schlaich bergermann und partner: Interdisziplinäres Konstruieren zwischen Kontinuität und Innovation 9783955530099, 9783920034577


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German Pages [138] Year 2011

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Table of contents :
Vorwort
Im Gespräch mit schlaich bergermann und partner
Der Geist und der Mut des Büros machen den Unterschied
Konstruktion und Form
Wie kommt die Form in das Konstrukt?
Architekten und Ingenieure ziehen am gleichen Strang
Konstruktionsvarianten für ein Laborhochhaus
Von A bis Z - vom Entwurf zur Umsetzung
Prozessabläufe mit möglichst wenigen Schnittstellen
Neue Membran für die Olympia-Schwimmhalle München
Material und Innovation
Materialgerechtes Planen und Konstruieren
Experimentelles Bauen mit Holz
Entwicklung neuer Materialqualitäten
Mut zur Innovation mit Material und Konstruktion
Perspektiven und Synergien
Zur Sonne, zur Freiheit? - Vier Jahrzehnte solares Bauen
Potenziale und Tendenzen in der Sonnenenergienutzung
Synergien zwischen Solar- und Tragwerksplanung
Forschungsaktivitäten im Bereich Solarthermie
Von der beweglichen Struktur zum adaptiven System
Intelligente Folienkissen und selbstkühlende Milchpackungen
Kooperation und Verantwortung
Über das Selbstverständnis verantwortungsvoller Tragwerksplaner
Die Bereitschaft, Dinge gut zu machen
Global denken, lokal handeln
Kooperationen zwischen Boston, New York und Stuttgart
Brasilianische Leidenschaft und deutsche Rationalität
Experimente wagen - aktuelle Projekte mit Künstlern
Die Kunst, Ideen in die Realität umzusetzen
Didaktik der Tragwerke
Konstruktive Grundprinzipien
Die Brücke als Demonstrationsobjekt
Projekte und Personen
Werkverzeichnis
Partner / Mitarbeiter
Literatur / Bildnachweis
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schlaich bergermann und partner: Interdisziplinäres Konstruieren zwischen Kontinuität und Innovation
 9783955530099, 9783920034577

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schlaich bergermann und partner

∂ engineering

schlaich bergermann und partner

∂ engineering

Impressum mit Beiträgen von: Annette Bögle, Prof. Dr. Ing., Bauingenieurin, Autorin, Kuratorin und Professorin an der HafenCity Universität Hamburg Michael Braum, Prof. Dipl.-Ing. Architekt, Stadtplaner, Vorsitzender der Bundesstiftung Baukultur, Professor am Institut für Städtebau und Entwerfen an der Leibniz Universität Hannover Christian Brensing, M.A., Berater, Autor und Kurator, Berlin Dirk Bühler, Dr. Ing. Architekt, Leiter der Abteilung Bauwesen des Deutschen Museums in München Falk Jaeger, Prof. Dr. Ing., Architekturkritiker, Publizist und Architekturhistoriker, Berlin Karl-Eugen Kurrer, Dr. Ing., Bauingenieur, Chefredakteur Stahlbau, Berlin Jochen Paul, M.A., Fachjournalist und Fachbuchautor, München Roland Pawlitschko, Dipl.-Ing. Architekt, Architekturjournalist, München Raimund Rascher, Dr. rer. nat., Unternehmensberater, Köln Miriam Sayeg, Architektin schlaich bergermann und partner do Brasil, São Paolo Oliver Schaeffer, Dipl.-Ing. Architekt Gründungsmitglied der Forschungsgruppe »move – Architektur in Bewegung« an der Leibniz Universität Hannover Jens Schneider, Prof. Dr. Ing., Professor für Statik am Institut für Werkstoffe und Mechanik im Bauwesen an der TU Darmstadt Christian Schönwetter, Dipl.-Ing., Journalist, Chefredakteur »Metamorphose Bauen im Bestand«, Stuttgart

Michael-Marcus Vogt, Dipl.-Ing. Architekt Gründungsmitglied der Forschungsgruppe »move – Architektur in Bewegung« an der Leibniz Universität Hannover

Redaktion: Cornelia Hellstern, Dipl.-Ing.; Roland Pawlitschko, Dipl.-Ing. Architekt (Projektleitung); Eva Schönbrunner, Dipl.-Ing.; Melanie Weber, Dipl.-Ing. Architektin

auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

Redaktionelle Mitarbeit: Jantje Bley, Dipl.-Ing. (schlaich bergermann und partner); Carola Jacob-Ritz, M.A. Zeichnungen: Ralph Donhauser, Dipl.-Ing. Herstellung / DTP: Simone Soesters Reproduktion: Repro Ludwig Prepress & Multimedia GmbH, Zell am See (A) Druck und Bindung: Aumüller Druck, Regensburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags,der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur

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Interviews mit: Wasem Ajmail, Dipl.-Ing., Werkstoffwissenschaftler und Abteilungsleiter Technik bei der Olympiapark München GmbH Rainer Borger, Dipl.-Ing., Bauingenieur, Objektmanager Olympiapark München GmbH Pedro Colón de Carvajal, Architekt, Architekturbüro buj+colón arquitectos, Madrid Mauro Gil-Fournier Esquerra, Architekt, Architekturbüro SIC arquitectura y urbanismo, Madrid Martin Haas, Dipl.-Ing. Architekt, Partner im Büro Behnisch Architekten und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen, Stuttgart Jan Korvink, Prof. Dr. Professor für Mikrosystemtechnik und Direktor des »Freiburg Institute for Advanced Studies« an der Albert-Ludwigs-Universiät Freiburg Roland Mogk, Dipl.-Ing., Bauingenieur, Leiter Geschäftsbereich Seilbau der Pfeifer Seil- und Hebetechnik GmbH, Memmingen Bernard Plattner, Dipl.-Ing. Architekt, Partner bei Renzo Piano Building Workshop, Paris Miguel Rosales, Dipl.-Ing. Architekt, Architekturbüro Rosales + Partners, Boston Stephan Schütz, Dipl.-Ing. Architekt, Partner im Büro von Gerkan, Marg und Partner, Berlin Johann-Dietrich Wörner, Prof. Dr. Ing., Bauingenieurer, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt e.V., Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Buch ist auch in englischer Sprache erhältlich (ISBN: 978-3-920034-58-4). DETAIL − Institut für internationale ArchitekturDokumentation GmbH & Co. KG, München www.detail.de

© 2011, erste Auflage ISBN: 978-3-920034-57-7

Inhalt

Vorwort Im Gespräch mit schlaich bergermann und partner Der Geist und der Mut des Büros machen den Unterschied

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8 18

Synergien zwischen Solar- und Tragwerksplanung Forschungsaktivitäten im Bereich Solarthermie Von der beweglichen Struktur zum adaptiven System Intelligente Folienkissen und selbstkühlende Milchpackungen

70 75

76 81

Konstruktion und Form Wie kommt die Form in das Konstrukt? Architekten und Ingenieure ziehen am gleichen Strang Konstruktionsvarianten für ein Laborhochhaus Von A bis Z – vom Entwurf zur Umsetzung Prozessabläufe mit möglichst wenigen Schnittstellen Neue Membran für die OlympiaSchwimmhalle München

22 Kooperation und Verantwortung 25 31

Entwicklung neuer Materialqualitäten Mut zur Innovation mit Material und Konstruktion

84 89

32 39 43

Global denken, lokal handeln Kooperationen zwischen Boston, New York und Stuttgart Brasilianische Leidenschaft und deutsche Rationalität Experimente wagen − aktuelle Projekte mit Künstlern Die Kunst, Ideen in die Realität umzusetzen

Material und Innovation Materialgerechtes Planen und Konstruieren Experimentelles Bauen mit Holz

Über das Selbstverständnis verantwortungsvoller Tragwerksplaner Die Bereitschaft, Dinge gut zu machen

90 94 97

98 101

46 49 50

Didaktik der Tragwerke

58

Konstruktive Grundprinzipien Die Brücke als Demonstrationsobjekt

104 112

Perspektiven und Synergien Projekte und Personen Zur Sonne, zur Freiheit? – Vier Jahrzehnte solares Bauen Potenziale und Tendenzen in der Sonnenenergienutzung

62 68

Werkverzeichnis Partner / Mitarbeiter Literatur / Bildnachweis

116 132 136

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Vorwort Das bestmögliche Ergebnis beim Bauen ist das gemeinsame Ziel von Architekten und Ingenieuren. Wie dieses Ziel aber erreicht werden soll, dazu gehen die Meinungen nur allzu oft auseinander, seit sich die Zuständigkeiten und Kompetenzen des einstigen Universalbaumeisters zur Mitte des 18. Jahrhunderts in zwei Disziplinen aufgeteilt haben. Nach wie vor fühlen sich die Vertreter beider Gruppen häufig vom jeweils anderen missverstanden oder in Kreativität und Handlungsfreiheit eingeschränkt. Denn zu unterschiedlich ist die jeweilige Ausbildung oder Herangehensweise. Herausragende Architektur kann aber nur in fruchtbarer Wechselwirkung entstehen – in einer wirklichen Teamarbeit zwischen Architekten und Ingenieuren. Gerade in einer Zeit, da Tragwerke und Konstruktionen immer komplexer werden und eine Flut neuer Materialien Anwendung findet, ist der Ingenieur als gleichermaßen kreativer Gegenpart zum Architekten gefragt, als entwerfender Tragwerksplaner und nicht nur als rechnender Statiker. Hinter jedem besonderen Bauwerk steht neben einem hervorragenden entwerfenden Architekten ein nicht minder exzellenter Tragwerksingenieur. In der Öffentlichkeit oder den einschlägigen Publikationen werden nach wie vor aber vor allem die Architekten als Verfasser eines Entwurfs oder Schöpfer eines spektakulären Bauwerks wahrgenommen. Auch dieser Umstand trägt nicht gerade zu einem besseren Verständnis bei.

Die Reihe DETAIL engineering stellt bewusst die am Bau beteiligten Ingenieure in den Mittelpunkt. Der vorliegende erste Band porträtiert das Büro schlaich bergermann und partner, das seit mehr als drei Jahrzehnten international in den unterschiedlichsten Sparten vom Brückenbau bis zur Entwicklung großer Solarkraftwerke tätig ist. Nicht zuletzt aber auch im Hochbau haben die Stuttgarter Ingenieure über die Jahre zahlreiche konstruktive Innovationen wie etwa im Bereich der Seilnetzkonstruktionen vorangetrieben und sind bis heute an außergewöhnlichen Bauwerken beteiligt. Ihrer Philosophie einer ganzheitlichen Betrachtungsweise sind sie dabei bis heute treu geblieben. Der Leser erhält somit Einblick in die Herangehensweise, aber auch in die interdisziplinären Arbeitsprozesse eines der führenden Ingenieurbüros. Damit sollen nicht nur das gegenseitige Verständnis unter den verschiedenen am Bau beteiligten Partnern geweckt, sondern auch mögliche Synergien für die tägliche Zusammenarbeit aufgezeigt werden. Christian Schittich

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Einführung

Im Gespräch mit schlaich bergermann und partner Knut Göppert, Andreas Keil, Sven Plieninger und Mike Schlaich arbeiten seit vielen Jahren bei schlaich bergermann und partner in Stuttgart und führen das Büro seit 2002 gemeinsam. Das Gespräch moderierte Roland Pawlitschko.

Detail Sie sind erst Mitte 2011 von einer aus allen Nähten platzenden Altbauvilla in ein großzügiges Gebäude mit durchlässigen Grundrissen, Glaswänden und Dachterrasse gezogen – der erste Umzug seit Gründung Ihres Büros vor gut 30 Jahren. Was hat sich dadurch verändert? Göppert Auch wenn man es in einer alten Villa mit einer Vielzahl abgeschlossener Räume eigentlich nicht erwartet hätte, prägend war doch der Werkstattcharakter. Auch am alten Standort hatten wir von Anfang an ein Haus der offenen Kommunikation, in dem die Türen bei allen Mitarbeitern und Partnern auch ohne Glaswände sprichwörtlich und real immer offen standen. Es gab kein Vorzimmer, kein Anklopfen, keine Terminvereinbarungen. Im neuen Büro sind die räumlichen Trennungen deutlich geringer, und so hat sich die Kommunikation und das Miteinander noch weiter verstärkt … Plieninger … nicht zuletzt auch mit unserer Solargruppe, die vor einigen Jahren aus Platzgründen in einem anderen Gebäude untergebracht werden musste. Die entschei-

denste Veränderung ist jedoch sicherlich die Bürogröße und damit verbunden auch die Bürostruktur. Wir sind heute mehr als doppelt so groß und haben mit Knut Göppert, Andreas Keil, Mike Schlaich und mir doppelt so viele Partner wie noch zu Zeiten Jörg Schlaichs und Rudolf Bergermanns – und um ein vielfaches mehr Kontakte und Interessen. Dies zieht auch eine Veränderung in der Bürostruktur nach sich. So haben jetzt einige erfahrene Mitarbeiter auch Verantwortung für übergeordnete Büroaufgaben übertragen bekommen und sind in der erweiterten Geschäftsleitung tätig. Detail Gibt es heute nicht nur mehr, sondern auch andere Interessen? Schlaich Ich denke, das ist unser Spagat zwischen Kontinuität und Weiterentwicklung. Wir stehen in der Tragwerksplanung zwar konstant für eine bestimmte Richtung, versuchen aber immer auch ein Stück weiter zu gehen. Dafür gibt es unzählige Beispiele. So hat sich aus der Brücke in Kelheim inzwischen eine ganze Reihe von gekrümmten

1 Fuß- und Radwegbrücke Hafen Grimberg, Gelsenkirchen (D) 2007, schlaich bergermann und partner 1

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Im Gespräch mit schlaich bergermann und partner

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Brücken entwickelt, ebenso wie das Ringseildach in Saragossa mit seinem beweglichen Innenteil weltweit als Vorbild für zahlreiche Stadiondächer diente. Keil Hinzu kommt, dass wir heute neben Stuttgart mit Berlin, São Paulo und New York über weitere Bürostandorte verfügen. Damit haben wir eine viel stärkere Präsenz an wichtigen Standorten, können dadurch besser akquirieren und auch viel mehr Projekte gleichzeitig abwickeln. Die Geschwindigkeit des Planens und Bauens ist in den letzten Jahren weltweit stark angestiegen, dem haben wir Rechnung getragen und unser Büro entsprechend aufgestellt. Detail Gibt es eine Art Arbeitsteilung unter den vier Partnern? Schlaich Ein Charakteristikum bei uns ist, dass wir sozusagen vier Chefköche haben. Es gibt keinen, der etwa nur für Akquisition oder nur für die Finanzen zuständig wäre. Und: Jeder Partner entwirft seine Tragwerke – eine Brücke oder eine Sportarena ebenso wie Hochbauten, Glasfassaden oder Glasdächer. Wir wollen Generalisten bleiben. Und das gilt nicht nur für uns, das versuchen wir auch unseren Mitarbeitern zu vermitteln. In unserem Büro muss nicht jeder notwendigerweise selbst zu jedem Thema ein Experte sein, aber man findet Experten zu fast jedem Thema. Bei uns gibt es keine Brückenabteilung, in der Mitarbeiter 20 Jahre lang nur Brücken planen und von anderen Dingen keine Ahnung haben. Das würde die Synergien ungenutzt lassen, die sich durch gezielte Vernetzungen ergeben. Wer gerade eine Brückenplanung hinter sich hat, geht doch ganz anders an die Konstruktion eines Glasdachs heran als einer, der sich nur mit Glasdächern beschäftigt. Natürlich hat eine Eisenbahnbrücke zunächst nichts mit einem Glasdach zu tun. Oft lässt sich aber gerade die in einem anderen Bereich gemachte Erfahrung im Arbeitsablauf oder bei den Tragwerken positiv nutzen. So können beispielsweise Konstruktionsprinzipien wie der Kreisringträger für Fußgänger-

brücken, im Hochbau oder auch für Dachkonstruktionen sinnvoll eingesetzt werden. Göppert Wir versuchen zu erreichen, dass unsere Mitarbeiter wirklich vielseitig arbeiten. Das kann man sich aber nur dann leisten, wenn man weiß, dass sie auch lange genug im Büro bleiben. Es lohnt sich betriebswirtschaftlich natürlich nicht, Mitarbeiter über Jahre an völlig unterschiedlichen Projekten »auszubilden«, wenn sie danach gleich wieder weiterziehen. Gelingt es aber, diese Mitarbeiter zu binden, wird es wirklich spannend, weil sie dann zu Generalisten werden, die über Erfahrungen in allen möglichen Bereichen verfügen und auch prinzipiell überall einsetzbar sind. Ein zentrales Ziel unseres Umzugs besteht gerade darin, Synergien zu stärken – und zwar nicht nur unter den Tragwerksplanern, sondern auch zwischen Mitarbeitern des Solar- und des Baubereichs. Plieninger Wie fruchtbar der Austausch zwischen den Solar- und Bauingenieuren ist, zeigt sich am wirtschaftlichen Erfolg des Solarbereichs: Einerseits haben wir den Solarmitarbeitern Bauingenieure zur Seite gestellt, die viele Erfahrungen aus dem Bereich der Projektleitung vermitteln konnten, die dort bisher nicht vorhanden waren. Andererseits haben auch die Bauingenieure sehr viel über Optik, Mechanik, Bewegungsmechanismen und Serienfertigung gelernt – ein Wissen, das heute zum Einsatz kommt, etwa wenn es um die Planung beweglicher Dächer geht. Letztlich erweitert es den Horizont aller Mitarbeiter und befähigt sie, anders zu denken. Schlaich Durch diese Mischung verfügen wir über ein Know-how in Fachdisziplinen, das man in der Tragwerksplanung, die nach wie vor unser Kerngebiet darstellt, sonst nicht findet. Ohne unsere Solargruppe würden wir keine Physiker, Mathematiker, Maschinenbauer, Luft- und Raumfahrttechniker oder Elektrotechniker einstellen. Und wenn man an die zu erwartenden Veränderungen im Bauwesen denkt, können diese Disziplinen durchaus weiter an Bedeutung gewinnen.

