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English, German Pages [471] Year 2021
Textband
enkerian Analysis Schen lyse nach Heinrich Schenker Analys Schenkerian Schenkerian Schenkerian Analysis Analysis Analysis Analyse Analyse Analyse nach nach nach Heinrich Heinrich Heinrich Schenker Schenker Schenker
ENKER zu einem der meistdiskutierten DASS HEINRICH SCHENKER zu einem der meistdiskutierten
rhunderts wurde, hat im Wesentlichen Musiktheoretiker des 20. Jahrhunderts wurde, hat im Wesentlichen
icht seine Theorie ebenso vielschichtige zwei Gründe: Erstens ermöglicht seine Theorie ebenso vielschichtige
gen der Stimmführung, Harmonik wie konsistente und Beschreibungen der Stimmführung, Harmonik und
weitens fand Schenkers ›Schichtenlehre‹ Syntax tonaler Werke. Und zweitens fand Schenkers ›Schichtenlehre‹
ten Schüler /Schenkers nach in 1933 USA, emi- wohin die meisten Schüler Schenkers nach 1933 emiab-Felisch Michael Polth /den Hartmut Fladt (Hg.)
Oliver Schwab-Fe
gen vor – Bedingungen, diegriert sie rasch waren, zur ideale Bedingungen vor – Bedingungen, die sie rasch zur
usik aufsteigen ließen.
führenden Theorie tonaler Musik aufsteigen ließen.
nd und der Schweiz nahm die SchenÖsterreich, Deutschland und der Schweiz Oliver Oliver Schwab-Felisch Oliver Schwab-Felisch Schwab-Felisch / Michael /In Michael /Polth Michael Polth / Hartmut Polth / Hartmut /Fladt Hartmut Fladt (Hg.) Fladt (Hg.) (Hg.) nahm die Schen-
anderen Weg: Bis zur Jahrtausendwenker-Rezeption vorerst einen anderen Weg: Bis zur Jahrtausendwen-
ache weniger Spezialisten.de Seither blieb aber Schenkers Theorie Sache weniger Spezialisten. Seither aber
chigen Raum auf wachsendes stößt Interesse. sie auch im deutschsprachigen Raum auf wachsendes Interesse.
Schenkerian Analysis Analyse nach Heinrich Schenker
englische Sammelband trägt zur Der Schenvorliegende deutsch-englische Sammelband trägt zur Schen-
räume und Wissenschaftskulturen ker-Forschung bei. beider Sprachräume und Wissenschaftskulturen bei.
htliche Fragen, beleuchtet Er unerforschte untersucht theoriegeschichtliche Fragen, beleuchtet unerforschte
e und erschließt zahlreiche Aspekte ihrer wissender Schenker-Theorie und erschließt zahlreiche ihrer wissen-
onshistorischen und musikästhetischen schaftstheoretischen, rezeptionshistorischen und musikästhetischen
er dabei über Schenker hinaus Implikationen. – durch Häufig geht er dabei über Schenker hinaus – durch
hmik und Metrik, Bezügeneue zur SystemVorstellungen von Rhythmik und Metrik, Bezüge zur System-
ISBN 978-3-487-14724-6
er pluralistische Theoriekonzepte. theorie Niklas Luhmanns oder pluralistische Theoriekonzepte. Cover-Textband_CS4_mit Klappentext_2.indd 1
enthält analytische Graphiken Der ebenso separate Notenband enthält analytische Graphiken ebenso
nline abrufbare Hörbeispiele wieverdeutlioriginale Notentexte. Online abrufbare Hörbeispiele verdeutli-
he analytische Interpretationen chen,auf wiemusich unterschiedliche analytische Interpretationen auf mu-
wirken können. Glossar und sikalische Register Aufführungen auswirken können. Glossar und Register
te Lektüren entlang gezielter schließlich Fragestelerleichtern vertiefte Lektüren entlang gezielter Fragestellungen.
nbuch, das Musiktheoretiker*innen Ein grundlegendes wie Studienbuch, das Musiktheoretiker*innen wie
ISBN 978-3-487-14724-6
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Möglichkeiten aufzeigt, sichInterpret*innen von Schen- zahlreiche Möglichkeiten aufzeigt, sich von Schenkers Denken anregen zu lassen.
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05.07.21 16:30
Schenkerian Analysis Analyse nach Heinrich Schenker I. Band Texte
Studien und Materialien zur Musikwissenschaft Band 112.1
Schenkerian Analysis Analyse nach Heinrich Schenker herausgegeben von
Oliver Schwab-Felisch, Michael Polth und Hartmut Fladt
Georg Olms Verlag Hildesheim | Zürich | New York
2021
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. This work and all articles and pictures involved are protected by copyright. Application outside the strict limits of copyright law without consent having been obtained from the publishing firm is inadmissable. These regulations are meant especially for copies, translations, and micropublishings as well as for storing and editing in electronic systems. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier gemäß ISO 9706 Layout und Satz: Oliver Schwab-Felisch, Berlin Notensatz: Sofia Krastev, Ute Kleinschmidt, Notengrafik Berlin, Oliver Schwab-Felisch Umschlaggestaltung: Stefan Müssigbrodt, Berlin Korrektorat: Ulrike Böhmer, Hildesheim Herstellung: XXXX Herstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG BuchPartner, Göttingen Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany © Georg Olms Verlag AG, Hildesheim 2021 www.olms.de ISBN 978-3-487-14724-6
I. Band Texte
Inhalt | Contents Vorwort
i
Michael Polth Schenker-Analyse und Wissenschaft. Eine Einführung
1
Carl Schachter The Curious Incident of the Dog in the Night-Time: The Importance of Non-Events
21
Frank Samarotto Effects, Alternative Analytical Solutions, and Interpretation
31
Lauri Suurpää Structure and Design in Chopin’s Mazurka, Op. 56, No. 3: Voice Leading and Cadential Gestures
41
Hermann Danuser Triebleben oder Logik der Klänge? Über Chopins Nocturnes op. 62
51
Hartmuth Kinzler Das Präludium als Abriss der Harmonielehre – Eine Interpretation von Chopins Opus 28, Nr. 9
67
Bernhard Haas / Veronica Diederen Bach, Praeludium C-Dur BWV 939
89
Patrick Boenke Klangisolation und -projektion im späten Klavierwerk Franz Liszts
103
Bruno Haas Die Logik der Schenkerschen Musikanalyse und ihre Bedeutung für die allgemeine Ästhetik
113
Michael Polth ›Sonatenform‹ als Funktionalität. Formbildung um 1775 aus post-Schenkerscher Perspektive
135
Oliver Schwab-Felisch Rationale Rekonstruktion der Schichtenlehre Heinrich Schenkers
163
Bernd Redmann Zum Problem des Motivischen bei Schenker
183
Stefan Rohringer Schenker, Luhmann und das Problem der ›steigenden Urlinie‹
193
Nicolas Meeùs Fundamental Line(s)
227
Giorgio Sanguinetti Diminution and Harmonic Counterpoint in Late-Eighteenth-Century Naples: Vincenzo Lavigna’s Studies with Fedele Fenaroli
235
Martin Eybl Die ornamentale Struktur des Tonsatzes. Ornamentik als Grenzbereich zwischen Analyse und Vortragslehre
255
Paul Scheepers / Johannes Leertouwer Schenker und Bach – ein Zwiegespräch zwischen einem Interpreten und einem Musiktheoretiker
273
Lubomir Spurny Schenker in Böhmen. Ein Beitrag zur Rezeption von Schenkers Musiktheorie
289
Bernhard Haas Glossar
297
Sachregister Deutsch
315
Sachregister Englisch
324
Personenregister
328
Vorwort Rezeptionshistorisch zählt die Schichtenlehre Heinrich Schenkers zu den Kuriosa: Dass ein wissenschaftliches Œuvre im Sprachraum seines Autors weitgehend unbeachtet bleibt, andernorts aber den Diskurs einer ganzen Disziplin jahrzehntelang maßgeblich bestimmt, kommt nicht allzu häufig vor. Ob als Lingua franca der Analyse tonaler Musik und integraler Bestandteil musikbezogener Curricula, als Forschungsschwerpunkt1 und Gegenstand leidenschaftlich geführter wissenschaftlicher Kontroversen 2, als Kristallisationskern einer eigenständigen universitären Musiktheorie3 oder Impulsgeberin zahlreicher aktueller Theorien der Musik4: In der englischsprachigen Musikforschung ist die Analyse nach Schenker seit Jahrzehnten vielfach präsent. Im deutschsprachigen Raum liegen die Dinge komplizierter. Noch bis zur Jahrtausendwende war es hier kaum möglich, sich in akademischem Rahmen mit Schenkers Werk zu befassen. Es fehlte an Lehrerpersönlichkeiten, Curricula und einem fachlichen Diskurs, der Qualitätskriterien formuliert und professionelle Standards gewährleistet hätte. Wer sich um eine aktive Beherrschung der Schichtenlehre bemühte, blieb auf die Lektüre englischsprachiger Forschungsliteratur, den autodidaktischen Nachvollzug vorliegender Analysen oder den privaten Austausch mit anderen Interessierten angewiesen. Vollständig ignoriert allerdings wurde Schenker auch von der deutschsprachigen Musikwissenschaft nach 1945 nicht. Nicht nur eingeschworene Verfechter der Schichtenlehre5 – Hellmut Federhofer etwa, der Schenkers Theorie über Jahrzehnte hinweg sachkundig vertrat6 –, auch einige Wissenschaftler, die sich nicht zu den Schenkerianern rechneten, publizierten zu Schenkers Theorie: manche anerkennend – so Rudolf Frisius oder Harald Kaufmann7 –, andere skeptisch – Walter Kolneder beispielsweise, Wilhelm Keller oder Ulrich Kurth.8 Die meisten Nicht-Schenkerianer freilich lasen Schenker selek1 2 3 4 5 6 7 8
Siehe etwa http://schenkerdocumentsonline.org. Vgl. Berry 2004; Ayotte 2004. Narmour 1977; Kramer 1992; Burnham 1992. Kerman 1980; Browne 1989; Girard 2007. Meyer 1956; Westergaard 1975; Lerdahl / Jackendoff 1983. Vgl. Schwab-Felisch 2005b. Siehe etwa Federhofer 1950, 1981; 1985; 1990. Kaufmann 1965, Frisius 1978. Kolneder 1958; Keller 1966; Kurth 1987.
ii
Vorwort
tiv: Anders als der amerikanische Schenker-Diskurs, der sich zumal in den 1950ern und 1960ern weniger mit Fragen der grundsätzlichen Einordnung Schenkers als mit technischen Aspekten der reifen Schichtenlehre beschäftigte, fokussierte der größere Teil der deutschsprachigen Schenker-Rezeption entweder Fragen des Kontextes – Geschichtliches, Ästhetisches oder Ideologisches – oder Schenkers frühere, noch ohne Spezialkenntnisse nachzuvollziehende Schriften. Ohne ein profundes Verständnis der reifen Schichtenlehre aber waren Fehldeutungen vorprogrammiert.9 Wie kam es zu der bemerkenswerten Diskrepanz zwischen angelsächsischer und deutschsprachiger Rezeption? Die Gründe für den Aufstieg Schenkers in den USA sind inzwischen so gut erforscht, dass an dieser Stelle einige Stichworte genügen sollen: Die meisten Theoretiker aus dem Umkreis Schenkers – Felix Salzer etwa, Oswald Jonas oder Ernst Oster – waren nach 1933 in die Emigration gezwungen worden.10 Durch ihre Übersiedlung in die USA verlagerte sich ein wichtiger Teil des bisherigen Schenker-Diskurses in ein Umfeld, in dem es bis dahin nahezu keine SchenkerRezeption gegeben hatte. Zwei weitere Umstände begünstigten die Verbreitung der Schichtenlehre: Erstens warb Milton Babbitt11, der vielleicht einflussreichste nordamerikanische Komponist Neuer Musik, für Schenkers Theorie – eine Tatsache, die deren kulturkonservativen Aspekte in den Hintergrund treten ließ. Zweitens spielte Babbitt eine wichtige Rolle im Prozess der Neuorientierung, den das nordamerikanische Universitätssystem nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte. Beides zusammengenommen trug dazu bei, dass Schenkers Lehre einen bedeutenden Einfluss auf die Akademisierung der Musiktheorie und Festlegung ihrer Curricula erhielt.12 Die Etablierung Schenkers in der US-amerikanischen musikwissenschaftlichen Community geschah nicht ohne ihre Anpassung an herrschende akademische Standards – ein Vorgang, der seit einem vielzitierten Aufsatz William Rothsteins unter dem Stichwort der ›Amerikanisierung‹ diskutiert wird.13 Ein wichtiger Aspekt dieser Amerikanisierung bestand in der Trennung musiktheoretischer und weltanschaulicher Theoriebestandteile. Für viele amerikanische Schenkerianer ist diese Trennung auch heute noch maßgeblich: Auch wer sich für eine post-amerikanisierte, sprich: ur9 Selbst Carl Dahlhaus (der 1959 die zweite, 1956 von Oswald Jonas herausgegebene Ausgabe des Schenker’schen Hauptwerks Der freie Satz ebenso respektvoll wie ablehnend rezensierte) beherrschte Schenkers Methode nicht so umfassend, wie es eine adäquate Innensicht verlangt hätte (Holtmeier 2005). – Nicht allein das Missverhältnis zwischen Sachkenntnis und Werturteil, das die deutschsprachige Schenker-Rezeption nach 1945 über weite Strecken kennzeichnete, erscheint bemerkenswert, sondern auch der Umstand, dass man darauf bauen konnte, ebendieses Missverhältnis werde niemandem auffallen, dessen Urteil man für relevant erachtete. 10 Berry 2005; Schwab-Felisch 2005a; Fink-Männel 2006; Schachter 2006; Koslovsky 2009. 11 Babbitt 1952. 12 Neidhöfer 2003/05; Girard 2010. 13 Rothstein 1986; 1990.
Vorwort
sprünglichere Version der Lehre einsetzt, übernimmt deshalb noch lange nicht Schenkers politische Agenda.14 Ob gesagt werden kann, Schenkers Lehre werde durch diese Trennung verzerrt, ist durchaus strittig: Ein Urteil hängt auch davon ab, für wie essentiell man die philosophischen, ästhetischen und politischen Komponenten und Implikationen der Schenker’schen Schriften hält.15 Als Bedingung dafür, dass Schenkers Theorie sich derart weit verbreiten konnte, darf die ›Americanization‹ der Schichtenlehre aber allemal als Glücksfall gelten. Um die Spezifika der deutschsprachigen Schenker-Rezeption zu verstehen, lohnt ein Blick auf die Zeit vor 1933, jene Zeit also, in der die Schenker-Rezeption noch nicht in zwei unterschiedliche Zweige auseinandergetreten war. 1930 schrieb Walter Riezler: Eine Zeitlang hatte es den Anschein, als drohe dem Lebenswerke des Theoretikers Heinrich Schenker das schlimmste Schicksal, das einem geistig Schaffenden zustoßen kann: totgeschwiegen zu werden. Es war die Rache der von diesem furcht- und schonungslosen Kämpfer Angegriffenen – so hat Riemann noch in seinem letzten Werke über die Beethovenschen Klaviersonaten die große Schenkersche Ausgabe der letzten Sonaten nicht erwähnt! – aber auch die seinem Spott noch Entgangenen ärgerten sich über die hochfahrende Art, mit der hier jede andere musiktheoretische Bemühung abgetan, jedes nicht ›klassische‹ Schaffen verkleinert und verhöhnt wurde, und bedachten nicht, daß dieser in der Tat schwer erträgliche Ton zur Hälfte eben als die Folge des Gefühls der Verlassenheit, zur Hälfte aber als der Ausdruck echtester und tiefster Überzeugung von der göttlichen Mission der großen, schaffenden Genien zu gelten habe.16
Neben Schenkers Hang zur Polemik, neben der Unbescheidenheit auch, mit der er sich zum solitären Versteher des Wesens deutscher Musik stilisierte, sorgten weitere Aspekte für Irritationen: die politischen und weltanschaulichen Digressionen etwa, die in nahezu jeder musiktheoretischen Schrift Schenkers vorkommen, das anti-historistische Konzept von Musikgeschichte, das Schenker verfocht17, oder die Tatsache, dass die Schichtenlehre eine Vielzahl idiosynkratischer Begriffe und Darstellungstechniken enthält.18
14 15 16 17 18
Schachter 2001. Cook 2007, Schwab-Felisch 2018. Riezler 1930, 502. Siehe etwa Sessions 1938, 195f. Eduard Steuermann etwa wusste zu berichten: »Back in Vienna there was this funny little man who haunted the back streets exposing his analytical graphs, which no one understood. Webern said he understood them, but everyone knew that Webern didn’t.« (Babbitt 1991, 10)
iii
iv
Vorwort
In gewissen Hinsichten also setzte das Rezeptionsdefizit nach 1945 jenes der Vorkriegszeit lediglich fort. Allerdings gab es einen bedeutenden Unterschied: Wie Riezler konstatiert, standen die späten 1920er Jahre im Zeichen einer allmählich zunehmenden Anerkennung Schenkers: …seine Bücher und Analysen werden gelesen und studiert, und die Tiefe und Eigenart dieses Geistes wird immer mehr erkannt. Man weiß nachgerade, daß sein Buch über die Neunte Sinfonie mehr für die Erkenntnis dieses Werkes und der Beethovenschen Musik überhaupt geleistet hat, als alles, was sonst über Beethoven geschrieben wurde, und daß neben der Schenkerschen Analyse der letzten Sonaten kaum eine andere ernsthaft in Betracht kommt. Und mag man auch in vielem Einzelnen, vielleicht auch in einigen Grundfragen anders denken, so bleiben doch die »Neuen musikalischen Theorien und Phantasien« eines der anregendsten und gedankenreichsten, zugleich auch gründlichsten Bücher der musiktheoretischen Literatur.19
Auch wer – wie Riezler – den Schritt zur Schichtenlehre nicht mitgehen wollte, realisierte die Qualitäten der frühen und mittleren musiktheoretischen Schriften Schenkers. Ohne Faschismus und Weltkrieg, so darf man aufgrund solcher Äußerungen annehmen, hätte sich diese positive Tendenz fortgesetzt. In der Tat haben Faschismus und Weltkrieg die deutschprachige Schenker-Rezeption nach 1945 entscheidend geprägt: unmittelbar durch die erzwungene Emigration der meisten Schüler Schenkers, die Schließung des Schenker-Institute in Hamburg und Wien und die Ächtung der Schichtenlehre20, mittelbar durch den Umstand, dass bestimmte Aspekte des Schenker'schen Œuvres nach 1945 in zweifelhaftem Licht erschienen: der ästhetische Konservatismus, den Schenker verfocht, stand in scharfem Widerspruch zum Geist des Neuanfangs, der die progressiven Kreise der deutschsprachigen Musikwissenschaft bestimmte, und Schenkers deutschnationale Exkurse konnten angesichts der Verwüstungen des Weltkriegs nur Ewiggestrigen tolerabel erscheinen. Hinzu kam schließlich auch, dass die Rolle, die Schenker dem Analytiker zugedacht hatte, einem modernen Verständnis von Musikforschung zuwiderlief: »Das Interesse am analytischen Nachvollzug des organischen Meisterwerks, das Schenkers Methode a priori forderte, war weder mit dem Prinzip der Forschungsfreiheit noch – so schien es – mit den historiographischen, ästhetischen oder soziologischen Fragestellungen zu vereinbaren, die in der deutschsprachigen Musikwissenschaft nach 1945 dominierten.«21 Zu Beginn der 2000er Jahre freilich änderte sich das Klima merklich. Indiz und Faktor dieser Änderung war die Gründung der Gesellschaft für Musiktheorie 19 Riezler 1930, 502. 20 Fink-Männel 2006. 21 Schwab-Felisch 2018, 1.
Vorwort
(GMTH) im Jahr 2000: Deren Veranstaltungen boten auch aktuellen Strömungen der Schenkerian Analysis ein Forum, und die persönlichen Kontakte zwischen Vertreterinnen und Vertretern der nordamerikanischen und der deutschen Musiktheorie, die sie ermöglichte, erleichterten die Bildung transnationaler Netzwerke von Schenker-Interessierten. 2003 dann organisierten Martin Eybl und Evelyn Fink-Männel in Wien das erste ausschließlich Schenker gewidmete internationale Symposium im deutschsprachigen Raum, ein Symposium, das die unterschiedlichen Schenker-Traditionen auf beiden Seiten des Atlantiks beleuchtete.22 Vor dem Hintergrund all dieser Entwicklungen erschien ein Schenker-Kongress in Deutschland zum ersten Mal möglich, ja geboten: Es galt, amerikanische und europäische Schenker-Forscher miteinander ins Gespräch zu bringen, Erfahrungs lücken zu schließen und die analytische Praxis nach Schenker auch Schenker-Novizen so detailliert und konkret wie möglich zu vermitteln. Der dreitägige internationale Kongress, der im Juni 2004 in Berlin, Sauen und Mannheim stattfand, reagierte auf diese Desiderata, indem er Vorträge, Diskussionen und Workshops miteinander verknüpfte. Der vorliegende Band enthält ausgewählte dieser Vorträge in teils modifizierter Form 23; ergänzt werden sie durch weitere, eigens für diese Publikation verfasste Texte sowie ein zuvor bereits an anderer Stelle publiziertes Glossar.24
Die Beiträge Carl Schachter plädiert in seinem Beitrag für eine prospektive Sicht auf die musikalischen Ereignisse. Er geht damit insofern über Schenkers eigenen Ansatz hinaus, als er nicht allein den strukturellen Befund, wie er sich vom Ende einer Komposition her zeigt, sondern auch die Erwartungen, die sich im Verlauf des Hörens einstellen, 22 Eybl / Fink-Mennel 2006. – Eybl hatte bereits 1995 eine Dissertation über Schenker vorgelegt, mit der er demonstrierte, dass es am Ende des 20. Jahrhunderts auch für einen Insider der Schenker’schen Analyse-Praxis möglich war, ideologische Aspekte der Schichtenlehre kritisch zu reflektieren (Eybl 1995). 23 Dies betrifft die Texte von Hermann Danuser, Martin Eybl, Bernhard Haas / Veronica Diederen, Bruno Haas, Hartmut Kinzler, Michael Polth, Stefan Rohringer, Giorgio Sanguinetti, Paul Scheepers / Johannes Leertouwer und Oliver Schwab-Felisch. 24 Haas / Diederen 2008. – Infolge der ungewöhnlich langen Zeitspanne zwischen Kongress und Publikation sind zwei Texte dieses Bandes bereits an anderer Stelle erschienen: Hermann Danuser: »Triebleben oder Logik der Klänge? Über Chopins Nocturnes op. 62«, in: Gesammelte Vorträge und Aufsätze, hg. von Hans-Joachim Hinrichsen, Christian Schaper und Laure Spaltenstein, Schliengen: Edition Argus 2014, Bd. 4, 192–207. – Giorgio Sanguinetti, »Diminution and Harmonic Counterpoint in Late-Eighteenth-Century Naples: Vincenzo Lavigna’s Studies with Fedele Fenaroli«, Journal of Schenkerian Studies 7 (2013), 31–62.
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Vorwort
in die Analyse einbezieht. Da die Erwartung bestimmter musikalischer Ereignisse unabhängig von der Frage eine Rolle spielt, ob diese Ereignisse tatsächlich eintreten oder nicht, kann sogar das Ausbleiben eines erwarteten Ereignisses die ästhetische Pointe einer Komposition ausmachen. In einigen Liedern bezieht Schachter dieses Ausbleiben überdies auf den Text oder versteht es als Teil eines motivischen Prozesses. Die Interessen und die Vorgehensweisen von Analysierenden und Aufführenden können sich – trotz des gemeinsamen Anliegens, eine Komposition in ihrem musikalischen Gehalt zu erschließen – im Einzelnen erheblich voneinander unterscheiden. Dies – so zeigt Frank Samarotto – betrifft ebenso Aspekte, unter denen musikalische Gegenstände auf ihren Informationsgehalt hin ausgewertet werden, wie auch die Art und Weise, in der bestehende Begriffe interpretativ auf konkrete Einzelfälle Anwendung finden. Samarotto interessiert sich insbesondere für Fälle, in denen interpretative Zuschreibungen methodische Grenzen überschreiten: Die hörbare Wirkung eines komponierten Zusammenhangs nämlich vermag eine Analyse ebenso zu leiten wie umgekehrt eine analytische Einsicht ein interpretatives Konzept. Lauri Suurpää untersucht – in Anlehnung an eine begriffliche Unterscheidung Felix Salzers – den wechselseitigen Einfluss von Struktur und Design. Wie er an Chopins Mazurka op. 56,3 demonstriert, muss die strukturelle Bedeutung eines musikalischen Ereignisses keineswegs dem Grad an Aufmerksamkeit entsprechen, die es auf sich zieht. Eine Reihe aufeinanderfolgender Kadenzen im Vordergrund etwa kann sich im Mittelgrund als bloße Elaboration einfacher Durchgangsbildungen entpuppen. Manche Stellen in Chopins Nocturnes wirken auf geheimnisvolle Weise schlüssig und zugleich unvorhersehbar. Sie erscheinen als Ausdruck von Logik und Triebleben, von Rationalität und Irrationalität. Durch eine Partialanalyse, so Hermann Danuser, seien derartige Phänomene angemessener analytisch zu fassen als durch eine Total analyse Schenker’scher Prägung: Die Partialanalyse setze selektive Akzente und ziele so auf das Besondere einer Komposition. Entsprechend geht Danuser im ersten Abschnitt seines Beitrags einer ›Klangspur‹ nach: den unterschiedlichen Funktionen der Tonqualität dis in Chopins Nocturne op. 62 Nr. 1. Hartmut Kinzler entfaltet die These, die Reihenfolge, in der die harmonischen Mittel des E-Dur-Prélude von Chopin erscheinen, entspreche weitgehend deren Anordnung in elementaren Harmonielehren. Das Prinzip zunehmender Avanciertheit, demzufolge der Aufgaben-Typ »Harmonisieren einer gegebenen Melodie« von Lektion zu Lektion um neue Möglichkeiten, aber auch neue Schwierigkeiten erweitert wird, bestimmt demnach im Prélude das Auftauchen stets komplexerer harmonischer Ereignisse. Bernhard Haas und Veronica Diederen stellen ihre auf die besonderen Bedingungen spätbarocker Musik zugeschnittene Spezialform der Schenker’schen Schich-
Vorwort Vorwort tenanalyse vor. Von Schenkers eigenem Ansatz unterscheidet sie sich darin, dass sie tenanalyse vor. Von Schenkers eigenem Ansatz unterscheidet sie sich darin, dass sie genau sechs vermittelnde Schichten zwischen Ursatz und Komposition postuliert. genau sechs vermittelnde Schichten zwischen Ursatz und Komposition postuliert. Jede dieser sechs Schichten enthält ein charakteristisches funktionales Ereignis, und JedeVerwandlungen dieser sechs Schichten enthältzueinSchicht charakteristisches funktionales Ereignis, die von Schicht folgen charakteristischen Formen und der die Verwandlungen von Schicht zu Schicht folgen charakteristischen Formen der Herleitung. Herleitung. Patrick Boenke weist nach, dass im Spätwerk Franz Liszts tonale und atonale Patrick Boenke weist nach, dass Der im Spätwerk Franz Liszts und atonale Strukturkomponenten koexistieren. Zusammenhang einertonale Komposition wie Strukturkomponenten koexistieren. Der Zusammenhang einer Komposition wie Liszts Trübe Wolken ist weder durch eine einseitig traditionelle noch durch eine einseiLiszts Trübe Wolken ist weder durch eine einseitig traditionelle noch durch eine einseitig moderne Perspektive adäquat zu fassen. Vielmehr zeigen die Stimmführungszutig moderne Perspektive fassen. Vielmehr zeigen die Stimmführungszusammenhänge spezifischeadäquat Formenzuschwebender Tonalität. sammenhänge spezifische Formen schwebender Tonalität. Dass die Schenker’sche Analyse von ihrer immanenten Logik her funktionalDass die Schenker’sche von anhand ihrer immanenten Logikder herFunktionalifunktionaldeiktisch verfährt, erläutert Analyse Bruno Haas seines Konzepts deiktisch verfährt, erläutert Bruno Haas anhand seines Konzepts der Funktionalität. Dieses Konzept stellt so etwas wie den Versuch einer theoretischen Grundlegung tät. Konzept Lehre stellt sodar, etwas wieGrundlegung, den Versuch einer theoretischen Grundlegung der Dieses Schenker’schen einer die auszuführen Schenker selbst der Schenker’schen Lehre dar, einer Grundlegung, die auszuführen Schenker selbst schuldig geblieben ist. schuldig geblieben ist. Michael Polth begreift die Sonatenform um 1775 als einen bestimmten histoMichael PolthFunktionalität begreift die Sonatenform als einen historischen Typ von und versucht,um die 1775 Spezifika dieserbestimmten Funktionalität in rischen Typ von Funktionalität und versucht, die Spezifika dieser Funktionalität in Mozarts Klaviersonaten zu fassen. Ähnlich wie bei Haas/Diederen wird dazu eine Mozarts Klaviersonaten zu fassen. Ähnlich wie bei Haas/Diederen wird dazu eine spezifische Spielart der Schenker-Analyse entwickelt. spezifische Spielart der Schenker-Analyse entwickelt. Oliver Schwab-Felisch geht bestimmten Spezifika der Schenker-Rezeption nach Oliver Schwab-Felisch geht bestimmten Spezifika der Schenker-Rezeption nach und argumentiert für eine klare Unterscheidung zwischen historischer und rekonund argumentiert für eine klare Unterscheidung zwischen historischer und rekonstruktiver Schenker-Forschung: Letztere ist von dem Interesse getragen, Schenker’sche struktiver Schenker-Forschung: Letztere ist von dem Interesse getragen, Schenker’sche Grundgedanken für die heutige Musiktheorie anschlussfähig zu machen. Grundgedanken für die heutige Musiktheorie anschlussfähig zu machen. Bernd Redmann beleuchtet Schenkers wechselvollen Motivbegriff. Gegenüber Bernd Redmann beleuchtet Schenkers wechselvollen Motivbegriff. Gegenüber dem Konzept der ›verborgenen Wiederholung‹, das Schenker in der zweiten Hälfte dem Konzept der ›verborgenen Wiederholung‹, das Schenker in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre entwickelte, favorisiert Redmann den Motivbegriff, der Schenkers der 1920er Jahre entwickelte, favorisiert Redmann den Motivbegriff, der Schenkers wenige Jahre zuvor entstandenen Tonwille-Analysen zugrunde liegt: Er erlaube die wenige Jahre zuvor entstandenen Tonwille-Analysen zugrunde liegt: Er erlaube die »entwicklungsgenetischen Prozesse« analytisch präziser zu fassen, die in vielen Wer»entwicklungsgenetischen Prozesse« analytisch präziser zu fassen, die in vielen Werken des 18. und 19. Jahrhunderts zu beobachten sind. ken des 18. und 19. Jahrhunderts zu beobachten sind. Stefan Rohringer reformuliert Schenkers späte Theorie aus systemtheoretischer Stefan Rohringer reformuliert Schenkers späte Theorie aus systemtheoretischer Perspektive. Perspektive. Sein Sein besonderes besonderes Augenmerk Augenmerk gilt gilt dabei dabei der der autoreferentiellen, autoreferentiellen, durch durch Komplexitätsaufbau und Komplexitätsreduktion gesteuerten Komplexitätsaufbau und Komplexitätsreduktion gesteuerten Eigendynamik Eigendynamik der der TheTheoriebildung. oriebildung. Der Der zweite zweite Teil Teil seines seines Beitrags Beitrags setzt setzt sich sich mit mit David David Neumeyers Neumeyers Konzept Konzept der der steigenden steigenden Urlinie Urlinie auseinander. auseinander. Neumeyers Neumeyers Beobachtungen Beobachtungen exemplifizieren exemplifizieren für für Rohringer Rohringer keine keine Erweiterung Erweiterung der der Schenker’schen Schenker’schen Urlinie-Konzeption, Urlinie-Konzeption, sondern sondern eieinen nen Programmwechsel Programmwechsel innerhalb innerhalb des des funktionalen funktionalen Systems Systems hin hin zu zu einer einer Tonalität Tonalität der der Tonfelder Tonfelder im im Sinne Sinne Albert Albert Simons. Simons. Nicolas Meeus plädiert Nicolas Meeus plädiert dafür, dafür, den den Ursatz Ursatz – – in in Anlehnung Anlehnung an an die die vierstimmige vierstimmige Kadenz – als ein polyphones Geflecht zweier fundierender und zweier Kadenz – als ein polyphones Geflecht zweier fundierender und zweier impliziter impliziter Stimmen Stimmen zu zu verstehen verstehen (fundierend (fundierend sind sind die die Urlinie Urlinie und und die die Bassbrechung Bassbrechung in in den den AuAu-
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viii
Vorwort
ßenstimmen, die, als Gestalten betrachtet, der traditionellen Tenor- bzw. Bassklausel entsprechen). Diese Sichtweise entmystifiziert die Urlinie und kann überdies in manchen Fällen zu verstehen helfen, dass implizite Mittelstimmen eine führende Rolle übernehmen. Giorgio Sanguinetti zeigt, dass die von Schenker her bekannte und bislang als originär befundene Verbindung aus kontrapunktischer Diminutionspraxis und harmonischem Stufengang bereits im Curriculum der italienischen (und insbesondere der neapolitanischen) Konservatorien des späten 18. Jahrhunderts vorgebildet war. Wie sich an Vincenzo Lavignas Sammlung von Notenheften mit Kontrapunktübungen (1791–95) demonstrieren lässt, basierten die Kontrapunktübungen, die Lavignas Lehrer Fenaroli schreiben ließ, auf Folgen impliziter Harmonien, und in Kadenzübungen sind sogar Momente vorgebildet, die an den Ursatz und seine Auskomponierung erinnern. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen serieller und ornamentaler Struktur des Tonsatzes – die erste beruht auf Addition, die zweite auf Insertion – geht Martin Eybl der Entwicklung der Kategorie des Ornamentalen in der europäischen Musikgeschichte nach, beleuchtet die gegensätzlichen Positionen, die Schönberg und Schenker bezüglich der Kategorie der harmoniefremden Dissonanz einnahmen, und hebt anhand einer kurzen Beethoven-Analyse die spezifischen Qualitäten der Perspektive Schenkers hervor – einer Perspektive, die der ornamentalen Struktur des Tonsatzes gerecht wird. Anhand einer Vielzahl konkreter Beispiele untersuchen Paul Scheepers und Johannes Leertouwer – Musiktheoretiker der eine, Geiger der andere – die Wechselbeziehung zwischen analytischer Einsicht und praktischer Aufführung. Die Kooperation zwischen Analytiker und Interpret steht Schenkers Praxis nahe, Analysen stets auch im Hinblick auf Fragen der musikalischen Interpretation zu erstellen. Lubomir Spurny zeigt, dass Schenkers Lehre in Böhmen – trotz der geographischen Nähe zu Wien – so gut wie unbeachtet geblieben ist. Verweise auf Person, Werk und Theorie finden sich lediglich in Spuren. Zur Erklärung verweist Spurny auf die überragende Bedeutung, die Hugo Riemanns Funktionstheorie und motivisch-thematischer Analyse in der böhmischen Musiktheorie zukamen, die Tatsache, dass führende böhmische Musiktheoretiker eigene musiktheoretische Systeme entwickelten und propagierten, Schenkers überwiegend indifferente Haltung gegenüber tschechischen Komponisten sowie die ungewöhnliche Terminologie der Schichtenlehre. Mehrere Institutionen haben die Durchführung des Kongresses sowie die Drucklegung dieses Berichtes finanziell ermöglicht. Die Technische Universität Berlin gewährte einen großzügigen Beitrag zur Veranstaltung und zur Drucklegung. Die Universität der Künste Berlin beteiligte sich mit Kongressräumen, Unterbringung und Verpflegung. Die Mannheimer Hochschule für Musik und Darstellende Kunst
Vorwort
schließlich stellte Räumlichkeiten, sorgte für die Unterbringung der Referenten, beteiligte sich an der Organisation des Kongresses und steuerte einen nicht unerheblichen Druckkostenzuschuss bei. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Oliver Schwab-Felisch Michael Polth Hartmut Fladt
Literatur Ayotte, Benjamin McKay (2004), Heinrich Schenker. A Guide to Research, New York: Routledge.
Babbitt, Milton (1952), »Felix Salzer: Structural Hearing: Tonal Coherence in Music, New York: Boni 1952«, Journal of the American Musicological Society 5/3 (1952), 260–265, Wiederabdruck in: The Collected Essays of Milton Babbitt, hg. von Stephen Peles u. a., Princeton und Oxford: Princeton University Press 2003, 22–33.
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1 Schenker-Analyse und Wissenschaft. Eine Einführung M ICH A EL P OLT H
Niemand hätte vor dreißig Jahren gedacht, dass die Lehre Heinrich Schenkers in der heutigen deutschen Musikforschung wieder ernsthaft diskutiert und sogar als Methode erfahrungserschließend angewendet wird. Eigentlich schien alles klar: Das Urteil, das Adorno und verschiedene Vertreter der historischen Musikwissenschaft nach 1945 über Schenker gefällt hatten, war so einhellig und deutlich, dass bereits die Diskussion über einen möglichen Wert der Schenker’schen Lehre überflüssig erschien.1 Dass die Einwände gegen Schenker eher auf Ideologie als auf rationalen Argumenten beruhten, hätte man spätestens von den 70er Jahren an von der US-amerikanischen Music Theory erfahren können. Aber dazu hätte man sich auf ein methodisches Verständnis der Schenker’schen Lehre einlassen müssen, für das – zumindest in der bundesdeutschen Musikwissenschaft – (fast) keine Bereitschaft bestand. Es wundert nicht, dass die Veränderung in der Einschätzung Schenkers, die sich vor drei Jahrzehnten in Deutschland, aber auch in anderen Ländern Europas abzuzeichnen begann, mehr von der Musiktheorie als von der Musikwissenschaft ausging, mehr von den Musikhochschulen als von den Universitäten, mehr von der jüngeren und mittleren Generation als von der älteren. Viele Vertreter sehen sich nicht in einer deutschsprachigen Schenker-Tradition beheimatet (die es ohnehin nur in Ansätzen gegeben hat), sondern knüpfen an die Universitätstradition der US-amerikanischen Music Theory an, die in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts von namhaften Schülern und Enkelschülern Schenkers begründet worden war. Seit etwa dreißig Jahren wird Schenkers Lehre nach Europa ›re-importiert‹. Was man zurückerhält, ist eine der leistungsfähigsten Methoden zur Analyse des musikalischen Zusammen1 Allein Hellmut Federhofer versuchte, mithilfe der Schenker’schen Methode eine Schlacht auf dem Felde der historischen Musikwissenschaft zu gewinnen.
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hangs für die Musik des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie hat durch jahrzehntelange Diskussionen das Format einer unideologischen, empirisch erprobten, historisch sensibilisierten und didaktisch ausgereiften Methode erhalten. Wie sieht eine Schenker’sche Analyse aus, die das analytische Vermächtnis Schenkers bewahrt, aber auf eine zeitgemäße methodische und epistemologische Basis stellt? In den USA gibt es zahlreiche Spielarten der Schenkerian Analysis, die man als Antworten auf diese Frage verstehen könnte.2 In dieser Einführung sei jedoch ein Vorschlag aus Sicht der deutschen Musiktheorie unterbreitet. Der Text setzt bei Schenkers eigener Analyse-Praxis an und zeigt, dass in den impliziten Regeln seiner analytischen Tätigkeit – unabhängig von Schenkers Ideologie – der Ansatz zu einer tragfähigen Theorie des musikalischen Zusammenhangs (für Kompositionen des 18. und 19. Jahrhunderts) angelegt ist. (Schenker selbst hat seine Lehre nicht in der folgenden Weise dargestellt, und es ist mehr als fraglich, ob seine Selbsteinschätzung der hiesigen Auffassung entsprochen hätte.)
I. Analyse als Form möglicher Aufführungen Worauf zielt eine Analyse von Schenker? In erster Näherung hilft die Vorstellung, dass Schenker in seinen Texten in etwa so agiert wie ein Interpret im Konzert. Wie ein Instrumentalist, Sänger oder Dirigent schlägt Schenker vor, wie die Partitur klingen könnte. Der Referenzpunkt der Analyse ist nicht die Partitur, sondern die erklingende Musik.3 Dies geschieht durch eine spezielle Notenschrift, die die Töne der Komposition in den von Schenker gemeinten Bedeutungen für den musikalischen Zusammenhang zeigt. Sie soll den Hörer anleiten, die Töne in den bezeichneten Bedeutungen zu hören. Diese Bedeutungen kann man als die jeweilige Antwort des Analysierenden auf die Frage verstehen: Welcher Ton hängt auf welcher Ebene des Kunstwerks (Schicht) mit welchen anderen Tönen im Sinne welchen funktionalen Begriffs zusammen? Schenkers Interpretationen unterscheiden sich allerdings in einem entscheidenden Punkt von Interpretationen eines aufführenden Musikers. Eine Schenker’sche Analyse ist nicht eine konkrete, quasi ›stumme‹ Aufführung. Ansonsten müssten Schenkers Analysen über die tatsächlichen Angaben hinaus konkrete Angaben zur Aufführung enthalten. Nicht nur enthalten sie diese Informationen nicht, überdies sind sogar mehrere verschiedene Aufführungen denkbar, die einen Schenker’schen Graphen realisieren. Wenn man – in Anlehnung an Nelson Goodman4 – eine Komposition als Klasse 2 Vgl. hierzu Blasius 1996. 3 Vgl. Bruno Haas in diesem Band. 4 Goodman 1997, 126f.
Schenker-Analyse und Wissenschaft
von Aufführungen betrachtet und davon ausgeht, dass ein Komponist durch die Anfertigung einer Partitur die Bedingungen definiert, unter denen eine Aufführung als Aufführung der Komposition x bestimmt ist, dann definiert die Schenker’sche Analyse eine Unterklasse, nämlich alle diejenigen Aufführungen, die einen musikalischen Zusammenhang im Sinne des Schenker’schen Diagramms darstellen. Insofern also nimmt die Analyse eine mittlere Stellung zwischen Partitur und Aufführung ein, als sie einerseits die vom Komponisten eingerichtete zeitliche Ordnung der Töne im Sinne bestimmter Begriffe interpretiert, andererseits aber offen lässt, wie diese Interpretation zu realisieren ist. Man könnte auch sagen: Schenker definiert eine Form möglicher Aufführungen. Negativ ausgedrückt, schränkt er den Spielraum des Interpreten und des Hörers ein, positiv gesagt, leitet er den Leser zu einer bestimmten (in Umrissen festgelegten) Auffassung bzw. den Interpreten zu einer bestimmten (in Umrissen festgelegten) Darstellung der musikalischen Zusammenhänge an.
II. Aspekte Einige wichtige Aspekte der skizzierten Auffassung sollen im folgenden Text kurz erläutert werden. 1. ›Zwischen‹ Partitur und Aufführung Als Klasse von Aufführungen betrachtet, ist eine Komposition ein abstrakter Gegenstand. Sie ist weder mit der Partitur noch mit einer einzelnen Aufführung identisch, sondern ein ›Ereignis-Typ‹, demgegenüber die Partitur eine Notation und jede Aufführung ein ›Vorkommnis‹ darstellt.5 Die Definition der ›Komposition‹ durch die Partitur ist im Hinblick auf eine Aufführung unterdeterminiert; denn eine Aufführung besitzt Eigenschaften, die durch die Partitur nicht festgelegt werden und zum Teil gar nicht festgelegt werden können, etwa weil sie an die situativen Gegebenheiten der Aufführung gebunden sind. Wenn es heißt, dass Schenkers Analysen eine Klasse möglicher Aufführungen definieren, dann ist dies zunächst so zu verstehen, dass Schenker Festlegungen trifft, die über das in der Partitur Definierte hinausgehen, aber keineswegs so viele und konkrete Festlegungen vornimmt, wie eine Aufführung sie erforderlich macht. Allerdings geht es nicht allein um die Quantität der Festlegungen, sondern auch um deren Inhalte. So werden die meisten Bereiche, die in Aufführungen festgelegt werden müssen, von Schenkers Analysen nicht tangiert: Zu Tempo, Dynamik, Klangfarbe, Anschlag, zur exakten Darstellung rhythmischer Verhältnisse usw. gibt 5 Zu den verwendeten Begriffen vgl. Reicher 2010, 108.
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es keine detaillierten Angaben. Bei den Festlegungen handelt es sich einzig und allein um den Bereich der formalen Artikulation. Die Analysen schlagen einen jeweils konkreten Weg vor, die Ereignisse der Komposition zu bestimmten Typen von Einheit zusammenzufassen.6 Durch die Darstellung formaler Einheiten artikuliert Schenker sein Verständnis vom Zusammenhang einer Komposition und weist damit möglichen Aufführungen einen Weg. Er sagt, welche Einheiten der Interpret beim Spiel deutlich machen, aber nicht, welche konkreten Maßnahmen er ergreifen soll, um diese Einheiten auszudrücken.7 2. Funktionen – Strukturen – Schichten – Satztechnik Die Festlegung formaler Einheiten geschieht bei Schenker vor dem Hintergrund einer (nicht näher ausformulierten) Theorie des musikalischen Zusammenhangs. Demnach wäre der musikalische Zusammenhang des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eben dadurch charakterisiert, dass er sich durch den Zusammenschluss unterschiedlicher Töne und Klänge zu Einheiten konstituiert. Es handelt sich um funktionale Einheiten, weil eine jede Einheit nicht als eigenständige Entität ›existiert‹, sondern dadurch, dass an einem Ereignis der Partitur der Zusammenschluss mit bestimmten anderen deutlich wird.8 Jedes Ereignis gehört dadurch zu einer Einheit, dass es diese Einheit mit konstituiert, und es gehört auf diejenige Weise zur Einheit, in der es sich an der Konstitution beteiligt. Die Art und Weise, konstituierender Teil der Einheit zu sein, ist die Funktion des Ereignisses.9 Einige Begriffe Schenkers (Zug, Ausfaltung, Brechung, Anstieg) bezeichnen solche Einheiten.10 Sie legen jeweils einen Typ von Relation fest, dem eine bestimmte Zahl von Tönen angehört. Töne – zu derartigen Relationen angeordnet – nennt man Strukturen. So gesehen bezeichnen Schenkers Begriffe Struktur-Typen. Einzelne Strukturen werden in den Diagrammen dadurch dargestellt, dass die beteiligten Töne 6 Dabei können unterschiedliche Einheiten einander neben- oder untergeordnet, nacheinander oder gleichzeitig (auf unterschiedlichen Ebenen der Komposition) erscheinen. 7 Kurz gefasst lautet der Unterschied: Der Interpret ergreift konkrete Aufführungsmaßnahmen, um sein Verständnis von musikalischem Zusammenhang zu artikulieren. Diese Maßnahmen bestehen im Wesentlichen darin, ›qualitative‹ Angaben der Partitur, etwa Notenwerte, Tonqualitäten, Artikulationszeichen, als ›quantitative‹ Zeit-, Intonations- oder Anschlagsgrade festzulegen. Schenker hingegen trifft keine ›quantitativen‹ Festlegungen, sondern zeigt wiederum ›qualitativ‹ (durch seine Sonderzeichen) das Ziel an (die zu realisierenden Einheiten), auf das hin ein Interpret bestimmte Qualitäten quantitativ festlegen kann. 8 Was dies genau bedeuten kann vgl. Polth in diesem Band. 9 Vgl. hierzu auch Bruno Haas in diesem Band. 10 Andere Begriffe nennen standardisierte Manipulationen an diesen Einheiten, zum Beispiel Koppelung oder Höherlegung.
Schenker-Analyse und Wissenschaft
identische Zeichenformen erhalten.11 Eine Komposition vollständig zu analysieren, heißt, jeden Ton der Partitur mindestens einer Struktur zuzuordnen. (Vollständige Analysen, wie sie vor allem das Meisterwerk enthält, weisen jedem Ton der Komposition12 mindestens eine Funktion zu.) Musikalischer Zusammenhang ist komplex. Um die Komplexität durchsichtig zu machen, werden die Strukturen bei Schenker Schichten zugeordnet. Die Schichten geben Auskunft über die Reichweite der Strukturen: Im Hintergrund erscheint diejenige Struktur, die den Satz zur Gänze umfasst13, in mittelgründigen Schichten werden Strukturen notiert, die Strecken von etwa einem Formabschnitt durchmessen, vordergründige Schichten schließlich enthalten lokale Ereignisse von kurzer Dauer. Der Hintergrund ist gegenüber einer Mittelgrundschicht einfacher, weil er eine geringere Zahl von Ereignissen enthält (nämlich nur hintergründige Strukturen). Umgekehrt ist eine Mittelgrundschicht gegenüber dem Hintergrund ausführlicher (sie enthält sowohl die mittelgründigen Strukturen als auch alle Strukturen der einfacheren Schichten). Die Strukturen auf den jeweils ausführlicheren Schichten hängen mit denen auf einfacheren Schichten dadurch zusammen, dass jene in diesen enthalten sind.14 Die einfacheren Schichten formulieren auf diese Weise funktionale Einheiten für die ausführlicheren Schichten. Die Veränderungen, die sich hinsichtlich des strukturellen Inhalts von Schicht zu Schicht beobachten lassen, nannte Schenker – als ob es sich um einen Prozess handele, in den eine Struktur hineingezogen würde – ›Verwandlung‹. Schenkers Sammlung von Struktur-Typen, die der Freie Satz dokumentiert, ist empirisch begründet: Es handelt sich um diejenigen Typen, von denen Schenker glaubte, dass sie den Hauptbestand in den Kompositionen des 18. und 19. Jahrhunderts ausmachen. Ungeachtet des empirischen Aspekts kommen sowohl die Typen als auch die einzelnen Verfahren der ›Verwandlung‹ nicht von ungefähr. Beide fußen auf allgemeineren Prinzipien, die für die Satztechnik der europäischen Kunstmusik seit 11 Eine Ausnahme bildet jeweils derjenige Ton, der die abgebildete Struktur mit einer Struktur auf einer einfacheren Schicht verbindet. 12 Eine Ausnahme bilden diejenigen Töne, die in der Terminologie von Haas/Diederen die Funktion der »Dichtmachung« erfüllen, also diejenigen Töne, die erst beim Übergang von der ›vordergründigsten‹ Schicht zur Komposition hinzukommen. 13 Die Rede davon, dass der Hintergrund das Ganze der Komposition artikuliere, ist insofern missverständlich, als sie implizieren kann, dass die einfachste Schicht die Fülle der Komposition in sich trage und dass die ausführlicheren Schichten lediglich explizit machen, was im Hintergrund bereits verborgen enthalten ist. Diese Implikation wäre in der Tat ein Missverständnis; denn anders als im Sprachgebrauch romantischer Ästhetik ist das Ganze, das der Hintergrund artikuliert, nicht ein Ort der Fülle, sondern eine einzelne Struktur, die sich über die gesamte Komposition spannt und damit den Ereignissen der folgenden Schichten eine Form gibt. 14 Genauer: Je ein Ton bildet die Schnittmenge zwischen zwei Strukturen auf benachbarten Schichten. Dieser eine Ton ist entweder der erste oder letzte Ton der Struktur auf der ausführlicheren Schicht.
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dem 16. Jahrhundert bestimmend gewesen sind. Schenker transformiert Aspekte der traditionellen Satztechnik in Bestimmungsmomente funktionaler Bedeutung.15 So beruht jeder Struktur-Typ entweder auf der Einheit eines Akkordes (z.B. »Brechung«) bzw. Intervalls (»Ausfaltung« eines Intervalls) oder auf der Einheit linear verbundener Töne (»Übergreifzug«). Oder die Einheit konstituiert sich aus einem Zusammenwirken von Klang und Linearität: Dann handelt es sich beispielsweise um einen linear ausgefüllten Dreiklang (»Oktavzug« und »Quintzug«) bzw. ein linear gefülltes Intervall (»Terzzug«) oder um mehrere linear geführte Intervalle (»Ausfaltung« von mehreren Intervallen). Diejenigen Verfahren, die aus der Einheit eines Dreiklangs bzw. Intervalls einen Struktur-Typ hervorgehen lassen, sind dieselben, nach denen die ›Verwandlung‹ der Schichten geschieht. Sie beruhen auf der Inanspruchnahme jeweils eines kontrapunktischen Prinzips. Vielfach erwähnt wurde das Prinzip der Durchgangsnote.16 In der Tradition der Kontrapunkt-Lehren galten Durchgangsnoten seit dem 15. Jahrhundert als dissonierende Töne, die in linearer Bewegung und auf ›leichter Mensurzeit‹ zwischen zwei konsonierenden Tönen vermitteln. Im Akkordsatz seit dem 17. Jahrhundert füllen sie als harmoniefremde Töne den Weg zwischen zwei harmonieeigenen Tönen. Schenker entdeckt in der Funktion der Durchgangsnote ein Prinzip der Konstitution von Einheit. Durchgangsnoten erzeugen nämlich eine Differenz: Im Unterschied zu ihnen (als dissonanten Ereignissen) wirken die (konsonanten) Töne stabil, im Unterschied zur ›Mobilität‹ der Durchgangstöne wirken die umliegenden Töne ›verankert‹. Die Differenz begründet den Eindruck, dass sich stabile Anfangs- und Zieltöne mit beweglichen Durchgängen zu Einheiten zusammenschließen. Die Durchgangsnote ist eines der Prinzipien, die – wie erwähnt – sowohl die Einheit eines linearen Struktur-Typs (z.B. eines Quintzugs) mit konstituieren als auch den Zusammenhang der Schichten begründen können. Andere sind etwa ›Horizontalisierung‹ und ›Konsonant-Machung‹. Beispielsweise können zwei simultane Töne c-e im Hintergrund auf der nächst ausführlicheren Schicht nacheinander erscheinen (›Horizontalisierung‹) und auf der nächsten mit einem Durchgangston gefüllt werden (e-d-c). Wiederum auf nächster Schicht kann der Durchgangston ›konsonant gemacht‹, d.h. mit einem eigenen Basston und einer eigenen Harmonie versehen werden (beispielsweise mit einem G-Dur-Dreiklang). Die Einheit mancher Struktur-Typen und der Zusammenhang der Schichten gründen darauf, dass jene (aus der Kontrapunkt-Tradition stammenden) Arten der Struktur-Verwandlung (Horizontalisierung, lineare Auffüllung, Konsonant-Machung etc.) als ›einheitskonservierend‹ gelten. Der C-Dur-Dreiklang im Hintergrund, zu dem nur die Töne c und e gehören, bleibt als Prinzip der Einheit auch in den Ereig15 Vgl. zu den folgenden Überlegungen den Versuch einer Axiomatisierung von Schwab-Felisch (2014). 16 Siehe Snarrenberg 2005 [1997], 9–18; Haas 2003, 257ff.; Schwab-Felisch 2009, 35ff.
Schenker-Analyse und Wissenschaft
nissen der Folge-Schichten wirksam, wenn diese Ereignisse aus der Anwendung von Horizontalisierung, linearer Auffüllung, Konsonant-Machung usw. hervorgehen. Die ›Verwandlung‹ von Schicht zu Schicht gehorcht bei Schenker rationalen Verfahren, durch die sie analytisch greifbar wird. 3. ›In‹ etwas hören Die Grundidee der Schenker’schen Analyse besteht darin, mit rationalen Strukturen anzugeben, wie eine Komposition klingen könnte. Schenker notiert Vertreter von Struktur-Typen, zielt aber dabei auf Klangwirkungen; denn die Zeichen ›meinen‹ Funktionen, und Funktionen manifestieren sich als (kontextbedingte) Klangwirkungen von Tönen und Klängen. Dass mit der Notierung von Strukturen Klangwirkungen intendiert sind, kann ein Beispiel verdeutlichen, das William Drabkin ausführlich diskutiert hat.17
a.
b.
c.
Die Beispiele a–c zeigen einen Terzzug (3-2-1), der in der Oberstimme die Tonfolge 3-43 (die traditionelle satztechnische Figur der oberen Nebennote) enthält. Die Notenzeichen suggerieren unterschiedliche formale Verhältnisse: In a bildet die Nebennotenbewegung 3-4-3 eine (untergeordnete) Einheit, in b stellt 4-3 eine interpolierte Bewegung zur 2 dar, c wiederum unterscheidet sich von b dadurch, dass die zweite 3, die Durchgangsnote zur 2, durch einen Akkord der I. Stufe ›konsonant gemacht‹ wurde. Entscheidend ist, dass wegen der ›Konsonant-Machung‹ die Beispiele a und c ›material‹ einander gleichen, sie enthalten exakt dieselben Töne. Dies bedeutet aber: Wenn der Unterschied der Zeichen in den Diagrammen einen Sinn haben soll, dann den, dass ihm ein Unterschied in den Klangwirkungen entspricht. Erinnert sei an das Beispiel des letzten Kapitels. Der Zweck der Maßnahme, eine Akkordfolge C-G-C (innerhalb einer Komposition) auf einen einzigen (C-Dur-)Dreiklang im Hintergrund zurückzuführen, besteht darin, den Klangcharakter des G-Dur-Akkordes zu bestimmen, so wie er dem Analysierenden erscheint. Wer nämlich den Akkord als ›konsonant-gemachte‹ Durchgangsnote interpretiert, will damit sagen, dass ihm noch in der ausgeführten Komposition etwas vom leichten Charakter des Durchgangs anhaftet. Überdies kann das Prinzip der ›Konsonant-Machung‹ auf allen Schichten stattfinden, der Analysie17 Drabkin 1996.
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Was aber soll ein Leser tun, wenn er durch die Diagramme dazu aufgefordert wird18, Unterschiedliches ›in‹ die Töne hineinzuhören? Praktisch wird er versuchen, die Artikulation von Einheiten durch Musizieren oder durch eine imaginierte Interpretation nachzuvollziehen. Dazu wird er versuchen, die ›qualitativen‹ Angaben auf geeignete Weise ›quantitativ‹ festzulegen19, beispielsweise indem er sich die Zäsuren zwischen den Einheiten übertrieben deutlich vorstellt oder die Ecktöne der Strukturen schwerer als die vermittelnden Töne. Etwas fehlt allerdings: Eine ›quantitative‹ Festlegung zu imaginieren, heißt noch nicht, Qualitäten wahrzunehmen (Verbindungen und Funktionen). In diesem Punkt scheint sich Schenker darauf zu verlassen, dass seine Leser eine bestimmte Fähigkeit abrufen können (die sie, wenn sie sie besitzen, nicht anders als durch Erfahrung erworben haben können). In der Tat kann ein Hörer erfahren, dass Töne und Klänge im Kontext einer Komposition Klangwirkungen besitzen können, die sie ohne den Satzzusammenhang nicht oder nicht in derselben Weise besäßen. Vermeintlich triviale Erfahrungen wie die, dass ›derselbe‹ C-Dur-Akkord inmitten einer syntaktischen Einheit anders klingt als an deren Ende, setzt die Schenker-Analyse als Grunderfahrung von Funktionalität voraus.20 Man könnte sagen: Schenker hofft darauf, dass die Versuche des Lesers, sich die vorgeschlagenen Einheiten der Töne ›quantitativ‹ zu vergegenwärtigen, auf die Wahrnehmung von (›qualitativen‹) Klangwirkungen führen. Der Leser ist angehalten, die Entdeckung der Klangwirkungen zunächst an den Diagrammen zu betreiben (die Diagramme haben auch einen didaktischen Sinn). Wer hintergründige Klangwirkungen beim Erklingen der Komposition (verständlicherweise) nicht auf Anhieb aus der Vielzahl der Klangwirkungen heraushören kann, den lässt das Hintergrund-Diagramm die entsprechenden Klangwirkungen separat erfahren (so dass der Leser die Erfah18 Schenker’sche Analysen besitzen einen imperativen Charakter. Sie fordern den Leser zum Hören der gemeinten Funktionen auf und möchten dadurch die Begegnung des Lesers mit der Komposition strukturieren. Dem imperativen Charakter entspricht die Bedeutung der Schenker’schen Analyse als Interpretation: Weil sie nicht sagt, wie die Komposition objektiv ist, weil sie nicht den Schaffensvorgang der Komponisten rekonstruiert und weil sie nicht das Ergebnis einer empirischen Untersuchung darüber darstellt, wie die meisten oder viele Hörer nach eigener Auskunft hören (vgl. hierzu Cook 1990, 4), sondern weil sie einen Vorschlag zur Auffassung macht, kann sie vernünftigerweise keinen Anspruch auf eine überprüf bare Tatsache erheben, sondern lediglich zum Zuhören auffordern und für ihre Sache werben. Der Leser soll durch Musizieren oder imaginativen Nachvollzug erfahren, warum es Sinn hat, die Komposition so aufzufassen, wie Schenker es vorschlägt. 19 Vgl. Fußnote 7. 20 Zum Problem der Begründung siehe Abschnitt 5.
Schenker-Analyse und Wissenschaft rung hernach auf die Komposition übertragen kann). Dass dies gelingt, beruht wiederum darauf, dass Schenker’sche Diagramme keine musikfernen Konstrukte darstellen, sondern Auszüge aus den Kompositionen und damit (klanglich realisierbare) Tonsätze, die die gleichen Klangwirkungen auslösen können wie die ihnen entsprechende Komposition – mit dem Unterschied, dass ein jedes Diagramm auf diejenigen Töne reduziert ist, die – nach Vorstellung des Analysierenden – für die Auslösung der Klangwirkungen der jeweiligen Schicht verantwortlich sind. Mit anderen Worten: Ein Mittelgrund-Diagramm hilft mittelgründige Klangwirkungen zu hören, weil die mittelgründigen Strukturen im Mittelgrund-Diagramm den Vordergrund bilden.
