere Passagen, in denen gegensätzliche Sichtweisen zum Ausdruck kommen. Eine dieser Passagen stammt aus der Erzählung eines Lagerleiters, der vier chinesische Zwangsarbeiter nach einem missglückten Fluchtversuch hinrichten ließ: „Einer der Gefangenen bat mich mit feierlichem Ernst: ‚Bitte legen Sie mir keine Augenbinde an, wenn ich erschossen werde.’ Ich dachte, ‚Wenn man von einem Sterbenden angestarrt wird, hinterläßt das bloß einen unangenehmen Nachgeschmack’ und versagte ihm mit den Worten ‚Kommt nicht in Frage’ auch diesen letzten Wunsch.“47
Der Lagerleiter wollte sich also vor den „unangenehmen“ Blicken der Sterbenden schützen, während die unschuldigen Gefangenen sich vor dem Anblick der auf sie gerichteten Gewehrmündungen nicht zu fürchten scheinen. Fujita Shigeru hingegen, ein ehemaliger General, der zu den Angeklagten im Kriegsverbrecherprozess von Shenyang gehörte, stellte sich in seinem Selbstzeugnis seine eigene Hinrichtung vor und überlegte, ob er nicht lieber die Augenbinde abnehmen sollte, um beim Hinaufsteigen zum Galgen nicht ins Stolpern zu geraten und eine lächerliche Figur abzugeben. Diesen Gedanken verwarf er jedoch schnell wieder, denn der Anblick des baumelnden Seils kam ihm dann doch zu schrecklich vor.48 Fujita fühlte sich aller45 Durchgesehen wurden die folgenden Abhandlungen: JÜRGEN MARTSCHUKAT, Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Köln usw. 2000; WOLFGANG SOFSKY, Traktat über die Gewalt. Frankfurt a. M. 1996; JOHANN DACHS, Tod durch das Fallbeil. Der deutsche Scharfrichter Johann Reichhart (1893-1972). München 2001 (1996); RICHARD VAN DÜLMEN, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit. München 1995; INGO WIRTH, Exekution. Das Buch vom Hinrichten. Berlin 1993; in allen Studien wird die Augenbinde zwar erwähnt und findet sich sogar auf dem Umschlagfoto (Martschukat) oder in weiteren Abbildungen, Herkunft und Sinn der Augenbinde wird jedoch nicht erläutert. Bei DACHS, Tod, findet sich der Hinweis, dass der deutsche Scharfrichter Johann Reichhart die Augenbinde abschaffte, weil die Delinquenten sie meist mit der Schulter wieder abstreiften; er ließ ihnen stattdessen von einem Gehilfen die Augen mit der Hand zuhalten (S. 80). 46 ERNST SCHUBERT, Räuber, Henker, Arme Sünder. Verbrechen und Strafe im Mittelalter. Darmstadt 2007 S. 94. (Für den Hinweis auf diese Stelle bedanke ich mich bei Florian Kühnel aus Münster.) 47 ŌNISHI KAORU, Zwangsarbeit, in: BUCHHOLZ, Teufel (wie Anm. 2) S. 211. 48 FUJITA SHIGERU, Lebensbericht. Mein radikaler Wandel, in BUCHHOLZ, Teufel (wie Anm. 2) S. 113.
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dings schuldig und war davon überzeugt, die Todesstrafe verdient zu haben. Er besaß nicht die Furchtlosigkeit des unschuldigen Opfers, sondern erlag – in den Worten von Bähr – als Täter der Furcht, in die er andere versetzt hatte.49 Die „entgegengesetzten Motive“, die auch laut Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens dem Verhüllen des Blicks zugrundeliegen können50, bilden sich in diesen beiden Selbstzeugnissen exakt an dem Gegensatz zwischen subjektiv empfundener Schuld und Schuldlosigkeit ab. Shimamura Saburō, der sich wie Fujita 1956 im Kriegsverbrecherprozess zu verantworten hatte, zieht in seinen Erinnerungen an die Situation im Gerichtssaal selbst eine direkte Verbindungslinie zwischen seiner Furcht vor den Blicken der Zuschauer und seinem Schuldbewusstsein. Er schrieb: „Die Bedrohlichkeit dieser Blicke kann nur jemand empfinden, der weiß ‚Ich habe Unrecht getan’. In diesen Blicken lag die Wut über die Ermordung von mehr als zwölf Millionen Landsleuten, in ihnen lag ‚der Volkszorn’, der sich über Jahre hinweg in einem besetzten, malträtierten und verfolgten Volk aufgestaut hatte. Auch als ich dann – ganz allein – auf der Anklagebank saß, durchbohrten diese Blicke weiter meinen Rücken, und unter diesen Blicken wurde mir sonnenklar: ‚Es ist wahr ... ich habe das Recht auf Leben verwirkt.’“51
Es ist ein erstaunliches Ergebnis der – durch den experimentellen Konzepttransfer im Rahmen der Gegenlektüre angeregten – gezielten Suche entprechender Stellen in den Selbstzeugnissen der Chinaheimkehrer, dass ihre Aussagen sich so eindeutig entlang dieser Verknüpfung von Furcht und Schuld bewegen.52
49 BÄHR, Paradoxie (wie Anm. 44) S. 312. Hier wird lediglich auf die verblüffenden Übereinstimmungen mit den Befunden von Bähr abgehoben, selbstverständlich sind auch gewichtige Unterschiede auszumachen, auf die an dieser Stelle jedoch nicht eingegangen werden soll. 50 Art.: verhüllen, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (wie Anm. 35) Bd. 8 (1936/37) Sp. 1599. 51 SHIMAMURA SABURŌ, Der Prozeß in Shenyang, in: BUCHHOLZ, Teufel (wie Anm. 2) S. 125 f. 52 Eine Suche in japanischen Selbstzeugnissen anderer Kriegsteilnehmer hat viele weitere Fundstellen erbracht, in denen ein bedrohlicher und furchteinflößender Blick vonseiten der Chinesen beschrieben wird; vgl. hierzu die Angaben in Anm. 25. Zu einer ausdrücklichen Verknüpfung von Furcht und Schuld konnten hingegen zunächst keine anderweitigen Belege gefunden werden, für den Schluss, dass diese Verknüpfung typisch für die Chinaheimkehrer wäre, reicht dieser erste Überblick jedoch nicht aus.
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Die Selbstzeugnisse der Chinaheimkehrer in der japanischen Erinnerungslandschaft Dieses Schreiben tut auch denen weh, die es lesen; insbesondere wenn die gesellschaftlich geltenden „Sagbarkeitsregeln“53 verletzt werden, wird das Lesen unerträglich.54 Die Sagbarkeitsregeln, worüber man spricht und worüber man schweigt, waren und sind in Japan allerdings eindeutig anders gelagert, als wir es aus deutschen Kriegserzählungen kennen. Ein auffälliges Beispiel hierfür ist die Erwähnung von Kannibalismus. Dieses Tabu war in der japanischen Literatur schon bald nach Kriegsende durchbrochen worden55, und es dauerte nur etwa zwei Jahrzehnte länger, bis auch in Selbstzeugnissen das Bekenntnis auftauchte, selbst und wissentlich Kannibalismus begangen zu haben.56 Kriegserzählungen ehemaliger Soldaten, in denen der Verfasser sich selbst in der Täterrolle schildert, – auch solche über sexuelle Gewalt – gehörten in Japan ebenfalls durchaus in den Bereich des Sagbaren.57 Vermieden wird jedoch bis heute die Nennung der realen Namen anderer Beteiligter.58 Noch im Jahre 1993 wurde gegen Azuma Shirō, nachdem er einen Auszug seines Kriegstagebuchs veröffentlicht hatte, ein Prozess angestrengt - aber nicht etwa wegen der dort geschilderten Mordtaten im Zuge des Massakers von Nanking, wie es in Deutschland, wo die Verjährung für Mord 1979 aufgehoben wurde, unweigerlich geschehen wäre. Azuma wurde wegen Verleumdung eines ehemaligen Kameraden, den er namentlich genannt hatte, verklagt. Tatsächlich gibt auch Mikami in dem anfangs vorgetragenen Ausschnitt keine Namen für die beiden Vorgesetzten an, die den Rekruten das schreckliche Gemetzel befohlen hatten. Sie werden lediglich als der „Truppenführer“ oder der „Schnurrbärtige“ eingeführt, während er sich selbst und seine Mitsoldaten namentlich benennt. Was war also so provokativ an den zuerst im Februar 1957 veröffentlichten Erzählungen der Chinaheimkehrer? Es war wohl vor allem die schmerzhafte, blutige Konkretisierung der Vernichtungsstrategie, die den Angehörigen der gefallenen Soldaten die Möglichkeit nahm, ihre Männer und Söhne als Helden zu betrauern. Was ihre Aufsätze ganz besonders heraushob, war aber nicht nur die abschreckende Grausamkeit der Täter, sondern vor allem die anschauliche und nachfühlbare Schilderung der Leiden der chinesischen Opfer.