2 v. l. n. r. Andreas Keil, Sven Plieninger, Mike Schlaich, Knut Göppert

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Einführung

Im Gespräch mit schlaich bergermann und partner

»Mittlerweile erwarten die Bauherren, dass man sich mit ihrer Kultur und ihrer Sprache ebenso intensiv befasst wie mit ihrem Projekt.« Sven Plieninger

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Detail Beschäftigen Sie eigentlich auch Architekten? Schlaich Nein. Wir sind mit Leib und Seele Bauingenieure. Aber wir suchen die Zusammenarbeit mit den Architekten. Göppert Dass Sie diese Frage stellen, hat wahrscheinlich auch damit zu tun, dass man unserer Arbeit anmerkt, dass wir das Thema Gestaltung als unsere eigene Aufgabe verstehen und ernst nehmen. Es ist eben nicht so, dass wir nur funktionierende, standsichere Konstruktionen entwickeln, um deren Gestaltung dann in die Hände anderer zu legen. Diese Haltung sieht man unseren Arbeiten einfach an – egal, ob wir dazu mit Architekten zusammenarbeiten oder die Aufgabe – wie etwa bei Brücken – allein erledigen. Detail Würden Sie Ihre Arbeit als »Archineering« bezeichnen, womit ausgedrückt werden soll, dass man Gestalt, Struktur und Funktion als Einheit betrachtet? Plieninger Damit kommt doch nur zum Ausdruck, dass man einem Ingenieur allein nicht zutraut, einen guten Job zu machen. Grundsätzlich sollte sich jeder Ingenieur verpflichtet fühlen, nicht nur konstruktiv, sondern auch gestalterisch anspruchsvoll zu arbeiten. Dazu muss man gewiss kein Architekt sein, man muss einfach nur mitdenken. Ein guter Ingenieur braucht die Reibung und den kreativen Austausch mit den Architekten und keinen Kunstbegriff, der ihn zum »Archineer« macht. Detail Sie kooperieren mit den unterschiedlichsten Architekten. Wie kommt es, dass am Ende doch immer irgendwie auch ein schlaich-bergermann-und-partner-Projekt dabei herauskommt? Göppert Meistens ist es doch so, dass Architekten schon recht früh eine Vorstellung davon haben, welche Rolle das Tragwerk für die Projektgestaltung und damit auch für den Projekterfolg spielen soll. Auf dieser Grundlage wählen sie dann ihre Planungspartner aus. Dass wir dabei sehr oft unsere Handschrift hinterlassen können, hat vielleicht

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damit zu tun, dass wir über eine gewisse Hartnäckigkeit und Überzeugungskraft verfügen und dass wir Ideen ins Projekt einbringen, die auf einen fruchtbaren Boden fallen. Keil Und genau das scheint man den Projekten ansehen zu können. Im Entwurfsprozess des Tragwerks haben wir immer eine bestimmte Vorgehensweise. Wir überlegen erst einmal, was die wesentlichen Randbedingungen sind und versuchen dann über mehrere Alternativen die beste Lösung herauszuarbeiten. Daran schließt sich eine genauere Analyse des Tragwerks an, bei der die Querschnitte so gewählt werden, dass sie ihrer Funktion und ihrer Beanspruchung möglichst optimal entsprechen. Unser Ziel ist es, Projekte stets von Anfang bis Ende zu bearbeiten. Wir wollen nicht nur Entwurfskonzepte entwickeln, sondern auch die Ausführungsplanung und die Bauüberwachung übernehmen. Dabei behalten wir ständig im Auge, wie sich unsere Ideen tatsächlich umsetzen lassen und wie gut sie in der Praxis funktionieren. Erst dadurch können wir sicherstellen, dass die Entwürfe am Ende tatsächlich so aussehen, wie wir sie konzipiert haben. Und erst dadurch gelingt es, etwas für die Planung und Durchführung der nächsten Projekte zu lernen und uns selbst weiterzuentwickeln. Schlaich Bedauerlicherweise haben viele Ingenieure an der Universität nur gelernt zu rechnen und zu dimensionieren, nicht aber Tragwerke zu konzipieren. Dabei ist für die Planung die konsequente Berücksichtigung aller Randbedingungen – also der Entwurf des Tragwerks aus dem Kontext heraus – wirklich ganz fundamental. Dieser Kontext kann örtlich sein, z. B. eine Landschaft, das Klima, das soziale Umfeld. Zum Kontext kann aber ebenso der Charakter des Architekten gehören. Um was auch immer es sich handelt, von zentraler Bedeutung ist es, von Anfang an beteiligt zu sein. Je früher wir dabei sind, desto leichter fällt es zum einen, die Idee des Architekten möglichst präzise zu erfassen und konsequent umzusetzen, zum anderen aber auch rechtzeitig die nötigen

Im Gespräch mit schlaich bergermann und partner

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Impulse geben zu können, sodass sich die Projekte aus statisch-konstruktiver Sicht in eine gute Richtung entwickeln. Detail Was bei einem Gang durch die Räume auffällt, sind sehr viele junge Mitarbeiter. Wie hoch ist das Durchschnittsalter in Ihrem Büro? Keil In diesem Zusammenhang sind zwei Zahlen interessant. Erstens ist das Durchschnittsalter in der Tat relativ niedrig, derzeit liegt es bei ungefähr 36 Jahren. Dieser Durchschnitt ergibt sich aus einer Mischung von erfahrenen älteren Mitarbeitern und engagierten jungen Hochschulabsolventen, die sehr oft den Weg in unser Büro suchen. Zweitens haben wir ein relativ langes Zugehörigkeitsalter. Das heißt, die Mitarbeiter sind sehr lange bei uns, im Durchschnitt zwischen acht und zehn Jahren, was zeigt, dass sie sich hier wohlfühlen. Vielleicht hat es aber auch damit zu tun, dass wir ein sehr breites und interessantes Spektrum an Projekten haben – internationale ebenso wie nationale/regionale. Unsere Projekte und unsere Arbeitsweise haben letztlich dazu geführt, dass sich die Mitarbeiter mit dem Büro identifizieren können. Plieninger Die internationale Ausrichtung ist für unser Büro eigentlich unumgänglich. Schließlich wollen wir ja interessante Projekte bearbeiten. Und da muss man ganz offen sagen: So viele Aufträge, wie wir zur Beschäftigung unserer rund 100 Mitarbeiter bräuchten, würden wir in Deutschland gar nicht finden. Detail Wie hoch ist derzeit der Anteil Ihrer Projekte im Ausland? Plieninger Dieser Anteil liegt aktuell bei 60 bis 70 %. Nicht zuletzt deshalb arbeiten Ingenieure aus allen Teilen der Welt bei uns. Dadurch bietet sich die Gelegenheit, uns im Büro mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen und Ländern auseinanderzusetzen – ein großer Vorteil, wenn es darum geht, in eben diesen Ländern Projekte zu realisieren. Mittlerweile erwarten die Bauherren, dass

man sich mit ihrer Kultur und ihrer Sprache ebenso intensiv befasst wie mit ihrem Projekt. Einmal mehr geht es da wieder um den Kontext. Detail Zählt es zu den Zielen von schlaich bergermann und partner, eine Art internationalen Konzern für Solar- und Tragwerksplanung aufzubauen? Keil Nein. Wir bezeichnen uns noch immer als Büro. Ich würde sagen, eine Grenze wäre dann erreicht, wenn wir nicht mehr sicherstellen können, dass die Arbeit unserer Dependancen zu unserer Denkweise und zu unserem Geist passt. Wir wollen also kein Ingenieurbüro werden, wo es eine Zentrale gibt, in der hervorragende Projekte realisiert werden, während in den Zweigbüros Dinge ablaufen, die nicht mehr zu unserer Philosophie passen… Schlaich … das heißt aber nicht, dass wir nicht strategisch denken. Unsere Strategie basiert nicht auf dem Ziel, eines Tages 500 Mitarbeiter zu haben. Doch wir überlegen uns schon sehr gut, wo es in Zukunft Aufträge für interessante Bauprojekte geben wird, und versuchen dann dort aktiv zu werden – mal mit und mal ohne festes Standbein vor Ort.

3 Convention & Exhibition Center, Shenzhen (CN) 2005, gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner 4 Yas Hotel, Abu Dhabi (UAE) 2009, Asymptote Architecture 5 Jawaharlal-Nehru-Stadion, Neu-Delhi (IND) 2010, gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner 6 Liberty Bridge, Greenville/ South Carolina (USA) 2004, Rosales + Partners 7 Visualisierung des neuen Stadiondachs, Modernisierung des Fußballstadions Estádio Jornalista Mário Filho (Maracanã-Stadion), Rio de Janeiro (BR) 2012, schlaich bergermann und partner

Detail Ist der Bürostandort Brasilien nur bedingt durch den Bau der Stadien zur Fußball Weltmeisterschaft 2014? Plieninger Das hat keineswegs nur mit Fußball zu tun. Wenn man sich die Welt nach strategischen Gesichtspunkten ansieht, dann dauert es nicht lange, bis man auf Brasilien als eines der global aufsteigenden Länder stößt. Göppert Wir arbeiten jetzt schon relativ viel in China und Indien. Hinzu kommen Russland und eben Brasilien – beides Länder, in denen zufälligerweise in einigen Jahren Fußballweltmeisterschaften veranstaltet werden. Dass solche Stadionprojekte als »Türöffner« fungieren können, um sich dort dauerhaft zu etablieren, das liegt auf der Hand. Insofern verrät man nicht zu viel, wenn man sagt, dass wir 11

Einführung

Im Gespräch mit schlaich bergermann und partner

C-5-41

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A-4-09

B-2-17

Erläuterung einer Flächenbezeichnung am Beispiel A-3-06: A: Zuordnung zu der jeweiligen Zone (nach Architektenplanung) 3: Wandtyp 3: gekrümmte Fläche (2: ebene und senkrechte Fläche, 4: gekrümmte Untersichtsfläche, 5: gekrümmte Dachfläche) 06: durchgängige Flächennummerierung

a

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die Stadien als einen guten Auftakt betrachten. Wir werden das Büro in São Paulo weiterentwickeln, sodass wir wie in New York auch vor Ort Projekte vollständig abwickeln können. Dazu braucht es neben einer schlagkräftigen Mannschaft auch eine Büroführung, die dem Geist und den Zielsetzungen unseres Büros folgt. In New York z. B. übernimmt diese Funktion Michael Stein, der sehr lange Zeit in Stuttgart gearbeitet und Erfahrung in allen Bereichen gesammelt hat.

einer vagen Idee und lässt sie die Beanspruchungen rechnen. Am Ende entscheiden dann die Zahlen darüber, ob und wie es funktioniert – ohne genauere Reflexion des Tragverhaltens. Oder man entwickelt eine Konstruktion aus dem Tragverhalten heraus, skizziert sie auf, ändert sie, optimiert sie und lässt sich diese grundsätzlichen Überlegungen und Lösungen durch den Computer bestätigen. Wir versuchen immer letzteren Weg zu gehen, weil er verhindert, dass man Dinge tut, die nicht plausibel sind und die man womöglich gar nicht mehr versteht. Wir denken auch, dass man nur mit dieser Vorgehensweise Erfahrung und ein profundes Wissen für die Entwurfsarbeit sammeln kann. Dies sehen wir neben guten theoretischen Kenntnissen, neben Phantasie und Kreativität als eine der entscheidende Voraussetzungen für einen entwerfenden Ingenieur. Wir nutzen Computer also erst dann, wenn wir das verifizieren wollen, was in Bezug auf das Tragwerk bereits vorausgedacht wurde. Schlaich Das Konzept wird auf dem Papier entwickelt, mit dem Bleistift. Dennoch gibt es mittlerweile Tragwerke, die im Detail nur noch mit dem Computer bewältigt werden können. So gebrauchen wir angesichts der vielen gekrümmten und räumlichen Tragwerke inzwischen Optimierungs- und Formfindungssoftwares, die uns Dinge erlauben, die vor zehn Jahren schlicht unmöglich gewesen wären.

Detail Wie funktioniert die Kommunikation über die Kontinente? Plieninger Wenn man seine Planungspartner gut kennt, ist so eine Kommunikation mittels Telefon, Internet, Skype und Videokonferenzen eigentlich kein Problem. Da versteht man einander und das Potenzial für Missverständnisse ist gering. Dadurch können Reisen reduziert werden, ohne die Intensität der Zusammenarbeit zu vernachlässigen. Dennoch sind viele Reisen einfach notwendig, um einen reibungslosen Ablauf der Projekte zu gewährleisten, aber auch um die Kontakte vor Ort zu pflegen. Göppert Hinzu kommt der interne Austausch: Wir schicken auch deutsche Mitarbeiter nach New York oder amerikanische Kollegen nach Stuttgart oder Berlin. Je nach Aufgabenstellung ist der Austausch mal mehr und mal weniger intensiv. Ein Beispiel: Aktuell bearbeitet Michael Stein gemeinsam mit dem amerikanischen Architekten Rafael Viñoly ein Brückenprojekt in Manchester. Ebenso wie wir hat Viñoly sein Büro in New York, unsere Planung macht aber ein Stuttgarter Mitarbeiter. Daraus ergibt sich ein Planer-Dreieck zwischen New York, Manchester und Stuttgart, in dem das Projekt gemeinsam bearbeitet wird. Und das geht eigentlich ganz gut. Detail Abgesehen von der Kommunikation, welche Rolle spielen Computer im Büro? Keil Wenn es um das Konzipieren von Tragwerken geht, gibt es generell zwei Möglichkeiten. Entweder man speist Computer mit 12

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Detail Entwickeln Sie eigene Programme? Göppert Ja, für den internen Gebrauch in Bereichen, für die es nichts Passendes gibt und in denen wir großes Potenzial sehen. Plieninger Beim Entwerfen muss man die ideale Verknüpfung von Formfindung, Optimierung und Geometrie finden. Wir entwerfen nicht mit dem Computer, sondern starten von den Tragwerken aus. Deshalb haben wir stets auch unsere »Ordnung der Tragwerke« (Abb. 2, S. 104) vor Augen, mit der sich – wie bei einem Baukasten – alle Tragwerke nach druck- und zugbeanspruchten Kategorien klassifizieren lassen. Bei uns gibt es immer

Im Gespräch mit schlaich bergermann und partner

»Wir nutzen Computer erst dann, wenn wir das verifizieren wollen, was in Bezug auf das Tragwerk bereits vorausgedacht wurde.« Andreas Keil

einen Startpunkt, der auf dieser Logik der Tragwerke basiert. Keil Brauchten wir für Formfindungen etwa von Seilkonstruktionen vor 15 Jahren oft viele Tage, geht das heute − mit völlig anderen Möglichkeiten des Ausprobierens − viel schneller. Dadurch erwartet man natürlich in der gleichen Zeit eine viel größere Bandbreite an Alternativen und Varianten, die durchaus auch aus der Weiterentwicklung früherer Ideen entstehen können. Letztlich wird der eigene Radius größer, und wir können dem Optimum viel näher kommen als früher. Detail Wie gelingt es bei Projekten wie dem Bürogebäude für Novartis mit Frank O. Gehry das für schlaich bergermann und partner typische strukturelle Denken in die Konstruktion einzubringen?

Keil Das war dort schon eine besondere Herausforderung – in Bezug auf die komplexe Geometrie, die sich aus dem übergeordneten Entwurfsziel des Architekten ergab, aber auch hinsichtlich der komplexen Details. Hier waren Knoten zu entwickeln, in denen bis zu sieben große Stäbe mit hohen Kräften zusammengeführt werden sollten, selbstverständlich mit dem Ziel, eine leicht wirkende transparente Tragstruktur entstehen zu lassen. Plieninger Letztlich war das Projekt für beide Seiten ein großer Gewinn. Uns hat es wichtige Impulse im Bereich des digitalen Workflows gegeben. Gleichzeitig haben wir Gehry bei der Geometrieentwicklung geholfen und für eine harmonische Einheit zwischen der skulpturalen Form und einem klar strukturierten Tragwerk mit filigranen Stahlgussbauteilen gesorgt.

8 Stahlbau Fassade, Übersicht Hülle, Bürogebäude Novartis − Fabrikstraße 15, Basel (CH) 2008, Gehry Partners a Ansicht Süd b Ansicht Nord 9 Bürogebäude Novartis − Fabrikstraße 15

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Einführung

Im Gespräch mit schlaich bergermann und partner

10 10 Donaubrücke, Linz (A) 2014, gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner 11, 12 Andasol 3 Parabolrinnenkraftwerk, Aldeire (E) 2011

Schlaich Wenn man mit Gehry arbeitet, ist klar, dass das Tragwerk nicht unbedingt im Vordergrund steht. Bei einem gemeinsamen Wettbewerb für eine Brücke im englischen Sunderland hat er sich aber auch einmal ganz bewusst zurückgenommen. Statt uns – wie vielleicht viele erwartet hätten – mit fertigen Formvorstellungen zu konfrontieren, die wir anschließend irgendwie umzusetzen gehabt hätten, bat er uns, für diesen Standort zunächst selbst einige sinnvolle Brückenkonstruktionen zu entwerfen, um später in einem gemeinsamen Workshop in Los Angeles zu sehen, was sich daraus entwickeln ließe. Resultat war eine bemerkenswerte Hängebrücke in Form einer 100 Meter hohen Glasskulptur. Leider wurde die Brücke nie gebaut. Göppert Wesentlich ist der gemeinsame Entwurfsprozess und eine enge Zusammenarbeit von Anfang an – ganz ähnlich wie bei der Überdachung der DZ-Bank am Pariser Platz in Berlin. Auch da ging es in gewisser Weise darum, eine Ordnung in die geometrische Form zu bringen. Das funktioniert aber nur dann, wenn das architektonische Konzept noch Spielräume lässt und die Gelegenheit besteht, gemeinsam einzugreifen. Doch auch da gibt es Grenzen. Wenn jemand ein Projekt mit Frank O. Gehry realisiert, dann will er am Ende auch dessen Handschrift sehen. Detail Jörg Schlaich hat den Satz geprägt: »Wenn du eine Brücke siehst, die du nicht siehst, dann ist sie von uns?« Schlaich Dieser Ausspruch ist natürlich im übertragenen Sinne gemeint und erklärt sich aus unserer Geschichte, die seit dem von meinem Vater mit konzipierten Münchener Olympiastadion eine Geschichte des Leichtbaus ist. Leichtbau bietet zahlreiche Vorteile, vor allem kommt es dadurch zu sehr nachhaltigen Lösungen, weil sich der Materialverbrauch enorm reduzieren lässt. Unser Ziel ist es grundsätzlich, dass Bauwerke eher leicht und elegant als schwer und bedrohlich erscheinen.

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Keil In Bezug etwa auf die geplante Autobahnbrücke in Linz heißt das, dass die Brücke das Landschaftsbild so wenig wie möglich beeinträchtigen sollte. Schließlich ist es in Naturräumen doch eigentlich fast immer am schönsten, wenn es gar keine Brücke gibt. Als nächstbeste Lösung folgt dann jenes Bauwerk, das die geringste visuelle Störung bietet. Ebenso gut gibt es selbstverständlich aber auch andere Standorte, an denen eine deutlich sichtbare Landmarke wesentlich mehr Sinn macht. Uns geht es nicht um Dogmatismus, sondern um angemessene Lösungen. Schließlich ist jeder Ort anders. Da gilt es, den Kontext zu verstehen und das richtige Konzept zu finden. Detail Leichtbau hat nicht zuletzt wegen des sparsamen Umgangs mit den natürlichen Ressourcen immer auch etwas mit Ökologie zu tun – einem Thema, das in Ihrem Büro von Anfang an eine sehr wichtige Rolle gespielt hat. So setzen Sie sich seit mehr als 30 Jahren für die Erforschung und Nutzung erneuerbarer Energien ein und entwickeln riesige solarthermische Kraftwerke. Ist die aktuelle Energiewende eine späte Bestätigung Ihres lange Zeit kaum beachteten Engagements? Schlaich Das Engagement im Solarbereich war tatsächlich eine langfristige Investition, die nun gerade beginnt, sich auch wirtschaftlich zu lohnen: Unsere Solargruppe ist innerhalb der letzten zwei Jahre von 5 auf 25 Mitarbeiter gewachsen und zu einem wichtigen Teil unseres Büros geworden. Angefangen hat das mit – aus heutiger Sicht – wirklich visionären Überlegungen von Jörg Schlaich, der bereits 30 Jahre vor dem heute immer wieder diskutierten Desertec-Projekt gefragt hat: »Wie viel Wüste braucht ein Auto?« Auch damals schon hat er eine starke soziale und ökologische Verantwortung gespürt, die wir in unser heutiges Büro aufgenommen haben und weiter vorantreiben. Keil Nicht vergessen darf man aber, dass sich alles immer auch aus einem gewissen