4. Das Verdienst der pragmatischen Lösung Schenkers Lehre verdient in drei Aspekten bis heute Beachtung: Sie ›verortet‹ Analyse an einer sinnvollen Stelle ›zwischen‹ Partitur und Aufführung, ihr Instrumentarium ist flexibel und differenzierbar genug, um singulären Verhältnissen der Kompositionen gerecht zu werden, im Hinblick auf den historischen Geltungsraum zeichnen sich die vorgeschlagenen Strukturen durch Pertinenz aus. In der Summe dieser drei Aspekte ist die Schenker’sche Analyse bis heute unübertroffen. a. ›Logischer‹ Ort der Analyse An die neuerliche Beschäftigung mit Schenker ist nicht selten die Hoffnung geknüpft, das Nullsummenspiel von wissenschaftlicher und künstlerischer Beteiligung an der Analyse auf neue Art zu durchbrechen.21 Vereinfacht gesagt gilt, dass eine Analyse, die wissenschaftlich verfährt, Vieles von der Kunsterfahrung außen vor lassen muss, wie umgekehrt eine Analyse, die möglichst viel von dieser Erfahrung integrieren möchte, nicht mehr in wünschenswertem Maße wissenschaftlich verfahren kann. Das alles hat – wieder vereinfacht gesagt – damit zu tun, dass Kunsterfahrung eine Begegnung mit dem einzelnen Werk (Singularität) ist, in dem die Teilmomente sich auf je eigene Weise wechselseitig (zwischen den Teilmomenten herrscht Interdependenz) zu Funktionen für das Ganze bestimmen (zumindest gilt das für die Kompositionen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, auf die Schenkers Analyse zielt). Wer der Voraussetzung von Singularität und Interdependenz gerecht werden möchte, gerät beinahe unweigerlich in das Fahrwasser einer (hermeneutischen) zirkulären Interpretation. Wer den Zirkel aus Gründen wissenschaftlicher Stringenz – oder aus Misstrauen gegenüber der Wissenschaftlichkeit deutender Betrachtungen – durchbrechen und deswegen seine Beobachtungen an der Musik in irgendeiner Weise auf allgemeine Prinzipien gründen möchte (die selbst wiederum durch Momente außerhalb des Kunstwerks – historisch 21 Vgl. den Beitrag von Frank Samarotto in diesem Band.
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oder systematisch – fundiert werden müssten), würde sich damit mindestens partiell über die Voraussetzung von Singularität und Interdependenz hinwegsetzen. Die Schenker’sche Lehre bietet für diese beiden einander widersprechenden Interessen einen Ausgleich. Einen künstlerischen Anspruch befriedigt sie, weil die Angabe von Strukturen von Vorstellungen der Klangwirkung geleitet ist. Dem Bedürfnis nach wissenschaftlicher Formatierung genügen die Analysen durch die Rückbindung an die ihr eigene Rationalität. Schenkers Lehre hat vor allem pragmatischen Wert 22, die Tiefen des Problemkomplexes Zusammenhang, Funktionalität, Analyse etc. lotet Schenker selbst nicht aus.23 b. Analyse-Instrumentarium Die von Schenker entwickelte Schichtenanalyse ist bis heute die einzige Analysemethode für das klassische Repertoire, die ein hohes Maß an Differenzierung mit einem ebenso hohen Maß an Rationalität verbindet. Differenzierung wird durch die Vielzahl der Begriffe, der Kombinationsmöglichkeiten sowie der Möglichkeiten der Schichtenzuordnung gewährleistet. Das Verhältnis zwischen Strukturen und Tonsatz ist nicht ein triviales, weil sich auch die Bedeutung stereotyper satztechnischer Konstellationen nicht bereits aus der Art der Konstellation ergibt, sondern vom Kontext abhängt. Fünf stufenweise absteigende Töne in der Partitur können auf unzählige Weisen interpretiert werden, beispielsweise als ausgefüllte Quinte (5-1), als ausgefüllter Dreiklang (5-3-1), als Quintzug (5-4-3-2-1), als Terzzug (3-2-1) mit vorangehendem Übergreifzug (5-4-[3]) oder als ein Liegeton (5) über einem Terzzug (32-1), dessen Kopfton (3) mit dem Liegeton (5) über einen Durchgangston (4) verbunden ist.
Da jeder strukturellen Deutung eine klangliche Außenseite entspricht, erlaubt es dieses Instrumentarium, den Eindruck der Klangwirkungen, den der Analysierende von der Komposition (im Laufe der analytischen Auseinandersetzung) gewonnen hat, detailliert darzustellen. Diese Flexibilität der Methode stellt die Voraussetzung dafür dar, sich der Singularität der Kompositionen zu nähern. Bei ihrer Ausrichtung auf die singulären Verhältnisse einer Komposition bleibt die Schenker’sche Analyse an die ihr eigene Rationalität gebunden. Von Vorteil ist dabei, dass Schenker dadurch von einer Vorstellung über musikalischen Zusammenhang aus interpretiert, die er mit gutem Grund (aufgrund der Vielzahl seiner Analysen) als Norm der damaligen historischen Kompositionspraxis setzen darf. Er vermeidet zwei fragwürdige Praktiken, nämlich Normen aus ad-hoc-Prinzipien zu gewinnen (also aus Regeln, die aufgrund eines sin22 Die Schenker’sche Analyse hat auch insofern einen pragmatischen Zug, als sie nicht auf ein ›Wissen, was‹ zielt, sondern auf ein ›Wissen, wie‹. Die Analyse erklärt nicht, was Funktionen und Zusammenhänge sind, sondern möchte zur Fähigkeit verhelfen, Funktionen und Zusammenhänge in konkreten Fällen zu hören. 23 Zu epistemologischen Problemen siehe nächster Abschnitt.
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gulären analytischen Befundes aufgestellt werden) oder in naiver Weise mit Regeln der (zeitgenössischen) Satzlehren gleichzusetzen. c. Pertinenz Es ist wohl keine Übertreibung zu sagen, dass der größte Erkenntnisgewinn ebenso wie der größte praktische Nutzen von den konkreten Vorschlägen Schenkers ausgeht, welche Strukturen und Verwandlungsprinzipien anzunehmen sind. Wer Schenkers eigene Analysen hörend nachvollzieht, kann feststellen, dass Züge, Ausfaltungen, Koppelungen etc. den wechselnden Situationen in der Musik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts in besonderem Maße gerecht werden. Gleiches gilt für das Grundprinzip der ›Verwandlung‹, nach dem das Komplizierte aus dem Einfacheren durch kontrapunktische Verfahren hervorgeht.24 Schließlich überzeugen die Schichtenanalysen (zumindest die vollständigen) dadurch, dass sie, über die Bestimmung der spezifisch Schenker’schen Strukturen hinaus, auch Interpretationen der Harmonie- und Motivverhältnisse enthalten. Im Gegensatz zu speziellen Harmonie- und Motivanalysen, die jene Verhältnisse in der Regel aus reduzierten Kontexten 25 heraus beschreiben, zeigen Schenkers Diagramme, wie Harmonien und Motive in den Gesamtzusammenhang einer Komposition eingebettet sind. Dadurch erst wird die eigentliche Formfunktion von Harmonien und Motiven angegeben. Was aber heißt es, dass die Analysen den Kompositionen ›gerecht‹ werden? Wer Schenkers Analysen als angemessen erfährt, hat den Eindruck, dass das strukturelle Deutungsangebot nicht nur formal stimmig ist (also konsistent ist und keinen Widerspruch enthält), sondern auch ›inhaltlich‹. Andersherum ausgedrückt: Eine ›misslungene‹ Schenkerianische Interpretation ist nicht nur formal, sondern auch inhaltlich falsifizierbar (wodurch sie überhaupt erst als misslungen eingestuft würde). Es ist möglich, dass ein Diagramm keinen methodischen Fehler enthält, aber nicht zur Komposition ›passt‹. Das ›Nicht-Passen‹ wäre kein Widerspruch innerhalb des strukturellen Gefüges, sondern eine klangliche Differenz, die zwischen dem Referenzpunkt des Diagramms und demjenigen der Partitur bestünde. Beispielsweise kann es der Fall sein, dass die Strukturen eines mittelgründigen Diagramms einen bestimmten Ton mit einer Klangwirkung erscheinen lassen, die man dem entsprechenden Ton inner24 Zum Vorbild der Diminutionspraxis für die Schenker’sche Analyse vgl. Martin Eybl in diesem Band. 25 Reduziert erscheinen die Kontexte von harmonischen und motivischen Analysen, weil sie primär die Bestimmung des Akkord-Typs und der Stufe innerhalb einer Tonart bzw. die Grade der Ähnlichkeit bestimmter melodischer Gestalten im Blick haben. Übertrieben wäre der Vorwurf, dass die Analyse-Methoden gänzlich von anderen als harmonischen und motivischen Umständen abstrahieren, aber sie beziehen andere als die ihrigen Momente in der Regel nur halbherzig mit ein, um die Stringenz des eigenen Ansatzes nicht zu gefährden.
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halb der Komposition nicht anhören kann. Daraus wäre zu schließen, dass der funktionale Zusammenhang der Töne, den man an der Komposition unbewusst erfährt, nicht den Strukturen entspricht, die im Diagramm angegeben sind.26 Die Kehrseite der hohen Pertinenz für das 18. und frühe 19. Jahrhundert ist die mangelnde für andere historische Zeiten. Angewendet auf die Musik vor 1680 und nach 1850 wirkt auch die Schenker’sche Analyse oft nur formal ›stimmig‹ – wenn überhaupt. An die Klangwirkungen der Kompositionen führt sie mit ihren kontrapunktisch basierten Verfahren nicht heran. Als Faustregel für die historische Relevanz kann gelten, dass diejenigen Komponisten, denen Schenker misstraut hat (Haßler, Schumann, Bruckner, Wagner), kompositorisch von anderen als Schenker’schen Voraussetzungen ausgingen. 5. Epistemologische Probleme Schenkers Lehre wirft zahllose epistemologische Fragen auf, denen sich Schenker selbst nicht gestellt hat, die aber in der Schenker-Nachfolge vielfach diskutiert wurden.27 Hier sei nur kurz auf diejenigen Probleme eingegangen, die unmittelbar mit der hiesigen Skizze zu tun haben. a. Problematisch ist das Verhältnis zwischen Strukturen und Klangwirkungen. Was sind Strukturen und wie verhalten sie sich zur Komposition? Können Strukturen die Empfindung von Klangwirkungen auslösen? Sind Klangwirkungen gar auf Strukturen reduzierbar? b. Auch die hier vorgeschlagene Auffassung der Schenker’schen Analyse als Form möglicher Aufführungen ist nicht unproblematisch. Eine Form ist (gegenüber jeder tatsächlichen Aufführung) ein abstrakter Gegenstand. Einen abstrakten Gegenstand kann man nicht hören. Wie aber soll etwas zum Hören anleiten, das man gar nicht hören kann? Zu überlegen wäre, ob Klangwirkungen als ›dispositionelle Eigenschaften‹28 verstanden werden können. Dies hieße, dass eine Komposition die Disposition besitzt, bei bestimmten Hörern bestimmte Klangwirkungen auszulösen. Das Auslösen wäre dabei an Bedingungen geknüpft, die sich objektiv angeben lassen. Eine erste Bedingung wäre trivialerweise die durch die Partitur definierte Auswahl und zeitliche Ordnung der Töne, eine zweite Schenkers Angabe eines strukturellen Gefüges, das auf der zeitlichen Ordnung ›superveniert‹, eine dritte schließlich der (für die Schenker26 Dass eine Auseinandersetzung über ›inhaltliche‹ Differenzen sachbezogen möglich ist, zeigt ein (bei William Drabkin abgedruckter Briefwechsel) zwischen Heinrich Schenker und Felix-Eberhard von Cube, in dem die beiden Autoren kontrovers über die Interpretation des Themas aus der Klaviersonate op. 26 (1. Satz) von Ludwig van Beethoven diskutieren. 27 Vgl. Cook 1987, 27–66. 28 Vgl. dazu Beckermann 2008, 83.
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Analyse) konditionierte Hörer. Nimmt demnach ein solcher Mensch eine bestimmte Komposition wahr, und dies im Sinne einer Schenker’schen Analyse, dann würde die Komposition bei ihm – wie bei jedem anderen Menschen unter äquivalenten Bedingungen – den Eindruck bestimmter Klangwirkungen auslösen. Von hier aus ließe sich reformulieren, was es bedeutet, dass Schenkers Analysen die Form möglicher Aufführungen angeben: Es hieße, dass Schenker über die Disposition der Partitur hinaus eine zusätzliche (supervenierende) strukturelle Disposition schafft, durch die ein konditionierter Hörer immer dann, wenn er die betreffende Komposition auf diese Weise hört, bestimmte funktionale Klangwirkungen erführe. 6. Anspruch an den Leser und Analysierenden Schenker’sche Analysen sind irreduzibel. Weil ihr ›Ergebnis‹ die Darstellung des gesamten komplexen Zusammenhangs einer Komposition ist, lässt es sich weder (in Worten) zusammenfassen noch mit einem Teilmoment (etwa mit dem Hintergrund) identifizieren. Zudem zielen Schenker’sche Analysen auf das Erlebnis von ›Qualia‹ (Klangwirkungen). Wissen, was ein Quale ist, heißt wissen, wie es sich anfühlt, ein Quale zu empfinden. Wer alles über Schenker’sche Strukturen weiß, aber nie erlebt hat, wie sich ein mittelgründiger Quintzug (verstanden als Funktion der Einheit innerhalb einer Komposition) anhört, der weiß – im Sinne von Frank Jackson 29 – eigentlich nicht, was ein Quintzug ist. Ihm ergeht es wie Mary, der Protagonistin in Jacksons berühmtem Gedankenexperiment, die normalsichtig ist und alles über Farben weiß, aber – infolge widriger Umstände – nie eine bunte Farbe zu sehen bekam. Schenkers Analysen verlangen also auch einen Leser, der dazu bereit ist, die angegebenen Strukturen zur Gänze an die Komposition heranzutragen und dabei die intendierten Klangwirkungen ästhetisch zu entdecken. Der Anspruch, den die Schenker’sche Lehre erhebt, ist für den Analysierenden höher als für den alleinigen Leser. Wer eine Analyse-Methode anwenden möchte, die in der Lage ist, der Komplexität einer Komposition methodisch zu folgen, bei dem muss zunächst einmal die Komplexität selbst angekommen sein. Der Komplexitätsgrad einer Komposition drückt sich in einer (im Vergleich zum Aufwand des Tonsatzes) hohen Anzahl von Klangwirkungen aus (ggf. auch in der Existenz seltener Klangwirkungen). Wer nach Schenker analysieren möchte, muss also seine Fähigkeit zur Diskrimination von Klangunterschieden hinreichend steigern: Wie klingt ein konsonant-gemachter Durchgang im Vordergrund und wie ein solcher im Mittelgrund? Wer strukturelle Detailentscheidungen treffen möchte, muss erst einmal ästhetische treffen können. 29 Jackson 2010.
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Der hohe Anspruch an Leser und Analysierenden und das damit verbundene Maß an Konditionierung stellen wohl das größte Rezeptionshindernis der Schenker’schen Lehre dar. Eine solche Konditionierung steht zwar grundsätzlich jedem offen, sie bedarf in der Regel jedoch einer längeren Anleitung. Die Erfahrung zeigt, dass die Schenker’sche Lehre nur in Ländern lebendig ist, die eine funktionierende institutionelle Lehrtradition ausgebildet haben. 7. Anhebung der Wissenschaftlichkeit Bis heute besteht ein großes Interesse daran, die Wissenschaftlichkeit der Schenker’schen Lehre zu heben.30 Vielleicht ist es die überzeugende rationale Fundierung der Analyse, die Hoffnung auf das Gelingen eines solchen Unterfangens macht. Die Probleme sind beträchtlich: Zu dem, was Schenker über eine Komposition zu sagen hat, gewinnt offensichtlich nur derjenige Zugang, der sich in eine bestimmte Perspektive begibt. Zu den Vorstellungen von wissenschaftlicher Gültigkeit gehört jedoch, dass eine Aussage aus unterschiedlichen Perspektiven heraus verständlich sein muss.31 Wer die Wissenschaftlichkeit der Schenker’schen Analyse heben möchte, kann auf diesen Umstand im Prinzip auf zweierlei Weise reagieren. Er kann erstens die Schenker’sche Analyse auf solche Interpretationen beschränken, die sich für differierende Perspektiven einsichtig machen lassen. Zweitens kann er die Bindung an eine bestimmte Perspektive für eine notwendige Voraussetzung der angemessenen Musikbetrachtung halten und – als Konsequenz daraus – versuchen, den Vorzug der speziellen Schenker’schen Perspektive ›wissenschaftlich‹ zu begründen, d.h. ohne bei dieser Begründung ebenjene Perspektive in Anspruch zu nehmen. Das Erste ist hauptsächlich in der US-amerikanischen Music Theory geschehen, das Zweite findet sich in jüngeren Publikationen aus Deutschland. a. Standardisierung Teile der nordamerikanischen Music Theory – verstärkt seit Entstehen der sog. orthodoxen New Yorker Schule unter dem Einfluss von Carl Schachter und Charles Burkhart – haben sich darum bemüht, Regelmäßigkeiten in der Beziehung zwischen Interpretation und Tonsatz herauszuarbeiten. Interpretationen sollen stärker und deutlicher als bei Schenker durch satztechnische Beobachtungen fundiert bzw. satztechnische 30 Für Schenker selbst war Analysieren der künstlerische Nachvollzug eines künstlerischen Schöpfungsaktes, die ›methodische Lücke‹ zwischen ästhetisch befriedigender Interpretation und wissenschaftlicher Fundierung glaubte er durch Kongenialität überspringen zu können. 31 Dabei wird nicht verlangt, dass eine Analyse des musikalischen Zusammenhangs aus allen möglichen Perspektiven heraus verständlich sein muss; denn ohne ein Mindestmaß an perspektivischer Voreinstellung zeigt sich musikalischer Zusammenhang nicht.
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Beobachtungen zum Anlass für bestimmte Deutungen genommen werden. Der Tonsatz fungiert unter diesen Bedingungen als ›Kriterienträger‹, an dem die Überprüfung von analytischen Entscheidungen auch für ›Außenstehende‹ jederzeit möglich ist. Dieser Ansatz, der Schenkers eigenen Weg der ›künstlerischen‹ Interpretation verlässt, lässt sich durchaus sachlich rechtfertigen; denn musikalischer Zusammenhang ist nicht nur in jedem einzelnen Fall an konkrete Inhalte geknüpft, darüber hinaus hat es zu allen Zeiten vorübergehende Koppelungen zwischen satztechnischen Verfahren und Funktionen des musikalischen Zusammenhangs gegeben.32 Eine solche historisch vorübergehende Koppelung von satztechnischer Konstellation und Bedeutung könnte man in Anlehnung an Niklas Luhmann ›Standardisierung‹ nennen. Wer eine Standardisierung aufzeigt, führt ein methodisches Interpretationsmuster in den Diskurs ein, das in den folgenden Analysen als Deutungsangebot für bestimmte satztechnische Konstellationen zur Verfügung steht. Als Entdeckung einer Standardisierung könnte Carl Schachters Angebot betrachtet werden, den übermäßigen Quintsextakkord in ›phrygischen Halbschlüssen‹ als Resultat des Stimmtauschs auf einen vorangehenden Grundakkord der Subdominante zu beziehen. (Schachters Interpretation taucht vereinzelt bereits bei Schenker auf, lässt sich dort aber noch nicht als Entdeckung einer Standardisierung interpretieren.)33 b. Vollständigkeit Bruno Haas ist es um den Nachweis zu tun, dass gerade die Schenker’sche Analyse die Voraussetzungen dafür bietet, die Kompositionen einer bestimmten Zeit (dabei denkt Haas vor allem an die Barock-Zeit) als Kunstwerke angemessen zu interpretieren, und sie vermag dies gerade dann, wenn sie so radikal und konsequent betrieben wird wie von Schenker selbst. Wesentlich für die Erläuterung dieser Position ist das Zusammenspiel der Begriffe Funktionalität und Deixis. Funktionalität bildet nach Haas die zentrale Voraussetzung von Kunst seit dem 17. Jahrhundert. Dass sie Funktionen hervorbringen können (bzw. dass der Hörer 32 Beispielsweise werden viele Epiloge in Sinfonien des späten 18. Jahrhunderts durch einen Oktavzug auskomponiert (auch unser Eindruck von Zeit- oder Personalstil dürfte ein Hinweis auf diese Koppelung sein). 33 Man könnte sagen: Die US-amerikanische Music Theory hat die Schenkerian Analysis, die bei Schenker selbst eine Kontemplation des Kunstwerks war, zu einem Mittel der Problemlösung gemacht, indem sie den Fokus auf das Entdecken von Standardisierungen gerichtet hat. Texte, die explizit oder implizit über Standardisierungen arbeiten, neigen zu thesengeleiteten Erörterungen. Nicht selten behandeln sie Einzelfragen zu Satztechnik, Harmonik, Formbildung oder Instrumentation. In vielen Aufsätzen geht es um Stimmführung, auffallende harmonische Wendungen, Modulationen, Durchführungsgestaltung, Formbildung, satzübergreifende Verknüpfungen usw. Letztlich dient die Schenkerian Analysis dazu, geeignete musikwissenschaftliche Fragen zu beantworten.
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an ihnen funktionale Bestimmungen erfahren kann), begründet den Kunstcharakter von Kompositionen des 17. und 18. Jahrhunderts. Funktionen entstehen ›relational‹, d.h., sie sind Bestimmungen, die musikalischen Ereignissen allein dadurch zukommen, dass sie Teilmomente der Komposition sind. Da der Kontext einer Komposition letztlich immer ein singulärer ist, sind Funktionen an die Singularität der Komposition gebunden, bzw. sie sind selbst ein Moment dieser Singularität. Als singuläre Bestimmungen lassen sich Funktionen nicht erschöpfend erklären oder kategorisieren, sondern nur zeigen. Die Aufgabe der Schenker’schen Diagramme ist daher die Deixis: Die Diagramme lassen jedes Ereignis der Komposition als einmalige Position in einem strukturellen Gefüge erscheinen, und mit der Positionsangabe verweisen die Diagramme auf die Funktion des betreffenden Ereignisses (die Funktion selbst ist den Strukturen inkommensurabel). Deixis gelingt nur dann zuverlässig, wenn die Schichtenanalyse vollständig ist; denn nur die Vollständigkeit des strukturellen Gefüges gewährleistet, dass die Positionsbestimmung einzelner Stellen aus der Vermittlung mit dem Ganzen der Komposition heraus geschieht. Diese Vermittlung wiederum ist notwendig, weil Singularität an das Werkganze gebunden ist.
III. Zur Relevanz von Schenkers Lehre heute Die Relevanz der Schenker’schen Lehre für die heutige Musikforschung betrifft vor allem drei Punkte. 1. Die Lehre Heinrich Schenkers bildet ein Korrektiv zur Praxis der historischen Forschung. Sie hält die Erinnerung daran wach, dass Kompositionen der Vergangenheit – sie mögen noch so sehr Dokumente ihrer Zeit sein – immer auch Kunstwerke sind und dass alle zentralen Fragen, die direkt oder indirekt mit dem Kunstcharakter zu tun haben (zum Beispiel Fragen nach Tonalität, Rhythmik, Metrik, Sonatenform, Stil), eine wissenschaftliche Methode erfordern, die auf eine rational gelenkte und kontrollierte ästhetische Vergegenwärtigung zielt. Eine Wissenschaft von den historischen Formen des musikalischen Zusammenhangs kann nicht als Kulturwissenschaft betrieben werden.34 34 Argumentative Schützenhilfe kommt von Carl Dahlhaus (1977, 49). Das doppelte Interesse der Musikgeschichtsschreibung an Kompositionen (als historischen Dokumenten und als ästhetischen Gegenständen) begründet eine Spannung innerhalb der Disziplin: Die Aufarbeitung historischer Dokumente geschieht anders als die Vergegenwärtigung ästhetischer Gegenstände. Wer beides möchte, wer sowohl Geschichte als auch Geschichte von Kunst schreiben möchte, der sollte nach Dahlhaus versuchen, »in der inneren Zusammensetzung der Werke deren geschichtliches Wesen abzulesen.« Geschichte zeigt sich am Gegenstand als spezifische Inanspruchnahme von Funktionalität, methodisch spiegelt sie sich in einer adäquaten Form der Strukturanalyse.
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2. Aus heutiger Sicht ist der funktionale Zusammenhang der zentrale Gegenstand der Schenker’schen Lehre (und aller Theorien von ähnlicher Ausrichtung). Generell kann die Bedeutung des musikalischen Zusammenhangs, wie ihn Kompositionen vom 17. bis 20. Jahrhundert auf je unterschiedliche Weise hervorgebracht haben, nicht hoch genug veranschlagt werden; denn dem Zusammenhang ist der Eindruck zu verdanken, dass Kompositionen zu uns ›sprechen‹. Was auch immer Kompositionen hervorbringen, bei uns auslösen oder was wir in sie hineinlegen, ob Ausdruck, Spannung, Affekt, Schönheit etc., all dies setzt im Kern voraus, dass das bloße zeitliche Arrangement der Töne an eben diesen Tönen für uns Eindrücke von Klangwirkungen auslösen kann, die diese Töne außerhalb des Arrangements nicht hätten. Es scheint, als würden die Anstrengungen, die erforderlich sind, um den Zusammenhang einer Komposition analytisch zu bestimmen, in der deutschen Musikforschung noch mehr als achtzig Jahre nach Schenkers Tod in grotesker Weise unterschätzt. Keines der geläufigen Analyse-Verfahren (etwa die Bestimmung von Harmonien und Harmoniefolgen innerhalb einer Tonart, von ›motivischen und thematischen Beziehungen‹, von satztechnischen Modellen, von Formabschnitten und ›Endigungsformeln‹) wird für sich oder im Verbund mit den anderen dem komplexen Gegenstand Zusammenhang gerecht, allein deswegen nicht, weil alle diese Verfahren keine Formen von Schichtenanalyse darstellen und sich in ihrer Betrachtung auf das beschränken, was bei Schenker der Vordergrund heißt. Paradoxerweise werden auch sogenannte ›Individual-Analysen‹ dem Anspruch an eine konsistente Bestimmung des musikalischen Zusammenhangs nicht gerecht. Wer in der gutgemeinten Absicht, die ›individuelle‹ Konzeption eines Stücks zu beschreiben, zwar detaillierte Beschreibungen abgibt, aber auf eine Fundierung der analytischen Einsichten durch allgemeine Grundlagen des musikalischen Zusammenhangs frühzeitig oder gänzlich verzichtet (mit dem Argument, dass sich ›Individualität‹ einer Bestimmung nach Regeln entziehe), verfehlt, was er erreichen möchte. Zwar stimmt es, dass die Singularität einer Komposition nicht auf Regeln zu bringen ist, aber erstens ereignet sich Singularität (zumindest im 18. und 19. Jahrhundert) nie voraussetzungslos, sondern teilt sich wesentlich im Medium der jeweils herrschenden Funktionalität mit und unterliegt darum den Bedingungen des Mediums (kein singulärer Einfall von Mozart würde sich mitteilen, wenn er nicht auch tonal wäre). Zweitens ist Singularität nicht in der Substanz der Ereignisse, sondern funktional begründet: Sie beruht darauf, wie sich die Teilmomente des Tonsatzes miteinander verbinden; Verbindung aber setzt Formen der Einheit voraus, zu denen sich die Teilmomente zusammenschließen können; diese Einheiten aber sind selbst nicht singulär, sondern notwendig allgemein. Wer sich also dem ›Individuellen‹ einer Komposition nähern möchte, muss mit seinen Analysen – so wie es Schenker getan hat – in den singulären Beziehungen zugleich
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die allgemeinen Formen der Einheit aufdecken, weil sie die Bedingungen darstellen, unter denen sich Singularität ereignen kann. 3. Die Ansprüche, die Schenkers Analyse hinsichtlich Präzision, Detailliertheit und theoretischer Fundierung stellt, fallen auf sie selbst zurück. Soll die Methode ihr Niveau halten, um in der modernen Musikforschung bestehen zu können, muss sie permanent verbessert werden. Obwohl viele Analysen von Schenker selbst, dem bislang herausragendsten Schenkerianer, nach wie vor Beachtung verdienen, wird man auch in Zukunft über Schenker hinausgehen müssen, wie es vor allem in der USamerikanischen Music Theory in den letzten fünf Jahrzehnten geschehen ist (auch die vermeintliche Rückkehr zum originalen Schenker in der New Yorker Schule ist zugleich eine Weiterentwicklung gewesen). Dort – aber auch in Deutschland – wurden Möglichkeiten erprobt, die Schenker’sche Analyse innerhalb ihres Geltungszeitraums für unterschiedliche historische Provenienzen von Kompositionen zu sensibilisieren. Über diese Entwicklungen ist die Schenker’sche Methode selbst partiell überholt worden, vor allem wenn es um Musik des mittleren und späten 19. Jahrhunderts geht. In den USA hat sich die Neo-Riemannian Theory als eine mögliche Alternative zur Schenkerian Analysis herausgebildet, in Deutschland wird unter anderem die Analyse nach Tonfeldern von Albert Simon erprobt. Die Bereitschaft dazu, die Schenker’sche Methode auch in der historischen Musikforschung einzusetzen, wird davon abhängen, ob und wie weit das Potential zur historischen Differenzierung, das Schenkers Methode durchaus besitzt, erschlossen und in eine praktikable Methodik gegossen wird. Ansätze dazu gibt es bereits. Die Situation, in der sich die Auseinandersetzung mit der Schenker’schen Lehre momentan findet, spiegelt sich in diesem Band wider.
Literatur Beckermann, Ansgar (2008), Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin u. a.: de Gruyter. Blasius, Leslie David (1996), Schenker’s Argument and the Claims of Music Theory, Cambridge: Cambridge University Press. Cook, Nicolas (1987), A Guide to Musical Analysis, London: J. M. Dent & Sons Ltd. ——— (1990), Music, Imagination & Culture, Oxford: Clarendon Press. Dahlhaus, Carl (1977), Grundlagen der Musikgeschichte, Köln: Hans Gerig. Drabkin, William (1996), »Schenker, the Consonant Passing Note, and the First-Movement Theme of Beethoven’s Sonata Op. 26«, Music Analysis 15 (2–3), 149–189.
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Goodman, Nelson (1997), Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Haas, Bernhard (2003), »Über die Analyse von Musik des 17. bis frühen 19. Jahrhunderts«, in: Bruno Haas, Die freie Kunst. Beiträge zu Hegels Wissenschaft der Logik, der Kunst und des Religiösen, Berlin: Duncker & Humblot, 256–272. Jackson, Frank (2010), »Epiphänomenale Qualia«, [1982], in: Grundkurs Philosophie des Geistes, Bd. 1, hg. von Thomas Metzinger, Paderborn: Mentis, 83–88.
Reicher, Maria E. (2010), Einführung in die philosophische Ästhetik, 2. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Schwab-Felisch, Oliver (2009), »Wie totalitär ist die Schichtenlehre Heinrich Schenkers?«, in: Systeme der Musiktheorie, hg. von Clemens Kühn und John Leigh, Dresden: Sandstein, 31–55.
——— (2014), »›Die streng logische Bestimmtheit im Zusammenhang einfacher Tonfolgen mit komplizierten‹. Zu Heinrich Schenkers Begriff musikalischer Logik«, in: Musikalische Logik und musikalischer Zusammenhang, hg. von Patrick Boenke und Birger Petersen, Hildesheim u.a.: Olms. Snarrenberg, Robert (2005), Schenker’s Interpretative Practice [1997], Cambridge: Cambridge University Press.
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2 The Curious Incident of the Dog in the NightTime: The Importance of Non-Events CA R L SCH ACH T ER
Here is a famous bit of dialogue from Arthur Conan Doyle’s short story “Silver Blaze.” It is a conversation between Sherlock Holmes and the local police inspector, both of whom are investigating the theft of a racehorse. The inspector asks, “Is there any other point to which you would wish to draw my attention?” “To the curious incident of the dog in the night-time.” “The dog did nothing in the night-time.” “That was the curious incident,” remarked Sherlock Holmes.
Holmes later explains that the midnight intruder who stole the horse from its stable must have been a person the dog knew well. Otherwise it would have barked and awakened the stable boys. A non-event—the dog’s not barking—becomes an “incident,” an essential link in the chain of evidence that enables Holmes to narrow down the list of suspects and solve the mystery. Non-events can form part of a musical composition. This will occur when the music seems to point to a specific goal, and that goal fails to materialize. In some pieces, the non-event, like the dog in the night-time, becomes a salient feature of the piece, an important part of the compositional idea. In this talk, I shall explore this possibility in three pieces: a sonata movement of Beethoven and two songs, one by Schubert and the other by Brahms.
Beethoven, Piano Sonata, Opus 10, No. 2 Our first example occurs at the end of the development section in the first movement of Beethoven’s Piano Sonata, Op. 10, No. 2 (Example 2.1). This development moves immediately from the exposition’s closing key of C major to a key built on the upper
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neighbor of C, D minor. The D minor moves to B! major in bar 91, and that latter harmony comes back in bar 112 as an augmented sixth leading to a 64 on A.1 The A turns out to be a dominant pedal leading to the very unusual recapitulation, which begins in D major. Schenker published an analysis of this movement in his essay on organicism in sonata form.2 The analysis includes a sketch of the development (Fig. 5), on page 50 of the German edition and on page 27 of the English. It is clear from this sketch that Schenker hears the D-major recapitulation as completing a vast composing-out of the D triad that begins with the development’s D minor. If you consult his analysis, you will note the label “Nbn” (Nebennote) extending from measure 69 through the D-major passage that begins the recapitulation. The harmonic aspect of this composing-out involves the progression I (D minor) - VI (B! major) - V (the pedal point on A) - I (D major). But let us take a closer look at measure 111. The B§ in the bass is marked fortissimo and would at first seem to form the culmination of the crescendo that began in measure 107 and that reached forte in measure 109. Why such emphasis on the B§? Surely because it would provide a perfect entrée into C, the home dominant, which would then lead, almost inevitably, to a normal recapitulation beginning in F major instead of the “wrong” key of D major. Both the local and large-scale bass progressions would lead most effectively to this B§. Locally, from measure 107, we would find the bass line F-D!-C-B§, which suggests an immediate resolution to C as the V of a putative F minor or major. And the large-scale bass line, starting far back in measure 69 would have been D-B!-B§-C—a most effective way to lead into a structural dominant, calling upon its upper and lower neighbors and a leading tone passing from the lower neighbor to the V. In Example 2.2, I have sketched out a plan for this development had it proceeded normally to V. I have also added a hypothetical ending for this hypothetical development. In the actual sonata, of course, the B§ of measure 111 is not the peak of the crescendo. Beethoven gives the B! of measure 112 still more emphasis, providing it with a sforzando marking, and making it a quarter note instead of an eighth. It is as if he saying to the listener, “No! We’re not going to C as you had thought, we’re going to A instead.” And that move to A leads as a necessary consequence to the D-major beginning of the recapitulation. To be more precise, the thematic aspect of the recapitulation begins in D, but harmonically we are still in the domain of the development section. The harmonic recapitulation arrives with the F major of measure 137 and with it most of the first theme. But the opening four measures of this theme are never heard in the tonic key. 1 The augmented sixth is notated as a seventh chord with an A! instead of a G#. 2 Schenker 1926, 49–50. The three parts of Meisterwerk have been reprinted in one volume in reduced facsimile (Schenker 1974). For an English translation of this essay, see Schenker 1996. The discussion of Opus 10, No. 2 is on pp. 25–7.
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If we look at Schenker’s graphic analysis, we see that he shows the B§ of measure 111 merely as part of a transition from D to B!; Schenker does not point out that it forms a dramatic turning point where an expected outcome is blocked and an unexpected one takes its place. As I see it, Schenker’s analysis provides a correct reading of the voice leading in retrospect, but it fails to account for the dramatic sequence of events that a prospective view would entail. To be fair, however, I should mention that he is mainly concerned with motivic design in this sketch, and that he gives an extraordinarily compelling account of the adventures of the movement’s basic motivic element, a rising and falling third. Incidentally, Donald Francis Tovey similarly ignores the dramatic importance of the B§; noting that the bass arrives at D!, he states that it then “proceeds chromatically down to A (reached after 2 bars, with enharmonic change of seventh on B! to augmented sixth).”3 If we see a person in full formal evening dress at the opera, we think nothing of it. But if we were to see the same person similarly dressed at a beach where most people are wearing skimpy bathing costumes, the formal dress would look quite different to us. Rules and conventions, whether in the real world of daily life or in the virtual world of music, are often especially potent when they are contradicted, for the contradiction is apprehended against the background of the rule or convention it flouts. In the Beethoven development, the arrival on B! in measure 112 is not simply a return to a conceptually retained bass tone, as Schenker implies. Nor is it simply a step on the way to A, as Tovey implies. No, it is a temporary subversion of the norms of sonata writing, a subversion in which a non-event, the “missing” dominant, is the “dog in the night-time.”
Schubert, “Gefrorne Tränen” One of the many unusual features of Schubert’s great song “Gefrorne Tränen” is its tendency to gravitate towards and tonicize the mediant again and again. The song is in F minor, and it is 55 measures long. Within this rather brief composition, A! major is tonicized no fewer than five times, each time preceded by its dominant and sometimes a subdominant as well; the tonicizations occur in the piano introduction and postlude (measures 4–5 and 52–53), and three times in the main body of the song (measures 12–19, 28–33, and 40–43). That this emphasis on the third scale degree was part of Schubert’s initial conception is suggested by an early version of the piano introduction preserved in the autograph; I reproduce it as Example 2.3. The two most unusual tonicizations are those that occur in the music for the second and third stanzas of the three-stanza poem. What is unusual about them is the way they are approached. Both times the A! major follows a dominant of F minor, and 3 See Tovey 1931, 51.
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both times the progression from that dominant involves the chromatic lowering of E§, the leading tone of F minor, to E!. In the second stanza, the V chord of F minor progresses directly to the V of A!; the E§-E! succession is very prominent (see Example 2.4, measures 23–26). In the third stanza, the dominant chord of an expected strong (and perhaps even final) cadence is deflected out of its path; it leads to an embellishing diminished seventh, which resolves into the V of A!. The E§-E! is less prominent, but the passage as a whole is at least equally striking because of its subversion of an expected move toward closure. One would imagine that these unusual sequences of musical events must be related in some way to the text, and so they are. The central image of the poem is presented in the title: it is the protagonist’s tears, which are so tepid, so weak, that they freeze to ice, even though they surge red-hot from his breast, as if they would melt all the ice of winter. This image has a musical analogue: a leading tone, E§, that like the tears is so tepid and weak that it cannot rise to F but must sink to E!. Look at measures 23–26: the music containing the progression E§-E! is set to the words “seid ihr gar so lau, daß ihr erstarrt zu Eise.” On the word “erstarrt”, the music makes the fatal move from E§ to E!. And in measures 38 and 39, the move from the dominant to the diminishedseventh chord also brings with it a descent from E§ to E!; once again the leading tone has lost its potency. Surely the failed leading tone of measures 38 and 39 descends to E! against the background of an expected rise to F. The missing F is a non-event whose non-appearance immeasurably adds to the emotional power of the passage, especially for a listener aware of how the music relates to the text. In this connection, the final cadences of the vocal line and the postlude take on special significance; both end with E§-F, for the singer an octave higher than one would expect. It is as if the music is saying “this is the way it ought to be, but never will be.” Schubert’s songs often depict positive and negative possibilities by means of rising (positive) or falling (negative) melodic progressions. Typically, these progressions begin with enharmonic variants of the same sound. Thus in “Letzte Hoffnung,” B§-C means the leaf stays on the tree, while C!-B! means the leaf falls, and with it the protagonist’s hopes. In “Der Neugierige,” F?-G# means the girl loves him; G§-F# means she doesn’t. In “Gefrorne Tränen,” the binary opposition up / down does not directly invoke an enharmonic association, but such an association does operate in a more indirect way. In the piano introduction, the E§s of the first two measures contrast with F! in measure 4. The same juxtaposition of E§ and F! recurs when an expanded version of the introduction accompanies the vocal line of the first stanza (E§ in measures 8–10 and F! in measure 12). And the music for the second stanza has a particularly impressive contrast between E§ and F! in measures 23–26. These repeated appearances of F!-E! resonate with the E§-E! of the failed leading tone and create a kind of semi-concealed motive that permeates the entire song.
The Curious Incident of the Dog in the Night-Time
In my analytic sketch (see Example 2.5), I have marked with brackets, and sometimes with pitch names, the appearances of E§-F and F!-E!. The sketch also shows my conception of the bass line and harmonic structure. Let us look at the introduction. As Example 2.5 points out, the A! forms part of a rising bass line leading from I to V. The line is essentially stepwise, a Quintzug, but between the A! and the C, D! substitutes for B!. This rising line, F-G-A!-D!-C, traces a path that the rest of the song attempts to follow; of course the song as a whole will need to complete the harmonic progression by reaching a closing tonic. The motion along this path begins immediately with the entrance of the voice: the piano accompaniment consists of an expanded repetition of the first part of the introduction, but with a prolonged halt on A!, which serves as a first harmonic goal. The piano interlude between the first two stanzas starts out in A!, but in measure 21, it moves to C, the dominant. Note the D! immediately before the goal C, which completes the resemblance to the bass plan of the introduction. With the C-major harmony at the beginning of the second stanza (measure 21), the texture changes to a mysterious unison, and the melodic contour changes with it. In measure 25, as we have already seen, E is unexpectedly lowered to E!, and the harmony changes to a V of A!, leading to that key for the beginning of the third stanza. In this process, the V of F minor is revalued as a III with raised third in A!. The passage (measure 35); at in A! leads into a characteristically Schubertian pedal point on D! first the D! sounds like a V of G!, but an enharmonic transformation turns the putative dominant into an augmented sixth, which resolves into C as V of F minor. Note that the bass note A! once again has led to C via D!, as in the introduction and in the music for the first stanza. This time, every perceptive listener expects the C to move to F in an authentic cadence, not only because the cadence seems to have begun already, but also because the poem seems to have come to an end (and in fact has done so). But, as we have seen, the expected F-minor tonic fails to appear, deflecting the tonal center once more toward A!, the music, once more in that key, repeating the phrase that sets the third stanza. This time, however, the authentic cadence is completed, the vocal line ends in measure 49, and the piano postlude repeats the music of the introduction but with a powerful authentic cadence that answers the half cadence of the introduction and provides strong closure. “Gefrorne Tränen” is the third song in the cycle, and the one in which the tone of hopelessness first becomes evident. In connection with the text, Schubert is miraculously able to express this profound pessimism in his musical setting. The inability of the leading tone to find its way to the tonic at two critical places in the song, and the music’s concomitant inability to get beyond the mid-point of its journey to a final tonic: both of these underscore the predicament of the protagonist, whose suffering will not lead to any redemption, whose tears will never melt the ice.
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Brahms, “Meerfahrt”
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Something related, but by no means the same, happens in the upper voice of my final example. It is a late song of Brahms, “Meerfahrt,” Opus 96, No. 4, published in 1886, and written to a poem taken from Heinrich Heine’s Lyrisches Intermezzo. (The song’s title is presumably by Brahms; Heine’s poem has no title.) The song begins with an unusually long and significant introduction, almost as if it were the beginning of a solo piano piece. Brahms’s biographer Max Kalbeck locates the song in Naples or Sicily; he writes that this prelude evokes the impression of old Sicilian folk music in which the Arabic influence is audible.4 Much of the exotic sound of the introduction comes from the melodic contour of its opening motive (Example 2.6, measures 3–6 with upbeat). The long F# of measure 3 is particularly baffling. At first one hears it as the upper neighbor of E; it comes from and returns to E, and the E remains the mentally retained top-voice note for measures 4 and 5. Brahms’s slurs also strongly support this interpretation. But F# is a rather uncomfortable neighbor, for #6 in minor has no inherent tendency to descend to 5; it almost invariably rises to #7 and on to the tonic. When we arrive at measure 6, we encounter the very G# that constitutes the normal continuation of our F#. In the second volume of Kontrapunkt, Schenker explains that a local neighbor-note figure might form part of a large-scale passing motion: thus E-F#E-G# might express the line E-F#-G#, as I show in Example 2.7.5 In this passage, the long-range passing function of the F# is clearly more central than the local neighboring one; the basic sense of the motive is a rising third, E-F#-G#. But this rising third itself sounds incomplete, for it stops on a leading tone that needs to resolve to a tonic. The completion on the tonic, A, occurs in measure 7, and we realize that the linear progression in the middleground is not the tonally incomplete motive of the rising third, but rather the fourth, E-F#-G#-A. The fourth, however, is articulated on the foreground as the third-motive plus a second, with a noticeable halt on G# and a caesura between the G# and the A. Note the forte marking at measure 7, which suggests that a new phase of the melody is beginning. Heard in context, measures 3–6 un questionably express a harmonic motion from I to V in A minor, but heard in isolation, they might suggest a plagal progression in E. This tension between the detail and the larger harmonic framework is particularly unusual at the very opening of a composition, and it adds to the exotic effect of this introduction. A noteworthy feature is the melodic emphasis on 4 Kalbeck 1913, 534. I am inclined to locate the song further north, specifically near Venice. The rhythm suggests a Barcarolle, and the accompaniment figure is reminiscent of Mendelssohn’s first Venetianisches Gondellied, Opus 19, No. 6. Even the tempo indication—Andante sostenuto—is the same as Mendelssohn’s. 5 Schenker 1922, 74. Also see Schenker 1987, 74.
The Curious Incident of the Dog in the Night-Time
F§ as the introduction reaches its close—see measures 8–13. The F, with its tendency to move down, acts as a kind of corrective to the strange F# of measures 2 and 3. The music for the first stanza does not refer directly to the opening idea of the introduction, but at the very end of the section (measure 29 with upbeat), the music of measures 1–4 returns as a kind of ritornello, overlapping the final cadence. It does so transposed to the key of the minor dominant, for at measure 29 we reach the tonic of E minor following a long preparatory dominant. This time, the motive’s rising third is B-C#-D#, and we have two good reasons—the harmonic context and our prior experience—to expect an E to follow, completing the ascent with an arrival on the local tonic. I provide a sketch for the events of the first stanza and interlude in Example 2.8. When the voice enters at the beginning of the second stanza, however, the line returns to B, and though it makes several attempts to rise, it never reaches E as a goal. Compare the score with the sketches in Example 2.9. In measures 34 and 35, the B moves to C# as part of a very fleeting tonicization of D major. Curiously, the C# does not continue up to D§, but sinks back through B to A as the top voice of the D chord (measure 36). The harmony then progresses to G major, III of E minor, and the melodic line returns to B as its central tone (measures 37–39). The next harmonic move is to E major (measure 40), and again we have a return to the initial motive. This time, the melodic line presents B, C#, and D# in a compressed version of the motive. In its new form, the motive strongly expresses the neighbor-note function of the C#, for the tone is embedded in an embellishing diminished-seventh chord, a characteristic neighbor-note formation. In addition, the immediate environment is major, and the 5-6-5 progression has none of the problematic character of the version in minor with #6. When the D# enters in measures 43 and 44, however, our ear almost inevitably connects it with the long and prominent C# we have just heard, and registers an interrupted passing motion rather than a neighbor-note progression followed by a leap. (Remember Schenker’s idea that a neighbor-note progression can conceal an underlying passing motion.) The D# of the top voice is reinterpreted as E! over an A!-major harmony. Again we have an embellishing diminished-seventh chord supporting an upper neighbor, this time F as neighbor to E!. In measure 48, the diminished seventh, now with A! changed to G#, is the means of a return to the A-minor tonic. Of course the G# diminished s eventh is related to dominant harmony, and indeed it works here as the end point of the big composing out of the dominant that Brahms had initiated back in measure 29. Why he did not end this prolongation with a V triad or seventh chord is an interesting question. Nothing would have been easier than to lead the chord of A!C-E! to G#-B-E. Had Brahms composed in this way, we would have had a completion on E of the line B-C#-D# that twice (in the piano part of measures 28–32 and the vocal line of 40–44) failed to reach its expected goal. And in so doing, the song would
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have returned to the initial tone of the Urlinie. But by substituting F for E, Brahms expresses musically the sense of the poem at this point. Just as the boat floats past the magic island, leaving the lovers bereft of happiness, so the music fails to land on the E that would have brought fulfillment to the musical line, floating past it to a dissonant and troubling F. The missing E is the song’s “dog in the night-time,” the non-event whose absence is almost as much a part of the music as is the sound that replaces it. I’d like to return briefly to the extended A!harmony that helps to prepare for the diminished seventh with its top-voice F. As Example 2.9 indicates, A! major is a purely notational substitute for G# major. The chord of G# major is an altered VII in the key of E, and like many instances of VII, including the diminished seventh on G#, it implies dominant harmony; VII functions as the upper third of V. Thus both the A! chord of measures 44–47 and the diminished seventh of measures 48–52 continue the composing-out of V that begins in measure 29. The use of a flat key makes reading the score much easier by avoiding double sharps, but there may be more important issues involved: the spirit island seems more dreamlike and magical in the notation with flats. And the return to sharps, when bass A! mutates to G#, suggests a return to reality—an unhappy reality for the lovers. Of course listeners not provided with scores will not notice the enharmonic notation, but insightful performers will notice it and possibly color their performance accordingly. Example 2.10 sketches the end of the song. Its tonal function is that of a reprise in an ABA form, but its motivic contents make it a reprise of the piano introduction rather than the music for the first stanza of the poem. As at the end of the introduction, the emphasized F§s contrast with and “correct” the anomalous F# of the opening gesture (here brought back in measures 54–55). Normal human misery replaces the vain attempt at an unattainable happiness initiated by the F# (“der fatale Ton,” as Kalbeck calls it). Examples 2.11 and 2.12 complete my graphic analysis of the song. Example 2.11 is a middleground sketch of the whole song, intended to integrate into one picture the details I have shown earlier. And Example 2.12 attempts to explain the contrapuntal and rhythmic structure of measures 48–54, a particularly complex and difficult part of the song. Because these two examples complete my graphic analysis of the song, I reproduce them here, even though they do not bear directly on my main topic of non-events.
Conclusion In closing I should like to make it clear that the non-events I have described in this paper are not to be confused with the implied tones that occur, usually in parentheses, in Schenkerian graphic analyses. Those implied tones form part of the “imaginary continuo,” to use William Rothstein’s term, and they therefore have a kind of ideal ex-
The Curious Incident of the Dog in the Night-Time
istence at some higher level. If the analysis is convincing, the listener can integrate the implied tone into the fabric of the passage. Thus in Schenker’s analysis of the B-major fugue subject from Book II of the Well-Tempered Clavier, an F# appears together with the first two notes B and D#, forming a tonic triad. This reading suggests that when we hear the two real notes in a low register, we assume that they are the root and third of a tonic chord, especially since the Fugue follows a Prelude that has firmly established the key of B major. In that sense, the implied F# is an integral part of the composition, even though it is not part of the sonic fabric. My non-events, on the other hand, are tones and chords whose absence, not presence, is an integral part of the compositional idea. They have no ideal existence at a higher level in the composition itself. Instead they suggest how the music might have sounded if the composer had written a related but different piece, an imaginary piece that tells a different story from the one the real piece tells.
References Schenker, Heinrich. 1922. Kontrapunkt II. Vol. 2 of Neue musikalische Theorien und Phantasien. Vienna: Universal Edition.
——— . 1926. “Vom Organischen der Sonatenform.” In Das Meisterwerk in der Musik. Vol. 2. Munich: Drei Masken Verlag, 45–54. ——— . 1974. Das Meisterwerk in der Musik (1925–30). 3 vols. Hildesheim: Georg Olms Verlag.
——— . 1987. Counterpoint I and II. Edited by John Rothgeb, translated by John Rothgeb and Jürgen Thym. New York: Schirmer. Reprint Ann Arbor: Musicalia Press 2001.
——— . 1996. “On Organicism in Sonata Form.” Translated by William Drabkin. In The Masterwork in Music. Vol. 2. Edited by William Drabkin. Cambridge: Cambridge University Press, 23–30. Tovey, Donald Francis. 1931. A Companion to Beethoven’s Pianoforte Sonatas. London: The Associated Board of the Royal Schools of Music.
Kalbeck, Max. 1913. Johannes Brahms. Vol. 3. Second edition. Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft.
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3 Effects, Alternative Analytical Solutions, and Interpretation F R A N K SA M A RO T TO
One might assume that music analysis and musical performance would have a clear and straightforward relationship. However, as with many relationships, these two do not always get along smoothly. At times, analysts seem to be addressing issues of little interest to the performer, and performers seem to be asking questions that analysts are reluctant to answer.1 Some of the conflict in communication could be stated in terms of information vs. interpretation. That is, many of the questions being asked by theorists result in answers that have the ostensible form of objective data—whether or not this objectivity is really verifiable—rather than a subjective critical reading. On the other hand, performers may also be seeking objective information, but of a completely different sort, practical issues such as choices of fingering or dynamics. For instance, theorists often concern themselves with how music is composed, how pre-compositional norms are structured and how they are realized in a particular piece. This often results in information that, while valuable for its own sake, does not translate readily into particular performance directions or strategies. Or theorists might create taxonomies of form or tonal structures, but these may not provide much guidance in the interpretation of individual pieces. Or a theorist may try to model what a listener hears, but when this modeling is intended as an objective cognitive research, it leaves little room for a personal interpretation, presumably what the performer aims to express. Interpretation is the key word here, which I contrast with the word information. This distinction suggests a pathway toward one possible intersection of analysis and 1 The literature concerning the relationship between analysis and performance—both supportive and critical— has grown apace in recent years. A valuable recent bibliography, with brief introduction, is McClelland 2003.
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performance. Figure 1 sets out a model of such a relationship separated into three distinct categories, arranged as stages. The row labeled information represents capabilities and constraints that are to be regarded as fixed, at least provisionally. For performers, we could locate this in matters of technical fluency, the instrument itself, perhaps even the venue of the performance. For theorists, the issues are more abstract but analogous in this model. They include anything axiomatic or general to the theory, assumptions not contextual to a given piece; in essence, they are the technique of analysis waiting to be applied. (The category of information could perhaps also include the score, at least when it is not enmeshed in interpretive issues resulting from textual uncertainties.) The interpretation stage entails the application to individual situations, necessarily involving some contextual choice, though how much choice will vary depending on the degree of flexibility the theory—or the technique—allows. Performance
Analysis
Information
the performer’s technique; the capabilities and limitations of the instrument, venue, etc. [an “authoritative” score?]
the axioms, generalities, and objective assertions of the theory; its capabilities and limitations [an “authoritative” score?]
Interpretation
nuances of timing, dynamics, timbre; realization of score markings; choices of tempo and affect, etc.
a particular analytical application of the theory; choices among competing analyses allowed by the theory (if applicable)
Effects
shaped, purposeful, goal-directed, “meaningful” activity; suggestions of narrative, drama, lyricism, personal experience, etc.
shaped, purposeful, goaldirected, “meaningful” activity; suggestions of overall structures, processes, tensions and resolutions, etc.
Figure 1: A hypothetical relationship between analysis and performance Neither of these stages allows direct communication between analyst and performer. As I have already stated, the product of an analysis, even one that acknowledges its interpretive basis, is not framed in the terms of specific performance strategies. However, interaction can occur within a third category that I will call effects, that is, interpretive attributions that are greater than the sum of their parts, in this case, the parts being the technical language applied to music by both performers and analysts. For instance, at a basic level all musicians take for granted, melodic motion is an effect attributed to what is really a discrete series of pitches; however trivial that assumption
Effects, Alternative Analytical Solutions, and Interpretation
may seem, cantabile melody is still an effect that performers must learn to put across (a challenge on some instruments). For present purposes, I am of course concerned with effects of a more complex sort, which might include any sort of play of tension and resolution, directed motion and closure, and indeed any musical structure that can take on the character of a purposeful or intentional activity.2 As an example, consider the situation of a Schenkerian analysis that identifies a passage as prolonging a dominant seventh harmony. It would follow that the whole passage would be imbued with the effect of tension we attribute to a dominant seventh, an effect that would carry over to other sonorities within its prolonged span. Put simply, the tension of the dominant seventh becomes an effect of the entire passage. It is through a specific effect of this sort that the translation to performance can quite readily occur. Assuming that a performer can appreciate the tension of a dominant seventh in isolation, he or she can realize the effect of that larger tension through any number of means, and can exercise choice as to those means. Extending an analogous tension to a more elaborate prolonged passage creates a more complex, higher-level entity, one not easily specified by a single datum of information. Furthermore, the performer can gauge the validity of the analysis by judging whether the effect, as realized in performance, is persuasive, and for that matter, so can the analyst: indeed, however much it is ineluctably subjective, the sense that an analysis could, in principle, be realized as a persuasive performance, should remain a viable criterion for analytical “correctness”.3 Of course, although an analysis may suggest an effect, it may not do so with the same degree of expressive import. It will be useful to distinguish between an effect that is only implicit, and one that is actualized. Let us take as an example Schenker’s technique of the coupling of registers. This refers to a structural connection between two pitches an octave apart, such that they are both representatives of the same structural tone. Now, there are times when this is a rather matter-of-fact association, for instance, the simple repetition of a phrase in a different register. Think of the opening of Schubert’s Impromptu in A!, op. 142, no. 2; a coupling is understood in the repetition an octave higher, but the change of register itself is not especially worked out or dramatized: it is simply stated, a juxtaposition of textural coloration. The effect is implicit but not markedly expressive. On the other hand, consider the familiar opening of the Rondo “alla Turca” from Mozart’s Sonata in A major, K. 331. Schenker’s analysis of the first 24 bars appears 2 The importance of effects to Schenker’s thought is argued in Snarrenberg 1997, especially 9–53. The role of effects in Schenker’s approach to performance is detailed in Rothstein 1984. 3 As already suggested, it is also assumed that an analytical method frames its statements in ways that are, or that translate easily into metaphors of effect, e.g., tension, motion, stability, transition, etc. A theory that allows for only statements of identity or non-identity, with no further qualification, would not seem applicable to this model.
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3.1.1 | 16 3.1.2 | 16
3.1.3 | 17
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in adapted form as Example 3.1.1.4 Through the careted numerals, a 3 is followed straightaway by another one an octave higher; Schenker indicates a coupling of re gisters between the two open-note Cs in measures 1 and 4 respectively. As shown in my own Example 3.1.2, this coupling is actualized through repetitions of an energetic upbeat motive that bounces up through the arpeggio and hesitates before landing on the high C; indeed, one can think of the initial turn figure as gathering up the energy to propel the line towards the higher register, doubly so in measure 3. The final third A to C is even repeated in simpler form (without the turn) in measure 4 and continues its third motive into the next bar through both the ornamental slide figure and the following eighth notes (themselves doubled in thirds). The change of register is not merely a result of this passage: It is the content of the passage, brought actively into being through the agency of motivic thirds. The performed action of an upward arpeggio is beautifully depicted in Schenker’s use of an arpeggio marking, which he employs in the more synoptic rendering of the reprise of the opening. (See measure 17, where 3 recurs.) This summary sketch does not show the augmented-sixth harmony in measure 20, humorously inserted just as the high C reappears; its arrival undermined, the high C quickly falls back to its original register. The conceptual linking of registers so fully actualized in the opening is made literal in the octaves of the following Maggiore section, the beginning of which is shown in Example 3.1.3; notice the bass also participates in the thrumming arpeggiated grace-note figures. In this way, textures conventional to the period can be motivated organically, and can be given particularity as actualized expressions. Schenker’s sketch also shows that, starting in measure 5, there is a subsequent coupling of the high B down to the original register in which the piece began (the half cadence in measure 16). This coupling is less vividly actualized and is more deliberate in its gradual transfer of register. Nonetheless it does confer a passing effect on all the transitional material it comprises, including the apparent tonics of C major and A minor. That is, Schenker understands the effect of measures 9 through 16 to be like that of a standing on the dominant, which he expresses in part through the language of thoroughbass. In the notation under these bars the root of the prolonged Stufe V is assumed as if it were the actual bass; above this the figures 8–7–6–5 pass within that harmony, simulating a common way of elaborating a pedal point.5 This passing effect does not deny the reality of the individual triads of C, G, and A touched upon on the 4 The example occurs within a discussion of the first level of middleground; as such it portrays many details of the passage in a rather summary fashion. Schenker 1979, Fig. 35, 2. I have added the notations about coupling and renotated the bass to be more in keeping with current representations of interruption. 8 6 5 6 4 3#. 5 An even more common elaboration would support these figures with lower thirds: . .
Effects, Alternative Analytical Solutions, and Interpretation
way to the goal V. Rather, it confers on these harmonies a sense of transient instability, subtle but quite appropriate to their place within the formal layout (see Example 3.1.4). Thus, effects are rich and complex: They can be weighted as to the degree of actualization, they can occur at the surface or at a deeper level, and they can be nuanced as to their particular characteristics, sometimes quite exquisitely.6 The model in Figure 1 depends on effects for its interface between analyst and performer. Effects do not arise directly from the factual level of information, but require the intermediary of interpretation; they are, essentially, the realizations of particular interpretations. For this model to be viable it is necessary to have a theoretical framework that permits a wide range of analytical choice, permitting the analyst to play a role analogous to that of the performer.7 Clearly, I believe that Schenkerian analysis meets that requirement in that it permits a multiplicity of analytical choices for a single piece, all of which could be conceptually legitimate (if not always musically persuasive). It is also clear that different analyses will yield different effects. Choosing among allowable analyses will involve gauging the resultant effects, to judge whether they are plausible, persuasive, perhaps even artistic. Consider Example 3.2.1, the brief first phrase of the second Bourrée of the fourth cello suite by Bach. It is divided into two-bar units by a deceptive cadence. One possible interpretation would hear the two halves as doing the same thing twice, except for the deceptive cadence. This means the I6 chord is essentially the same the first time and the second; this is given as the first harmonic interpretation under Example 3.2.1. As a second reading, it might be possible to underplay this upbeat I6 chord when it occurs the second time, and to infer an overall progression I–VI–IV–V–I (given as the second alternative in Example 3.2.1). Both of these possibilities are realized as voiceleading analyses in Example 3.2.2 (respectively). It is important to emphasize that the logic of Schenkerian methodology would allow both readings but not simultaneously, as they are mutually exclusive. What is crucial is that the effects implied are different, bringing out subtly different nuances of performance. These would likely be localized in the second bar; the second reading, which I prefer, could be conveyed by placing less weight on the second I6 in order to underscore its parenthetical quality. With this, the second half takes on the character of a response to the first, imparting a rhetorical effect to this miniature dance. *** 6 It is essential to add that Schenker sharply distinguished between effects that are genuinely part of piece (Wirkung) and effects falsely imposed by the whim of the performer (Effekt); see Schenker 2005, 115–6. 7 The reciprocity of analysis and performance as activities is increasingly acknowledged; see, for instance, Cook 1999.