53 Den Begriff „Sagbarkeitsregeln“ entlehne ich SVENJA GOLTERMANN, Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg. München 2009. 54 Eine Rezension zu dem Band Sankō bemerkte: „Diese Aufzeichnungen [...] sind kaum zu ertragen.“ Nihon guntai no zangyaku (wie Anm. 12). 55 Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der autobiographisch geprägte Roman von ŌOKA SHŌHEI, Feuer im Grasland. Frankfurt a. M. 1994 (Tokyo, Shinchōsha 1951); ähnlich auch ENDŌ SHŪSAKU, Meer und Gift. Berlin 1976 (Tokyo, Bungei Shunjū 1957). 56 TAKAHASHI SABURŌ, ‚Senki mono’ o yomu. Sensō taiken to sengo Nihon shakai [‚Kriegsaufzeichnungen’ lesen. Kriegserfahrung und die Nachkriegsgesellschaft in Japan]. Kyōto, Akademia Shuppankai 1988 S. 105 f. 57 Vgl. hierzu BUCHHOLZ, Schreiben (wie Anm. 21) S. 317-325 und 363-374. 58 TAKAHASHI, ‚Senki mono’ (wie Anm. 56) S. 107.
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Die Chinaheimkehrer hatten schon bald nach der Heimkehr die Veröffentlichung ihrer Aufsätze als schlagkräftiges Mittel begriffen, um ihre in China gewonnene Überzeugung, dass der Angriffskrieg ein Kriegsverbrechen gewesen sei, für das Japan sich zu entschuldigen habe, in die Öffentlichkeit zu tragen. Mit ihrer Zeugnisbewegung (shōgen katsudō) verfolgten sie eine Mission: Durch ihre Selbstzeugnisse aus der Täterperspektive wollten sie die Realität eines Invasionskrieges erfahrbar machen und auf diese Weise die Geschichtsauffassung beeinflussen. Mit diesem Anspruch auf Deutungsmacht hoben sie sich jedoch nicht etwa von den anderen Schreibbewegungen in Japan ab, dieses Anliegen hatten sie mit vielen anderen Dokumentationsgruppen oder auch Erinnerungsgemeinschaften im Japan der Nachkriegszeit gemeinsam. Die von den Pionieren der japanischen Schreibbewegungen propagierten Ziele kamen den Motiven der Chinaheimkehrer sehr entgegen: Der Lehrer und Volkserzieher Hashimoto Yoshio, der sich seit den 1960er Jahren für eine „Bewegung des Alltagsschreibens“ (fudangi undō) eingesetzt hatte, formulierte den griffigen Spruch: „Wer schreibt, schweigt nicht“59, und der Historiker Irokawa Daikichi, die graue Eminenz der „Bewegung für eine eigene Geschichte“ (jibunshi undō), drückte dasselbe etwas anspruchsvoller aus: „Wer seine eigene Geschichte aufschreibt, macht sich auch die große Geschichte zu eigen.“60 Die Chinaheimkehrer bildeten nur eine Erinnerungsgemeinschaft unter vielen, die mit ihren Selbstzeugnissen über die Kriegserfahrung jeweils andere Aspekte der Erinnerung an den Krieg betonten. Das Spektrum dieser Erinnerungen ist „kaleidoskopisch“61, und ich möchte aus der japanischen Erinnerungskultur, in der autobiographische Texte und Eigengeschichten (jibunshi) eine so außergewöhnlich große Bedeutung haben, nur zwei weitere Beispiele nennen: Die Sammelbände von Zusammenschlüssen wie dem „Verein zur Aufzeichnung des 15. August“ (Hachigatsu jūgonichi o kiroku suru kai) gehen in die Hunderte; in den dort zusammengestellten Beiträgen wird die persönliche Reaktion auf die kaiserliche Bekanntgabe der Niederlage geschildert. Solche Eigengeschichten haben mit Sicherheit erheblich zu der heute vorherrschenden Erinnerung an diesen Tag beigetragen und diese festgeschrieben. Sie wurden zu Bausteinen des Gründungsmythos des heutigen Nachkriegsjapans, nämlich einer Stunde Null am 15. August 1945, um 12 Uhr mittags. Oder: Der „Verein zur Aufzeichnung der Bombennächte von Tokyo“ hat 1974 fünf Bände mit schriftlichen Erinnerungsbeiträgen veröffentlicht62; davon inspiriert entstanden ähnliche Vereine auch in anderen vom Bombenkrieg betroffenen Städten, laut Takahashi Saburō, dem Chronisten der Kriegsaufzeichnungen in Japan, waren es etwa fünfzig Dokumentationsgruppen (kiroku kai)63, und Anfang der 1980er Jahre erschien 59 HASHIMOTO YOSHIO, Dare mo ga kakeru bunsho: ‚Jibunshi’ no susume [Aufsätze, die ein jeder schreiben kann: Ratschläge für eine ‚Eigengeschichte’]. Tokyo, Kōdansha 1978 S. 163. 60 IROKAWA DAIKICHI, Jibunshi. Sono rinen to kokoromi [Eigengeschichte. Deren Konzeption und ein eigener Versuch]. Tokyo, Kōdansha 1992 S. 11. 61 JOHN W. DOWER, ‘An Aptitude for Being Unloved’: War and Memory in Japan, in: Crimes of War. Guilt and Denial in the Twentieth Century. Hg. OMER BARTOV/ATINA GROSSMANN/MARY NOLAN. New York 2002 S. 217-241, hier 222. 62 TŌKYŌ KŪSHŪ O KIROKU SURU KAI (Hg.), Tōkyō daikūshū – sensaishi [Die Bombenangriffe auf Tokyo – Aufzeichnungen über die Schrecken des Krieges]. 5 Bde. Tokyo, Kōdansha 1973-1974. 63 TAKAHASHI, ‚Senki mono‘ (wie Anm. 56) S. 85.