Im Gespräch mit schlaich bergermann und partner

»Wir verstehen uns nicht als diejenigen, die die große Energiewende politisch betreiben. Wir sehen uns als Ingenieure, die dafür kreative Lösungen entwickeln.« Knut Göppert

bautechnischen Interesse an der Sache entwickelt hat. So sind die Aufwindkraftwerke mit ihren hohen Türmen und Membrandächern oder die Rinnenkollektoren mit ihren Präzisionsspiegeln auch konstruktiv außerordentlich interessant und bieten ein enormes Betätigungsfeld für uns Bauingenieure. Göppert Trotzdem ging es dabei aber nie um eine Art Ideologie als vielmehr um die Suche nach einer technologischen Antwort auf Probleme, die für alle Menschen spätestens nach der Ölkrise der 1970er-Jahre am Horizont erkennbar waren. Wir verstehen uns nicht als diejenigen, die die große Energiewende politisch betreiben. Wir sehen uns als Ingenieure, die dafür kreative Lösungen entwickeln. Und so leisten wir auch hier – wie bei einer sorgsam in die Landschaft eingefügten Brücke – eine Beitrag gegen die häufig anzutreffende Technikskepsis. Detail Welche Leistungen erbringt der Solarbereich genau? Übernehmen Sie neben der Planung der Anlagen auch deren Produktion oder treten gar als Investor auf? Schlaich Im Prinzip funktioniert das auch nicht anders als im Bauwesen. Stellen Sie sich vor, ein Bauherr will ein Rinnenkraftwerk mit 50 MW Leistung realisieren. Dann muss jemand die Spiegel und die Tragwerke der Anlage sowie deren Auslegung, Steuerung

und Mechanik planen. Das machen wir. Ebenso wie auch die Neu- und Weiterentwicklung dieser Tragwerke. Derzeit decken wir 10 % des Weltmarkts mit unseren Rinnenplanungen ab. Plieninger Der Konkurrenzkampf auf diesem Gebiet ist groß, und so versuchen wir bei jeder realisierten Anlage Verbesserungen vorzunehmen, z. B. in Bezug auf die Größe oder Länge der Spiegel oder die Profilformen. Alle Erkenntnisse fließen dann – zusammen mit jenen der Forschungs- und Entwicklungspartner – in Weiterentwicklungen ein. Göppert Unser Geschäftsmodell ist es – und das gilt nicht nur für den Solarbereich –, immer einen Schritt voraus zu sein, um in der nächsten Planung wieder mit etwas Neuem aufwarten zu können. So sind wir imstande, den Auftraggebern Innovationen zu bieten, die die anderen nicht haben. Schlaich Das ist umso wichtiger, als die Solarthermie ein Arbeitsfeld ist, auf dem durchaus noch enorme Fortschritte möglich sind – im Gegensatz zum Hochbau, wo es kaum mehr große Sprünge zu verzeichnen gibt. Gerade bei der Rinnentechnologie haben wir vor Kurzem von einer Entwicklungsstufe zur nächsten 25 % der Kosten gespart und dabei gleichzeitig den Wirkungsgrad um 5 % erhöht. Dies macht sich am Ende sehr deutlich bemerkbar. Schließlich

Die solarthermischen Kraftwerke Andasol 1− 3 liegen in direkter Nachbarschaft zueinander. Die Gesamtanlage erzeugt jährlich ca. 179 GWh Strom und versorgt damit bis zu 200 000 Menschen. Das Kollektorfeld eines Bauabschnitts bedeckt eine Fläche von 1500 × 1300 m. Die 7488 Einzelkollektoren haben zusammen eine Kollektorfläche von 510 000 m2. Die Kollektoren bestehen aus einer Stahlfachwerkkonstruktion mit aufgesetzten gekrümmten Glasspiegeln. 11

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Einführung

Im Gespräch mit schlaich bergermann und partner

»Mit intelligenten Bauteilen können Energie- und Ressourcenverbrauch gesenkt sowie der Komfort und die Sicherheit erhöht werden.« Mike Schlaich

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Aramid-Fasernetz ΔFl

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bestehen Rinnenkraftwerke aus Zehntausenden von gleichen Bauteilen. Rigorose Optimierungen und grammweises Abspecken lohnen sich hier wirklich. Göppert Anders als im Baubereich müssen wir mit der Solargruppe aber regelmäßig in Vorleistung gehen. Kaum ein Tragwerksplaner plant eine Brücke ohne konkreten Ort und Auftrag. Vielleicht entsteht mal eine Skizze, aber üblicherweise nicht mehr. Im Solarbereich ist das ganz anders. Wer hier stillsteht und auf Aufträge wartet, wird schnell von der Konkurrenz überholt. Wolfgang Schiel und Markus Balz, die beiden Geschäftsführer im Solarbereich, versuchen mit ihren Spezialisten alles, um durch permanente Forschung und das ständige Optimieren der Anlagen konkurrenzfähig zu bleiben. Detail Gibt es im Bereich der erneuerbaren Energien jenseits der Solarthermie noch andere Forschungsgebiete? Keil Im Moment beschäftigen wir uns auch mit der konzentrierenden Photovoltaik – einem Verfahren, bei dem Licht auf HochleistungsPV-Zellen gebündelt wird. Gerade in der Konzentration von Licht und den hierfür notwendigen baulichen Strukturen verfügen wir durch die Dish-Stirling-Systeme und die Parabolrinnen über eine sehr große Erfahrung. Plieninger Erst kürzlich haben wir mit Ian Ritchie an einem englischen Wettbewerb zur Gestaltung neuer Strommasten teilgenommen. Dabei ging es darum, die Masten – mit Blick auf den immer häufigeren Transport von Strom aus regenerativen Energiequellen – so zu gestalten, dass sie bei der Bevölkerung eine höhere Akzeptanz finden. Zu den Rahmenbedingungen zählte die Tatsache, dass die aktuellen Strommasten hinsichtlich ihrer Wirtschaftlichkeit und Effizienz praktisch nicht zu schlagen sind. Da zehnmal so teuer wie übliche Überlandleitungen, waren aber auch unterirdisch verlegte Stromleitungen keine Alternative. Genau hier setzte der Wettbewerb an. Mit Ian Ritchie haben wir zwei Konzepte für solche Masten eingereicht.

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Kontraktion

13 Pneumatische »Muskeln« (Festo) im Handlauf einer Spannbandbrücke neutralisieren die durch Fußgänger verursachten Schwingungen. Spannbandbrücke mit Kohlenstofffaserlamellen, TU Berlin 2006 (D), Fachgebiet Entwerfen und Konstruieren – Massivbau (Mike Schlaich, Achim Bleicher) 14 Spannbandbrücke a Verankerung der vorgespannten Kohlenstofffasern b Gehplatten liegen direkt auf den KohlenstofffaserLamellen

Göppert Während sich unsere Solargruppe mit der effizienten Energieerzeugung und -speicherung beschäftigt, geht es im Baubereich immer auch um Energievermeidung und die Entwicklung intelligenter Energieversorgungskonzepte für Gebäude. Ein Beispiel ist unser Forschungsvorhaben »Klimahülle«, mit dem wir untersucht haben, wie man durch größere bauliche Strukturen in Gewerbegebieten zu einer intelligenten Verwendung von Raum und Energie kommen kann. Detail Herr Schlaich, welche Forschungsvorhaben gibt es an der TU Berlin, an der Sie seit einigen Jahren das Fachgebiet Entwerfen und Konstruieren – Massivbau leiten? Schlaich Zunächst einmal ist es so, dass wir auch in Berlin die sogenannte Stuttgarter Ingenieurschule pflegen, also die Lehrstühle Massivbau, Stahlbau und Holzbau in den Fachbereich »Entwerfen und Konstruieren« überführt haben. Drei Lehrstühle für Entwerfen und Konstruieren – das ist deutschlandweit einzigartig. Besonders ist dabei auch, dass wir werkstoffübergreifend arbeiten. Ganzheitliches Entwerfen und Konstruieren führt zu Qualität. Wir Bauingenieure sind Generalisten und versuchen, dies in Lehre und Praxis umzusetzen. Ein sehr wichtiges Forschungsthema sind die wandelbaren, aktiven, adaptiven, intelligenten oder smarten Tragwerke und Materialien. So entstand etwa eine Art Brückenroboter aus Kohlenstofffasern – eine experimentelle, als Spannband konzipierte Fußgängerbrücke mit 15 m Spannweite und nur 1 mm (!) Bauhöhe. Damit die Brücke nicht wackelt, sind künstliche »Muskeln« eingebaut, die die auftretenden Schwingungen in Echtzeit wegdämpfen. In gewisser Weise ist das ein erster Schritt zu unendlicher Steifigkeit bei verschwindend geringer Bauhöhe. Von grundlegendem Interesse ist aber auch das Forschungsthema »Infraleichtbeton« … Detail … eine Art Schaumbeton, aus dem Sie bereits ein Wohnhaus realisieren konnten. Schlaich Ja. Die grundlegende Frage

Im Gespräch mit schlaich bergermann und partner

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dieses Forschungsthemas ist, wie es gelingt, mit nur einem Material zu bauen, das gleichsam als tragende Wärmedämmung fungiert. Ein Beton, der nicht verklebt, verkleidet oder verdeckt werden muss. Im Rahmen unserer Forschungsarbeit überlegen wir uns, wie sich Schaum- bzw. Gradientenbetone weiterentwickeln lassen. Neben der Beschäftigung mit neuen Materialien geht es bei uns an der TU Berlin aber auch um ganz handfeste Dinge wie etwa das Testen von Seilen für Brücken.

Schlaich Für Innovationen werden hauptsächlich die neuen Materialien sorgen. Um beim Beispiel Kohlenstofffaser zu bleiben: Dieses Material ist gut zehnmal fester als herkömmlicher Stahl, dabei aber um 80 % leichter. Wenn es gelingt, diesen Werkstoff wirtschaftlich und brandgeschützt herzustellen, dann lassen sich damit völlig neue Möglichkeiten erschließen. Göppert Gebäude werden zukünftig mehr und mehr technisiert werden. In Bezug auf die Haustechnik gibt es diese Entwicklung ja schon seit Längerem. In ihrer Form sind Gebäude jedoch noch immer vollkommen statisch und können sich kaum anpassen – weder an Lasten noch an klimatische Verhältnisse. In Zukunft wird eine solche Anpassung an die äußeren Gegebenheiten aber erforderlich sein. Hier gibt es bei Gebäuden noch ein großes Entwicklungspotenzial, das weit über automatisch hoch- und runter fahrende Sonnenschutzlamellen hinausgeht.

Detail Warum brauchen wir intelligente Bauteile? Schlaich Mit intelligenten Bauteilen können Energie- und Ressourcenverbrauch gesenkt sowie der Komfort und die Sicherheit erhöht werden. Diese Ansätze sollte man unbedingt ins Bauwesen übertragen. Keil Intelligente Bauteile sind auch für den Leichtbau sehr wichtig. Wenn es gelingt, das Material mit intelligenten Komponenten nicht nur auf Verformung, sondern auch auf Spannung zu dimensionieren, dann lässt sich noch mehr Material einsparen. Schlaich Das sieht man auch am Beispiel der bereits erwähnten Kohlenstofffaserbrücke, die einerseits zwar auf ein Minimum reduziert ist, andererseits in unbelastetem Zustand aber extrem schwingt. Also haben wir Sensoren eingesetzt, die selbstständig wahrnehmen, wann und wo die Brücke wackelt. Diese Sensoren senden permanent Informationen über den aktuellen Zustand an einen Prozessor, der wiederum die »Muskeln« aktiviert, die dann den Schwingungen entgegenwirken. Bei den »Muskeln« handelt es sich um Schläuche im Handlauf des Geländers, die bei jedem Schritt der Passanten sofort mit Luft aufgeblasen werden und damit die Brücke stabilisieren. Resultat ist ein völlig gerade dastehendes Bauwerk, das zuvor noch extrem wackelig war. Detail Welche Entwicklungen sehen Sie auf dem Gebiet der intelligenten Strukturen in Zukunft noch auf uns zukommen?

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Detail Betrachten Sie sich als Visionäre? Schlaich Grundsätzlich sind Bauingenieure eher konservativ. Wenn wir zu große Sprünge machen, dann könnte sich das negativ auf die Sicherheit auswirken. Wir versuchen aber bei jedem Projekt einen kleinen Schritt weiter zu gehen, etwas Neues zu machen. Das würde ich jetzt nicht unbedingt als visionär bezeichnen. Aber diese Neugier und dieser Ehrgeiz zeichnen uns alle aus. Selbst bei einem Einfamilienhaus kann man immer auch etwas weiterentwickeln. Göppert Wir sehen uns als Teamworker. Und als Team stehen wir auch für Visionen. Ein Beispiel ist die Realisierung eines großen Aufwindkraftwerks, das wir trotz seiner unstrittigen Leistungsfähigkeit bisher nur als Prototyp realisieren konnten, weil noch niemand bereit war, die hohe Erstinvestitionssumme zu übernehmen. Wir sind aber in dieser Hinsicht unbeirrbar, hartnäckig und zuversichtlich. Diese Idee wird weiterverfolgt, wie auch unsere Ideen im Leichtbau und bezüglich der adaptiven Tragwerke. 17

Einführung

»schlaich bergermann und partner ist ein Unternehmen, das klugerweise immer ein Büro geblieben ist und bleiben wird.«

Der Geist und der Mut des Büros machen den Unterschied Raimund Rascher gründete 1994 die Unternehmensberatung Rascher+Partner in Köln und entwickelte eine eigene Beratungsmethodik, die die Kultur der jeweiligen Unternehmen ausdrücklich aufnimmt und mitgestaltet. Er berät schlaich bergermann und partner auf dem Gebiet der Büroentwicklung.

schlaich bergermann und partner zählen zur Elite der Ingenieurbüros in Europa. Viele ihrer Bauten zeichnen sich durch einen Stil aus, der unverkennbar die Handschrift des Büros trägt. Ähnliches kann man über seine Organisationsdynamik sagen, die ihren Beitrag zum Erfolg beisteuert. Sehnsucht und Handwerk »Wenn Du ein Schiff bauen willst, beginne nicht damit, Holz zu beschaffen, Bretter zu schneiden und die Arbeit zu verteilen, sondern wecke in den Herzen der Männer die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer.« Kaum ein Bild wie jenes von Antoine de SaintExupéry beschreibt besser die Haltung und Handlungsorientierung des Büros und damit seine »Erfolgsgeschichte«. Dinge gelingen ganz einfach besser, wenn Sehnsucht und

Handwerk in einem sorgfältig ausbalancierten Verhältnis zusammenkommen und gleichzeitig wirken können. Diese Vorstellung leitet alle Mitglieder des Büros – die Führungskräfte und die Mitarbeiter ebenso wie die Ingenieure, die Konstrukteure oder die Administration. 2002 haben die heutigen vier Geschäftsführer und Partner Knut Göppert, Andreas Keil, Sven Plieninger und Mike Schlaich die Leitung übernommen. Dabei ist es ihnen gelungen, das Büro weltweit neu aufzustellen und zu einer neuen Größe zu führen. Gemeinsam übernehmen sie die Führungsaufgaben – eine Aufteilung etwa in einzelne Bereiche mit jeweils »eigenen Mitarbeitern« gibt es nicht. Sie tragen zusammen die Verantwortung und bilden auf diese Weise ein wirkliches Führungsteam.

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Der Geist und der Mut des Büros machen den Unterschied

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Im Sinne einer effektiven Projektarbeit, haben sich natürlich gewisse Strukturen in der Zusammenarbeit sowie einzelne Schwerpunkte in der Arbeit der Konstrukteure und Ingenieure herauskristallisiert. Dahinter stehen allerdings keine Organisationszwänge; jeder Mitarbeiter kann weiterhin jeden Geschäftsführer ansprechen und mit ihm zusammenarbeiten. Generalisten wollen sie sein und Gleiches soll auch für ihre Mitarbeiter gelten. Ungeteilte Verantwortung Ebenso wie die Geschäftsführung eine ungeteilte Verantwortung vorlebt, sind auch die Mitarbeiter zu aktivem Mitdenken aufgefordert. Durch ihr selbstständiges Handeln übernehmen sie eine Verantwortung über die eigenen Aufgaben hinaus auch für das Ganze. Sie erledigen nicht einfach eine ihnen zugeteilte Arbeit, sondern können und sollen sich einbringen und weiterentwickeln. »Freiheit ist Einsicht in Notwendigkeit«, schrieb Friedrich Engels – indem man an den Zielen des Büros mitwirkt, verwirklicht man sich selbst. Geschäftsführung, erweiterte Geschäftsleitung, Projektleiter, Projektingenieure, Konstrukteure und die Administration bilden ein Team, das zu hundert Prozent hinter seiner Arbeit steht. Sie alle sind Teil des Büros, identifizieren sich mit ihrer Tätigkeit und bringen somit das Büro weiter voran. Zugleich zieht das Büro aufgrund der attraktiven Projekte und der Arbeitsweise talentierte Mitarbeiter an. Der Wachstumsprozess der vergangenen Jahre machte ein erhöhtes Maß an konzentrierter Führung notwendig – zur Entlastung der Geschäftsführung bei der Steuerung und Qualitätskontrolle der Projekte wie auch hinsichtlich der stetig wachsenden administrativen Aufgaben. So wurde unter der Geschäftsführung eine erweiterte Geschäftsleitung aufgebaut, mit dem Bemühen, die latenten Fähigkeiten der Ingenieure im Büro nicht zu behindern und neue Kraftentfaltung

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zu ermöglichen: Einige der Leistungsträger wurden so positioniert, dass sie für das Gesamte noch wirksamer werden konnten. »Im Leben gibt es keine Lösungen. Es gibt Kräfte in Bewegung: die muss man schaffen; die Lösungen folgen nach«, schrieb Antoine de Saint-Exupéry. Diese Organisationsstruktur bewirkt nicht nur eine bessere Handhabung der stetig steigenden Zahl an Projekten und führt in der Folge zu einer höheren Kundenzufriedenheit, sondern ist auch verbunden mit dem Signal an alle Mitarbeiter, dass entsprechend seiner Befähigung potenziell jeder auf leitender Ebene zum Erfolg beitragen kann.

15−17 Seit dem Büroumzug Mitte 2011 befinden sich Solar- und Tragwerksplaner in einer Werkstattatmosphäre unter einem Dach.

Leistung als Selbstverständlichkeit Das Büro schlaich bergermann und partner ist im positiven Sinn absolut leistungsorientiert. Es schöpft aus der Leistungsbereitschaft der Führungskräfte, der Konstrukteure und Ingenieure, der Techniker und der Administration, aber auch aus der Selbstverständlichkeit des allseits geteilten hohen Anspruchs und der Begeisterung für die Aufgabe. Jede Aufgabe ist dabei mit einem »Mehr und Anderem« verbunden, einem Bezug zum Ganzen. Dies erfordert von allen Mitarbeitern ein hohes Maß an Selbstführung und Eigenverantwortung. Gleichzeitig kommt das Büro mit vergleichsweise wenig explizitem Handeln der Führungsebene aus. Dies alles ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit, die auf die Bündelung aller Kräfte des gesamten Teams setzt. Schließlich sollen die Bauten, die dabei entstehen, tragfähig sein und Jahrzehnte überdauern – und unverkennbar die Handschrift des Büros tragen. schlaich bergermann und partner ist ein Unternehmen, das klugerweise immer ein Büro geblieben ist und bleiben wird. Personalauswahl, Arbeitsauffassung, Projekte, Administration, Akquisition – das alles ist entsprechend der besonderen Unternehmensphilosophie ohne überzogenes Managementwissen arrangiert. Der Geist und der Mut des Büros machen den Unterschied. 19

Konstruktion und Form Wenn Architekten und Tragwerksplaner bereits in der Entwurfsphase unvoreingenommen und offen aufeinander zugehen, können sich aus dieser Kooperation Konstruktionen entwickeln, die dem architektonischen Konzept nicht einfach nur übergestülpt sind, sondern gleichsam mit ihm zu einer Einheit verschmelzen. Um die konzeptionelle Qualität eines solchen Tragwerks zu sichern, ist es nicht nur für Architekten, sondern auch für Tragwerksplaner von großer Bedeutung, die Projekte vom Entwurf bis zur Umsetzung zu begleiten und zu bearbeiten. Schließlich wird die Qualität des Projekts letztlich von der Qualität der Detailausbildung getragen. Nur wer überprüfen kann, wie gut sich Entwurfsideen tatsächlich in jeder Maßstabsebene umsetzen lassen, kann seine Arbeitsweise und Entwurfsmethodik für zukünftige Projekte optimieren.