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Having set out my premises of effects, their actualization, and the analytical choices one makes in determining them, I will now examine more fully two pieces whose opening sections demonstrate and actualize very different effects. I will begin with the first section of Mendelssohn’s Song without Words, op. 53 no. 2; the relevant part of the score is given in Example 3.3.1. This music presents us with three quandaries: First, the marking Allegro non troppo and the forte dynamic seem perfectly in keeping with the active melody and the agitated and thick accompaniment, but how should one reconcile these with the need to play this “sehr innig”? Clearly an issue for the performer, this might typically be considered irrelevant to structural analysis. In contrast, the model I am proposing would require that my analysis respond to this contradiction and that the effect it suggests be in keeping with Mendelssohn’s markings. The second quandary is that the opening melody seems to have two possible initial goals; these are shown in Example 3.3.2. The melody begins with a measured chromatic ascent to B!, and then a less restrained climb to G, heightened by a crescendo to a sforzando. This second goal would seem to be significant; it can be interpreted as Kopfton to the work’s structural line, arriving late as a suspension over non-tonic harmony. Another reading is possible, and I will discuss it presently. There is a third ambiguity, this one metric. Consider Example 3.3.3; if we take the bass and harmony separately, setting aside the melody, the first four bars seem to scan perfectly clearly as a four-bar hypermeasure. What I mean is that if we were to imagine the first four harmonies as quarter notes filling out a 4/4 bar, we would most probably count those quarters as in Example 3.3.4. However, if we take the melody alone, it seems to begin with an upbeat, a curtain preceding its first strong bar. Of course the sforzando in the next bar adds yet another question: is it a metric accent or an off-the-beat expressive accent? I believe a solution to all these quandaries lies in the interpretation of the melody’s goals. See again Example 3.3.2, which suggests a second, less obvious reading, taking B!as the main note and G as conceptual inner voice that has been superposed above the main line. This reading is carried out in the fuller analysis in Example 3.3.4. What does it mean to consider the G as an inner voice conceptually placed above a more fundamental upper voice? In this context it has the effect of a gesture of excess, one that impetuously transgresses the boundary set by the main voice. Though this may seem a fanciful exegesis, other factors support it. One is the subsequent voice-leading: The high G, unfolding a sixth out of the B!, is paired with another sixth, F–A!, which quickly restores the equanimity of the original register, after which the line from B! continues a clear stepwise descending path. Hypermeter is another factor: the melody’s metric scheme seems to quickly win out over the bass, retrospectively rendering the initial B! a secure departure point and the high G an offbeat accent.
Effects, Alternative Analytical Solutions, and Interpretation
This analytical choice joins hermeneutics with structure: the “sehr innig” indication suggests that Mendelssohn does not intend the character of the piece to be extroversion, pure and simple, despite its outward style. Hearing the G as a gesture of excess allows one to interpret the structure as basically reflecting inwardness, but one that has difficulty containing its emotional outbursts. This issue is carried through in the next phrase. Example 3.3.4 also shows the extraordinary way that Mendelssohn has allowed the antecedent phrase to overlap with the consequent, by forming a half cadence with an unusual V 42 chord; I hear the repetition of the opening in measure 9 as reinterpreted to sound as a passing 63 chord which continues to prolong dominant harmony. More to the point, measures 16 and 17 return us to the opening position, and immediately the high G reappears. This time it is methodically returned to the lower register through a richly deliberate harmonization, traversing a seventh (one which stands for the inversion of a step of a second; see the insert below Example 3.3.4). Notice that just as the main register is restored, the agitated triplets cease for the cadence, the only moment in which inwardness seems to reveal itself. Now it is not that the reading that I suggest has been “proven” to be correct; other analyses are very possible. However, I do think it satisfies two important criteria: first, it is syntactically correct within the system, and, second, it produces a complex effect that is both in keeping with the information in the score as well as attractive for its own sake. It also casts its interpretation over the work as a whole; see, for instance, the ending, which is given in Example 3.3.5. In my reading, this little codetta would not be a climactic apotheosis, but rather a nostalgic reminiscence. A quite different emotional world is found in my final example, the slow movement of Mozart’s so-called “Hunt” Quartet, K. 458. Example 3.4.1 provides the score of the exposition and bridge of this sonata form without development. In contrast to the uncertainty of the Mendelssohn, this opening is very securely situated and present, the only disturbance being the sforzando neighboring chord. The first violin’s upward arpeggio sweeps are like freely improvisatory attempts to reach a higher register. This is attained in the middle of measure 5, as the opening gesture repeats itself. Notice this music’s relaxed metrical freedom; this is suddenly restrained by the abrupt move to the key of C minor, and as abrupt a change of affect and style. Two bars later we find ourselves repeating this music, embellished, in the key of B!. Here is the nub of the structural issue: Does this represent the key of the dominant, in which we might expect to hear a contrasting second theme? To put it differently, does measure 9 have the effect of an arrival or of a continuing transition? Example 3.4.2 shows my analysis: the first system shows the opening and the move to C minor in measure 7. Notice that the first violin effects a subtle 5–6 motion above the bass E! (through B§–C, which reverses the C!–B! in measure 3), suggesting that this new key retains a close affinity with the opening tonic. That affinity is confirmed when
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the upper voice of measure 7 repeats and reharmonizes the same G–A!–G neighboring motion we have heard twice before, sforzando in measures 1 and 5. Though the C minor is confirmed by a fifth progression and by cadential harmonies, the E! tonic still lingers subliminally. The tonicized B! in measure 9 (see the second system of Example 3.4.2) begins as a sequential repetition of the C minor, conveying a strong sense that we are still in motion to some more definitive goal. Indeed the cadence on B! is dramatically thwarted by a diminished seventh harmony in measure 10; through a pair of voice exchanges between E and G, the harmony is altered to become an augmented-sixth chord on G!, and decisively resolves to F, now the dominant of B!. Resounding with the anguished cry of the first violin’s D!, this reversal of fortune is a pivotal moment, trumping all prior events, and weighing heavily on the following bars, in which a standing on the dominant of B! is colored by minor-key mixture and poignant dissonance. The arrival of B! major in measure 14 is subdued but certain; it presents itself as a gentle solace, all the more marked for its understatement.8 The more hermeneutic reading of this passage just outlined is even more strongly supported by a reading of the deeper voice-leading structure. Example 3.4.3 condenses this rich surface into its middleground trajectory. The upper-voice G that is the Kopfton of the fundamental line is retained over the motion to C minor. It passes to F over the repetition on B!, but, as we saw, this B! dissolves into the augmented-sixth chord with its melodic E§ and bass G!; these tones can be understood as originating in the E! tonic triad, which is inverted and chromatically transformed into the intensely dissonant augmented sixth.9 (This is even clearer in the deeper middleground sketch of Example 3.4.4). Thus the F over B! in measure 9 is ultimately passing to E§, a trigger for both the true modulation and for this music’s abrupt tragic turn. This analysis might seem complex and abstract, but I would argue that in many respects it models the dramatic succession of events more accurately than detailed micro-analysis alone. More importantly, it imbues the transition with an effect of inner disturbance and even turbulence, a dramatically actualizing bridge to the new key, setting the more definitive arrival in special relief. This could also be put reciprocally, by saying that the complexity of the analysis is justified by the music’s extraordinary discourse. The exquisite poignancy of Mozart’s second theme also arises from an amazing motivic repetition: see again Example 3.4.3, which also shows that the pitches of the descending fifth progressions over C minor and B!major are restated (in a different structural context) in the second theme itself, as if in a kind of retrospection on—perhaps even sympathy for—the events that have just transpired. 8 I have labeled this harmony as II with a raised third, following Schenker’s practice of labeling large Stufen with respect to the underlying diatonicism of the overall key. 9 It is not uncommon for Mozart to employ this type of large-scale voice leading in a sonata exposition; see, for instance, Kamien & Wagner 1997.
Effects, Alternative Analytical Solutions, and Interpretation
I have examined the openings of two pieces in which a choice of a particular structural analysis has allowed me to infer a strongly actualized effect. Of course, as stated before, the particular means by which this might be realized in performance is not dictated by the description of the effect, and I believe that this is a positive value. As important for the analyst, it follows that the act of analysis can and should take on the same responsibility as performance, a responsibility to achieve an effect that is persuasive and commensurate to the music under consideration.
References Cook, Nicholas. 1999. “Analysing Performance and Performing Analysis.” In Rethinking Music. Edited by Nicholas Cook and Mark Everist. Oxford: Oxford University Press, 239–61. Kamien, Roger and Wagner, Naphtali. 1999. “Bridge Themes within a Chromaticized Voice Exchange in Mozart Expositions.” Music Theory Spectrum 19: 1–12.
McClelland, Ryan. 2003. “Performance and Analysis Studies: An Overview and Bibliography.” Indiana Theory Review 24: 95–106.
Rothstein, William. 1984. “Heinrich Schenker as an Interpreter of Beethoven’s Piano Sonatas.” 19th-Century Music 8: 3–28.
Schenker, Heinrich. 1979. Free Composition. Vol. 3 of New Musical Theories and Fantasies (1935). Translated and edited by Ernst Oster. New York: Longman.
——— . 2005. “Genuine and Sham Effects.” Der Tonwille 2 (1922). Edited by William Drabkin, translated by Robert Snarrenberg. Oxford: Oxford University Press, 115–6. Snarrenberg, Robert. 1997. Schenker’s Interpretive Practice. Cambridge: Cambridge University Press.
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4 Structure and Design in Chopin’s Mazurka, Op. 56, No. 3: Voice Leading and Cadential Gestures L AU R I SU U R PÄ Ä
The distinction between “structure” and “design” has played a significant role in the Schenkerian literature ever since the publication of Felix Salzer’s Structural Hearing in 1952. While the former term (structure) has been applied consistently to denote Schenkerian voice-leading structure, the term design has been applied in a somewhat more diffuse manner. Salzer introduced these concepts when discussing three interrelated musical factors, which he called “structure,” “form,” and “design.” In his division, structure denotes voice leading, form the “architectonic organization of the structure,” i.e., the manner in which the prolongational entities divide the course of music, and finally design refers to “the organization of the composition’s motivic, thematic and rhythmic material,” which may encompass “thematic repetition, cadences … caesuras, change of tempo, rhythm or texture, etc.”1 Salzer’s assertion that form is intimately related to structure, an idea derived directly from Schenker’s discussion of form in Free Composition, has been the subject of debate in the recent Schenkerian literature. Some writers have suggested that form might be better understood in a more traditional sense, defined by such factors as thematic material or key areas, 2 so that form would fall within the realm of design. David Beach has argued that the scope of design might further be divided into two categories: “formal design” and “tonal design.” The former refers to such factors as themes, periods, and phrases; the latter to the layout of key areas.3 1 Salzer 1982, 223. 2 See, for example, Rothstein 1989, 104. 3 Beach 1993.
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Even though a distinction was made between structure and design, in actual compositions the two are intimately connected: there is always some kind of rapport between them.4 Elements of structure and design may either support each other or be in tension with one another. In both cases, analysis should take both aspects into consideration in order to give a comprehensive picture of the course of music. In this paper I shall examine the structure-design interactions in Chopin’s Mazurka, op. 56, no. 3 (Example 4.1), focusing on certain cadential gestures and examining these in a larger musical context.5 Generally, cadential gestures are of primary importance for both structure and design. In terms of structure cadential V–I progressions often denote closure of significant prolongational spans or prepare the beginning of new ones. In design, in turn, they can serve to establish new keys or underline formal articulation.
Form and Key Areas As so many of Chopin’s late mazurkas, op. 56, no. 3 is very subtle and complex. Charles Rosen has said of this mazurka that it is “in many ways the most ambitious,” continuing that it is not “easily approachable by either listener or performer, but in harmony, texture, and phrase structure it is one of the most daring and original.”6 Before examining certain cadential gestures and the musical context in which they occur, I shall discuss the large-scale form and key areas, shown in Table 1. 73
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C minor
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C minor
Table i. Chopin, Mazurka op. 56, no. 3, overview of form and key areas In spite of the work’s many subtleties, the form and basic key-area design are quite straightforward. (I am for the present disregarding the complex local tonicizations.) The ternary ABA formal design supports the three main key areas: C minor in the two A sections as well as in the coda, and B! major in the B section. My discussion will primarily examine cadential gestures at the formal junctures shown in Examp4 John Rothgeb, for example, has argued that “[c]hanges is surface design usually coincide with crucial structural points” (1977, 73). Allen Cadwallader, in turn, has suggested that design, as well as structure, is a hierarchically organized phenomenon (1990). 5 I have examined this Mazurka from a slightly different perspective in Suurpää, forthcoming. 6 Rosen 1995, 439.
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le 4.2: first, the one establishing B! major at the threshold of the B section; second the one reintroducing the tonic at the outset of the A 2 section; and third, the one leading to the coda. I shall not, however, treat these cadences as isolated surface phenomena but will, rather, relate them to the middleground voice leading.
The Way to B! Major Let us start by discussing the opening phrase of the mazurka, measures 1–23, since the modulation into B! major, and ultimately also the cadence establishing this key at the threshold of the B section, is indirectly related to certain features occurring here. Example 4.2 is a voice-leading sketch of the opening phrase. Example 4.2.1 shows that the mazurka begins, like quite a few of Chopin’s mazurkas, with a V–I auxiliary cadence whose bass skips a fifth G–C. In the foreground, as indicated by Example 4.2.2, the initial dominant is transformed in measure 2, before the tonic arrives, into a 4 chord, a harmony with a D in the bass. This reduces the stress on the tonic: since it is 3 arrived at, on the surface, by a stepwise bass progression, the underlying cadential bass motion loses some of its strength. Such a conflict between middleground progressions and foreground stress is evident also in the continuation of the opening phrase. Example 4.2.1 shows that in the middleground the tonic is prolonged in measures 2–10 with a third-progression descending from the Kopfton E! into an inner-voice C. But in the foreground, shown in Example 4.2.2, the tonic is regained in measure 10 via the same gesture that began the work, so a 43 chord again diminishes the impression of reaching a clear, underlined tonic. The strongest cadential gesture of measures 1–23 takes place in measure 14 where a D minor chord is tonicized, a harmony whose rhetorical stress is further underlined by its prolongation in measures 14–22. Example 4.2.1 indicates, however, that in the middleground this chord has only a secondary structural function: it is a pre-dominant harmony between the opening tonic and the back-relating dominant reached in measure 23. The foreground stress, a feature of design, and the middleground structure are hence at odds with each other. The middleground provides a clear framework for the opening phrase, and the tonic is the matrix of this framework. But the foreground rhetoric would seem almost to work against this structure by avoiding clear cadential gestures stressing the tonic. Instead, measures 14–22 greatly emphasize a D minor chord, an element with only a decorative structural function. So the opening phrase leaves a mixed impression of being at the same time securely governed by the tonic (the middleground structure) and avoiding an underlined tonic (the foreground design). Similar tension appears in the remainder of the A1 section whose voice leading is shown in Example 4.3. The music repeats the opening phrase up to measure 46, which corresponds to measure 22. Whereas in the first phrase the D minor chord proceeds in
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measure 23 into the back-relating dominant ending the phrase, as shown in Example 4.2, in measures 46ff. D is still extended for two more measures and then followed by new material. Example 4.3.1 shows that the function of the D minor chord now differs from that of the corresponding harmony of the first phrase. Instead of leading to a back-relating dominant, the bass-note D turns out to function as a passing tone in a line ascending from the C of measure 26 into a G! arriving in measure 57. The top voice moves in parallel octaves all the way to the F of measure 53. Example 4.3.2, specifically the numbers below the graph, indicates that the parallel octaves have been eliminated by interpolated intervals. This process leads into an interesting situation where the foreground exhibits cadential, tonicizing gestures which are, however, somewhat contradicted by the middleground. Once an E! major chord built on the third note of the ascending bass progression shown in Example 4.3.1 has been arrived at in measure 49, it is immediately transformed into a dominant seventh chord. This is resolved in measure 52 into an A! major chord, and this process is then repeated sequentially, with the dominant seventh chord built on F (measures 53–55) and the resolution into a B! major chord. The sequential progression would seem to be continued still by the next chord, a dominant seventh built on G! (notated as F#). Because the tonic is in tonal music the basic harmony and the dominant subordinate to it, one would expect these cadential gestures to underline the local chords of resolution. But now, as Example 4.3.2 shows, these chords of resolution are precisely the decorative elements that eliminate the underlying parallel octaves.7 Here, then, the expected hierarchy within the chords of these apparent V–I pairs is questioned by the underlying voice leading; the hierarchy suggested by the cadential gestures, elements of foreground design.8 The uncertainty of apparent dominant harmonies continues in measure 57. As already mentioned, one first expects the harmony in this measure to function as a dominant seventh chord of C! major (notated as B major). (This suggestion is shown by the single stave between Examples 4.3.1 and 4.3.2.) So a cadential gesture in C! major is anticipated. This never happens, however. Rather, the harmony prolonged from measure 57 on turns out to be a German augmented sixth chord, a harmony enharmonically equivalent to a dominant seventh chord. So the bass-note G! is resolved downward into an F, a dominant of B! major, as shown in Example 4.3.9 The music 7 The stepwise bass line between the D of measure 46 and G! of measure 57 is so clearly articulated that I find it impossible to interpret the chords of resolution as the primary structural elements. 8 For another sequential passage consisting of a local V–I progression with the V as the structurally primary element, see measures 26–29 of the first movement of Schubert’s Unfinished Symphony. 9 I read the arrival at F only in measure 69, not in measure 67 where this pitch first occurs. This reading is justified by the meter. From measure 49 onwards the music is governed by four-bar hypermeasures. The 64 chord of measure 67 occurs on a third bar of a hypermeasure while the V
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is now approaching the key of the B section, and this dominant of the new key finally functions as a clear cadential dominant: it is resolved into a B! major chord in measures 71–72. This is the first cadential progression in the entire mazurka where the foreground emphasis of the design and the voice-leading structure of the middleground both stress the harmony ending the cadence. The B section centers around the B! major established by a cadence in measures 71–72. The situation here is opposite to the one encountered in the A1 section. In the opening section the tonic chord—a structurally stable element—governs the music much of the time, but its significance is not underlined by the musical surface. In the B section, on the other hand, the foreground strongly stresses the B! major chord as a center, so its local significance is clear. Yet this harmony is, as a !VII, an unstable element at deeper levels.
The Return of the Tonic and the Structural Cadence The opening thematic material of the B section returns in measure 121, and the earlier music is repeated until the beginning of measure 134. Example 4.4.2 shows that measures 121–129 consist of a phrase prolonging the B! major chord, and the music of this phrase is repeated after measure 129 with the top voice shifted an octave higher. The repetition stops after the first quarter of measure 134, however. From here onwards, the music is highly chromatic and complex. Example 4.4.2 shows that at the end of measure 134 the B! of the bass is transformed into a B§ supporting a sixth chord. From here the bass and top voice ascend whole steps until a V 7 of the tonic key arrives at the end of measure 136. This dominant is still prolonged in the next measure when the A 2 section begins, and it is resolved into the tonic in measure 138. Example 4.4.2 shows that the dominant chord functions differently at the beginning of the A1 and A 2 sections. In the A1 section it was the initial harmony of an auxiliary cadence. In the A 2 section, on the other hand, it is connected to the dominant arrived at in measure 136 and anticipated already in measure 134 when the B§ appears in the bass. Example 4.4.1 shows the middleground function of the dominant opening the A 2 section. It supports a neighbor note in the top voice and the B! major chord underlying the B section is built on its upper third. (The B! major harmony also provides a consonant preparation for the seventh of the V 7.) So this dominant is now not the initial harmony of a local auxiliary cadence but has, rather, a highly significant largeof B! major in measure 69 occurs on the first bar. If one reads the arrival at F already in measure 67, this harmony should be interpreted as a cadential 64 chord. This reading would be problematic, however, since this chord would occur in a metrically weaker measure than the subsequent 53 harmony.
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scale structural function.10 (Its importance is stressed by the unusual and chromatic music of measures 134–136.) Yet the foreground design has again no clear cadential gestures. So the music is still avoiding structurally significant cadential progressions in the tonic key that would be stressed by the rhetoric of the musical surface as well. Once the A2 section has begun, it repeats the music of the opening section until measure 172. The new material following this measure finally begins to prepare an underlined cadence in the tonic, and this occurs eventually in measures 188–89. Example 4.5, a chordal reduction of measures 172–89, shows that there are two arrivals on the dominant via a Neapolitan chord (see the brackets below the harmonic analysis): first in measures 173–76 and then in measures 187–88. The first of these is underlined by the rest at the end of the measure, a gap in the flow of music. This dominant is not, however, resolved into the tonic, at least not immediately. Rather, the music seems to lose its way: in measures 181–182 there is a harmony that would seem to function as a dominant of E! major, but instead of the expected resolution, this chord is followed by a series of diminished seventh chords. These events obscure the tonal focus for a while, and only the last of the diminished seventh chords is properly resolved: it leads to the Neapolitan sixth chord of measure 187, a harmony that begins the cadence that leads to the tonic in measure 189. Since there have been no clear cadential gestures in the tonic so far in the mazurka, this progression has a very strong closing effect. Example 4.6 shows two alternative interpretations of the relation between the two !II–V cadential preparations in measures 172–89. In 4.7.1 the Neapolitan harmony is prolonged, in 4.7.2 the dominant. Both are theoretically possible, yet I find them unsatisfactory. In measures 175–76 the halt after the V 6 is such a strong gesture that it is difficult, at least for me, to read the !II as the structurally more significant harmony of the two. This would speak for favoring Example 4.6.2 But in measures 187–88 the Neapolitan sixth chord would seem to be such an organic member of the cadential gesture that I find it difficult to take it as a decorative element within a dominant that has been prolonged from measure 176 on: this impression questions the plausibility of Example 4.6.2. So it would seem that there are two !II–V motions that both suggest a beginning of a cadence, while only the latter succeeds to proceed into the closing tonic. But according to Schenkerian theory it cannot be said that measures 175–88 prolong both the Neapolitan and dominant chords, which would seem to leave no alternatives but those shown in Example 4.6. There is still a third way of reading these measures, however, an interpretation that applies Schenker’s concept of “unfolding.” Example 4.7 shows some forms of unfold10 Chopin’s mazurkas that open with a V–I auxiliary cadence occasionally show similar situations where the dominant that begins the recapitulation of the opening material functions as a deepmiddleground element rather than as part of a local auxiliary cadence: see, for example, Mazurka op. 24, no. 1 (measure 49), and op. 33, no. 1 (measure 37).
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ing. In 4.7.1 there are two vertical intervals that suggest a harmonic V–I progression. In 4.7.2 and 4.7.3 the vertical intervals have been transformed into a horizontal line, but this does not affect the underlying V–I progression since the notes of the originally vertical intervals are consecutive in the four-note successions. In 4.7.4, on the other hand, the upper strand of the vertical intervals of 4.7.1 is first completed, and the lower strand occurs only after this. This affects the harmonic structure: the V–I progression is heard twice. So the form of unfolding shown in Example 4.7.4 leads into two consecutive occurrences of the underlying harmony, whereas this harmonic progression occurs only once in Examples 4.7.1, 4.7.2, and 4.7.3.11 The kind of unfolding that leads to the execution of the underlying harmonic progression twice can explain the two !II–V motions. The first three parts of Example 4.8 (4.8.1, 4.8.2, and 4.8.3) show a middleground view of measures 172–89. In Examples 4.8.1 and 4.8.2 there is only one !II–V motion; 4.8.2 shows the transference of the top voice into an inner voice. 4.8.3 shows the unfolding: the vertical intervals D!–F (representing the !II) and B§–G (representing the V) have now been transformed into four consecutive pitches in a manner that leads to two !II–V motions. Yet the origin of these two motions is in the vertical situation shown in 4.8.1 and 4.8.2. The foreground takes part in executing the unfolding. As Examples 4.8.4 and 4.8.5 show, the B§ of measure 176 is transformed, in measure 180, into its enharmonic equivalent, C!. At the same time the tendency of this pitch class changes: whereas B§ has, as a leading tone belonging to the dominant chord, a tendency to ascend, the C!, as the bass of an augmented sixth chord, has a tendency to descend. Since the C! no longer has the preceding ascending aspirations of the B§, the music must start to search the dominant anew, a search leading to the latter part of the unfolding in measures 187–188. The superimposed A!–G motion (shown on the separate stave above Example 4.8.5) helps to associate the two !II–V motions with each other. The unfolding and the subsequent division, as it were, of the !II–V motion into two phases is a very apt way to close the structure of this mazurka. The work has so far avoided strong cadential gestures in the tonic, a feature also reflected in the middleground structure. In Example 4.9 one can see that the only deep-middleground V–I progression preceding the closing cadence occurs in measures 136–138 when the tonic chord returns at the beginning of the A2 section. But as explained above, the 11 Schenker describes such unfoldings in the “Elucidations” written for the first two volumes of The Masterwork in Music (Das Meisterwerk in der Musik). See Schenker 1994, 113 and 1996, 119. In Free Composition Schenker explains unfolding most thoroughly in Fig. 43 and its commentary (Schenker 1979, 50). The kind of unfolding shown in my Example 4.8.4 can be found in Schenker’s Figures 43b, 4 and 5; and 43c, 4 and 5. Such unfoldings have been examined in depth in Wagner 1995. Carl Schachter has shown that in Mozart’s quartet “Non ti fidar” from Don Giovanni there are two tonic returns, the apparent redundancy following from unfolding (Schachter 1999).
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foreground design does not have an underlined cadential gesture at the outset of the A 2 section. So one still awaits such a gesture, something one expects to occur in order to close the structure of the work and to compensate for the lack of strong tonic closures so far.12 But the subtle quality of the mazurka might preclude many usual ways of underlining a cadence. Since up to the closing cadence and the coda the work has hinted at rather than explicitly stated the governing function of the tonic, so to speak, a straightforward dominant pedal might ruin the delicate atmosphere. This atmosphere is retained by the unfolding dividing the underlying !II–V progression into two phases; so this structural phenomenon suits well both the structural and dramatic needs of the mazurka. By extending the closing cadence, it fulfills the structural need to arrive at a clear tonal closure, while at the same time avoiding an exceedingly underlined cadential gesture in the foreground (i. e., exceedingly underlined for this piece). Thus the subtle character of the work, the impression of implication rather than explicit statement, is maintained despite the deep-level structural closure.
References Beach, David. 1993. “Schubert’s Experiments with Sonata Form: Formal-Tonal Design versus Underlying Structure.” Music Theory Spectrum 15: 1–18.
Burkhart, Charles. 1997. “Chopin’s ‘Concluding Expansions.’ ” In Nineteenth-Century Piano Music: Essays in Performance and Analysis. Edited by David Witten. New York: Garland, 95–116. Cadwallader, Allen. 1990. “Form and Tonal Process: The Design of Different Structural Levels.” In Trends in Schenkerian Research. Edited by Allen Cadwallader. New York: Schirmer Books, 1–21. Rosen, Charles. 1995. The Romantic Generation. Cambridge: Harvard University Press.
Rothstein, William. 1989. Phrase Rhythm in Tonal Music. New York: Schirmer Books.
12 Chopin occasionally avoids underlined dominant through much of the piece, and introduces a strong cadential gesture only at the end. I have discussed this phenomenon in the F minor Bal lade, op. 52. See Suurpää 2000. For further discussion on extended closing structural cadences in Chopin, see Burkhart 1997, and Schachter 2000. Occasionally Chopin does, however, omit also strong closing cadences, especially in mazurkas. For example, in op. 7, no. 5, he writes “Dal segno senza Fine”; in op. 41, no. 1, the concluding 1 is arrived at via a lowered 2 which is, moreover, not supported by the dominant; in op. 41, no. 3, the descent of the Urlinie stops at 3 (for a discussion on op. 41, no. 3, see Schachter 1999, 303–6).
Structure and Design in Chopin’s Mazurka
Rothgeb, John. 1977. “Design as a Key to Structure in Tonal Music.” In Readings in Schenker Analysis and Other Approaches. Edited by Maury Yeston. New Haven: Yale University Press, 72–93. Salzer, Felix. 1982. Structural Hearing: Tonal Coherence in Music (1952). New York: Dover.
Schachter, Carl. 1999. “Structure as Foreground: ‘Das Drama des Ursatzes.’ ” In Schenker Studies 2. Edited by Carl Schachter and Hedi Siegel. Cambridge: Cambridge University Press, 309–13.
——— . 2000. “Counterpoint and Chromaticism in Chopin’s Mazurka in C# minor, Opus 50, Number 3.” Ostinato rigore: revue internationale d’études musicales 15: 130–34
Schenker, Heinrich. 1979. Free Composition. Vol. 3 of New Musical Theories and Fantasies (1935). Translated and edited by Ernst Oster. New York: Longman.
——— . 1994. The Masterwork in Music. Vol. 1 (1925). Edited by William Drabkin, translated by Ian Bent et al. Cambridge: Cambridge University Press.
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Wagner, Naphtali. 1985. “No Crossing Branches? The Overlapping Technique in Schenkerian Analysis.” Theory and Practice 20: 149–75.
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5 Triebleben oder Logik der Klänge? Über Chopins Nocturnes op. 62 H ER M A N N DA N USER
Im Zusammenhang der Kritik der Zwölftontechnik – und dabei insbesondere der Indifferenz ihrer harmonischen Strukturen – spricht Theodor W. Adorno in seiner Philosophie der neuen Musik von einem dort unterdrückten »Triebleben der Klänge«.1 Infolge der Zwölftonorganisation erschienen die aus der Tonordnung sich ergebenden Spannungen und Lösungen bzw. die aus dem musikalischen Material hervorgehenden Strebungen neutralisiert, und die Folge der harmonischen Strukturen resultiere statt aus einer zwingenden »Logik« – wie in tonaler M usik und noch im frei-atonalen Expressionismus (Schönbergs Monodram Erwartung wird als Gegenbeispiel zitiert) – aus einem bloß willkürlichen Arrangement: Die Bewegung soll einen Zusammenhang stiften, der von Klang zu Klang nicht mehr und kaum im einzelnen Klang besteht. Die Reinigung vom Leittonwesen, das als tonales Residuum in der freien Atonalität fortwirkte, führt zu einer Beziehungslosigkeit und Starrheit der sukzessiven Momente, die nicht nur als korrektive Kälte ins Wagnerische expressive Treibhaus eindringt, sondern darüber hinaus die Drohung der spezifisch musikalischen Sinnlosigkeit, der Liquidation des Zusammenhangs enthält.2
Welchen Typus musikalischer Logik Adorno mit dem Rekurs auf Sigmund Freuds Theorie des Unbewussten und die dort verankerte Trieblehre näher in den Blick gefasst hat, muss an dieser Stelle offenbleiben. Die Wendungen »Triebleben der Klänge« und »expressives Treibhaus« markieren, wie es scheint, eine Distanz zur vorwagnerschen Harmonik, deren Gesetzmäßigkeiten Adorno implizit mit einem Reich t onaler »Vernunft« parallelisiert. Dieses Reich der Vernunft, in Werken der klassisch-ro1 Adorno 1966, 82. 2 Ebd., 82f.
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mantischen Tonkunst zu den großen Formen tonaler Logik ausgebildet, hat die der A lterationschromatik verpflichtete Musik um 1900 aufgekündigt und ersetzt durch ein stärker triebhaftes oder, wie Adorno später andeutet, einem »anarchischen Zuei nanderwollen der Klänge« gehorchendes Prinzip musikalischer Komposition.3 In diesem Beitrag geht es nicht darum, Adornos Ansatz zu präzisieren und in die Klangwelt Wagners und der nachwagnerschen Musik im Lichte der Freud’schen Tiefenpsychologie einzudringen, wie es unlängst der amerikanische Musiktheoretiker Richard Cohn in einer Studie zum ›Unheimlichen‹ getan hat.4 Vielmehr möchte ich am Beispiel eines Kunstwerks aus dem mittleren 19. Jahrhundert, einem etwas früheren Zeitraum, Aspekte einer ›musikalischen Logik‹ untersuchen, die deren Öffnung zu magnetisch wirksamen, unbewusst-schlüssigen Gravitationskräften in Harmonik, Melodik und Rhythmik belegen. Nicht soll dabei der Begriffsgeschichte des Terminus, die Adolf Nowak vor kurzem dargelegt hat 5, ein weiteres Kapitel Theorie angehängt werden. Stattdessen möchte ich einige Fragen klären, die mir die ästhetische Erfahrung seit langem stellt: Warum ruft gerade Musik Frédéric Chopins oft den Eindruck einer unnachahmlich schlüssigen und zugleich überraschenden Klanggestaltung hervor? Handelt es sich dabei um Strukturen, die sich – sei es als ›Vernunfthandlung‹, sei es als ›Triebleben‹ – nach Maßgabe einer Fortschreitungs- und Progressionslogik als ›notwendig‹ deuten lassen? Oder handelt es sich dabei um ›freie‹ Entscheidungen, die immer auch anders hätten ausfallen können und deren ästhetischer Reiz aus derartiger Willkür resultiert? Lassen sich vielleicht gar die beiden Fragen im Sinne eines Paradoxons gleichzeitig bejahen? Wird der Musik Chopins jene doppelte Denkfigur gerecht, die Schelling mit Blick auf Dantes Modernität als »willkürliche Notwendigkeit« und »notwendige Willkür« beschrieben hat? 6 Solchen Fragen nähere ich mich am Beispiel der beiden Nocturnes op. 62 aus den Jahren 1845–46 7, eines Werkes aus Chopins letzter Schaffensphase, in welcher der Komponist seinen Schaffensertrag auf die Hälfte reduziert sah, mühsamer schrieb als in früheren Jahren und, Jeffrey Kallberg zufolge, sich auf der Suche nach einem neuen Stil befand.8 3 Ebd., 83. Zur Kritik der Zwölftonharmonik heißt es hier weiter: »Es gibt kein anarchisches Zueinanderwollen der Klänge mehr, bloß ihre monadische Beziehungslosigkeit und die planende Herrschaft über alle.« 4 Cohn 2004. 5 Nowak 2004/05. 6 Schelling 1968, 487. 7 Dank einem Hinweis von John Rink, dessen textphilologische und interpretationsanalytische Forschungen eine Neuedition unter dem Titel The Complete Chopin – A New Critical Edition zum Ziel haben, liegt dieser Studie die derzeit zuverlässigste Edition zugrunde: Fryderyk Chopin, Nokturny op. 9, 15, 27, 32, 37, 48, 55, 62, hg. von Jan Ekier (Wydanie Narodowe, Seria A, Tom V), Kraków: Polskie Wydawnictwo Muzyczne, 1995, 103–114. Vgl. u. a. Rink 2003. 8 Kallberg 1998a.
Triebleben oder Logik der Klänge? Über Chopins Nocturnes op. 62
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Eine Klangspur bei Nr. 1 in H-Dur Das Nocturne hebt an mit zwei Akkorden, die, weil beide »charakteristisch« sind, eine kadenzierende Harmoniefolge ergeben: ein subdominantischer Mollseptakkord (II7) und ein Dominantseptakkord (V7) definieren zusammen einen Tonartrahmen: H-Dur. Die beiden Akkorde, ein nacktes Klangmaterial ohne Ornamente, dienen als Exordium. Dem rhetorischen Grundsatz, mit Beiläufigem zu beginnen, entsprechen sie, insofern ein ausgreifendes Initial-Arpeggio einen weiten Klangraum erschließt und die Musik mit einer Tonartperspektive in Bewegung setzt, aber noch nichts Thematisches oder Motivisches erklingt. Die Akkorde verschaffen der Tonika H-Dur eine für den Charakter des Nocturnes bedeutsame Anfangsstabilität. Mit der Klangwirkung eines Akkordes tritt die Tonika erst ein, nachdem, durch eine Pause getrennt, ein abwärts geführtes Tetrachord (von der Oktave zur Quinte der H-Dur-Skala) auch das Prinzip von Melodik so unversehrt und rein etabliert hat, wie zuvor durch die Akkorde das Prinzip der Harmonik statuiert wurde. Das leitereigene Klangtotal der beiden Septakkorde zu Beginn spart einen einzigen Ton der H-Dur-Skala aus, das von der Hochtonfolge e 2 → cis 2 umklammerte dis.9 Dadurch erhält diese Tonqualität in Takt 4 einen strahlend klaren, noch unberührten Auftritt, vergleichbar der Dramaturgie von Personenauftritten im Drama, welche in aller Regel die Hauptperson erst nach den Nebenrollen auf die Bühne bringt. Von hier an erstreckt sich der Klangfluss des Nocturnes, von zwei Generalpausen in den Takten 75 und 91 abgesehen, ohne Unterbrechung bis zum Schluss (Beispiel 5.1). Der Beginn des polyphonen Stroms beim H-Dur-Klang in Takt 4 bringt ein ›Kernintervall‹ mancher Chopinscher Dur-Nocturnes – die aufwärtsstrebende große Sext – mit einem zarten Energieschwung zur Geltung, der aus der Pendelbewegung des Tetrachords erwächst. Dieses Kernintervall, die in die leuchtende Dur-Terz der Tonika sich emporschwingende große Sext, reicht von den ersten beiden Dur-Nocturnes (op. 9 Nr. 2 in Es-Dur und Nr. 3 in H-Dur) bis zum letzten (op. 62 Nr. 2 in E‑Dur). Und es ist der obere Ton des Kernintervalls (dis), der als flexibel gedeuteter Fixpunkt in diesem Nocturne Schlüsselfunktionen erfüllt. Der von ihm beschriebenen Klangspur gilt, entsprechend den methodischen Grundsätzen einer Partialanalyse10, im folgenden das Augen-, besser: das Ohrenmerk. Um deutlich zu machen, worum es hier geht, sind einige einleitende Bemerkungen angebracht. Es zählt zu den fundamentalen Prämissen größerer tonaler Formen, dass 9 In dieser Studie wird die Differenz zwischen Tonqualität (englisch: pitch class) und Tonhöhe (pitch) graphisch so zum Ausdruck gebracht, dass jene gerade und diese kursiv gesetzt ist. Im Prosatext selbst werden die Begriffe ›Ton‹ und ›Tonhöhe‹ mitunter auch synonym mit ›Tonqualität‹ verwendet. 10 Vgl. Danuser 2010.
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die durch sie etablierte Klangwelt ein Bezugssystem mit wechselnden Relationen und Funktionen darstellt, welches durch das Changieren unterschiedlicher Referenzen eine Stütze und einen besonderen Reiz erhält. Aus diesem Grund sind einzelne Töne bzw. Tonqualitäten immer im Zusammenhang mit weiteren Tonqualitäten und Funktionen von Belang. Die Partialanalyse setzt demgegenüber bewusst, um dem jeweils Besonderen von Musikwerken auf die Spur zu kommen, selektive Akzente. Der Übersichtlichkeit halber seien die unterschiedlichen Funktionen, die die Tonqualität dis im Lauf des Stücks erfüllt, anfänglich in der Reihenfolge ihres Auftretens aufgelistet: T. 4: Zuerst erklingt dis 2, wie erwähnt, als Hochton und Dur-Terz der Tonika H-Dur und definiert damit das Tongeschlecht der Grundtonart des Stückes; da der Grundton des Tonika-Dreiklangs im Bass liegt, ist für die Terz des Akkordes hier eine große Stabilität der Klangspannung gegeben. T. 5: Dadurch, dass der Leitton ais1 zu a 1 tiefalteriert wird, gewinnt bei einer Variantkonstruktion über dem gleichen Basston H die Terz dis nunmehr die Qualität eines zwischendominantischen Leittons zur Subdominante E-Dur; der Klangraum weitet sich nach oben, indem statt der arpeggierten Oktave zu Beginn von Takt 4 nunmehr ein arpeggierter Dominantseptakkord mit dem neuen Hochton fis 2 erklingt; frühzeitig ist damit eine Richtung aufgewiesen, die nach Nr. 1 das zweite Nocturne des Opus 62, das E-Dur-Stück, mit zwingender Logik folgen lässt. Der Wechsel zwischen H: I und H: (V) IV in den Takten 4 und 5 (wiederholt in den Takten 7 und 8) stellt ein einfaches Modell dafür dar, wie Chopin durch strukturelle Mehrdeutigkeit den Raum für Klangvarianten erweitert, ohne von der Konsistenz der Akkordverbindungen abzurücken. T. 6: Diesem Takt liegt die Akkordfolge des Exordiums zugrunde, allerdings mit bewegter Stimmführung und reicher Dissonanzbildung: Im durchgehenden Melodiefluss wird die bei der Parallelstelle zu Anfang (T. 1–2) klaffende Lücke geschlossen: Das dis 2 erscheint nunmehr sowohl beim Subdominantklang (als Septimvorhalt der IV. Stufe auf die erste Zählzeit) als auch beim Dominantklang (als Sextvorhalt der V. Stufe auf die dritte Zählzeit) in den die variierte Wiederholung der Struktur ab Takt 3ff. leitenden Klangverlauf eingebunden. Gerade im Vergleich zu der wachsenden Belebtheit und dem durch eine dissonante Polyphonie in steter Bewegung gehaltenen Momentum des in vollem Fluss befindlichen ›unendlichen‹ Stroms tritt die strukturelle Simplizität der beiden Anfangsakkorde klar hervor. T. 10: In diesem Takt, einer Schalt- und Scharnierstelle par excellence, wird einerseits der einer Periode verwandte Anfangsabschnitt mit einer authentischen Kadenz in der Tonika beschlossen – der Tonikaakkord erklingt nur sehr kurz auf der dritten Zählzeit im 4/4-Takt ohne nachhaltige Klangentfaltung und wird zudem über eine Vorhaltsdissonanz (ais 1-h 1) und eine bewegte Mittelstimme (fis1-dis 1) eingeführt –; andererseits markieren unmittelbar darauf folgend Synkopen und eine polyphone
Triebleben oder Logik der Klänge? Über Chopins Nocturnes op. 62
Satzanlage einen plötzlichen Wechsel der Perspektive und der Tonartreferenz. Das dis, eben noch (in der eingestrichenen Oktave) Terz des Tonika-Dreiklangs H-Dur, wird auf die vierte Zählzeit im Bass neu angeschlagen und zum Basston eines Dominantseptakkordes umgebogen, der zur Tonika-Parallele gis-Moll führt. Wenn so der anfängliche Hochton nunmehr zum Basston wird, bleibt doch der Tonartbezug mit dem Parallelenverhältnis durchaus eng, und diese Basston-Funktion einer neuen, regional begrenzt geltenden Tonika-Region (gis-Moll) wird beim nun folgenden Abschnitt aufrechterhalten und mehrfach repetiert. T. 11/12: Die Polyphonisierung der Musik hält weiterhin an und verstärkt sich sogar. Die rechte Hand hat zwei unabhängige Stimmen zu realisieren: Die Mittelstimme folgt in der ersten Takthälfte einer fallenden Linie, die neue Oberstimme hebt dagegen mit aufwärts gerichtetem Gestus und deklamatorischer Emphase an, sie setzt mit keinem anderen Ton als dem dis 2 ein, der in Takt 12 mehrfach mit Nachdruck wiederholt wird. Entgegen der früher fallenden Bewegungsrichtung seiner melodischen Kontur erscheint dieser Ton nunmehr als Anfang einer nach oben strebenden Linie figuriert. Der Übergang von Takt 20 zu Takt 21 bildet die nächste Scharnierstelle. Während von Takt 17 bis Takt 19 das Dis im Bass diese Funktion einer Dominante nach gis-Moll – H: (V) V I – ausübt und die klangliche Wechsel- oder Pendelbewegung in diesem Sinne lenkt, wird in Takt 20, da sich Dur zu Moll (fisis → fis) verändert, die Dominantfunktion des auf dis aufgebauten Klangs revoziert und diesem Klang nunmehr die Funktion einer lokalen Tonika zugewiesen. Auf einem dis-Moll-Klang, der III. Stufe von H-Dur, ist die Musik in den Takten 21–27 in unterschiedlichen Oktavlagen zu einem Stillstand gekommen, als übte der Kernton dis eine magische Kraft aus, als bannte er die Bewegungskräfte des Nocturnes und zwänge sie in eine andere Satzfaktur. Dieser Moll-Klang auf der III. Stufe der Haupttonika vermeidet eine weiterführende Spannung und bekräftigt bei immer stärker ausgreifender Ornamentik (bis zur Eruption einer über viele Oktaven reichenden Skalenfioritur, T. 26) den Quintrahmen mit dem Hochton ais. Die Melodielinie sinkt von oben nach u nten in einer Sechzehntelkette, die in der Schlusspartie des Stücks wieder aufgegriffen wird. Aus diesem dis-Klang bäumt sich in Takt 27 mit trotziger Geste die eingangs angesprochene Sexte fis–dis auf, bis nur der Hochton dis 2, zunächst als Grundton (bzw. Oktave), übrig bleibt. Von dort kehrt die Musik unter Umdeutung des Grundtons zur Terz mit dem erweiterten fallenden Stufengang (von dis 2 zu fis 1) zum anfänglichen H-Dur zurück (Beispiel 5.2). Auch und gerade beim Wechsel zwischen den Hauptteilen der musikalischen Form des Nocturnes fällt dem Ton dis eine Schlüsselfunktion zu. An beiden Orten – beim Übergang vom Anfangsteil in den sostenuto-Mittelteil11 (T. 36–37) und 11 Zu den Revisionen und Lesartenunterschieden dieses Teils vgl. Kallberg 1998b, 218–220.
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bei der Rückleitung daraus in den Schlussteil (T. 67–68) – wird er Gegenstand eines Spiels mit Enharmonik. Erneut wird er im Bass als Dominante einer Tonika-Region eingesetzt, im Unterschied zu T. 17ff. aber nunmehr unter Genuswechsel der Tonika Gis-Dur (T. 36), die danach ins leichter lesbare As-Dur umgeschrieben wird (siehe Beispiel 5.3.1). Dem dominantischen Fundament dieser neuen Tonika-Region kommt am Anfang wie auch am Ende des Mittelteils eine zentrale Rolle zu. Der Mittelteil selbst ist in zwei parallele Abschnitte gegliedert (T. 37–52, T. 53–67), wobei in deutlichem Kontrast zu den Eckteilen die Oberstimmenmelodie klar führend, getragen von einem synkopisch federnden Begleitsystem der Mittelund Basslage, in weiten Bögen ausschwingt. Er bleibt zunächst im Banne der neuen Tonartregion As-Dur, gesteuert von den Dominantkräften der Tonqualität es, und hebt in Takt 45 zu einem Modulationsgang an, der über f → g → a zu b und wieder zurück zum doppelten Kursus in As-Dur (Takt 53ff.) führt. Bei der variierten Wiederholung des Komplexes aber vermag sich die Musik kein zweites Mal modulatorisch vom Sog der As-Dur-Tonika zu lösen und verharrt von Takt 61–67 auf einem in melodischen Linien ausgeformten Orgelpunktraum der Dominante mit Es im Bass. Diese Tonqualität wird nun in der Oberstimme der zweiten Hälfte von Takt 67 durch eine Fermate sowie einen mit der Hauptnote (statt der oberen Wechselnote) beginnenden Triller hervorgehoben; eine Pedalisierung trägt die Dominantharmonie dieses Taktes noch in eine Pause, wo die unteren Töne es 0 und b 0 aussetzen, weiter, doch am Ende des Taktes soll nur noch die obere Hälfte des Dreiklangs, die Sexte g 1-es 2, wahrnehmbar sein (siehe Beispiel 5.3.2). Dergestalt wird bei der Rückkehr zum Eckteil der Form – die ›Reprise‹ ist mit einer atemberaubenden Trillerkette ausgeschmückt – die Tonhöhe es 2 nach einer Pause mit großer Emphase als End-, Wende- und Anfangspunkt herausgestellt. Der regionale Grundton der Dominante von As erklingt in Takt 67 zunächst noch funktionskonform mit der kleinen Untersexte g 1 zusammen, doch zu Beginn von Takt 68 weitet sich das Intervall – unter enharmonischer Rücklesung – zur großen Sexte. Diese große Sexte aber ist nichts anderes als das Kernintervall dis 2-fis1, das, angereichert durch die Triller-Ornamentierung der Oberstimmenmelodie sowie die daraus geschöpften euphonischen Sextparallelen, in die ›Reprise‹ überleitet. In diesem Werk erreicht das Phantastisch-Ornamentale hier einen noch breiteren Umfang und einen noch höheren Grad an subtiler Konstruktivität, als diese Kategorie aus dem Geist der Improvisation einst besessen hatte (Beispiel 5.4). An einer einzigen Stelle des gesamten Verlaufs – am Ende dieser Fioriturenkette, »Chopin’s most breathtaking venture into endless melody« 12 – setzt die lenkende Wirkung des Magnet-Tons dis aus (siehe Beispiel 5.4). Die Musik verebbt. In Takt 74 12 Rothstein 1988, 139.
Triebleben oder Logik der Klänge? Über Chopins Nocturnes op. 62
ertönt ein Klangraum auf H als Zwischendominante zur Subdominante mit beginnendem Decrescendo, danach aber werden – statt des erwarteten E-Dur-Akkords – die unteren beiden Akkordtöne aus der großen Terz (h-dis1) chromatisch gegen einander geführt (c 1-d 1), so dass mit einem Dominant-Sekundakkord nach G-Dur ein neues Klanggebilde entsteht, das sich vom Pianissimo aus bei fortgesetztem Diminuendo so weit von der Grundtonart H-Dur entfernt, als verlöre sich eine Person in der Ferne und geriete völlig außer Sicht. Das ins Unhörbare weisende Ritardando mündet in eine fermatenverlängerte Generalpause (T. 75) – der einzige Moment im Nocturne, da der regelmäßige Strom der Musik vor den Schlussgesten versiegt. Ist es ein Zufall, dass ausgerechnet an dieser Stelle die Klangspur dis absent ist? Jedenfalls setzt im nächsten Takt der Fluss mit einer chromatisch abwärtsführenden Kurve wieder ein und erreicht in Takt 77 wieder die Stabilität eines kadenzierenden Quartsextakkordes in der Grundtonart H-Dur. Auch beim Schluss des Nocturnes, einer vom Orgelpunkt der Tonika getragenen Coda (T. 81–94), wahrt dis seinen besonderen Wert, wenn dieser Ton an den exponiertesten Stellen der Oberstimme von Takt 89 an mit zartem Nachdruck präsent ist. Zu Beginn von Takt 89 wird dis 2, um das nahende Ende gattungsspezifisch durch eine Konzentration nach innen, d. h. ohne die Amplifikationen einer Klimax-Strategie zu signalisieren, statt durch die Sexte durch das erweiterte Intervall einer Tredezime (fis 0 → dis 2) erreicht und der Klaviersatz zugleich zur Zweistimmigkeit ausgedünnt. Bei der variierten Wiederholung (T. 90) erklingt eine Spur zum folgenden Stück, indem die Quinte des H-Dur-Dreiklangs sich vorübergehend in die Sexte der oberen Wechselnote (gis 1) weitet, woran beim Auftaktbeginn des E-Dur-Nocturnes (h 0 → gis 1) eine Erinnerung mitschwingt. Und ab Takt 91 werden nachgerade obstinat akkordische Spannungsverhältnisse des Hochtons dis 1 ein letztes Mal Schritt für Schritt ausgelotet: als Terz der Tonikadreiklangs (T. 91ff., auch T. 94), dann zweimal als über fis1 nach oben zu e 1 aufgelöster Vorhalt (dis 1 → [fis 1] → e 1), zunächst als Sextvorhalt zur Septime des Dominantseptakkords (T. 91), sodann als Septvorhalt zur Oktave des Subdominantdreiklangs (T. 92), schließlich noch als Sexte des kadenzierenden Quartsextakkords auf der V. Stufe (siehe Beispiel 5.5). So kommt mit der allerletzten Oberstimmen-Terz am Schluss des Nocturnes die ›Geschichte‹ dieser Klangspur, die keine Geschichte in strengem Sinne ist, zum Ende. Damit hat dieser Ton – u. a. als Terz der Tonika (H), als Dominante der Parallele (gis bzw. As), als Grundton einer neuen, lokalen Tonika (dis) – eine Vielfalt von Funktionen erfüllt und ist beim wiederholten Erklingen in immer neuen Schattierungen, in immer neuen Facetten der Kunst des Nachtstücks dienstbar gewesen. So erwächst aus einem Potential an Energie eine Klangspur, die in Identität und Diversität weniger ein nachwagnersch bewegtes ›Triebleben‹ der Klänge begründet, denn einen Pol der Ruhe und zugleich einen Motor der Bewegung bildet. Diese Klangspur ließe sich ge-
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wiss auch in den terminologischen Kategorien Heinrich Schenkers formulieren: Das ›dis‹ wäre innerhalb von H-Dur dann oberer Ton eines Terzzuges der Urlinie, zu dem weitere Intervallzüge hinzuträten. Wenn man indes die Erinnerung an ein anarchisches ›Triebleben der Klänge‹ und an die Schellingsche Verbindung von ›Notwendigem‹ und ›Willkürlichem‹ bewahren möchte, so erscheint ihre Quintessenz durch eine Partialanalyse angemessener fassbar als durch den Versuch einer Totalanalyse in Schenker'schem Sinn. Gewiss schöpft Chopin mit den diversen Umdeutungen der Tonqualität dis, die aus dem Radius der Tonika heraus- und wieder in ihn hineinführen, normale Möglichkeiten harmonischer Relationen aus. Und doch stellt gerade die eigentümliche Klangspur in ihrer Verbindung von ›Logik‹ und ›Nicht-Voraushörbarkeit‹, die ganz anders als das von Philipp Emanuel Bach bis Hector Berlioz entwickelte Prinzip des ›imprévu‹13 funktioniert, einen Schlüssel zur Physiognomie dieses Kunstwerks dar.
Die Kunst der Bogenbildung bei Nr. 2 in E-Dur Jim Samson rühmt am H-Dur-Nocturne op. 62 Nr. 1 eine »calculated unpredictability of its musical flow« 14 und wendet sich daraufhin dem zweiten Klavierstück mit den Worten zu: It [Nr. 1] ‘resolves’ beautifully on to the tranquil E major of the Second Nocturne, whose warm consolatory melody provides a perfect complement to the B major and a fitting end to the entire cycle of nocturnes. The highest art is displayed in the presentation of the first section, an eight-bar melody followed by three ‘variations’, whose ‘conquest of symmetry’ involves a skilful balance between repetition and development, between unity and diversity.15
Für Chopins Klassizität bietet das E-Dur-Nocturne ein herausragendes Beispiel: Diese Musik beginnt so plastisch, als bildete sie eine Skulptur, deren Teile ein harmonisches Ganzes ausformen. Die weit geschwungene Melodie, bogenförmig angelegt und im Unterschied zum ›unendlichen‹ Fluss von op. 62 Nr. 1 durch ›Atempausen‹ zäsuriert, stützt sich auf eine regelmäßige Viertelbewegung in Bass und akkordischer Mittelschicht, deren harmonischer Rhythmus – analog zur unnachahmlichen Flexibilität der Oberstimmenmelodie – bei aller Regularität sich von einem ganzen Wert (T. 1–2) über einen halben (T. 3–4) bis zu einem Viertelwert (T. 14) verkürzt. Den »conquest of symmetry«, eine Chiffre für den inhärenten Klassizismus, begründet eine 13 Vgl. Danuser 1986. 14 Samson 1994, 94. 15 Ebd.
Triebleben oder Logik der Klänge? Über Chopins Nocturnes op. 62
raumgreifende Disposition der Klangbewegung, die beim Zusammenwirken der drei Schichten des Klaviersatzes durch häufige, wenngleich nicht prinzipielle Gegenbewegung ein Momentum erhält. Wenn man die differente Wertigkeit der Abschnittszäsurierung und damit das Symmetriepotential der Bogenbildung in den Blick rückt, lässt sich der Anfangskomplex (T. 1–32) noch anders als eine achttaktige Melodie mit drei Variationen deuten. Aufgrund der harmonischen Struktur der Endungen – auf einen Halbschluss in Takt 8 (in E-Dur) folgt in Takt 16 ein Ganzschluss (in der Dominantregion H-Dur) – stellt das, was als Thema und 1. Variation erscheint, gemäß den von Carl Dahlhaus entwickelten Kriterien eine Periode dar.16 Weder dass der Nachsatz, wie es hier der Fall ist, moduliert (statt in der Ausgangstonart zu verbleiben), noch dass er auf der Tonika beginnt (statt mit der Dominante anzuheben), schließt den Periodenbegriff aus, solange dessen Hauptkriterium – eine Symmetrie zweier Teile, deren korrespondierende, doch differente Schlussformen von Halb- und Ganzschluss einen engen Zusammenhang ausprägen – erfüllt ist. Auf die Periode, deren Nachsatz den Vordersatz variiert (T. 1–16), folgt ein aus Material der Takte 1 und 6 motivisch abgeleiteter Mittelteil (T. 17–24), wo sich nach der periodischen Syntax des Beginns der Bewegungsrhythmus intensiviert und eine Sequenz zunächst aufwärts und dann abwärts schreitet: 17 Ein zweitaktiges Modell (fis-Moll: II → V → I) wird zunächst in der Obersekunde sequenziert (gis-Moll: II → V → [I]), doch anstelle der erwarteten Tonika gis wendet sich die Sequenz mit einem Septakkord der II. Stufe zu fis-Moll zurück (II → V → [I]), worauf eine weitere Sequenz nach e-Moll hinunterführt. Bei dieser Wanderbewegung von fis zu gis dann zurück zu fis und e wird der Bass schließlich chromatisch zum Tiefton H (in der Funktion einer Dominante von e-Moll) hinuntergebogen, um mit einer drei Takte langen Dominantpartie die Wiederkehr des Anfangsthemas in Takt 25 vorzubereiten. Auch bei diesem Nocturne stehen metrische Gliederung und Artikulation in Widerspruch zueinander, denn dort, wo die Musik auf den Beginn zurückgreift (T. 9 und T. 25), ist der Einsatz von einem Legatobogen überklammert.18 Was die Setzung solcher Bögen anbetrifft, so offenbart ein Vergleich der Parallelstellen des Beginns ein 16 Vgl. Dahlhaus 1978, 16–26. Da nach Dahlhaus (2002, 588) allerdings zwei unterschiedliche sprachliche Modelle am Ausgangspunkt des musikalischen Periodenbegriffs stehen – einerseits »die Rhetorik, die von Prosasätzen«, andererseits »die Poetik, die von Verszeilen ausging« –, muss das von korrespondierenden Verszeilen hergeleitete, auf Symmetrieverhältnisse zielende Konzept durch jenes andere Modell ergänzt werden, das, auf den Kadenzschluss unterschiedlich langer Abschnitte gerichtet, der seit der Antike überlieferten rhetorischen Prosatheorie entspricht. 17 Man beachte im übrigen die kleine Umstellung der Melodiegeste in Achtelwerten in Takt 17, 19 etc. gegenüber dem Modell in Takt 1. 18 Rothstein 1988, 139.
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emühen um subtile Nuancierung der Artikulation, die bei jeder Stelle eine geringfügig B von den anderen abweichende Phrasierung vorschreibt (siehe Beispiele 5.6.1–5.6.3, 5.7). Eine Wiederkehr des Anfangs rundet den Eingangskomplex ab (Takte 25–32). Diese Wiederkehr des Themas, im Vergleich zur zweigliedrigen Periode stark kondensiert, gewinnt konklusiven Charakter, weil sie vom Anfang in E-Dur zum ersten Mal zum Ganzschluss in der Grundtonika des Nocturnes hinleitet. Die freie Ornamentik, die sich im H-Dur-Nocturne bei der Reprise aus dem planvollen Gegensatz zur ornamentfreien Exposition so überreich entfaltet hat 19, ist hier anders, mit einer viel strikteren Ökonomie eingesetzt. Erst jetzt, beim dritten Mal, prägt die künstlerische Regel der Augmentation die bogenförmige Anfangsgeste zu einer ornamental stark schweifenden Kurve aus (Takt 25 im Vergleich zu den Takten 1 und 9; siehe Beispiele 5.6.1– 5.6.3) und zeitigt in Takt 31 ein Pendant ähnlichen Zuschnitts, ohne dass aber die Melodiestruktur systematisch verziert würde. Allerdings ist dieser abschließende Abschnitt – das Gesetz klassizistischen Ausgleichs bringt es mit sich – stärker als bisher durch Digressionen charakterisiert: In den Takten 26–27 dringt das im vorangehenden Abschnitt etablierte Prinzip der Sequenzierung in die Themastruktur ein, aber das Pianissimo-Echo – eine Sequenz in der Unterterz C-Dur – nimmt den verzierten Anfang in E-Dur (T. 25–26) ins Schmucklos-Unverzierte zurück, als wäre es nur ein fahler Widerhall des Beginns. Von hier aus findet die Musik bald wieder zur Tonika E-Dur zurück und formt den Eröffnungskomplex zu Ende. Der nun folgende Mittelteil des Nocturnes (T. 32–57), der sich zu einem agitato aufschwingt und modulierend angelegt ist, zeigt Chopins Kunst der Bogenführung dissonanzreich dynamisiert – an der Grenze polyphoner Dichte bei stark aufgewühltem, in den Außenstimmen oft in Gegenbewegung geführtem, auch kanonische Elemente einbeziehendem Klaviersatz.20 Danach erscheint der anfängliche Themenkomplex in einer Variation der Takte 25–32 und damit zugleich des Werkbeginns ein weiteres, ein letztes Mal (Beispiel 5.7). Die ›Reprise‹ wird eingeführt mit einer Bogenfigur (T. 57), die bereits im Mittelteil des Nocturnes in Takt 39 und vor allem Takt 48 erklungen ist. Wie von einer verborgenen Gravitationskraft abwärtsgezogen, sinkt der Bass einen Halbton von C zu H1 und führt einen alterierten Spannungsakkord – es handelt sich um die seltene Grundform eines meist in der ersten Umkehrung verwendeten Septakkordes, des ›übermäßigen Quint-Sext-Akkordes‹, bei welchem hier innerhalb von a-Moll die IV. Stufe (Dis) hochalteriert im Bass erklingt – in den Quartsextakkord der Dominante E-Dur, die zugleich, aufgrund des Reprisenstatus, als neue Tonika auftritt. Zwei Takte später, wenn sich dieser Schritt als große Sekunde von H zu A wiederholt, 19 Samson 1996, 264. 20 Jim Samson erblickt darin gar einen Vorschein des »dissonanten Kontrapunkts« bei Gustav Mahler. Ebd., 265.