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schließlich eine zehnbändige Ausgabe mit Erinnerungen an die Bombennächte aus ganz Japan.64 Damit haben diese Dokumentationsgruppen einerseits beträchtlich zur Stärkung der Friedensbewegung beigetragen, aber zweifellos auch Japans Ruf mitbegründet, sich mehr um die eigenen Opfer als um den japanischen Täterbeitrag zu kümmern. Allerdings muss man hierbei bedenken, dass die Erinnerungen an die Bombennächte in der Mehrzahl aus der Feder von Frauen stammten und aus diesem Grunde auch schon Jahre früher veröffentlicht wurden als die Erinnerungen von Soldaten, die sich in der Regel erst wesentlich später, nämlich nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben, dem Aufschreiben ihrer Kriegserlebnisse zuwandten.65 Der Strom veröffentlichter Kriegserinnerungen ist bis in das 21. Jahrhundert hinein nicht abgerissen, und daran lässt sich die Besonderheit der japanischen Erinnerungslandschaft – im wahrsten Sinne des Wortes – ablesen: Um diese Erinnerung wird nach wie vor gekämpft. Man könnte die massenhaft veröffentlichten Eigengeschichten als persönliche Eintragungen in überdimensionierte Unterschriftenlisten begreifen: Die Mitglieder verschiedener Erinnerungsgemeinschaften schreiben sich hier mit ihrem Selbstzeugnis ein, das sich von dem ihres Vorgängers nicht wesentlich unterscheidet, mit dem sie aber das Gewicht insgesamt erhöhen und ihren Einfluss auf das Geschichtsbild verstärken wollen. Selbstverständlich sind all diese Dokumentationsgruppen und Bürgergruppen nunmehr auch im Internet vertreten, auch der Verein der inzwischen hochbetagten Chinaheimkehrer betreibt eine eigene Webseite. In den letzten Jahren hat sich erfreulicherweise eine Neubewertung des japanischen Umgangs mit der Vergangenheit durchgesetzt.66 Lange Zeit standen bei den von außen kommenden Beobachtern hauptsächlich die offiziellen Verlautbarungen der konservativen Regierungen im Zentrum der Aufmerksamkeit, die sich in den Selbstzeugnissen abbildende, vielschichtigere Landschaft wurde hingegen nur selten in die Betrachtung einbezogen. Die innerjapanische Bewertung hat sich allerdings wenig geändert, denn die Aufmerksamkeit der sogenannten Progressiven lässt nicht nach: Sie stehen ständig bereit, um ihre warnende Stimme zu erheben. Das Beschwören der unabgeschlossenen Vergangenheit und die Kritik an gegenwärtigen Tendenzen sind sowohl eine Warnung vor der Gefahr als auch eine Festschreibung dieser Gefahr. Und wir haben es tatsächlich diesen hartnäckigen Wortmeldungen der japanischen Progressiven, seien es Historiker, Journalisten, Schriftsteller oder einfache Kriegsteilnehmer, zu verdanken, dass wir über die Geschichte der sogenannten „Troststationen“ (vulgo: Armeebordelle mit Zwangsprostituierten) rela-
64 NIHON NO KŪSHŪ HENSHŪ IINKAI (Hg.), Nihon no kūshū [Bombenangriffe auf Japan]. 10 Bde. Tokyo, Sanshōdō 1980-1981. 65 Zur Altersstruktur in den Schreibbewegungen vgl. BUCHHOLZ, Schreiben (wie Anm. 21) S. 138 f. 66 Z.B. DOWER, Aptitude (wie Anm. 61); TAKASHI YOSHIDA, The Making of the “Rape of Nanking”: History and Memory in Japan, China and the United States. Oxford 2006; PHILIP SEATON, Japan’s Contested War Memories: The ‘memory rifts’ in historical consciousness of World War II. New York 2007.
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tiv gut Bescheid wissen – während die Existenz deutscher Wehrmachtsbordelle in den hiesigen Medien kein vergleichbares Interesse hervorgerufen hat.67 Es waren japanische Frauengruppen, die im Jahre 2000 in Tokyo ein „Internationales Tribunal über Kriegsverbrechen an Frauen“ organisiert haben, und es waren zwei Chinaheimkehrer, die im Alter von 87 und 88 Jahren sich dem Tribunal als Zeugen zur Verfügung gestellt und öffentlich über ihre eigenen Besuche in den Bordellen und über Vergewaltigungen ausgesagt haben. Ihre Begründung lautete: Wer das verschweigt, verschweigt die Hälfte der Realität im Krieg. Ich möchte an dieser Stelle auf einen Aspekt der Erinnerung an den Krieg aufmerksam machen, der offenbar so schmerzhaft ist, dass er bis heute nur selten Erwähnung in den japanischen Selbstzeugnissen findet, auch nicht in denen der Chinaheimkehrer. Es handelt sich um solche Vorkommnisse, bei denen Gewalttaten an den eigenen Landsleuten verübt wurden. Militärausbilder, die ihre Rekruten bis aufs Blut malträtierten und Deserteure erschießen ließen, schweigen bis heute. Obwohl in einer Unzahl von Berichten bezeugt wird, dass es in den Militärlagern zum Alltag gehörte, eine Art Spießrutenlaufen (shiteki seisai) zu veranstalten und den Soldaten zu befehlen, sich gegenseitig zu ohrfeigen, gibt es niemanden, der sich daran erinnert, selbst seine Kameraden geschlagen zu haben – auch nicht auf Befehl. Das Gleiche gilt für Militärangehörige, die in aussichtsloser Lage einen Gruppenselbstmord befohlen, aber als einer der wenigen überlebt haben. Und Eltern, zumeist Mütter, die während der Flucht aus der Mandschurei ihre Kinder eigenhändig töteten oder aussetzten, möchten darüber ebenfalls weder reden noch schreiben. In solchen Fällen ist auch oder gerade in Japan kein Platz für Erinnerung. Alle gesellschaftlichen Gruppen pflegen ihre Erinnerungslandschaft. Selbstredend haben die Rechtsextremen ebenfalls ihre Zirkel und Zeitschriften und tun ihre Meinung im Internet kund. Sie erreichen mit ihren Äußerungen unweigerlich große Empörung aufseiten der Progressiven, die sich wiederum in neuen Sammelbänden, Diskussionsrunden und Friedensausstellungen materialisiert, aber letztlich in keinem Verhältnis zu der wirklichen Bedeutung dieser patriotischen Gruppierungen steht, die in den letzten Jahrzehnten erheblich an Einfluss verloren haben.68 Die rückschrittlichen Äußerungen konservativer Politiker oder die Versuche, neue patriotische Schulbücher zu konzipieren und in die Schulen zu bringen, kommen nicht mehr aus der gesellschaftlichen Mitte Japans. Dass sie auch im Ausland mit Erschrecken zur Kenntnis genommen werden können, liegt zu einem wesentlichen Teil gerade an den wachsamen Progressiven, die jede solcher Äußerungen mit einem Aufschrei begleiten. John Dower interpretiert diese Vorstöße sogar als ein verzweifeltes Aufbäumen der letzten Patrioten, die sich einer Meinungsübermacht entgegenstemmen.69 67 Dieses Thema ist zwar in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung gerückt (z.B. REGINA MÜHLHÄUSER, Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941-1945. Hamburg 2010), die Existenz der deutschen Wehrmachtsbordelle hat jedoch keine vergleichbare internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen, von einer breiten Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit ganz zu schweigen. 68 Die Rechtsextremisten liegen nach aktuellen Umfragen bei 3-5%, vgl. SEATON, War Memories (wie Anm. 66) S. 22. 69 DOWER, Aptitude (wie Anm. 61) S. 220 f.
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Woran liegt es, dass dieser Kampf in Japan so hartnäckig und verbissen geführt wird? Das Besondere an der japanischen Erinnerungslandschaft ist ihre unregulierte Offenheit, die mit großer Vielseitigkeit einhergeht, und in der jeder mit seiner eigenen Geschichte einen Platz findet, keiner qua Gesetz oder gesellschaftlicher Ächtung seine Geschichte für sich behalten muss. Wer sich dazu bekennt, als Soldat während des Krieges Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben, muss in Japan keine juristische Verfolgung fürchten, genauso wie jemand, der japanische Kriegsverbrechen rundweg ableugnet, mit keinerlei rechtlichen Konsequenzen zu rechnen hat. Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte, dass gerade weil Japan auf eigene Initiative keine juristische Verfolgung von Kriegsverbrechen durchgeführt hat, die Verjährung für Mord nicht aufgehoben wurde und das Leugnen des Massakers von Nanking nicht unter Strafe steht, die Erinnerung an den Krieg so umkämpft und lebendig geblieben ist – und genau aus diesem Grunde ist auch die selbstkritische Täterperspektive in den veröffentlichten Erinnerungen so präsent. Wer in Japan einen Lebensbericht verfasst, in dem er seine Verstrickungen in die Verschleppung koreanischer Frauen in die Zwangsprostitution schildert70, will dieses Bekenntnis als Waffe gegen die Behauptung der Gegenseite nutzen, solche Verschleppungen habe es nicht gegeben. Dieser Doppelsinn der Geständnisse von Kriegsverbrechen, mit denen einerseits Reue bekundet wird, die aber andererseits auch als schlagendes Argument gegen die Leugnung von Kriegsverbrechen auf der anderen Seite eingesetzt werden, ist offenkundig eine Besonderheit der japanischen Erinnerungslandschaft.
70 YOSHIDA SEIJI, Watakushi no sensō hanzai. Chōsenjin kyōsei renkō [Meine Kriegsverbrechen. Zwangsverschleppungen von Koreanern]. Tokyo, San’ichi shobō 1983.