Konstruktion und Form

Wie kommt die Form in das Konstrukt? Falk Jaeger ist Architekturkritiker, Publizist und Architekturhistoriker

»Baukunst ist unteilbar«, so ein Credo von schlaich bergermann und partner. Gemeint ist die Einheit von Struktur und Gestalt, die sie nicht getrennt sehen wollen. »Architekten, die das Tragwerk zeigen, sind uns lieber«, räumt Mike Schlaich ein. Mit seinen Partnern ist er sich einig in der Wertschätzung des Entwurfsaspekts im Planungsprozess. Die Teilhabe am Entwurf, der ingenieurtechnisch als integraler Vorgang der Gestaltung und der Beherrschung der statischen Verhältnisse zur gestalterischen und technischen Konzeption des Tragwerks gesehen wird, gehört zu den Grundlagen ihrer Arbeit. Dadurch sind sie sicher näher am Architekten als viele andere Ingenieure. Je nach Bauaufgabe kommt es bei der Konzeption zu mehr oder weniger intensiver Zusammenarbeit mit anderen Fachleuten, zumeist natürlich mit Architekten. Architektur als komplexe Synthese Im Idealfall ist ein Architekt der Konterpart, der die Meinung von der unteilbaren Baukunst ebenfalls vertritt. »Als Auftragskünstler haben wir Architekten die Verantwortung vor der Gesellschaft, die Kunst des Bauens in der tektonisch vernünftigen Bindung zu leisten, anders als ein Bildhauer, der hat als freier Künstler – nur sich selbst verantwortlich – die Freiheit des ihm beliebigen skulpturalen Gestaltens«, sagt Volkwin Marg vom Architekturbüro gmp von Gerkan, Marg und Partner. Und: »Wir sind weder Konstruktivisten noch Formalisten, sondern gewinnen die endgültige Gestalt im Dialog zwischen Formfinden und Formsetzen und verstehen Architektur als eine komplexe Synthese.« Aber muss der Architekt nicht zwischen Vernunft und Vision Prioritäten setzen? Einen solchen Unterschied in der Arbeitsweise der Ingenieure und Architekten will Marg nicht gelten lassen: »Dieses Schisma hat sich leider eingebürgert, seit sich infolge der ersten industriellen Revolution die gesamtheitlichen Baumeister der Gotik, der Renaissance und des Barock in Techniker und Künstler gespalten haben. Seither redet man entweder von Ingenieurbauwerken

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oder von Architektur, obwohl das doch die beiden Seiten der gleichen Medaille sind und bleiben müssen.« Stadion in Durban Im südafrikanischen Durban lautete der Auftrag an die Architekten, am Ufer des Indischen Ozeans nicht nur ein Stadion, sondern eine Landmarke zu errichten, ein weithin sichtbares, signifikantes Bauwerk, das in der bis dahin gesichtslosen Silhouette ein unverwechselbares Zeichen setzt. Die gefragte Höhenentwicklung nutzten die Ingenieure von schlaich bergermann und partner durch einen hoch aufragenden stählernen Bogen, der das Dach tragen solle, ein Textildach natürlich, leicht und transluzent, wie es die Bautechnik inzwischen möglich macht. Die Architekten interpretierten den Bogen als Zeichen, als Symbol der Verbindung, als Brücke für die multiethnische Bürgerschaft dieser Stadt. Ob man den Bogen zur Stadt hin nicht spreizen könne, um eine Öffnung zur Innenstadt hin zu gewinnen, fragten die Architekten. Daraufhin modifizierten die Ingenieure ihre Modelle und begrüßten die Spreizung als Verbesserung der Stabilität. So ist in einem gemeinsamen Entwurfsprozess ein Stadion /Dach entstanden, das sowohl architektonisch und städtebaulich Maßstäbe setzt, als auch die für die Ingenieure typischen Konstruktionsprinzipien auf eine neue Art und Weise kombiniert (Abb. 1 und 2). Durch die Verknüpfung des Speichenradprinzips mit dem Bogen ist es gelungen, die Seilkonstruktion im Grundriss perfekt an die Zuschauertribünentiefe anzupassen. Beim »normalen« Speichenrad verlaufen Druckring und Innenrand immer affin. In Durban hingegen sind die Ost- und Westtribünen wesentlich breiter als an den Stirnseiten, was sich auch in der Form des Dachs widerspiegelt. Die Durbaner waren begeistert vom neuen Wahrzeichen. Ihr Wunsch, den gegabelten Bogen, der zugleich an das Y der südafrikanischen Nationalflagge erinnert, auch erklimmen zu können, stellte die Ingenieure nur vor

Wie kommt die Form in das Konstrukt?

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geringe Probleme. Eine Standseilbahnkabine fährt bis hinauf zu einer Aussichtsplattform, dem Skydeck auf dem Scheitelpunkt des Bogens, von wo aus sich der beste Rundblick über die Stadt genießen lässt. Die dynamischen Lasten der Seilbahn sind angesichts der Dimensionen zu vernachlässigen, zumal sie bei starkem Wind ohnehin nicht fährt. Wie bei vielen vergleichbaren Projekten erfüllt das Stadiondach neben dem Wetterschutz auch hier noch weitere Funktionen. So trägt es unter anderem Flutlichtscheinwerfer, Lautsprecher, Kameras und Eventinstallationen. Die durchaus attraktive Dachuntersicht sollte sich jedoch frei und optisch ungestört zeigen. Gemeinsam entwickelten sie daher zwei

»Catwalk« genannte Laufgänge, die von den Längsseiten des Dachs abgehängt sind und alle notwendigen Installationen servicefreundlich aufnehmen. Auch die äußeren Dachuntersichten lassen sich von hier aus effektvoll beleuchtet, während die inneren Dachflächen vom Bogen aus illuminiert werden. Die glanzvolle, weithin wirkende Beleuchtung des schneeweißen Bauwerks ist ein wesentliches Element seiner dominanten Präsenz in der Stadt und seines Images. All diese Aspekte zusammen – Funktion, Konstruktion und künstlerische Inspiration für diesen speziellen Ort – führen in Durban durch die architektonische Synthese zu einer unverwechselbaren Einheit.

1 Moses-Mabhida-Stadion, Durban (ZA) 2009, gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner 2 gespreizter Bogen mit Blick auf Durban, Moses-MabhidaStadion

Bogenspannweite: 340 m Bogenstich: 100 m Dachfläche: 46 000 m2 Sitzplätze: 56 000 Sitzplätze FIFA Worldcup 2010: 70 000 Sitzplätze Olympia-Version 2020: 85 000 2

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Konstruktion und Form

Wie kommt die Form in das Konstrukt?

3 3, 4 Nelson-Mandela-Bay-Stadion, Port Elizabeth (ZA) 2009, gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner 5, 6 Detail der Seilnetzkonstruktion, Sporthalle, Dongguan (CN) 2011, gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner

Hauptachsen: 260 ≈ 200 m Dachtiefe: 40 m Höhe: 35 m Membranfläche: 34 000 m2 Fassadenfläche: 25 000 m2 Bruttogrundfläche: 50 000 m2 Sitzplätze: 46 000

Stadion in Port Elizabeth In Port Elizabeth, wo ebenfalls ein Stadion für die Fußballweltmeisterschaft 2010 entstehen sollte, war aus Kostengründen zunächst nur eine Teilüberdachung geplant. Wäre eine Dachkonstruktion möglich, sinnierten die Architekten, die zunächst nur zum Teil gebaut und später vervollständigt werden kann? Die Ingenieure schlugen ein Tragwerk aus einzelnen Kragarmen vor, das in beliebigen Teilabschnitten errichtet werden konnte und gaben den Architekten damit den Entwurfsrahmen vor (Abb. 4). Jeder der rippenförmigen Kragträger ist als Dreigurtträger für sich stabil und benötigt das stützende Nachbarelement nur in der Umfangsrichtung. So konnte das gesamte Tragwerk achsweise nach und nach montiert werden. Bei einem Stadion mittlerer Größe ist diese Konstruktionsweise mit 30 m Auskragung noch wirtschaftlich machbar.

Wer das Stadion heute besucht, erlebt es als strahlende Erscheinung, die weithin die Szenerie der Stadt beherrscht. Die modulare Konstruktionsweise fällt nur dem Fachmann auf, das Bauwerk erscheint als harmonische Einheit, denn glücklicherweise konnte letztlich doch das komplette Stadionrund überdacht werden. Über der Betonschüssel wölbt sich das aus blattähnlich geformten Rippen zusammengesetzte Dach. Die Blattrippen greifen dabei zuerst aus, um sich dann nach innen schützend über die Tribünen zu neigen. Sie vereinen sich zu einer riesigen Blütenkelchform, die durch die abwechselnde Anordnung von einen hohen Grat bildenden Dreigurtträgern, den »Blütenblättern«, und dazwischen gespannten, eine Kehle formenden Membranfeldern aus PTFE-beschichtetem Glasfasergewebe entsteht.

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Wie kommt die Form in das Konstrukt?

»Durch die gemeinsamen Projekterfahrungen erweitert sich die Basis unseres Know-hows kontinuierlich, was uns zugleich ermutigt, Größeres, Gewagteres, Komplexeres zu probieren.«

Architekten und Ingenieure ziehen am gleichen Strang Jaeger Seit wann arbeiten Sie mit schlaich bergermann und partner zusammen? Schütz Die ersten Kontakte hatte ich vor etwa 20 Jahren mit Jörg Schlaich, dessen Arbeitsweise stark durch seine Lehrtätigkeit geprägt war. Wenn wir gemeinsam eine Brücke zu entwerfen hatten, haben wir von ihm zunächst eine wissenschaftliche Vorlesung über den Brückenbau im Allgemeinen zu hören bekommen. Auf dieser Grundlage haben wir uns dann an die Arbeit gemacht. Jaeger Wie verläuft die Kooperation heute? Schütz Ich arbeite seit einigen Jahren intensiv mit Sven Plieninger, der ebenso wie ich zur zweiten Partnergeneration im Büro zählt, an Projekten in Asien zusammen. Am Willen, bis an die Grenzen des Möglichen zu gehen, hat sich bei schlaich bergermann und partner bis heute nichts geändert. Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, da sich die Anzahl der Projekte im Vergleich zu früher vervielfacht hat und die Aufgabenfelder sich erweitert oder auch teilweise verschoben haben. So beschäftigen wir uns derzeit unter anderem mit einigen Hochhausprojekten von bis zu 400 m Höhe. Jaeger Wer lässt sich die Form in der Regel als erster einfallen? Schütz Die konzeptionelle oder metaphorische Formidee kommt von uns, die Durcharbeitung erfolgt in einem iterativen Prozess zwischen den Ingenieuren und Architekten. Während dieser Phase der Zusammenarbeit wird die Formvorstellung mit der Konstruktion zur Deckung gebracht. Je mehr das gelingt, desto erfolgreicher ist das Projekt. Jaeger Gibt es Beispiele, bei denen die Ingenieure gesagt haben, das geht so gar nicht, die Ideen lassen sich nicht verwirklichen? Schütz Da die Denkrichtungen aufgrund der Erkenntnis, dass Form und Konstruktion im Idealfall deckungsgleich sein sollen, korrespondieren, haben wir in der Regel unsere

architektonischen Vorstellungen in der Zusammenarbeit realisieren können. Es gibt aber auch Momente, in denen wir uns von einer bestimmten formalen Vorstellung lösen und die Logik einer von den Tragwerksplanern vorgeschlagenen Konstruktion anerkennen müssen. Ein Beispiel sind die von schlaich bergermann und partner entwickelten Seilnetzfassaden, die im Idealfall quadratische Scheibenformate haben – ganz gleich, ob das Gebäude eine horizontale oder vertikale Ausrichtung hat. An dieser Stelle muss man als Architekt einsehen, dass bestimmte Konstruktionen zwingend sinnfällig sind und nicht durch formale Erwägungen verändert werden können. Jaeger Sie haben gesagt, die formale Idee komme meistens von den Architekten und die Ingenieure realisieren sie dann. Dass dies so erfolgreich funktioniert, kann zwei Ursachen haben: Entweder die Ingenieure sind so findig, dass sie für alles eine Lösung parat haben, oder die Architekten denken schon so strukturell-konstruktiv, dass sie Unbaubares gar nicht erst vorschlagen? Schütz Wir haben beide durch die langjährige Zusammenarbeit vieles voneinander gelernt. Durch gemeinsame Projekterfahrungen erweitert sich die Basis unseres Know-hows kontinuierlich, was uns zugleich ermutigt, Größeres, Gewagteres, Komplexeres zu probieren. Wir bauen z. B. aktuell in China eine Sporthalle mit doppelt gekrümmten Seilnetzfassaden, eine absolute Weltinnovation, die für die Ingenieure ebenso interessant ist wie für uns. In vielen Wettbewerben kommt es vor, dass wir mit einer uns geläufigen Konstruktionsidee ins Rennen gehen und schlaich bergermann und partner dann eine viel feinsinnigere, innovativere Konstruktion präsentieren, die formal zwar nicht viel an unserer Intention ändert, sich allerdings als eleganter bzw. reduzierter entpuppt. Ich denke, dies ist eine Erklärung für den Erfolg in vielen Wettbewerben im Inund Ausland.

Stephan Schütz ist Architekt und seit 1998 Partner im Büro von Gerkan, Marg und Partner. Er leitet die Büros in Berlin, Peking und Shenzhen. Das Interview führte Falk Jaeger.

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Konstruktion und Form

Wie kommt die Form in das Konstrukt?

Hauptachsen: 290 ≈ 265 m Dachtiefe: 79 m Fassadenhöhe: 26 – 38 m Dachfläche: 45 000 m2 Fassadenfläche: 25 000 m2 Sitzplätze: 68 000 4

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Zugang dreirangige Haupttribüne gläserne Dachfläche inneres Hängedach

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7 Schnitt, Maßstab 1:2500, Green-Point-Stadion, Kapstadt (ZA) 2009, gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner 8, 9 Green-Point-Stadion 10 schematische Darstellung der Dachkonstruktion des Green-Point-Stadions 9

Stadion in Kapstadt Gegenüber dem Entwurf für Durban gingen die Architekten für den Bau des Stadions in Kapstadt von einer geradezu gegenteiligen Entwurfsprämisse aus. Ihre Analyse des Bauplatzes in der großartigen Naturlandschaft von Kapstadt – das Meer, der Küstensaum, der Tafelberg – führte sie zur festen Überzeugung, das Stadion nicht als zusätzliche Landmarke aufdringlich ins Panorama hinzuzufügen (Abb. 8). Halb abgesenkt und von möglichst geringer Höhenentwicklung sollte es sich nicht mit einem kühn aufragenden Himmelsbogen wie in Durban oder einem ausladenden Blütenkelch wie in Port Elizabeth hervortun oder mit seinem Tragwerk den Hafenkränen Konkurrenz machen. Vielmehr gedachten die Architekten das Dach als eine »fünfte Fassade« zu gestalten, zumal der Bau von den Kapstädter Hausbergen gut einsehbar ist. Das Zeigen der Konstruktion stand in diesem Fall also nicht im Vordergrund, sondern die Frage nach dem minimalistischsten Tragwerk. Volkwin Marg und Hubert Nienhoff vom Architekturbüro von Gerkan, Marg und Partner sowie Knut Göppert von schlaich bergermann und partner entschieden sich für ein horizontales Tragwerk, für eine Variante des Speichenradprinzips: Zwischen einem Druckring auf dem Außenrand des Stadionrunds und einem über dem Spielfeld schwebenden Zugring befinden sich Spannbänder, auf denen die Dachfläche aufliegt. »Bei Dächern als Radkonstruktion mit äußerer Druckfelge, radialen Speichen und innerer auf Zug beanspruchter Nabe – auch wenn diese bei offenen Dächern ringförmig ist – ist der Kreis die beste Zweckform. Das beweist jedes Fahrrad-Speichenrad mit seinem minimalen Gewicht bei maximaler Stabilität«, erläutert Knut Göppert. Für die Realisierung eines reinen Hängedachs sahen die Ingenieure wegen der starken Fallwinde vom Tafelberg und der überaus heftigen Stürme von See her keine Möglichkeit. Außerdem wären damit auch die nach

innen ablaufenden Wassermassen der häufig sehr ergiebigen Regenfälle zum unlösbaren Problem geworden. Sie schlugen deshalb vor, auf die radialen Tragseile des Seilhängedachs Zweigurtfachwerkbinder mit einer 7 m hohen Hochseite über dem Zugring innen und der Spitze nach außen aufzusetzen, wodurch sie die Ablaufrichtung an der Nordund Südseite umkehrten und ein Gefälle zum Außenrand des Stadions hin erzeugen konnten (Abb. 10). Gleichzeitig ließen sich mit tangentialen Elementen und mit dem Gewicht von gläsernen Deckplatten die Gesamtsteifigkeit und die Windfestigkeit des Dachs erhöhen. Dem gemeinsamen Wunsch nach Klarheit der Formen und Eliminierung störender Installationen entsprachen die Planer mit einer transluzenten Membran, die unter die Dachkonstruktion gespannt ist und die technischen Installationen im Dach, die Beleuchtungsanlagen und Lautsprecher verdeckt. Bei Dunkelheit kann der ganze Dachkörper von innen heraus zum Leuchten gebracht werden, wobei sein Tragwerk als grafisches Stahlgespinst erlebbar ist. So wird das Green-PointStadion bei Veranstaltungen abends als Lichtskulptur inszeniert. Auch in Kapstadt ist die Außenhaut des Stadions mit ihren zwischen horizontalen Stahlfinnen gespannten, zweiseitig gekrümmten, silbrig schimmernden Bahnen aus teflonbeschichtetem Glasfasergewebe nie ganz undurchsichtig, je nach Wetter und Tageszeit. Anders als bei den jüngeren, nach außen häufig vollverkleideten Stadien soll die eigentliche Struktur des Tribünenunterbaus hier nicht versteckt werden, um dem Bau eine prägnante Gesamtform zu verleihen. Die innere Gebäudeschicht, die Rückseite der Tribünen mit ihrer ondulierenden Oberkante, wird durch die transluzente Membran je nach den Lichtverhältnissen mehr oder weniger sichtbar (Abb. 9). Vor allem am Abend bei Innenbeleuchtung bietet sich während eines Fußball- oder Rugbyspiels ein besonderes architektonisches Erlebnis.

transparente Verglasung

transluzente Verglasung

Beleuchtung

Auskragungen Primärträger

Druckring

Zugring

primäre Dachkonstruktion

diaphane Membran

Primärstützen

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Konstruktion und Form

Schwimmstadion Länge: 200 m Breite: 90 −100 m Höhe: 20 m Sitzplätze: 3000 −5000 (temporär) Arena Durchmesser: 150 m Spannweiten: 85 −150 m Höhe: 46 m Sitzplätze: 18 000 Freiluftschwimmstadion Durchmesser: 150 m Kragarm: 12− 40 m Höhe: 28 m Sitzplätze: 2000 −5000

Wie kommt die Form in das Konstrukt?

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Shanghai Oriental Sports Center Nicht immer lässt sich die insbesondere von gmp Architekten und schlaich bergermann und partner gemeinsam verfolgte Strategie eines bauaufgabenspezifisch optimierten Konzepts durchhalten. So waren die Produktionsbedingungen und der enge Zeitrahmen beim Bau des Shanghai Oriental Sports Center (Abb. 12) nicht geeignet, wie üblich ein filigranes, sich selbst erklärendes Tragwerk mit ausgeklügelten Gussknoten und Gelenken zu entwickeln. Gemeinsam mit Magdalena Weiß von gmp Architekten wurde stattdessen ein robustes Konstruktionsprinzip entworfen, das rasch zu produzieren war und voll verkleidet wurde. »Keramikmesserbänkchen« nannten die Entwerfer die mit strahlend weiß lackierten Aluminiumplatten verblendeten, im Querschnitt dreieckigen, statisch jeweils eigenständigen Träger, aus denen die drei Bauwerke des Sportzentrums modulartig zusammengesetzt sind (Abb. 11 a und 11 b). Mit ihren der Stabilität dienenden doppelt gekrümmten

Kugelflächen entfalten die Träger einen dynamischen Schwung und konnten schließlich zu einem Gebäudeensemble von außergewöhnlicher Eleganz arrangiert werden.