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leitet die Sequenz abermals eine Echowirkung im Pianissimo ein. Hier wird Musik aus der Individualität der Klangverbindung generiert. Drei Differenzen zur früheren Parallelstelle, allesamt genau ausgehört, erweisen Chopins hohe Kunst infinitesimaler Nuancierung. Erstens erklingt in Takt 58 anstelle des Tonika-Basstons die Dominante H, so dass nach dem alterierten Akkord der Takte 56–57 die Wiederkehr mit dem Reprisencharakter in einen Kadenzvorgang und dessen Bogenspannung eingebunden erscheint. Handelte es sich nur darum, dass ein Quartsextakkord anstelle der Grundstellung den E-Dur-Dreiklang anfangs repräsentierte, so wäre dies ein Ereignis von bloß lokaler Bedeutung; die weite simultane Intervallspannung H1–gis1 des Repriseneintritts lässt sich auch als Ersatz für den hier ausgesparten melodischen Auftakt h 0 des Werkbeginns hören. Weil aber die Tonika E-Dur erst am Ende dieses gegenüber der Parallelstelle zudem noch deutlich erweiterten Abschnitts erreicht wird, verändert sich die tonale Langzeitplanung. Zwischen der thematischen Wiederkehr des Anfangs (T. 58) und der tonikalen Schlussbildung (T. 70) ergibt sich damit eine Diskrepanz, die sich auf die musikalische Form auswirkt. Gegenläufig zur Veränderung des Basses evoziert der Anfangstakt des Themas, und darin liegt eine zweite Differenz, unmittelbar den eigentlichen Beginn des Nocturnes, d. h., die im Laufe des Stücks entfalteten Verzierungen (T. 9 und vor allem T. 25) werden, wenn nicht ›rückgängig‹ gemacht, so auf keinen Fall nach Art einer weiteren Augmentation zusätzlich verstärkt. Dies verleiht der Stelle den Charakter einer geradezu ergreifenden Reprise. Jenseits aller Ornamentik und ›unendlichen Melodie‹ erfüllt sich hier die Gattungsästhetik eines Nocturnes in einer radikalen Introversion, welche durch die Schlichtheit des wiederkehrenden Anfangstaktes gegenüber allen möglichen Verzierungssteigerungen einen Triumph feiert. Die Kraft der Ästhetik wirkt so nach innen. Und drittens bleibt die Melodiestimme beim Übergang von Takt 59 zu Takt 60 liegen – im Unterschied zu den Parallelstellen (T. 2–3, T. 26–27), wo die Phrasenstruktur eine gewisse Bewegung impliziert. Während die Takte 27f. von E-Dur nach C-Dur, also in die Unterterz, sequenzieren, wird hier – das fis 1 verharrt in der Oberstimme – eine Sequenz nach D-Dur, d. h. in die Untersekunde, realisiert. Die Umdeutung des fis 1, eine kleine Maßnahme, vermittelt der Musik noch obendrein einen Hauch zarter Ruhe, so dass nach dem Pianissimo der Ausweichung – einer ›Parenthese‹ im Sinne Robert Schumanns21 – das dynamische Wachstum hier nicht von ungefähr erst einen Takt später als in der früheren Parallelstelle einsetzt. 21 Schumann vergleicht die Parenthesenbildung in Jean Pauls Prosastil mit der Chopin’schen Syntax bei seiner Rezension der Klaviersonate in b-Moll: »Gerade Chopin hat (wie etwa Jean Paul) seine Häkelperioden und Parenthesen, bei denen man sich beim ersten Durchlesen eben nicht lange aufhalten darf, um nicht die Spur zu verlieren.« Schumann 1914, 13.
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Bei dieser letzten Wiederkehr des Anfangskomplexes erfüllt sich der »conquest of symmetry« in einer völlig ›organisch‹ wirkenden Dehnung der Struktur. Von Takt 63 an wird die eintaktige Geste sequenziert innerhalb der durch Zwischendominanten vorbereiteten Stufen des wieder erlangten E-Dur: II → IV → VI. Hier wird nun auch die halbtaktige Bogenfigur von Takt 31 auf anderthalb Takte (T. 68–69) gedehnt und zum Zweck eines noch höheren Konklusionsgrades in ihrer Bedeutung für den erweiterten Kadenzvorgang gesteigert (siehe Beispiel 5.8). Was aber ist überhaupt, in letzter Instanz, eine Kunst der Bogenbildung? Es handelt sich hierbei um eines der zentralen Geheimnisse gelingender Tonkunst. Musik ist nur dann in der Lage, den ihr von Odo Marquard zugewiesenen Anspruch einzulösen, als paradigmatisch erfüllte Zeit Vorbild für die Philosophie zu sein 22, wenn sie über die schiere Faktizität des Erklingens hinaus ihre eigene Motivation nicht von außen mitschleppt, sondern im Augenblick ihres Erklingens stets von neuem erzeugt. Sie ist damit auf eine paradoxe Weise Resultat von Energie und Energiespender in einem. Dies geschieht vor allem auf der Ebene, die syntaktische Spannungen zur Geltung bringt. Ein Bogen wäre demnach nichts anderes als die Zeit- und Energiekurve, die eine musikalisch fassbare Gestalt vom Beginn ihres Erklingens bis zu ihrem Ende als eine spürbare, selbst in der Ruhe dynamisch nach vorwärts weisende Einheit trägt. In der Klavierschule Eduard Erdmanns wurde, nebenbei bemerkt, der Kunst, ›Bögen‹ zu spielen, unter allen Prinzipien des musikalischen Vortrags ein oberster Stellenwert beigemessen.23 Die hier behandelten Phasen von Chopins Nocturne op. 62 Nr. 2 erweisen exemplarisch, was in der Tonkunst klangliche Bogenbildung umfasst: rhythmisch-gestisch, in der melodisch-kontrapunktischen Linienführung, als harmonischer Progress. Dass der Bogenbegriff aber auch in der Theorie musikalischer Form eingesetzt wird – er bezeichnet dort vor allem eine dreiteilige Symmetrie der Anlage (A-B-A, A-B-C-B-A etc.) –, führt zum letzten Abschnitt dieser Studie hin.
3. Individualisierung der Form Bei ›Logik‹ oder einem ›Triebleben der Klänge‹, aus Philosophie und Tiefenpsychologie auf die Musiktheorie übertragenen Metaphern, denkt man wohl in erster Linie an die Generierung von Musik auf lokaler oder allenfalls regionaler Ebene. Gerade dort, wo das musikalische Hören bei der Klang- und Strukturbildung eine unwiderstehliche Schlüssigkeit und zugleich häufig eine Überraschungswirkung erfährt, fällt der irrationale Modus eines ›Trieblebens‹ mit dem rationalen einer ›Logik‹ der Musik 22 Marquard 1990. 23 Mündlich an den Autor vermittelt durch seinen Zürcher Klavierlehrer Sava Savoff, der bei Erdmann Anfang der 1930er Jahre in Köln studiert hatte, dort 1934 das Solistendiplom erlangt hatte und bis zu dessen Lebensende mit ihm befreundet geblieben war. Vgl. Scherliess 2002, 401f.
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zusammen. Darüber hinaus stellt sich indessen die Frage – das Zeichen im Titel des Beitrags ist nicht bloß rhetorisch gemeint –, inwieweit diese Kategorien über Rhythmik, Harmonik und Melodik hinaus auch sinnvoll auf die musikalische Form beziehbar sind, zumal auf das, was die Musiktheorie, selbst bei der ›kleinen‹ Gattung des lyrischen Klavierstücks, ›Großform‹ nennt. Eine Diskussion solcher Probleme bei Chopin’schen Nocturnes sieht sich konfrontiert mit Carl Dahlhaus’ Urteil, das A-B-A-Schema lyrischer Charakterstücke für Klavier aus dem 19. Jahrhundert, das Raum schaffe für die ›inhaltliche‹ Entfaltung stimmungshafter poetischer Werte, erweise hier eine Irrelevanz der Form-Kategorie.24 Die Behauptung, schon früher bezweifelt 25, greift auch für Opus 62 nicht, ja sie steht einer schärferen Ausleuchtung dieser Kunst nachgerade im Wege. Infolge der reich verzierten Wiederkehr des Anfangskomplexes bietet sich für das H-Dur-Nocturne (Nr. 1) die These, es handle sich um eine Instrumentalversion der Da-capo-Arie (A–B–A’), mit besonders guten Gründen an 26, doch bleibt diesem Blick, sofern er die Grundform nur in einer Oberflächen-Optik spiegelt, die Einsicht in originellere Strukturen versperrt. Denn wichtiger noch als die eine solche These stützenden Faktoren – etwa die Einlösung des ›Repriseneffekts‹ bei diesem Typus einer ›Bogenform‹ – ist die Aufsprengung der dreiteiligen Symmetrie. Beim H-Dur-Nocturne ist der Anfangskomplex, wie gezeigt, dreiteilig angelegt. Die ›unendliche Melodie‹, die, anders motiviert als bei Wagner, auf einer ruhigen Achtelbewegung fußt, wird in den Takten 21–28 durch eine statische Zwischenphase in dis-Moll (d. h. der Moll-Dominante von gis-Moll bzw. der III. Stufe der Grundtonart H-Dur) aufgebrochen. Hieraus leitet sich das Material für die Endgestaltung des Klavierstücks (T. 81–94) her, welche – nun auf der Tonika H-Dur mit einigen modal verfremdenden Wechselklängen – den ruhigen Ausklang in eine irisierende Aura taucht. Es handelt sich um eine Coda; die Partie setzt bereits an ihrem Anfang die mit einer Kadenz erreichte Tonika H-Dur voraus (T. 81). Der Schlusskomplex bringt, obzwar die Ableitung unmittelbar zu hören ist, eine durchaus neue Farbe in die Musik hinein, lässt sie ins Innere ausklingen. In den weitgeschwungenen Linien dieser in einem Sechzehntelfluss ausgeformten Kurven offenbart sich, der strukturellen Klarheit zum Trotz, eine Rätselhaftigkeit, die mit der Ausleuchtung des Tonika-Dreiklangs (in Terzlage mit dem Hochton dis 2 bzw. dis 1) ihr Ende findet. 24 Dahlhaus 1980, 122. Allerdings anerkennt Dahlhaus auch eine Individualisierung der Form: »Neben der formalen Individualisierung, die mit der Unverwechselbarkeit des Chopin’schen ›Tons‹ eng zusammenhängt, gehört die Transformation musikalisch-funktionaler und dichterischer Gattungscharaktere zu den Momenten, die das ›Poetische‹ der Chopin’schen Musik, das Schumann bereits aus opus 2 herausfühlte, ausmachen.« (Ebd.) 25 Vgl. Danuser 1997 und Danuser 2000. 26 Tomaszewski 1999, 142.
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Das E-Dur-Nocturne (Nr. 2) ist in dieser Hinsicht sogar noch um einiges komplizierter gebaut. Hier stößt die Analyse beim Versuch, den Beginn des Mittelteils (des ominösen ›B‹-Teils im Dreiglied-Schema) präzise zu bestimmen, auf Schwierigkeiten. Soll man ihn bei der Sechzehntelbewegung in Takt 32 ansetzen, obgleich zunächst kein Modulationsprozess in Gang kommt – die Tonika-Funktion fällt in Takt 36 wieder nach E-Dur zurück –, oder erst in Takt 40, wo die mit agitato bezeichnete Hauptpartie des Mittelteils in der Paralleltonart cis-Moll anhebt? Anfangs- und Mittelkomplex sind jedenfalls nicht scharf gegeneinander kontrastiert, sondern durch einen Übergang verbunden, den man ›organisch‹ nennen dürfte, suggerierte das abgegriffene Wort nicht, es wäre von Natur statt von Kunst die Rede. All dies spielt eine Rolle bei der Gestaltung des Reprisenkomplexes, der mit einer Ausdehnung von 24 Takten (T. 58–81) keineswegs überdimensioniert ist. Die ›Reprise‹ mit der Wiederkehr der Haupttonart (E-Dur) verwandelt den gesamten Abschnitt in eine Art Großkadenz. Der Tonikaakkord selbst tritt in Grundstellung erst in Takt 70 auf, dem H-Dur-Klang in Takt 81 bei op. 62 Nr. 1 vergleichbar. Was aber folgt in den Takten 70–79? Die Schlussphase bildet ausgerechnet jene Partie charakteristisch um, die am Anfang des Mittelteils erklungen ist. Denkbar wäre also auch eine Schematisierung der Form nach dem Modell A–B–A’–B’, die allerdings den Kunstcharakter der Musik nicht weniger verfälschte als die Bogenform-These A–B– A. Ist das ästhetische Subjekt, wenn es auf den ambivalenten Beginn des Mittelteils zurückgreift, um die Musik ruhig ausschwingen zu lassen, von derselben Formidee geleitet wie unter den Brahms’schen Klavierstücken der Schlusstypus z. B. der g-MollBallade op. 118 Nr. 3, der mit einer in die Moll-Farbe abgetönten Reminiszenz an den Mittelteil verklingt? Aufgrund der verschiedenen Charaktere und formalen Verortung der Bezugsabschnitte stößt eine solche Analogie auf klare Grenzen; eine Versenkung in Erinnerung findet in Opus 62 Nr. 2 jedenfalls nicht statt. Gerade die Tatsache, dass das musikalische Material für die Endgestaltung im einen Fall dem Eckteil der Form (H-Dur Nocturne op. 62 Nr. 1) und im anderen Fall dem Mittelteil (E-DurNocturne op. 62 Nr. 2) entstammt, widerlegt entschieden die These, beim lyrischen Klavierstück sei die Formkategorie einem äußeren Rahmen vergleichbar, der bloß mit stimmungshaftem ›Inhalt‹ gefüllt würde. Weit entfernt davon, absent zu sein, ist hier die musikalische Form im Gegenteil in hohem Maße individualisiert. Lässt sich nun die im Titel des Beitrags aufgeworfene Frage beantworten? Kommt in den dargelegten Verbindungen eher eine ›Logik‹ der Klangbildung oder ein ›Triebleben der Klänge‹ zum Vorschein? Bietet die Musiktheorie Heinrich Schenkers zur Klärung des Problems eine Hilfestellung? Keineswegs monolithisch konzipiert, ist diese so vielfältig wie ihre staunenswerte Rezeptionsgeschichte, an der Experten und Exegeten seit bald einem Jahrhundert arbeiten. Eine Antwort auf die Frage, ob und inwieweit die Ergebnisse dieser Studie mit Schenkers Theorie kompatibel seien oder nicht,
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hängt daher vor allem davon ab, auf welche historische und systematische Etappe der Schenker’schen Theoriebildung man sie bezieht. Die Kategorie der Tiefenstruktur mit ihren den musikalischen Zeitverlauf weiträumig organisierenden ›Zügen‹ wäre gewiss in der Lage, mehrere Aspekte der vorgestellten Befunde zu erfassen. Doch die Abweichungen vom Pfad der musikalischen Vernunft, von einer rationalen ›Logik‹ der Musiksprache, die hier gleichfalls deutlich geworden sind, prägen eine Kunst individualisierender Unvorherhörbarkeit aus, die sich mit Schenkers Theorie nur dann einfangen lässt, wenn man vom rigorosen Systemzwang ihrer Spätphase absieht. Ein ›Triebleben‹ der Klänge, das sich einer ›notwendigen Willkür‹ bzw. einer ›anarchisch‹ überraschungsgesättigten Ästhetik öffnet, war Schenkers Sache nicht. Gleichwohl anerkennt auch er hinter den Vernunftprinzipien der Klangverbindungen ein Reich verborgener, in der Tiefe wirkender Kräfte. So fallen, wie es scheint, bei Chopins Nocturnes op. 62 Logik und Triebleben der Klänge letztlich doch geheimnisvoll in einem zusammen.
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6 Das Präludium als Abriss der Harmonielehre – Eine Interpretation von Chopins Opus 28 Nr. 9 H A R T M U T H K I NZ L ER
Das Grundmodell, auf das eine musikalische Oberflächenstruktur sich bei der Schenker’schen Analyse – über verschiedene Ableitungsstufen vermittelt – beziehen lässt, der Ursatz, ist eine stufenweise abwärtsschreitende Tonfolge von der dritten bzw. fünften (gelegentlich auch der achten) Leiterstufe zur ersten, die in der Oberstimme enthalten ist, verbunden mit einer geeigneten Bassstimme, welche die harmonischen Grundfunktionen von Tonika und Dominante umfasst. Vor diesem Hintergrundmodell erweckt Chopins E-Dur-Präludium besonderes Interesse, scheint es doch geradezu eine Entfaltung dieses Urlinienmodells in Reinform. Die Oberstimme dieses fast kantionalsatzartigen, primär akkordlichen Satzes, dessen ›Großform‹ aus drei gleich langen Teilen von je vier Takten besteht, ist eine – mit einer einzigen Ausnahme – lückenlose stufenweise Verbindung der genannten Haupttöne des Ursatzes.1 Der erste wie auch der dritte Teil verbinden die fünfte Leiterstufe, das h, mit der ersten, dem e, der Mittelteil hat als weiteren Hauptton die dritte Leiterstufe, das gis, allerdings notiert in einer enharmonisch umgedeuteten Form, d. h. als as. Allerdings hat diese dreifache ›Anwendung‹ des Urlinienmodells einen entscheidenden Schönheitsfehler, der die unmittelbare Deutung als Urlinien-Entfaltung problematisch macht: Die Linien der Oberstimme verlaufen nämlich gerade in umgekehrter Richtung2; statt von der fünften Stufe abwärts zur ersten zu führen, geht es genau in die andere Richtung – vom h über das cis zum dis und schließlich zum ersten, relativen Höhepunkt, einem e. Zwar erfolgt unmittelbar anschließend eine stufenweise Abwärtsführung, was aber keineswegs die Schwierigkeiten beseitigt, denn der 1 Eine Analyse eben dieses Präludiums aus der Feder Schenkers selbst liegt nicht vor. 2 Vgl. dazu auch den Beitrag von Stefan Rohringer »Schenker, Luhmann und das Problem der ›steigenden Urlinie‹« im vorliegenden Band, S. 193–225.
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Schlusston ist wiederum gleich dem Anfangston, d. h. die fünfte und nicht die erste Stufe der Tonart. Das Gleiche gilt auch für den zum gis resp. as führenden Mittelteil. Der letzte, reprisenartige Teil schließlich steigt wie der erste vom h 0 zum e 1 an, hat aber als Grundlage, darin ähnlich auch dem Mittelteil, nicht einen zusammenhängenden Ausschnitt aus der E-Dur-Tonleiter, sondern – vom Pänultima-Ton abgesehen – aus derjenigen in C-Dur: Dieser vorletzte Ton ist ein dis1, das auf das d 1 als dessen chromatische Alteration folgt, um eine leittönige Verbindung zum Schlusston e 1 zu erhalten. Dadurch entsprechen die Tonhöhenverhältnisse jenen um den ersten Höhepunkt des melodischen Verlaufes. Analoges gilt auch für den Mittelteil, auch er umfasst die Töne der C-Dur-Tonleiter: h, c, d, e, f, g; auch hier ist der letzte Tonschritt vor dem Höhepunkt ein Halbtonschritt: der Schritt vom g 1 zum as 1. Und noch ein weiterer ›Makel‹ ist zu beobachten: Der letzte Teil endet zwar wieder mit einer Folge von fünfter zu erster Stufe, hat aber im Unterschied zu den ersten beiden Teilen auch keine Abwärtsführung mehr. Vergleichbare Schwierigkeiten mit aufwärtsgeführten Linien ergeben sich für das C-Dur-Prélude Chopins, während jenes in e-Moll – in mancherlei Hinsicht ein Gegenstück zu dem in E-Dur – sich vorzüglich für eine solche Analyse eignet.3 Wenn man die Besonderheiten des E-Dur-Préludes erfassen möchte, muss man aber auch seine Stellung innerhalb der Gesamtheit der Sammlung berücksichtigen: Chopin hat nahezu sämtliche Stücke seines Opus 28 auf Basis eines speziellen motivischen Kerns entwickelt, den man als ein Sekundmotiv beschreiben kann, das auf einer bestimmten Leiterstufe, nämlich der fünften, platziert ist, und zwar in charakteristischer Weise jeweils zu Beginn der einzelnen Präludien.4 Aus der beinahe systematischen Variation der musiktheoretischen Parameter (sowie einer Variation der prinzipiell unterschiedlichen Möglichkeiten einer fortgesetzten Anwendung eben dieses Motives) entwickelt er die Vielfalt seines gesamten Opus. Dieses Verfahren ist vergleichbar und wurde verglichen mit Robert Schumanns Vorgehensweise in dessen Opus 9, dem Carnaval.5 Auch dort setzte sich der Komponist feststehende Tonfolgen als Ausgangspunkte, aus denen heraus er die jeweiligen Stücke-Anfänge konstruierte, wobei hier sekundär ist, dass diese Ausgangskonstella3 Salzers Analyse des C-Dur-Präludiums, das von ihm als »in jeder Hinsicht außergewöhnlich« bezeichnet wird, bleibt unbefriedigend (1960 I, 201): In der Ableitungsstufe b (II, 279) wird die Gesamtlinie in den Proportionen erheblich verzerrt. Im Unterschied zum E-Dur-Präludium ist aber immerhin der 16-taktige Mittelteil trotz chromatischer Linienführung klar der Haupttonart zugeordnet; dieses Präludium moduliert nicht. – Zum e-Moll-Präludium vgl. Blume 1989 sowie das Kapitel 2. 4 »Harmonik und Stimmführung: ein Beispiel« in Eybl 1995, 53–60. Ferner setzt sich mit einer Schenker’schen Sichtweise dieses Präludiums Maciej Gołąb (1995, 145–53) auseinander. 4 Gelegentlich auch zusätzlich explizit am Schluss wie im fis-Moll-Präludium in den Takten 25–33. 5 Zieliński 1999, 582.
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tionen durch ihre Tonnamen als Mittel für semantische, genauer: biographische Anspielungen dienen. Während nun die Schumann’schen Ausgangskonstellationen in ihren – modern gesprochen – Tonhöhenklassen für die Teilstücke absolut unverändert bleiben, was den Kreis der möglichen Tonarten einschränkt, bezieht sie Chopin streng auf die jeweilige Tonart des betreffenden Préludes.6 Es ist somit keine für das E-Dur-Prélude ›individuelle‹ Setzung, wenn seine ›Melodie‹ in der Quintlage beginnt und ihre nächste davon verschiedene Tonhöhe das cis ist. Wie bereits ausgeführt, besitzt das Stück einen klaren, vor allem durch die Oberstimme bestimmten, dreiteiligen Aufbau: ein zweimaliges stufenweises Auf und Ab der ›Melodie‹ sowie ein dritter Anstieg, der ohne Abwärtsführung bleibt. Aber bereits auf dieser Ebene zeigen sich deutlich Einschläge von Asymmetrie. Der erste Viertakter hat zwar seinen Höhepunkt in der Mitte, d. h. zu Beginn des dritten Taktes, aber bereits die Chopinsche Bogenführung zeigt, dass diese vier Takte nicht genau zu halbieren sind, sondern im Verhältnis 7 : 9 stehen. Eine noch auffälligere Asymmetrie weist der zweite Viertakter auf, dessen Melodieanstieg ein weit größeres Intervall durchschreitet und demzufolge seinen Höhepunkt einen Takt später erreicht, was umgekehrt für den Abstieg eine so kurze Spanne ergibt, dass er nicht mehr zur Gänze stufenweise erfolgen kann und daher ein Sprung, ein sukzessives Quartintervall abwärts, verwendet wird.7 Es entsteht so ein eher sägezahnartiger Verlauf. Im Hinblick auf den Ambitus der Melodie erscheint schließlich der dritte und letzte Viertakter als eine seltsame Synthese. Mit dem ersten teilt er den Ambitus h – e 1, erreicht aber, darin dem zweiten vergleichbar, seinen Hochton erst im vierten Takt. Zudem folgt auf den raschen Abfall der Melodie im letzten Takt des zweiten Viertakters nunmehr ein deutlich verlangsamter Anstieg, so langsam, dass der ›Raum‹ für die absteigende Linie fehlt. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass die interne Gestaltung der einzelnen Viertakter, die in ihnen jeweils verwendeten musikalischen Mittel, durchaus unterschied6 Dies hat beispielsweise Konsequenzen in Zusammenhang mit Chopins spezifischer Schlussgestaltung: Mit nur wenigen Ausnahmen, zu denen allerdings gerade das E-Dur-Präludium zählt, enden die Dur-Präludien in Terzlage, während diejenigen in Moll entweder in Oktavlage – dies der weit überwiegende Teil – oder aber in Quintlage schließen. (Letzteres ist auch beim Vergleich mit den Prinzipien der damaligen Musiksprache ein durchaus exzeptionelles Ereignis.) Ist nun ein Dur-Stück in Terzlage endend, so heißt dies für den Beginn des ihm in der Paralleltonart nachfolgenden Stückes, dass dessen Anfangston mit seiner fünften Leiterstufe dieselbe Tonhöhenklasse besitzt wie der oberste Ton des Schlussakkordes des voraufgehenden Dur-Stückes, ja mehr noch, in vielen Fällen ist es sogar exakt dieselbe Tonhöhe. Zur tonartlichen Bezugnahme aufeinanderfolgender Stücke innerhalb eines Opus vgl. auch Hermann Danuser, »Triebleben der Klänge? Über Chopins Nocturnes op. 62« im vorliegenden Band, S. 51–66. 7 Vgl. Zimmermann 1987, 28–30. Die Analyse des E-Dur-Préludes mit seinen unterschiedlichen stufenweisen Ausfüllungen von reiner und verminderter Quart (h 0 -e 1 bzw. e 1-as 1) findet sich nur in der Kollegstunde.
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lich sind – am auffälligsten vielleicht im Hinblick auf die Tonalität und die Prinzipien der Bassgestaltung. Verbleiben die Takte 1 bis 4 im Wesentlichen in der Ausgangstonart, so beginnt ab Takt 5 ein recht umfänglicher Modulationsvorgang, der erst am Ende dieses Viertakters wieder zur Ausgangstonart zurückführt, von der sich der letzte Teil erneut entfernt, um gewissermaßen im letzten Augenblick, ein wenig deusex-machina-artig, in die Schlusstonika einzumünden. Die Prinzipien der Bassgestaltung des ersten Taktes des ersten Formteiles kehren zwar im letzten wieder, sind dort jedoch auf nahezu seine gesamte Dauer ausgedehnt und kontrastieren zu jenen des Mittelteiles, während der Bassverlauf der übrigen Takte des ersten Teiles keine weiteren Entsprechungen hat. Begonnen sei die Detailanalyse mit der ersten größeren Sinneinheit, dem ersten Takt. Dass Takt 1 eine besonders einleuchtende Realisierung der Ausgangskonstellation ist, braucht wohl nicht eigens erläutert zu werden: Das h 0 wird wechselnd als akkordeigener Ton von Tonika und Dominante interpretiert, das folgende cis 1, die sechste Leiterstufe, als akkordeigene Subdominantterz. Eher wäre noch zu klären, inwieweit die analytische Segmentierung in einen Einzeltakt zu rechtfertigen wäre. Zwar endet das Chopinsche Segmentierungszeichen – der Bindebogen – erst gegen Ende von Takt 2, aber die Sequenzierungen in Takt 9ff. sprechen für sich. Der – sieht man von der triolischen Brechung ab – fast schulbuchmäßige vierstimmige Satz erinnert auch in der Lage an den Beginn des Variationsthemas von Beethovens Appassionata.8 Hier wie dort spielen ja Sekundmotive, gebildet aus den Tönen von fünfter und sechster Leiterstufe, eine konstituierende Rolle; hier wie dort findet sich im Anfangstakt ein grundtönig geführter Paukenbass. Zur ganztaktigen Segmentierung steht jedoch in einem gewissen Gegensatz die Auftaktigkeit, wie wir sie durch die Chopinsche Bogenführung gegen Ende des zweiten Taktes angedeutet finden. Man kann in rückwärtiger Analogie auch beim letzten Viertel des ersten Taktes ein Moment dieser Auftaktigkeit beobachten: Sie wird zum einen bestimmt durch die Basslinie, die explizit eine auftaktige Bogenführung von Takt 1 nach Takt 2 aufweist, zum anderen – damit zusammenhängend – durch die fehlende Pedalisierung des letzten Viertels des ersten Taktes, das dadurch klanglich von den ersten drei Vierteln separiert wird. Bestätigt wird die Auffassung des Grundmodells als eines, das zwar volltaktig beginnt, im weiteren Verlauf sich aber als auftaktig erweist, an weiteren Stellen im Verlauf des Stückes: Der reprisenartige Takt 9 weist das letzte Bassviertel durch die Oktavierung als Auftakt zum Folgetakt aus (Ähn-
8 Vgl. Kinzler 2002. Kresky (1994, 47) sieht diesen Takt als ein Zitat von Takt 21 des zweiten Préludes.
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liches findet sich von Takt 6 nach Takt 7).9 Im Übrigen ist aber die Auftaktigkeit von Phrasen kein Gegensatz zur deren volltaktiger Sequenzierung.10 Als Fortsetzung wären taktweise Aufwärtssequenzierungen naheliegend – wie es Takt 9 ff. dann ja auch tatsächlich geschieht. Es ergäbe sich so für die Melodie ein geschuppter Sekundanstieg, ähnlich dem in Chopins gis-Moll-Prélude, jedoch – im Unterschied zu dort – diatonisch, nicht chromatisch: Takt 1 h 0-cis 1, Takt 2 cis1-dis1 und Takt 3 dis 1-e 1. Der präsumptive Zielton e 1 wäre dann aber erst am Ende des dritten Taktes erreicht. Chopin bedient sich daher einer Verkürzungstechnik: In Takt 2 wird das Akkordpaar auf dem zweiten und dritten Viertel zugunsten einer Ausdehnung des ersten Akkordes auf zwei Viertel eliminiert. Statt einer fis-Moll / cis-Moll11 / fisMoll / H-Dur-Folge von vier Akkorden ist die Sequenz um ein Viertel verkürzt, wobei – um eine bloße Akkordwiederholung zu vermeiden – bereits auf der zweiten Zählzeit der Sequenzschlusston dis1 vorausnahmeartig angebracht ist. (Für eine Auffassung als Antizipation scheint auch der Sachverhalt zu sprechen, dass hier von der Vierstimmigkeit punktuell zu ›echter‹ Fünfstimmigkeit übergegangen wird und zudem der Bass auf dieser Zählzeit nicht erneut angeschlagen werden muss.) Eine noch radikalere Verkürzung erfährt das anfänglich vier, dann drei Akkorde umfassende Sequenzmodell beim Übergang zum Höhepunkt von Takt 2 nach Takt 3: Hier bleiben nur noch Anfangs- und Schlusston des Sequenzmodells erhalten, also statt gis-Moll / dis-Moll / gis-Moll / cis-Moll12 nur noch gis-Moll / cis-Moll. Chopin erreicht also durch diese Verkürzungstechnik den markanten Zielton ›rechtzeitig‹, d. h. zu Beginn des dritten Taktes. Für diese Auffassung als radikale Verkürzung spricht auch die Bassstimme an dieser Stelle: Lautet diese – mit Auftakt – für das 9 Die neue polnische Nationalausgabe (Wydanie Narodowe Dzieł Fryderyka Chopina, Serie A, Bd. 7, Preludia, hg. von Jan Ekier und Paweł Kamiński) ergänzt mit dem Hinweis auf den beschränkten Ambitus der Chopin zur Verfügung stehenden Klaviere in Takt 9 die Unteroktave für das zweite und dritte Viertel dieses Taktes. Ob dies als eine Verbesserung anzusehen ist, sei dahingestellt: Takt 9 ist der Anfang eines viertaktigen Crescendo-Formteiles, der in der ergänzten Form zu Beginn dann klanglich sehr massiv wirkt; zum anderen entfällt damit zugleich die Korrespondenz der Bassoktaven Es-Es 1 und E-E1 zu Beginn von Takt 8 und 9 und eben auch jenes Moment der durch die Verdoppelung ausgedrückten Auffassung des letzten Viertels als Auftakt zum folgenden Takt. 10 Chopin folgt in auftaktigen Stücken wie dem e-Moll-Prélude nicht der Konvention, dass Auftakt und letzter Takt eines Stückes jeweils sich zur Dauer eines ganzen Taktes ergänzen sollen. Interessant in diesem Zusammenhang, dass in der Skizze KK 389 zu diesem Präludium dessen Auftakt sich als später hinzugefügt erweist (abgebildet u. a. in Eigeldinger 2000, 160). 11 Hier könnte auch eine Zwischendominante (Cis-Dur) erscheinen. Vgl. dazu aber die folgenden Ausführungen. 12 Vgl. dazu Anm. 11. Man beachte, dass eine völlig tonale Sequenz hier den verminderten Dreiklang der VII. Stufe erforderlich machen würde, der im Sinne des Modells nicht mehr korrekt weitergeführt werden könnte.
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erste, seinerseits ja bereits verkürzte Modell A-Gis-Fis-H1, so erscheint der Septimenrahmen dieser Linie als stufenweise abwärts sequenziertes fallendes Septimenintervall mit der charakteristischen Doppelpunktierung des Auftaktes als H-Cis für das zweite, zum zweiten Mal verkürzte Modell (um sogleich wieder rücktransponiert als Intervall A-H1 die Bassstimme des zweiten und dritten Viertels von Takt 3 zu bestreiten). Zudem sind die Verkürzungen des Ausgangsmodells so angelegt, dass jeweils der Quintfall innerhalb des Modells erhalten bleibt und so die Außenstimmen der Akkorde in der rechten Hand zwischen Takt 1, drittes Viertel, und Takt 3, erstes Viertel, eine zusammenhängende 5-6-Kette beschreiben.13 Zugleich erhält Chopin durch die Verkürzungstechnik für die Oberstimme auch eine Variation des Rhythmus-Tonhöhen-Modells: Der Sekundschritt aufwärts erfolgt in Takt 2 nunmehr beim Übergang vom ersten zum punktierten Taktteil, nicht erst am Taktende wie in Takt 1, während bei der zweiten Verkürzung der Sekundschritt aufwärts vom Auftakt zum ersten Taktteil hin stattfindet. (Nimmt man den dritten Takt hinzu, so findet der Schritt aufwärts jeweils auf einem anderen Taktteil statt, während die übrigen Melodietöne eines Taktes jeweils nur aus Tonwiederholungen bestehen.) Auffällig ist bei den so gestalteten Takten, dass die jeweils verwendeten harmonischen Mittel – dies die zentrale These der vorliegenden Abhandlung – in fast exakt derselben Reihenfolge erscheinen, wie sie in den meisten Fällen in elementaren Harmonielehren abgehandelt werden. Takt 1 besteht aus den Hauptdreiklängen in Grundstellung und nur aus diesen, ohne harmoniefremde Töne. (Dass der zugrundeliegende Akkordsatz ebenfalls harmonielehremäßig vierstimmig gehalten ist, wurde bereits erwähnt.) Sodann bringt Takt 2 die leitereigenen Nebenstufen in Dur sowie die ersten harmoniefremden Töne – neben der Antizipation im Bass die Ausfüllung des von den Grundtönen der IV. zur II. Stufe gebildeten Terzschrittes mit diatonischen Durchgangsnoten. Außerdem treten Dreiklangsumkehrungen auf – die III. Stufe erscheint als Sextakkord. Auch der Blick auf die folgenden Takte scheint dieses Prinzip zu bestätigen. Takt 3 operiert mit Nebenseptakkorden, zunächst auf der ersten Zählzeit noch in Grundstellung, dann aber auch in Umkehrungsformen (auch Vorhalte werden hier erstmals eingeführt), Takt 4 erweitert die Terzschichtung: Hier kommen Fünfklänge zum Einsatz, ferner wird dort der Akkordvorrat über die leitereigenen diatonischen Klänge hinaus um die Wechseldominante erweitert. Betrachtet man die Harmoniefolge von Takt 3 und 4, so kann man feststellen, dass es sich im Hinblick auf die Stufenfolge im wesentlichen um eine Wiederholung han13 Frdl. Hinweis von Oliver Schwab-Felisch. Ein solches Denken in Intervall-Ketten lässt sich in noch weitergehender Weise auch für das e-Moll-Prélude konstatieren. Vgl. Kühn 2006, 70, der dabei – wie Eybl 1995, 58 – auf 7-6-Dissonanzketten verweist.
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delt: VI. Stufe, II. Stufe, zweimal die V. Stufe.14 Dies ist insofern erstaunlich, als auf Grundlage der Wiederholung einer Akkordfolge die Oberstimmenmelodie selbst um genau eine Tonstufe tiefer geführt wird, und nicht, wie das Terzschichtungprinzip der Akkorde nahelegen würde, etwa um eine Terz.15 (Ermöglicht wird dies beispielsweise zu Beginn der fraglichen Takte durch die Verwendung der None des Nonenakkordes anstelle von deren Dezime – sprich Terz.) Aber nicht nur eine Wiederholung der Stufenfolgen beinhaltet dieser Doppeltakt, seine Stufenfolge ist zugleich Teil derjenigen einer Quintfallsequenz. Hält man Ausschau nach den restlichen Akkorden einer kompletten Sechter-Sequenz, so wird man – gewissermaßen rückblickend – fündig: Die Abfolge I. Stufe, IV. Stufe bildet den zweiten Teil von Takt 1, während die VII. und III. Stufe in Takt 2 erscheinen. Dies ist für die VII. Stufe nicht sogleich offensichtlich, aber die zuvor als Antizipation gedeutete Sexte dis 1, die zur II. Stufe hinzutrat, ist zugleich der hinzugefügte Grundton eines Septakkordes der VII. Stufe, wenn auch in dessen erster Umkehrung. Ein Vorgang also, welcher der Hinzufügung der sixte ajoutée zur IV. Stufe vergleichbar ist, wodurch diese zum Vierklang der II. Stufe, nämlich zu deren Quintsextakkord gemacht wird. Mit anderen Worten: Zwar folgt die VII. Stufe nicht – wie im Modell – unmittelbar auf die IV. Stufe, die interpolierte II. Stufe aber enthält bereits genau jene Töne, die zusammen mit dem Grundton der VII. Stufe deren Vierklang bilden. Dieselbe Interpolation bietet auch die zweite Takthälfte von Takt 2: Zwischen den Quintsextakkord der VII. Stufe und den Sextakkord der III. tritt die V. in Grundstellung. Fügt man – wie gehabt – die Sexte hinzu, so ist dieser Klang zu einem Vierklang der III. Stufe umgewandelt. Beachtet man, dass Chopin in der zweiten Hälfte von Takt 2 – ähnlich wie in der ersten – das Pedal als liegenbleibend vorschreibt, so handelt es sich in der Tat auf der vierten Zählzeit um einen echten Quintsextakkord der III. Stufe, nicht nur um die einfache erste Umkehrung des gis-Moll-Dreiklanges. Richtet man das Augenmerk auf die Grundtöne, so wird klar, dass hier bei zwei aufein ander folgenden Quintfällen, denen von A nach Dis sowie von Dis nach Gis, gerade jeweils eine Zerlegung der Quint- in zwei Terzschritte gleicher Richtung erfolgt. Mit anderen Worten: Die Takte 1 und 2 sind von zwei Sequenzmodellen bestimmt, zum einen von einer stufenweise aufwärtsgeführten, und wie gezeigt, von vier über drei auf zwei Akkorde verkürzten Sequenz des Anfangstaktes; zum andern von einer Quint14 Strenggenommen ist Takt 3, dritte Zählzeit eine (dominantisch wirkende) VII. Stufe. 15 Ein Gegenstück zu dieser außergewöhnlichen musikalischen Idee findet sich im e-Moll-Prélude: Die Melodie der Takte 1 bis 4 ergibt um eine Leiterstufe abwärts transponiert jene von Takt 5 bis 8, während die unterlegten Akkordfolgen ihrerseits – von chromatischen Varianten abgesehen – um eine kleine Terz abwärts sequenziert werden.
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fallsequenz, die von Takt 1, dritte Zählzeit 16, bis zum Ende von Takt 3 reicht. Erstere endet mit dem dritten Viertel des zweiten Taktes – auf die Chopinsche Bogensetzung wurde bereits hingewiesen –, letztere beginnt ›eigentlich‹, d. h. ohne Interpolation von Akkorden, gewissermaßen auftaktig mit der vierten Zählzeit von Takt 2. Für die Interpolationsstelle ergibt sich das Problem, dass die beiden Sequenz mechanismen in Hinblick auf die generelle Richtungstendenz einander entgegenstehen: Der erste führt Taktpaare stufenweise aufwärts, der zweite, wie alle regulär gebauten Quintfallsequenzen, stufenweise abwärts. Dass sich Chopin hier so entschieden hat, um gerade den gewünschten globalen Oberstimmenverlauf zu erhalten, dürfte einleuchten. Andererseits bewirkte die Unterterzung der Grundtöne, die ja dank des Liegenlassens der jeweiligen Basstöne in Takt 2 eigentlich – wie besprochen – auf eine Sextenajoutierung hinausläuft, dass in die Sequenzierung Septakkorde eingebaut wurden, deren Basston die jeweilige Terz ist. Damit ist motiviert, dass in Takt 3 der zweite Akkord wiederum ein Quintsextakkord ist, oder anders gesprochen, der Septsprung abwärts von Takt 2 nach 3, der seine rhythmische Gestalt, wie bereits erwähnt, vom Übergang von Takt 1 nach Takt 2 erhielt, im dritten Takt abwärtssequenziert wiedererscheint: aus H-Cis wird A-H1. Auch ein Blick auf die Septen der Quintfallsequenz – Stichwort: Harmonielehre-Unterkapitel »freie Behandlung der Sept« – lohnt sich. Bei einer regulären Quintfallsequenz mit Vierklängen bedarf es bekanntlich einer Vorbereitung und Abwärtsführung der dissonierenden Septen, wobei es im vierstimmigen Satz dadurch für gewöhnlich zu einer alternierenden Folge von Sekund- und Quintsextakkorden kommt.17 In der Tat ist in Takt 1 auch schon die IV. Stufe gewissermaßen als Sekundakkord gestaltet, wenn auch dieser nicht durch Überbindung der Terz der I. Stufe entstand, so doch durch ein stufenweise nachschlagendes Einführen im Bass. Die Septe der VII. Stufe, das cis, ist regulär durch Liegenlassen eingeführt, ihre Auflösung erfolgt jedoch nicht stufenweise abwärts, sondern stellvertretend im Bass. Genau dieselbe Konstellation, ein stellvertretendes Erscheinen der Lösung in einer anderen Stimme, liegt beim Übergang von der VI. zur II. Stufe in der ersten Hälfte von Takt 3 vor. (Die Vorbereitung der Septe der VI. Stufe durch die Terz der III. Stufe wurde insbesondere dadurch erreicht, dass dort eben diese Terz verdoppelt wurde.) Durch die melodische Sequenz des Septsprunges im Bass erreicht Chopin, dass der Wechsel von einem Septakkord zu einem bloßen Dreiklang beim Übergang von der II. zur V. Stufe quasi ›natürlich‹ wirkt, da kein Liegenlassen des Tones a, der Terz der II. Stufe, in die Septe der V. erwartet wird, 16 Theoretisch könnte sogar noch die zweite Zählzeit in die Stufenfolge mit einbezogen werden. 17 Es sei denn, man lässt unvollständige Septakkorde zu. Die alternierende Aneinanderbindung von Quintsext- und Sekundakkorden bei stufenweiser Bassführung (bzw. von Terzquart- und unumgekehrten Septakkorden) gilt aber nur für die echte Vierstimmigkeit, in der Fünfstimmigkeit, wie sie in Takt 2 auf der zweiten Zählzeit und durch das Pedal – akustisches Liegenlassen des Fis – auch auf der vierten gegeben ist, sind auch andere Bassführungen möglich, insbesondere jene Bassführung des Préludes, bei dem zwei Quintsextakkorde sich unmittelbar (nur durch den Interpolationsakkord getrennt) abwechseln: derjenige der VII. und der III. Stufe. Der dabei entstehende Quintfall Fis-H1 ist nicht einer der Grundtöne, sondern der Septakkord-Terzen.
Das Präludium als Abriss der Harmonielehre sondern eben jener Sprung (interessanterweise ist dieser Taktteil als nahezu einziger unpedalisiert18). Zusätzlich ist die V. Stufe durch einen Quartvorhalt gespannt.
Letzterer Sachverhalt ist auch für die ›Melodiegestaltung‹ von Bedeutung. So zeigt die Oberstimme des ersten Taktes eine zwei- bzw. dreimalige Wiederholung desselben Melodietones, bevor er (im Sinne der eingangs dargestellten Ausgangskonstellation nahezu aller Chopin’schen Préludes) stufenweise von der fünften Stufe der E-Dur-Tonleiter zur sechsten führt. Dies gilt auch für die Melodie im dritten Takt, wenn auch die Bewegungsrichtung der Sekunde – natürlich ganz im Sinne der ›globalen‹ Melodiedisposition des E-Dur-Préludes – nunmehr abwärtsgerichtet ist. So wie aber in Takt 2, wie bereits gezeigt, eine Veränderung des Oberstimmenverlaufes gegenüber dem ersten erfolgte – zwar blieb die rhythmische Gestaltung gleich, durch die Verdichtung verschob sich jedoch die Position des Sekundschrittes innerhalb des Taktes –, so hat auch der vierte Takt diesbezüglich Änderungen aufzuweisen: Erstmals im Stück wird die Tonwiederholung innerhalb eines Taktteiles, die Teilung in ein punktiertes Achtel und ein anschließendes Sechzehntel19, suspendiert und durch einen Sekundschritt ersetzt. Diese Veränderung in der ersten Hälfte von Takt 4 wird als melodische Sequenz auch auf dessen zweite Hälfte ausgedehnt.20 Die stufenweise Sequenz der Melodie innerhalb des Taktes, basierend auf dem Nonenvorhalt des Dominantseptakkordes 21, ist wohl erforderlich, um auf dem Zielton h bereits am Schluss 18 Die beiden anderen Stellen sind das bereits erwähnte, mit einem Bassdurchgang versehene vierte Viertel von Takt 1 sowie die Vorhaltsquartsextakkordauflösung im zweiten Viertel von Takt 8; zu Takt 4, letztes Viertel, vgl. Anm. 21. 19 Auf die in der Literatur zu diesem Prélude meist erfolgende Diskussion der Frage der Triolen angleichung kann hier verzichtet werden. 20 Man bedenke, dass ohne die Vorhaltsbildungen dis 1-cis1 auf dem zweiten Viertel bzw. cis 1-h auf dem vierten Viertel von Takt 4 Quintparallelen des Typus ›rein-rein‹ entstünden, und zwar von der ersten zur zweiten Zählzeit wie auch von der vierten zur ersten des folgenden Taktes. (Manche Harmonielehrebücher weisen auf diese Parallelengefahr bei Nonenakkorden explizit hin und bieten Lösungen an, die aber hier wegen der Figuration nicht verwendet werden können.) Dagegen ist die tatsächlich geschriebene Parallele beim Übergang von Takt 3 nach Takt 4 – H1 / f is wird zu Cis / gis – durch den Wechsel von der Vierstimmigkeit (mit Oktavverstärkung der Oberstimme in der rechten Hand) zur echten Fünfstimmigkeit zu rechtfertigen. (›Echte‹ Quintparallelen in den Außenstimmen finden sich gelegentlich bei Chopin, so etwa im e-Moll-Prélude beim Übergang vom dritten zum vierten Takt.) 21 Man beachte, dass bei grundsätzlicher Wiederholung der Stufenfolge von Takt 3 nach Takt 4 am Ende von Takt 3 kein Septakkord stand, wohl aber in Takt 4 (mit vorhergehendem Septakkord der VII. Stufe in Funktion eines noch durch Grundtonunterterzung entstehenden Septakkordes der V. Stufe) – mit diesem Sachverhalt in Zusammenhang steht womöglich auch die Verwendung der Wechseldominante anstelle des leitereigenen Septakkordes der II. Stufe. Interessant auch ein Detail der Pedalisierung: Im Unterschied zu den meisten deutschen Druckausgaben steht im Autograph das Aufhebungszeichen deutlich nach dem Dis auf der 4. Zählzeit von Takt 4, d. h. zwischen dem Septakkord der VII. Stufe auf der dritten Zählzeit und
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des Viertakters anzugelangen und nicht erst – wie bei ›regulärer‹ ganztaktiger Sequenzierung der Oberstimme von Takt 3 nach Takt 4 – in Takt 5. Zur Frage der Bassgestaltung für den zweiten Zweitakter: Chopin verzichtet sowohl auf die bei Quintfallsequenzen möglichen und typischen Quint-Quart-Schrittfolgen 22 – immerhin waren ja gerade Takt 1 und 2 durch diese Art von Schritten bestimmt – wie auch auf eine stufenweise Abwärtsführung des Basses und wählt stattdessen Umkehrungsformen, die eine Mischung aus stufenweisem Fortschreiten und Sprüngen ermöglichen, und zwar ein stufenweises Fortschreiten, das aufwärts führt, und eine Sprungfolge, die eine Art latenter Zweistimmigkeit erzeugt, d. h. die eine Tiefsttonmelodie im Bass ausprägt. Diese Tiefsttonmelodie aber ist gerade – bezieht man den Auftakt zu Takt 3 mit ein – die Folge H1-Cis-H1-Cis-Dis-E, d. h. unsere Hauptkonstellation eines Sekundmotives auf der fünften und sechsten Leiterstufe mit anschließender Wiederholung und Fortführung des Sekundmotives von der siebten zur achten resp. ersten Stufe. Letzteres ist aber nichts anderes als eine freie Imitation der Oberstimme von Takt 1/ 2. Gemeinsam mit der abwärtsführenden Oberstimme von Takt 3/4 erhält der Bass damit eine Führung in Gegenbewegung – eine Art von Stimmführung der Außenstimmen, die für den folgenden Formteil bedeutsam wird. Beachtenswert ist auch die kontrapunktisch gedachte zeitliche Versetzung dieser stufenweisen Gegenbewegung ab der Mitte von Takt 3: Zwischen Sopran- und Basston liegen die Intervalle Quart resp. Undezime (Takt 3, drittes Viertel), die None (Takt 4, erstes Viertel) und die Septime (Takt 4, drittes Viertel), die ihre konsonanten Auflösungen erst im jedem der V. sollte kein Pedalwechsel stattfinden, so wie er ja auch in Takt 2 bei den analogen harmonischen Vorgängen der Unterterzung bzw. ›Besextung‹ unterblieb. Deutlich zu sehen ist noch, dass sogar ursprünglich eine Ausdehnung des Pedals bis zum Taktende vorgesehen war – dieses Aufhebungszeichen ist trotz Durchstreichung im Autograph noch deutlich erkennbar. Die Streichung und Vorverlegung der Pedalaufhebung ist im Zusammenhang damit zu sehen, dass die Kleinstichnoten am Taktende zunächst legato gedacht waren, wie der – wiederum im Autograph noch sichtbare, mehrfach durchgestrichene – Bindebogen zeigt; ihre Verwandlung in staccato-Noten muss demzufolge erst in einem zweiten Notierungsschritt erfolgt sein. Klanglich ist die originale Miteinbeziehung des letzten Bassviertels ins Pedal insofern bedeutsam, als es sich ja nicht nur um einen Einzelton, sondern um einen Triller auf diesem Ton handelt und zudem an dieser Stelle eine Crescendogabel steht. (Auch der Triller an entsprechender Stelle in Takt 3 ist zu pedalisieren; dass dort zwischen dritter und vierter Zählzeit ein Pedalwechsel gefordert ist, hängt mit Chopins Klangeinschätzung dieser Stelle zusammen. Im Allgemeinen werden Vorhaltsauflösungen bei beibehaltener harmonischer Funktion von Chopin auch dann noch ohne Pedalwechsel notiert, wo heutiges Klangempfinden bereits das Verdikt des ›Verschmierens‹ ausspräche. Nur in der Mittellage und darunter, zumal in langsamem Tempo, wo das Weiterklingen des Vorhalts tones deutlich zu vernehmen ist, wird – so auch an der fraglichen Stelle – ein Wechsel notiert; wichtig für die Frage des Liegenlassens des Pedals ist auch, dass zwischen Vorhalts- und Lösungston im einen Fall eine Klein-, im anderen eine Großsekundrelation besteht.) 22 Vgl. dazu etwa Chopins Opus 10, Nr. 1, Takt 35ff.
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weils folgenden Taktteil stufenweise abwärts erfahren. Auch der von der Bassstimme umschriebene Hochtonverlauf – die Folge H-A-Fis-E – fügt sich ins Konzept einer Gegenbewegung zum Bass.23 Fragt man nach der Auf- bzw. Volltaktigkeit des zweiten Zweitakters, so zeigen sich interessante Sachverhalte. Geht man von einer regulären Gestaltung von Phrasenlängen aus, so müsste, nachdem das letzte Viertel von Takt 2 wohl als Auftakt gesehen werden sollte, auch die letzte Zählzeit von Takt 3 und 4 diese metrische Position innehaben. Diese Viertel aber sind ihrerseits Auflösungen von Vorhaltsakkorden des jeweils vorangehenden Viertels, d. h. harmonisch so eng an diese gebunden, dass als Auftaktdauer nicht die Dauer einer Viertelnote, sondern die einer halben angesehen werden müsste. Auch dass die Bassnoten auf dem dritten und vierten Viertel von Takt 3 und 4 jeweils dieselbe Tonhöhe besitzen, weist in diese Richtung. Die harmonische Eigenschaft der Vorhalte in diesen beiden Takthälften ist jedoch die einer Spannungslösung24, was sie in einen gewissen Gegensatz zu dem eher spannungserzeugenden Auftaktmoment bringt. Dass dennoch ein solches Hinzielen auf die erste Zählzeit des Folgetaktes realisiert wird, ist den Basstrillern und den Crescendogabeln zu danken. Darüber hinaus ist noch eine Spannungsabstufung zwischen den beiden Taktübergängen zu sehen. Der erste ›Großauftakt‹, der Quartvorhalt der Dominante mit seiner Auflösung, führt trugschlüssig in die variierte Taktwiederholung, wobei ja der Leitton ›irregulär‹ in eine Dissonanz abwärtsgeführt wird, wirkt weniger stark schließend als der zweite. Letzterer hat die Funktion eines Auftaktakkordes vor dem Eintritt eines neuen Formteiles, wirkt ›doppelpunktartig‹, so dass dieser seinerseits – wie auch die Chopinsche Bogenführung nahelegt – volltaktig beginnen kann. Der an die ersten vier Takte sich anschließende, wiederum vier Takte umfassende Formteil hat den Charakter eines durchführungsartigen Kontrastteiles. Zugleich stellt er aber auch eine variierte Wiederholung dar. Begonnen wird wie im ersten Takt mit der Grundkonstellation: Die fünfte Leiterstufe wird in der Oberstimme nach einer Reihe von Tonwiederholungen in die sechste geführt. Allerdings ist es nunmehr die kleine Sexte über dem Grundton, und diese ist – im Unterschied etwa zur kleinen Sexte zu Beginn des gis-Moll-Préludes – nun nicht mehr leitereigen. Will man diesen Ton mit einem Dreiklang akkordeigen harmonisieren, so ergeben sich im Wesentlichen drei Möglichkeiten. Eine Auffassung als Grundton führte nach C-Dur bzw. 23 Für den Septakkord der II. Stufe in Takt 4 geht Chopin dazu – im Unterschied zu Takt 3 – in die Grundstellung: Eine analoge Gestaltung zu Takt 3 als Quintsextakkord würde nicht nur diese übergeordnete Gegenbewegung innerhalb des Basses nicht realisieren, auch müsste auf die Hochalterierung der IV. Leiterstufe ins ais anders reagiert werden. 24 Genau genommen ist das dritte Viertel von Takt 4 noch kein Nonenvorhalt vor der Dominante, sondern lediglich ein Septakkord der VII. Stufe. Dieser aber ist durch die Vorhaltsbildung des vierten Viertels in diesem vollständig enthalten. (Es tritt das h, welches die V. Stufe definitiv etabliert, im zweiten Triolenachtel auf Zählzeit 4 ein.)
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c-Moll, eine als Quintton nach F-Dur bzw. f-Moll und eine als Terz nach As-Dur bzw. a-Moll. Von diesen Möglichkeiten wählt Chopin an dieser Stelle die erste. (Die Deutungen eines c 1 als Bestandteil von F-Dur, a-Moll und As-Dur kommen im übrigen im weiteren Verlauf des Stückes denn auch tatsächlich vor; eine Deutung als Grundton von c-Moll führte zu Problemen, wenn als erster Zielton ein e 1 angesteuert würde. Zudem weist der Anfang des ersten Formteiles, zu dem dieser Abschnitt in Beziehung steht, ebenfalls noch keinen Mollakkord auf.) Für den Fall, dass der kontrastierende Formteil in seiner Oberstimme zunächst ebenfalls noch von h 0 nach e 1 führen soll, sind weitere Entscheidungen zu treffen, nämlich für die Gestaltung der dazwischenliegenden Töne. Insbesondere wäre die Frage zu beantworten, ob vom c 1 zum e 1 zwei, drei oder gar vier Melodieschritte zu interpolieren sind. Auf die letzte Möglichkeit, die auf einen Ausschnitt aus der chromatischen Tonleiter hinausliefe, verzichtet Chopin, jene mit drei bzw. – unter Einbeziehung des Schrittes von h 0 nach c 1 – mit vier Schritten (h 0 -c 1-d 1-dis 1-e 1) realisiert er im Reprisenteil. Soll der Quartenambitus so wie in Takt 1ff. aber gerade mit vier verschiedenen Tonhöhen ausgefüllt werden und ist der erste Schritt ein Halbton, so bleibt – wenn man übermäßige Sekundschritte vermeiden will – nur noch die Folge mit dem d 1 übrig, also ein Ausschnitt aus der C-Dur-Tonleiter.25 Eine weitere Frage betrifft die Einführung des leiterfremden C-Dur-Akkordes. Denkbar immerhin, ihn unmittelbar im Anschluss an die Wiederkehr der Tonika im dritten Taktviertel zu etablieren (ein unmittelbarer Anschluss an die Dominante HDur führte zu Parallelen). Elegant nimmt sich die tatsächliche Form aus: Statt – wie beispielsweise in Takt 2 – das Grundmodell zu verkürzen, erweitert Chopin es, indem er neben der Dominante von E-Dur auch jene von C-Dur interpoliert, ja mehr noch, er dehnt jenen G-Dur-Klang auf eine ganze Takthälfte aus, wobei er die Fortführung des h 0 ins c 1 noch zusätzlich motiviert, indem er eine nachschlagend eingeführte Dominantsept im Bass unterbringt, die im Übrigen auch dem Bassdurchgang in Takt 1 korrespondiert. Beide Möglichkeiten – die von Chopin gewählte wie auch diejenige, die E-Dur und C-Dur unmittelbar konfrontierte – weisen mit ihren Mediantbeziehungen ein deutliches harmonisches Überraschungselement auf. Die Idee der Erweiterung des Eintaktmodells schlägt sich auch in der rhythmischen Gestaltung der Melodiestimme nieder. Folgten auf den punktierten zweiten Taktteil in Takt 1 zwei nicht weiter unterteilte Viertelnoten, so gilt dies modifiziert auch für Takt 5/6: Der Rhythmus in Takt 5 hat Punktierungen sowohl auf der zweiten wie auch – da ja ein Halbtakt interpoliert wurde – auf der vierten Zählzeit. Nach 25 Auch das gis-Moll-Prélude hat Melodieabschnitte, die neben der chromatischen Leiter als Tonvorrat auch auf diatonischen Leitern basieren, die ihrerseits nicht mit denen der Grund- bzw. Paralleltonart des Stückes identisch sind: Die Takte 28ff. umschreiben ebenfalls die C-Dur-Tonleiter.