WOLFGANG SCHWENTKER
Schreiben und Erinnern Ein vergleichender Kommentar
Vorbemerkung Das Thema „Erinnerung“ hat sich in den Kulturwissenschaften der letzten Jahre zu einem eigenständigen Paradigma der Forschung entwickelt. Die Gründe dafür sind historischer, sozial-psychologischer, wissenschaftstheoretischer und wirtschaftlich-technologischer Natur. Das 20. Jahrhundert war mehr als andere zuvor ein Jahrhundert der Gewalt. Insbesondere die Opfer der zwei Weltkriege haben die Aufmerksamkeit der Forschung seit den 1970er Jahren auf die Formen des Gedenkens an die zahllosen Toten gelenkt. Ein weiterer Grund für das nachhaltige Interesse an Erinnerung – nicht nur mit Blick auf die beiden Weltkriege – hat mit den veränderten sozialen und ökologischen Wahrnehmungskonstellationen seit den 1970er Jahren zu tun. Die Wachstumskrisen und damit einhergehenden düsteren Zukunftsprognosen haben der Erforschung der „Erinnerungsorte“ eine unzweifelhaft nostalgische, bisweilen sogar kulturpessimistische Note gegeben. Ein anderer Grund für das wachsende Interesse an der „Erinnerung“ ist wissenschaftstheoretischer Natur. Zuerst der „linguistic turn“, dann der „visual turn“ haben der positivistischen Selbstgewissheit historischer Erkenntnisgewinnung den Garaus gemacht. Heute wird demgegenüber der konstruktivistische Charakter der Geschichte stärker betont, und damit stellt sich auch das Verhältnis von „Geschichte“ und „Erinnern“ in einem neuen Lichte dar. Nachdem die großen Makrotheorien von Marx, Weber und anderen an Faszination eingebüßt haben, ist unter dem Einfluss der Historischen Anthropologie der einzelne Mensch wieder stärker ins Zentrum gerückt und hat der neuen Kulturgeschichte zu einem bemerkenswerten Auftrieb verholfen. Schließlich fiel die Erinnerungsforschung zeitlich mit Prozessen der Regionalisierung und Globalisierung zusammen. Die mit diesen Entwicklungen einhergehenden Distanzerfahrungen, beispielsweise durch Migration oder Formen kosmopolitaner Lebensführung, höhlen sozio-kulturelle Identitäten aus und konfrontieren den Einzelnen, Minoritäten oder ganze Gesellschaften mit neuen Lebensbezügen und fremdkulturellen Milieus. In einer Welt ohne Grenzen scheint das „Erinnern“ Individuen und Gemeinschaften neue Orientierung zu geben, – jetzt und in der Vergangenheit. Unter dem Einfluss der Arbeiten von Maurice Halbwachs, Francis Yates, Pierre Nora, Jan und Aleida Assmann und anderen operiert die Erinnerungsforschung heute mit drei zentralen Kategorien des „Gedächtnisses“ als dem Ort, in dem Erinnerung gebündelt, geformt und geordnet wird.1 1
Auf Einzelnachweise wird hier verzichtet. Dafür sei hingewiesen auf den systematisch zusammenfassenden Beitrag von CHRISTOPH CORNELIßEN, Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54/10. 2003 S. 548-563.
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Das „kollektive Gedächtnis“ – darauf hat insbesondere Maurice Halbwachs hingewiesen – betont die sozialen Rahmenbedingungen des Erinnerns. Individuelles Erinnern sei letztlich nicht möglich ohne jene Instrumente, die durch Worte und Vorstellungen gebildet werden, die das Individuum nicht erfunden, sondern seinem Milieu entliehen hat. Die Folge davon sei, dass man individuelles und soziales Gedächtnis nicht zwingend klar unterscheiden könne. Nach Halbwachs verwandeln sich vergangene Ereignisse nicht ohne weiteres in Erinnerung; sie werden dazu gemacht, und zwar durch kollektive Bedürfnisse nach Sinnstiftung und durch Traditionen und Wahrnehmungsweisen, die aus spezifischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erwachsen.2 Demgegenüber bezieht sich das „kommunikative Gedächtnis“ auf tatsächliche, in der Regel auf mündlich oder schriftlich tradierte Erfahrungen, die Einzelne oder Gruppen von Menschen gemacht haben. Man kann das „kommunikative Gedächtnis“ als eine Art „Kurzzeitgedächtnis“ verstehen, das in der Regel die Erfahrungen und Erlebnisse von maximal drei aufeinander folgenden Generationen vermittelt. Diese Generationen, z.B. die „Nachkriegsgeneration“, können in diesem Zusammenhang eine „Erfahrungs-, Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft“ bilden.3 Das „kulturelle Gedächtnis“ ist ein generationen- und epochenübergreifendes Konstrukt, das nicht von psychischen Affekten oder kognitiven Leistungen Einzelner getragen wird, sondern von externen Medien und Institutionen vermittelt wird. Dazu gehören beispielsweise Artefakte wie Texte, Bilder und Skulpturen, Architektur und Landschaften, aber auch Feste und Rituale. Das kulturelle Gedächtnis fungiert dabei als der Erinnerungsort objektivierter Kultur, die sich nachfolgende Generationen durch Erlernen erst aneignen müssen.4 Diese drei Unterscheidungen zwischen dem kollektiven, dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis helfen auch bei der Klassifizierung und Deutung von Selbstzeugnissen. Die drei hier vorliegenden Studien, die das Thema „Schreiben und Erinnern“ in ganz unterschiedlichen zeitlichen und kulturellen Zusammenhängen erörtern, wurden vor dem Hintergrund dieser Unterscheidungen gelesen und werden im Folgenden systematisch-vergleichend kommentiert. Die oben in stark vereinfachter Form gemachten Unterscheidungen werden dabei mit erzähltheoretischen Fragestellungen kombiniert, die in ihrer Gesamtheit eine „Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses“ umreißen. Insbesondere bei der Interpretation von Autobiographien, Biographien oder Memoiren spielen spezifische Darstellungsverfahren eine wichtige Rolle. Astrid Erll hat in diesem Zusammenhang fünf verschiedene Modi unterschieden: erfahrungshaftige, monumentale, historisierende, antagonistische und reflexive Verfahren der Darstellung.5 Sie korres-
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MAURICE HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart 1967. Vgl. HARALD WELZER, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002. Vgl. u.a. JAN ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992. ALEIDA ASSMANN, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999. Vgl. ASTRID ERLL, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart 2005 S. 168. Nach Erll korrespondiert der „erfahrungshaftige Modus“ mit dem kommunikativen Gedächtnis und der „monumentale Modus“ mit dem „Mythos des verbindlichen kulturellen Gedächtnisses“. Der historisierende Modus hingegen beschreibt Erfahrungen als historisch abgeschlossen, der antagonisti-
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pondieren zum Teil mit den oben gemachten Unterscheidungen zum „Gedächtnis“ im Kontext der Erforschung von Erinnerungskulturen. Die Lektüre der drei hier vorliegenden Texte folgte acht Fragestellungen, bei denen die historischen Rahmenbedingungen der Erinnerung, die drei Typen des Gedächtnisses und verschiedenartige Modi der textuellen Darstellung zueinander in Beziehung gesetzt werden.