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»Slinky springs to fame« in Oberhausen Die bisher genannten Beispiele zeigen, dass architektonisches Verständnis bei den Ingenieuren und statisches Gespür bei den Architekten in der Zusammenarbeit beider zu den überzeugendsten Lösungen führen. Dabei gilt natürlich, je früher die Ingenieure hinzugezogen werden, desto besser, möglichst bereits bei der ersten Entwurfsidee des Architekten. Das gilt am Ende auch für die konstruktive Realisierung eines Entwurfs wie »Slinky springs to fame«, jene Fußgängerbrücke über den Rhein-Herne-Kanal in Oberhausen, die die Ingenieure zusammen mit dem Künstler Tobias Rehberger verwirklicht haben. Seine erste Skizze zeigte eine unregelmäßige Spirale, gleich einer bei Kindern so beliebten Spielzeugspirale, locker über den Kanal geworfen, in der eine Laufbahn für die Fuß-

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gänger eingezogen war (Abb. 13). Der naheliegende und erste Versuch der Ingenieure, die Spirale »irgendwie« tragend zu gestalten, sie also mit einem Obergurt und der Laufplatte als Fachwerkträger zu konstruieren, führte zu unbefriedigenden Lösungen. »Wir erklärten ihm die Statik, und plötzlich begann er selbst Brückentragwerke zu entwerfen«, berichtet Mike Schlaich von der Zusammenarbeit mit Rehberger. Auf diese Weise kam man zu einer Spannbandbrücke mit einer maximalen Spannweite von 66 m bei einer Laufplattenstärke von nur 10 cm. So entstand ein echtes »schlaich-bergermannund-partner-Konstrukt« mit einer anschaulichen, nachvollziehbaren und zugleich ökonomischen Konstruktion. Die Spirale indes, die sich in 496 Bögen um den 406 m langen Steg windet, ist eine Aluminiumkonstruktion, gleichsam Kunst am Bau und ohne jede tragende Funktion. Die für Rehberger typischen Farbfelder begleiten den Weg der Fußgänger und bestimmen auch die Untersicht. Eine effektvolle Nachtbe-

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leuchtung ergänzt das Kunstkonzept (Abb. 1, S. 98). »Ich wollte eine Skulptur entwerfen, die eine Brücke ist, und nicht eine Brücke, die Kunst ist«, so der Künstler. Bei Licht betrachtet, ist ihm das wohl nicht ganz gelungen. Die Naturgesetze sind der Kunst nicht untertan. Aber die Ingenieure haben ihm zu adäquaten Ausdrucksmöglichkeiten verholfen. Fußgängerbrücke in Sassnitz Brücken sind jene Bauwerke, die am meisten von den technischen Rahmenbedingungen des Tragwerks abhängen und die auf der Skala zwischen künstlerischem und technischem Artefakt am weitesten auf der Seite der Technik stehen. Der »Tanz in Ketten«, wie Volkwin Marg das Entwerfen angesichts der vielen Einengungen einmal genannt hat, gelingt bei Gebäuden am besten als »Grand Pas de deux« gemeinsam mit dem Ingenieur. Bei Brücken darf es schon mal ein Solo sein, denn oft genug werden Brückenbauwerke ganz ohne die Mitwirkung weiterer Gestalter von den Ingenieuren selbst

11 Formentwicklung aus gleichartigen Kugelgeometrien zur Vereinfachung von Konstruktion und Fertigung, Sportzentrum, Shanghai (CN) 2011, gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner a Kugelgeometrien b parametrische Beschreibung der tragenden Form 12 Schwimmhalle, Sportzentrum 13 Entwurfsskizze des Künstlers Tobias Rehberger, Brückenskulptur »Slinky springs to fame«, Oberhausen (D) 2011, Tobias Rehberger; schlaich bergermann und partner 14 Tragwerksskizze mit Kräfteverlauf der Brückenskulptur 15 Brückenskulptur, Maßstab 1:75 a Querschnitt b Ansicht

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1 Stahlrohr ¡ 120/80/2 mm 2 Brückengeländer mit Maschendraht 3 Stahlbetonfertigteil

4 Spannband Stahlprofil ¡ 460/30 mm 5 Spiralenstoß 6 Schottblech 5 mm

Gesamtlänge: 406 m Rampenlänge: 130 bzw. 170 m Spannweiten Spannbandbrücke: 20 m /66 m /20 m Brückenbreite: 2,67 m Überbauhöhe: 12 cm (Spannbandbrücke), 25 cm (Rampenbrücken) 15

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Konstruktion und Form

Wie kommt die Form in das Konstrukt?

Gesamtlänge: 243 m Länge/Spannweite: 119 m (Seilbrücke); 124 m (10 × 12,4 m) (Rampenbrücke) Breite Überbau: 3 m Höhenüberwindung: 15,70 m (+ 5,60 m bestehende Rampe) Brückenfläche: 729 m2 16

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entworfen. Bei Brücken sind zwei Aspekte des Bauens in fast isolierter, reiner Form relevant: die technische Leistung der Konstruktion und die Signifikanz ihrer Erscheinung. Besonders beim Brückenbau ist deshalb bei den Ingenieuren neben dem Gespür für den Fluss der Kräfte und das Leistungsvermögen des Materials auch gestalterisches Feingefühl gefragt. Dass sich beides nicht trennen lässt, zeigen Arbeiten wie die Fußgängerbrücke in Sassnitz, deren Form ausschließlich von den Ingenieuren in logischen Schritten aus den Randbedingungen entwickelt wurde (Abb. 16 −18). Die Fußgängerbrücke zwischen der Stadt und dem Fährterminal hat insgesamt 21,30 m Höhendifferenz zu überwinden und im Grundriss eine Richtungsänderung auszuführen.

Die halbe Brückenlänge konnte als konventionelle Stegkonstruktion realisiert werden. Der höherliegende, geschwungene Brückenteil wurde dabei als einseitig abgehängter Kreisringträger mit innenseitiger Aufhängung ausgebildet und kommt mit nur einem Mast aus. Die einseitige Aufhängung des Stegs wird durch Kragarme kompensiert, sodass die Seilachsen immer genau durch den Schwerpunkt des Stegquerschnitts führen und damit keine Krempelmomente entstehen. Das Anwachsen der Kragarme zur Brückenmitte hin betont den dynamischen Schwung der Brücke. An Leichtigkeit, Eleganz und Sinnfälligkeit der Form kaum zu übertreffen, hat sie die Qualitäten eines Baukunstwerks ersten Ranges und liefert den Beweis: »Baukunst ist unteilbar«.

16−18 Fußgängerbrücke, Sassnitz (D) 2007, schlaich bergermann und partner; Architekturbüro Pieper 19 1:1-Modell eines Konstruktionsknotens für ein Laborhochhaus, 2008, schlaich bergermann und partner; Renzo Piano Building Workshop 18

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Wie kommt die Form in das Konstrukt?

»Für dieses Projekt entstanden mehrere Prototypen im Maßstab 1:1, die wir immer so lange durchgearbeitet haben, bis sie konstruktiv und ästhetisch optimal waren.«

Konstruktionsvarianten für ein Laborhochhaus Detail Vor einigen Jahren haben schlaich bergermann und partner und Renzo Piano Building Workshop bei der Planung eines bislang unrealisierten Laborhochhauses über mehrere Jahre eng zusammengearbeitet. Wie kam es zu dieser Kooperation? Plattner Die ersten Kontakte gab es 2005 bei der Planung des New York Times Gebäudes in Manhattan. Auf dem Dach des Hochhauses wollten wir eine gut 90 m hohe Antenne anbringen, die sich wie ein Schilfrohr im Wind biegen sollte, um den Lesern der Zeitung bildhaft zu zeigen, woher der Wind weht. Auf schlaich bergermann und partner sind wir damals zugegangen, weil wir uns von ihnen, die ja für ihre leichten und eleganten Konstruktionen bekannt sind, besondere Lösungen erhofft haben. Diese Erwartung wurde auch erfüllt – leider hat sich der Bauherr am Ende doch für eine eher konventionelle Lösung entschieden. Nach dieser positiven Erfahrung haben wir uns dann beim Bauherrn des Laborgebäudes dafür eingesetzt, erneut mit den Ingenieuren zusammenarbeiten zu dürfen.

Konstruktion, eine Art transparentes Netzwerk, bestehend aus Stützen, Trägern und Diagonalen.

Detail Welche Entwurfsidee liegt diesem Projekt zugrunde? Plattner Innerhalb eines relativ starren Masterplans und einer festgelegten Kubatur von 120 m Höhe, 58 m Breite und 27 m Tiefe hatten wir die Idee einer an beiden Längsseiten außen liegenden Konstruktion, sozusagen eine molekulare Struktur, die sinnbildlich für die Tätigkeit der dort arbeitenden Menschen steht. Natürlich hat dieses Konzept auch damit zu tun, dass wir unsere Konstruktionen grundsätzlich gerne zeigen. Gedanklich haben wir dabei nicht zuletzt an das Centre Pompidou in Paris angeknüpft. Ebenso wie dort wären starre Kerne auch bei diesem Laborhochhaus eher störend gewesen. Schließlich sollten die Geschosse wie große Lofts angelegt sein – großzügig, flexibel und völlig frei einteilbar. Ausgangspunkt der Arbeit von schlaich bergermann und partner war also eine außen liegende

Detail Welche Besonderheiten weist die Konstruktion auf? Plattner Zu den wichtigsten Details zählen die Knotenpunkte, in denen die Diagonalen, Vertikalen und Horizontalen zusammenlaufen. Hierfür konnten wir uns am ehesten Gussteile aus Beton oder Stahl vorstellen. Da es bei der Verwendung von Stahl stets Brandschutzprobleme gibt, noch dazu bei einem Laborhochhaus mit erhöhtem Brandrisiko, aber auch weil wir sonst sehr oft mit Stahl arbeiten, wollten wir diese Konstruktion gern in Beton ausführen. Also haben wir eine kombinierte Lösung aus hochfestem Schleuderbeton mit geschweißten und gefrästen Knotenpunkten entwickelt, die eine überaus elegante Verbindung der Stahl- und Betonteile erbrachte. Dazu entstanden mehrere Prototypen im Maßstab 1:1, die wir immer so lange durchgearbeitet haben, bis sie konstruktiv und ästhetisch optimal waren.

Detail Ursprünglich waren die Geschosse völlig stützenfrei gedacht. Warum gibt es heute zwei innere Stützenreihen? Plattner Das Tragwerk hätte auch ohne die Stützen funktioniert. Letztlich haben wir sie aber zur Minimierung der Deckenhöhen gebraucht. Die Schwierigkeit bestand darin, die Geschosshöhen so zu optimieren, dass sie im Einklang mit den Bauherrnwünschen, unseren Vorstellungen, den Anforderungen der Haustechniker und natürlich auch mit der Tragwerksplanung stehen. Dieser Prozess dauerte fast eineinhalb Jahre, weil wir mit einem Laborhochhaus Neuland betreten haben – üblicherweise sind Laborgebäude eher Flachbauten. Dass mit dem heutigen Entwurfsstand alle zufrieden sind, geht nicht zuletzt auf die unermüdliche Koordinationsarbeit von schlaich bergermann und partner zurück, die unzählige Optimierungsvarianten modelliert und durchgearbeitet haben.

Bernard Plattner ist Architekt und seit 1989 Partner bei Renzo Piano Building Workshop (rpbw). Seine Zusammenarbeit startete 1973 mit den Planungen für das Centre Pompidou in Paris (Renzo Piano & Richard Rogers). Heute ist er weltweit für rpbw tätig. Das Interview führte Roland Pawlitschko.

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Von A bis Z – vom Entwurf zur Umsetzung 1 Annette Bögle ist Bauingenieurin, Autorin, Kuratorin und seit 2011 Professorin an der HafenCity Universität Hamburg, Studiengang Bauingenieurwesen, Fachbereich Entwurf und Analyse von Tragwerken.

1 visualisierte Schnittperspektive, Fluggastterminal WillyBrandt-Flughafen, Berlin (D) 2012, gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner; JSK Architekten 2, 3 Dachkonstruktion, Fluggastterminal 4 Querschnitt Maßstab 1:1500, Fluggastterminal 5 Empfangshalle, Fluggastterminal

Wie nur wenige haben sich die Ingenieure von schlaich bergermann und partner dem Entwurf im konstruktiven Ingenieurbau verschrieben. Sie sehen ihre Aufgabe nicht nur in der Modellierung und Bemessung von Tragkonstruktionen, sondern begreifen ihre Verantwortung für das Bauwerk als etwas Ganzheitliches und messen ihre Arbeit an technisch-konstruktiven wie gestalterischen Qualitäten. Dahinter steht die Überzeugung, dass in der Entwurfsphase die Qualität der Gesamtkonstruktion bereits angelegt ist. Der Entwurf beschränkt sich nicht auf eine schöne Skizze, sondern berücksichtigt den gesamten Planungsprozess – die Herstellung, die Kommunikation der Gewerke und die Detailausbildung. Kommunizieren und Interagieren Für eine erfolgreiche Planung und Ausführung ist ein ganzheitlicher Ansatz für den Tragwerksentwurf und die konstruktive Durchbildung ebenso entscheidend wie ein partnerschaftlicher Dialog zwischen allen am Bauprozess Beteiligten, also zwischen Architekten, Ingenieuren und den ausführenden Gewerken. Eine enge Kommunikation eröffnet Synergien und ermöglicht Lösungen, die der Einzelne selten allein herbeiführen kann. Je größer und komplexer ein Bauvorhaben wird, desto wichtiger ist ein transparenter und interdisziplinärer Planungsprozess. Der neue Willy-Brandt-Flughafen in Berlin gehört zu den derzeit größten Infrastrukturprojekten Europas (Abb. 1– 5). Gestalterisch ist er von einem lichten Fluggastterminal mit umlaufend transparenten Glasfassaden und einer scheinbar schwebenden Dachscheibe mit Oberlichtern und dazwischenliegenden opaken Dachkassetten gekennzeichnet. Die enge Wechselwirkung von Architektur und Tragwerk prägte den Planungsprozess dieses Projekts in besonderer Weise und wird unter anderem bei der Betrachtung der Trägerstege deutlich. Das Dachtragwerk besteht aus einem schlichten ebenen Trägerrost ohne zusätzliche Verkleidung – und ist damit ent-

lang der Oberlichter sichtbar und gestaltprägend. Daraus resultierte nicht nur eine belichtungstechnische Trennung der Oberlichter vom Dachinnenraum. Folglich wurde auch ein frühzeitiger Einbezug der Planungen des technischen Ausbaus erforderlich. Zunächst allerdings stellte allein die hohe statische Beanspruchung aufgrund der Spannweiten die konstruktive Umsetzung vor große Herausforderungen. Mögliche Standardlösungen wie etwa Vollwand- oder Fachwerkträger erwiesen sich in statischer und wirtschaftlicher Sicht als problematisch, weil sie zu einem schweren und ineffizienten Dachtragwerk geführt hätten.

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Mit den Prinzipien des Strukturleichtbaus entwickelte das Planungsteam einen neuartigen Dachträger mit Stegen aus Trapezblech, der die Tragwerkseffizienz durch seine gekantete Form signifikant steigert und gleichzeitig eine hohe Ausnutzung des Materials bei verhältnismäßig geringem Konstruktionsgewicht ermöglicht. Dadurch ergab sich ein besonders charakteristisches Erscheinungsbild der Dachuntersicht, insbesondere entlang der Oberlichter. Um dieser gestaltprägenden Entscheidung Rechnung zu tragen, wurde die Geometrie zuvor mithilfe von Visualisierungen unter verschiedenen Beleuchtungssituationen untersucht.

Die Faltwerkstruktur des Trägers mit seiner hohen Biegesteifigkeit und geringen Dehnsteifigkeit eröffnet zusätzliche Synergieeffekte im gesamten Tragwerk: Kräfte der anschließenden Membrandecke der opaken Dachkassetten können effizient aufgenommen und abgetragen werden. Und auch die Zwangsbeanspruchungen reduzieren sich und die horizontalen Windkräfte verteilen sich gleichmäßig über das gesamte Tragwerk. Insgesamt haben Reflexion der Entwurfsparameter, Iterationen des Entwurfs und enge Verzahnung aller Planungsphasen zu einem innovativen Bauwerk mit eindeutigem Mehrwert geführt.

Das Tragwerk des Willy-BrandtFlughafens wurde von schlaich bergermann und partner zusammen mit den Architekten von gmp und JSK entworfen. Die 240 ≈ 200 m große Dachscheibe des Fluggastterminals – zentrales architektonisches Element des neuen Flughafens – wird durch Oberlichter gegliedert und in einem quadratischen Raster von 43 ≈ 43 m durch Pendelstützen getragen.

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Konstruktion und Form

Länge Brücke: 153 m Spannweite: 141 m Länge Rampe Süd: 35 m Länge Rampe Nord: 37 m Breite: 3 m Höhe Mast: 45 m

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Von Anfang an dabei In der Qualität eines Bauwerks spiegelt sich nicht nur die eng verzahnten Arbeitsprozesse der Planungspartner wider, sondern auch deren Beteiligung an allen Planungsphasen. Der elegante Schwung, der in Gelsenkirchen die Rad- und Wanderwege der südlichen Erzbahntrasse mit dem nördlichen Emscher Park Radweg verbindet, symbolisiert in gewisser Weise diesen durchgängigen Planungsprozess von der Wettbewerbsphase bis zur Bauausführung. Die asymmetrische, einseitig aufgehängte Brücke ist auf ein Minimum reduziert und überbrückt eine freie Spannweite von 141 m

über den Rhein-Herne-Kanal scheinbar mühelos (Abb. 6). Mit ihrer Leichtigkeit und ihrer optimierten integralen Konstruktion verbindet sie sinnvoll ästhetische mit ingenieurmäßigen Eigenschaften – Qualitäten, die schon im Wettbewerbsentwurf angelegt waren. Die prägnante und elegante Positionierung des Masts am Endpunkt der Erzbahntrasse und die scheinbar simple und schlüssige Führung der Seile zeigt sich hier als Ergebnis einer sorgfältigen Formfindung, deren Zielparameter eine optimale Ausnutzung der Tragelemente sowie die Erfüllung funktionaler und gestalterischer Anforderungen sind – die Neigung und Voutung des Masts sowie die

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Gabelfitting mit Augblechen an Rippen angeschlossen Edelstahlblech 10 mm geschraubt an Konsole 15 mm, Konsole an Hohlkasten angeschweißt Rippe Stahlblech 15 mm Hohlkasten aus Stahlblech 15 – 40 mm Geländer aus Geländerpfosten 40 –70/30mm, dazwischen Edelstahl-Seilnetz Maschenweite 60 mm und Randseil Edelstahl Ø 16 mm seitlicher Abschluss Stahlblech 290/10 mm Aufbetonplatte 120 mm mit Dünnschichtbelag 5 mm

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Anordnung der Seile an der Mastspitze beeinflussen das Tragverhalten und die Gestalt der Brücke entscheidend. Die Realisierung dieser Brücke verlangte eine innovative Weiterentwicklung des Kreisringträgerprinzips. Wie bei früheren Projekten laufen die Tragseile an der Außenseite tangential in den geschwungenen Stahlüberbau ein, allerdings werden sie hier 24 m vor dem Widerlager unterstützungsfrei verankert. Infolge der fehlenden Einspannung des Überbaus an der Tragseilverankerung muss er zusätzlich für Torsion- und Biegebeanspruchung dimensioniert sein. Um dem Ziel nach einer möglichst großen Schlankheit Rechnung zu tragen, waren die auftretenden Beanspruchungen so gering wie möglich zu halten. Der Überbau, ein polygonaler Hohlkasten (Abb. 8), ist daher monolithisch an das Widerlager angeschlossen. Umgekehrt hatten die Steifigkeiten der Gründung und des Widerlagers einen Einfluss auf die Schnittgrößen des Überbaus, was wiederum beim Nachweis der Gesamtkonstruktion zu berücksichtigen war. Der Verzicht auf Lager und Fugen führte zu einer vorteilhaften robusten und nahezu wartungsfreien Konstruktion. Nicht nur durch die Wahl des statischen Konzepts, sondern auch durch die Herstellung ließen sich die Beanspruchungen im Bauwerk beeinflussen. Dafür erhielt der Überbau eine komplexe dreidimensionale Werkstattform, die dann als Teil des Realisierungsprozesses in die Sollgeometrie gezwängt wurde. Diese Zwangsverformung wirkt den Verformungen aus Eigengewicht und Vorspannung entgegen, reduziert erfolgreich die Biegemomente im Überbau und ermöglicht dessen schlanke und elegante Form. Und so zeigt die erfolgreiche Realisierung dieses komplexen Tragwerks, wie vorteilhaft ein durchgängiger Planungsprozess ist, der auch Bauleitung und ingenieurtechnische Kontrolle einschließt.

haben, da sich daraus Auswirkungen bis ins Detail ergeben. Dieser ganzheitliche Ansatz, der den Montageprozess zum Teil des Tragwerksentwurfs macht, entspricht der Tradition des Büros schlaich bergermann und partner, und prägte auch schon die früheren Projekte der beiden Gründungspartner. Bereits beim Stadion für die Olympischen Spiele 1972 in München wollten die Ingenieure für den Montagevorgang des Seilnetzes das Randseil am Boden auslegen und dann mit dem gesamten Netz nach oben ziehen. Damals traute man sich das allerdings noch nicht zu und verwendete schließlich konventionelle Gerüste.