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diesem Neuansatz sind daher bei analoger Konstruktion nun auf der zweiten Zählzeit des folgenden Taktes keine Punktierungen sinnvoll. Es gibt in der Tat keinen weiteren Takt im Stück, der auf dieser (zweiten) Taktzeit ebenfalls ein ununterteiltes Viertel aufwiese. Insgesamt umfasst dieser erste Abschnitt damit eine Länge von sieben Vierteln, d. h., er ist genauso lang wie der erste, aufsteigende Abschnitt zu Beginn des Stückes. (Diese sieben Viertel können selbstverständlich auch – in Analogie zur oben geschilderten auftaktigen Auffassung des letzten Viertels von Takt 1 – in eine Gruppierung von 3 plus 4 Viertel gegliedert gesehen werden: die erste Phrase voll-, die zweite auftaktig. Die volltaktige Auffassung des Anfangs von Takt 5 entspricht – wie bereits gesagt – der Bogenführung Chopins.) Und noch eine Besonderheit weist die Melodiestimme durch die Erweiterung auf: Erstmals im Verlauf des Stückes ist der Übergang vom durch die Punktierung entstandenen Sechzehntel zu dem nachfolgenden Viertel nicht mehr eine bloße Tonwiederholung, sondern ein Sekundschritt, genauer noch: die Leitton-Aufwärtsführung. Angesichts der Verlangsamung des Ansteigens durch den Einschub eines Halbtaktes scheint es einleuchtend, dass im Melodieverlauf eine weitere Sekundkombination auftaucht, die bislang ebenfalls noch nicht vorkam, aber durchaus im Rahmen der Grundkonstellation der Präludiensammlung zu sehen ist: als das Aneinanderreihen zweier Sekundschritte, d. h. als zusammenhängenden Tonleiterausschnitt ohne eine dazwischengeschaltete Tonwiederholung. Diese Art der Gestaltung – Sekundschritt beim Übergang zum nächsten Takt sowie anschließend drei aufsteigende, ununterteilte Viertelnoten – unterstreicht in Verbindung mit der Punktierung des vierten Viertels von Takt 5 das Auftaktmoment dieses Melodieteiles. Was die Gestaltung der Basslinie für diese Harmonisierung eines C-Dur-Tonleiterausschnittes von h 0 nach e 1 angeht, so zerfällt sie in zwei Unterabschnitte. Der erste Teil – im wesentlichen Takt 5 – ist wie Takt 1 definiert durch die Grundtöne der Akkorde, also letztlich durch die Intervallabstände einer Quinte, einer (großen) Terz und einer Oktave, jeweils gerechnet vom Melodieton h 0, dem Quintton der Tonart, abwärts. Der zweite Abschnitt ist wie die Takte 3 und 4 durch das Prinzip der Gegenbewegung bestimmt. Wenn sowohl der Bass als auch der Sopran das Intervall zwischen dem Grundton und der Terz durchlaufen – diese Situation ist ja u. a. dadurch gegeben, dass der letzte Akkord von Takt 5 durch das Nachschlagen ein Hauptsekundakkord ist, auf den regulär im Bass nur die Terz der Tonika folgen kann – und andererseits die Oberstimme aufgrund der übergeordneten Tonhöhendisposition zu Beginn von Takt 6 den Grundton der Tonika gerade über den Leitton erreicht, so ist die Konstellation für eine Akkordformation gegeben, die in unserer Beispielsammlung für elementare Harmonielehre bisher gefehlt hat, nämlich für den Durchgangsquartsextakkord. Dieser hat von der schulbuchmäßigen Behandlung sogar übernommen, dass das
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c 1 eigentlich doppelt zu behalsen wäre 26, nämlich als Vertreter der Tonfolge c 1-d 1-e 1 (eigentliche Melodie) sowie der Folge c 1-b 0 -b 0 (oberste der zwei bzw. drei Stimmen der Akkordbegleitung), d. h., es handelt sich hier auch beim ersten Viertel von Takt 6 weiterhin um einen vierstimmigen Akkord, und zwar um einen Sextakkord mit Grundtonverdoppelung im Einklang. Abweichend vom Lehrbuch ist der Umstand, dass der Alt nicht von c 1 zum h 0 geführt wird (was dem Durchgangsquartsextakkord hier die harmonische Funktion der Dominante von C-Dur zuschriebe), sondern anstelle des h 0 ein b 0 fungiert und dass eben dieser Ton nicht wie im Lehrmodell sich als Wechselnote wieder zum c 1 zurückbegibt, sondern auf dem b 0 verharrt und diesen C-Dur-Klang somit dominantisiert und ihn F-Dur zuweist. Diese so auch harmonisch zu erwartende Fortsetzung könnte im einfachsten Falle eine um eine Quarte aufwärts transponierte Wiederholung des Abschnittes Takt 5, viertes Viertel bis einschließlich zum dritten Viertel des folgenden Taktes sein. Takt 6, letztes Viertel ist – von der Oktavierung des Basses abgesehen – tatsächlich identisch mit der genannten Transposition der entsprechenden Viertel aus dem Vortakt. (Enden würde eine solche Wiederholung mit einem F-Dur-Septakkord, der seinerseits in Richtung B-Dur wiese und in der Weise mittels Vorhaltsquartsextakkord zum Abschluss gebracht werden könnte, wie es einen Ganzton tiefer der Takt 8 dann tatsächlich vornimmt. Denkbar wäre auch eine Wendung nach f-Moll.) Eine solche Version würde die fallende Quintenzirkelreihe, die ja mit dem G-DurAkkord eröffnet wurde und der tonalen Quintfallfolge von Takt 3/4 nun eine reale beiordnen würde, nur langsam voranbringen. Der von Chopin eingeschlagene Weg, der ihn ja letztlich nach Fes-Dur führt, ist erheblich kürzer. So verläuft das Prélude unter Aussparung eines F-Dur-Akkordes, dessen Tonart nur durch seine Dominante vertreten ist, über b-Moll und Es-Dur (dies ist zumindest durch die enharmonische Notierung des verminderten Septakkordes am Ende von Takt 7 angedeutet) zum Zwischenziel As-Dur, von dort aus in einem wiederum stark abkürzenden Weg – allein die Vermollung in Takt 8 bringt die Harmonik ja drei Quintfälle weiter – über den Ces-Dur-Septakkord nach Fes-Dur. (Der Wegabkürzung zu Ende des Mittelteiles entspricht jene zu dessen Beginn, wo direkt von E-Dur nach G-Dur fortgeschritten wird, ohne ein vermittelndes e-Moll auch nur zu erwägen.27 Auch haben beide Abschnitte gemeinsam, dass sie in der Bassführung nicht an stufenweiser Gegenbewegung orientiert sind, sondern grundtönig verlaufen.) 26 Ein Exkurs über die Mehrfachbehalsungen im Autograph allgemein und ihre Wiedergabe in den Druckausgaben sowie zu den Besonderheiten um Takt 5/6 muss aus Gründen des Umfanges unterbleiben. 27 So allerdings implizit bei der funktionalen Deutung des G-Dur-Klanges als tP beispielsweise bei Kreft 1996, 132.
Das Präludium als Abriss der Harmonielehre
Richtet man das Augenmerk allein auf die melodische Linie der Oberstimme, so fällt eine sich überlappende Sequenzierung im Quartabstand auf: Takt 5, erstes Viertel bis zum dritten Viertel des Folgetaktes ergibt gerade den Abschnitt von Takt 6, drittes Viertel bis zum as 1 in Takt 8, wobei allerdings der reine Quartenambitus des ersten Abschnittes im zweiten zu dem einer verminderten wurde. Diese Linie h 0 -c 1-d 1-e 1/ e 1-f 1-g 1-as1 ist aber nicht mehr zur Gänze der C-Dur-Tonleiter zuzuordnen (das b 0 / B im gegenbewegt geführten Bass tut ein Übriges), wenn schon, dann könnte der eine verminderte Quarte umfassende zweite Leiterabschnitt f-Moll 28, der Paralleltonart von As-Dur, zugewiesen werden. Ansonsten aber liegt rhythmisch-tonhöhenmäßig eine direkte Entsprechung vor: Die beiden sieben Viertel umfassenden Abschnitte ergänzen sich unter der Annahme einer Überlappung von Schluss- und Anfangston gerade zu dem dreizehn Viertel umfassenden Verlauf vom Beginn des fünften Taktes bis zum ersten Viertel von Takt 8, der den zweiten stufenweisen Anstieg der Melodie bildet. Die zweimalige Abfolge von ununterteiltem und punktiertem Viertel von Takt 5 kehrt – durch die beschriebene Erweiterung um einen Halbtakt versetzt – in der zweiten Hälfte von Takt 6 beginnend wieder, während die singuläre Aufeinanderfolge von zwei ununterteilten, in gleiche Richtung führenden Vierteln auf einer ersten und zweiten Zählzeit dadurch gerade wieder auf die ›Normalposition‹ von dritter und vierter Zählzeit verschoben wurde.29 Noch erheblicher aber als in der Melodie der Oberstimme unterscheiden sich die Harmonisierungen der beiden Teilabschnitte, wobei der zweite zudem mit seinem reinen A-Dur-Klang, der zu Beginn von Takt 7 auf einen C-Dur-Klang folgt, ebenso heraussticht wie die auf analoger tonzentraler Vermittlung beruhende Aneinanderreihung von E-Dur bzw. H-Dur und G-Dur in Takt 5. Darüber hinaus suspendiert das singuläre A-Dur auch die beschriebene Quintfallfolge in auffälliger Weise.30 Eine mögliche Erklärung des auffälligen A-Dur ergibt sich, wenn man das Modell des Durchgangsquartsextakkordes zu Beginn von Takt 6 weiterverfolgt.31 Fügt man beim Modell des ersten Abschnittes die Septime b dem C-Dur-Sextakkord hinzu, so stehen den beiden liegenbleibenden Tönen g und b die gegenläufigen Verbindungen von Grundton C und Terz E gegenüber (siehe Beispiel 6.2.1, dort allerdings lagenmäßig versetzt und zusammengezogen). 28 Zum Bezug auf f / F vgl. Berry 1976, 68f.; beachtenswert auch Berrys Überlegungen zur Metrik des Präludiums, ebd., 394–397. 29 Diese melodische Sequenzierung mit ihrer anderthalbtaktigen – gegenüber einer taktweisen Gliederungsebene ›asymmetrischen‹ – Struktur wird allerdings eigenartigerweise in Berrys graphischer Darstellung, ebd., 395, wegeskamotiert. 30 Vgl. dazu auch Torkewitz 1977, 9f. 31 Üblicherweise wird die Harmonik dieser Stelle durch einen Bezug auf die sogenannte Teufelsmühle erklärt, die jedoch zentral auf einer hier nicht vorliegenden Chromatik der Außenstimmen basiert. So beispielsweise – im Anschluss an Ludwik Bornarski – bei Gołąb 1995, 135.
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Ersetzt man den einfachen Dominantseptakkord durch einen verminderten Septakkord resp. verkürzten Dominantseptnonenakkord, so stünde dem feststehenden Paar b 0 und des0 ein Austausch der Töne E und G gegenüber (Beispiel 6.2.2). Dieses Modell steht im zweiten Teil, jedoch nicht auf den ersten drei Vierteln des entsprechenden Taktes, sondern – darin eine weitere Asymmetrie bildend – um ein Viertel nach hinten verschoben (und damit auch in anderer Rhythmisierung). Zudem ist es wegen der enharmonischen Schreibweise ein wenig verschleiert. Dennoch: auf den Akkord G /g 0/b 0/des1/e 1 folgt F/f 0/b 0/des1/f 1 und E/e 0/b 0/des1/g 1, wobei das des1 des ersten Akkordes noch als cis 1 und die Töne E/e 0 als Fes/fes 0 notiert sind. Und noch ein Modell mit stufenweisem Austausch von Tönen im Terzabstand ist denkbar und hier von Interesse. Basis ist wiederum der verminderte Septakkord. Bei einem Austausch von Quinte und Septe ergibt sich ein überraschendes Ergebnis: Verbindet man die genannten Töne bei dem Akkord G/b 0/des1/e 1 mit dessen Umkehrung B/g 0/des1/e 1, so ergibt sich als Durchgangsgebilde gerade der Klang A/a 0/des1/e 1, mit anderen Worten bei Umdeutung des des1 in ein cis1 ein A-Dur-Dreiklang in Grundstellung (Beispiel 6.2.3). Dieses Modell nun ist aber von dem Gebilde von Takt 6, letztes Viertel bis Takt 7, zweites Viertel nur in zwei Punkten unterschieden: zum einen durch die enharmonische Schreibweise und zum andern durch den Umstand, dass zu Beginn nicht ein verminderter Septakkord steht, sondern ein einfacher. Akzeptiert man die Herleitung des g-Moll- und b-Moll-Quartsextakkordes sowie des A-Dur-Akkordes aus dem Modell der Gegenbewegung, so tritt wiederum eine metrische Asymmetrie ins Blickfeld: Der Quartsextakkord in Takt 6 steht auf der zweiten Zählzeit, der aus Takt 7 auf der dritten und der A-Dur-Klang auf der ersten. Diese Verlagerung kommt dadurch zustande, dass erstens im Viervierteltakt Modelle aneinandergereiht werden, die nur drei Akkorde umfassen, und zweitens beim Übergang von Modell 3 nach 2 eine Überlappung erfolgt. Wäre schließlich noch zu begründen, weshalb Chopin anstelle der horizontalen Logik der enharmonischen Schreibung, d. h. jener mit dem des, diejenige mit dem cis wählte. Der Umstand, dass – übrigens analog zum fehlenden b zu Beginn von Takt 6 – am Ende dieses Taktes nicht schon die erste Umkehrung eines verminderten Septakkordes, sondern nur ein Dreiklang bzw. der Sekundakkord der terztieferen Stufe, d. h. ein einfaches c anstelle des des steht, macht die Notierung des Tones des1 als chromatische Hochalterierung des c 1 genauso sinnfällig, wie es umgekehrt widersinnig wäre, einen offenkundigen Dur-Dreiklang als einen Quint-Quart-Klang mit verminderter Quarte zu notieren.32 (Johannes Brahms scheint da weniger ›Skrupel‹ zu haben: In einer vergleichbaren Stimmführungskonstellation in seinem in derselben Tonart stehenden Intermezzo op. 116, Nr. 6 notiert er beispielsweise einen gegriffenen 32 Vgl. damit die Notierung eines cis-Moll-Klanges in einer Des-Dur/b-Moll-Umgebung in der Einleitung zum ersten Satz von Chopins Op. 35. Dazu Kinzler 2004, 92.
Das Präludium als Abriss der Harmonielehre
His-Dur-Klang nicht als his / disis / fisis, sondern als his / e / fisis [Takt 13 und 14] bzw. einen ›D-Dur-Klang‹ mit den Tönen d / ges /a [Takt 20], wobei er im Folgetakt aus Gründen der horizontalen Logik der enharmonischen Schreibweise allerdings dann zum fis greift.) Dass sich auch beim Hören ganz selbstverständlich die A-Dur-Vorstellung durchsetzt, hängt zum einen damit zusammen, dass dieser Akkord nicht nur auf der ersten Zählzeit steht, sondern auch noch in einer Position, bei der aufgrund der ›Großform‹ wiederum ein Dreiklang in Grundstellung und Quintlage erwartet wird. Zum anderen erklingt das letzte Viertel des vorherigen Taktes zu Beginn als reiner C-DurKlang ohne irgendwelche Septimen- oder Nonenbeimischungen, so dass die Klanglichkeit einer tonzentralen Mediantbeziehung besonders deutlich zum Vorschein kommt. Dass dann natürlich der Folgeakkord ebenfalls mit einem cis1 notiert werden muss, ist einleuchtend, auch wenn dies dann in Takt 7, drittes Viertel sogleich wieder rückgängig gemacht wird. Die Annahme einer enharmonischen Modulation durch Umdeutung eines verminderten Septakkordes in einen anderen verminderten Septakkord ist dazu das übliche harmonietheoretische Beschreibungsmodell.33 Eben diese Form der modulierenden Umdeutung erlaubt es dann auch, vom verminderten Septakkord der VII. Stufe von f-Moll zu demjenigen von As-Dur zu wechseln, wobei dieser dann als dessen dritte Umkehrung erscheint. Dies heißt, dass hier wiederum eine Modulation zu hypostasieren ist, die der in vielen Harmonielehren üblichen Spezifizierung als enharmonische Modulation entspricht. Konstatiert man ferner, dass von Takt 5 nach Takt 6 eine einfache diatonische Modulation vorliegt, von Takt 6 nach Takt 7 eine chromatische des Typs Aufwärtsalteration in die Dominantterz und in Takt 5 eine Form, die als ›tonzentrale‹ oder Liegetonmodulation angenommen werden kann – ja selbst das für gewöhnlich im Rahmen der enharmonischen Modulation abgehandelte Problem der enharmonischen Verwechslung findet sich in Takt 8 bei der Rückmodulation –, dann wird die These abermals bestätigt, die im Verlauf des Stückes erscheinenden harmonischen Mittel korrespondierten in etwa der Anordnung des Stoffes in der elementaren Musiktheorie. Nach gewissermaßen modulationsfreier Erarbeitung der Drei-, Vier- und Fünfklänge in den ersten vier Takten folgt nun in den zweiten vier Takten der Modulationskurs: gewissermaßen »Harmonielehre II«. Fehlt einzig noch die Behandlung der alterierten Klänge und ihrer Verbindungen, also all jener Phänomene, die als Chromatik im engeren Sinne, als die ›essentielle‹ 34 bzw. ›freie‹ 35 Chromatik bezeichnet werden können. 33 Ob es in diesem Kontext denn auch so gehört wird, ist eine andere Frage. 34 So im Unterschied zur akzidentellen Chromatik Gołąb 1995 im Kapitel »Systematische Aspekte der Chromatik Chopins«, 92ff. 35 Der Terminus ›freie Chromatik‹ (»swobodna chromatyka«) findet sich bei Bronarski 1935 und wird dort u. a. am Beispiel des e-Moll-Präludiums erläutert (260f.).
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Alterierte Klänge im Sinne der genannten These sind zwar in der Tat im letzten Viertakter vertreten, allerdings muss konzediert werden, dass die hier vorkommenden Erscheinungsformen nur eine begrenzte Auswahl darstellen: Im engeren Sinne kommt eigentlich nur die Mollsubdominante zur Anwendung – und dies nicht einmal in der Form des Neapolitaners 36 –, allenfalls lässt sich noch der Wechsel von g‑Moll nach GDur dem Kapitel Dreiklangsalteration zuschlagen.37 Quint- und andere A lterationen von Septakkorden finden sich nicht, was insofern bemerkenswert ist, als innerhalb des Opus insgesamt diese Erscheinungen durchaus vorkommen – etwa in dem in der Varianttonart stehenden Prélude, dort sogar als das zentrale harmonische Mittel. Andererseits lehrt ein Blick in die zeitgenössischen Harmonielehren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dass dort dieses Kapitel Chromatik einer systematischen theoretischen Behandlung noch nicht unterworfen war. Ergiebiger, als diesen letzten Formabschnitt sub specie der verwendeten akkordischen Mittel abzuklopfen, scheint es, die Logik des Zusammenhangs insgesamt zu betrachten. Der in allen drei Viertaktern vorkommende stufenweise Anstieg der Melodie ist auch hier das Hauptelement (allerdings ohne die absteigende Linienführung). Ein Prinzip der Erfindung ist also die Harmonielehre-Aufgabe des Typs »Harmonisieren einer gegebenen Melodie«, hier speziell sogar einer Tonleiter. Der letzte Viertakter vereint zudem Prinzipien der beiden vorherigen Abschnitte. Mit dem ersten teilt er die grundtönige Gestaltung seines ersten Taktes, der nun jedoch als Sequenzmodell dient und dessen beide Sequenzierungen – fast gänzlich – ohne die im ersten Viertakter anzunehmenden Verkürzungen erscheinen. Die Festlegung der Sequenzierungsparameter – d. h. die Frage des Sequenzierungsintervalles (samt Richtung), aber auch die der Abbildungsformen wie real oder tonal – ergibt sich vor allem aus den Gestaltungsmodalitäten des zweiten Abschnittes. Anders als im ersten Teil handelt es sich ja hier wiederum um einen modulierenden Abschnitt, so dass tonale Sequenzierung eher ausscheidet; aber auch die rein reale Sequenz, die ja dann auf eine zweifache Transposition hinausliefe, kommt nicht zur Anwendung: Es herrscht ein Mischtypus vor. Einen ersten Punkt der Abweichung bringt die Mollsubdominante des Taktes 9 hervor. Sie verbietet die denkbare diatonische Sequenzierung für eine Anschlussform, wie sie ja von Takt 1 nach Takt 2 als Modell vorliegt. Umgekehrt ist es wiederum der letzte Akkord des Eintaktmodells, der die Annahme einer realen Sequenzierung verunmöglicht, da ja ansonsten Takt 10 mit einem b-Moll-Klang schließen und Takt 11 mit einem Ges-Dur-Klang beginnen müsste. (Würde die reale Sequenzierung dann dieses Glied seinerseits mit der Dur36 Zur Not könnte darauf verwiesen werden, dass das A-Dur des Taktes 7 – aufgefasst als Heses-Dur – den sog. verselbständigten Neapolitaner zum as-Moll des Folgeabschnittes darstellt. 37 Dann eventuell müsste die Doppeldominante in Takt 4 als Ausweichung behandelt und auch die Rückmodulation mit ihrem As-Dur /as-Moll-Wechsel in Takt 8 mit einbezogen werden.
Das Präludium als Abriss der Harmonielehre
Subdominante beenden, so könnte ohne weiteres auf diese Weise – unter Umdeutung des so entstehenden Ces-Dur-Akkordes als H-Dur – unmittelbar das Prélude abgeschlossen werden.) Nicht der Schlussakkord des Eintaktmodells ist es, der die Unregelmäßigkeit bei der Sequenzierung von Takt 10 nach Takt 11 hervorbringt, sondern dessen dritter Akkord mit seiner Verdurung des g-Moll als G-Dur – ansonsten wäre ja Takt 11 als eine tonale Sequenz in F-Dur auffassbar. Bedenkt man ferner, dass je nach Art der gewissermaßen frei wählbaren Gestaltung des Schlussakkordes des Sequenzgliedes die Höherversetzung des Abschnittes entweder um einen Halb- oder um einen Ganzton erfolgt, so wird die Frage nach der tatsächlichen Auswahl aus den Möglichkeiten bedeutsam, zumal die naheliegende Lösung, eine der üblichen Leitern – die diatonische oder die chromatische38 – zu verwenden, ebenfalls nicht herangezogen werden kann. Hier zeigt sich als durchgängiges Prinzip die Art der Oberstimmenentfaltung des zweiten Abschnittes: die Verwendung der C-Dur-Tonleiter, der weißen Tasten, mit der Etablierung eines (hier) leiterfremden Halbtonschrittes zum Formteilende. In der Tat ist die Sonderstellung des schließenden Schrittes – eine chromatische Modulation durch Hochalterierung in die Dominantterz – denn auch durch ein ritenuto hervorgehoben. Die Segmentierungsfrage ist für den Schlussteil selbst unproblematisch. Eher noch zu problematisieren wäre der Abschnitt unmittelbar davor: Nach der Abkadenzierung nach As-Dur durch den Vorhaltsquartsextakkord39 (mit nachschlagend eingeführter Septime) folgt eine Tiefalteration der Dur-Terz, die dann enharmonisch vom ces 1 zum h 0 umgedeutet als mehrfache Tonwiederholung in die Melodiestimme des Reprisenteiles führt. Dieser Rückleitungsteil, eine Art ›Brücke‹, könnte sehr wohl als eigener Phrasenteil angesehen werden, ungeachtet der relativ kurzen Dauer, die der As-Dur-Tonika zugewiesen wird. Für eine derartige Auffassung gibt es in der Bogenführung selbst keine Unterstützung, allerdings ist zu konstatieren, dass der Beginn der Reprise im Unterschied zum Durchführungsbeginn ebenfalls keine Absetzung des Bogens erfährt.40 Wenn Chopin – wie beschrieben – für den Schlussteil im wesentlichen das Prinzip »Modell und zweimalige Sequenz« wählt, würde daraus zugleich eine gewisse Ein38 Die chromatische Tonleiter – d. h. eine Folge von Takten, die E-, F-, Fis-, G-Dur und schließlich Gis-Dur-Kadenzen böten – würde den Formabschnitt ungebührlich in die Länge ziehen. 39 Dieser Quartsextakkord hat unter dem vierten Triolenachtel für das Pedal ein Auflösungszeichen, so dass bei dessen korrekter Befolgung kurzfristig ein reiner Unisonoklang entsteht, zusammengesetzt aus den Tönen Es 1, Es, es 0, es 1. 40 Das Autograph weist für den Bogen über den Noten der rechten Hand an dieser Stelle eine Art Knick auf, der aber wohl eher aus Platzgründen entstand, der Bogen über den Noten der linken ist eindeutig durchgehend.
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förmigkeit in der rhythmischen Behandlung resultieren, die er zuvor ja stets kunstvoll vermieden hat. Dieser wirkt er entgegen, indem er zum einen für die erste Sequenzierung das vierte Viertel dieses Takts – wiederum eine Steigerung des Auftaktmomentes – nun ebenfalls einer Punktierung unterwirft. Zum anderen hat er die Punktierung, die das jeweils zweite Viertel vom Modell und den Sequenzen aufweist, bereits ab Takt 9 durch Doppelpunktierung und Verkürzung der zweiten Note des Taktteiles vom Sechzehntel auf ein Zweiunddreißigstel verschärft. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass im Autograph noch ersichtlich ist, wann dieses eher geringfügige Variationsmoment eingeführt wurde, nämlich im Zuge einer letzten Durchsicht des Notentextes: Die ursprüngliche Notierung mit einfachem Punkt und Sechzehntel, Letzteres graphisch über dem jeweils dritten Triolenteil angebracht und mit diesem durch einen gemeinsamen Hals verbunden, wurde durchgestrichen, die neue Form (mit dunklerer Tinte) rechts daneben geschrieben.41 Der graphische Befund der Handschrift lässt die Vermutung zu, dass die Doppelpunktierung, welche die linke Hand bereits ab dem ersten Takt aufweist, ebenfalls nachträglich erfolgt ist. Eine weitere, steigernde Variation zwischen dem ersten und zweiten Sequenzglied ist die Erweiterung der Doppelpunktierung auch auf das vierte Viertel von Takt 11 42 und die Ausdehnung der rhythmischen Verschärfung auf das zweite Viertel des aus der Sequenzmechanik herausfallenden Schlusstaktes. Die vorliegende Analyse, die sich im wesentlichen als eine Takt-für-Takt-Analyse präsentiert, sollte aufweisen, wie Chopin die im Grunde ›schulmäßige‹ Harmonisierungsaufgabe des Hinzufügens von Akkorden und einer Basslinie zu Tonleiterausschnitten auf subtilste variative Art gelöst hat, wobei das ästhetische Prinzip der Mannigfaltigkeit in der Einheit zu einem zentralen Moment des Komponierens wurde. So kann man etwa für die Kategorien Tonwiederholung/Sekundschritt und 41 Im zweiten Viertel von Takt 11 hat Chopin die Hinzufügung des zweiten Punktes versehentlich vergessen. Bemerkenswert ist, dass das nach oben wie nach unten behalste Achtel as 1 zu Beginn von Takt 8 wohl ebenfalls – versehentlich? – einen Verlängerungspunkt aufwies, der aber durchgestrichen wurde zugunsten der definitiven Form, bei der aber das ebenfalls doppelbehalste, jedoch einfache Achtel es1 bei der wörtlichen Befolgung der Notation gewisse Rätsel für die Ausführung aufgibt. 42 Hier erfolgte die Korrektur nicht mittels Durchstreichung des Sechzehntels, sondern dadurch, dass Chopin die ursprünglichen letzten Triolennoten der rechten Hand dieses Taktteiles durchstrich, diese nach links versetzte und dem ursprünglichen Sechzehntel ein drittes Fähnchen hinzufügte. Auch die linke Hand zeigt eine Korrektur des Sechzehntels in ein Zweiunddreißigstel mittels Durchstreichung, obwohl hier für die Änderung das Hinzufügen eines Punktes und eines weiteren Fähnchens ausgereicht hätte. Auch satztechnisch gesehen ist dieses vierte Viertel eine Besonderheit, nämlich eine Antizipation des Schluss-e 1 von der Dauer eines Sechzehntels bzw. dann Zweiunddreißigstels (die A ntizipation auf der zweiten Zählzeit von Takt 2 im Unterschied dazu hatte die Dauer eines ganzen Viertels).
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metrische Position ein nahezu permutatorisch-vollständiges Kombinieren der Möglichkeiten beobachten, wie auch das Element der Asymmetrie auf verschiedenen Ebenen aufzuweisen ist: Asymmetrisch sind sowohl die auf- und absteigenden Melodieverläufe wie auch die Setzung der jeweiligen Melodiehochpunkte, selbst die periodische Symmetrie der Phrasensegmentierung kann als ›asymmetrisch‹ bezeichnet werden. Ein besonderer Fall von Mannigfaltigkeit ist die nahezu systematische Vorgehensweise, mit der den einzelnen Abschnitten bestimmte, unterschiedliche Formen harmonischer Gestaltung zugewiesen werden, die sich nahezu als ein Lehrgang der Harmonik präsentiert. Wie auch immer das Problem gelöst wird, dass der Oberstimmenverlauf sich in der Bewegungsrichtung gerade als entgegengesetzt erweist 43, so dürfte doch klar sein, dass die eben genannten Elemente der Asymmetrie nur indirekt in den Graphen44 einer Schenker’schen Analyse eingehen könnten und daher jener analytischen Ergänzungen bedürften, wie sie hier aufzuzeichnen versucht wurden.
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43 Auf der Grundlage der von ihm gemeinsam mit Ray Jackendoff entwickelten Generative Theory of Tonal Music, die als teilweise auf Schenkers Theorien basierend gesehen wird, bietet Fred Lerdahl (1992) eine Analyse verschiedener Aspekte des E-Dur-Präludiums. Der Graph der »prolongational reduction« (176) – freilich nicht unmittelbar mit dem einer ›echten‹ Schenker-Analyse vergleichbar – hat in seiner stärksten Reduktion die Form einer aufsteigenden Linie. (Beim zweiten Präludium handelt es sich um jenes in e-Moll.) 44 Damit ist nicht gesagt, dass diese Aspekte einer graphischen Darstellung unzugänglich wären. Als ein Versuch in dieser Richtung wäre etwa das Notenbeispiel bei Berry 1976, 369 anzusehen.
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7 Bach, Praeludium C-Dur BWV 939 BER N H A R D H A A S U N D V ERON ICA DI EDER EN
Die Kürze von Bachs C-Dur-Präludium BWV 939 (Beispiel 7.1) bedeutet für die Analyse eine starke Erleichterung und eine wesentliche Erschwernis. Es ist leichter, ein kurzes Stück wie dieses auswendig zu behalten und im Ganzen und in den Einzelheiten gegenwärtig zu haben als ein längeres; in der Kürze liegt es andererseits, dass gewisse Teile knapper, fast nur angedeutet ausgeführt sind, so dass man eher mit implizierten Tönen rechnen muss als bei größeren Stücken.1 Die vorliegende Analyse schließt an Heinrich Schenkers Analysen an, namentlich an sein Spätwerk Der freie Satz.2 Schenkers Analysen werden von uns wie auch von anderen Autoren als Resultat einer Arbeit aufgefasst, die vom Hören ausgeht und Gehörtes suggestiv darstellen will. Unsere Analyse ist kondensierte Erfahrung mit dem Stück. Die Stimmführungsbilder zeigen auf von uns gehörte Wirkungen des Stücks.3 Diese können hörend nachvollzogen werden (es wird eine Weise gezeigt, wie man dieses Stück hören kann), sofern man bereit ist, sich darauf einzulassen. Daraus folgt, dass diese Analyse nicht das Partiturbild (etwa aus Einzelinformationen bestehend aufgefasst) beschreiben oder reduzieren will und ebenso wenig irgendetwas an der Partitur beweisen. Immerhin aber wird beansprucht, dass die hier vorgeschlagene Analyse Sinn macht. Es wird angegeben, als was das Einzelne (die einzelnen Töne) im Ganzen ist, oder es wird seine Funktion im Ganzen angegeben.4 So ist beispielsweise in Bild 7.2 unserer Analyse – dem zweistimmigen Ursatz – der Ton d 2 in seiner Funktion als 1 Vgl. Schenker 1956, 89 (§145/146) sowie Rothstein 1997. 2 Schenker 1956. Eine frühe Analyse Schenkers des C-Dur-Präludiums BWV 939 in Schenker 1923, 7. 3 Wobei ›Wirkung‹, mit Snarrenberg zu sprechen, »ambiguous between effect and response, between subjective and objective« steht (Snarrenberg 1997, 159). 4 Über einige hierin liegende, doch im vorliegenden Aufsatz undiskutierte ästhetische Grundfragen vgl. den Artikel von Bruno Haas im vorliegenden Buch.
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Durchgangston zwischen e 2 und c 2 bestimmt.5 In Bild 7.3 sind die hinzukommenden Mittelstimmentöne als Kontrapunkte und harmonische Auffüllung in Relation zu Bild 7.2 bestimmt etc. So ist durch die Folge der Bilder alles in eine bestimmte Relation zum ersten Bild gestellt. Dass das Einzelne (der einzelne Ton) in seiner Funktion im Ganzen gezeigt wird, gilt für jedes Stimmführungsbild in sich: Deswegen wird dort großer Wert gelegt auf satztechnische Genauigkeit (so ist beispielweise als unterste Stimme stets der stufentragende Bass angegeben, selbst wenn die Unterstimme des Originals gerade nicht Bassfunktion wahrnimmt6). So tautologisch der Satz erscheint, dass zum Aufweis kompositorischer Qualität davon auszugehen ist, dass alle Schichten gut klingen und guter Tonsatz sind, so oft wird dem in Analysen zuwidergehandelt.7 Zu der satztechnischen Strenge innerhalb des einzelnen Bildes kommt größtmögliche Genauigkeit im Verhältnis der Schichten zueinander: Hier erfüllt jede einzelne Verwandlung einen genau definierten Zweck, den wir teils im Text angeben, den zu erraten manchmal auch dem Leser überlassen wird. Die Bilder sind also die Hauptsache der Analyse, der Text ist bloßer Kommentar. Die Bestätigung der Ergebnisse liegt (außer im besonderen Charakter des »Finderaugenblicks«8) im systematischen Zusammenhang der Schichten, worin sich die rationale Seite der Komposition zeigt. In schenkerianischer Sicht stellt man sich den Aufbau des Werkes als hierarchische Folge Schicht auf Schicht vor, von der einfachsten (Ursatz) zur kompliziertesten (die vollständige Komposition); die Schichten sind dabei nur in Relation aufeinander bestimmt. Es ist aber bisher die Frage nicht beantwortet (und kaum gestellt) worden, wodurch diese Hierarchie zustande kommt, damit zugleich die Frage nach der Anzahl der Schichten, der Vergleichbarkeit sich je entsprechender Schichten in verschiedenen Stücken etc.9 Aus strikt musiktheoretischer Perspektive ist zu fragen, wer oder was konkret im Stück die Hierarchie (wenn sie denn zugegeben sein soll) begrenzt. Wie kommt es, dass die Auskomponierung nicht ins Unendliche weitergeht, sondern mit dem fertigen Stück endet? Sind die Schichten ausschließlich in Relation zueinander bestimmt? Wieviele Schichten gibt es in einer bestimmten Komposition?10 Hier geht 5 Vgl. hierzu Schenkers Ausführungen zur Urlinie und zum Durchgang etwa in Schenker 1956, 41 (§5). 6 Vgl. dazu Schenker 1925, 188 mit der Bemerkung, dass der Außensatz des freien Satzes sich verhält wie »der Satz einer Ober- und Mittelstimme über einer gedachten Unterstimme, die die Grund- oder Stufentöne führt«. 7 Dessen ungeachtet existieren zuweilen (auch bei Schenker), virtuell auf allen Schichten, gewisse Satzfehler, insbesondere Oktav- und Quintparallelen, die eine strukturelle Funktion erfüllen (Schenker 1956, 96–101 [§161–164]). 8 Schenker 1930, 101. 9 Die Frage, wie Hierarchie in der Musik überhaupt zustandekommt, wurde bisher vor allem aus epistemologischer und kognitionspsychologischer Sicht gestellt. 10 Schenker meint, man könne dies in jedem Stück genau bestimmen (Schenker 1956, 58 [§48]).
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die vorliegende Analyse über Schenker hinaus. Die Schichten werden definiert durch konkrete musikalische Ereignisse, auf die man im Stück zeigen kann (wie auf ein Motiv), von denen jedes einen bestimmten Charakter ausprägt, den man im Stück hören und erkennen kann. Jede Schicht wird von ihrem ›Ereignis‹ und damit absolut definiert. Damit ist jetzt eine technische Definition der Ebenen möglich. Diese ›Ereignisse‹ sind, insofern sie die Hierarchie bestimmen, jenseits der Relationalität des Werks. Jedes Ereignis prägt eine Emotion aus, die Emotion seiner Schicht.11 Was die historische Reichweite angeht, so gilt das hier dargestellte System der Schichten und ihrer Ereignisse für die Musik von Vivaldi, Bach, Händel, Scarlatti; bereits in der Epoche um Haydn, Mozart beginnen tiefgreifende Änderungen, deren Anfangspunkt hier nicht genauer bestimmt werden kann. Die vorliegende Analyse beginnt mit dem Ursatz und schreitet bis zum Original fort. Insgesamt handelt es sich um acht Schichten. Zur Lektüre der Analyse ist es sehr zu empfehlen, das Stück gut zu kennen und sich die Analysebilder am Instrument durchzuspielen. Der Knappheit des Raumes wegen werden die Fachtermini aus Der freie Satz von Heinrich Schenker vorausgesetzt. Auf eine Besonderheit der vorliegenden Analyse sei vorweg hingewiesen. In vielen unserer Analysebilder stehen Töne, die im Original in einer anderen Oktavlage sind. Insofern erscheint die Analyse weniger nah am Original als viele andere. Diese scheinbar größere Freiheit wird ponderiert durch die oben erwähnte satztechnische Genauigkeit und durch die Präzision in der Ableitung der je komplizierteren von der je einfacheren Schicht. Der Weg von den hinteren Schichten zum Original ist demnach weniger geradlinig als oft vorgestellt, dafür aber dynamischer.12
1. Ursatz Bild 7.2 zeigt den Ursatz des C-Dur-Präludiums. Die obligate Lage der Urlinie ist die zweigestrichene Oktave. Die Bassbrechung endet eine Oktave tiefer, als sie beginnt, was im frühen 18. Jahrhundert die Regel ist. Bild 7.3 zeigt dasselbe, vierstimmig, in weiter Lage.13 Bild 7.4 zeigt, wie der Klang der V. Stufe (T. 9) zunächst in Terzlage ausgeführt wird, ebenso wie der Klang der I. Stufe (T. 4, vgl. Bild 7.3). Mit Hilfe eines Stimmtauschs (T. 9–11) wird sodann die in Bild 7.3 nachgewiesene Lage hergestellt (T. 11). In Bild 7.5 ist der Quartsprung e 2-h1 (T. 4–9) von Bild 7.4 durch einen Quartzug verbunden. 11 Diese wie weitere metaphorische Ausdrucksweisen wurden gewählt in vollem Bewusstsein, dass man zeichentheoretisch lange darüber diskutieren kann. 12 Die hier verwendete Analysemethode wird eingeführt und in größerem Zusammenhang dargestellt in Haas / Diederen 2008. 13 Vgl. dazu: »Auch in der ersten Schicht stellt die 3 […] allein die weite Lage vor, die 5 und 8 dagegen die enge.« (Schenker 1956, 69 [§81]).
7.4 | 55 7.5 | 55
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Bernhard Haas und Veronica Diederen
2. Hintergrund und Analogie 7.6 | 55
Mit Bild 7.6 kommt die Entwicklung zu einem vorläufigen Abschluss. Die Schicht von Bild 7.6 nennen wir den ›Hintergrund‹ der Komposition. Der Hintergrund ist demnach der Ursatz, vierstimmig ausgearbeitet und mit Durchgängen und einer Tonikalisierung versehen. Technisch gesprochen ist der Hintergrund an der ›Analogie‹ zu erkennen: Der Schritt von Takt 8 nach Takt 9 ist völlig analog dem Schritt von Takt 15 nach Takt 16: In beiden Fällen geht ein Dominantseptklang mit verdoppeltem Grundton in einen Tonikaklang, so, dass seine Quinte nach unten in den Grundton der Tonika fortgeführt wird. Die Analogie besteht demnach aus zweimal zwei Akkorden, wobei das in der Komposition spätere Akkordpaar (G7-C, T. 15/16) das Vorbild ist, nach dem das Nachbild (D7-G, T. 8/9) geformt ist.14 Dies ist ein Gesetz für den Hintergrund in der Musik des frühen 18. Jahrhunderts.15 An diesem Punkt fühlt man sich ganz im Stück, der Charakter ist der äußerster Stabilität, als wäre das ganze Stück hieran aufgehängt. Überdies (dies ein zweites Erkennungszeichen) ist der Hintergrund in der Musik des frühen 18. Jahrhunderts stets zweiteilig. Hier endet der erste Teil mit Takt 9, der zweite beginnt in Takt 11. Innerhalb jedes dieser beiden Teile bewegen sich die drei Oberstimmen nur schrittweise. Die Sprünge h1-d 2 und d 1-h 0 trennen den ersten vom zweiten Teil. Die Takte 9–11 verbinden die beiden Teile des Hintergrunds. Zur Schwierigkeit der Kürze dieses Stücks gehört es, dass in Takt 11 des Originals (bei Eintritt der Urlinie) kein d 2 vorkommt.
3. Entscheidung und Feier
7.7 | 55
Die weitere Entwicklung kommt bei diesem Stück, wie bei anderen, dadurch in Gang, dass Mängel des Hintergrunds korrigiert werden. Noch bevor die Oktav- und Quintparallelen des Hintergrunds behoben werden, werden seine beiden Teile analogisiert (Bild 7.7). c 2 Takt 8 ist Septime über d 0 und zugleich der dritte Ton des Zuges e 2-d 2-c 2 (ab T. 4). Auf Bild 7.7 wird f 1 Takt 15, Septime über G, ebenfalls als dritter Ton eines Zuges, des Zuges d 1-e 1-f 1 (T. 12–15), ausgeführt. Zu diesem Zweck wird die in Takt 11 erreichte 2 der Urlinie, d 2, tiefergelegt (T. 12). Jetzt antwortet die Figur d 1-e 1-f 1-e 1 (T. 12–16) dem Zug e 2-d 2-c 2-h1 (T. 4–9). Man bemerkt, dass f 1 Takt 15 in Bild 7.6 aus g 1 (T. 9) kommt, in Bild 7.7 aber aus dem Zug d 1-e 1-f 1 Takt 12–15. Solche 14 Dass das spätere Akkordpaar das Vorbild ist, sieht man daran, dass der Schritt G-Dur – C-Dur bereits in Bild 7.3 besteht, wo von dem Schritt D-Dur – G-Dur noch keine Spur zu erkennen ist. 15 Der zweite Klang des Nachbildes der Analogie (hier: T. 9, G-Dur) ist immer der Anfang einer Gruppe von zusammengehörenden Takten der metrischen Gliederung im Großen (ein schwerer Takt). Vgl. Haas / Diederen 2002.
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Umdeutungen auf dem Weg von einer Schicht zur nächsten sind häufig. Hier könnte man sich vorstellen, dass g 1 (T. 12) zum d 2 Takt 15 fortschreitet, aber das ist nicht der Fall, wie sich im Weiteren ergeben wird. Bild 7.8 zeigt, wie die Quintparallelen von Bild 7.7 durch eine dazwischengestellte Sexte behoben werden. Jedoch ist auf Bild 7.8 der Klang Takt 7 terzlos. Dem und einigen weiteren Problemen wird auf Bild 7.9 abgeholfen. Der Zug c 1-fis 1 (T. 4–8, Bild 7.9) erbringt das in Takt 7 nötige e1 und erreicht den Appoggiaturton fis 1 (T. 8, Bilder 7.6–7). Daher tritt d 1 (T. 8) auf der Ebene von Bild 7.9 frei ein. Die Quint- und Oktavparallelen von Bild 7.6 sind damit behoben. Der Terzzug h1-d 2 Takt 9–11 füllt die Terz h1-d 2 der Bilder 7.5 bis 7.7. Die Austerzung dieses Zuges ist als g 1-a 0-h 0 (T. 9–11) ausgeführt, erbringt so h 0 Takt 11 des Stimmtausches (Bilder 7.5 bis 7.7). Der anfängliche Terzzug c 2-e 2 Takt 1–4 ist eine Analogiebildung zum Terzzug h1-d 2 Takt 9–11. Es handelt sich um einen Anstieg. Der steigende Zug d 1-f 1 Takt 12–15 (Bild 7.7) ist in Bild 7.9 so ausgeführt, dass sein f 1 (T. 14) konsonant, über einer Nebennote F des Basses, eingeführt wird. Des Weiteren regt er steigende Züge an, die in solcher Weise durch die Oktavlagen springen, dass in Takt 15 der in Bild 7.7 nachgewiesene Klang erreicht wird. Daher heißt es h 0-c 2-d 2 (T. 11–15) sowie g 1-a 0-h 0 (T. 13–15). Bild 7.9 nennen wir die ›Entscheidung‹. Auf dieser Schicht löst sich das Stück von seinem anonymen Hintergrund und macht sich auf den Weg, der nur ihm angehört. Es gibt verschiedene Stücke, die den gleichen Hintergrund haben; verschiedene Stücke mit der gleichen Entscheidung können wir uns nicht vorstellen. Technisches Kriterium für die Entscheidung ist die ›Feier‹, das ist der erste Ton innerhalb der Geschichte der Schichten, der aktiv höher als die Urlinie liegt. Die Entscheidung ist die Schicht, auf der dies geschieht. Dieser Ton ist hier das c 2 von Takt 13, das höher als d 1 (die tiefergelegte 2 von Takt 12) liegt. Somit erscheint hier (neben dem oben erwähnten) ein zweiter Sinn der Tieferlegung d 2 (T. 11) - d 1 (T. 12). Der Charakter der Feier wird vom Ausdruck ›Feier‹ selbst angedeutet, die Töne überschlagen sich förmlich. Am Punkt der Feier (hier: T. 13) wird die Schicht der Entscheidung unmittelbar in der Komposition gegenwärtig (ebenso wird am Punkt der Analogie der Hintergrund im ausgeführten Stück gegenwärtig).16
93
7.8 | 55
7.9 | 55
4. Mittelgrund und Stelle Der Durchgangsklang Takt 6 ist in Bild 7.9 dissonant über dem c 0 des Basses. Auf Bild 7.10 ist durch eine Tieferlegung die Umwandlung in eine Konsonanz angedeutet: g 1 (T. 4) - g 0 (T. 6) - a 0 (T. 7) - a1 (T. 8) - g 1 (T. 9) – die Nebennotenbewegung (vgl. 16 Wie das Nachbild der Analogie bezeichnet auch die Feier immer den Anfang einer Gruppe zusammengehöriger Takte (markiert einen schweren Takt).
7.10 | 55
94 7.11 | 55
7.12 | 55 7.13 | 55 7.14 | 55 7.15 | 55
7.16 | 56
Bernhard Haas und Veronica Diederen
Bild 7.6) wird zum Teil in die kleine Oktave gelegt. Daraus ergibt sich eine Bassausfaltung c 0-g 0-a 0-d 0 (T. 4–8, vgl. Bild 7.11). In Bild 7.11 hat zugleich der leere Quintklang Takt 6 eine Terz bekommen durch den Quartzug g 1-c 2 Takt 4–7, der an den Zug c 1-fis1 Takt 4–8 von Bild 7.9 erinnert. Zur Quintparallele Takt 6/7 vgl. den Mittelgrund (Bild 7.15). Das in Takt 8 in Bild 7.11 gegenüber Bild 7.10 später eintretende d 1 macht dem Ohr unmittelbar deutlich, dass dies d 1 frei eintritt, nicht aus e 1 Takt 7 kommt. Auf Bild 7.12 ist der Anfang analog zu den Takten 9–11 von Bild 7.9 ausgeführt. Tatsächlich folgt die Ausführung aber Bild 7.13, das gegenüber Bild 7.12 den Vorzug hat, über dem Orgelpunkt die drei Hauptstufen: I-IV-V-I auszuprägen. Wegen der sich ergebenden Quintparallelen vgl. den Mittelgrund (Bild 7.15). Bild 7.14 zeigt, wie das Ergebnis von Bild 7.13 auf die Takte 9 bis 12 übertragen wird. Hier ergibt es sich, dass bei Eintritt der Urlinie (T. 11) kein G-Dur-Akkord steht. Auf dem ›Mittelgrund‹ (Bild 7.15) werden Einzelklänge vervollständigt, Züge zwischen verschiedenen Stimmen der bisherigen Schichten hinzugefügt und Parallelen behoben. So erbringt der Quartzug c 2-g 1 (T. 1–3, Bild 7.15) einen vollständigen F-Dur-Klang in Takt 2, die Quintparallelen Takt 2/3 (Bild 7.13) werden durch eine dazwischengestellte Sexte behoben, in Takt 3 ergibt sich durch einen Untergreifton h 0 vor c1 (T. 4) gegenüber Bild 7.13 ein vollständiger G-Dur-Klang. Gegenüber Bild 7.11 werden in Takt 6/7 Quintparallelen behoben, der unentschiedene a-Moll-Sextakkord Takt 5 wird in Takt 6 durch einen G-Dur tonikalisierenden D-Dur-Sextakkord ersetzt. Dieser würde Quintparallelen erzeugen (Bild 7.16), die durch die Koppelung c 1-c 2-d 2-d 1 Takt 4/5 vermieden sind. Gegenüber Bild 7.14 sind die Takte 9–12 in Bild 7.15 ähnlich bereichert wie die Takte 1–4 gegenüber Bild 7.13. Der Zug e 1-fis 1-g 1 Takt 10–12 versieht C-Dur und D-Dur (T. 10/11) über dem Orgelpunkt G mit den nötigen Terzen. Dass a 0 auf der Mitte von Takt 10 kommt statt in Takt 11, ist eine Analogiebildung zu d 2 Takt 2, Mitte statt Takt 3. Die None h 0-c 2 (T. 12–13) und die Septime g1-a 0 (T. 13/14) von Bild 7.9 sind im Mittelgrund (Bild 7.15) je durch eine Sekunde und einen Oktavsprung ersetzt; auch bekommt der in Bild 7.9 nicht gestützte C-Dur-Klang (T. 13) einen eigenen Grundton. Trotz der genauen Ableitung bis hierhin haben die Takte 5–8 den Charakter, als würden die Töne sich selbständig machen und ihrem eigenen Willen statt dem vom Hintergrund vorgezeichneten Weg folgen. Daran erkennt man die sogenannte ›Stelle‹, die ihrerseits den Mittelgrund bestimmt. Die Stelle ist demnach nicht mechanisch definiert, im Gegensatz zur Analogie und zur Feier.17 In der ausgeführten Komposition klingt die Stelle wie eine Verwicklung, durch die man hindurch muss, so, dass währenddessen fraglich ist, ob es einen Weg hinaus gibt. So ist andererseits das Ende der Stelle – Licht am Ende des Tunnels – 17 Es gehört zur Stelle, dass, während die Musik absteigt, mehrere Züge aufsteigen (vgl. g 1-c 2 T. 3–7 sowie c 1-fis 1 T. 4–8).
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deutlich zu bemerken.18 (Im vorliegenden kleinen Stück ist der Charakter etwas weniger intensiv als in größeren Stücken.)
5. Umriss und Anhalten Bild 7.17 zeigt den ›Umriss‹ des C-Dur-Präludiums. Auf dieser Ebene ergibt sich der Takt; die Rhythmik ist wenig entwickelt. Gegenüber dem Mittelgrund (Bild 7.15) sind vor allem Oktavversetzungen hinzugekommen, z. B. g 1-g 2 Takt 3, das die Anregung von c 1-c 2 Takt 4 (Mittelgrund) aufnimmt. Ähnlich reagiert g 0-G Takt 9–11 auf d 2-d 1 Takt 11/12 des Mittelgrundes; g 1-a1-a 0 Takt 10/11 vermeidet den Septschritt g 1-a 0; G-g 0 Takt 12 nimmt c 1-c 2 Takt 13 vorweg; f 0-F Takt 14 antwortet auf G-g 0 Takt 12.19 Takt 7 ist der einzige Takt ohne Bewegung in halben Noten. Diesen Takt nennen wir das ›Anhalten‹, das diese Ebene definiert. Nicht immer ist das Anhalten so eindeutig mechanisch abzulesen wie hier; meistens befindet es sich innerhalb der Stelle.20
7.17 | 56
6. Vordergrund und Duole Bild 7.18 bereitet den Vordergrund vor. Die Höher- und Tieferlegungen von Bild 7.17 werden durch Brechungen geschmeidig gemacht. Die Bilder 7.19 und 7.20 zeigen, wie in den Takten 4 und 6 die Brechungen in möglichst enger Lage ausgeführt werden; dabei bleiben die Töne von Bild 7.18 je an ihrem Zeitpunkt. Dadurch ergeben sich in 18 Die Stelle besteht aus zusammengehörigen Takten, d. h., an ihrem Anfang und an ihrem Ende ist jeweils ein Anfangspunkt. Hier fällt der Endpunkt der Stelle mit dem von der Analogie gegebenen Punkt zusammen. 19 Die Stufenbezeichnungen unter Bild 7.17 zeigen, dass die Takte 6–9 eine G-Dur-Kadenz ausprägen. Wenn man das Hören von Stimmführung nicht gewohnt ist und nur nach harmonischen Regionen hört, könnte man daher auf die Idee kommen, das G-Dur in Takt 6 sei bereits die Dominante des Ganzen. Diese Meinung ignoriert auch nach traditionellem Verständnis (1) die außerordentliche Leichtigkeit des G-Dur-Klangs Takt 6, der sogleich in einen e-Moll-Sextakkord fortgeführt wird, (2) die Ähnlichkeit des Orgelpunktes C Takt 1–4 mit dem Orgelpunkt G Takt 9–12 (welch letzterer erst die Dominante des Ganzen ist, vgl. Bild 7.2–7.11). 20 Mit dem Umriss entscheidet sich, dass der Schlusstakt dieses Stücks schwer ist. Sollte er leicht sein, so müsste im vorliegenden Fall der Schlussakkord auf der Taktmitte von Takt 15 stehen, die Dominante in Takt 15 also auf die Hälfte verkürzt sein. Technisch gesprochen bedeutet das, dass die in Takt 13 mit der Feier beginnende Gruppe zusammengehöriger Takte mit Takt 15 endet, Takt 16 ist ein neuer Impuls = neuer Anfang. Damit ist das vollständig definiert, was wir die ›Proportion‹ des C-Dur-Präludiums nennen: 4 44 3 . (Das heißt: auf drei Viertakter folgt ein Dreitakter, der Schlussakkord in seinem Charakter als neuer Impuls zählt als ein erster, nicht als ein vierter Takt. Er wird im Proportionsbild nicht notiert.)
7.18 | 56 7.19 | 56 7.20 | 56
96 7.21 | 56 7.22 | 56
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Takt 4 und 6 verschiedene Rhythmen. Bild 7.21 zeigt die Takte 12/13, analog zu Bild 7.18 entwickelt. Bild 7.22 ist der ›Vordergrund‹ des C-Dur-Präludiums. Die Rhythmen der Takte 4–8 und 12/13 kommen auf folgende Weise zustande: Einerseits sollen die Brechungen dieser Takte einander analog sein. So wird aus Takt 4 (Bild 7.19) der Rhythmus Achtel - Viertel für die zweite und dritte, aus Takt 6 (Bild 7.20) der Rhythmus Viertel - Achtel für die erste und zweite Note entnommen (vgl. die Klammern in Bild 7.19 und 7.20). Es ergibt sich der Rhythmus: Viertel - Achtel - Viertel; jetzt bleibt für die vierte Note ein punktiertes Viertel anstatt einer halben Note übrig, und dies ist der Vordergrundrhythmus der Takte 4 und 6.21 Danach werden die beiden dreitönigen Brechungen analogisiert (T. 5 und 13). In Takt 7 ergibt sich auf Bild 7.18 ein gleichzeitiger Anschlag von e 1 und a 0 auf der Taktmitte. Da beide Folgen: a 0-c 1-e 1 und a 0-e 1 in ein und derselben Stimme stehen sollen, wird die erste Brechung in Bild 7.22 rhythmisiert analog zu Takt 4 und 6; so ist Platz für die Quinte a 0-e 1, die ihrerseits so rhythmisiert ist, dass e 1 auf seinem in Bild 7.18 vorgegebenen Platz eintritt. Ein ähnliches Verfahren wird in Takt 12 angewandt, dort erscheint g 1 am von Bild 7.21 gegebenen Ort. Hiermit ist weitgehende Analogie der Brechungen gegeben. Jetzt besteht andererseits die Aufgabe, den ab Takt 9 eintretenden ›geraden‹ Rhythmus so vorzubereiten, dass er nicht stört. Dazu dienen ab Takt 6 die Tonrepetitionen punktierte Halbe – Viertel, die die gewöhnliche Takteinteilung stützen. Außerdem wird in Takt 8 ein den gewöhnlichen Takt respektierender Rhythmus erreicht dadurch, dass gegenüber dem Resultatrhythmus der Takte 6 und 7 ein einziger Impuls um eine Achtel nach vorn gerückt wird: a1 Takt 8 steht auf der fünften Achtel (Taktmitte) statt auf der sechsten. Damit ist der Rhythmus der Takte 9ff. vorbereitet. Der erste Takt dieses Stücks, in dem der Rhythmus symmetrisch ist und der gewöhnlichen Taktordnung widerspricht (3 + 2 + 3 Achtel), ist Takt 5. Diesen ersten Takt nennen wir die ›Duole‹. Die Duole definiert den Vordergrund. Die Bezeich21 Die Rhythmen von Bild 7.22 sind vielleicht die größte Zumutung der vorliegenden Analyse an den Leser. Natürlich stehen diese Rhythmen nicht im Original. Es erscheint daher geboten, an die Fragen zu erinnern, die hier beantwortet werden sollen. In Bild 7.22 geht es darum, zu erklären, wie es kommt, dass das in fast jedem Takt unablässig wiederholte Motiv (erstmals Takt 1) nicht nur nicht eintönig wirkt, sondern im Gegenteil reich und vielfältig; im Zusammenhang der ganzen Analyse wird versucht, systematisch aus den einfacheren je die entwickelteren Schichten zu konstruieren. Diese zwei Fragestellungen sind wie zwei Tunnelbohrungen aus verschiedenen Richtungen, wobei man das Zusammentreffen der beiden Röhren erhofft. Es wird dagegen nicht der Versuch unternommen, die Figuren des Originals zu reduzieren oder zu normalisieren. Die Gleichheit oder Ähnlichkeit der Motive des Originals wird hier demnach nicht als das Erste, Vorausgesetzte genommen (wie sonst vielfach), sondern als das Letzte, das mit mannigfacher Anstrengung erzielte Resultat.
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nung ›Duole‹ kommt daher, dass bei Stücken im Dreiertakt Duolen und Quartolen die Funktion einnehmen, die im Vierertakt von der Gliederung 3 + 2 + 3 bzw. 2 + 1 + 2 + 1 + 2 erfüllt wird.22
7. Ausstreuung und Knoten Die Brechungen im unteren System Takt 9 und 10 dienen der Verbindung der beiden unteren Stimmen aus Bild 7.17. Die Diminutionen a 0-h 0-c 1-h 0 (T. 11/12) und f 1-e 1d 1-e 1 (T. 14–16) verbinden je den ersten mit dem letzten ihrer Töne. J. G. Walther nennt diese Figur Halbzirkel 23, Schenker kennt diese Figur ebenfalls, hat aber keinen Namen dafür. Die ›Ausstreuung‹ (Bild 7.23) dient dazu, die Stimmen der ausgeführten Komposition zu realisieren, jedoch in der vom Vordergrund gegebenen Oktavlage. Dies ist besonders wichtig bei Kompositionen mit einer festgelegten Anzahl von Stimmen. Außerdem werden Verzierungen hinzugefügt. Man bemerkt bereits in Takt 1 im Vergleich zu Bild 7.22, wie die in den ersten drei Takten bestehende Zweistimmigkeit zu mehr Bewegung führt, da nur zwei Stimmen die vier Stimmen von Bild 7.22 ausdrücken müssen. Der Schritt d 1-d 2 Takt 2, 2. Hälfte ist eine Analogiebildung zu g 1-g 2 Takt 3 (Bild 7.17, 7.22). Gegenüber Bild 7.22 ist in Bild 7.23 mehr analogisiert, vgl. insbesondere die steigende Dreiklangsbrechung auf der 2. bis 4. Achtel je in den Takten 3 bis 10 sowie in Takt 12. g 1 Takt 4, 8. Achtel macht den Schritt g 1-a1 (T. 4–5, siehe bereits Bild 7.11) unmittelbar sinnfällig, ähnlich fis 0 Takt 5, 8. Achtel und d 1 Takt 12, 8. Achtel. Die Töne d 0, fis0 Takt 5, 2. und 3. Achtel sind Analogiebildungen zu c 1, e 1 Takt 4, 2. und 3. Achtel. Innerhalb der Stelle (T. 5–8) ist das Achtelmotiv abwechselnd auf die linke (T. 5, 7) und die rechte Hand (T. 6, 8) verteilt. Die kleinen Brechungen g 0-h 0-d 1 (T. 9) und ähnlich Takt 10 (vgl. die Klammern) sind ornamentale Wiederholungen der entsprechenden Brechungen in Takt 9/10 von Bild 7.22. (Die Brechung von Bild 7.22 ist in Bild 7.23 je in der 2., 5. und 8. Achtel von Takt 9 und 10 realisiert.) Der Bassrhythmus ab Takt 9 trägt einerseits die Impulse der Takte 4–7 fort, andererseits betont er g 1 (T. 9, 6. Achtel), a 1 (T. 10, 6. Achtel), h 0 (T. 11, 3. Achtel), c 1 (T. 11, 6. Achtel), h 0 (T. 12) (= Terzzug g 1-h 0 mit Halbzirkel zwischen a und h, vgl. Bilder 7.15, 7.17 und 7.22). Wegen der Zweistimmigkeit fehlen in Takt 10 und 11 die Töne c 2 und d 2, die hier in Klammern notiert sind. Die Zweistimmigkeit der Takte 13 und 14 bewirkt, dass a 0 und d 2 Takt 14, Mitte (Bild 7.22) nicht gleichzeitig kommen können. Ein kleiner Untergreifzug führt d 2 auf der 4. Viertel von Takt 14 herbei. Ana22 Die Duole definiert den Anfang einer Taktgruppe, der hier mit dem Anfang der Stelle zusammenfällt. 23 Vgl. Walther 1732, s. v. ›Circolo mezzo‹.