1. Wie lassen sich Form und Inhalt dessen bestimmen, was erinnert wird? Thema des Beitrags von Angelika Schaser sind autobiographische und biographische Erzählungen der Konversion vom Protestantismus zum Katholizismus im 19. Jahrhundert. Diese dienen den Autorinnen und Autoren dazu, ihrer Lebensgeschichte eine Struktur und einen Sinn zu geben. Ein wichtiges Ziel war, die Interpretationshoheit über den Akt der Konversion zu behalten. Viele Erzählungen griffen zu diesem Zweck weit in die Vergangenheit aus und ließen den Bericht dann auf den Akt der Konversion selbst zulaufen. Dargestellt wurden in der Regel geistig-seelische Prozesse, die der Konversion vorausgehen, nicht der Akt der Konversion selbst. Der Charakter des Schreibens aus der Retrospektive trug der inhaltlichen Fokussierung Rechnung. Viele Konversionserzählungen wurden unmittelbar nach der Konversion verfasst, nicht unbedingt am Lebensabend des oder der Schreibenden. Die Erzählung ist demnach (wie das Leben der Autoren) nicht unbedingt abgeschlossen, sondern verweist auch auf die Zukunft, nunmehr in einem anderen religiösen Milieu. Der Erzählmodus kann also nicht als „historisierend“, sondern eher als „erfahrungshaftig“ charakterisiert werden. Die Erinnerungen der Chinaheimkehrer mit Blick auf die von ihnen begangenen Kriegsverbrechen während des Chinesisch-Japanischen Krieges 1937-45 sind im Vergleich zu den Konversionserzählungen weniger kontextbezogen, sondern stellen den Akt der Tötung ins Zentrum der Erinnerungen. Es handelt sich in allen Fällen um die Nachzeichnung extremer Gewaltsituationen aus Täterperspektive. Der Wechsel von Erzählperspektiven (Ich-Er) reflektiert den Ausnahmecharakter dessen, was erinnert wird. Die Texte spiegeln ganz konkret die Schrecken des Krieges mit Blick auf die Opfer wider, denen im Erinnern offensichtlich Tribut gezollt wird. Täter und Opfer treten sich in den Texten nochmals „Auge in Auge“ gegenüber. Die zugrundeliegende Vorstellung von einem personalisierten Krieg prägt auf diese Weise auch den Duktus der Erzählungen, der hier ebenfalls einen stark erfahrungshaftigen Charakter trägt. Die Ereignisse, die geschildert werden, sind zwar für sich abgeschlossen, verfolgen aber ihre Autoren bis in die Gegenwart und sollen als moralische Lehrstücke für die Zukunft gelesen werden. Während die Selbstzeugnisse deutscher Konvertiten und japanischer Kriegsteilnehmer aus der Feder von Laienautoren stammen, liegen im Fall von Halide Edib Adivar, die Hülya Adak in ihrem Beitrag behandelt, Memoiren einer renommierten Schriftstellerin und politischen Aktivistin vor. Ihre Sonderrolle machte es ihr möglich, durch ihre Texte, vor allem ihre Novellen, direkt das kollektive Gedächtnis in der Türkei an den sche thematisiert Erinnerungskonkurrenzen, und der reflexive ermöglicht eine kritische Selbstbeobachtung.
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nationalen Unabhängigkeitskampf und die Ereignisse im Ersten Weltkrieg zu formen. Sie wird von Adak als eine „figure in between“ porträtiert, die einerseits den Nationalismus unterstützte und andererseits den Völkermord an den Armeniern als moralisches Unrecht anprangerte. Ihre Memoiren werden als Teil eines „public archive“ gelesen, das Teil der türkischen Erinnerungskultur ist, diese aber zweifellos nicht dominiert. Da die Autorin an den Ereignissen direkt beteiligt war und diese bis heute einen umkämpften Ort in der „Erinnerungslandschaft“ darstellen, ist der den Memoiren zugrundeliegende Erzählmodus nicht historisierend, sondern erfahrungshaftig.
2. Wo und wie werden Grenzen gezogen und dadurch Gemeinschaftsbildung (politisch, sozial, religiös) hergestellt? Im Fall der Konversionserzählungen liegen die Grenzen zwischen der protestantischen Familie, die verlassen wird, und der katholischen Gemeinschaft, der sich die Konvertiten zuwenden. Der Begriff des „antagonistischen Erzählmodus“ würde den Erzählungen nur unvollkommen gerecht, weil, wie Angelika Schaser zeigt, Konversionserfahrungen und -erzählungen häufig einen dialogischen Charakter tragen. Gelegentlich werden sie sogar als „Gespräche“ vorgeführt. Abgrenzung und Gemeinschaftsbildung verlangen nach einer doppelten inhaltlichen Ausrichtung: Die Erzählungen sind einerseits als Rechtfertigungsschriften gegenüber der protestantischen Gemeinschaft, die man verlassen hat, angelegt; andererseits dienen sie der Rechtfertigung der Konversion gegenüber der neuen Gemeinschaft, nicht zuletzt der Amtskirche. Auch in den Kriegserinnerungen der Chinaheimkehrer schreibt das Gegenüber, in diesem Fall das Opfer, an den Erinnerungen mit. Aber es tut dies nicht, wie bei den Konversionserzählungen, im Dialog, sondern auf eine antagonistische Weise. Die Erzählungen dienen deshalb auch nicht der Gemeinschaftsbildung, weil sie beispielsweise Formen der Soldatenverehrung die moralische Grundlage entziehen. Als Eigengeschichten der unmittelbar Beteiligten (und Schuldigen) sind diese Erinnerungen auf einer spezifischen Ebene der japanischen Erinnerungskultur angesiedelt, die Petra Buchholz an anderem Ort als „Graswurzelebene“ beschrieben hat.6 Sie steht mit der offiziellen Ebene des Diskurses über den Krieg im politischen Establishment in keinerlei Verbindung und ist auch vom kulturellen Diskurs der Wissenschaftler und Medien zu trennen. Gemeinsam ist den Autoren eine recht positive Beschreibung des chinesischen Kriegsgegners, während das Verhalten von Koreanern oder Russen nach dem Kriegsende eher kritisch gesehen wird. Die Memoiren von Halide Edib Adivar wenden sich gegen ein den Völkermord an den Armeniern verteidigendes Narrativ republikanischer Provenienz. Im Gegensatz zu den Erinnerungen der Chinaheimkehrer scheinen die Memoiren der türkischen Schriftstellerin weniger das Gespräch mit den Opfern zu suchen, sondern die kritische Auseinandersetzung mit der in der Türkei bis heute verbreiteten Auffassung, die die Armenier zu Rebellen, Verrätern und Totengräbern des Osmanischen Reichs macht. Darüber hin6
Siehe PETRA BUCHHOLZ, Schreiben und Erinnern. Über Selbstzeugnisse japanischer Kriegsteilnehmer. München 2003.
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aus stellen die Memoiren der Schriftstellerin und Aktivistin die alleinige Führungsrolle Mustafa Kemals im Zuge der Gründung der Türkischen Republik in Frage, ein Umstand, der 1925 zum Bruch mit diesem und die Autorin ins Exil nach London und New York führt.
3. Welche Ereignisse, Geschichten stehen im Zentrum der Erinnerung? In den Konversionserzählungen spielen häufig Begegnungen mit herausragenden Persönlichkeiten eine Rolle. Sie veranlassen die Konvertiten schließlich zum Übertritt in die katholische Kirche. Voraus geht dem aber eine intensive und kritische Beschäftigung mit dem Protestantismus. Gegenüber der katholischen Mystik wird dieser als zu nüchtern empfunden. Beklagt wird die unübersichtliche Meinungsvielfalt, die fehlende emotionale Einbindung und die unzureichende Seelsorge. Der Krieg als langwieriger Prozess vor dem Hintergrund politischer Konflikte und ökonomischer Strategien spielt in den Erzählungen der Chinaheimkehrer keine Rolle. Der Akt des Tötens scheint oftmals im Zentrum der Texte zu stehen; die Erinnerung daran im Akt des Schreibens wird ein Versuch gewesen sein, die Erlebnisse zu bewältigen. Der Verlust des eigenen „Ansehens“ im Blick des Opfers wird in dem Beitrag von Petra Buchholz deutlich herausgearbeitet. Schuld wird nicht auf andere Befehlsträger abgewälzt, sondern als eigene durch die Aufzeichnung der Geschehnisse angenommen. Während die Konversionserzählungen eine Kritik am (protestantischen) Gegenüber enthalten, lassen sich die „Eigengeschichten“ auch als „Selbstkritik“ lesen. Die Ereignisse des Ersten Weltkriegs sind im Falle Halide Edib Adivars Teil einer umfassenden Lebensgeschichte, die ihren Anfang zur Zeit des Osmanischen Reiches hat und den multi-ethnischen bzw. multi-religiösen Charakter dieses Reichs widerspiegelt. Der erste Band der Erinnerungen reicht bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, der zweite Band beschreibt die Zeit danach, vom Waffenstillstand und dem dann folgenden Krieg gegen Griechenland bis in die ersten Jahre der Republik. Während die Positionen der Konvertiten und der japanischen Kriegsteilnehmer mit Blick auf die moralische Bewertung ihres Handelns recht klar sind, betont Adak im Fall von Halide Edib Adivar deren Ambivalenz mit Blick auf den Krieg, den türkischen Nationalismus und vor allem die Massaker an den Armeniern.