6 a, b Computermodell, Fußund Radwegbrücke Hafen Grimberg, Gelsenkirchen (D) 2009, schlaich bergermann und partner 7 Montage des Brückenbogens, Fuß- und Radwegbrücke Hafen Grimberg 8 Schnitt, Maßstab 1:50, Hohlkasten Fuß- und Radwegbrücke Hafen Grimberg 9 gefräste Seilklemmen, Fußund Radwegbrücke Hafen Grimberg

Fügen und Montieren Entwerfen im Ingenieurwesen bedeutet immer auch, Herstellungsmethoden im Blick zu 9

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10 10 Nationalstadion Warschau (PL) 2012, gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner; JSK Architekten; schlaich bergermann und partner 11 Grundriss, Maßstab 1:5000, Nationalstadion Warschau 12 Seilnetzkonstruktion kurz nach der Montage, Nationalstadion Warschau 13 einzelne Phasen zur Aufrichtung des Seil- und Membrantragwerk, Nationalstadion Warschau a Montage Druckring b Montage Fassadenstützen c Auslegen der Seilstruktur d »Biglift« − Heben der Seilstruktur e Vorspannen der Seilstruktur, Montage der äußeren Membran f Montage Innendach und Membrangarage

Für die Fußball-Europameisterschaft 2012 wurde in Warschau ein bestehender Erdwall im wahrsten Sinne mit dem neuen Nationalstadion gekrönt. Auf Grundlage des Speichenradprinzips ist ein neuartiges Stadion für 60 000 Zuschauer entstanden.

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Heute dagegen ist diese Vorgehensweise beim Bau von Ringseildächern durchaus weit verbreitet – diese basieren auf dem Prinzip des Speichenrads und finden für zahlreiche Stadien weltweit in vielfältigen Variationen Anwendung. Das Ringseil wird dabei im Stadioninnern ausgelegt, an die Radialseile angeschlossen und dann mithilfe von Pressen in seine Position in luftiger Höhe gezogen. Vorteilhaft ist hierbei, dass man dadurch auf aufwendige Gerüste verzichten kann und in der Regel die ausgelegte Seilgeometrie nicht exakt sein muss. Eine Montage ist selbst im laufenden Spielbetrieb möglich, wie es beispielsweise beim Gottlieb-Daimler-Stadion in Stuttgart (heute Mercedes-Benz Arena) der Fall war. Spektakulär war der Montageprozess für das neue Nationalstadion in Warschau, bei dem das bekannte Konstruktionsprinzip der Ringseildächer um wesentliche Aspekte erweitert wurde (Abb. 13). Hier handelt es sich um zwei ineinanderliegende Ringseildächer, das äußere mit einer festen Membraneindeckung zwischen den radialen Seilbindern und einem Glasrand zur inneren Öffnung hin. Das innere Ringseildach trägt die wandelbare Membran, die als eine der wenigen faltbaren Membranen auch ganzjährig nutzbar ist. Am äußeren Rand mit nur einem Druckring werden die Seilkräfte an den Spitzen der schräg stehenden Masten umgelenkt und schließlich am Fußpunkt der vertikalen Stützen verankert. Der innere Zugring ist mit einer schrägen Druckstütze gespreizt, sodass sich die oberen und unteren Seilscharen in der Luft in einem sorgfältig gestalteten Detail kreuzen. Dieser geteilte innere Zugring wird durch die Tragstruktur des wandelbaren Innendachs so in Form gehalten, dass die innere Dachöffnung der Spielfeldgeometrie folgen kann. Scheinbar mühelos schwebt mittig über dem Spielfeld eine elegante Nadel, die den Hochpunkt des wandelbaren Innendachs bildet. Hier bündeln sich die achsweise nach oben geführten Seile, auf denen das Innendach

verfahren werden kann. Getragen wird die Nadel durch vier Seilscharen, die jeweils zu den Ecken der Dachöffnung spannen. Ein Blick nach oben zeigt eine spannungsreiche Konstruktion aus filigranen Seilen und sorgfältig geformten Gusselementen, die ihre innere Beanspruchung kaum erahnen lässt, obwohl das Dach in Bezug auf Material und Form eine Höchstleistung darstellt (Abb. 12). Die Dimensionen des Dachs mit 310 ≈ 280 m sind enorm, das Gewicht einzelner Konstruktionselemente kaum vorstellbar: Allein die Nadel wiegt mit allen dazugehörigen Stahlbauteilen 90 t, die Seile mit einer Länge von 70 km insgesamt 2100 t, einzelne Gussknoten bis zu 18 t pro Stück. Entsprechend hoch waren auch die Anforderungen an die Montage, die nur sehr geringe Toleranzen erlaubte. Zunächst wurde die sich auf der darunter angelegten Tiefgarage abstützende 70 m lange Nadel in einer Öffnung in der Spielfeldmitte senkrecht aufgestellt. Aufgrund ihres Gewichts musste der anschließende Hebevorgang exakt vertikal nach oben erfolgen, wobei keine horizontalen Verformungen auftreten durften. Mithilfe einer anspruchsvollen analytischen Berechnung des Hebevorgangs konnte die genaue Geometrie der ausgelegten Seile ermittelt werden. Der gespreizte Zugring erforderte eine Montage über ein niedriges Gerüst. Im Montagevorgang zeigte sich dann, inwieweit die Vorberechnungen stimmten und wie präzise die Toleranzen eingehalten wurden. Hier manifestierte sich die Güte und Qualität der Zusammenarbeit zwischen Ingenieuren und ausführenden Firmen, aber auch deren Erfahrung mit hochkomplexen Bauwerken. Nicht immer können die Firmen im eigenen Team auf eine derartige Erfahrung zurückgreifen. Ist dies nicht der Fall, muss unter oft großem persönlichen Einsatz das Verständnis für die geforderten Fertigungsgenauigkeiten entwickelt werden. Das Jawaharlal-Nehru-Stadion in Neu-Delhi beispielsweise zeigt, dass sich großer Einsatz an dieser Stelle lohnen

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kann. Ein ausdrucksstarkes sternförmiges Membrandach spannt zwischen zwei Druckringen, gestützt von einer expressiven Kolonnadenkonstruktion: Der obere Druckring des ovalen Ringseildachs liegt auf leicht nach außen geneigten x-förmigen Stützen, der untere Druckring ruht weiter innen auf vertikalen V-Stützen. Für den oberen Druckring ergibt sich eine komplexe geometrische Form. Er ist in sich verdreht und seine Passgenauigkeit im Herstellungsprozess nicht einfach zu überprüfen. Daher wurde der Druckring stückweise direkt neben der Baustelle vormontiert. Waren etwa drei bis fünf Segmente miteinander verbunden, wurden die ersten Elemente zum Einbauort gebracht und an die verbleibenden Segmente die nächsten angefügt. So konnte die erforderliche Genauigkeit gewährleistet und das Bauwerk erfolgreich realisiert werden. Lernen und Entwickeln Die Vielfalt der heutzutage von schlaich bergermann und partner verwirklichten Ringseildächer spiegelt einerseits die Effizienz dieses Konstruktionsprinzips insbesondere für den Stadionbau wider. Andererseits ist aber jedes dieser Stadiondächer auch zum Symbol einer Stadt, eines Landes oder eines bestimmten Sportereignisses geworden, eben gerade weil jedes Dach individuell auf den jeweils besonderen Kontext eingeht und eine für den speziellen Ort ersonnene Konstruktion darstellt. Dies ist möglich, da die Ingenieure immer wieder ihre eigenen Erfahrungen aufgreifen und diese in den nächsten Projekten zu neuen eigenständigen Konstruktionen weiterentwickeln.

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Der Teufel steckt im Detail Im Montageprozess werden die einzelnen Konstruktionselemente zu einem Ganzen gefügt, Schlüsselelement dafür ist das Detail. Seine Bedeutung ist nicht auf die lokale Fügestelle beschränkt, vielmehr ist es entscheidend für die Qualität und Wahrnehmung des gesamten Bauwerks und verkörpert zudem f

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14 14 Abwicklung, Maßstab 1:500, Passerelle La Défense, Paris (F) 2007, Dietmar Feichtinger Architectes 15 Passerelle La Défense 16 Seilmontage, Green-PointStadion, Kapstadt (ZA) 2009, gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner 17 Seilmontage, Moses-Mabhida-Stadion, Durban (ZA) 2009, gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner

die Philosophie des Gesamtkonzepts. Sie sind so einfach wie möglich gehalten, sie sind sichtbar und verständlich, bilden den Kraftfluss ab und zeigen so ihre Funktionen und Aufgaben – und sie sind zentrales Element des Gesamtkonzepts. Ein ausdrucksvolles Beispiel bilden die sogenannten Wirbel der kreisförmigen Passerelle im Pariser Hochhausviertel La Défense. Diese gliedern die Brücke in Abständen von 9,87 m und bilden das Schlüsselelement des konstruktiven Konzepts dieser einseitig gestützten Brücke. Der Entwurf berücksichtigte zunächst die sehr beengte städtebauliche Situation, die eine Verankerung von Zugkräften nur unter größtem Aufwand zugelassen hätte (Abb. 15). Daher wird der gekrümmte Träger an beiden Enden durch jeweils zwei exzentrische vertikale Lagerungen gehalten.

Die Vertikallasten werden über die seitlichen diagonalen Zugstangen und druckbeanspruchte Masten zu den Auflagern geleitet. Die Torsionssteifigkeit wird mittels exzentrisch liegender Ringseile unterhalb des Überbaus hergestellt. Alle erforderlichen Konstruktionselemente kommen an den Wirbeln zusammen: Zugstangen, Ringseil und Stahlüberbau (Abb. 21, S. 40). Die Masten der Wirbel werden zu den Auflagern hin höher und folglich ändert sich auch die Gleichgewichtssituation. Die Krümmung des Ringseils ist dabei nicht konstant, sondern verstärkt sich zunehmend zu den Auflagern hin, was unterschiedliche Geometrien der Wirbel erfordert. Da diese Unterschiede aus dem Kraftfluss erwachsen und logisch ablesbar werden, vermittelt die Brücke eine große gestalterische Ausgewogenheit.

Kühn schwingt sich die 90 m lange Passerelle im Pariser Hochhausviertel La Défense um die Glasfassade der Societé Générale. Ein geneigter Glasschirm an der Außenseite der Brücke schützt die Fußgänger vor Wind. Länge: 88 m Breite: 4,50 m Brückenfläche: 405 m2 15

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»Leichte Seiltragwerke können nur dann allgemeine Akzeptanz finden, wenn sie ästhetisch, dauerhaft, gut und wirtschaftlich geplant sind.«

Prozessabläufe mit möglichst wenigen Schnittstellen Detail Seit der Realisierung des Olympiastadions in München hat sich der Seilbau in der Bauwelt etabliert. Welche Besonderheiten sehen Sie im Umgang mit Seilkonstruktionen? Mogk Seilkonstruktionen sind stets vorsichtig zu handhaben. Anders als etwa im Betonbau geht es bei deren Montage nicht darum, steife Elemente wie Stützen, Träger und Decke aufeinanderzustellen. Bei Seiltragwerken steht immer die Betrachtung des Gesamttragwerks im Vordergrund. Hinzu kommt, dass bei geometrisch komplexen Konstruktionen individuell geplante und gefertigte Verbindungselemente erforderlich sind. Zu Zeiten von Frei Ottos Weltausstellungspavillon in Montreal arbeitete man noch mit Modellen, an denen die Geometrien einfach abgemessen wurden. Heute konstruieren wir die Komponenten in 3-D-Computermodellen auf Grundlage der 3-D-Daten der Tragwerksplaner. Detail Welche Informationen erhalten Sie üblicherweise von den Tragwerksplanern? Mogk Zunächst bekommen wir Angaben zu Gesamtgeometrien und Hauptabmessungen sowie zu einzelnen Knoten. Dabei kann es sein, dass nur Drahtmodelle vorliegen, aus denen hervorgeht, wie sich die Systemlinien der Seile kreuzen. In diesem Fall werden die Komponenten von uns entwickelt. Anders als manche ihrer Kollegen gehen die Ingenieure von schlaich bergermann und partner tiefer ins Detail. Sie haben bereits genaue Vorstellungen von Materialien, deren Güte und Form und liefern dazu auch statische Berechnungen sowie Konzeptzeichnungen mit Ausführungsdetails für die relevanten Punkte. Detail Wie gelingt die Entwicklung ästhetischer und wirtschaftlicher Detaillösungen? Mogk Das ist ein iterativer Prozess, der mit schlaich bergermann und partner aufgrund der jahrzehntelangen Kooperation sehr gut funktioniert. Wenn wir mit der Zusammenarbeit beginnen, ist der Entwurf der Komponenten in der Regel bereits fertig, weil das Büro darin sehr erfahren ist und viele Konstruktio-

nen immer wieder selbst entwickelt hat. Die Ingenieure machen dabei zwar sehr konkrete Vorgaben, haben aber auch ein offenes Ohr, wenn wir Verbesserungsvorschläge zur Wirtschaftlichkeit, zu Möglichkeiten der Bauzeitverkürzung oder zur Erhöhung der Montagefreundlichkeit machen. Letztlich ist es wohl so, dass wir auf dem Markt beide von dieser Zusammenarbeit profitieren. Leichte Seiltragwerke können nur dann allgemeine Akzeptanz finden, wenn sie ästhetisch, dauerhaft, gut und wirtschaftlich geplant sind – und wenn es Unternehmen gibt, die sie auch realisieren können. Zugleich müssen wir für uns aber ganz klar erkennen, dass Architekten und Tragwerksplaner vor uns da sind. Ihre Ideen bilden die Grundlage unserer Arbeit. Detail Wie lässt sich in diesem Prozess Qualität sichern? Mogk Besonders wichtig ist eine gut funktionierende Kommunikation und möglichst wenige Schnittstellen. Nur so lässt sich sicherstellen, dass keine Informationen verloren gehen und alle Prozessabläufe optimal koordiniert und gesteuert werden. Wie komplex das Zusammenspiel der verschiedenen Gewerke sein kann, zeigt das Stadion in Durban, bei dem wir für die Realisierung der gesamten Dachkonstruktion verantwortlich waren. Das Seiltragwerk unter dem Bogen konnte z. B. erst fertig gespannt werden, nachdem die Membran eingebaut war. Und die Verformung des Bogens hing wiederum stark vom Seiltragwerk ab. Hätte man dort die am Entwurf beteiligten Ingenieure nach der Ausschreibung nicht weiter integriert oder die Seile bei einem Unternehmen gekauft, um sie danach von anderen konfektionieren und wieder von anderen montieren zu lassen – vielleicht mit Gussknoten, die direkt von einer Gießerei stammen –, dann hätte man das Projekt sicherlich nicht in dieser Zeit und in dieser Form umsetzen können. Dass sowohl von Ingenieur- wie auch von Ausführungsseite alles aus einer Hand stammte, hat sich dort sicher bewährt.

Roland Mogk ist Bauingenieur und seit 1997 Leiter des Geschäftsbereichs Seilbau der Pfeifer Seil- und Hebetechnik GmbH, Memmingen, zuvor zuständig für Projektvertrieb und Projektabwicklung. Überdies war er bereits bei verschiedenen Firmen für internationale Projekte mit Seil- und Membrandachkonstruktionen verantwortlich. Das Interview führte Roland Pawlitschko.

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Ein kleines Loch in jedem Wirbel der Passerelle La Défense erinnert noch heute an den Bauprozess. Dabei stellte sich die Frage, wie man die große Vorspannkraft von 3000 t in das Ringseil leiten konnte. Hierfür wurden spezielle Pressen entwickelt und der Sattel des Ringseils zweigeteilt. Nach dem Prinzip von Pfeil und Bogen zieht die Presse unten am Sattel das Ringseil und stützt sich weiter oben auf den Wirbel ab. Während dieses Vorgangs hebt sich die Brücke aus der Schalung und verformt sich im Grundriss um 20 cm. Diese Überlegungen zur Realisierbarkeit der Brücke sind bereits während des Entwurfsprozesses bedacht worden und offenbaren sich in den konstruktiven Brückendetails. So überrascht es nicht wirklich, dass erste Visualisierungen aus der Wettbewerbsphase (Abb. 20) mit dem fertigen Bauwerk nahezu identisch sind.

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Überzeugende Details sind aber nicht nur an exponierten Bauwerken wie der Pariser Passerelle zu finden. Auch die Qualität ganz einfacher Konstruktionen wie etwa die des Parkhauses über der Autobahn am Leipziger Flughafen mit 70 m Spannweite veranschaulicht die große gedankliche Leistung beim Entwurf der Details. Egal in welchem Kontext und in welcher Dimension – das Detail muss stimmen, damit die Gesamtkonstruktion überzeugt. Ausschreibungsphase als Feind der Details Der großen Bedeutung jedes einzelnen Details für ein ganzheitliches Qualitätskonzept wird leider nicht immer in vollem Umfang Rechnung getragen. Allzu häufig muss das für einen ausbalancierten Gesamtkontext entworfene Detail in der Ausschreibungsphase 1

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Zugstab Stahl Ø 36 mm Stahlstütze 200/250/30 mm Stahlblech 30 mm Stahlblech 50 mm

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Stahlblech 20 mm Stahlseil Ø 65 mm Stahlschott 80 mm Zugstab Stahl Ø 56 mm

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Konstruktion und Form

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Von A bis Z – vom Entwurf zur Umsetzung

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einer vermeintlich billigeren Standardlösung weichen – meistens allerdings auf Kosten der Gesamtqualität des Bauwerks. In diesem Fall gilt es, bei den Bauherren wie auch bei den ausführenden Firmen intensive Überzeugungsarbeit zu leisten. Viele Projekte der Stuttgarter Ingenieure zeigen, wie es gelungen ist, diese Herausforderung zu meistern. Beispielsweise kann es durchaus hilfreich sein, an die Qualitätsansprüche des Bauherrn gegenüber seinen eigenen Produkten zu appellieren; eventuell sind sogar Analogieschlüsse möglich wie etwa beim Kundenzentrum der Porsche AG in Leipzig. Die gestalterische Ausdruckkraft zeigt sich hier in sorgfältig ausgeformten Stahlgussknoten, deren Gestaltung sich mit

der Qualität der Automobile und mit dem Aluminiumguss der Motoren begründen ließ (Abb. 23−25). Letzendlich wird deutlich: Damit ein Bauprozess vom Entwurf bis zur Realisierung des noch so kleinsten Details ein Erfolg wird, ist neben einem ganzheitlichen Entwurfsdenken viel Engagement und persönliche Energie erforderlich. Es gilt, den eigenen Ansatz ergebnisoffen zu gestalten und stets am Gesamtziel orientiert zu reflektieren, unter gleichzeitigem hartnäckigen Festhalten an der Qualität – eine Arbeitsweise, die für das Team von schlaich bergermann und partner zusammen mit den planenden Architekten und ausführenden Firmen zu erstaunlichen Synergien geführt hat.