7.23 | 57
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7.24 | 57 7.25 | 57
7.26 | 57
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log dazu f 1 (T. 14, 4. Viertel auf Bild 7.22) auf der letzten Sechzehntel von Takt 14 als Ziel eines weiteren kleinen Untergreifzuges. In Takt 13 befindet sich die einzige größere Abweichung der Ausstreuung (Bild 7.23) vom Vordergrund (Bild 7.22): Die Brechung e 1-g 1-c 2 erscheint in Bild 7.23 zweimal, in verschiedenen Stimmen. Bild 7.24 ist ein zweistimmiger Ausschnitt aus Bild 7.22. Bild 7.25 zeigt die naheliegende Konsequenz der genannten Verdoppelung der Brechung: Jetzt müsste, unter Beibehaltung des Schrittes c 2-a1 (vgl. die Klammern in Bild 7.23 und 7.25), in Takt 14 die Unterstimme die Oberstimme des Vordergrunds, die Oberstimme den Bass des Vordergrunds spielen. Dies zu verhindern, ergreift in einem Gewaltstreich (Bild 7.26) die Oberstimme a1 in Takt 14, die Unterstimme f 0; die im Vordergrund gegebenen Verhältnisse realisieren sich. Diese Struktur nennen wir den ›Knoten‹. Er definiert die Ausstreuung. Von dieser Verwechslung von Oberstimme und Bass wird die Identität der Stimmen begründet. Man mag beim Knoten wohl an Fehler denken, die in der Antike Architekten an ihren Werken anbrachten, um den Neid der Götter abzuwehren. Es gehört zum Knoten, dass er ein Problem löst, das sich sozusagen im Moment ergibt, das keine Vorgeschichte hat.
8. Ausgeführte Komposition
7.27 | 57
Die letzte Schicht, die ausgeführte Komposition, das Stück, wie es notiert ist, entsteht aus der Ausstreuung durch Veränderungen, die wir ›Dichtmachung‹ nennen. (Es versteht sich, dass hier nicht von Schaffenspsychologie die Rede ist.) Die Dichtmachung ist eine Analogisierung in mehrfacher Hinsicht: Motive der Ausstreuung, die einander ähneln, werden so entwickelt, dass sie im Original einander gleichen; es wird (bei sehr vielen Stücken) durchgehende Bewegung hergestellt (z. B. in Sechzehnteln oder in Achteln); oft geht die Tonikalisierung über das in der Ausstreuung Gegebene hinaus (chromatische Veränderungen gegenüber der Ausstreuung). Schließlich wird der Satz dem jeweiligen Instrument angepasst (vgl. Schenkers Rede vom Klaviersatz), dies bedeutet vor allem Änderungen der Oktavlage. Außerdem werden gewisse funktionale Differenzierungen, die durch die Analogisierung verloren zu gehen drohen, auf andere Weise rekonstruiert. Bild 7.27 zeigt die Figur, die das Präludium bestimmt. Diese Figur kommt auf folgende Weise zustande: In der Ausstreuung schon hatten sich die Töne 2 bis 4 ergeben (z. B. T. 3 r.H.; T. 4, 5 l. H., T. 6 r.H., Bild 7.23). Dem werden nun das zweite bis vierte Achtel von Takt 1 angepasst; in Takt 2 entsteht durch Tieferlegung des zweiten Achtels von c 2 (Bild 7.23) nach c 1 (Original) eine Figur, die der in Takt 10 entspricht (Bild 7.23). Die Figur der Töne 3, 4, 5 (Bild 7.27) ist auf Bild 7.23 in den Takten 9 und 10 vorgegeben, ebenso in Takt 1, nach der gerade genannten Korrektur seiner zweiten bis
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vierten Achtel (vgl. Bild 7.28). In den Takten 2 und 7 (Bild 7.23) ist der fünfte Ton der Figuration eine Quinte unter dem vierten. In den Takten 3, 4, 5, 12 ist der Ton auf der 5. bzw. 6. Achtel eine Quarte höher als der vorhergehende (alles Bild 7.23). Daraus, im Zusammenhang mit der genannten Ableitung der Töne 3 bis 5 (Bild 7.27), ergibt sich, dass der 6. Ton der Figur Bild 7.27 eine Quinte unter dem vierten, eine Terz unter dem fünften liegt. Damit ist Motiv b) (Bild 7.27) abgeleitet. Das Intervall d) (Bild 7.27), die fallende Terz der Töne 7, 8, ist einerseits in der Figur der Takte 9, 10 vorgegeben (Bild 7.23), andererseits kann man es sich aus den Figuren der Takte 1, 8 (Ton der 4. Viertel dort = Sept über Grundton) und 2, 3, 7, 12 (Ton der 7. bzw. 8. Achtel dort = Quinte über Grundton) zusammengesetzt vorstellen. Von den 14 Fällen dieser Figur im Original enthalten vier das Intervall d) (fallende Terz) (7. und 8. Achtel) nicht. Am Ende von Takt 5 steht statt des zu erwartenden c 1-a 0 die Sexte d 1-fis0. Vgl. dazu Bild 7.23. fis 0 dort ist die Wiederaufnahme von fis0 zu Anfang desselben Taktes (vgl. schon Bild 7.15). Diese Sexte ist als Umkehrungsintervall der zu erwartenden Terz verwandt. Wegen Motiv b) (Bild 7.27) fällt in Takt 5 d 1 auf die 7. statt – wie in Bild 7.23 – auf die 6. Achtel. Zu Takt 5 analog die Figur der linken Hand von Takt 4. Der Schritt g 1-a1 Takt 4/5 von Bild 7.23 liegt im Original im Akkord der rechten Hand. Der Stimmkreuzung wegen (auf Bild 7.23 kreuzt die Figur das liegende g 1 des Alt) ist die Figur Takt 4 im Original eine Oktave tiefer ausgeführt. Takt 6 sticht schon in Bild 7.23 gegen das Stück sonst ab: Die rechte Hand kann die dort geforderten Intervalle nicht greifen (z. B. auf der zweiten Achtel g 0 und d 2), obwohl sonst stets Wert auf die Greifbarkeit des Satzes gelegt ist. Es soll aber in der Stelle die Figur von Bild 7.27 abwechselnd in der linken und in der rechten Hand gebracht werden. Aus diesem Grund liegt die Figur g-h-d-e (T. 6) in der ausgeführten Komposition eine Oktave höher als in Bild 7.23. Es ergäbe sich dort nunmehr eine Figur wie in Bild 7.29 angedeutet. Diese Figur sticht in mehrerer Hinsicht ab gegen die anderen Figuren gemäß Bild 7.27. Das Intervall d) (vgl. Bild 7.27) ist eine Quarte, der Abstand zwischen den Tönen 4 und 7 (vgl. stets Bild 7.27) eine Sekunde. Die Figur Bild 7.29 drückt zwei Harmonien aus, nicht nur eine (vgl. bereits Bild 7.17). Die im Original dort stehende simultane Quarte e 2/h1 (anders als Bild 7.29) vermeidet die gerade erwähnte melodische Quarte an der Position d) (Bild 7.27), die den sonst dort stehenden Terzen und Sexten nicht verwandt wäre. Ein weiterer Sinn der nachdrücklichen Viertel in der zweiten Hälfte von Takt 6 liegt darin, dass sie die auftaktigen Viertel ab Takt 6, Ende auf Bild 7.23 von den auftaktigen Vierteln ab Takt 4, Ende des Originals, die in Bild 7.23 nicht bestehen, unterscheiden.24 24 Hofmanns Kritik an der Lesart der Quelle in der zweiten Hälfte von T. 6, die »eklatant gegen die musikalische Logik« verstoße (Hofmann 2008, 817, Fußnote 2), ist demnach zurückzuweisen (Hofmann glaubt, dass der Text unseres Bildes 29 dort zu stehen habe).
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Ab Takt 9 wird die Figur von Bild 7.23 gemäß Motiv b) (Bild 7.27) verändert. Wegen des nicht akzeptablen Dezimsprunges h1-g 0 (T. 9, 1. und 2. Achtel) und wegen der zu tiefen Lage für ein so kleines Stück liegt die rechte Hand ab Takt 9 im Original eine Oktave höher als auf Bild 7.23. Die unregelmäßigen Oktavsprünge (g 0-G) von Bild 7.23 sind begradigt (eine Vorstufe zur Begradigung des Originals findet sich in Bild 7.23, Takt 11/12, Anfang). Die Figur von Takt 11 wird den anderen Figuren (vgl. Bild 7.27) angepasst. Insbesondere der Durchgangston h 0 (T. 11, 3. Achtel) auf Bild 7.23 passt nicht in die Figur Bild 7.27 und wird daher eliminiert. Bild 7.30 erläutert die weitere Entfaltung des Knotens. Takt 13 soll zweistimmig sein, ist auf Bild 7.23 aber noch angedeutet dreistimmig. Damit der Schritt d 1-e 1 Takt 12, Ende/13 (Bild 7.23) sinnfällig wird, wird e 1 zu Beginn von Takt 13 von der Unterstimme gebracht (Bild 7.30). Währenddessen hat die Oberstimme Gelegenheit, c 1 (laut Bild 7.23 ein Mittelstimmenton) zu übernehmen. Folglich wird die Figur e 1-g 1c 2 der rechten Hand (Bild 7.23, 7.26) um ein Achtel nach hinten verschoben (Bild 7.30). Die Unterstimme hat Gelegenheit, den Basston von Bild 7.23 zu berühren (c 0, Bild 7.30, T. 13, 2. Achtel), bevor sie ihrerseits die Figur e 1-g 1-c 2 bringt. Was im Original über Bild 7.30 hinausgeht, ist weitere Analogisierung. So wird insbesondere c l.H. Takt 13, Mitte auf die 4. Viertel versetzt, wodurch die linke Hand das Motiv von Takt 4 erhält. Die in Bild 7.23 in Takt 14 vorhandenen zwei Oktavsprünge (a 0-a1 und d 2-d 1) sind in Bild 7.31 getilgt. Auf Bild 7.31 ergeben sich auch zwei einander analoge Tonleitern (siehe die Klammern auf Bild 7.31). Bild 7.32 schließt das Loch in der Sechzehntelbewegung, nun sind die beiden Tonleitern auch rhythmisch analog. Jetzt entsteht aber ein neues Loch in der Taktmitte. Es erhellt, dass im Original h1 in der Mitte von Takt 14, unerachtet seiner guten metrischen Position, nur dazu dient, dieses Loch zu schließen. Dieser Ton entstammt nicht der obligaten Stimmführung. Das e 1 des übergehaltenen Akkordes zu Beginn von Takt 8 im Original ist kein Vorhalt. Es handelt sich um eine ›zufällig übergehaltene Note‹, die dazu dient, eine dort ansonsten stehende Achtelpause zu füllen. Vgl. dazu das übergehaltene f 0 Takt 15, Anfang. Die Töne b1 Takt 1, 4. Viertel und f 1 Takt 9, 4. Viertel sind winzige Tonikalisierungen des je folgenden Akkordes. Sie gehören zur Dichtmachung. Als Intervall c) (Bild 7.27) kommt die große Sept nicht vor; die kleine Septime, die am häufigsten an der Position c) steht, wird von Takt 8 auf die anderen Stellen übertragen. Analog dazu auch f 2 Takt 3, 4. Viertel, f 0 Takt 12, 4. Viertel und b 2 Takt 13, 4. Viertel, wo Oktaven durch kleine Septimen ersetzt bzw. kleine Septimen frei hinzugefügt werden. Der Ton c 2 in Takt 5 gehört in den gleichen Zusammenhang. c 2 Takt 4 sorgt für Klangfülle und bereitet c 2 Takt 5 vor. C Takt 1–3 dient der Verstärkung. Dass diese Töne nur der Ausführung, noch nicht einmal der Ausstreuung angehören, wird vor allem den verwundern, der z.B. Froberger, Muffat und Pachelbel nicht kennt und Bach von Mendelssohn her hört.
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Takt 2, 6. Achtel c 1 statt d 1 und Takt 10, 6. Achtel g 1 statt a1 ist letzte Politur; im Original ist immer in der Figur Bild 7.27 Ton 6 = Ton 2. Takt 2 rechte Hand müsste ansonsten lauten, wie Bild 7.33 angibt.
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Einer verbreiteten Auffassung zufolge stehen Franz Liszts späte Werke in Ästhetik, Klangsprache und Kompositionstechnik der Musik des frühen 20. Jahrhunderts näher als andere zeitgleich entstandene Werke. Liszts oft radikal anmutenden Experimente demonstrieren ein in dieser Qualität noch nicht gekanntes Bewusstsein für das kompositorische ›Material‹ und die technischen Möglichkeiten seiner Ausarbeitung. So verwundert es nicht, dass sich das Forschungsinteresse zu einem wesentlichen Teil auf die Frage konzentrierte, in welchem Ausmaß kompositorisches Denken des 20. Jahrhunderts in Liszts Werken vorgezeichnet sei.1 Die umgekehrte Frage, inwiefern Liszts Innovationen aus kompositorischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts verständlich werden können, geriet damit allzu oft in den Hintergrund. Erst in jüngerer Zeit und insbesondere in angelsächsischen Forschungsbeiträgen werden Liszts experimentelle Spätwerke zusehends auf ihre historischen Wurzeln hin befragt.2 Dass dabei wiederholt die Schichtenlehre Heinrich Schenkers zum Fundament umfassender Werkuntersuchungen gewählt wurde, dürfte kaum überraschen. Das besondere Interesse der angelsächsischen ›music theory‹ am späten Liszt wurde nicht zuletzt auch durch Diskussionen angeregt, die im Zuge der Institutionalisierung des Faches nach 1945 geführt wurden. Zum einen entbrannte nach Schenkers 1 Einen Forschungsüberblick bietet Saffle 2004. 2 So wurden charakteristische Strukturelemente der späten Werke Liszts im Hinblick auf ihre Entwicklungsgeschichte untersucht. Howard Cinnamon beispielsweise verfolgte Liszts Gebrauch von Zirkelstrukturen (1986); R. Larry Todd wandte sich Liszts Verwendung des übermäßigen Dreiklanges zu (1988). Unter den Beiträgen deutschsprachiger Autoren sind die Arbeiten von Dieter Torkewitz hervorzuheben. Seine Dissertation (1978b) machte unter dem Gesichtspunkt der Harmonik erstmals auf kompositionstechnische und ästhetische Verbindungen zwischen den frühen und späten Kompositionen Liszts aufmerksam.
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Tod zwischen orthodoxen Anhängern seiner Theorie und Reformern Streit darüber, ob die Schichtenlehre der Erweiterung, Modifikation oder gar der Korrektur bedürfe.3 Es ist hinlänglich bekannt, dass Schenker in seinen eigenen Analysen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – Liszts umfangreiches Œuvre schlichtweg ignorierte. Doch gerade im Sog der durch Hans Weisse und Felix Salzer angestoßenen Reformbestrebungen lag es nahe, auch jene musikalischen Repertoirebereiche zu erkunden, die Schenker nicht oder nur beiläufig in Betracht gezogen hatte. Die wiederholt – und auch mit Liszts Werken – unternommenen Versuche, Schenkers Theorie in modifizierter Form zur Anwendung zu bringen, vermochten zwar den Geltungsbereich der Lehre zu erweitern, blieben allerdings bis in die heutige Zeit hinein heftig umstritten.4 Zum anderen wurde die angelsächsische Liszt-Forschung durch theoretische Entwicklungen auf dem Gebiet der atonalen Musik beeinflusst. Mit ihnen fiel auch auf all jene Komponisten des 19. Jahrhunderts neues Licht, deren Musik sich nicht mehr hinreichend mit traditionellen Kriterien der Dur-Moll-Tonalität analysieren ließ. Liszt galt als Vorreiter der Neuen Musik; sein experimentelles Spätwerk wurde im Hinblick auf die strukturellen Veränderungen der Musik nach der Jahrhundertwende rezipiert.5 Vor dem Hintergrund dieser Diskussionen dürfen zwei nordamerikanische Studien der jüngeren Zeit als repräsentativ für die durch Schenker beeinflusste Liszt-Analytik gelten. Beide Arbeiten sind insofern für die Ausrichtung der bisherigen Forschung charakteristisch, als auch sie die Frage thematisieren, ob Liszts späte Werke noch als tonal im traditionellen Sinne bezeichnet werden können. Allen Forte, prominenter Schenkerianer und Schlüsselfigur in der Entwicklung einer Theorie atonaler Musik, verfolgte aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts Liszts Gebrauch atonaler Strukturelemente bis in die 1850er Jahre zurück.6 Fortes These, dass Liszt bereits in einem sehr frühen Stadium atonale Komponenten in den tonalen Satz integrierte, Komponenten, die anfangs noch von sekundärer Bedeutung für die Gesamtstruktur waren, zunehmend jedoch an struktureller Relevanz gewannen, spiegelt sich methodisch in der Kombination seiner ›Pitch-Class Set‹-Theorie7 mit Schenkers Schichtenmodell wider. James M. Baker dagegen kehrte in Reaktion auf Fortes Studie die historische Blickrichtung um und versuchte, Liszts Neuerungen aus den Entwicklungszügen der Tonalität des 19. Jahrhunderts verständlich zu machen.8 Was viele der späten Werke 3 Zu den historischen Umständen und ihren Folgen siehe Schwab-Felisch 2005 sowie Boenke 2005 und 2006. 4 Eine Übersicht verschiedener Versuche, die Schichtenlehre auf posttonale Werke anzuwenden, gibt Baker 1983. 5 Siehe beispielsweise Samson 1977, 15–18. 6 Forte 1987. 7 Forte 1973. 8 Baker 1990.
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Liszts auszeichne, sei eine Form von ›implicit tonality‹, in der Momente eines tonalen Gefüges absichtsvoll geschwächt oder gar unterdrückt werden. Fortes Beschreibung der Emanzipation atonaler Strukturelemente und Bakers Feststellung der Auflösungstendenz des vormals ›intakten‹ Schenker’schen Hintergrundes stellen unterschiedliche Sichtweisen auf ein und denselben historischen Prozess dar. Beide Sichtweisen werfen die Frage nach dem – zweifellos nur schwer bestimmbaren – Verhältnis von tonalen und atonalen Strukturkomponenten im einzelnen Werk auf: Wie ist es möglich, dass einige der späten Werke noch eine tonale Deutung erlauben, andere dagegen bereits den Übertritt in eine neue Materialordnung vermuten lassen, obwohl beide sich im Gebrauch der musikalischen Mittel augenscheinlich nur wenig unterscheiden? Die Frage soll im Folgenden am Beispiel der beiden Klavierstücke Trübe Wolken und Trauervorspiel aus den Jahren 1881 und 1885 diskutiert werden. Die Analyse der Stimmführungszusammenhänge wird je spezifische Formen von ›schwebender Tonalität‹ aufdecken. Im Fall von Trauervorspiel jedoch wird sich herausstellen, dass die Struktur des Stückes lediglich in einem prolongierten übermäßigen Dreiklang besteht. Liszt isoliert den dissonanten Klang und eröffnet dem Hörer dadurch unterschiedliche Möglichkeiten, ihn in imaginierte Kontexte zu projizieren.
Trübe Wolken Das Stück besteht aus 48 Takten (Beispiel 8.1) und gliedert sich in zwei gleich lange, mit Ausnahme der jeweils vier letzten Takte nahezu identische Hälften (T. 1–24 und T. 25–48). Das gesamte Stück über bleibt der g-Moll-Dreiklang in unterschiedlicher Inszenierung als Bezugsklang wirksam. Die melodische Initialformel der Takte 1/2 und das ab Takt 5 nachfolgende Basstremolo ergänzen sich zum g-Moll-Dreiklang in Sextakkordstellung. Den musikalischen Verlauf der Takte 1–20 überspannt in der Oberstimme weiterhin die Brechung der dreiklangseigenen Terz d 1–b (siehe Beispiel 8.2). Gewinnt zu Beginn g-Moll als Tonika eine relativ große Stabilität, so ändern sich ab Takt 9 die tonalen Verhältnisse schlagartig.9 Was der Hörer in Takt 9 entgegen der Notation vernimmt, ist ein es-Moll-Dreiklang in labiler Quartsextakkordstellung, ein Klang, der als subdominantischer in den Bereich der Paralleltonart verweist. Doch wird der Ton es1 in Takt 11 als Nebennote in den Ton d 1 zurückgeführt. Dies initiiert eine chromatisch fallende Folge übermäßiger Dreiklänge (vgl. T. 11–20). Das Gefüge beginnt tonal zu schweben. Allein die weit ausgreifenden Prolongationsvorgänge – die Terzbrechung d 1-b 0 über der im Bass festgehaltenen Dreiklangsterz b, in welche die Kette übermäßiger Dreiklänge eingefasst ist – ermöglichen noch als letzten tonalen 9 Siehe Kramer 1981, 203f.
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Fluchtpunkt den Rückbezug auf das tonikale g-Moll. Insbesondere der Gebrauch gedehnter Nebennoten führt zur Verschleierung des Gerüstklanges: Der Quintton d wird durch seine untere und obere Nebennote cis bzw. es, der Terzton b in der Tremolofigur des Basses durch seine untere Nebennote a auskomponiert. Jede dieser drei Nebennoten kehrt zu ihrem Bezugston zurück. Anders jedoch die Fortschreitung des Grundtones g in Takt 8 zur unteren Nebennote fis in Takt 9. Der Ton fis wird ab Takt 11 Bestandteil des übermäßigen Dreiklanges fis-b-d. Die sich anschließende Mixtur chromatisch fallender übermäßiger Dreiklänge führt letztlich in Takt 19/20 zu einem im Tonbestand identischen Klang zurück. Eine Rückführung der Nebennote fis nach g bleibt damit zunächst aus. Die Nebennotenbewegung von g nach fis ist nicht allein aus linearer Perspektive von Relevanz, legt sie doch aus harmonischer Sicht den Stufenwechsel von der I. zur V. Stufe nahe. Ob aber ein Stufenwechsel erfolgt, bleibt aufgrund der harmonischen Ambiguität des übermäßigen Dreiklanges offen: Der Ton fis könnte nach g geführt werden, womit sich der übermäßige Dreiklang fis-b-d als Vorhaltsbildung zum g-Moll-Dreiklang dechiffrierte. Genauso gut könnte b nach a aufgelöst werden: Es entstünde mit D-Dur die V. Stufe von g-Moll.10 Die harmonische Doppeldeutigkeit wird durch die nachfolgenden Takte 21–24 noch unterstrichen. Als motivische Variante an die Initialformel der Takte 1/2 angelehnt, wird in Takt 21/22 bzw. 23/24 entgegen dem Beginn gerade der Grundton g ausgespart. Formal gesehen verbindet die Taktgruppe beide analog gebauten Hälften des Stückes, mehr aber noch ist sie strukturelles Destillat des gesamten vorhergehenden Teils: Die zuvor in der Oberstimme großflächig auskomponierte Terz b–d wird auf je zwei Takte komprimiert und mit ihren beiden unteren Nebennoten a bzw. cis versehen.11 Was geschieht nun mit der Nebennote fis in der zweiten Hälfte des Stückes? Die Takte 33–44 greifen die (mit Vorhaltsbildung initiierte) Folge übermäßiger Dreiklänge auf, allerdings mit satztechnischen Modifikationen: Wurden im ersten Teil deutlich zwei kompositorische Schichten unterschieden, nämlich die Folge der Dreiklänge einerseits und die sie tragende ostinate Pendelbewegung im Bass andererseits, so werden beide Schichten im zweiten Teil verschmolzen. Darüber erhebt sich ein chromatisch steigender, asymmetrisch gegliederter Oktavzug, der eben jene Nebennote fis prolongiert. In den Schlusstakten wird fis letztlich doch in den Ton g zurückgeführt. Dieser aus Sicht der Stimmführung entscheidende Schritt impliziert gleichfalls ein Moment des Schließens: Der Leitton löst sich nach überdimensionierter Prolongation in den Grundton auf. Doch widerspricht das satztechnische Umfeld der Bedeutung 10 Siehe Skoumal 1994, 63. Skoumal zeigt in seinen Analysen, dass der späte Liszt häufig den Klangkontrast zwischen Tonika und Dominante aufzuheben versucht, indem er stellvertretende Klänge – wie etwa den übermäßigen Dreiklang – wählt, die jeweils zwei gemeinsame Töne mit beiden Funktionen aufweisen. 11 Siehe Forte 1987, 226.
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der Tonfolge fis-g als eines Partikels dur-moll-tonaler Kadenzlogik. In Analogie zu Takt 19/20 müsste auch in Takt 43/44 die Parallelführung übermäßiger Dreiklänge in den Zielklang d-fis-b einmünden. Nur wird dieses Ziel nie erreicht, denn sowohl die Klangfolge als auch das sie tragende Bassostinato brechen zuvor auf einer Durchgangsstation ab. Der übermäßige Dreiklang es-g-ces über der Nebennote a im Bass wird fixiert und die Auflösung des Leittones fis nach g auf den stagnierenden Klang montiert. Vielfach wurde bereits auf den metaphorischen Gehalt dieser Schlusstakte hingewiesen: die harmonische Eintrübung und Verschleierung als musikalisches Symbol ›trüber Wolken‹.12 Insbesondere der Schlussklang – im abstrahierten Tonbestand ein Derivat der Ganztonleiter – erweckte als Signum einer ›Zukunftsmusik‹ großes analytisches Interesse. Aus Sicht der Stimmführung ist er Resultat sich überlagernder Prolongationsvorgänge. Liszt führt in den Schlusstakten kompositorisch kalkuliert zwei ostinate Schichten zur Kollision. Die dabei an der Bruchstelle aufscheinenden dissonanten Klangformen des Vordergrundes wurden wiederholt aus der Perspektive eines neuen Materialstandes analysiert und gedeutet.13 In der Tiefenstruktur jedoch beruhen auch sie noch auf Formen tonaler Klangprolongation. Die tonale Struktur von Trübe Wolken auf einen Ursatz zu beziehen, wäre gewaltsam, wenngleich einzelne Details die Analyse in diese Richtung lenken könnten.14 Wird etwa der Ton d1 als Kopfton einer Quint-Urlinie aufgefasst, so fehlt ihm doch die harmonische Unterstützung durch den Grundton der I. Stufe. Da – wie gezeigt wurde – das gesamte Stück auf der Prolongation des g-Moll-Sextakkordes beruht, bildet sich des Weiteren keine den Formverlauf strukturierende Bassbrechung aus. Allenfalls noch latent lassen sich an den formalen Schlüsselpositionen der Takte 19/20 und 46–48 eine strukturelle Dominante und ihre Rückführung in eine stabile Tonika erahnen.
Trauervorspiel Im Vergleich zu Trübe Wolken mutet das nur wenige Jahre später entstandene Trauervorspiel wie eine aphoristische Klangskizze an. Das karge Tongefüge markiert den Endpunkt des immensen Reduktionsprozesses, der Liszts späte Werke auf unterschiedlichsten Ebenen der musikalischen Gestaltung prägte. Form und Dramaturgie des nur 22 Takte umfassenden Stückes sind gleichermaßen elementar wie bezwingend: Über einem Bassostinato wird sukzessive ein Klangmassiv aufgetürmt. Der durch Verdichtung und dynamische Intensivierung erreichten Expansion schließt sich ab Takt 11 eine rückläufige Entwicklung an, in welcher die eingangs achttönige Os12 Siehe etwa Alan Walkers Deutung und Einordnung in den biographischen Kontext (1997, 440f.). 13 Stellvertretend sei auf Kramer 1981 verwiesen. 14 Siehe Baker 1990, 154f.
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tinatofigur bis hin zum Einzelton ausgedünnt wird. Auch das Trauervorspiel (Beispiel 8.3) beruht auf der Prolongation eines einzelnen Klanges (siehe Beispiel 8.4 ). Die Oberstimme der Takte 3 bis 11 ist als Brechung des übermäßigen Dreiklanges a 0-cis 1-f 1 aufgespannt, jeder einzelne Ton der Brechung wird seinerseits durch Nebennoten prolongiert. Zugleich bildet der übermäßige Dreiklang das Gerüst des Bassostinatos. Die dort durchschrittene artifizielle Skala zerfällt in zwei LamentoTetrachorde cis-h-b-a und f-e-es-cis, deren Rahmentöne sich zum übermäßigen Dreiklang zusammenschließen. Die metrische Anordnung beider Skalenhälften ist gerade so gewählt, dass die abwärts gerichtete Sexte a-cis akzentuiert wird. Sie verhält sich spiegelbildlich zur aufwärts gerichteten Sexte a-f in der Oberstimme. Die Klangschichtung der rechten Hand und das ihr unterlegte Skalenostinato der linken sind – so bemerkte Dieter Torkewitz in seiner Analyse des Stückes15 – in ganz ähnlicher Weise aufeinander bezogen wie in der Dur-Moll-Tonalität der einfache Dreiklang und die ihn auskomponierende Dur- bzw. Molltonleiter. Es scheint, als übertrage Liszt herkömmliche Verhältnisse auf einen neuen Materialstand. Die Orthographie des Stückes dagegen widerspricht einer solchen Annahme. Auch wenn eine Tonartenvorzeichnung ausbleibt, so legt die Akzidentienwahl doch d-Moll als tonales Zentrum nahe. Die Schwierigkeit der tonalen Bestimmung von Trauervorspiel ist der besonderen Situation geschuldet, dass im Vordergrund des Stückes die Prolongation nur eines einzelnen Klanges wirksam ist. Bereits in Trübe Wolken dominierte streckenweise der übermäßige Dreiklang, doch war er dort in ein Umfeld eingebettet, das ihn als Nebennotenklang zu einem konsonierenden Bezugsklang auswies. Im Trauervorspiel dagegen wird der übermäßige Dreiklang isoliert, seine Kontextualisierung der Imagination des Hörers überlassen.16 Zum einen ist es vorstellbar, ihn weiterhin in tonalem Sinne, etwa als erstarrtes Durchgangsphänomen, emanzipierte Vorhaltsbildung oder Alterationsform einer Dominante aufzufassen. Diese verschiedenen Deutungsmöglichkeiten des übermäßigen Dreiklanges haben Vorbilder, die bis in Liszts frühe Werke zurückverfolgt werden können.17 Der mit diesen Kompositionen Liszts 15 Siehe Torkewitz 1978a, 233. 16 Ungeachtet der Schwierigkeit, dass keines der beiden Werke auf einen Ursatz beziehbar ist und damit Tonalität im Sinne Schenkers entfaltet, besteht ein essentieller Unterschied zwischen den Prolongationsformen beider Stücke. Wird der Hintergrund von Trübe Wolken noch durch die Auskomponierung eines konsonierenden Dreiklanges bestimmt, so tritt in Trauervorspiel an seine Stelle der dissonierende übermäßige Dreiklang. Ob dissonante Prolongationen mit Schenkers Strukturvorstellungen vereinbar sind, bleibt eine der strittigen Fragen, die im Zuge der Erweiterung seiner Theorie insbesondere auf Musik des 20. Jahrhunderts aufgeworfen wurden. Siehe hierzu Morgan 1976. 17 Siehe dazu Todd 1988. Todd berücksichtigt auch semantische Konnotationen des übermäßigen Dreiklanges, etwa – wie das Beispiel von Trauervorspiel zeigt – als Trauer- und Klagemetapher.
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vertraute Hörer vermag die dort vorgeführten Kontexte auch im Trauervorspiel zu assoziieren, obwohl sie im Stück selbst nicht mehr realisiert werden. Zum anderen aber – und gerade das demonstrierte Allen Forte in seiner eingangs bereits angesprochenen Liszt-Studie – ist mit Trauervorspiel eine Stufe der Verselbständigung des dissonanten Klanges erreicht, die es ebenso plausibel erscheinen lässt, den Übertritt in eine atonale Materialordnung anzunehmen. Die Wahl des theoretischen Zuganges ist dabei keinesfalls von sekundärer Bedeutung, sondern prägt maßgeblich die aus der Analyse zu gewinnende Interpretation. An einer auffälligen Diskrepanz zwischen Notiertem und Erklingendem lassen sich die Unterschiede beider Hörweisen besonders eindrucksvoll aufzeigen: Mag aus der Perspektive eines atonalen Tonfeldes die von Liszt notierte verminderte Terz cis-es der Skala als spannungslose große Sekunde cis-dis erscheinen, so erweisen sich beide Töne – im Kontext von d-Moll gehört – als spannungsvolle Leittöne zum konsequent verschwiegenen Grundton d. Der durch eine tonale Lesart geleitete Interpret hätte angesichts der unterbleibenden Auflösung des übermäßigen Dreiklanges eine immense innere Spannung zum Ausdruck zu bringen, die in der Satzausdünnung und im Diminuendo der zweiten Hälfte des Stückes gerade nicht an Intensität verliert, sondern in den beiden alternierenden Leittönen cis und es (vgl. die Takte 17–19) punktuell verdichtet wird. Ein atonal orientierter Hörer dagegen wäre versucht, das Stück von ebensolchen Resten dur-moll-tonaler Dynamik befreit zu hören. Er dürfte ein statisches Tonfeld mit spezifischem Intervall- und Dissonanzgehalt vernehmen, in welchem Liszts notierten enharmonischen Komplikationen keine tiefergehende Bedeutung mehr zukäme. Anders als in Trübe Wolken lässt sich in Trauervorspiel die Frage nach der adäquaten Hörweise nicht mehr analytisch am Tonsatz entscheiden. Die Radikalität des Stückes liegt darin, dass es Liszt – und dies bereits in den 1880er Jahren – gelingt, die tonale Struktur in einer solchen Weise mehrdeutig zu halten, dass sich dem Hörer unterschiedliche Projektionsräume öffnen. Zwischen der Möglichkeit, sich das Werk aus atonaler Sicht anzueignen, und der analytischen Feststellung, dass Liszt bereits mit einem vorausweisenden Materialbewusstsein komponierte, besteht allerdings ein gravierender Unterschied. Er sollte bei der Einordnung seiner späten Klavierwerke und der Bemessung ihres Innovationspotentials nicht nur stärkere Beachtung finden, sondern auch dazu auffordern, die Liszt emphatisch zugewiesene Rolle des Wegbereiters der Musik des 20. Jahrhunderts kritisch zu hinterfragen.
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9 Die Logik der Schenker’schen Musikanalyse und ihre Bedeutung für die allgemeine Ästhetik BRU NO H A A S
Heinrich Schenkers Entdeckung teilt mit der Freuds das Schicksal, gleich einer Geheimlehre Befürworter und Gegner erzeugt zu haben, zwischen denen der Dialog nicht in Gang kommen will – ein Anzeichen dafür, dass Schenker einen radikalen Wechsel der Parameter in Gang gebracht hat, der sowohl wissenschafts- als auch kunsttheoretisch von äußerstem Interesse ist. Daran wird nichts durch den Umstand geändert, dass Schenker selbst an keiner Stelle unternimmt, die Logik seiner wissenschaftlichen Arbeit auseinanderzusetzen. Die Analyse dieser Logik führt uns einerseits dazu, Schenkers Beitrag genauer zu verstehen, andererseits denselben aus seiner Isolation im Konzert der Kunstwissenschaften zu befreien. Insofern die Methode das Korrelat des von einer Wissenschaft bearbeiteten Gegenstandsbereiches ist, so impliziert sie offenbar zugleich eine neue Definition des Gegenstandes bzw. seines Wesens. Das Wesen der Musik als Kunst zu bestimmen, ist eine Aufgabe der philosophischen Ästhetik. Damit ergibt sich unsere Thematik. Die Analyse der logischen Struktur der Schenker’schen Entdeckung ergibt eine Reihe von Direktiven für das Studium und bessere Verständnis seiner Beiträge. Ihre Logik zeigt sich dabei als Wesensstruktur der Kunst überhaupt, d. h. derjenigen Kunst, die einer Schenker’schen oder – wie wir später allgemeiner sagen werden – einer funktionalen Analyse zugänglich ist. Wir werden diese universalere Anwendbarkeit anhand eines Beispieles aus der Malerei dokumentieren. Die hierbei sich ergebende Wesensbestimmung oder Definition der Kunst unterscheidet sich von traditionellen unter anderem dadurch, dass sie der Grundbegriff einer präzisen Methode ist, wodurch zugleich ihr Verhältnis zur Empirie angegeben ist. Ob ein Objekt unter diesen Begriff fällt oder nicht, entscheidet sich einfach durch die Anwendbarkeit der Methode. In welcher Weise aber die Bildung eines methodischen Grundbegriffes von der Empirie abhängt oder nicht, lassen wir hier offen.
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Heinrich Schenker hat in der Einleitung zu Der freie Satz die fundamentale Bedeutung seiner Entdeckung mit folgenden Worten hervorgehoben: »Erst nach Aneignung meiner Lehre werden Philosophen und Ästhetiker daran gehen können, eine Theorie der Kunst überhaupt aufzustellen.«1 Worin aber seine Entdeckung eigentlich besteht, d. h. auf welches Phänomen und korrelativ auf welche logischen Besonderheiten er uns gestoßen hat, das ist es, was wir nun auseinandersetzen wollen. Wir nennen aber dies Neue kurz die funktionale Deixis. 1. Was wir die funktionale Deixis nennen, betrifft das Verhältnis des beschreibenden Wortes zum Gegenstand und insbesondere die Kriterien, gemäß denen eine Beschreibung als pertinent gelten soll. Ein jeder weiß, dass die Beschreibung einer Partitur als Ansammlung schwarzer Formen auf weißem Papier zwar richtig, in bezug auf die Musik aber nicht pertinent ist, es sei denn – vielleicht – es handelt sich um eine Partitur von Earl Brown. In der Musikanalyse sollen Strukturen musikalischer Werke pertinent beschrieben werden. Es stehen sich demnach gegenüber das Werk und die Beschreibung; ihr Bezug ist der Gegenstand der gegenwärtigen Untersuchung. Wo immer das Wort eine Sache nennt, da nennt es sie als etwas. Das Wort ›Kadenz‹ nennt eine Ansammlung von Noten als musikalische Funktion (die Bedeutung dieses Ausdruckes wird später präzise definiert werden). Die gegebene Ansammlung von Noten ist und ist nicht dasselbe wie die Kadenz. Sie ist nicht dasselbe, insofern man an ihr eine gewisse Anzahl pertinenter Eigenschaften isolieren und andere dementsprechend ausschließen muss, um sie als Kadenz erkennen zu können. Dazu gehört schon dies, dass man die Grenzen der Kadenz angeben muss, was dazu gehört und was nicht. Diese Grenzen gehören keineswegs den Noten an ihnen selbst schon an; dazu gehört noch, dass man sie als Kadenz erkenne und verstehe. Abgesehen davon ereignen sich während der Aufführung einer Kadenz unendlich viele Ereignisse, die nicht zum Begriff der Kadenz gehören und die mithin auch nicht gesagt werden, wenn ein musikalisches Ereignis als Kadenz bezeichnet wird. Das Wort nennt die Sache als etwas; das Als-Etwas ist aber nicht dasselbe wie das Etwas selbst; das Wort nennt die Sache in diesem Sinne immer und notwendig als etwas anderes denn was sie ist. Edmund Husserl nennt dieses Als, einen aristotelischen Begriff aufnehmend, das apophantische.2 Es versteht sich von selbst, dass die Musikanalyse nur pertinente Strukturen des musikalischen Werks nennen soll; die Frage ist aber: Was ist eine pertinente Struktur? 1 Schenker 1935, 9. – Werfen wir einen Blick auf die Musikästhetik des 20. Jahrhunderts, so müssen wir feststellen, dass ihr der Durchgang durch ein rigoroses Verständnis des ›Formniveaus‹ (Adorno) der Musik selbst noch nicht gelungen ist. Ihren ambivalenten Ruf verdankt die heutige philosophische Ästhetik der außerordentlichen Schwierigkeit ihres Gegenstandes, dem sie bisher kaum gewachsen war. 2 Vgl. hierzu Husserl 1921 VI, §§ 6 und 7 und 1929 mit ausführlichen Kapiteln zur Apophantik.
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Mit anderen Worten: Bis zu welchem Grad und inwiefern enthält die Partitur alle Informationen oder nicht, auf deren Grund eine pertinente Analyse möglich ist? Gesetzt, sie enthält alle notwendigen Informationen, so fragt man sich, was die Aufführung noch hinzufüge, da an ihr ja nur das relevant sein wird, was isomorph auch in der Partitur vorliegt. Wenn aber nicht, so fragt man sich, worauf dann die musikalische Analyse sich stützen soll. Diese Aporie führt uns zur Ausgangsfrage zurück: In welcher Weise kann sich die Beschreibung pertinent auf ein musikalisches Werk beziehen? Nennen wir A dasjenige, was in einem Kunstwerk benannt werden soll, und a den Namen, mit dem es benannt wird, so können wir die Relation des Namens zu seiner Sache oder des Als-Etwas zum Etwas auch so notieren: a→A, was nichts anderes bedeutet, als dass der Name a die Sache A nennt. Dabei verstehen wir unter dem Namen eigentlich die Nahme, nämlich dasjenige, was eine Sache nimmt oder vielmehr gibt (griech. nomein), da es sie der Vernahme, d. h. der Vernunft vorstellt. Wenn also a→A, so gilt in gewisser Hinsicht a=A, in anderer Hinsicht aber auch a≠A. Das Erstere gilt, insofern die Sache A ja ein a sein soll, wenn anders der Satz gilt »A ist a«; das Zweitere, insofern a das A nennen, d. h. geben soll, da es dann offenbar etwas anderes gibt als es selbst ist. Die Frage ist nun, mit welchem Recht in einer Werkanalyse dem Werk überhaupt irgendwelche Eigenschaften a, b, c zugeschrieben werden, wenn dies nicht anders als nur dadurch geschehen kann, dass man die Sachen A, B, C mit etwas bezeichnet, was sie nicht sind. Diese Frage beantworten wir provisorisch mit dem Hinweis, dass ein Musikstück einen Sinn hat. Dies zeigt sich einfach daran, dass es z. B. einen Sinn hat, in einem Musikstück gewisse Noten als tragenden Bass zu hören. Das Phänomen des Sinnes scheint geradezu auf der Differenz von A und a zu beruhen. Wir nennen dies auch die Allegorie des künstlerischen Materials, worunter wir nur dies verstehen, dass das künstlerische Material im Kunstwerk zu etwas Anderem wird als es ist, dass A, B, C sich eben als a, b, c zeigen. Die Frage ist nun, wie kann dem Etwas jeweils pertinent sein Als-Etwas zugeordnet werden? Auf diese Frage gibt Heinrich Schenker durch seine Analysepraxis eine radikal neue Antwort. Wir wollen diese Antwort zuerst frei in der Analyse der Beziehung von Beschreibung und Werk entwickeln. Der Satz »A ist a« ist wegen seiner strukturell allegorischen Struktur, weil nämlich a≠A, prinzipiell zunächst willkürlich. Man hätte von A auch ganz andere Dinge sagen können. Er bedarf also einer Begründung. Auf dieser Ebene bewegen sich traditionelle Diskussionen über Fragen der Werkanalyse. Man fragt sich, wie ein Passus zu beschreiben ist, und bringt Gründe für seine Einschätzung bei. Diese Gründe haben natürlich selbst alle eine allegorische Struktur; ihre Überzeugungskraft hängt von ihrer Anzahl ab und davon, ob man ähnliche Gründe in vergleichbaren Situationen antrifft. Wieso Hegel dieses Argumentieren als ein Raisonnieren bezeichnet und dadurch disqualifiziert, wird in der Folge deutlicher werden.
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Bei Heinrich Schenker gibt es diese Form des Raisonnierens nicht.3 Seine Technik der ›Diminution‹ ist anders gebaut. Diese Technik besteht in der Reduktion eines musikalischen Textes auf eine einfachere Struktur, die im Notentext eigentlich ›gemeint‹ sei. Dabei geht Schenker so weit, zu behaupten, dass alle Musik sich als Diminution einer ersten und einfachsten Struktur auffassen lasse, die da heißt: der Ursatz. Diese Behauptung ist so ungeheuerlich, dass sie allein schon hinreicht, Schenkers Arbeit unplausibel zu machen, umso mehr, als Schenker selbst keine Möglichkeit zu sehen scheint, die ihm selbst zeitgenössische Musik auf den Ursatz zurückzuführen. Damit zeigt er uns jedoch nur an, dass der Ursatz eine historisch begrenzte Struktur sein muss. Dass er gar nichts anderes sein kann, erhellt übrigens daraus, dass er einen Sinn strukturiert; das Phänomen des Sinnes aber scheint außerhalb einer Geschichte überhaupt nicht denkbar zu sein. Wir werden hierauf zurückkommen. – Die Frage ist nun bei Schenker wie stets: Wodurch kann die Diminution als pertinente Beschreibung des musikalischen Werks ausgewiesen werden? Wir stellen zunächst fest, dass die Strukturierung einer Schenker’schen Analyse sich dadurch auszeichnet, dass verschiedene Schichten der Diminution übereinandergelegt werden, die von Schenker generisch als die ›Gründe‹ und ›Schichten‹ der Musik bezeichnet werden. Der Mittelgrund ist die Diminution des Hintergrundes usw. Die fertige Partitur erscheint insofern auch selbst nur als das letzte Glied einer Kette, bevor es an die Aufführung geht. Bekanntlich gibt es in der älteren Musik Beispiele für Partituren, die gewisse Partien (z. B. Kadenzen oder Verzierungen, ›Diminutionen‹) nicht ausnotieren und der Improvisation des ausführenden Musikers überlassen. Wir können Schenkers Reduktionen in einem gewissen Sinne als weniger ausnotierte Versionen einer Komposition auffassen. Dabei wird deutlich, in welcher Weise sie sich auf Partitur und Aufführung beziehen: Sie beziehen sich vermittels des ausgeschriebenen Notentextes immer auf die Aufführung, und zwar in einer irreduziblen, strukturell absolut entscheidenden Weise. Dies erhellt, sobald wir betrachten, in welcher Weise bei Schenker eine gegebene Reduktion begründet wird. In einem gewissen Sinne können wir geradezu sagen, dass sich Schenkers Praxis von traditionellen Analysepraktiken dadurch unterscheidet, dass er seine Reduktionen gar nicht begründet, höchstens etwa erläutert. Ob eine Reduktion richtig ist oder nicht, das hört man; eine andere Begründung gibt es zunächst nicht. Zunächst – denn auf einem höheren Niveau gibt es allerdings eine Begründung, und zwar eine solche von unvergleichlich viel zwingenderer Kraft als die traditionell ›raisonnierender‹ Analysen. Wir werden allerdings sehen, dass just hiermit auch die ebenso unvergleichliche Schwierigkeit der Schenker’schen Analyse zusammenhängt. 3 »Der Erste, der das Unbewusste der Meister deutet und das bisher darüber Theoretisierte damit widerlegt, bin eben ich!«, schreibt Schenker in Der freie Satz (28). Was ist das »Unbewusste der Meister«? Es ist jedenfalls etwas, worüber man nicht »theoretisiert«.
Die Logik der Schenkerschen Musikanalyse
Wie gesagt, die Reduktion wird prinzipiell zunächst nicht begründet, insofern sie eben unmittelbar gehört wird. Damit ist nichts anderes gemeint, als dass das gegebene Musikstück, im Lichte der von Schenker vorgeschlagenen Reduktion einfach ›gut klingt‹, oder, um es mit einem auch in anderen Wissenschaften gebrauchten Wort zu sagen, eine Lust bereitet. Was ist es aber, das hierbei ›gut klingt‹, wenn nicht eben das ganze Musikstück, wie es leibt und lebt, d. h. insofern es aufgeführt wird? Anders als so lässt sich die Lust an der Musik gar nicht erfahren, es sei denn vielleicht, man ist Musiker genug, eine Musik im bloßen Lesen zu hören, wie es einem Messiaen, aber nicht dem Autor dieser Zeilen gegeben war. Diese Lust ist also der Grund und das Kriterium der analytischen Reduktion. Was zunächst als eine Schwäche erscheint, zeigt sich sonach als die eigentliche Stärke der Schenker’schen Analysemethode. In der Tat: Insofern die Analyse sich nach der Lust richtet, die das Werk zu geben vermag, lässt sie sich vom Werk als Werk, d. h. in der ganzen Pracht seiner Aufführung etwas sagen; ja, ohne das ist sie gar nichts. Damit ist garantiert, dass diese Form der Analyse, gesetzt sie gelingt, etwas Wesentliches mit dem Werk zu tun hat. Welches andere Kriterium möchte man aber wohl anbringen für die Pertinenz einer analysierenden Beschreibung? Umgekehrt möchten wir sagen, dass eine jede Analyse, die nur das Notenbild braucht, um verständlich gemacht werden zu können, sich schon deswegen nicht auf erklingende Musik als solche bezieht. Die Referenz auf die Lust am Werk ist dasjenige Moment an Schenkers Methode, das sie allererst in einen wirklichen Bezug zur Kunst bringt.4 Betrachten wir die logische Struktur dieser Konstellation, so können wir sagen, dass hierin die Beschreibung einen authentischen Bezug zum Singulare herstellt. Nehmen wir an, Schenker interpretiert einen Passus als Terzzug, so können wir dies auf unsere Formel a→A zurückführen in dem Sinne, dass ›Terzzug‹ der passende Name für den betroffenen Passus sei, insofern dieser eben als Terzzug (apophantisches Als) organisiert ist. Die Frage ist nun: In welchem Sinne ist der Passus pertinent als Terzzug bezeichnet? Dies soll nun schlicht evident sein, d. h., es hat keinen Grund, sondern zeigt sich daran, dass der Passus im Sinne eines Terzzuges gehört, Lust bereitet. Dazu gehört nicht nur die innere Struktur des Passus, sondern auch seine Einbettung in den größeren Zusammenhang des Stückes. Mit anderen Worten: Die Evidenz ergibt sich aus dem Ganzen des Werks, und zwar strenggenommen aus der Pracht seiner konkreten (und möglichst gelungenen) Aufführung. Das a→A steht demnach unter einer Bedingung, nämlich unter der Bedingung des ›konkreten Ganzen‹. Wir werden später sehen, was das ist, ein ›konkretes Ganzes‹. Diese Bedingung hat logisch die Eigenschaft, nicht reduzierbar zu sein. D. h., damit sich die Bedingung erfüllt, muss man sich das Musikstück anhören, und zwar am besten mit den wissenden Oh4 Vgl. hierzu Jauss 1972 mit einer Apologie und kleinen Geschichte speziell des ästhetischen Genusses.
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ren des vollendeten Musikers. Sie kann durch kein logisch reduzierbares Kriterium ersetzt werden. Das macht Schenkers Analysemethode zugleich höchst unbequem, nämlich einer mechanisierten Anwendung unzugänglich, dafür aber – pertinent. In diesem Sinne sind Schenkers Analysen nicht so sehr Vorschläge, über die man diskutieren, d. h. mit Gründen entscheiden könnte, als vielmehr eine Schule des Hörens, wo das Hören eines jeden Details zunächst gelernt sein will. In der Regel werden diese Analysen von den Schülern und Epigonen Schenkers viel zu früh raisonnierend emendiert. Es wäre aber vorher zu lernen, was Schenker in ihnen hört. Hierdurch könnte viel unnötiges Hin und Her vermieden werden, zumal die durch Schenkers Ansatz strukturell möglich werdenden Modi von Begründung auf einer ganz anderen Ebene liegen, wie wir in der Folge zeigen wollen. Die Ambivalenz von immanenter Strenge und Angewiesenheit auf das logisch irreduzible Konkrete ist von Schenker bemerkt, wenn auch nicht analysiert worden. Wir lesen in Der freie Satz, § 29, das Bild stelle »lediglich die streng logische Bestimmtheit im Zusammenhang einfacher mit komplizierten Tonfolgen vor«, näher aber diesen Zusammenhang »nicht in der Richtung vom Einfachen zum Komplizierten, sondern auch in der umgekehrten Richtung vom Komplizierten zurück zum Einfachen.«5 Diese Umkehrung der Richtung hat offensichtlich nur dann einen Sinn, wenn sie etwas zum Vorschein bringt, was in der ersten Richtung noch nicht vorhanden war. Dieses irreduzible Element bezeichnet Schenker in § 50 als das »Wunder der Fühlungnahme vom Ursatz zum Vordergrund und umgekehrt«.6 Diese Fühlungnahme bedeutet wiederum nichts anderes, als dass die ausgeführte Komposition als Diminution dieses sie tragenden und zusammenhaltenden Fundamentes muss hörbar sein. Die ›Gründe‹ stehen eben unter der Bedingung des konkreten Ganzen. Diese Bedingung macht Schenkers Reduktionstechnik unbrauchbar für den, der – umgekehrt prolongierend – etwa glaubte, große Musik herstellen zu können.7 Insofern bei Schenker die Beschreibung auf einer Benennung beruht, die nur unter der Bedingung des Singulare evident wird und irgendeine Gültigkeit hat, weil ferner dieses Singulare nicht anders für uns dasein kann, als indem es sich selbst zeigt, so enthält Schenkers Analysemethode ein irreduzibel deiktisches Moment, ohne das sie schlicht unverständlich bleibt. Umgekehrt können wir sagen, dass eine jede Analysemethode, die dieses deiktische Moment nicht enthält, sich auf alles Mögliche, nur nicht auf das musikalische Kunstwerk als solches bezieht. Die Frage aber ist noch, worin eigentlich die Singularität jenes Singulare besteht. Sicher ist, dass man sie nicht mit der Singularität des nach Aristoteles durch die Materie individuierten Gegenstandes verwechseln darf. Gibt es nicht mehrere gültige Aufführungen desselben Mu5 Schenker 1935, 41. 6 Ebd., 52. 7 Ebd., 41.
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sikstücks? Aber selbst mit Bezug auf Malerei muss die Singularität des Kunstwerks woanders lokalisiert werden als in der materiellen Individuation; und dies hängt mit der allegorischen Struktur der Künste zusammen. Wir haben gesehen, dass es in den Künsten jeweils um ein Etwas im Hinblick auf ein Als-Etwas geht. Dabei zeigt sich näher, dass die Vermittlung dieser beiden unter der Bedingung des sogenannten konkreten Ganzen steht. Dieses Konkrete ist aber nichts anderes als das, was in der Rezeption des Kunstwerks sich zeigt und ereignet. Die Materialität des Werks ist dabei selbstverständlich redundant determiniert, zumindest was die Werke der von Schenker einzig in Betracht gezogenen Epoche anbetrifft. Das Ereignis aber dessen, was man seit etwa drei Jahrzehnten gerne die ›ästhetische Erfahrung‹8 nennt, ist in sich strukturell einzig. Es ereignet sich etwas hier und jetzt mit mir und mit anderen; das scheint zur Struktur der Lust zu gehören, die wir an dem Kunstwerk haben können. Wir werden daher vorsichtiger die deiktische Beschreibung eines Kunstwerks nicht auf das Singulare, sondern auf die Einzigkeit im Sinne der Einzigkeit des Ereignisses der Herstellung und Darstellung des Kunstwerks in die Offenheit einer möglichen ›ästhetischen Erfahrung‹ beziehen. In diesem Sinne ist der Begriff jener Deixis auch auf Literatur anwendbar. 2. Ist der Bezug des Namens zum Gegenstand daher strukturell deiktisch, also stets auf die unmittelbare Gebenheit der Sache in der ihr zugehörigen Lust angewiesen, so ist der Name an ihm selbst Funktion. Unter einer Funktion verstehen wir eine rein relationale Definition. So ist beispielsweise in Schenkers Ursatz der Kopfton der Urlinie als solcher durch seinen Bezug zum Schlusston definiert, der Schlusston durch seinen Bezug zum Kopfton, beide zusammen als Urlinie nur durch den Bezug zum Durchgangston und in einem weiteren Sinne zum Bass, der wiederum als solcher nur durch die Bassbrechung funktioniert usw. Alle diese Termini drücken eine relationale Bestimmung aus, d. h. in dem hier terminologischen Sinn eine Funktion. Das Außerordentliche der Schenker’schen Funktion besteht aber darin, dass sie in dieser destillierten Form gar nicht funktioniert, sondern jeweils nur im ausgeführten Stück. Man kann gar nicht verstehen, was ein Ursatz ist, bevor man ihn nicht in einem Werk gehört hat. Darin unterscheidet sich Schenkers Methode radikal von traditionellen Ansätzen. Es gibt in der Schenker’schen Methode gar keine anderen als nur solche relativen, oder, wie wir sagen: funktionalen Bestimmungen. Es entsteht dadurch in der Schenker’schen Analysemethode folgende singuläre logische Situation. Die Beschreibung oder Analyse selbst besteht darin, dass gewisse Namen miteinander in einen Zusammenhang gebracht werden, in dem jedes Element durch seine Beziehungen zu den anderen definiert ist. Kein Name nennt dabei geradewegs die zu 8 Siehe z. B. Bubner 1989; Menke 1991; Alain Chareyre-Méjan 2000.
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nennende Sache, sondern jeder nur den anderen Namen, mit dem er in einem definitorischen Zusammenhang steht. Etwas ist nicht dadurch ›Terzzug‹, dass drei Noten in fallender Linie aufeinander folgen, sondern dadurch, dass diese Noten in diesem Zusammenhang (also, indem sie andere Elemente engagieren, bedeuten bzw. ›nennen‹) als Terzzug funktionieren. Indem aber diese Relationen einmal etabliert sind, gibt sich das Ereignis der Offenbarkeit des Werks von ihm selbst her. Schenker erläutert dies treffend in Der freie Satz, § 48. Im Unterschied zur Riemann’schen Kadenz habe der Ursatz, so Schenker, »die Oberstimme, die Urlinie, das Gewicht einer Spenderin aller Stimmführungswandlungen, was der Oberstimme in den Kadenzen der Harmonielehre durchaus fehlt.«9 Die Urlinie ist also, was sie ist, allein dadurch, dass sie als Hintergrund in einem Anderen erscheint. Die Riemannsche Kadenz dagegen ist an ihr selbst schon, was sie ist.10 Eine kurze Reflexion über den Status der Partitur im Verhältnis zum ausgeführten Musikstück einerseits und zu den Schenker’schen ›Gründen‹ andererseits soll uns helfen, diese Konstellation zu formalisieren. Den Hintergrund können wir als den Namen des Mittelgrundes, diesen als den des Vordergrundes und diesen schließlich als den der ausgeführten Partitur auffassen. Die Partitur selbst fungiert dann als der Name der Aufführung. Allerdings ist das Verhältnis der Partitur zur Aufführung von ganz anderer Natur als das Verhältnis der Gründe zueinander und zur Partitur. Partitur und Aufführung sind inkommensurabel; denn der Klang ist offenbar etwas völlig anderes als die Notation. Die Vorstellung, es handele sich dabei nur um isomorphe Versionen derselben Struktur, ist ein vulgäres Missverständnis.11 Denn dass eine Musik auf Menschen Eindruck machen könne, ist wohl allbekannt; von einer Partitur aber kann das Gleiche gar nicht oder nur unter sehr bestimmten Bedingungen gesagt werden. Behaupten, dass der Gehalt einer Musik – und was soll das überhaupt sein? – gleichwohl in der Partitur isomorph aufgehoben sei, abstrahiert von dieser offensichtlich wesentlichen Bedingung für unser Interesse an der Musik. Mit anderen Worten: Sobald die Partitur nicht mehr als Name der mit ihr strukturell inkommensurablen und sie transzendierenden Aufführung verknüpft ist, sondern vielmehr als isomorphe Notation angeblich desselben Gehaltes fungiert, entfällt genau das, worum allein es bei einer Analyse geht. Eine Musikanalyse, die dem nicht strukturell Rechnung trägt, ist verfehlt. Der Name tritt hier also in zwei grundverschiedenen Verhältnissen auf, einmal als Name von Namen, das andere Mal als Name einer Sache. Wir haben oben den Na9 Schenker 1935, 40. 10 Schenker fügt hinzu: »Nur ein Gefühl, das sich der Ursatzform in ihrem vollen begrifflichen und inhaltlichen Gegesatz zu den Kadenzen der üblichen Harmonielehre bemächtigt, kann in die Horizontale hinausstürmen und Verbindungen vom Hintergrund über den Mittelgrund zum Vordergrunde schaffen.« (ebd.) 11 Diese Auffassung z. B. bei Wittgenstein.