4. Wo liegen Unterschiede und Gemeinsamkeiten der politischen und sozialen Verwertung? Wie Angelika Schaser in ihrer Analyse der Konversionserzählungen zeigt, bilden diese in ihrer Gesamtheit ein religiöses Erinnerungskartell. Sie werden von der katholischen Kirche systematisch gesammelt. Herausgeber und Verleger geben den Erzählungen oft durch ihr editorisches Eingreifen eine neue „Rahmung“. Auffallend ist darüber hinaus, wie früh die kirchen- und religionsgeschichtliche Forschung zu diesen Konversionserzählungen eingesetzt hat.
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Ähnlich wie die Konversionserzählungen verfolgen auch die Kriegserzählungen in gesammelter und edierter Form einen politischen Zweck. Die verschiedenen Sammlungen dienen als quellengestützte Argumentation gegen die von reaktionärer Seite immer wieder vorgebrachten Versuche, japanische Gräuel im Krieg zu leugnen. Sie sind ein gewichtiges Korrektiv gegenüber einer die japanische Verantwortung für die Kriegsführung relativierenden Sicht auf die Geschichte. Die Memoiren Halide Edib Adivars erschienen 1926 und 1928 zuerst in englischer Sprache, während sich die Autorin im Exil befand. Sie wurden relativ breit und intensiv rezipiert. Adak stellt beispielsweise die Diskussion über die Autorin in der amerikanischen Presse vor, in der die Ambivalenz des politischen Standpunkts der Protagonistin deutlich wird. In diesem fremdsprachlichen Kontext konstituieren die Memoiren ein konkurrierendes Erinnerungsnarrativ über die Gründungsgeschichte der modernen Türkei.
5. Wie lässt sich die Schreibsituation in den jeweiligen kulturellen Milieus beschreiben? Die meisten Konversionserzählungen stellen sich in den Zusammenhang der politisch und religiös bedeutsamen Ereignisse des 19. Jahrhunderts. Die Auswirkungen der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege kommen dabei ebenso zur Sprache wie die Revolutionen von 1830 und 1848 oder die Zentralisierungsbestrebungen des Vatikans im zweiten Drittel des Jahrhunderts. Viele Ereignisse, insbesondere die Verbreitung des Liberalismus, werden dem negativ bewerteten Einfluss des Protestantismus zugeschrieben. Im Gegensatz dazu stellen die Kriegserinnerungen der Chinaheimkehrer kaum einen historischen Kontext her, sondern konzentrieren sich auf die Taten der Soldaten und Offiziere im Krieg. Geschrieben wurden viele Texte in den letzten Monaten der Gefangenschaft, bevor die Männer 1956 wieder nach Japan zurückkehrten. Die Gefangenen bildeten auf diese Weise eine Erinnerungs- und gleichzeitig eine Schreibgemeinschaft. Daraus erklärt sich die strukturelle Ähnlichkeit der Aufzeichnungen. Auffällig ist, wie Petra Buchholz zeigt, der Kontrast zwischen dem, was man im Krieg erlebt hat, und der vergleichsweise gelösten Atmosphäre in den letzten Monaten der Kriegsgefangenschaft. Die Memoiren Halide Edib Adivars sind nicht Teil einer konsensualen Erinnerungsoder Schreibgemeinschaft, wie in den anderen beiden Fällen, sondern stellen eine eher kritische Sichtweise auf den Gründungsmythos der modernen Türkei dar. Sie stellen den Mord an den Armeniern 1915/16 zwar in einen historischen Zusammenhang und nehmen dadurch Motive des republikanischen Narratives, etwa das der Revanche für früher begangenes Unrecht, auf. Andererseits betonen sie aber auch die kritische Haltung der Protagonistin diesen Entwicklungen gegenüber. Was die Analyse ihrer Memoiren im Vergleich zu den beiden anderen Fällen besonders schwierig macht, ist der Umstand, dass man ihre Memoiren in den Kontext ihres schriftstellerischen Oeuvres stellen muss, in dem sie zum Teil, beispielsweise in dem Roman „Das Flammenhemd“ aus dem Jahre 1922, einen dezidiert nationalistischen Standpunkt einnimmt.
Schreiben und Erinnern
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6. Was wird vergessen bzw. absichtlich ausgespart? Was die Konversionserzählungen betrifft, lässt sich die Frage für den Kommentator nicht einfach beantworten. Es bedürfte dazu eines Vergleichs mit Selbstzeugnissen von Menschen aus Konversionsmilieus, die selbst nicht konvertiert sind und eine Konversion gleichsam aus „naher Distanz“ beschreiben. Auch der Abgleich der Erzählungen mit Briefen und Tagebüchern der Autorinnen und Autoren, die diesen als Grundlage gedient haben könnten, würde hier möglicherweise weitere Aufschlüsse geben. Auch wenn die Grenzen dessen, was sagbar und aufschreibbar war, weit gesteckt waren, gab es doch auf Seiten der japanischen Kriegsgefangenen eine Reihe von Tabus, die in den Aufzeichnungen nicht gebrochen wurden. Was die Darstellung der Tötungsakte selbst betrifft, gab es offenbar kaum Aussparungen. Verbrechen an Landsleuten oder Akte von Kannibalismus werden aber nicht erzählt, obwohl es sie gab und sie deshalb vermutlich auch erinnert wurden. In den Tabubereichen fallen Schreiben und Erinnern auseinander. Bemerkenswert im Fall Halide Ebib Adivars ist, dass die Memoiren vergleichsweise spät (1962/63) von ihr selbst ins Türkische übersetzt wurden. Hülya Adak zeigt eindringlich, dass die kritischen Passagen in den Kapiteln zum Ersten Weltkrieg in der türkischen Übersetzung stark gekürzt und ihre berühmte Rede gegen die Massaker vollkommen getilgt wurden.
7. Wer schreibt? Und wer schreibt nicht? Im Fall der Konversionserzählungen repräsentieren Adelige und Angehörige bürgerlicher Schichten, vor allem Beamte oder Wissenschaftler, den Großteil der Autorinnen und Autoren. Sie verfügen über einen bestimmten Bildungsgrad und reflektieren ihre Rolle als Mitglieder einer konfessionell gespaltenen Gesellschaft. Bäuerliche Schichten oder Autoren aus der Arbeiterschicht finden sich kaum. Bei den Autoren der Kriegserinnerungen handelt es sich um ca. 1000 Männer, die bis 1956 zuerst in russischer, dann in chinesischer Kriegsgefangenschaft waren. Ein Drittel der Autoren stammt aus dem Offizierskorps, die anderen zwei Drittel waren einfache Soldaten, die sich zunächst nicht zutrauten, eigene Texte über das Erlebte zu verfassen. Der fehlende historische Kontext und die Fokussierung auf konkrete Ereignisse könnten hierin ihre Ursache haben. Ganz anders verfährt die ausgewiesene Schriftstellerin Halide Edib Adivar in ihren Erinnerungen. Sie stellt die Verfolgung und Vernichtung einer Volksgruppe in den Kontext historischer Entwicklungen. Erinnern heißt bei ihr auch: reflexive Beobachtung eines politischen Transformationsprozesses. Der Untergang des Osmanischen Reichs wird betrauert, und diese Trauer erst schafft den Raum für die Anerkennung der armenischen Opfer. Insofern bieten ihre Erinnerungen ein alternatives Narrativ für das kollektive Gedächtnis mit Blick auf die moderne Nationalstaatsbildung an.