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23 Gussknoten, Kundenzentrum Porsche, Leipzig (D) 2000, gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner a Ansicht b Schnitt 24, 25 Kundenzentrum Porsche Leipzig 26 Erneuerung der abgehängten Membrandecke der Olympia-Schwimmhalle München (D) 2006, schlaich bergermann und partner; Auer + Weber + Assoziierte 25

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Von A bis Z – vom Entwurf zur Umsetzung

»Bei der tragenden Membran ließ sich die Zahl der bauphysikalisch problematischen Abhängungspunkte von 451 auf 70 verringern.« Wasem Ajmail

Neue Membran für die Olympia-Schwimmhalle München Detail Vor einigen Jahren wurde die Erneuerung der innen abgehängten Membrandecken der Olympiahalle und der OlympiaSchwimmhalle der Olympischen Spiele von 1972 abgeschlossen. Welche Probleme lagen vor und wie wurden sie behoben? Borger Die gesamte Konstruktion befand sich in einem Zustand, der das sichere Tragen der Decke nicht mehr gewährleistete. So war die Membran in der Schwimmhalle nach 30 Jahren brüchig geworden und deren Abhängungen korrodiert – nicht zuletzt durch die feuchte und chlorhaltige Luft. Ein weiterer Aspekt war die Verkleinerung der unter der Membran abgehängten Beleuchterstege – dank der neuen technischen Möglichkeiten konnten diese durch einen einzelnen schmalen Steg ersetzt werden. Gleichzeitig ließ sich damit die Anzahl der Durchdringungen in der abgehängten Decke erheblich reduzieren. Ajmail Allein zur Abhängung der Stege waren damals 350 Durchdringungen nötig – jetzt genügen hierfür 20 Seile. Bei der tragenden Membran, die heute nicht mehr aus vielen Einzelteilen, sondern aus zwei jeweils rund 4000 m2 großen Hälften zusammengesetzt ist, ließ sich die Zahl der bauphysikalisch problematischen Abhängungspunkte, die sich in der Schwimmhalle als charakteristische »Kleeblätter« abzeichnen, von 451 auf 70 verringern. Man kann sagen, dass die Membran früher einfach nur an der Decke hing, während sie heute nach allen Seiten fest verspannt ist und doppelt gekrümmt Lasten abträgt – und dies mit der gerade erforderlichen Zahl der für die Erhaltung der Form relevanten Abhängungspunkte. Detail Veränderungen gab es auch an den Rändern der Membran, und zwar dort wo Dach und Fassade zusammentreffen und luftkissenartige Elemente heute die Bewegungen des Dachs dämpfen. Wie sah dieser Breich vorher aus? Ajmail An der Dachhaut waren einfache Plexiglasscheiben befestigt, die an einer Führung mit der Dachbewegung nach oben und

unten glitten. Das hatte nicht nur zur Folge, dass die Ränder luftdurchlässig waren und die Schwimmhalle dadurch im Winter kaum vernünftig beheizt werden konnte, es entstanden auch Fassadenbereiche, die nicht zugänglich und damit nicht mehr zu warten oder zu reinigen waren. Der große Vorteil der heutigen Lösung ist, dass die Ränder nun dicht abschließen – ein optischer wie auch bauphysikalischer Quantensprung. Detail Wer hat schlaich bergermann und partner eigentlich beauftragt – die Urheberrechtsarchitekten oder Sie? Borger Die Ingenieure haben wir direkt beauftragt, und zwar sowohl für die Tragwerksplanung als auch für Teile der Objektplanung. Auer + Weber + Assoziierte waren in diesem Zusammenhang als Vertreter der Urheberarchitekten eher beratend tätig – etwa wenn es darum ging, den Transluzenzgrad der abgehängten Decke oder deren Farbton festzulegen. Dass wir die Ingenieure eng in die Sanierung der Olympiadächer einbezogen haben, ist absolut naheliegend. Schließlich verfügt das Büro sowohl durch die ursprünglich beteiligten Personen wie auch aufgrund der Originalunterlagen über das für die Bewältigung dieser Aufgabe nötige Fachwissen. Abgesehen davon sind die Ingenieure für den Umgang mit Membrandächern und Seilnetzkonstruktionen weltweit bekannt. Da wäre es äußerst unklug gewesen, ein anderes Büro zu beauftragen.

Wasem Ajmail ist Werkstoffwissenschaftler und Abteilungsleiter Technik bei der Olympiapark München GmbH. Dort betreut er alle veranstaltungstechnischen Belange und Objektmanagementfragen. Rainer Borger ist Bauingenieur und seit 1988 im Olympiapark München tätig, zunächst als Hauptabteilungsleiter Technik, dann als Objektmanager. Heute trägt er die technische und kaufmännische Verantwortung für alle Unterhaltsmaßnahmen und Neubauten. Das Interview führte Roland Pawlitschko.

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Detail Haben Sie sich auch erhofft, dass schlaich bergermann und partner die Konstruktion nicht nur saniert, sondern ein Stück weit auch neu interpretiert? Borger Auf jeden Fall. Das war die Vorgabe. Auch wenn uns natürlich klar war, dass dies nur in einem gewissen Rahmen möglich ist, weil die Gebäude ja unter Denkmalschutz stehen. Mit den Ergebnissen sind wir jedoch mehr als zufrieden, sodass wir auf den Erfahrungsschatz des Büros auch in Zukunft immer wieder gern zurückgreifen werden. 43

Material und Innovation Tragwerke mit ablesbarem Kraftverlauf entstehen, wenn Baustoffen und Querschnitten keine Form aufgezwungen wird, sondern sie ihren jeweiligen Eigenschaften entsprechend entwickelt und eingesetzt werden. Materialgerechtes Konstruieren heißt aber auch, länder- und kulturspezifische Fertigkeiten bzw. Fertigungsmöglichkeiten bereits während der Planung zu berücksichtigen. schlaich bergermann und partner konzipieren in diesem Sinne konstruktiv angemessene Lösungen, die – zunächst materialunabhängig – der jeweiligen Aufgabenstellung und dem Kontext am besten gerecht werden. Bei der Materialentscheidung greifen sie einerseits auf einen großen Erfahrungsschatz bewährter Material- und Detaillösungen zurück. Andererseits entwickeln sie diese sinnvoll weiter und beschreiten damit völlig neue, experimentelle Wege jenseits gängiger Pfade.

Material und Innovation

Materialgerechtes Planen und Konstruieren 1 Karl-Eugen Kurrer ist Bauingenieur und seit 1996 Chefredakteur der Zeitschrift Stahlbau.

An der Schwelle zur industriellen Revolution in Deutschland fordert Gottfried Semper (1803 –1879) in seinem Polychromie-Traktat von 1834 materialgerechtes Konstruieren auf der Basis des baustatischen Erkenntnisstands und der Bauerfahrung: »Es spreche das Material für sich und trete auf, unverhüllt, in der Gestalt, in den Verhältnissen, die als die zweckmäßigsten für dasselbe durch Erfahrungen und Wissenschaften erprobt sind. Backstein erscheine als Backstein, Holz als Holz, Eisen als Eisen, ein jedes nach den ihm eigenen Gesetzen der Statik« [1]. Nur wenige Jahre später erfinden Rudolf Wiegmann (1804 –1865) und Camille Polonceau

(1813 –1859) unabhängig voneinander das nach ihnen benannte Tragwerk. Die Durchlaufwirkung der Sparren des WiegmannPolonceau-Binders wird in der deutschen Fachliteratur erstmals 1854 von Gustav Adolf Breymann (1807 –1859) quantitativ richtig erfasst. Im Wiegmann-Polonceau-Binder ist jedes Material nach den ihm eigenen Gesetzen der Baustatik eingesetzt: Die Dachsparren bestehen aus biegefestem Holz, die Druckstreben aus druckfestem Gusseisen und die Zugstangen aus Schmiedeeisen (Abb. 1). Dieses Mischsystem ist ein herausragendes Beispiel für das materialgerechte Konstruieren.

Hallentragwerk: Stahlkonstruktion Baugrundfläche: 57 000 m2 Abmessung: 175 ≈ 96 m Höhe: 5 –18 m 2

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Materialgerechtes Planen und Konstruieren

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Dies bedeutet nichts anderes als die Beherrschung der Grammatik der Konstruktionssprache der jeweiligen Materialien. Heute hat sich die Palette der Materialien wesentlich erweitert. Längst geht es nicht mehr nur um die beiden herausragenden Ingenieurbaustoffe des 20. Jahrhunderts Stahl und Beton in all ihren Varianten. Viele sind hinzugekommen, wie Glas oder biegeweiche Textil- und Folienwerkstoffe für Membrantragwerke, die in den letzten beiden Jahrzehnten zur Herausbildung eines konstruktiven Glas- und Membranbaus führten [2]. Eine Renaissance erlebt dagegen seit einigen Jahren der Stahlguss.

ger führen und dort verankert werden. Die ungestützte Tragseilverankerungen und die komplexe dreidimensionale Werkstattform des Überbaus markieren die innovativen Ansätze. Zur Vermeidung von windinduzierten Schwingungen ist auf der äußeren Westseite des Querschnitts ein Leitblech angeordnet, dessen Neigung und Größe über Windkanalversuche ermittelt wurden. Dieses Aeroblech ist im Bereich der Tragseilverankerung sichelförmig ausgebildet und wird nicht als additiver Fremdkörper wahrgenommen. Der Anschluss der Edelstahl-Hängerseile an die vollverschlossenen Tragseile bzw. an das Girlandenseil erfolgt über gefräste Seilklemmen (Abb. 3 a und 3 b) und realisiert das Parallelogramm der Seilkräfte geradezu idealtypisch. Die Konzentration der Druckkräfte am Mastfuß macht eine Stahlkugel augenfällig, die reinste Form des Kugelgelenks aus der Modellwelt der Baustatik (Abb. 4). Und so wird die punktförmige Übertragung der Mastkraft in das Fundament nachvollziehbar ins Bild gesetzt.

Stahlguss Die Kräfte zu sammeln und zu bündeln sowie den Kraftfluss in einer adäquaten Konstruktion abzubilden, gehört zum professionellen Grundverständnis des konstruktiven Ingenieurbaus. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Baumstützen im 2004 fertiggestellten Terminal 3 des Stuttgarter Flughafens (Abb. 2). Die 18 Baumstützen nehmen von den Knotenpunkten des Sheddach-Trägerrosts alle Kräfte auf. Dabei trägt jede Baumstütze 48 (4≈ 3≈ 4) Knotenpunkte des Trägerrosts. In der zweiten Ebene sind die 48 Stäbe dann in 12 (3≈ 4) Stahlgussknoten zusammengefasst und danach von 12 Stäben in der dritten Ebene in 4 Stahlgussknoten vereinigt. Schließlich werden die 4 Stabkräfte in der vierten Ebene von einem Stahlgussknoten gebündelt und in den »Stamm« eingeleitet. Die schrittweise Zusammenfassung der Stabkräfte wird in der Konstruktion und Form der Stahlgussknoten sichtbar. Das ingeniöse Spiel der räumlichen Kräfte materialisiert sich auch in der Fuß- und Radwegbrücke über den Rhein-Herne-Kanal in Gelsenkirchen [3], bei der die kreisförmig gekrümmte Grundrissform des Überbaus eine einseitige Aufhängung ermöglicht (Abb. 6−9, S. 34f.). Dem Konzept der rückverankerten Hängebrücke entsprechend, müssen die Tragseile durch den Überbau in die Widerla-

3 1 Wiegmann-Polonceau-Binder im Querschnitt (Fig. 1), Längsverband (Fig. 2) und Details nach Breymann (1854) 2 Check-In-Halle mit Baumstützen, Terminal 3, Flughafen Stuttgart (D) 2004, gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner 3 Gefräste Seilklemmen, Maßstab 1:10, Fuß- und Radwegbrücke am Hafen Grimberg, Gelsenkirchen (D) 2009, schlaich bergermann und partner a Hängerklemme b Sattelklemme 4 Ansicht Kugelgelenk Mastfuß, Maßstab 1:25, Fuß- und Radwegbrücke am Hafen Grimberg

Membran Im Membranbau ist die materialgerechte Detaillierung entscheidend für die Dauerhaftigkeit. Beim Vordach des Ehrenhofs im Bundeskanzleramt in Berlin (Abb. 7, S. 48) gelang es den Ingenieuren, die Schwierigkeiten der Kraftableitung an gekrümmten Rändern von Membrankonstruktionen elegant zu lösen [4]: Die gekrümmte Berandung von Membrankonstruktionen muss sowohl senkrecht als auch parallel zum Rand angreifende Kräfte aufnehmen. Die beiden Standardlösungen mit Seiltasche oder seilgestütztem Klemmrand stellen nur die radiale Krafteinleitung sicher. Bei der Aufnahme der Tangentialkräfte verließ man sich oft auf die Reibung zwischen Membran und Seil in der Tasche. Bei Klemmanschlüssen sammeln sich die Tangentialkräfte in den Klemmplatten, die dann kettengliedartig auszuführen sind und am Auflager zusätzlich 4

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Material und Innovation

Materialgerechtes Planen und Konstruieren

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Membran Keder Ø 8 mm Klemmschraube M10 Stoß- bzw. Anschlusslasche Sicherungsschraube M6 Bolzen Ø 37

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zum Randseil verankert werden – die Ableitung tangentialer und radialer Kräfte erfolgt also getrennt. Die von schlaich bergermann und partner entwickelte Randausbildung überwindet diese dem Membranbau nicht entsprechende Trennung. Hier werden alle Kräfte über Klemmung der Membran in die Klemmelemente eingeleitet und über den verdeckt angeordneten Zugstoß derart übertragen, dass eine räumlich gekrümmte Randkonstruktion entsteht, die nur noch begrenzt biegeweich ist, aber dennoch seilartig wirkt (Abb. 6); dieses Hybrid aus Balken und Seil mit seiner spezifischen Biegesteifigkeit musste deshalb im Vorfeld für verschiedene Lastszenarien untersucht werden. Bei Membranbauwerken bilden Seiltragwerke und zugbeanspruchte, doppelt gekrümmte Flächentragwerke eine Symbiose. Materialgerechtes Konstruieren im Membranbau bedeutet symbiotisches Abstimmen von Seilund Membranbau. Ein weiteres Beispiel hierzu ist das bis zur Fußballeuropameisterschaft im Jahr 2012 umfassend modernisierte Olympiastadion in Kiew [5]. Das Haupttragwerk des Dachs funktioniert nach dem Spei-

chenradprinzip, für das sekundäre Dachtragwerk ist eine Dachhaut aus PTFE-beschichtetem Glasfasergewebe vorgesehen. Diese transluzenten Membranflächenelemente sind zwischen den unteren Seilen der radialen Seilbinder gespannt und pro Feld durch acht Luftstützen nach oben ausgelenkt. Die Luftstützen weiten sich trichterförmig nach oben hin auf und werden durch je eine Lichtkuppel aus ETFE-Folie mit Durchmessern zwischen 2,50 m und 3,20 m abgedeckt. Wegen der Konzentration der Membrankräfte in den Hochpunkten der Membran sind die Membranflächenelemente dort teilweise doppellagig ausgeführt. Die sternförmige Anordnung der Verstärkung erlaubt eine optimierte Fügetechnik und macht die Spannungskonzentration an den Hochpunkten nahezu ideal sichtbar. Sempers Imperativ – »Es spreche das Material für sich« – setzen die Ingenieure nicht nur im Brücken- und Membranbau um, sondern z. B. auch im Glasbau. Dort verstehen sie unter Materialgerechtigkeit unter anderem, Glas nicht zu bohren und Glashalter projektspezifisch zu entwickeln (Abb. 5).

5 doppelt gekrümmte facettierte Glasschale, Bank of America, Charlotte/North Carolina (USA) 2005, James Carpenter, Design Associates 6 Rand- und Eckdetail, Maßstab 1:5, Vordach Ehrenhof Bundeskanzleramt, Berlin (D) 2001, Schultes Frank Architekten a Regelschnitt b Schnitt Klemmschraube c Schnitt Stoßlasche d Schnitt Stoßlasche/Bolzen 7 integrierter Klemmrand, Vordach Ehrenhof Bundeskanzleramt 8 Überdachung, Obst- und Gemüsemarkt, Muscat (OM) 2015, Behnisch Architekten 9 Konferenzsaal für die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO), Genf (CH) 2013, Behnisch Architekten 7

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Materialgerechtes Planen und Konstruieren

»Wir versuchen nicht, uns gegenseitig zu überzeugen. Vielmehr unterstützen wir uns darin, immer wieder etwas Ungewöhnliches auszuprobieren. Es ist diese permanente Neugierde, die beide Büros antreibt.«

Experimentelles Bauen mit Holz Detail »Wir versuchen, für jede Aufgabe die richtige und angemessene Lösung zu finden. Und das führt beinahe zwangsläufig zu einer großen Vielfalt. Wir glauben, dass ein Haus stark beeinflusst wird durch die Aufgabe, durch den klimatischen und den kulturellen Hintergrund.« Dieser Satz stammt von Stefan Behnisch, könnte aber auch von schlaich bergermann und partner sein. Ist das ein Punkt, der beide Büros verbindet? Haas In beiden Büros hat die Suche nach einer besseren Lösung etwas mit Neugier und einer gewissen Offenheit zu tun. Wir versuchen nicht, uns gegenseitig zu überzeugen. Vielmehr unterstützen wir uns darin, immer wieder etwas Ungewöhnliches auszuprobieren. Es ist diese permanente Neugierde, die beide Büros antreibt. Detail Gibt es Bauaufgaben, die für eine Kooperation mit schlaich bergermann und partner besonders geeignet sind? Haas Überall dort, wo die Konstruktion im Erscheinungsbild der Gebäude eine wesentliche Rolle spielt, ist dieses Büro der richtige Partner. Wir haben erst vor Kurzem bei einem Projekt in Muscat im Oman zusammengearbeitet. Dort sind wir beauftragt worden, ein Verschattungskonzept für einen bestehenden Obst- und Gemüsemarkt zu entwickeln und zugleich einen Ort zu generieren, der als Attraktion und Anziehungspunkt für die Stadt wirksam sein sollte. Hierfür haben wir uns sehr früh mit den Ingenieuren zusammengesetzt und versucht, eine Idee zu entwickeln, wie eine solche Überdachung aussehen könnte – eine Struktur, die schützt, flexibel ist, Zeichenhaftigkeit besitzt, ohne sich zu stark in den Vordergrund zu spielen. Detail Ab welchem Zeitpunkt im Entwurfsprozess ging es dabei auch um Materialien? Haas Diese Frage kommt meistens ziemlich früh auf. Manchmal starten wir auch mit ganz bestimmten Materialien – wie etwa in Muscat, wo sich der Bauherr traditionelle Baustoffe wie Kupfer und Holz wünschte. Also haben

wir gemeinsam überlegt, wie es aussehen und funktionieren würde, wenn wir Zedernholz einsetzen. In diesem Fall hatte der kulturelle Hintergrund einen maßgeblichen Einfluss auf die Wahl des tragenden Materials. Resultat waren modulare, flexible und öffenbare Schirme, die ein wenig an Bäume erinnern. Detail Beim gemeinsam geplanten Entwurf des großen Konferenzsaals für die Weltorganisation für geistiges Eigentum in Genf fiel die Wahl ebenfalls auf eine Holzkonstruktion. Warum? Haas Erstens verfügt Vollholz über ein besseres Brandverhalten als etwa Stahl, da der Übergang von statisch wirksam zu statisch nicht mehr wirksam viel weicher ist – Vollholz brennt extrem langsam und die Tragfähigkeit bleibt lange erhalten. Zweitens wollten wir einen nachhaltigen Baustoff einsetzen, um Energieeinsparungsmöglichkeiten schon bei der Materialwahl zu nutzen. Ein weiterer Grund waren die guten thermischen Eigenschaften von Holz sowie der Wunsch nach einem charakterbildenden Aussehen des Saals – und zwar innen wie außen. Darüber hinaus hat es uns aber auch einfach gereizt, ein so großes Gebäude in Holz zu planen. Detail Der Saal bietet Platz für 900 Personen und kragt an einer Stelle 35 m aus. Bedurfte es hierfür neuer Holzbautechniken? Haas Wir hatten eine sehr ingenieurmäßige Lösung für das Holztragwerk entwickelt, für die es keinerlei Vorbilder gab. Während der Ausschreibungsphase war die Unsicherheit der teilnehmenden Firmen leider so groß, dass wir einige Bereiche korrigieren mussten – nicht weil es konstruktiv nicht gepasst hätte, sondern weil wir keine Holzbauunternehmen gefunden haben, die in der Lage waren, Konstruktionen dieser Größenordnung zu fertigen. Letztlich wird dies auf das Erscheinungsbild des Saals aber weder innen noch außen Einfluss haben. Das Gebäude bleibt im Großen wie im Kleinen eine von Holz dominierte Baukonstruktion.

Martin Haas ist Architekt und seit 1995 bei Behnisch Architekten tätig, seit 2006 als Büropartner. Er ist Vorstandsmitglied der Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB), an deren Gründung im Jahr 2007 er maßgeblich beteiligt war, und Gastprofessor an der University of Pennsylvania in Philadelphia. Das Interview führte Roland Pawlitschko.