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men durch Kleinbuchstaben gekennzeichnet und die Sache durch Großbuchstaben. Wollen wir also das Verhältnis der Partitur zur ausgeführten Komposition von dem Verhältnis abheben, das zwischen den Gründen und der Partitur besteht, so notieren wir: a→A (Partitur→Aufführung) für das Verhältnis der Partitur zur Aufführung und a→a’→a’’→a’’’ (Hintergrund→Mittelgrund→Vordergrund→Partitur) für das Verhältnis der drei Gründe und der Partitur. Dabei können wir a→a’→a’’→a’’’ insgesamt als Ausdruck des Namens im Unterschied zur Sache auffassen und folgende Formalisierung für die ganze Struktur vorschlagen: (a→a’→a’’→a’’’)→A. Das radikal Neue an Schenkers Analysemethode wird in dieser Formalisierung durch das Verhältnis angezeigt, das zwischen den in der Klammer stehenden Pfeilen und dem außer ihr Befindlichen besteht. Insofern in der Klammer die Termini als Funktionen aufeinander bezogen sind, insofern nennt das Ganze das Werk. Der Analytiker beschränkt sich darauf, die Funktionen zu benennen, und verzichtet darauf, geradehin zu sagen, was das Werk sei; dadurch aber lässt er das Werk sich selbst zeigen in dem, was es ist. Mit anderen Worten, der Analytiker sagt z. B. a→a’, und man hört a→A; man hört etwas anderes, als was gesagt wird. Wir können dies auch so ausdrücken und sagen, die Analyse bewege sich ausdrücklich stets nur auf der Ebene des Namens oder des Signifikanten und rufe hierdurch die dem Signifikanten ganz inkommensurable Ebene des Signifikats auf. Im traditionellen Diskurs vermeint man die Sache als das zu nennen, was sie ist, d. h., die Beschreibung kann prinzipiell die Sache ersetzen (mag sie vielleicht auch strengen Kriterien der Vollständigkeit nicht genügen). Im Zuge dieser Logik kann man die Aufführung mit der Partitur für isomorph halten. Der beschreibende Begriff fungiert dann notwendig als Merkmalseinheit, die eine gewisse Mechanik der Anwendung erlaubt (woraus nichts anderes als ein raisonnierendes, daher auch unverbindliches und letztlich gleichgültiges Argumentieren hervorgehen kann). Bei Schenker findet diese Form der Illusion und des Raisonnements nicht statt, weil der Diskurs an ihm selbst strukturell unvollständig ist und nur von der erklingenden Musik vervollständigt werden kann. Diese strukturelle Abhängigkeit ist nicht misszuverstehen als die triviale Tatsache (die für jeden Diskurs über was auch immer gilt), dass er eben Diskurs über die jeweilige Sache ist und insofern ohne die Sache unvollständig bleibt: Sie besteht vielmehr darin, dass jede analytisch festgestellte Struktur sich auf der Ebene des Signifikanten situiert und als Evidenz nur in der Sache funktioniert – worin die Faktizität des musikalischen Sinnes besteht. In der Praxis bedeutet dies, dass man zu jedem Detail einer Analyse das korrelierende hörbare musikalische Ereignis beherrschen muss. Gerade die Schenker nahestehende, ihn emendierende Literatur ist leider voll von Beispielen mangelnder Beherrschung dieses, wie Schenker vielleicht nicht ganz zu Unrecht meinte, genuin künstlerischen Könnens. In diesem Sinne sagen wir, dass die Schenker’sche Analyse ausschließlich mit Funktionen zu tun hat. Unter der Funktion verstehe ich dabei den auf der Ebene des
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Signifikanten relational definierten Teil (eigentlich: Namen), insofern er zugleich in einem wesentlich deiktischen Bezug zum Werk steht. Die ›Teile‹ oder im hier terminologischen Sinne ›Namen‹ (Gründe, Schichten, aber auch Züge, Bassbrechung, bis hin zu einzelnen Tönen) sind relational definiert, insofern sich ihre Definition jeweils nur aus der Stelle ergibt, die sie im Verhältnis zu den anderen Teilen einnehmen. Ihr absoluter Sinn entzieht sich stets der Sagbarkeit, insofern er eben – erklingen muss. 3. Fragen wir nun erneut nach der Begründbarkeit der funktionalen Analyse. Zweierlei ist zu beachten. Einerseits entspricht der Analyse eine Evidenz des Werks, so etwas wie eine authentische Erfahrung des Werks. Diese Evidenz, wenn sie sich einstellt, kann in der Tat den Rezipienten zu ihrer Gunst entscheiden. Allein, sie ist eigentlich das Ziel der Analyse, sie ereignet sich, sobald die Analyse verstanden ist. Solange man sie nicht erreicht hat, ist man eben mit dem Verständnis noch nicht zu Ende. Hieraus folgt eine missliche Situation: Schenkers Analysepraxis ist esoterisch. Entweder man ist dafür, weil man alles verstanden, d. h. lebendig gehört hat, oder man ist dagegen, kann aber nicht mitreden, eben weil man nichts gehört, nichts verstanden hat. Wer kann aber entscheiden, ob es da wirklich etwas zu verstehen gibt oder nicht? Gäbe es kein anderes Anzeichen der Wahrheit für eine funktionale Analyse, ihre Integration in andere wissenschaftliche Diskurse wäre kaum zu bewerkstelligen. Neben der lebendigen Evidenz der Analyse am ausgeführten Werk gibt es aber, andererseits, noch die formalen Eigenschaften des jeweils betroffenen funktionalen Systems. Sie eigentlich sind es, was die Wissenschaftlichkeit des Ganzen garantiert, und zwar in einem Maße, wie dies traditionellen Diskursen über die Kunst, gleichgültig welcher Gattung, bisher unzugänglich war. Wir wollen dies kurz erläutern. Oben haben wir das Verhältnis der Funktionen zueinander durch den Pfeil symbolisiert und die Struktur eines im Schenker’schen Sinne dreigründigen Werks durch folgende Formalisierung ausgedrückt: a→a’→a’’→a’’’. Dabei gehen wir davon aus, dass die Aufteilung in Gründe keine bloße Bequemlichkeitsentscheidung ist, sondern eine tiefliegende funktionale Struktur andeutet, die im lebendigen Hören der betroffenen Musik muss wiedergefunden werden können.12 Es versteht sich von selbst, dass dieselben abstrakten Formen wie der Ursatz, der Zug, der Anstieg, die Bassbrechung usw. in verschiedenen Zusammenhängen auftreten können. Diese Möglichkeit liegt schon in der strukturellen Abstraktheit jener Gebilde, nämlich darin, dass sie nur auf der Ebene des Namens überhaupt definiert sind. Das ändert nichts an ihrer ebenfalls strukturellen Konkretheit. Derselbe Ursatz kann den verschiedensten Stücken 12 Schenker selbst betont die tiefe, ja entscheidende Bedeutung dieser Artikulation an verschiedenen Stellen, z. B. in Der freie Satz (1935) 22; 49 (§ 47). Dies ist meines Wissens in der SchenkerNachfolge noch nicht geschehen. Vgl. jedoch Bernhard Haas’ Beitrag in diesem Band.
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zugrundeliegen, muss aber jedesmal in dem einzigen Ereignis der Aufführung des Werks realisiert werden. Was dies für die Praxis bedeutet, möchte ich am Beispiel der Bassbrechung erläutern. Diese besteht bekanntlich in den zwei Schritten der aufsteigenden und darauf wieder fallenden Quinte. Nun ist es gar nicht schwer, in gegebenen Kompositionen lauter solche Quintschritte im Bass zu finden, wo nur das triviale Kriterium eines Quintenschrittes erfüllt ist. Will man dagegen die Bassbrechung im Sinne Schenkers in einer Komposition finden, so kann man sich auf ein solches Kriterium nicht verlassen. Der Ort der Bassbrechung muss aus dem Ganzen der Komposition evident werden. Die restlichen Ereignisse im Bass müssen sich funktional z. B. als Teiler, Auffüllung oder z. B. als Quintfall zu einem auffüllenden Ton darauf beziehen lassen. D. h., die Bassbrechung bezeichnet nicht einen Gegenstand, den man aufgrund gewisser allgemeiner Kriterien hier und da identifizieren kann, sondern eine Funktion, die nicht anders als nur durch ihren Bezug zum konkreten Ganzen zureichend dargestellt ist. Wo in einem Stück der Quintton der Bassbrechung erreicht ist, da ist ein Zustand erreicht, der es dem Stück erlaubt, irgendwann einmal zu seinem Ende zu finden, von dem her es kein Zurück mehr gibt – mit Folgen für die Artikulation des absteigenden Zuges der Urlinie. Die Bassbrechung ist dadurch definiert, dass sie so und so entwickelt werden kann; und es kann eine Typologie der möglichen Bassentwicklungen geben, die im Grunde gar nichts anderes ist als die vollständige Analyse der kategorialen Struktur des Begriffes einer Bassbrechung, wie diese empirisch aus der Musik einer gewissen Epoche zugänglich ist. Ich nenne den Zusammenhang aller in einem gegebenen historischen Rahmen möglichen Funktionen ein funktionales System und verstehe unter dem System nichts weiter als das, was im griechischen Wortsinn zusammensteht und zusammengehört. Je weiter die Analyse eines funktionalen Systems ausgearbeitet ist, desto weniger Raum bleibt für die persönliche Willkür des Analytikers. Der Beweis oder die Begründung einer Analyse findet nicht auf dem Niveau der bloß beschreibenden Feststellung einzelner Funktionen statt; diese Feststellung ist deiktisch, d. h., sie wird gezeigt und zeigt sich im Werk von sich selbst her. Sondern die Begründung erhellt aus der kategorialen Analyse eines funktionalen Systems, d. h. des Systems möglicher Funktionen in der Musik eines gegebenen historischen Zeitraums. Die bloß feststellende Beobachtung reiht sich dadurch in einen systemischen Zusammenhang ein, aus dem allein so etwas wie ein Corpus wissenschaftlich verwertbarer Ergebnisse entstehen kann. Nelson Goodman hat in Ways of Worldmaking beschrieben, in welcher Weise sogenannte Elementaraussagen (sprich: empirische Aussagen über das, was unmittelbar ›gegeben‹ zu sein scheint) selbst durch das kategoriale System bestimmt
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sind, dem sie angehören.13 Man kann daraus u. a. diese Lehre ziehen, dass die Schwierigkeit empirischer Wissenschaften nicht so sehr darin besteht, empirische Fakten zu sammeln und nachher zu ordnen oder zu interpretieren, sondern darin, die relevanten Beobachtungen auszufinden und sie an den richtigen Ort zu bringen im Zusammenhang der anderen Beobachtungen und der eine Wissenschaft strukturierenden Grundbegriffe. Die sogenannten Elementar- oder empirischen Aussagen zeigen sich bei dieser Gelegenheit, gar nicht so elementar und rein empirisch zu sein, wie man zunächst annehmen möchte. Hierdurch erklärt sich der Status der Allgemeinheit, der den von Schenker in Der freie Satz aufgelisteten Funktionstypen zukommt. Es handelt sich um nicht weniger als eine vollständige Aufstellung der im Rahmen eines bestimmten Tonalitätstypus möglichen Funktionen. Wir können dies auch so ausdrücken und sagen: Schenkers Der freie Satz beschreibt die kategoriale Struktur des musikalischen Materials einer bestimmten Epoche. Welcher Epoche, darüber hatte Schenker selbst infolge seiner unhistorischen Fehldeutung der eigenen Entdeckung keine klare Vorstellung.14 Andere Formen von Funktionalität sind nicht nur denkbar, sondern mittlerweile auch beschreibbar. In der Tat kann heute die Musik des 19. und 20. Jahrhunderts wenigstens bis in die 60er Jahre hinein mit Hilfe einer anderen Funktionalität beschrieben werden, die vom ungarischen Dirigenten Albert Simon in jahrelanger Arbeit entdeckt und formuliert worden ist, aber noch nicht anders als in der Darstellung von Bernhard Haas vorliegt.15 Die neue Tonalität verhält sich zu Der freie Satz wie ein kategoriales System zum anderen. Jedes beschreibt eine historisch nachweisbare Art des Hörens und Komponierens, jedes beschreibt eine andere Organisation des Materials der Musik. 4. Fragen wir noch, was eigentlich ›Funktionalität‹ sei, so lässt sich wenigstens dies sagen, dass sie eine besondere Art von Sinn strukturiere. Diese besondere Art von Sinn scheint ausschließlich in Kunstwerken stattzufinden. Dabei ist die Behauptung nicht, es sei Kunst außerhalb von Funktionalität überhaupt nicht möglich, sondern nur, dass Funktionalität dasjenige definiert, was in einem gewissen Zeitraum europäischer Geschichte Kunst gewesen ist. In der Tat gibt es eine mittlerweile detaillierte Anwendung funktional-deiktischer Analyse im Bereich der Malerei und etwas mehr als erste Ansätze auch mit Bezug auf Literatur. Im Schlussteil dieses Beitrages möchte ich kurz in die funktionale Analyse der Grundfarbigen Malerei einführen, die historisch und strukturell der durch Der freie Satz beschriebenen Musik nahesteht. Die Logik von Schenkers Musikanalyse führt uns also zu einer allgemeinen Ästhetik, insofern sie es 13 Goodman 1988, bes. 12. 14 Vgl. Schenker 1935, § 4, 31–32. 15 Haas 2004.
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erlaubt, den Sinntypus, der spezifisch im Kunstwerk stattfindet, zu definieren. Dass dieser Sinntypus sich hierbei selbst eventuell als historisch eingrenzbares Phänomen herausstellen könnte, verringert Schenkers Verdienst nicht, sondern ist eher der Index seiner Kraft. Die Ästhetik stellt sich in dieser Weise selbst als eine empirische Wissenschaft heraus. Dass es der philosophischen Ästhetik nicht gelungen ist, diesen Begriff auszuarbeiten, hat seinen Grund genau hierin. Das Besondere dieser Form von Sinn wird uns hier greifbar durch die Art, wie er kommentiert, interpretiert, analysiert wird. Die Analyse besteht darin, dass man Strukturen angibt, die etwas ihnen Inkommensurables anwesen lassen, wenn man mit ihrer Hilfe ein Werk rezipiert. Was ausdrücklich gesagt wird und was sich ereignet, ist dabei grundverschieden. Mehr noch, was gesagt wird, verdient isoliert oder an ihm selbst betrachtet gar kein Interesse. Der Ursatz selbst z. B., den Schenker für den Kern musikalischer Kreativität hielt, ist an und für sich, wenn man ihn etwa isoliert aufführt, die Trivialität selbst. Aus einer Schenker’schen Analyse, scheint es, kann also nichts Bedeutendes gelernt werden. Allein, was gelernt wird, ist nicht das, was im Analysetext steht, sondern das Hören. Und es bleibt stets dem Werk vorbehalten, das zu sagen, was es etwa zu sagen hat; kein Kommentar versucht, dieses Sagen zu ersetzen oder zu doublieren. Nichts verbietet aber, dass ein Mensch auf das, was ihn aus einem recht gehörten Werk angeht, antworte.16 Und so scheint es, als stehe der Musikwissenschaft auch nach Schenker noch die Entdeckung der wesentlichen Orte bevor, d. h. derjenigen Abgründe, die durch eine wohlverstandene Funktionalität hindurch sich zu Gehör bringen. Seit einigen Jahren versuchen wir, etwas dergleichen unter den Titeln der ›Bewandtnis‹ des ›Parkplatzes‹ in der Malerei zu zeigen.17
16 Ob das es ist, was Heidegger ›das Gespräch‹ nennt? 17 Bewandtnis und Parkplatz sind zwei in der Malerei nachgewiesene Phänomenschichten, deren erstere aus den Funktionen herauswächst und geradewegs in solches umschlägt, was man traditionell wohl den Inhalt nennen möchte. Mit dem Parkplatz dagegen bezeichnen wir Strukturen, die man als das Jenseits der Funktionen auffassen könnte und deren Erforschung uns vor gewisse Abgründe führt, von denen kurz in Die freie Kunst berichtet wird. – Vieles spricht für die Vermutung, dass die von Bernhard Haas entdeckten Zusammenhänge der Schichten oder Gründe mit gewissen Phänomenen der ausgeführten Komposition (den ›Stellen‹) genau die hier anvisierten Phänomene betreffen. Was z. B. die Höherlegung der Mittelstimme über die Oberstimme mit dem von Bernhard Haas als ›Feier‹ bezeichneten Charakter zu tun haben soll, ist dieser Funktion an ihr selbst gar nicht anzusehen. Vielmehr stellt sich durch sie hindurch ein transcendens in die Komposition ein, das gleichsam ganz woanders hingeht als nur zu anderer Funktion, mag im Übrigen diese Höherlegung als Ereignis der Entwicklung des Ursatzes ihre Stelle haben. Was bei Bernhard Haas als ›Feier‹ bezeichnet wird, hat mithin einen ontologischen Status ganz eigener Art, es ist nicht Funktion, sondern Bewandtnis. Inzwischen wird erstmals der Parkplatz in der Musik besprochen, in: Haas /Diederen 2008, Bd. 1, 175–185.
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*** 5. Während des Zeitraumes, der ungefähr von 1600 bis ins 18. Jahrhundert reicht, ist die Malerei der Ort eines funktionalen Systems gewesen, das offensichtlich eine enge Verwandtschaft zu den von Schenker in Der freie Satz beschriebenen Strukturen zeigt. Ein grundsätzlich anderes System geht ihm voran, ein grundsätzlich anderes folgt ihm. Ich bezeichne es als die ›Grundfarbigkeit‹. Als älteste Vertreter können Annibale Carracci, Peter Paul Rubens, Michelangelo Merisi da Caravaggio gelten; bei ihnen ist die Grundfarbigkeit schon vollständig ausgebildet. Die ältesten Meister dagegen, deren Kunst diesem System eindeutig nicht mehr angehört, sind Francisco Goya und Jacques Louis David (1746 respektive 1748 geboren). Wenn der Übergang des älteren Systems zur Grundfarbigkeit kataklystische Eigenschaften zu haben scheint und durch eine gewisse Plötzlichkeit sich auszeichnet, so scheint der andere Übergang stufenweise und kontinuierlich sich ereignet zu haben, ob er gleich wie der erste durchaus die wesentlichen Parameter funktionaler Strukturierung grundsätzlich revolutioniert hat. D. h., in gewissen Grenzen scheinen sich Strukturen der älteren und der jüngeren Funktionalität übereinanderlegen zu können. Diese Daten führen zu der Annahme, dass die von Schenker in Der freie Satz entwickelten Begriffe eine Anwendung schon vor der von ihm ins Auge gefassten Epoche, d. h. vor Bach, haben müssten und dass vielleicht sogar die ›klassische‹ Version ursätziger Musik ihrem Entdecker unbekannt geblieben ist. Umgekehrt ist zu vermuten, dass die Komponisten des 19. Jahrhunderts, die Schenker noch für Vertreter ursätziger Musik hält (die er schätzt, z. B. Schumann, Brahms), bereits im Sinne der ›neuen Tonalität‹ analysiert werden können.18 Nicht nur die chronologische Übereinstimmung deutet darauf hin, dass seit Mozart und massiv seit Beethoven mit Strukturen zu rechnen ist, die über den Ursatz hinausgehen. Es ist ferner davon auszugehen, dass für die Musik vor dem 17. Jahrhundert eine völlig andere Funktionalität noch zu entdecken ist. In der Malerei lässt sich heute ein solches System beschreiben, das sich im Großen und Ganzen seit Anfang des 15. Jahrhunderts bis tief ins 16. Jahrhundert hinein gehalten hat. Als Beispiel für unsere Demonstration wählen wir ein Werk von Nicolas Poussin, die Ekstase des heiligen Paulus im Louvre, gemalt 1650 für Paul Scarron.19 Wir unterscheiden auf diesem Bild wenigstens drei grundlegende Arten, die Farben zu lokalisieren: Entweder die Farbe gehört einem fest umgrenzten Gegenstand an, z. B. einem Gewand. Sie hat dann nicht nur eine deutliche Grenze, sondern auch und vor 18 Dagegen können Autoren wie Liszt, Wagner, Bruckner, die Schenker selbst schon für dekadent, d.h. für keine ursätzig komponierenden Meister hielt, auf keinen Fall erfolgreich im Sinne Schenkers analysiert, d.h. gehört werden. 19 Die Behandlung der Paulinischen Attribute, mit dem Schwert, das über dem geschlossenen Buch liegt, scheint uns in einem engen Bezug zum Auftraggeber zu stehen.
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allem einen deutlichen Schwerpunkt, insofern sie insgesamt eine Masse bildet. Dies gilt auch da, wo ein Gewand an verschiedenen Stellen zwischen den Beinen der Engel sichtbar wird: Dennoch sieht man es als eine Masse mit nur einem Schwerpunkt. Wir bezeichnen solche Farben als Flecken. Anders steht es mit den verstreuten Farben der Landschaft. Braun, Grün, Blau, Weiß, Grau usw. befinden sich bald getrennt, bald vermischt und ineinander verschlungen im Prinzip über die ganze Bildfläche verteilt in einer Weise an ihren Orten, die die Bildung von Massen oder Schwerpunkten ausschließt. Während die Flecken bestimmte Massen sind und eine Gestalt haben, sind die Farben der Landschaft eher gestaltlos und eignen sich daher zum Grund, der überall da sichtbar wird, wo er nicht gerade durch eine Masse verdeckt ist. Drittens aber gibt es noch die Inkarnatfarbe. Diese funktioniert nicht wie Flecken, weil sie erstens keine eindeutige Farbe trägt wie jene, sondern eben fleischfarben ist mit gewissen, die verschiedenen Personen gegenseitig abgrenzenden Nuancierungen und weil sie zweitens auch nie einen Masseschwerpunkt hat, ist sie doch vor allem die Farbe des gegliederten Leibes. Ebensowenig funktioniert sie aber wie eine Grundfarbe, weil sie ja nie Grund, sondern immer Figur auf einem Grund ist. Aus den Malereitraktaten des 17. Jahrhunderts lernen wir denn auch, dass das Kolorieren zuallererst nichts anderes bedeutet als das In-Farbe-Setzen des menschlichen Fleisches, das ›Inkarnieren‹, wie schon Cennino Cennini sagt.20 Diese strukturelle Dreiteilung des barocken Chromatismus, schon von Hans Sedlmayr beschrieben, aber in der Koloritgeschichtsschreibung ohne Folgen geblieben 21, ist zwar keineswegs vollständig, gestattet aber eine erste Orientierung. Wir legen uns die Frage vor: In welcher Weise stehen diese drei chromatischen Schichten zueinander, und wie sind sie jeweils in sich organisiert? Wir beginnen mit den Flecken. Wir unterscheiden im wesentlichen fünf verschiedene Fleckenfarben: Blau (terminologisch az, von azurum), Rot (r), Grün (vd, von viridis), Gelb (gl) und Weiß (al, von album). Der Einfachheit halber bezeichne ich die drei Engel gegen den Uhrzeigersinn und ausgehend von dem gelb gekleideten Engel mit den Buchstaben A, B, C, die wir zuweilen den Farbbezeichnungen als indices beigeben. Diese Flecken lokalisieren sich gegenseitig. Wir betrachten zuerst das Gelb glA. Dieses Gelb hat einen goldleuchtenden Ton, feierlich und leicht. Es hebt sich sehr gut vom bräunlichen Grund ab, obwohl es ihm dem Farbton nach ziemlich ähnlich ist. Diese Selbständigkeit kommt ihm nicht von sich selbst, sondern von einem anderen Flecken, der es unterstützt, vom Blau azB. Man kann dies überprüfen, indem 20 Dieser Terminus ist sogar, jedoch überzogen, als ein theologisch gemeinter Übergriff der auf höheres Ansehen spekulierenden Maler gedeutet worden (Kruse 2000). 21 Sedlmayr 1982. – Die bisherige koloritgeschichtliche Forschung hat wenig zu den uns interessierenden Fragen beigetragen. Folgende Titel verdienen jedoch hervorgehoben zu werden: Bercken 1914 (wegen seiner Einleitung); Grunewald 1912; Schöne 1954; Strauß 1972.
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man das Blau mit der Hand verdeckt und beobachtet, was mit dem Gelb geschieht: In der Tat sinkt es wie kraftlos in den Grund zurück. Das Blau stützt also das Gelb. Damit aber nicht genug. Verdecken wir das Rot des Paulus mit der Hand, so wird der Bezug azB-glA in einer näher zu charakterisierenden Weise flach. Zwar steht das Blau eindeutig hinter dem Gelb, tiefer im Raum, aber die Dreidimensionalität oder plastische Fülle dieses Bezuges ist ohne das Rot nicht deutlich. Wieder genügt es, das Rot mit der Hand zu verdecken, um festzustellen, dass nur zu dritt diese drei Farben sich gegenseitig jede an ihren Ort bringen und dort auch festhalten. Wir bezeichnen eine solche Einheit dreier Flecken als einen Akkord. Versuchen wir die Funktionsweise des Akkordes genauer zu beschreiben. Fragen wir zuerst, ob der Akkord den Anforderungen funktionaler Deixis genügt. Dazu wird erfordert, dass die an ihm beteiligten Termini funktional, d.h. rein relational definiert seien. Das sind sie in der Tat, insofern bisher nur darauf geachtet wurde, was die beteiligten Flecken durch ihre gegenseitigen Beziehungen sind. Keine Beachtung fand dagegen, was sie jeweils in ihnen selbst sein möchten. Wie ihre Funktionen definiert sind und in welcher Weise sich diese Funktionen vielleicht sogar unterscheiden, das werden wir etwas später anzugeben versuchen. Zweitens wird erfordert, dass die jeweilige Funktion unter der Bedingung des sogenannten konkreten Ganzen stehe. Auch diese Bedingung ist erfüllt, insofern die gegenseitige Abhängigkeit der Flecken am Original ›evident‹ ist und deshalb auch eines weiteren Beweises weder fähig noch bedürftig ist. Wohl kann man diese Evidenz dem Leser beschreibend, d. h. eigentlich suggerierend näherbringen, worin keineswegs der interessanteste Teil dieser Arbeit besteht. Versuchen wir nun, die Funktionen der drei ersten Farben in ihrem Akkord zu differenzieren. Dabei stoßen wir bald auf Komplikationen, deren Analyse den hier einzuhaltenden Rahmen sprengen würde. Wir deuten daher hier nur Folgendes an. Das Gelb, sagten wir, schwebe vorne, getragen oder gestützt vom Blau. Auch das Blau schwebt, ist leicht, in gewisser Weise unstofflich. Das Rot Pauli dagegen hat einen massiveren Charakter, es scheint insofern erdgebundener als die Gewandfarben der Engel. Das ist auch ikonographisch motiviert, ist doch Paulus der Mensch, der von Engeln in die Luft geistiger Schau gehoben oder, wie Charles LeBrun es am 10. Januar 1671 in seinem Vortrag an der Académie royale de peinture et de sculpture ausdrückt, gerissen wird, da der Engel im gelben Gewand »une action violente« ausführe »pour enlever le saint qu’il soutient, et par cet effort semble l’arracher de la terre pour l’élever au ciel«.22 Das Rot gehört insofern ursprünglich zur Erde in die Vordergrundzone, wo das Buch liegt, und erscheint erst durch die Tat der Engel in die Lüfte gestemmt. Es teilt nicht den ätherischen Charakter der Farben Gelb und Blau. Dieses Stemmen wird genauer durch das Grün Pauli ausgedrückt, insofern es das Rot buchstäblich 22 LeBrun 1671, zit. nach Mérot 2003, 203.
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vom Blau her in die Höhe stemmt, eine vermittelnde Farbe zwischen Blau und Rot. Insofern das Rot nun in die Höhe gestemmt ist, so ergibt sich für den Akkord eine gewisse Reihenfolge der Farben, nämlich Gelb-Blau-Rot (gl-az-r), mit einem darin eingehängten, untergeordneten Akkord az-vd-r, der den Übergang von az zu r vermittelt. Insofern aber das Rot eigens in die Höhe gestemmt erscheint und daher ursprünglich zum Boden gehört, ergibt sich eine alternative Reihenfolge, wenn man sich nämlich das Rot in seiner anfänglichen Position auf der Erde vorstellt. Dann ist das Rot die erste Farbe im Akkord r-az-gl. Die Positionsverschiebung von Rot im Akkord drückt offenbar einen wesentlichen Aspekt der Handlung aus.23 Vergleichen wir die drei Positionen im Akkord formal, so zeigt sich die erste Farbe als die stehende oder in sich ruhende, als der feste Punkt, an dem die anderen gleichsam aufgehängt sind. Die zweite dagegen ist die im Verhältnis zur ersten Heraus- oder Entgegengesetzte. Ihre Position ist dadurch bestimmt, dass sie woanders ist, d. h., sie ist immer im Verhältnis zu einem Ersten bestimmt. Die dritte Position aber bindet die zweite an die erste zurück. Erst hierdurch wird die Entgegensetzung selbst zu etwas Festem. Nimmt man z. B. den roten Flecken hinweg, so wird die Entgegensetzung von Gelb und Blau ganz unverbindlich. Man kann den Akkord in diesem Sinne recht zutreffend durch die dialektischen Kategorien der Setzung, Entgegensetzung und Rückkehr bestimmen. Zusammen schlagen diese drei Flecken einen gewissen Raum auf. Sie umfassen den Leib des heiligen Paulus, den sie gleichsam in die Lüfte emporheben. Dass der Bildraum unter anderem eine Sache von akkordischer Organisation sei, ist in der bisherigen Kunstgeschichte, die im Übrigen keinen klaren Begriff des Farbakkordes ausgearbeitet hat, nicht beachtet worden. In der Tat spielt die geometrische Perspektivkonstruktion seit dem 17. Jahrhundert eine fast untergeordnete Rolle für die Konstitution des Bildraumes. Aber selbst was man im Anschluss an die Malereitraktate als Luftperspektive bezeichnet, wäre auf diese und verwandte, tieferliegende chromatische Funktionsgesetze zu beziehen. Langjährige Forschungen zur funktionalen Struktur der Malerei des 17. Jahrhunderts haben mich zu der Vermutung geführt, dass im Prinzip alle grundfarbigen Bilder einen Akkord enthalten müssen, der aus den drei Primärfarben besteht, und dass dieser Akkord in irgendeiner Weise zugleich den allgemeinen Raum aufschlägt und die Bildfläche in ihrer Ganzheit aufspannt. Diese Behauptung kann hier nicht demonstriert werden. Wir werden sie in der Folge etwas nuancieren, um insbesondere zu erklären, was von solchen Bildern zu halten ist, die offensichtlich die drei Grundfarben gar nicht vollständig enthalten, wie dies z. B. in der Portrait- oder Stilleben23 Allein diese scheinbar umständliche Beschreibung des Akkordes kann seinem Verhältnis zum Grund in zureichender Weise gerecht werden. Es versteht sich von selbst, dass an dieser Stelle weder eine vollständige Analyse des Paulus noch der hierfür notwendigen Grundbegriffe gegeben werden kann.
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kunst sehr häufig vorkommt. Wir bezeichnen den hier erläuterten Flecken-Akkord der Primärfarben wegen seiner für die gesamte Malerei des Barock grundlegenden Bedeutung als Prinzipialakkord. Indessen wenden wir uns den Farben des Grundes zu. Unter ihnen dominiert in geheimer Weise das Braun, nicht zuletzt dadurch, dass es realiter allen anderen Farben als die sogenannte Imprimatur zugrunde liegt. Unter der Imprimatur versteht man eine Farbschicht, die auf die mit einem Leim grundierte Leinwand aufgetragen wird, um alle anderen Farben zu tragen. Der Leim diente dazu, das Einziehen der fettigen Ölfarbe in die Leinwand zu verhindern. Der braune Grund ist in der gesamten Malerei des 17. Jahrhunderts immer vorauszusetzen, selbst wenn er in einzelnen Fällen, wie bei Rubens, sehr hell sein kann. Bei Poussin ist er eher dunkel, besonders Mitte der 40er Jahre, aus welcher Periode einige Bilder ungünstig nachgedunkelt sind. Dass ein zugrundeliegendes Braun die Farben der Landschaft gleichsam trägt, ist in der Ekstase des heiligen Paulus deutlich genug. Wir verzichten auf eine vollständige Analyse der Landschaftsfarben und beschränken uns auf diejenigen Töne, die für das innerste Gerüst der chromatischen Funktionalität von Bedeutung sind. Dazu gehört z. B. nicht das Grün, das den braunen Erdboden hier und da bedeckt. Wohl gehört dazu das Blau des Himmels. Dieses Blau führt einen gewissen räumlichen Effekt in das Bild ein, der ebenfalls für die Konstitution des Bildraumes im 17. Jahrhundert absolut grundlegend, von der kunstgeschichtlichen Forschung jedoch bisher völlig übersehen worden ist. Das Braun des Grundes bezeichnet zwar die Bildfläche, funktioniert aber nicht deswegen schon einfach als nackte Oberfläche oder als das ›flächige‹ Moment in der Malerei, dem irgend das die Tiefe Suggerierende entgegengesetzt wäre. Vielmehr funktioniert es als der Schoß der Farbflecken. Damit ist dies gemeint: Von den Flecken haben wir oben gesagt, dass sie zusammen bereits eine gewisse räumliche Organisation implizieren, die allein aus ihrem akkordischen Zusammenhang hervorgeht. Allein, dieser Raum existiert selbstverständlich nicht bloß in den Flecken selbst, die ihn erzeugen, sondern er umhüllt sie; sie stehen in ihm. Das aber, worin sie ursprünglich stehen, ist nichts anderes als der braune Grund. Dieser ist es also, was dank des Akkordes eine gewisse unbestimmte räumliche Breite hat, die sich nicht auf sein ›objektiv‹ oberflächliches Dasein reduzieren lässt. Der braune Grund geht von Anfang an schwanger mit einem Raum. Was passiert aber, sobald der blaue Himmel dazukommt? Das Blau deckt das Braun so zu, dass man es unter dem Blau auch nicht mehr erahnen kann, es ist auf das Braun absolut opak. Die Wirkung ist aber paradoxerweise nicht die eines Abschließens oder Verriegelns, sondern im Gegenteil einer Öffnung. Insofern der Himmel den Grund verriegelt, öffnet er erst die Weite des Draußen. Es findet hier eine Form von räumlicher Inversion statt, die noch ihrer Analyse harrt. Ein Drittes aber stellt sich mit dieser Inversion ein, nämlich so etwas wie das etwas nebelige weiße Licht, das,
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pigmentär schwer greifbar, gleichwohl den ganzen Raum durchwaltet. Wir gelangen so zu einem Akkord unter Grund-Farben (unter den Farben des Grundes), der da besteht aus dem Braun der Imprimatur und der Erde (bezeichnet durch ein χ), dem Blau des Himmels (coelum, c) und dem Weiß des Lichtes (lumen, lm): brχ-al lm-az c. Auch hier handelt es sich um eine Funktion im terminologischen Sinne: Die Termini sind rein relational bestimmt, ihr Funktionieren erhellt allein aus dem konkreten Werk. Vergleichen wir den zuerst erläuterten aus Flecken bestehenden Akkord mit diesem zweiten, so erhellen einige tiefliegende Unterschiede, die mit der verschiedenen Erscheinungsweise von Flecken- und Grund-Farben zusammenhängen. Der Grund-Akkord besteht nicht aus Massen mit optischen Schwerpunkten, ist deshalb über das ganze Bild verbreitet. Er reserviert dadurch dem Prinzipialakkord einen Raum, den dieser erfüllt und spannt. Dabei beobachten wir eine bestimmte Artikulation im Verhältnis der zwei Akkorde. Diese Artikulation wird durch die im Prinzipialakkord wirkende Inversion kompliziert. Der Einfachheit halber beschränken wir uns auf das Verhältnis des Grundes zum r-az-gl, also zu derjenigen Version des Prinzipialakkordes, darin das Rot noch in seiner Anfangsposition ist, wie diese im Hinaufgestemmtsein Pauli nur noch als ein dem aktuellen Bildgeschehen vorausgehendes Stadium fassbar ist. Das Rot, sagten wir, sei erdgebunden; die Erde aber ist braun. So steht das Rot hier vor dem Braun, kommt aus dem Braun heraus, ist ihm verwandt. Das Blau dagegen hebt sich aus dem nebeligen Weiß des Grundes heraus. Das Gelb endlich bezieht einen Teil seines wunderbar freien goldenen Leuchtens aus dem Kontrast mit dem Himmelblau, was man durch Verdecken dieses Blaus unschwer verifizieren kann. Es ergibt sich damit folgende Zuordnung der Prinzipial- und der Grundfarben:24 rPl - azB - gl A brχ- al lm - az c Fügen wir noch hinzu, dass zwischen Grund und Prinzipialakkord ein Unterschied waltet, gleichsam ein Schacht, in den die Funktion der Inkarnatfarbe gehört, die den Unterschied und Abstand der Prinzipial- von den Grundfarben offenhält. Wir müssen auf eine nähere Darstellung dieser Funktion hier verzichten. Die hier dargelegten Akkorde sind als grundlegende Funktionen der Grundfarbigen Malerei anzusehen, deren Rang dem Schenker’schen Ursatz vergleichbar ist. Freilich gibt es Formen der Malerei, die im Verhältnis zu diesen Funktionen elliptisch sind in einer Weise, wie dies in der Musik nicht vorzukommen scheint. Das System 24 Diese Zuordnung ist insofern nicht zureichend, als sie die auf dem Bild aktuell erscheinende Konfiguration des Prinzipialakkordes nicht erläutert. Ich nenne diese für Grundfarbige Malerei übliche Komplikation die Inversion des Prinzipialakkordes. Sie ermöglicht eine bedeutende Reihe chromatischer Ausdrucksphänomene.
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der in der Malerei möglichen Ellipsen ist ziemlich kompliziert und spiegelt mit großer Genauigkeit das wider, was in der Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts als die Lehre der Genera bekannt ist. Man unterscheidet z. B. Stilleben-, Landschafts- und Historienmalerei, die auch jeweils von unterschiedlichem Wert und Rang sind, wie dies z. B. in Samuel van Hoogstratens Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst beschrieben ist (Buch II, Kap. 3 und 4).25 Gewisse Genera sind geradezu dadurch definiert, dass in ihnen bestimmte funktionale Strukturen abwesend sind; das können wir hier aus Platzgründen nur andeuten. 6. Der Vergleich zwischen dem Ursatz und der hier vorgestellten Grundstruktur Grundfarbiger Malerei wäre fruchtbarer, wenn er in den Zusammenhang einer Zusammenschau anderer funktionaler Systeme gestellt werden könnte, worauf wir hier begreiflicherweise verzichten müssen. Die folgenden Bemerkungen dienen nur dazu, die Dimensionen anzudeuten, die durch Schenkers Methode und ihre Ausweitung auf alle Kunst zugänglich werden. Es läge nahe, die Urlinie mit dem Prinzipialakkord, die Bassbrechung aber mit dem Grundakkord zu vergleichen: Besonders das tragende Verhältnis des einen zum anderen scheint ganz analog zu funktionieren. Betrachten wir aber die innere Struktur von Urlinie und Prinzipialakkord, so zeigen sich gewisse Unterschiede. Der Kopfton entspricht dem gesetzten Flecken insofern nicht, als er gerade nicht wie jener in sich selbst steht, das ist dem Schlusston vorbehalten, der, von Anfang angestrebt, erst am Ende erklingt. Der als Rückkehr bezeichnete Fleck dagegen ist nicht das Ziel. Überhaupt ähnelt die Funktion des als Gegensatz bezeichneten Fleckens mehr der Bassbrechung (der Quinte) als dem Durchgangston des Terzzuges. Während mit dem Zug die Auslegung in die Sukzession der Zeit in die Musik eingeführt wird, da der Durchgangston eben ein Durchgang ist, nicht berufen, mit den Extremen der Linie gleichzeitig zu erklingen, so ist der Prinzipialakkord wesentlich synchron. Anders steht die Musik in der Zeit, anders die Malerei. Gleichwohl gibt es eine der Musik und Malerei des 17. und früheren 18. Jahrhunderts gemeinsame Erfahrung der Zeit, des Vergehens in seinem Verhältnis zum Stehen der Ewigkeit, das Verklingen. Die Analyse solcher Strukturen gehört aber nicht mehr strikt in den Bereich der Funktionalität, sondern in den der durch die Funktion hindurch sich manifestierenden Bewandtnis.
25 Hoogstraten 1678. Das Gleiche aber schon im Lehrgedicht von Karel van Mander, siehe Haecker 1916, und in vielen anderen Künstlertraktaten.
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Haas, Bernhard (2004), Die neue Tonalität. Hören und Analysieren nach Albert Simon, Wilhelmshaven: Noetzel.
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10 ›Sonatenform‹ als Funktionalität. Formbildung um 1775 aus postSchenker’scher Perspektive M ICH A EL P OLT H
Dieser Beitrag wird den Versuch unternehmen, ›Sonatenform‹ um 1775 als Funktionalität des Tonsatzes zu erklären und zu analysieren. In einem ersten Teil soll das Konzept in knapper Form erläutert werden. Ein zweiter Teil geht am Beispiel einiger Klaviersonaten Mozarts auf historische Eigentümlichkeiten der Sonaten-Funktionalität um 1775 ein.1
I. Konzept der Sonaten-Funktionalität a. Das Problem ›Sonatenform‹ als einen Formtypus zu bestimmen, der die gemeinsamen Merkmale des Aufbaus oder der Gliederung festhält, gilt heutzutage – wenn nicht pragmatische Absichten dahinter stecken – als ebenso aussichtslos wie überflüssig. Zum einen würde die Vielfalt der Sonatensätze, die allein zwischen 1770 und 1780 hervorgebracht wurden, dazu zwingen, den Begriff, wenn er denn für alle Sonatensätze gelten soll, entweder durch Beschränkung auf wenige gemeinsame Bestimmungsmomente oder durch Aufsplitterung in Teilbegriffe unbrauchbar zu machen. Zum anderen steht ›das 1 Der Beitrag setzt einen historischen Schnitt um das Jahr 1775. Er behauptet nichts über Sonatensätze aus den Jahrzehnten vor und nach 1775, insbesondere schließt er nichts aus. Darüber hinaus gibt es keine konkrete These über die Entstehung der Sonaten-Funktionalität. Weiterhin versteht sich von selbst, dass jeder einzelne der angesprochenen Punkte Gegenstand einer ausführlichen Diskussion sein könnte. – ›Sonatenform‹ (mit einfachen Anführungszeichen) meint den Begriff in der hier erläuterten Bedeutung, ohne Anführungsstriche den etablierten Begriff.
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Gemeinsame‹ generell im Verdacht, ästhetisch irrelevant zu sein, seitdem man die Substanz der Musikgeschichte in den singulären Kompositionen erblickt und nicht in übergreifenden Schemata und Prinzipien, die durch Abstraktion gewonnen werden. So sehr also das Gemeinsame der Gliederung als Bestimmungsmoment der ›Sonatenform‹ in Verruf geraten ist, so wenig kann man den Gedanken an Gemeinsames überhaupt fallen lassen: Zum einen weisen die Sonatensätze zwischen 1770 und 1780 – trotz der Unterschiede im Detail – eine starke, aber schwer greifbare Ähnlichkeit zueinander auf, zum anderen dürfte es methodisch schwerfallen, sich den singulären Erscheinungen zu nähern, ohne konkrete Vorstellungen eines werkübergreifenden Gemeinsamen vorauszusetzen.2 Um ein Gemeinsames sachlich und/oder methodisch unverdächtig voraussetzen oder behaupten zu können, sind unterschiedliche Wege eingeschlagen worden. So hat Carl Dahlhaus die Merkmale des Formtypus als Kategorien aufgefasst, die zum Einstieg in eine Analyse verhelfen. Was ›Sonatenform‹ letztlich ist, entscheidet die Analyse im Einzelfall.3 Aus der angelsächsischen Musikwissenschaft stammt der Vorschlag, das Gemeinsame als ein Prinzip aufzufassen, eine Art überindividuelles ›musikalisches Denken‹, das die Komponisten bei der Erfindung von Sonatensätzen geleitet hat. Auch hier bezeichnet ›Sonatenform‹ primär die singuläre Ausformung des Einzelsatzes, doch wesentliche Bestimmungsmomente lassen sich dem abstrakten ›Sonata-Principle‹ zuschreiben. Die Rede vom ›Sonata-Style‹4 schließlich siedelt einen Teil der ›sonatenförmigen‹ Bestimmungen im Abstraktum einer ›kompositorischen Praxis‹ an. Im Gegensatz zum ›Sonata-Principle‹ zielt der Begriff nicht auf das Dynamische eines Sonatensatzes, sondern auf die Ausbildung zeittypischer Merkmale, die unabhängig von der konkreten Formbildung erscheinen können. 2 Ein an Ludwig Wittgenstein angelehnter Versuch, den Gedanken an ein Gemeinsames gänzlich fallen zu lassen und die Sonatensätze des späten 18. Jahrhunderts nach ›Familienähnlichkeiten‹ zu betrachten, ist meines Wissens noch nicht gemacht worden. Er hätte gegen den spontanen Eindruck anzukämpfen, dass die Vielfalt der Sonatensätze eine ›innere Vielfalt‹ darstellt, also eine Vielfalt, die zwar die Details der Ausgestaltung von Sonatensätzen betrifft, aber nicht die Grundlagen der kompositorischen Praxis. 3 Vgl. auch die von Carl Dahlhaus (2003, 114) konstatierte Auffassung des Sonaten-Schemas als eines »heuristischen Modells«. Traditionelle Begriffe wie ›Thema‹ oder ›Überleitung‹ werden heutzutage als Kategorien verwendet, die erst in der Anwendung auf ein Beispiel eine konkrete inhaltliche Bestimmung erfahren (siehe Schmidt-Beste 2006, 70). James Hepokoskis und Warren Darcys Erklärung der traditionellen Begriffe (2006, insbesondere in den Kapiteln fünf bis sieben) bildet eine kondensierte Problemgeschichte, die das kritische Denken des Lesers schärfen soll. 4 Donald Francis Tovey begann 1911 als erster Musikwissenschaftler, vom ›Sonata-Style‹ zu sprechen. Nach Philip T. Barford und Edward T. Cone hat zuletzt Charles Rosen eine ausführliche Darstellung vorgelegt, nach der Sonatenform ein kompositorischer Stil oder eine (stilbildend wirksame) Technik gewesen ist, mit deren Hilfe Komponisten unendlich viele singuläre Sätze generieren konnten. Rosen denkt dabei vor allem an die ›Textur‹ von Tonsätzen, insbesondere an die Bildung von Kontrasten.
Sonatenform als Funktionalität
Wer ›Sonatenform‹ als eine (bestimmte historische) Funktionalität versteht (wie ich in diesem Beitrag), teilt mit allen zuletzt skizzierten Positionen die Auffassung, dass ›Sonatenform‹ ein abstrakter Gegenstand ist, der immer nur in Instanzen – d.h. als je konkreter musikalischer Zusammenhang des einzelnen Sonatensatzes – erscheint. Aus dieser Auffassung erwächst – wie auch aus den anderen erwähnten Auffassungen – eine Anleitung, wie Sonatensätze als ›Sonatenformen‹ zu analysieren sind.5 Den Anlass zu diesem Vorschlag bildet die Tatsache, dass bei den zuvor genannten Ansätzen zwischen allgemeinen sonatenförmigen Bestimmungen, die als Kategorien betrachtet oder einem Prinzip bzw. einem Stil zugeordnet werden, und ihrer Instantiierung durch konkrete Sonatensätze methodisch nicht präzise vermittelt wird. Dazu drei Beobachtungen: 1. Obwohl es offensichtlich schwierig ist, ebenso konkret wie allgemeingültig zu benennen, was einen Satz zu einem Exemplar von Sonatenform macht, wissen wir als Hörer in der Regel sehr genau, wann wir einen erklingenden Satz eine ›Sonatenform‹ zu nennen haben und wann nicht.6 Das bedeutet zumindest, dass es allgemeine Bestimmungen gibt, die für den Hörer am konkreten Gegenstand erscheinen und diesen ›sonatenförmig‹ wirken lassen (ich nenne sie der Einfachheit halber ›sonatenförmige‹ Bestimmungen). Also genügt es methodisch nicht, diese Bestimmungen einem Stil oder einem musikalischen Denken zuzuschreiben. Darüber hinaus muss man angeben, wie ein Sonatensatz in seiner Singularität ›sonatenförmige‹ Bestimmungen hervorbringt.7 2. Die Frage, wie und als was ein Sonatensatz ›sonatenförmige‹ Bestimmungen konstituiert, bildet das zentrale Problem. Irritierend ist zweierlei: Erstens scheinen ›sonatenförmige‹ Bestimmungen an allen Bereichen einer Komposition vorzukommen. ›Sonatenförmig‹ ist nicht nur die ›Form‹8 im Sinne der Formenlehre (also als Gliederung, Aufbau oder Abfolge von Formabschnitten), sondern ebenso beispielsweise der Stil, die Kompositionstechnik, die Existenz bestimmter Verfahren motivisch-thematischer Arbeit oder das Repertoire musikalischer Charaktere. 5 Vgl. Dahlhaus 2001, 627. 6 Dabei sind wir für unterschiedliche historische Spielarten offen. Wir wissen, was wir von einem Satz bei C. Ph. E. Bach, Haydn, Beethoven oder Brahms jeweils zu erwarten haben. 7 ›Sonatenform‹ ist sui generis eine Bestimmung (oder ein Bündel von Bestimmungen) am Gegenstand. Die Konstruktion eines Sonaten-Stils, eines Sonaten-Prinzips oder einer kompositorischen ›Praxis‹ ist – so hilfreich sie für eine Vorstellung vom historischen Alltag des 18. Jahrhunderts sein mag – für die Begriffsbestimmung ein Umweg, weil die Bestimmung der Begriffe Stil, Prinzip und Praxis eine sekundäre ist, die eine primäre voraussetzt, nämlich die Abstraktion von ›sonatenförmigen‹ Merkmalen anhand konkreter Sonatensätze. 8 Bereits Rudolf von Tobel hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Ausdruck ›Form‹ innerhalb des Wortes ›Sonatenform‹ falsch gewählt ist, da Sonatenform mehr sei als eine Form im Sinne eines Auf baus oder einer Gliederung.
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Ein erfahrener Hörer muss nicht auf das ›zweite Thema‹ warten, um sich sicher zu sein, einen Sonatensatz wahrzunehmen. Er kann dies bereits an der Gestalt des Anfangsgedankens erraten (gelegentliche Irrtümer inbegriffen). Zweitens klingen auch standardisierte satztechnische Konstellationen, die für sich genommen keine spezifisch ›sonatenförmigen‹ Eigenschaften aufweisen, innerhalb eines Sonatensatzes ›sonatenförmig‹.9 Dies hat – andeutungsweise gesprochen – mit dem wechselseitigen Bedingungsverhältnis der Teilmomente innerhalb eines Sonatensatzes zu tun. Das heißt, das Problem, ›sonatenförmige‹ Bestimmungen und ihr Zustandekommen anzugeben, besteht nicht wegen der Vielfalt der historischen Erscheinungen, sondern werkimmanent:10 Wer versucht, einen Begriff von Sonatenform durch Abstraktion von Merkmalen zu bilden, der muss erfahren, dass er mit seiner Bestimmung an kein Ende kommt, weil jedes Teilmoment, das er herausgreift, auf ein anderes in der Komposition verweist, unter dessen Bedingung es steht.11 3. Die Bestimmung ›Sonatenform‹ leidet nicht unter der Originalität eines Sonatensatzes. Keineswegs ist ein außergewöhnlicher Sonatensatz, der nur wenige Merkmale mit anderen Sonatensätzen teilt, darum weniger ›sonatenförmig‹. Im Gegenteil sind wir bereit, die Ausnahmen (die singulären Sonatensätze eines Haydn, Mozart oder Beethoven) zum Modell für Sonatenform zu erheben, weil wir an ihnen das Potential der Sonatenform als einer »äußerst dynamischen Form«12 erfahren. Das bedeutet, dass ›Sonatenform‹ insofern eine Norm des Komponierens darstellt, als sie die Grundlage des musikalischen Zusammenhangs bildet. Da sie sich jedoch in originellen Kompositionen ebenso, wenn nicht sogar deutlicher zeigt als in anderen, verbietet sich die fragwürdige Vorstellung, ›Sonatenform‹ sei eine Norm im Sinne eines ›häufigen‹, ›alltäglichen‹ oder ›durchschnittlichen‹ 9 Beispielsweise hat die Medial caesura, eine charakteristische Stelle im Ablauf einer Exposition, eine signifikante Klangeigenschaft, die an keiner barocken Zäsurbildung zu finden sein dürfte, obwohl sie – aus dem Zusammenhang herausgelöst – nichts anderes darstellt als einen Halbschluss. Auch die Folge ähnlicher Motive wird innerhalb eines Sonatensatzes mitunter (etwa im Schlusssatz von Mozarts ›Prager Sinfonie‹) als zielgerichteter Prozess erlebt, so dass man bereit ist, die Abfolge der Motive als ›Entwicklung‹ zu bezeichnen. Man vergleiche die Wirkung von Motivfolgen bei Mozart mit solchen in manchen barocken Kompositionen (z. B. einem Präambulum eines norddeutschen Orgelkomponisten des 17. Jahrhunderts). 10 Fast scheint es, als ob es spezifisch ›sonatenförmige‹ Sachverhalte im Tonsatz überhaupt nicht gibt. Kein Bereich eines Sonatensatzes (Gliederung, Stil, Satztechnik etc.) ist auf eine bestimmte Art der Ausformulierung seiner Teilmomente festgelegt, und aus keinem Bereich können konstitutive Merkmale für die Bildung von ›Sonatenform‹ gewonnen werden. 11 Wer beispielsweise versucht, Sonatenform als Gliederung zu begreifen (wie lange Zeit geschehen), stellt fest, dass sich die Gliederung nicht losgelöst von der kompositorischen Ausgestaltung der Formteile als Merkmal der Sonatenform verstehen lässt (und umgekehrt die Ausgestaltung nicht ohne die Gliederung). 12 Haas 2010, 261. Auf eine Diskussion über diesen jüngsten Vorschlag zu einer Funktionalität der Sonatenform muss aus Platzgründen leider verzichtet werden.
Sonatenform als Funktionalität
Komponierens, das die Masse gewöhnlicher Komponisten betrieben habe und von dem die Komponisten origineller Sonatensätze ›abgewichen‹ seien. Zusammengefasst ergibt sich ein scheinbares Paradox (das im folgenden Kapitel aufgelöst wird): ›Sonatenförmige‹ Bestimmungen sind allgemein, aber stehen unter singulären Bedingungen.13 Allgemein sind sie, weil sie über den einzelnen Sonatensatz hinausweisen und vielfach angetroffen werden können; unter singulären Bedingungen stehen sie, weil sie nur dann für uns existieren, wenn uns ein Sonatensatz in seiner Singularität begegnet.14 Letzteres bedeutet: ›Sonatenförmige‹ Bestimmungen bilden einen Teil dessen, was sich für den Hörer nur im (realen, erinnerten oder imaginierten) Erklingen eines einzelnen Sonatensatzes ereignet: nämlich musikalischer Zusammenhang. Ein Ereignis (ein Ton, ein Akkord, eine satztechnische Konstellation, eine Taktgruppe, ein Formabschnitt etc.) kann also nur dann ›sonatenförmig‹ wirken, wenn ich es als funktionales Teilmoment des je werkeigenen Zusammenhangs verstehe und erlebe (nicht jedoch, wenn ich das Ereignis lediglich als Instanz eines Typs von Tönen, Akkorden, satztechnischen Konstellationen, Syntax, Formabschnitten etc. betrachte oder wahrnehme).15 In den folgenden Kapiteln dieses Beitrags bezeichnet der Terminus ›Sonatenform‹ einen abstrakten Gegenstand16, nämlich einen (historischen) Typ von Funktionalität, der durch einzelne Sonatensätze seiner (aber auch späterer17) Zeit instantiiert wird. ›Sonatenform‹ als Funktionalität zu begreifen, bedeutet, die Eigenschaften, die einen Satz ›sonatenförmig‹ erscheinen lassen, in der Art und Weise zu suchen, wie die Teilmomente eines Sonatensatzes miteinander zusammenhängen. ›Sonatenform‹ kann nach diesem Verständnis nur durch eine vollständige Schichtenanalyse gezeigt werden (allerdings geht dieser Beitrag von der Überzeugung aus, dass eine Schichtenanalyse, 13 Auf allgemeinen Bestimmungen, die unter singulären Bedingungen stehen, beruht in der Musik nicht nur die ›Sonatenform‹, sondern jeder ›Gegenstand‹, der sich durch einen funktionalen Zusammenschluss seiner Teilmomente konstituiert (also sämtliche historische Spielarten von Funktionalität sowie deren Teilsysteme Tonalität und Metrik). 14 Die Ausdrücke ›Begegnung‹ und ›konkrete Erfahrung‹ (mit einem Sonatensatz) beziehen sich in diesem Text immer auf eine Vorstellung vom erklingenden Satz, die entweder auf sinnlicher Empfindung, produktiver Phantasie oder Erinnerung beruht. 15 Wenn diese Annahme stimmt (und davon geht dieser Text aus), dann hätte das Misslingen einer inhaltlich geschärften Definition von ›Sonatenform‹ seinen Grund darin, dass ein (klassifizierender) Begriff gesucht wird, der notwendig von den singulären Bedingungen abstrahiert. Auch das Sonaten-Prinzip im Sinne von Cone ist nicht ein Prinzip im funktionalen Sinne, sondern ein empirisch gefundenes klassifizierendes Merkmal, das unter verschiedenen Umständen instantiiert werden kann. 16 Vgl. hierzu Künne 2007. 17 Instanzen der ›Sonatenform‹ des späten 18. Jahrhunderts können auch Sonatensätze aus späterer Zeit sein, wenn sie eben diese Funktionalität für ihren musikalischen Zusammenhang in Anspruch nehmen (so etwa Stilkopien).
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die der ›Sonatenform‹ um 1775 gerecht wird, nicht einer orthodoxen, sondern einer modifizierten Form der Schenker’schen Analyse entspricht). b. ›Sonatenform‹ als Funktionalität ›Sonatenform‹ als Funktionalität zu erklären, erfordert zunächst, den Begriff der Funktionalität selbst präzise zu fassen. Hierzu greife ich auf eine Fassung des Begriffs zurück, wie sie Bruno Haas in jüngerer Zeit (vor allem im Hinblick auf bildende Kunst) entwickelt hat.18 Übertragen auf unsere Frage handelt es sich bei den allgemeinen Bestimmungen, die wir an einem Sonatensatz wahrnehmen und die ihn ›sonatenförmig‹ erscheinen lassen, um Funktionen. Funktionen besitzen die beiden entscheidenden Eigenschaften: nämlich vielfach erscheinen zu können und ausschließlich unter singulären Bedingungen zu entstehen. ›Sonatenform‹ selbst wäre die Funktionalität – also die (durch jeden einzelnen Sonatensatz hervorgebrachte) Art und Weise, ›sonatenförmige Funktionen‹ zu konstituieren. Um den Begriff der Funktionalität erklären zu können, seien zunächst die Begriffe Struktur, Klangeigenschaft und Funktion erläutert. Da die Lehre Heinrich Schenkers eine bedeutende Rolle bei der Bestimmung der ›Sonatenform‹ um 1775 spielen wird, seien die Begriffe am Beispiel des Quintzugs erläutert. 1. Struktur Eine Definition, wie sie Bernhard Haas im Glossar angibt19, bestimmt den Quintzug als einen Struktur-Typ.20 Als Struktur-Typ ist er durch Merkmale definiert: durch die Anzahl und Anordnung von Elementen. So bestehen alle Quintzüge aus fünf stufenweise fallenden oder steigenden Tönen, die den Rahmen einer Quinte diatonisch ausfüllen. Dem gegenüber stellt der Quintzug in einem Analyse-Diagramm eine Instanz des Struktur-Typs ›Quintzug‹ dar. Dem instantiierten Quintzug wachsen mindestens zwei wichtige Eigenschaften zu. Erstens beziehen sich seine Töne auf fünf Töne einer Komposition. Mit Hilfe von Taktzahlen (lokalisierenden Kennzeichnungen) lassen sich fünf Töne in der Partitur oder am erklingenden Gegenstand herausgreifen 18 Haas 2003. Ich knüpfe an den Ansatz von Haas an, weil seine allgemeinen Überlegungen zum Kunstbegriff Hegels mit konkreten Hinweisen auf die Möglichkeiten funktionaler Kunst-Analyse verbunden sind. Interessant sind die Ausführungen überdies, weil die Analyse Heinrich Schenkers als eine gelungene Ausführung der funktionalen Analyse begriffen wird. 19 Vgl. Glossar S. 311f. 20 Bezeichnend ist, dass Schenker selbst im Freien Satz solche Definitionen für Züge, die Urlinie, die Bassbrechung und die Brechung nicht ausformuliert hat, sondern lediglich für die spezielleren Funktionen (von §129 an für das Übergreifen, Untergreifen, die Ausfaltung, die Höherlegung, die Tieferlegung und die Koppelung).