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8. Wer liest? Welche Möglichkeiten bietet eine Rezeptionsästhetik der Erinnerung? Sichert literarische Qualität Erinnerung? Die Adressaten der Konversionserzählungen sind sowohl Protestanten, denen der Übertritt in eine andere Religionsgemeinschaft erklärt oder nahegelegt wird, und Katholiken, denen gegenüber die Ernsthaftigkeit dieses Schrittes dokumentiert wird. Als potentielle Leser haben die Autoren zunächst an Familienmitglieder, Freunde und Angehörige der eigenen Berufsgruppe gedacht. Die japanischen Soldaten und Offiziere haben zunächst keine spezifischen Lesergruppen im Auge gehabt. In der Gefangenschaft wussten sie ja nicht, ob und wann sie freikommen würden. Sie schreiben deshalb zunächst für sich selbst und für ihre Opfer, denn die Berichte blieben zunächst in China und gelangten erst später in Teilen nach Japan. Die Veröffentlichung konkreter Kriegserlebnisse sollte bewusst provozieren und einen kritischen Kontrast zur offiziösen Erinnerungspolitik bilden. Die Breitenwirkung der Memoiren der Schriftstellerin Halide Edib Adivar geht möglicherweise über die Rezeption der Konvertitenerzählungen und „Eigengeschichten“ hinaus, nicht zuletzt deshalb, weil sie zuerst in englischer Sprache erschienen. Man wird auch erwarten dürfen, dass die literarische Qualität ihrer Memoiren deutlich über derjenigen der Laientexte liegt. Aber besagt dies etwas über die Wirkungsdichte und -dauer von autobiographischen Erinnerungsschriften? Schützt Qualität vor Vergessen? Folgt man Aleida Assmann, ist dies nicht der Fall: „Eine intrinsische Qualitätsgarantie, die gegen Vergessen und Erosion in der Zeit immunisiert, gibt es nicht.“7 Auch Astrid Erll vermutet, dass spezifische textuelle Merkmale nicht zwangsläufig zum Vergessen bzw. zur Erinnerung führen, sondern eher der politische bzw. soziale Stellenwert eines Textes in einem spezifischen Milieu über seine Wirkung auf das kollektive Gedächtnis entscheidend ist: „Ob und wann ein literarischer Text zu einem Medium des kollektiven Gedächtnisses wird, kann damit letztlich nur über die Analyse seiner historischen Wirkung in der jeweiligen Erinnerungskultur beantwortet werden.“ 8 Hier liegen auch die Grenzen eines vergleichenden Kommentars.
7 8
Siehe ALEIDA ASSMANN, Was sind kulturelle Texte?, in: Literaturkanon – Medienereignis – kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Hg. ANDREAS POLTERMANN. Berlin 1995 S. 243. ERLL, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen (wie Anm. 5) S. 167.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
HÜLYA ADAK, Dr ShiO, 3roIessorin Ir VerJOeichende LiterDtur Dn der 6DEDncÖ 8niYersität Istanbul. Arbeitsschwerpunkte: Der Erste Weltkrieg und osmanische Armenier in der Geschichte und Literatur, Theorie und Geschichte der Auto-/Biographie und des Romans (insbesondere im osmanisch-türkischen Kontext), Geschlechter- und Frauenstudien, Nationalismus und nationale Mythen. JAMES S. AMELANG, Dr. phil., Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der 8niYersidad Autynoma of Madrid. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Stadt im Europa der Frühen Neuzeit, Sozial- und Kulturgeschichte Spaniens und Italiens in der Frühen Neuzeit, Geschichte der Anthropologie. J8DIT ÁROKAY, Dr. phil., Professorin für Japanologie an der 8niYersität Heidelberg, assoziiertes Mitglied der DFG-Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´. Arbeitsschwerpunkte: Intertextualität in der japanischen Literatur, rhetorische und sprachtheoretische Diskurse der Frühen Neuzeit, japanische Selbstzeugnisse, Frauenliteratur. ANDREAS BÄHR, Dr. phil., PriYatdozent für Neuere Geschichte an der Freien 8niYersität Berlin, 2004-2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der DFG-Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´, Teilbereich II, Projekt 3 „Die Konstituierung Yon ÄPerson· in Beschreibungen Yon Furcht und Angst. Selbstzeugnisse des Dreiigjährigen Krieges und der ÄTürkenkriege· des 1. Jahrhunderts´. Arbeitsschwerpunkte: Selbstkonstitution und SubjektiYität, Krankheit, Gewalt, Geschichte religiösen Denkens, Historische Epistemologie. PETRA B8&HHOL=, Dr. phil., Diplom-Pädagogin und Japanologin, Mitarbeiterin in der Redaktion des Großen Japanisch-Deutschen Wörterbuchs (Wadoku daijiten), 2004-2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFG-Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´, Teilbereich II, Projekt 5 „Bekenntnisse japanischer Kriegsgefangener in chinesischer Kriegsgefangenschaft´. Arbeitsschwerpunkte: Erziehung, Schulsystem und Schreibkultur in Japan, Schreibbewegungen als Element der japanischen Erinnerungskultur, Krieg und Gewaltdarstellung in japanischen Selbstzeugnissen. PETER B8RS&HEL, Dr. phil., Professor für Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit an der Humboldt-8niYersität zu Berlin, 2005-200 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der DFG-Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´, Teilbereich I, Projekt 2 „Die diplomatische persona im politischen Ritual.´.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Arbeitsschwerpunkte: Reinheit und Diplomatie. GESINE &ARL, Dr. phil.., Historikerin, 2004-2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFG-Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´, Teilbereich II , Projekt 4 „Selbstzeugnisse innerchristlicher KonYersionen aus dem Heiligen Römischen Reich und den Niederlanden im 1. und 18. Jahrhundert´. Arbeitsschwerpunkte: Religiöse KonYersionen, Selbstzeugnisse, christlich-jüdische Beziehungen. ABD8LLAH GÜLLÜO÷L8, M.A., Turkologe (Schwerpunkt: Osmanistik), 200-2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der DFG-Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´, Teilbereich I, Projekt 2 „Die diplomatische persona im politischen Ritual´. Arbeitsschwerpunkte: Kulturgeschichte des Osmanischen Reiches, osmanische Selbstzeugnisse, osmanische Diplomatiegeschichte, osmanische Geschichtsschreibung. ELKE HARTMANN, M.A., Historikerin und Islamwissenschaftlerin, 2008-2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFG-Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´, Teilbereich III , Projekt „Kulturelle SelbstYerortung und politisch-gesellschaftliche Handlungsoptionen im spätosmanischen Kontext: die Memoiren und Selbstportraits armenischer Fedayis´. Arbeitsschwerpunkte: Osmanische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, moderne Nations- und Staatsbildungsprozesse, Gewaltorganisation, Genozid, Historiographie, Selbstzeugnisse. SOPHIE HÄ8SNER, M.A., Historikerin, seit 2008 Doktorandin am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien 8niYersität Berlin mit dem PromotionsYorhaben: „Kriegserfahrungen Yon Frauen im Rotkreuzdienst während des Ersten Weltkrieges am Beispiel der autobiographischen Texte der Adrienne Thomas´ (Arbeitstitel). Arbeitsschwerpunkte: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frauen- und Geschlechtergeschichte, Medizingeschichte, Selbstzeugnisforschung. IRMELA HIJIYA-KIRS&HNEREIT, Dr. phil., Professorin für Japanologie (Literatur- und Kulturwissenschaften) an der F8 Berlin, Leiterin des Teilbereichs IV „Autobiographisches Schreiben als kulturelle Praxis´ der DFG-Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der modernen japanischen Literatur, Kulturtransfer, Selbstzeugnisse, Methoden- und Theorieprobleme der Japanforschung. GABRIELE JAN&KE, Dr. phil., Historikerin, 2004-2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFG-Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´, Teilbereich I, Projekt 1 „Gastfreundschaft in Selbstzeugnissen: Personkonzepte und ritualisiertes Handeln in der Frühen Neuzeit´.