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Material und Innovation

Entwicklung neuer Materialqualitäten

Objektbereich

Herzstück der Einheit von Tragstrukturanalyse und Tragstruktursynthese, die die Entwicklung neuer Materialqualitäten ermöglicht. Neue Materialqualitäten werden nur dann Wirklichkeit, wenn das offene Fluktuieren am Phasenübergang zwischen Tragstruktur und Tragwerk möglich ist und die an der Planung und am Bau Beteiligten bereit und fähig sind, diese Durchlässigkeit als Chance wahrzunehmen und durchzusetzen. Wie die Ingenieure von schlaich bergermann und partner dies konkret umsetzen, wird im Folgenden exemplarisch dargestellt. Ausgangspunkte Bei der Weiterentwicklung neuer Materialqualitäten im konstruktiven Ingenieurbau geht es in erster Linie um eine neuartige Anwendung und Kombination bekannter Ingenieurbaustoffe und erst in zweiter Linie um den Einsatz neuer Werkstoffe. Beispielsweise kamen mit den Rohrknoten aus Stahlguss der Humboldthafenbrücke des Berliner Hauptbahnhofs 1999 erstmals derartige Knoten im Eisenbahnbrückenbau zum Einsatz [1] (Abb. 1, 3 und 4) – damit erreichte eine Entwicklung bei schlaich bergermann und partner eine neue Stufe, die schon 1972 mit den Dächern im Olympiapark in München eingesetzt hatte und von den Ingenieuren seit den 1980er-Jahren erfolgreich vorangetrieben

Definition des Objektbereichs

Methode

Bauwerk

Tragwerk

Teil eines Bauwerks, der die zur Sicherung der Bauwerksfunktionen erforderliche Tragfunktion übernimmt (z. B. Hausteingewölbe, Stahlbetonbogen)

Tragstruktur

unter dem Aspekt der Tragfunktion abstrahiertes Modell des Tragwerks (z. B. Modelle der vorelastischen Gewölbetheorien)

statisches System

zum Zweck der quantitativen Untersuchung durch geometrisch-stoffliche Angaben präzisierte Tragstruktur (z. B. eingespannter elastischer Bogen)

vom Abstrakten zum Konkreten: Tragstruktursynthese

1977 publizierten der Architekt Oskar Büttner und der Bauingenieur Erhard Hampe den ersten Band von »Bauwerk, Tragwerk, Tragstruktur«[2]. Ziel der Autoren war es, das gemeinsame Anliegen des Architektur- und Bauingenieurstudiums an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar (der heutigen Bauhaus-Universität Weimar) auf dem Teilgebiet der Tragwerke und Tragstrukturen herauszuarbeiten und in der Hochschullehre umzusetzen. Karl-Eugen Kurrer hat das Grundkonzept von Büttner und Hampe (Abb. 2) Ende der 1970er-Jahre für die aufgabenorientierten Übungen am Fachgebiet Statik der Baukonstruktionen der TU Berlin genutzt und später zur Formulierung einer historisch-genetischen Statiklehre adaptiert [3].

Innerhalb der drei Phasen bei der Entstehung eines Bauwerks – Tragwerk, Tragstruktur und statisches System – nimmt die Tragstruktur die Rolle eines zentralen Elements ein. Hierauf basiert die Einheit von Tragstrukturanalyse und Tragstruktursynthese (Abb. 2), die nicht nur das Wesen der Arbeit des konstruktiven Ingenieurs ausmachen sollte, sondern zugleich notwendige Bedingung des strukturalen Komponierens von Tragwerken ist, mithin auch die Möglichkeit der Entfaltung des Ästhetischen in sich birgt. In der Ingenieurpraxis sind leider noch immer allzu einseitige Arbeitsweisen an der Tagesordnung: So führt der isolierte Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten (deduktive Methode) letztlich zum rechnenden Bauen. Umgekehrt beherrscht am Ende des einseitigen Abstiegs vom Konkreten zum Abstrakten (induktive Methode) die Form die Konstruktion. Voraussetzung für das strukturale Komponieren von Tragwerken ist das »Fließgleichgewicht« am Phasenübergang zwischen Tragstruktur und Tragwerk. Im Übergang von der Tragstruktur zum Tragwerk geht die modellierte in die materielle Wirklichkeit über. Im umgekehrten Fall wird das Tragwerk zur Tragstruktur, d. h. zu einem unter dem Aspekt der Tragfunktion abstrahierten Modell des Tragwerks. Beide Phasenübergänge bilden das

vom Konkreten zum Abstrakten: Tragstrukturanalyse

Karl-Eugen Kurrer ist Bauingenieur und seit 1996 Chefredakteur der Zeitschrift Stahlbau.

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Entwicklung neuer Materialqualitäten

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wurde. So führten ein umfangreiches Versuchsprogramm an der Versuchsanstalt für Stahl, Holz und Steine der Universität Karlsruhe sowie numerische Analysen zu neuen Erkenntnissen des Trag- und Ermüdungsverhaltens von geschweißten Stahl-StahlgussVerbindungen, aus denen neue Bemessungskonzepte resultierten. Rohrknoten aus Stahlguss finden sich auch in der im September 1999 dem Verkehr übergebene Straßenbrücke über das Nesenbachtal in Stuttgart [4] (Abb. 5) – die erste mit derartigen Verbindungen. Ihre Originalität resultiert aus der Kombination mehrerer Innovationen: Die fugenlos mit den beiden Tunnelröhren verbundene Fahrbahnplatte wird von einem Stahlrohrfachwerk auf Baumstützen getragen, deren Verzweigungsknoten aus Stahlguss bestehen; die Fachwerkdiagonalen sind mit Zahnleisten an die Betonplatte angeschlossen. Bei der Nesenbachtalbrücke erscheinen die neuen Materialqualitäten in der Anwendung und der Kombination bekannter Ingenieurbaustoffe auf der Grundlage von Forschungsresultaten [5]. Sie gilt als Leitbauwerk der integralen bzw. semi-integralen Bauweise im Brückenbau. Auf dem Gebiet der Membrantragwerke knüpften die Ingenieure an die fundamentalen Arbeiten von Frei Otto an. Mit der 1992 fertiggestellten Tribünenüberdachung des Stutt-

garter Gottlieb-Daimler-Stadions erreichten sie dabei einen ersten Höhepunkt. Eine wichtige Neuentwicklung setzte mit der Anwendung offener Gittergewebe (Gittermembran) ein (S. 54ff.), so als untere Membran der Dachhaut des im Sommer 2004 seiner Bestimmung übergebenen Berliner Olympiastadions [6]. Die Gittermembran ist ein typisches Beispiel für die Entdeckung und Funktionalisierung neuer Materialqualitäten für innovative Tragwerke. Zur Kategorie »Konstruieren mit neuen Werkstoffen« gehört unter anderem die Entwicklung des Infraleichtbetons [7] für tragende Außenwände im Wohnungsbau durch Forscher der TU Berlin und Ingenieure von schlaich bergermann und partner unter der Leitung von Mike Schlaich (Abb. 18−21, S. 57).

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1 Isometrie eines Stahlgussteils für die Bahnbrücken am Hauptbahnhof Berlin (D) 1999, gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner 2 Konzeptphasen bei der Entstehung eines Bauwerks: Tragwerk –Tragstruktur – statisches System 3, 4 Stahlgussteile für die Bahnbrücken am Hauptbahnhof Berlin 5 Brücke über das Nesenbachtal, Stuttgart (D) 1999, schlaich bergermann und partner a fugenlose Fahrbahnplatte b Stahlrohrfachwerk

Integrale und semi-integrale Betonbrücken Die Konstruktionssprache des Stahlbetons ist genuin monolithisch. Bei der Tragstrukturanalyse solcher Tragwerke bewegt man sich meist in hochgradig statisch unbestimmten Systemen wie etwa Stockwerkrahmen, die in der Vorgeschichte der Computerstatik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur mit Iterationsverfahren berechenbar waren. Oft reduzierten die Ingenieure den Grad der statischen Unbestimmtheit durch Einschalten von Gelenken, um das statische Rechnen zu ver-

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einfachen. So entstand im Phasenübergang Tragwerk –Tragstruktur ein folgenschwerer Widerspruch: Auf der Ebene des statischen Systems bzw. der Tragstruktur kam es zu einer Verletzung des Kontinuitätsprinzips. Das Tragwerk hingegen wurde fugenlos ausgeführt und die der Bemessung zugrunde liegenden Schnittgrößen waren zu groß. Um die gebaute Wirklichkeit dem statischen System anzupassen, versah man die Tragwerke in den darauffolgenden Jahren mit Zwischengelenken und Lagern; dieser Weg des rechnenden Bauens wurde verstärkt in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts beschritten. Beide Wege führten oftmals zu massiven und überproportionierten Stahlbetontragwerken. Die vom Denken in Querschnitten beherrschte Stahlbetonforschung und -normung suchte die Wirtschaftlichkeit von Stahlbetontragwerken im Weiteren durch Verfeinerung der Bemessungsmethoden und Steigerung der Materialgüte zu verbessern. Gleichwohl kam es schon in den 1920er-Jahren zur Ausprägung des strukturalen Komponierens von Stahlbetontragwerken, wie die Bauten von Robert Maillart beispielhaft zeigen. Als eine Hommage an Maillarts 1933 fertiggestellte Schwandbachbrücke bezeichnete denn auch Jörg Schlaich die 70 Jahre später vollendete Brücke Auerbachstraße in Stuttgart (Abb. 6 – 9). Die Ingenieure von schlaich ber-

germann und partner schufen mit dem monolithischen Scheibenbogentragwerk der ohne Fugen und Lager ausgeführten Stahlbetonbrücke ein eindrucksvolles »Stadtzeichen« [8]. Diese integrale Brücke ist das Produkt strukturalen Komponierens, wobei die Materialqualität des Stahlbetons kompromisslos respektiert wurde. Die Funktionalisierung der Fugenlosigkeit von Stahlbetontragwerken aus wirtschaftlichen Gründen wurde schon von Maillarts Zeitgenossen eingefordert. 1929 formulierte Hermann Craemer im Rahmen seiner Darstellung der historisch-logischen Tragstrukturentwicklung des Stahlbetons vom Balken zur Schale dies folgendermaßen: »Wirtschaftlich konstruieren heißt […], diesen durch die Fugenlosigkeit entstehenden Spannungsausgleich ausnutzen und gegebenenfalls durch geeignete Anordnung bewusst herbeiführen.«[9] Craemer plädierte für eine zielbewusste Ausnutzung der Fugenlosigkeit bei der Entwicklung von Stahlbetontragwerken [10] – vor allem bei Flächentragwerken wie z. B. Faltwerken. Die Fugenlosigkeit ist Hauptkennzeichen von integralen Brücken. Die Minimierung von Lagern und Übergangskonstruktionen führt zu inspektions- und wartungsarmen, robusten Bauwerken mit geringeren Schallemissionen. Dass sie in Deutschland erst in den späten

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1990er-Jahren aufkamen, liegt nicht nur im hiesigen Normenwerk begründet, das innovative Brückenentwürfe eher verhindert denn fördert. Die konstruktiven Ingenieure mussten auch in der Lage sein, das Brückenbauwerk in einem ganzheitlichen strukturmechanischen Modell zu erfassen – dies erforderte benutzerfreundliche Applikationssoftware, die den beratenden Ingenieuren jedoch erst seit den 1990er-Jahren mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand zur Verfügung steht. 2010 wurde im Zuge der Neubaustrecke Erfurt – Leipzig/Halle mit der Scherkondetalbrücke die erste semi-integrale Talbrücke der Deutschen Bahn AG für den Hochgeschwindigkeitsverkehr fertiggestellt [11]. Auf derselben Strecke befindet sich mit der 1001 m langen Gänsebachtalbrücke zurzeit eine weitere semi-integrale Brücke im Bau [12]: Sie besteht aus einem zweistegigen Spannbetonplattenbalken und gliedert sich in acht fugenund lagerlose Fünffeldträger mit je 112 m Länge und zwei an die Widerlager angeschlossene, ebenso fugen- und lagerlose Zweifeldträger (Abb. 11). Das strukturmechanische Modell eines Bauwerksabschnitts berücksichtigt nicht nur den Brückenüberbau mit den Stützen und den paarweise mittig in jedem Fünffeldträger angeordneten Bremsbockrahmen (Abb. 10), sondern auch die Bohrpfähle sowie die verti-

kalen und horizontalen Gründungssteifigkeiten. So bedingen sich ganzheitliche Berechnungsmodelle und semi-integrale Bauweise gegenseitig: Das kreative Fluktuieren am Phasenübergang Tragwerk –Tragstruktur sowie der strukturale Kompositionsprozess führten letztlich zu einer wirtschaftlichen Lösung, bei der sich Anmut und konstruktive Gesetzmäßigkeiten als Einheit in der Strukturform manifestieren. Die Ingenieure mussten bei diesem Projekt einen langen Atem, Mut und Durchsetzungskraft an den Tag legen, um die Hürden der unternehmensinternen Genehmigungen (UiG) der Deutschen Bahn AG und der Zustimmung im Einzelfall (ZiE) des EisenbahnBundesamts (EBA) erfolgreich zu nehmen. Dass sich dies für alle an der Planung und Ausführung Beteiligten lohnt, zeigt ein weiteres Beispiel: die Grubentalbrücke auf der Neubaustrecke Ebersfeld – Erfurt (Abb. 12 und 13, S. 54). Der aus einem zweistegigen Spannbetonplattenbalken bestehende Brückenüberbau ist als 215 m langer fugen- und lagerloser Achtfeldträger ausgebildet, der lediglich an den Überbauenden über Lager verschieblich an die Widerlager angeschlossen wird. In der Mitte ruht der Brückenüberbau auf einem rund 90 m weit gespannten zweigelenkigen Sprengwerkbogen mit ausgeprägtem Scheitelbereich und bildet damit

6, 7 ohne Fugen und Lager ausgeführte Stahlbetonbrücke, Brücke Auerbachstraße, Stuttgart (D) 2003, schlaich bergermann und partner 8 Entwurfsvarianten der Brücke Auerbachstraße 9 Brücke Auerbachstraße 10 strukturmechanisches Modell mit Verformungsverhalten unter Lastfall der Gänsebachtalbrücke, Neubaustrecke Deutsche Bahn Erfurt – Leipzig/Halle (D) 2012, schlaich bergermann und partner 11 fertiggestellter Fünffeldträger mit Bremsbockrahmen, Gänsebachtalbrücke

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den Festpunkt des Fahrbahnträgers, der – von den Bogenwiderlagern beginnend – alle 25 m von schlanken Stahlbetonscheiben getragen wird. Wie bei der Gänsebachtalbrücke sind auch bei dieser Brücke weder Schienenauszüge noch Ausgleichsplatten notwendig. Hervorzuheben ist hier die Bemessung der monolithischen Übergangsbereiche mithilfe von Stabwerkmodellen [13], da für solche Diskontinuitätsbereiche (D-Bereiche), etwa Bogenbeine –Bogen – Anschnitt Überbau, wichtige Grundannahmen der Bemessungstheorie nicht mehr gültig sind. So wird die Sichtbarmachung des unsichtbaren Kraftflusses in diesen D-Bereichen durch das kreative Spiel mit Stabwerkmodellen [14] zum integralen Bestandteil der von Fritz Leonhardt beschriebenen »Kunst des Bewehrens« – ein Charakteristikum für den Konstruktionsstil von schlaich bergermann und partner

im Besonderen und der Stuttgarter Schule des konstruktiven Ingenieurbaus im Allgemeinen: Hier wird die Einheit von Tragstrukturanalyse und Tragstruktursynthese im Phasenübergang Tragwerk –Tragstruktur sichtbar. Gittermembranen Die statischen Vorteile von Gittermembranen wurden von den Ingenieuren zum ersten Mal für das 2004 fertiggestellte Dachtragwerk des Olympiastadions in Berlin (Abb. 15) genutzt: Die Druckverhältnisse sind für die durchlässige bzw. für die undurchlässige untere Membran in Abb. 14 dargestellt. Dabei macht Abb. 14 a deutlich, dass die Durchlässigkeit der als offenes Gittergewebe ausgeführten unteren Membran einen Druckausgleich mit Ri = 0 zur Folge hat, wohingegen bei einer undurchlässigen unteren Membran die Druckdifferenz Ri = 0,5 pi beträgt (Abb. 14 b). po

Ro = po - pi

pi Ri = pi - pi = 0 12 Stabwerksmodell für die semi-integrale Grubentalbrücke, Neubaustrecke Deutsche Bahn Ebensfeld – Erfurt (D) 2011, schlaich bergermann und partner a Einwirkung in MN b Stabkräfte in MN 13 Visualisierung der Grubentalbrücke 14 Vergleich der Winddruckverhältnisse bei Dachkonstruktionen, Olympiastadion Berlin (D) 2004, gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner a durchlässige untere Membrane b undurchlässige untere Membrane 15 Blick ins Olympiastadion Berlin

a po

Ro = po - 0,5 pi

~0,5 pi Ri = pi - 0,5 pi = 0,5 pi

b

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pi

pi

14

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Material und Innovation

Entwicklung neuer Materialqualitäten

16 16 Pabellón de Estado, Flughafen Madrid (E) 2005, Richard Rogers Partnership; Estudio Lamela 17 Blick in das zweischalige Membrandach des Pabellón de Estado 18 Schnittoberfläche von Infraleichbeton 19 Glasfasern zur Bewehrung von Infraleichtbeton-Bauteilen 20 Einfamilienhaus mit Außenwänden aus Infraleichtbeton, Infraleichtbetonhaus, Berlin (D) 2007, Arge Bonnen + Schlaich 21 Außenwandaufbau des Infraleichtbetonhauses, Schnitt, Maßstab 1:25

Somit führt die Durchlässigkeit der unteren Membran für beide Membranen zu einer deutlich geringeren Bemessungslast aus Windeinwirkung. Für das Dachtragwerk des 2005 eingeweihten Staatsterminals am Flughafen Madrid Barajas, dem Pabellón de Estado, wurde das Konzept des zweischaligen Membrandachs weiterentwickelt [15] (Abb. 16 und 17). Die obere (undurchlässige) Membran besteht aus PTFE-beschichtetem Glasfasergewebe mit einer Bruchfestigkeit von 140 kN/m in Kettrichtung, die untere (durchlässige) Membran aus PTFE-beschichtetem Glasfasergittergewebe mit einer Bruchfestigkeit von 100 kN/m in Kettrichtung [16]. Ein weiteres Beispiel ist die innere Dachfläche des Green-Point-Stadions in Kapstadt (Abb. 7−10, S. 26f.), bei dem schwere, auf

der Innenseite aus Sonnenschutzgründen emaillierte Verbundglasscheiben mit 20 % Lichtdurchlässigkeit eingesetzt wurden, die mit ihrem Gewicht zugleich das Dach gegen Windsog stabilisieren. Die Unterseite ist dabei mit einer transluzenten und akustisch durchlässigen Gittermembran bespannt [17]. Auf diese Weise konnten im Inneren des Dachkörpers der Wartungsgang, die Beleuchtungsanlagen und die Lautsprecheranlage angeordnet werden. Gittermembranen werden inzwischen immer öfter von den Ingenieuren auch für Fassaden eingesetzt. Aufgrund der geringen Bemessungslasten führen sie zu filigranen Unterkonstruktionen. Zu den statischen treten noch architektonische Vorteile, so beispielsweise Variabilität in Verbindung mit verschiedenen Beleuchtungs- oder Lichtsituationen.

Membrandach: Membranfläche ca. 4000 m2 Spannweite: 25,20 m Auskragung: ca. 11 m Höhe: ca. 10 m Glashängedach: Glasfläche: ca. 855 m2 Spannweite: 18 m Höhe: ca. 5,50 m Glasfassaden: Glasfläche: 3≈ ca. 110 m2 Höhe: ca. 6 m 17

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Entwicklung neuer Materialqualitäten

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Infraleichtbeton Unter die Bezeichnung Infraleichtbeton fallen besonders leichte Betone mit einer Trockenrohdichte ρtr