Verzeichnis der Autoreninnen und Autoren
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Arbeitsschwerpunkte: Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe, Historische Anthropologie, Personkonzepte, Raumkonzepte, ritualisierte Lebensweisen, Patronage, Gelehrtenkultur, Gastfreundschaft, jüdische Geschichte, Frauenklöster. BARBARA KELLNER-HEINKELE, Dr. phil., Professorin a.D. für Turkologie an der Freien 8niYersität Berlin, Leiterin des Projekts 2a in Teilbereich I „Ritualisierte Lebensweisen´ und des Projekts in Teilbereich III „=ugehörigkeiten und Modernisierungen´ der DFG-Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´. Arbeitsschwerpunkte: Kulturgeschichte der TürkYölker, insbesondere des Osmanischen Reiches, Geschichte der Krimtataren und Türkmenen, türksprachige Selbstzeugnisse, Sprachpolitik in den postsowjetischen türksprachigen Republiken, Handschriftenforschung. HANS MEDI&K, Dr. phil., Professor i.R. für Neuere Geschichte, Leiter des Teilbereichs III „=ugehörigkeiten und Modernisierungen´ der DFG-Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´. Arbeitsschwerpunkte: Historische Anthropologie, Wahrnehmungen Yon Gewalt und Krieg in der Frühen Neuzeit, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Proto-Industrialisierung, Geschichte sozialer und politischer Theorien, Methoden- und Theorieprobleme der Geschichtswissenschaft. 8LRI&H MÜ&KE, Dr. phil., Professor für die Geschichte Lateinamerikas und der Iberischen Halbinsel an der 8niYersität Hamburg, 200-2010 Projektleiter der DFG-Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´, Teilbereich III, Projekt 6 „Das Tagebuch als transkultureller Ort bei Heinrich Witt, 199-1890´. Arbeitsschwerpunkte: Politische Geschichte, Geschichte des politischen Denkens, Selbstzeugnisse. MILTOS PE&HLIVANOS, Dr. phil., Professor für Neogräzistik an der Freien 8niYersität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Neugriechische Literatur- und Ideengeschichte des 18.-20. Jahrhunderts, Rezeptionstheorie und Kulturtransfer, Geschichte des Buches und des Lesens, Antikenrezeption. KIRSTEN RÜTHER, Dr. phil., PriYatdozentin für Neuere Geschichte an der Leibniz 8niYersität HannoYer. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte Afrikas, Geschichte der Globalen Interaktion, Geschichte transkultureller Verknüpfungen und Verflechtungen. ANGELIKA S&HASER, Dr. phil., Professorin für Neuere Geschichte an der 8niYersität Hamburg, Leiterin des Teilbereichs II „KonYersion, Furcht, Gewalt´ der DFG-Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´. Arbeitsschwerpunkte: Sozial- und Kulturgeschichte des 18.-20. Jahrhunderts, Frauen- und Geschlechtergeschichte, Selbstzeugnisse- und Biographieforschung, Historiographiegeschichte.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
WOLFGANG S&HWENTKER, Dr. phil., Professor für Yergleichende Ideengeschichte und soziales Denken an der 8niYersität Osaka. Arbeitsschwerpunkte: japanische und europäische Ideengeschichte, Geschichte des historischen Denkens und der Geschichtswissenschaft, Erinnerungskulturen &LA8DIA 8LBRI&H, Dr. phil., Professorin für die Geschichte der Frühen Neuzeit und Geschlechtergeschichte an der Freien 8niYersität Berlin, Sprecherin der DFG-Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´ und Leiterin des Teilbereichs I „Ritualisierte Lebensweisen´. Arbeitsschwerpunkte: Frauen- und Geschlechtergeschichte, Selbstzeugnisse, Personkonzepte, christlich-jüdische Beziehungen. JA&48ELINE VAN GENT, Dr. phil., Professorin für Geschlechtergeschichte und Geschichte der Frühen Neuzeit an der 8niYersity of Western Australia, &rawley. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechter- und Kolonialgeschichte, Emotionen in der Frühen Neuzeit, Personkonzepte. &HRISTINE VOGEL, Dr. phil., Juniorprofessorin für Geschichte Yom 1. bis zum 19. Jahrhundert mit europäischer Ausrichtung an der 8niYersität Vechta, 2008-2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Die diplomatische persona im politischen Ritual. Westeuropäische Gesandtschaftsberichte aus dem Osmanischen Reich (16.-18. Jahrhundert)´ (Rostock) und assoziiertes Mitglied der Forschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´. Arbeitsschwerpunkte: Europäische Medien- und Kommunikationsgeschichte, Aufklärung und Gegenströmungen, französisch-osmanische Beziehungen in der Frühen Neuzeit. &HRISTA WET=EL, M.A., Historikerin, 200-2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin der DFG-Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´, Teilbereich III, Projekt 6 „Das Tagebuch als transkultureller Ort bei Heinrich Witt, 199-1890´. Arbeitsschwerpunkte: Lateinamerikanische und deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichte des internationalen Handels, Geschlechtergeschichte, Historische Selbstzeugnisforschung. RI&HARD WITTMANN, Dr. phil., Islamwissenschaftler und Historiker, stellYertretender Direktor am Orient-Institut Istanbul, assoziiertes Mitglied der DFG-Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´. Arbeitsschwerpunkte: Osmanische Selbstzeugnisse, islamische Rechts- und Sozialgeschichte, =usammenleben Yon Nichtmuslimen und Muslimen in der Yormodernen islamischen Welt, Reiseliteratur Yon Reisenden zwischen der islamischen Welt und Westeuropa. FRAN=ISKA =IEP, M.A., Literaturwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien 8niYersität Berlin, 200-2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFG- Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller PerspektiYe´, Projekt „NarratiYe Konstruktion Yon Männlichkeit in autobiographischen Texten des 15. und 16. Jahrhunderts´.
Verzeichnis der Autoreninnen und Autoren
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Arbeitsschwerpunkte: Literatur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Selbstzeugnisforschung/ Autobiographik, Historische Geschlechterforschung mit dem Schwerpunkt Männlichkeiten, Genealogie in Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Historische Erzählforschung, Kulturtheorie
Gudrun Wedel
AutobioGr Aphien von Fr Auen ein lexikon
Das Lexikon bietet erstmals und auf breiter Basis Informationen zu mehr als 2.000 im 19. Jahrhundert geborenen Frauen aus dem deutschsprachigen Raum, die sich mit ihren publizierten autobiographischen Schriften der Öffentlichkeit präsentierten. Es gibt Auskunft über das Sozialprofil der Verfasserinnen, die Entstehungskontexte und Themen ihrer Autobiographien, die rezeptions wirksame Ausstattung dieser Texte für die Publikation, deren Publikations geschichte sowie ihre mediale Vielfalt und Reichweite. „Wer dieses umfangreiche Kompendium heranzieht, hat einen Meilenstein der Autobiographie und Selbstzeugnisforschung in der Hand.“ Sehepunkte „Wedels Lexikon ist eine Pionierarbeit, die [...] Wissenschaftler/innen, die zu biographischen oder geschlechtergeschichtlichen Themen arbeiten, zur Anschaffung empfohlen sei.“ H-Soz-u-Kult 2010. XIV, 1286 S. Gb. 170 X 240 mm. ISbN 978-3-412-20585-0
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Die Schwindsucht wird im französischen 19. Jahrhundert zu der Krankheit schöner, dem Tod geweihter Frauen. Autoren wie Alexandre Dumas und René de Chateaubriand vollziehen das literarische Frauenopfer im Zeichen einer Krankheit, deren widersprüchliche Symptomatik die Medizin der Zeit vor Rätsel stellt. Die Studie untersucht Briefe und Tage bücher schwind süchtiger Frauen, die sich die herrschenden Schwindsuchtsbilder in ihrem Schreiben je unterschiedlich aneignen. Dabei legt sie das Augenmerk auf die Verflechtung von Schrift, Körper und Krankheit, wodurch gerade die Prozessu alität und Unabgeschlossenheit des Schreibvorgangs in den Vordergrund rücken. An den Selbstzeugnissen von Pauline de Beaumont, Céleste de Cha teaubriand, Joséphine Sazerac de Limagne und Marie Bashkirtseff lässt sich eine ambivalente Dynamik aus Selbstverausgabung und Selbstkonstitution ab lesen, Charakte ristikum einer ›écriture de la consomption‹, die im literarischen und medizinischen Diskursgefüge der Zeit zu Verschiebungen führt. 2011. 263 S. Br. 155 x 230 mm. ISBN 978-3-412-20663-5
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