Sonatenform als Funktionalität
und als Teilmomente des Quintzugs identifizieren.21 Zweitens ist der Quintzug Teil eines (schichtenmäßig organisierten) Struktur-Gefüges.22 Durch die Kombination aus lokalisierenden und strukturellen Positionsangaben lässt sich ersehen, wie der Autor des Diagramms den Quintzug in die Komposition eingesenkt sieht: hinsichtlich der Verteilung seiner Töne und seines Verhältnisses zu den übrigen Strukturen. Das Struktur-Gefüge, das in einer vollständigen Schichtenanalyse abgebildet wird, besteht zwar ausschließlich aus Instanzen allgemeiner Struktur-Typen, ist als Ganzes jedoch einmalig: das Gefüge einer einzigen Komposition.23 2. Funktionale Klangeigenschaften Der Referenzpunkt einer (Schenker’schen oder dieser ähnlichen) Schichtenanalyse ist die erklingende Komposition.24 Wer eine vollständige Sequenz von Diagrammen anfertigt, beansprucht, dass die strukturellen Verhältnisse in den Diagrammen der erklingenden Komposition in irgendeiner Weise ›entsprechen‹.25 Wie ist das zu verstehen? Eine Struktur ist eine Relation zwischen Tönen, in der ein Ton den Anfang, ein anderer das Ende bildet; die Struktur ist abgeschlossen. Wer eine solche Struktur notiert, meint, dass sich die entsprechenden Töne der Komposition zu einer Einheit verbinden, zum Beispiel zur Einheit eines Quintzugs. Das Diagramm nennt eine Relation, die der Hörer ›in‹ der Komposition als Tonverbindung erfahren soll.26 (Man 21 In Klammern notierte implizite Töne bilden einen Sonderfall. 22 In einer vollständigen Schichtenanalyse wird jeder Ton einer Komposition auf mindestens eine beteiligte Struktur bezogen. Die Schichtenanalyse hat keinen anderen Zweck, als die Komplexität des musikalischen Zusammenhangs durchsichtig zu machen. Transparenz wird durch Unterscheidung erzielt: Beziehungen werden nach ihrer Reichweite unterschieden und – je nach Reichweite – verschiedenen Schichten zugeordnet. Jede Schicht wird durch ein Diagramm dargestellt. Die Abfolge der Diagramme gibt darüber Auskunft, welche Strukturen von größerer Reichweite durch welche Strukturen von geringerer Reichweite auskomponiert werden. 23 Es kann nicht zwei verschiedene Kompositionen mit exakt demselben Struktur-Gefüge geben (wohl aber mit demselben Hintergrund oder mehreren identischen mittelgründigen Schichten). 24 Vgl. den Beitrag von Bruno Haas in diesem Band. 25 Das Erstellen eines Analyse-Diagramms ist ein Prozess, bei dem in mehreren Durchgängen ein probeweises Annehmen von Strukturen und Klangeigenschaften und deren Überprüfung stattfindet. So können aufgrund von Klangeigenschaften bestimmte Strukturen hypostasiert und diese wiederum anhand der Klangeigenschaft, die diese Annahme impliziert, überprüft werden. Das Ergebnis ist ein Resultat persönlicher Optimierung: Der Analysierende gibt solche Strukturen an, von denen er glaubt, dass sie den Klangeigenschaften, die er hört bzw. durch das Analysieren hören gelernt hat, am besten ›entsprechen‹. Das setzt voraus, dass wir angenommene Klangeigenschaften probeweise in eine Komposition hineinhören und beim Hineinhören festellen können, ob diese Klangeigenschaften sich zwanglos hören lassen, als kämen sie aus der Komposition selbst. Das ist der Kern der Arbeitsweise einer Schenker’schen Analyse. 26 Was dort abgebildet ist, soll ›in‹ der Komposition zu hören sein. Damit verbunden ist ein imperativer Charakter: Der Leser ist aufgefordert, die Komposition im Sinne des Diagramms wahr
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könnte so weit gehen und sagen, dass diese Tonverbindung den ›eigentlichen‹ Quintzug darstellt, auf den das Diagramm lediglich verweist.) Nun sind Verbindungen keine erklingenden Entitäten wie Töne und Geräusche es sind (nichts, was erklingt, entspricht einer Verbindung). Was hören wir also, wenn wir sagen, dass wir Verbindungen in der Musik hören? Verbindungen sind (wechselseitige) Abhängigkeiten: Ein Ton x ist mit anderen Tönen verbunden, wenn seine Klangeigenschaften (genauer: seine funktionalen Klangeigenschaften, s.u.) von der Existenz dieser anderen Töne abhängen. Wer an einer Stelle einen Ton x als mit anderen Tönen verbunden hört, hört also nichts anderes als die Klangeigenschaften des Tons x, die teilweise so sind, wie sie sind, weil – nach Auffassung des Analysierenden – bestimmte andere Töne zuvor, zugleich oder möglicherweise auch danach erklingen.27 Eine Klangeigenschaft, die durch strukturelle Relationen bestimmt wird, nenne ich eine ›funktionale Klangeigenschaft‹. Eine der funktionalen Eigenschaften des letzten Tons eines Quintzugs besteht darin, nach einem Schlusston zu klingen (und das mit einer bestimmten Kraft, die es möglich macht, den Quintzug einer bestimmten Schicht zuzuordnen). Außer der funktionalen Klangeigenschaft lassen sich weitere Klangeigenschaften an einem Ton feststellen (stoffliche und solche, die auf anderen Kontexten beruhen als auf funktionalen). Wer eine strukturelle Analyse anfertigt, erklärt allerdings die durch die Analyse implizierten funktionalen Klangeigenschaften als wesentlich für den musikalischen Zusammenhang. Nun erscheinen die Töne, die die Klangeigenschaften eines Tons x prägen, nicht als amorphe Masse. Vielmehr lässt die zeitliche Anordnung der Töne, die der Komponist bei der Anfertigung einer Komposition vornimmt (und die sämtliche melodischen, harmonischen und satztechnischen Verhältnisse einschließt), den Eindruck entstehen, dass die auf den Ton x bezogenen Töne in unterschiedlicher Weise für die Klangeigenschaften eines Tons x verantwortlich sind. In einem Experiment könnte man feststellen, dass das Weglassen (oder Verändern) des einen Tons in die Klangeigenschaften jenes Tons x sehr stark eingreift, während das Weglassen eines anderen fast nichts bewirkt (wohlgemerkt liegt die Ursache dafür nicht in den Tönen selbst, sondern in der gesamten Einrichtung des Tonsatzes). Eine Schichtenanalyse stellt die zunehmen, also die Komposition so zu erfahren, wie der Analysierende selbst sie im Laufe der Auseinandersetzung hören gelernt hat (die Diagramme sollen die Mitteilung ermöglichen). Dieses Ansinnen an den Leser hat nur dann eine Berechtigung, wenn die Entsprechung zwischen Diagramm und Komposition nicht willkürlich getroffen wurde, sondern auf Regeln beruht, die wiederholt erfolgreich angewendet werden können. 27 Die Töne ›danach‹ können die Klangeigenschaften eines vorangehenden Tons prägen, wenn der Hörer die Komposition bereits kennt. Dass uns die vertiefte Kenntnis einer Komposition wie Beethovens Sonata Appassionata (sozusagen die Kenntnis, was kommen wird) an den Tönen des Anfangs besondere Klangeigenschaften erleben lässt, die ästhetisch relevant sind, kann nur derjenige bezweifeln, der am fragwürdigen Primat des ›ersten Hörens‹ festhält.
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unterschiedlichen Verantwortlichkeiten differenziert dar (so wie der Autor sie versteht). Hinzu kommt, dass hinsichtlich der Reichweite von Abhängigkeiten Limitationen bestehen: Gelegentlich wird ein Ton x durch vorausgehende Töne zu einem Abschlusston bestimmt, und kein nachfolgender Ton bezieht sich in einer vergleichbaren Weise auf Ton x wie jene vorausgehenden. In den Diagrammen werden Töne, die sich gegenseitig und unmittelbar zum Klangeindruck einer Einheit bestimmen (ohne weiterer Töne zu bedürfen), zu einer Struktur und auf einer Schicht zusammengefasst (und ebendies ist eine Struktur: Töne, die für einander in dieser Weise unmittelbar verantwortlich sind). Auf einer ausführlicheren Schicht erscheinen Töne, die die Klangeigenschaften eines Tons der einfacheren Schicht beeinflussen, aber nicht dessen Verbindung zu einer Struktur der einfacheren Schicht mitkonstitutieren. Wer eine Schichtenanalyse (in der Schenker’schen oder der hier vorgeschlagenen Art) anfertigt, setzt voraus, dass der musikalische Zusammenhang zumindest im 18. und 19. Jahrhundert von dieser Art gewesen ist, dass formal wesentliche Klangeigenschaften auf struktureller Relationalität beruhten, und er setzt voraus, dass die damaligen (und die heutigen) Hörer über die Kompetenz verfügen, das Wirken anderer Töne in der Klangeigenschaft eines einzelnen Tons zu erleben 28: Die mit dem Ton x verbundenen Töne sind in der Art und Weise, wie Ton x klingt, zu hören. Grundsätzlich darf als unstrittig gelten, dass es Abhängigkeiten der genannten Art in der Musik des 18. und 19. Jahrhunderts tatsächlich gegeben hat (bzw. dass sie heute noch an ihr wahrgenommen werden können). Ob diese Abhängigkeiten aber im Detail so gewesen sind, wie die Schenker’schen Strukturen (also als Linien, Brechungen usw.) sie nennen, ist eine Frage, die nur ›empirisch‹ (durch Hören 29) entschieden werden kann (wie auch die Relevanz meines Analysevorschlags im II. Teil). Strukturen bilden die rationale Seite des musikalischen Zusammenhangs. Sie zu ermitteln und in einer Sequenz von Diagrammen zu notieren, dient vor allem der Verständigung zwischen Autor und Leser über (funktionale) Klangeigenschaften. Gerade weil Klangeigenschaften (als Vorstellungen des Hörers) ›im Subjekt‹ begründet sind, kann ein Autor nicht anders verfahren, als die Töne, von denen die Klangeigenschaften eines Tons x seiner Ansicht nach abhängen, konkret anzugeben, so dass der Leser aufgrund der Angaben in die Lage versetzt wird, die vom Autor behaupteten Abhängigkeiten nachzuvollziehen. Verfahren Autor und Leser konsequent und gehen von derselben strukturellen Disposition einer Komposition aus, dann sollten sie an den Tönen dieselben funktionalen Klangeigenschaften erleben.30 Verständigung be28 Es könnte sein, dass es für Hörer zu ganz anderen Zeiten so etwas wie die Veränderung der Klangeigenschaft durch den Kontext gar nicht gegeben hat. 29 Das schließt das erwähnte probeweise Verändern von Tönen und das Aushören dieser Veränderungen ein. 30 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Frank Samarotto in diesem Buch, Seite 35.
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deutet nicht Einigkeit. Aber ein Diagramm erlaubt auch im Falle unterschiedlicher Ansichten eine Verständigung über eben diese Unterschiede.31 3. Funktion Eine Funktion ist das Ganze aus struktureller Eigenschaft und Klangeigenschaft. Ein Ton32 erfährt seine Funktion durch seine Position im strukturellen Gefüge. Funktion zu sein ist wesentlich ein Teil-Sein: »Funktional heißt also jede Bestimmung eines Teils, die ihm zukommt, insofern er Teil des konkreten Ganzen ist.«33 Wer die Funktion eines Tons wahrnimmt, nimmt den Ton ›als etwas‹ wahr, er erfährt dessen Position als eine (strukturelle) Klangeigenschaft, die er außerhalb des Gefüges oder in einem anderen Gefüge nicht hätte.34 Dies erklärt, warum die (›neutralen‹) Teilmomente eines Sonatensatzes nur innerhalb des Sonatensatzes ›sonatenförmig‹ klingen. Was aber wäre in diesem Sinne die Funktion beispielsweise eines Akkordes oder Formabschnitts? Zurückzuweisen wären Bestimmungen der Harmonielehre (etwa: ›Tonika‹ oder ›Grundton der Tonika‹), der ›thematisch-motivischen‹ Analyse (etwa: Funktion des Abschnitts sei es, das Thema zu verarbeiten) oder der Formenlehre (›Überleitung‹); denn sie wären im Sinne von Haas im besten Falle rudimentäre Funktions-Begriffe, weil ihre Bestimmung auf Reduktion beruht. Ein Funktions-Begriff, der den Namen verdient, rekurriert hingegen auf das Gesamtgefüge der Komposition. So wäre die Funktion des Akkordes in Takt 13 der Klaviersonate KV 280 nicht allein ›Tonika‹, nicht ›Beginn der Überleitung‹, nicht ›Ende der ersten Kadenz‹.35 Vielmehr kumuliert all dies in der singulären Bestimmung (und damit singulären Klangeigen31 Durch die Angabe von Strukturen verschafft der Analysierende dem Leser die Hör-Voraussetzungen, unter denen er – eine gewisse Übung vorausgesetzt – die Klangeigenschaften so erleben kann, wie der Analysierende sie erlebt hat. 32 Diese Aussage und die folgenden gelten nicht nur für einen Ton, sondern ebenso für einen Zusammenklang, eine satztechnische Konstellation etc. 33 Selbstverständlich muss ein Ton oder Akkord bestimmte Merkmale aufweisen, um beispielsweise die Funktion eines Schlusses erfüllen zu können: Vertreter der I. Stufe in Grundstellung und Oktavlage. Und doch sind es nicht diese Eigenschaften, aus denen die Funktion des Akkords hervorgeht. Mit ebendenselben Eigenschaften könnte der Akkord an anderer Stelle oder in einem anderen Gefüge eine andere Funktion erfüllen. 34 Wer einen Akkord als »Tonika« bestimmt, rekurriert fast ausschließlich darauf, welche Stufe der Zusammenklang innerhalb der herrschenden Tonart einnimmt (sofern es sich um einen Quart sextakkord handelt, würde dieses Merkmal die Bestimmung gegebenenfalls verändern). Die Bestimmung des Akkordes ist reduktionistisch, weil zahlreiche Merkmale und Umstände seines Erscheinens unberücksichtigt bleiben, vor allem seine Position im Verlauf des Satzes. 35 Wenn ein Epigone sich vornähme, dieselbe Klangeigenschaft jenes Akkordes von Takt 13 zu erzeugen, ohne die Komposition wortwörtlich abzuschreiben, dann würde er doch durch einen – gegenüber dem Mozart’schen veränderten – Tonsatz gleichzeitig die singulären Bedingungen ändern.
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schaft), die er nur an dieser Position haben kann und die ihn von anderen ähnlichen Akkorden in Takt 1, 2, 3, 6, 8 und 11 unterscheidet (die Klangeigenschaft lässt sich nur metaphorisch beschreiben, etwa als ›breit‹ und ›gesättigt‹). 4. Singuläre Bedingungen – Allgemeinheit Das scheinbare Paradox von singulärer Bedingtheit und Allgemeinheit lässt sich folgendermaßen auflösen. ›Sonatenförmige‹ Bestimmungen stehen unter singulären Bedingungen, weil sie Funktionen sind. Funktionen sind keine einzelnen Ereignisse oder deren intrinsische Eigenschaften, sondern Bestimmungen, die an den Ereignissen auftauchen, wenn sie als Teilmomente eines musikalischen Zusammenhangs erlebt werden. Dass jeder Zusammenhang ein singulärer ist, zeigt sich in zweierlei Hinsicht: erstens, insofern das strukturelle Gefüge der jeweiligen Komposition einmalig ist, und zweitens, insofern musikalischer Zusammenhang immer nur in einem Akt strukturellen Erlebens erfahren wird, der an den singulären Ausgenblick des (realen, imaginierten oder erinnerten) Erklingens gebunden ist. Beispielsweise erfährt nur derjenige die ›gesättigte‹ Wirkung des Akkordes in Takt 13 (KV 280 [189c]), der in einem konkreten, zeitlich lokalisierbaren Akt dem singulären Verlauf des Sonatensatzes von Anfang an folgt und den Aufwand der Vorbereitung, den Mozart betrieben hat, nachvollzieht. Wer behauptet, eine Funktion könne in verschiedenen Kompositionen angetroffen werden (und sei darum eine allgemeine Bestimmung), meint mit ›Funktion‹ nicht die singuläre Bestimmung eines Ereignisses; denn singuläre Bestimmungen sind per se einmalig. Mit ›Funktion‹ ist in diesem Kontext die Instanz eines Funktions-Typs gemeint.36 Wenn wir sagen, dass Mozart im ersten Satz der Klaviersonate KV 284 (Takt 9) einen emphatischen Ton d herbeiführt, der die ›gleiche‹ Funktion wie der Akkord in KV 280 (Takt 13) besitzt, so meint die Gleichheit eine beschränkte qualitative Identität, die sich auf einen Typ bezieht. Dem entspricht auf struktureller Seite, dass ›gleiche‹ Funktionen nicht im Hinblick auf sämtliche Bestimmungsmomente, aber auf Bestimmungsmomente in einzelnen Schichten (beispielsweise im Hinter- oder Mittelgrund) übereinstimmen (und auch dort nur im Hinblick auf bestimmte Aspekte). So entsprechen die beiden erwähnten Stellen bei Mozart einander darin, dass sie die zweite Phase der Exposition eröffnen, die durch das Erreichen einer stark bestimmten Tonika in einem ganz schweren Takt geprägt ist. Die strukturellen Gefüge gleichen einander im Hinter- und Mittelgrund, aber nicht in den vordergründigen Schichten. Für das Verständnis eines konkreten Sonatensatzes als Instanz von ›Sonatenform‹ 36 Die Einordnung von Funktionen in Funktions-Typen bedeutet keine Einschränkung der Singularität dieser Funktionen; denn um eine Funktion als Funktionstyp erkennen zu können, muss man zunächst die Funktion selbst erlebt haben, und dies geschieht in der beschriebenen Art.
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oder für die Wahrnehmung eines ›Sonata-Style‹ ist die Fähigkeit zentral, singuläre Funktionen als Vertreter von Funktions-Typen zu erkennen.37 5. Funktionalität Funktionalität ist die Art und Weise, wie Funktionen konstituiert werden. Jede Funktionalität hat ihren historischen Ort. Dies lässt die Frage nach den Eigenschaften einer bestimmten historischen Funktionalität sinnvoll erscheinen. Wer die (strukturellen) Klangeigenschaften von Tönen in einer Komposition von Bach anders erfährt als in einer von Mozart, kann nach der strukturellen Entsprechung dieser Verschiedenheit fragen. Die funktionale Analyse von Sonatensätzen (im Sinne des II. Teils) würde die spezifischen Struktur-Verhältnisse darlegen, die den Leser an das Hören ›sonatenförmiger‹ Klangeigenschaften heranführen. Zu diesen gehört etwa die besondere Wirkung der Schlusstonika, die in einer Komposition um 1775 anders ist als in einer um 1710, oder die bereits erwähnte besondere Kraft der Tonika in Takt 13 von KV 280, die es um 1710 nicht gegeben hat, weil keinem Komponisten dieser Zeit eingefallen ist, eine solche Position in seinem Gefüge einzurichten (d.h., den Funktions-Typ hat es nicht gegeben und mit ihm nicht die erforderlichen strukturellen Vorbedingungen, zum Beispiel die speziellen metrischen Verhältnisse). c. Sonatenform und Sonaten-Prinzip Wenn ›Sonatenform‹ um 1775 eine bestimmte historische Spielart von Funktionalität gewesen ist37, dann ist es sinnvoll, nach der Identität dieser Funktionalität zu fragen. Die Identität einer Funktionalität gründet prinzipiell in der Art und Weise, wie Töne voneinander abhängen und sich wechselseitig zu strukturellen K langeigenschaften bestimmen. Wenn bestimmte Klangeigenschaften innerhalb eines bestimmten his torischen Kompositionsrepertoires häufig wiederkehren und das Klangbild insgesamt prägen, dann darf man davon ausgehen, dass der Versuch einer Bestimmung der Ton-Abhängigkeiten immer wieder auf dieselben Typen von Strukturen stößt. Die Identität einer Funktionalität hätte also damit zu tun, welche Struktur-Typen überhaupt bzw. häufig vorkommen, auf welche Weisen sie in den Tonsatz eingesenkt38 und wie sie aufeinander abgestimmt sind, d.h. welche Formen das Auskomponieren 37 Obwohl die Funktionalität alle Momente eines Sonatensatzes betrifft, ist es sinnvoll, sie eine Form (›Sonatenform‹) zu nennen, weil sie – anders etwa als Gliederung oder Stil – mit der konkreten Gestaltung des Ablaufs im Ganzen zu tun hat. 38 Damit ist gemeint: Einerseits kommen sowohl bei Bach als auch bei Mozart Terzzüge häufig vor, andererseits nehmen die beteiligten Töne bei Bach und Mozart (hinsichtlich des Ablaufs der Kompositionen) durchaus unterschiedliche Plätze ein (s. II. Teil).
Sonatenform als Funktionalität
von Schicht zu Schicht annimmt. Die Art und Weise, wie Auswahl, Einsenkung und Abstimmung in Sonatensätzen geschehen, könnte man das Sonaten-Prinzip nennen.39 Eine vollständige Schichtenanalyse (im hier vorgeschlagenen Sinne) zeigt, wie der Autor die zeitliche Disposition der Töne eines Sonatensatzes ›sonatenförmig‹ interpretiert. Das Sonaten-Prinzip selbst jedoch kann durch eine Schichtenanalyse nicht abgebildet werden; denn es ist nicht eine bestimmte Struktur, sondern die umfassende ›Regel‹ der Auswahl, Einsenkung und Abstimmung aller Strukturen. Das SonatenPrinzip steckt – bildlich gesprochen – zwischen den Strukturen und Schichten. Es ist – im Sinne Wittgensteins – eine ›Regel‹, der man beim Komponieren, Hören und Analysieren folgen kann.40 Dieser Hinweis ist wichtig, um dem möglichen Missverständnis zu begegnen, der Hintergrund einer Komposition sei das Sonaten-Prinzip. Dieser Vorstellung widerspricht, dass der Hintergrund nur eine einzige Schicht des funktionalen Gefüges darstellt. Zwar zeichnet er sich gegenüber allen anderen Schichten dadurch aus, dass er das Ganze einer Komposition artikuliert und dass alle folgenden Schichten aus ihm hergeleitet werden (deswegen dürfte man sogar sagen, dass er gegenüber den folgenden Schichten als Prinzip fungiert). Doch im Gegensatz zu dem Sonaten-Prinzip, wie es hier verstanden wird, ist der Hintergrund nur ein Prinzip, aus dem, aber nicht dasjenige, nach dem hergeleitet wird.41 Das Anliegen dieses Beitrags besteht darin zu zeigen, dass die ›Sonatenform‹ eines Sonatensatzes nicht durch eine orthodoxe Schenker’sche, sondern durch eine modifizierte Schichtenanalyse, die Momente der Metrik und der Artikulation mit einbe39 Dass sich das hier erläuterte Verständnis des Sonaten-Prinzips von den Sonaten-Prinzipien eines Edward T. Cone und Philip T. Barford unterscheidet, dürfte offensichtlich sein. 40 Wir folgen der ›Regel‹, wenn wir beispielsweise eine konkrete funktionale Hörweise eines Ereignisses als sinnvoll empfinden. 41 Gegen die Annahme eines Hintergrunds (Schenker’scher Provenienz) als Sonaten-Prinzip sprechen weitere Gründe. So ist bereits bei Schenker erkennbar, dass Terzzüge mit Unterbrechung als Ursätze nicht auf Sonatensätze und nicht auf die Musik nach 1740 beschränkt sind. Die Allemande in G-Dur von Georg Friedrich Händel, die Bernhard Haas und Veronica Diederen als Terzzug mit Unterbrechung analysiert haben (Haas/Diederen 2008, 88–92), ist ein Suitensatz. Umgekehrt können Sonatensätze auf verschiedenen Hintergründen basieren. Der Ursatz in der Fassung Schenkers mag die tonale Einheit eines Sonatensatzes abbilden, aber die ›Sonatenform‹ eines Sonatensatzes ist nicht dessen tonale Einheit. Des Weiteren würde ein Schenker’scher Hintergrund als Sonaten-Prinzip nicht erklären, was hier mehrfach betont wurde: dass nämlich die Teilmomente der Kompositionen (zu denen man auch die einzelnen Schenker’schen Strukturen rechnen darf, sofern sie in einem Sonatensatz erscheinen) erst im Gefüge eines Sonatensatzes eine charakteristische Funktion erfüllen und einen ›sonatenförmigen‹ Klang erfahren. Man muss lediglich zwei Taktgruppen von Bach und Mozart miteinander vergleichen, deren musikalischer Zusammenhang sich in beiden Fällen als Quintzug interpretieren lässt, um zu hören, dass ein Quintzug bei Bach auf völlig unterschiedliche Weise wirkt und klingt als einer bei Mozart.
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zieht, analysiert werden sollte.42 Implizit folgt die Schenker’sche Analyse – wie noch erläutert wird – einer Vorstellung vom musikalischen Gefüge, die eher der ›barocken‹ als der ›sonatenförmigen‹ Musik angemessen wäre.43 Wer Sonatensätze im Sinne von Schenkers Strukturen wahrnimmt, stößt zwar auf formal wichtige, aber nicht auf spezifisch ›sonatenförmige‹ Klangeigenschaften. Man könnte auch sagen: Die Funktionalität, die Schenker im Blick hatte, folgt nicht dem Sonaten-Prinzip. d. Sonatenform – Sonata-Style – Sonaten-Funktionalität Dieser Beitrag geht historiographisch davon aus, dass die Sonaten-Funktionalität im Laufe mehrerer Jahrzehnte nach 1740 (möglicherweise je nach Komponist, Region, Gattung und Satztyp in unterschiedlicher Geschwindigkeit) in einem Prozess der Umbildung aus der barocken Funktionalität hervorgegangen ist und vom Beginn des 19. Jahrhunderts an allmählich in eine nächste umgebildet wurde.44 Musiktheoretisch hat die Rede von der Sonaten-Funktionalität unter anderem den Sinn, eine charakteristische Begriffs-Doppelung zu vermeiden. Wenn Charles Rosen über die ›Sonate‹ reflektiert, spricht er zum einen vom ›Sonata-Style‹, der sich über alle Formtypen ausgebreitet habe, zum andern von der ›First-Movement Form‹, die der Sache nach unserer ›Sonatenhauptsatzform‹ entspricht. Die Doppelung wird gebraucht, um ausdrücken zu können, dass die First-Movement Form eine mögliche Realisierung des Sonata-Style darstellt, sich aber ansonsten von anderen Satztypen unterscheidet. Beim Versuch, die First-Movement Form zu definieren, kehrt Rosen fast zwangsläufig zu traditionellen Kriterien zurück. Fasst man nämlich den Sonata-Style als eine allgemeine, nicht-individuierbare Bestimmung auf, die alle Sätze betrifft, dann bleibt als ›Differentia specifica‹ eines Sonatenhauptsatzes beinahe nur die Gliederung übrig. ›Sonatenform‹ – als Funktionalität betrachtet – bietet die Möglichkeit, die vermeintlich getrennten Bereiche von Stil und Gliederung zusammenzudenken. Alle Aspekte des Sonatensatzes, beispielsweise Gliederung und Satztechnik, Harmonik, Metrik und Stimmführung, bilden Mittel der Realisierung von Funktionalität. Keines 42 Bei Schenker geht die Sonatenform aus einer besonderen Inanspruchnahme der Ursatz-Funktionalität hervor, aber nicht aus einem neuen System: »Zur Sonatenform führt nur die Prolongation der Gliederung.« (1956, 205) Gliederung meint die Zweiteilung der Urlinie (in Durtonarten meist ein Terzzug) durch eine ›Unterbrechung‹. Sonatenform hat nach Schenker vor allem mit der Dehnung dieser Unterbrechung zu tun (dieser Vorgang umfasst das Festhalten an der ersten 2 sowie den Rücksprung auf die 3). 43 Vgl. dazu Haas/Diederen 2008. 44 Die Funktionalität des 19. Jahrhunderts könnte man als Funktionalität des Musikdramas und der Sinfonischen Dichtung bezeichnen. Sie baut offensichtlich auf Prinzipien auf, die seit Beethoven vorherrschen. Sonatensätze des 19. Jahrhunderts beruhen also auf einer anderen Funktionalität als diejenigen des 18. Jahrhunderts, obwohl sie hinsichtlich abstrakter Momente wie der Gliederung oder der Tonartendisposition jenen gleichen können.
Sonatenform als Funktionalität
ist konstitutives Moment der Sonatenform. Deswegen zeigt sich Funktionalität auf allen Ebenen der Komposition: als Artikulation gleichermaßen von harmonischen, formalen, melodischen oder satztechnischen Vorgängen. Darüber hinaus erzeugt sie durch die Wirksamkeit von Prinzipien einen Stileindruck. Ein Stileindruck entsteht, wenn die Teilmomente einer Funktionalität klassifizierend wahrgenommen und mit Teilmomenten anderer Kompositionen auf ihre Ähnlichkeit hin verglichen werden. Sonaten-Funktionalität ist das System des musikalischen Zusammenhangs aller Musikstücke gewesen. Darum waren – funktional betrachtet – alle Sätze um 1775 in irgendeiner Weise ›Sonatenformen‹ (von Sonata-Forms im Plural sprach bekanntlich bereits Charles Rosen)45: Die Unterschiede zwischen Sonatenhaupt-, Sonatenmittel-, Sonatenschlusssätzen, Konzertsätzen, Variationssätzen, Tanzsätzen, Mess sätzen, Arien usw. liegen zwar auch in der Gliederung, darüber hinaus und vor allem jedoch in der jeweiligen Inanspruchnahme der Funktionalität, also in der Art und Weise, wie der musikalische Zusammenhang konkret artikuliert wird, d.h. auch: welche Positionen im Gefüge entstehen. Da mit der Existenz bestimmter Positionen die Existenz bestimmter Klangeigenschaften zusammenhängt, sind es letztendlich ebendiese funktionalen Klangeigenschaften, durch die sich die einzelnen Satztypen voneinander unterscheiden. So liegt der leichte Tonfall, der Schlusssätze von Sonaten und Konzerten im Allgemeinen auszeichnet (und zwar unabhängig von der Gliederung als Sonatenhauptsatz oder Rondo), im Falle der Sonate KV 280 unter anderem darin, dass sich jene stark bestimmte Anfangs-Tonika (Takt 13) des ersten Satzes im Schlusssatz nicht findet.46 Nach jetzigem Stand der Überlegungen scheinen Kopfsätze gegenüber Schlusssätzen im Anfangs- und Schlussbereich eine größere Anzahl von Tonikaakkorden mit unterschiedlicher funktionaler Bestimmung herbeizuführen.47 45 Von der Gliederung her betrachtet, gibt es unter den sechs Sonaten Mozarts KV 279–284 mit ihren insgesamt achtzehn Sätzen überhaupt nur vier Sätze, die nicht einen Sonatensatz (im Sinne der Formenlehre) darstellen. 46 In beiden Ecksätzen fungiert eine Tonika als Grenze, als Abschluss der ersten und als Beginn der zweiten Taktgruppe (I. Satz: Takt 13 mit ›Tacterstickung‹; III. Satz: Takt 16). Während die erste Taktgruppe des Sonatenhauptsatzes auf eine stärker bestimmte zweite Anfangstonika hinführt (am Beginn des zweiten Formabschnitts erscheint die Intensität der Tonika gesteigert), führt diejenige des Schlusssatzes eine eher schließende Tonika herbei, die ihrerseits prolongiert wird (dass der Achtelimpuls aus der I. Stufe eine modulierende Fortsetzung hervortreibt, steht zum Charakter einer schließenden Tonika nicht im Widerspruch). 47 Der relativ leichte Charakter der Anfangstonika eines Schlusssatzes hat oft damit zu tun, dass Züge sehr rasch auf die 1 und damit auf ein Ende geführt werden. Ein schönes Beispiel bildet hierfür das Rondo der Klaviersonate KV 281, das nach einer eröffnenden achttaktigen Periode lediglich Schlusswendungen wiederholt. Die Wandlung des Schlusssatzes vom ›Kehraus‹ zum ›Finale‹ war im späten 18. Jahrhundert auch eine Übertragung funktionaler Positionen des Kopfsatzes auf den letzten.
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Eine Schichtenanalyse, die eine angemessene Beschreibung der Sonaten-Funktionalität wäre, könnte die spezifische Inanspruchnahme der Funktionalität in unterschiedlichen Sätzen technisch präziser fassen. Der zweite Teil des Beitrags wird eine Vorstellung von der Differenziertheit der Klangeigenschaften geben, die um 1775 in Mozarts Kopfsätzen herrschen. Was leider nicht gezeigt werden kann, sind die Artikulationsformen in den Mittel- und Schlusssätzen. Aus den Analysen der Sonatenhauptsätze lässt sich allerdings rückwirkend schließen, dass die Bandbreite an unterschiedlichen Positionen (und damit Klangeigenschaften), die ein Sonatenhauptsatz hervorbringt, in anderen Sätzen nicht zu finden ist. (Von daher ist es sinnvoll, Sonaten-Funktionalität an Sonatenhauptsätzen zu studieren.)
II. Aspekte der Sonaten-Funktionalität um 1775 Skizze einer modifizierten Schichtenanalyse
10.1 | 64 10.2 | 65 10.3 | 66 10.4 | 67 10.5 | 68 10.6 | 69
In diesem zweiten Teil des Beitrags geht es darum, Eigenschaften der Sonaten-Funktionalität um 1775 zu skizzieren und gegebenenfalls von der ›barocken‹ Ursatz-Funktionalität Schenkers abzugrenzen. Eine angemessene Darstellung bedürfte großer Ausführlichkeit. Da hierzu der Platz fehlt, müssen einige Kommentare zu Mozarts sechs Klaviersonaten KV 279–284 (genauer: zu den Expositionen der Kopfsätze) genügen. Die Sonaten-Funktionalität um 1775 ist – nach dieser Darstellung – eine Funktionalität, in der die tonalen Strukturen Schenkers bereits im Hintergrund mit einfachen metrischen Strukturen wechselwirken. Tonalität und Metrik sind in diesem System gleichermaßen Mittel eines übergeordneten Zwecks. Um dies deutlich werden zu lassen, weisen die Diagramme der Beispiele 10.1–10.6 (sie zeigen den Hintergrund, die erste Schicht nach dem Hintergrund und den Mittelgrund) vor allem drei Eigenschaften auf, die sie von Schenker’schen Graphen unterscheiden: 1. Die Diagramme enthalten bereits vom Hintergrund an fett gedruckte Taktstriche. 2. Manche Töne sind mit Vortragszeichen versehen (Tenutostrich –, umgedrehtes Sforzato < oder Keil ' ). 3. Obwohl sämtliche Strukturen von Schenker her bekannt sind, weicht der analytische Umgang mit ihnen bisweilen von Schenkers Praxis ab. Insbesondere wird von der zweiten Schicht an das Geschehen im oberen System häufig durch liegende oder bewegte Terzen dargestellt. NB: // deutet die Medial Caesura an.
meint Pausen von wechselnder Länge.
Sonatenform als Funktionalität
1. Phasen als metrische Einheiten Fett gedruckte Taktstriche gliedern die Exposition in drei oder vier Phasen.48 Eine Phase bildet eine übergeordnete nicht-Schenker’sche Einheit, zu der sich mehrere Taktgruppen zusammenschließen können (in welchem Sinne, wird noch zu erläutern sein). Zugleich bildet eine Phase eine hintergründige metrische Einheit. Mit der Gleichsetzung von Phase und metrischer Einheit wird zweierlei ausgedrückt, erstens dass eine Phase mit einem ganz schweren Takt beginnt und zweitens dass der Basston, dessen Einsatz den Anfang definiert, für eine gewisse Dauer der Phase weiterwirkt. Die Bildung von Phasen ist ein Phänomen, das die ›klassische‹ Sonaten-Funktionalität von den ›barocken‹ Kompositionen unterscheidet. Um näher zu umreißen, was eine Phase ist, kann man auf bekannte Höreindrücke rekurrieren. Beispielsweise tritt die Schluss-Tonika eines Satzes oder einer Exposition bei Mozart nicht – wie in vielen barocken Kompositionen49 – mit der letzten Kadenz ein, sondern scheint sich auf eine Kette von mehreren Kadenzen und einen Epilog zu verteilen.50 In der Regel hat der Hörer den Eindruck, er betrete mit dem (tonikalen) Beginn oder Ende der ersten Kadenz ›den Boden des Schlussakkordes‹.51 Obwohl der Satz bzw. die Exposition an dieser Stelle eindeutig nicht beendet ist, liegt von da an das Ende ›in der Luft‹. ›Die Musik‹ ist im Begriff, den bereits erreichten Akkord durch wiederholte Kadenzen mit Schlusskraft anzureichern. Mit der letzten Kadenz (oder dem Epilog) ist das notwendige Maß an Glaubwürdigkeit erreicht.52 48 In der Regel gibt es in den Expositionen schneller Sonatensätze vier hintergründige Phasen und in denjenigen langsamer Sätze drei (in langsamen Sonatensätzen – aber auch in Kopfsätzen von Sonatinen – fallen oft die ›Mitte‹ und die Schlussphase zusammen). 49 Die Schlussbildung eines zweiteiligen barocken (Sonaten-)Satzes, aber auch einer Fuge oder eines Ritornells (innerhalb eines Concerto-Satzes) geschieht in der Regel zügig – mit einer einzigen Schlusskadenz im letzten Takt. Erweitert werden kann dieser Vorgang durch eine Wiederholung der Kadenz (in 4/4-Takten nicht selten um einen halben Takt verschoben), eine vorangehende ›defiziente‹ Variante (z. B. einen Trugschluss oder eine Kadenz in der höheren Oktave) oder eine folgende (z. B. Unisono-Wiederholung der Bassklausel). Fällt die Kadenz nicht in den letzten Takt (wie in Fugen häufig), folgen ihr einige Takte über einem Orgelpunkt. 50 Ich nenne den Epilog diejenige Taktgruppe, die der letzten Schlusskadenz folgt und von dieser durch einen Texturwechsel abgesetzt ist. 51 In KV 279 (189d): Takt 31, KV 280 (189c): Takt 43, KV 281 (189f): Takt 34, KV 282 (189g): keine Schluss-Phase (s. Fußnote 70), KV 283 (189h): Takt 31, KV 284 (205b): Takt 38. In KV 282, 283 und 284 geht dem Tonika-Akkord, der die Schluss-Phase eröffnet, keine (formelhafte) Kadenz voraus. 52 Für die traditionelle Schenker’sche Analyse ist eine Schluss-Phase, in der ein erreichter Klang durch die Zeit, die vergeht, an Bestimmtheit gewinnt, ein Problem. Den eigenen Prämissen folgend müsste Schenker den Eintritt oder den Abschluss (vor oder nach dem Epilog) dieser Phase zum Ende der Urlinie (bzw. in Expositionen: zum Ende des untergeordneten Quintzuges) er klären. Beides ergäbe Sinn und träfe doch nicht den beschriebenen Eindruck im Ganzen.
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Ähnliches gilt für den Anfang. Die Darstellung der Anfangs-Tonika beschränkt sich um 1775 nicht auf die ersten Takte53, sie darf vielmehr als ein Bestimmungsprozess gelten, der gegebenenfalls mehrere Taktgruppen durchläuft. Während sich ein ›barocker‹ Suitensatz von seiner ersten Tonika aus fortbewegt, scheint Mozart oft acht bis zwölf Takte zu benötigen, um die Anfangs-Tonika in allen ihren Aspekten zu entwickeln. Das Erscheinen der letzten stark bestimmten Tonika eröffnet in der Regel die zweite Phase der Exposition (Ausnahme KV 283). In der nachfolgenden dritten Phase (oder zweiten, falls es die soeben beschriebene zweite nicht gibt) betritt der Hörer die Mitte der Exposition (die Existenz einer solchen Phase der ›Mitte‹ – deren Klangeigenschaft übrigens völlig unterschiedlich ausfallen kann – unterscheidet die Sonaten-Funktionalität grundlegend von allen ihren historischen Vorgängern). Den Beginn einer neuen Phase, den die fetten Taktstriche andeuten (in der ausgeführten Komposition wird der Wechsel der Phasen in der Regel auch durch Texturbzw. Diminutionswechsel deutlich), bildet – im Hintergrund wie in der ausgeführten Komposition – ein ganz schwerer Takt.54 Die funktionale Bestimmung des Akkordes (oder Tons), der diesen ganz schweren Takt besetzt, ist diejenige des Weiterwirkens.55 Ein ganz schwerer Akkord (oder Ton) grundiert das folgende Geschehen. Sein Erscheinen bleibt für die nachfolgenden Ereignisse bestimmend, auch wenn er akustisch nicht mehr erklingt (und möglicherweise mit den Tönen und Akkorden satztechnisch nicht mehr vereinbar wäre).56 Auch andere Klangeigenschaften des ganz schweren Klangs nehmen Einfluss auf die Klangeigenschaften der folgenden Ereignisse.57 53 Eben dies geschieht in den meisten ›barocken‹ Kompositionen. Davon zu unterscheiden ist die Position des Kopftons, der in manchen – aber doch seltenen – Fällen sehr spät erreicht wird, beispielsweise in der Invention Es-Dur BWV 776, wie sie bei Haas / Diederen analysiert wird (2008, 105–115), oder in der Fuge g-Moll BWV 542. 54 Ein ganz schwerer Takt ist ein funktionales Phänomen, das im Kontext des Satzganzen entsteht. Darum muss ein solcher Takt nicht mit einem vollen Tonsatz oder einem dynamischen Fortissimo verbunden sein. Es gibt charakterlich zurückhaltende Ereignisse, die dennoch metrisch schwer sind (beispielsweise der Beginn des Seitensatzes von KV 283). 55 Metrisches Gewicht und Weiterwirken sind verschiedene Momente derselben Konstellation. Keines ist die Ursache des anderen. Das Weiterwirken eines Tons begründet die Bedeutung eines Phasenbeginns als eines hintergründigen Ereignisses. – Zum metrischen Gewicht am Beginn der Einheiten vgl. die Ausführungen zum ›structural downbeat‹ bei Cone 1968, 24f. 56 Die zweite metrische Einheit der Klaviersonate KV 280 (189c) zeigt im Hintergrund einen F‑DurAkkord in Terzlage. Dieser entspricht den Takten 13–17 in der ausgeführten Komposition, in denen der Akkord über zunächst fünf Takte mit Hilfe einer Dominante auskomponiert wird. In Takt 17 folgt eine rhythmisch und harmonisch vertrackte Quintfallsequenz, die zur II. Stufe führt. Deren labiler Charakter wäre – vom hier beschriebenen Ansatz aus betrachtet – ›im Nachhall‹ des starken F-Dur-Akkordes zu hören. Der Akkord ist sozusagen noch in der Art, wie die Sequenz klingt, zu hören. Nachhaltig verdrängt wird der große F-Dur-Akkord erst vom C-Dur-Akkord von Takt 27. Hintergründig geht also der F-Dur-Akkord von Takt 13 in den C-Dur-Akkord von Takt 27 über. 57 Dass beispielsweise die dritte metrische Einheit der Klaviersonate KV 280 (189c) im MittelgrundDiagramm mit einem akzentuierten Basston beginnt, bleibt in der ausgeführten Komposition für
Sonatenform als Funktionalität
Mit Hilfe der Schichtenanalyse lässt sich das Weiterwirken von Tönen oder Akkorden differenziert darstellen. Der G-Dur-Akkord in Takt 16 der Klaviersonate KV 28358 ist als tonikaler Schlussakkord ein stark bestimmter Akkord. Weil er jedoch keine neue Phase begründet, geht ihm im Hintergrund kein fetter Taktstrich voraus. Allerdings kann man ihm eine gewisse Relevanz für das Folgende nicht absprechen. Die plötzliche Reduktion des Tonsatzes auf eine Bassbewegung gibt dem G-DurSchlussakkord auch nach Takt 16 noch Raum zum Weiterwirken. Eben deswegen wird das Weiterwirken auf mittelgründiger Ebene angesiedelt (weshalb der Akkord denn auch vom Mittelgrund an einem normalen Taktstrich folgt). 2. Phasen und Klangeigenschaften Die Folge der metrischen Einheiten bildet die entscheidende nicht-tonale Struktur, zu der die tonalen Strukturen Schenkers in ein Verhältnis gesetzt werden. Von der Einlagerung der Strukturen (bzw. ihrer Töne) in die metrischen ›Koordinaten‹ hängt ihre Bedeutung für den musikalischen Zusammenhang ab, und umgekehrt: Die Bedeutung der metrischen Einheiten wird durch die Ereignisse geprägt, die in ihnen stattfinden.59 So lassen die Diagramme auf den ersten Blick erkennen, dass ›dieselben‹ Schenker’schen Strukturen in beinahe jeder Sonate auf andere Weise metrisiert werden. Anders als bei Schenker sind die Hintergründe dadurch deutlich voneinander unterschieden. Damit wird ausgedrückt, dass die je eigenen Klangeigenschaften, die jede Sonate unverwechselbar prägen, bereits in der Grundstruktur angelegt sind. (Damit wird gleichzeitig gesagt, dass sogar der ›Ursatz‹ – oder was von ihm übrig geblieben ist60 – in jeder Sonate auf eigene Weise als Mittel dient.) Die Klangeigenschaft eines ganz schweren Taktes kann unterschiedlich ausfallen. Da das metrische Gewicht ein funktionales Phänomen darstellt, ist die Art seiner den gesamten Seitensatz bestimmend. Vgl. die initiierenden Bassakzente in Takt 27, 31, 35–40 (evtl. 41) sowie in Takt 43–45 und 48–51. 58 Es gehört zur Besonderheit der Klaviersonate KV 283 (189h), dass die 3 (Kopfton) auf eine Position gesetzt wurde, auf der sie zugleich heraussticht und labil wirkt. Sie sticht heraus, weil die Hemiole auf sie hinführt, und sie wirkt labil, weil sie auf einem kadenzierenden Quartsextakkord (Takt 15) erscheint. Der zum Kopfton gehörige Basston g folgt auf der Eins von Takt 16. 59 In der Sonaten-Funktionalität müssen Tonalität und Metrik als eigenständige Systeme des musikalischen Zusammenhangs betrachtet werden (vgl. dazu Samarotto 1999, 14). Eigenständigkeit meint hier: Tonale Bestimmungen können nicht aus metrischen hergeleitet werden und umgekehrt. Wohl aber bestimmen sich Tonalität und Metrik innerhalb einer konkreten Komposition wechselseitig zu Funktionen. 60 In der Sonaten-Funktionalität dient die Urlinienbewegung 3-2 fast nur noch der Verbindung der beiden Tonartenbereiche der Exposition. Oft erscheint der Kopfton erst kurz vor dem Ton artenwechsel, oder er wird kurz vor dem Tonartenwechsel in seiner stärksten Gestalt oder in einer herausgehobenen Lage dargeboten.
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Realisierung nicht festgeschrieben. Im Gegenteil: Es sind Modifizierungen möglich, etwa dadurch, dass der Bass zu Beginn eines schweren Taktes erscheint (und das metrische Gewicht ›affirmiert‹) oder eben nicht. Interessant sind die Expositionen der Sonaten KV 281 und 283, in denen die weiterwirkenden Basstöne der jeweils dritten Phasen auf leichter Zeit vor Beginn der Phase erscheinen (als Fundamente der Halbschlüsse im Takt zuvor). Dass man von ihnen behaupten darf, sie wirkten im folgenden Formabschnitt weiter, verdankt sich zwei Umständen: Erstens erscheinen die Basstöne jeweils isoliert (d.h. ohne Oberstimmen61), zweitens spart der Beginn des folgenden Seitensatzes die tiefe Region im Tonsatz aus, so dass die Möglichkeit besteht, den zuvor erklungenen Basston als weiterklingend zu erleben. Der Zweck des Verfahrens, einen Basston vorzuverlagern und den Beginn der metrischen Einheit im Bassbereich nicht mit dem Ton, sondern sozusagen mit dessen ›Nachhall‹ zu besetzen, ist der sich ergebende leichte und luftige Charakter des Phasen-Beginns. Auch die Klangeigenschaften der beteiligten Töne werden vom Verhältnis zwischen Metrik und Tonalität geprägt. Der Kopfton eines Terzzuges klingt anders, wenn er statt auf schwerer auf leichter Position steht. So ist der Kopfton e 2 in KV 279 an allen Stellen (der hintergründigen Stelle Takt 12.4 und allen davon abgeleiteten Stellen Takt 2.2, 4.2, 5.2, 6.3, 13.3 und 15.3) ein ›nachschlagender‹ leichter Ton, der einem akzentuierten c 2 folgt.62 In KV 280 hingegen bildet a1 den Startpunkt der zweiten Phase, auf den die erste hinführt (der Startpunkt wird zu Beginn des Takts 13 ersatzweise durch a dargestellt). Den Unterschied zwischen einem leichten und einem schweren Kopfton mag es auch in barocken Kompositionen geben, aber erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehört er zu den fundierenden Prinzipien der Formbildung. 3. Phasen als dynamische Gliederung des Sonatensatzes Phasen bilden (nicht-Schenker’sche) funktionale Einheiten und begründen als solche die Funktionen aller Ereignisse, die in sie hineinfallen. Nicht ›Thema‹ zu sein, ist die Funktion einer Taktgruppe, sondern (als ›Thema‹) eine Phase zu füllen, Teil einer Phase zu sein oder mehrere Phasen zu durchlaufen. Entscheidend dabei ist, dass die Gliederung der Exposition in Phasen mit derjenigen in syntaktische Einheiten nicht deckungsgleich sein muss. Die Verhältnisse können wechseln, und die Klangeigenschaften beispielsweise einer Eröffnung hängen nicht unwesentlich von der konkreten 61 Man könnte behaupten, dass der F-Dur-Akkord des Halbschlusses in KV 281 durch Imitation (der rechten durch die linke Hand) verlängert wird, um Gelegenheit zu geben, am Ende einen einzelnen tiefen Basston F herbeizuführen. Vgl. das Diagramm des Mittelgrundes. 62 Dasselbe gilt für die Klaviersonaten KV 281 und KV 284.
Sonatenform als Funktionalität
Beziehung zwischen Syntax und Phasen ab. Dabei betrifft die syntaktische Gliederung eher die konstruktive, die Phasengliederung die dynamische Seite der Musik. Der Eintritt der zweiten Phase (mit einer stark bestimmten Tonika) kann auf den Beginn eines zweiten Formabschnitts fallen (in KV 280, KV 281 und KV 282), so dass die Gliederung in Abschnitte und mit derjenigen in Phasen kongruiert. In KV 279 jedoch tritt die zweite Phase am Ende des ersten Formabschnitts ein, sie beginnt charakterlich als Prolongation des Schlussakkordes. Noch anders ist die Wirkung der Tonika in Takt 9 von KV 284. Sie eröffnet zwar die zweite Phase der Exposition, aber bildet so etwas wie den nächsten ›Schritt‹ auf dem Weg zur Dominante in Takt 17. Dieses bemerkenswerte Arrangement der Taktgruppen (in dem der Weg zum Eintritt der V. Stufe als ein Vorgang fortgesetzter Steigerung erscheint) lässt innerhalb des gesamten ›Hauptsatzes‹ keinen Ort entstehen, an dem die Tonika gesammelt bei sich kein könnte. Eben darum fällt es aus traditioneller Sicht – die einen solchen Ort für gewöhnlich zu finden trachtet – schwer, eine bestimmte Taktgruppe zum ›ersten Thema‹ zu erklären.63 Auf den ersten Blick scheint die Medial Caesura einen archimedischen Punkt der Exposition darzustellen.64 Immerhin ist sie in jeder der hier relevanten Sonaten Mozarts ein Halbschluss65, dem der Seitensatz folgt. Doch identische Erscheinung und identische Funktion sind nicht dasselbe. Auch für die Medial Caesura gilt, dass ihre Funktion (und damit ihre Klangeigenschaft) davon abhängt, ob sie Phasen voneinander trennt oder ob sie in eine Phase hineinfällt (ob sie also vom internen Zusammenhang der Phase ›überquert‹ wird); ihr Sinn ergibt sich erst aus der dynamischen Gliederung.66 So trennt die Medial Caesura in KV 280 (189c) die zweite von der dritten 63 In der Klaviersonate KV 332 (I. Satz) umfasst die erste Phase zwei charakterlich unterschiedliche Formabschnitte, die scheinbar gar nichts miteinander zu tun haben. Die unverhohlene Geringschätzung August Halms für den zweiten Formabschnitt zeigt, wie schwierig es vor hundert Jahren gewesen ist, aus einer an Beethoven geschulten Perspektive heraus die Funktionen vorbeethovenscher Sonatensätze zu verstehen. Vgl. auch Marx 1845, 257. – Weil um 1775 bereits die Funktion der ersten Phase als diejenige einer Vorbereitung auf die am stärksten bestimmte Tonika der zweiten Phase angelegt ist, wundert es nicht, dass Beethoven die traditionelle Darstellung der Anfangstonika in manchen Sonatensätzen in auffallender Weise auslassen kann (vgl. die Klaviersonaten opp. 31,2 und 31,3; ein spezieller Fall ist der erste Satz der Sonate op. 101, vgl. hierzu Polth 2010, 295–311; vgl. auch den Beginn der 9. Sinfonie op. 125). 64 Hepokoski und Darcy empfehlen, die Analyse einer Sonatenexposition mit der Suche nach dieser Stelle zu beginnen. 65 Nur im Kopfsatz der Sonate KV 282 wird vor der Medial Caesura moduliert. 66 Schenker 1956, 206 (§313). Hier sei lediglich darauf hingewiesen, dass die funktionalen Unterschiede einer Medial Caesura mit den Möglichkeiten der Schenker’schen Analyse nicht hinreichend dargestellt werden können; denn in allen Fällen erfüllen die Halbschlüsse die Funktion der ersten Urliniebewegung (3-2), wobei – nach Schenkers Ausführungen – die eigentliche 2 auf den Beginn des Seitensatzes fällt, während die 2 des Halbschlusses lediglich einen Teiler des Basses kontrapunktiert.
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Phase, in KV 281 und 283 hingegen erklingt der Basston der dritten Phase bereits vor der Medial Caesura, der zugehörige Oberstimmenton danach. Den merkwürdigsten Fall bildet auch unter diesem Gesichtspunkt die Klaviersonate KV 284. Hier fällt der Beginn der dritten Phase auf den Anfang des Halbschlusses, die Medial Caesura steht mitten im neu eröffneten Dominantklang. Dieses Verfahren, die Verschiebung des Beginns der dritten metrischen Einheit vor die Medial Caesura, ist möglicherweise erst um 1770 ›entdeckt‹ worden und begründet die typische Klangeigenschaft vieler Medial Caesuras im späten 18. Jahrhundert; denn die Kraft des Halbschlusses (Takt 17–21) wächst ebenso wie die Fragilität des ›Seitenthemas‹ danach, wenn nicht das Seitenthema, sondern der Halbschluss zuvor die metrische Einheit eröffnet.67 Auch für die Schluss-Phasen gilt, dass sie an unterschiedlichen ›Streckenabschnitten‹ der Schenker’schen Strukturen erscheinen können. In manchen Sonaten (so in KV 27968 und KV 281) beginnt die Schluss-Phase mit der erreichten 1 des Terz- oder Quintzuges der Nebentonart, in anderen (so in KV 280 und KV 284) mit der 3, in KV 283 schließlich mit einer Wiederaufnahme der 5. Aus Schenker’scher Perspektive heraus besäßen die Phasen-Anfänge wegen der unterschiedlichen strukturellen Verhältnisse unterschiedliche Funktionen. Vom Gesichtspunkt der Phasen-Bildung jedoch begründen die Struktur-Verhältnisse keine unterschiedlichen Funktionen, sondern lediglich unterschiedliche Klangeigenschaften. In Sonaten wie KV 280 (189c), KV 283 (189h) und KV 284 (205b), in denen die Schlussphase mit einer 3 oder 5 beginnt, ist der erste Tonika-Akkord von seiner Schlusskraft her verhältnismäßig schwach (der Eindruck differiert leicht je nachdem, ob dem Akkord eine förmliche Kadenz vorausgeht wie in KV 280 oder nicht wie in KV 283 und 284). Die Schlusskraft des Akkordes nimmt in der folgenden Phase entsprechend stark zu. In Expositionen, in denen die Schlussphase mit der 1 einsetzt (KV 279 und KV 281), stellt bereits der Beginn der Schlussphase den stärksten (oder beinahe stärksten) Punkt der Bestimmung dar. Woran aber erkennt man, dass die Schenker’schen Strukturen nicht (aus Schenker’scher Perspektive heraus betrachtet) allein schon die Funktion begründen, sondern mit anderen Momenten wechselwirken, so dass ›dieselben‹ Strukturen unterschiedliche Bedeutungen für die Phasen besitzen können? Man erkennt dies an der Verschiedenartigkeit der Inszenierung, an Momenten also, die bei Schenker nicht zu den primären strukturellen Faktoren gehören. Man beachte etwa in KV 283 den akzentuierten Neuanfang in Takt 31, der das dort beginnende Geschehen (das Wie67 Diese Verschiebung hat es auf jeden Fall um 1770 bei J. Chr. Bach gegeben (vgl. den Kopfsatz der Klaviersonate op. 5 Nr. 2, den Mozart bearbeitet hat und dessen Ähnlichkeit mit dem entsprechenden Satz aus Mozarts Sonate KV 284 unübersehbar ist). Die Komponisten der Generation Wagenseil und auch Joseph Haydn scheinen diese Verschiebung nicht praktiziert zu haben (Haydn zumindest nicht in seinen Klaviersonaten). 68 Vgl. Schenker 1956, Fig. 154, 1.
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deraufgreifen der 5) deutlich vom ›Seitenthema‹ absetzt, während ein solcher Initialakzent an der entsprechenden Stelle in KV 279 (Takt 20) fehlt (im Kontext der vorangegangen Takte suggeriert der Einsatz des Basstones g hier, dass wir zum ersten Mal in der neuen Tonika angekommen sind69, nicht: dass der Schluss beginnt).70 4. Vortragsangaben In Schenkers Funktionalität erlangt ein Ton seine Bedeutung allein durch die Position im strukturellen Gefüge. Um 1775 jedoch scheint ein Ton außerdem durch Eigenschaften, die er nur als (real oder imaginiert) erklingender Ton hat, am musikalischen Zusammenhang teilzunehmen. Ästhetisch relevant sind nicht nur systemische, sondern auch ›stoffliche‹ Eigenschaften. Die ›stoffliche‹ Qualität eines Tons ist – metaphorisch gesprochen – das Gesicht, das er uns zuwendet. Um diese an herausragenden Stellen anzudeuten, werden Vortragszeichen benutzt.71 Der Hintergrund der Klaviersonate KV 284 (205b) beginnt mit dem Ton d. Nach Schenker’scher Interpretation würde der Ton allein in seiner Eigenschaft als Basston am musikalischen Zusammenhang teilnehmen. Hier jedoch zeigt das Diagramm einen Keil, d.h., in der ausgeführten Komposition setzt der Basston einen Akzent. Ein akzentuierter Ton wirkt wie ein ›Hieb‹. Die Konzentration auf den Punkt des Beginns (die Dauer ist demgegenüber sekundär) charakterisiert seine ›stoffliche‹ Erscheinung, durch die er am Geschehen teilnimmt. Der Hintergrund zeigt an, welche Töne den Weg durch das Satzganze artikulieren. Wenn ein Keil bereits im Hintergrund notiert wird, dann soll damit deutlich gemacht werden, dass (zumindest in der hier untersuchten Sonaten-Funktionalität) die damit angezeigte Klangeigenschaft des Tons zur Grundstruktur der Komposition gehört. Das heißt: Es gehört zur Formbildung (der ›Sonatenform‹), dass der Ton d in Takt 9 (über seine Bedeutung als Basston hinaus) als metrischer Impuls wirkt, der das folgende Geschehen aus sich heraustreibt.72 Außerdem bedeutet die Notierung des 69 Aus Schenker’scher Perspektive heraus stellt Takt 20 in KV 279 die Wiederaufnahme der 5 dar (Quintzug des Seitensatzes). Mit der hier vertretenen Auffassung (Erreichen der Anfangstonika G-Dur bzw. ›dritter‹ Takt im Hintergrund) geht einher, in Takt 20 den Beginn eines Terzzuges anzunehmen. 70 Der Kopfsatz der Sonate KV 282 ist der einzige langsame Eröffnungssatz. Wie viele langsame Sätze aus dieser Zeit bewegt sich das Geschehen vom Beginn des Seitensatzes in Takt 9 an kontinuierlich bis in den Schlussakkord Takt 15 hinein, ohne zwischenzeitlich an irgendeiner Stelle in eine neue Phase einzutreten. 71 Die Artikulationszeichen meinen nicht notwendig eine reale Spielanweisung. In den meisten Fällen bezeichnen sie einen musikalischen Charakter, den ein Ton im funktionalen Kontext annehmen kann. 72 Der Ton fis 2 bleibt von dieser Initiation der metrischen Einheit nicht unberührt, er wirkt als nachfolgender Ton deutlich leichter.
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Keils im Hintergrund, dass der Akzent ein ›thematisches‹ Moment darstellt, das in den folgenden Schichten an anderen Stellen übernommen wird, so im Mittelgrund in Takt 1, in weiteren Schichten in Takt 5, 6 und 11. Neben dem Keil werden ein ›umgedrehtes Sforzato‹ und das Tenuto-Zeichen verwendet. Das umgedrehte Sforzato zeigt einen angespannten Ton an. Während der akzentuierte Ton (Keil) einen Impuls setzt, trägt ein angespannter Ton weiter bis zum nächsten Ereignis. Der Akzent hat Kraft, der angespannte Ton Intensität.73 Das TenutoZeichen kennzeichnet einen Ton, dessen Erscheinen als spannungsloses Währen gehört werden kann. Obwohl ein solcher Ton an konkreter Stelle beginnt und endet, wirkt er, als erklänge er immer und werde die meiste Zeit über von anderen Klängen übertönt. 5. Terzen und Terzzüge
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Anders als bei Schenker werden von der ersten Schicht nach dem Hintergrund an viele lineare Ereignisse der Oberstimmen in liegende oder bewegte Terzen eingebettet. Beispiel 10.7 zeigt mögliche Verhältnisse zwischen Terzen und Durchgangsbewegungen.74 In den Beispielen Ia und Ib bleibt die Terz liegen, und der Durchgang verbindet den oberen mit dem unteren Liegeton. In den Beispielen IIa und IIb bewegt sich die Terz im Ganzen, und beide Stimmen beschreiben einen Durchgang. Weiße Noten zeigen den je führenden Ton an. Für liegende oder bewegte Terzen macht es funktional einen Unterschied, ob die Führung in derselben Stimme verbleibt (Ia und IIa) oder auf die jeweils andere übergeht (Ib und IIb). Die hier vorgeschlagene Deutung erkennt in der Sonaten-Funktionalität um 1775 ein – gegenüber der barocken Musik verändertes – Verhältnis zwischen linearen und harmonischen Ereignissen. Sie räumt den linearen Bewegungen Schenkers nach wie vor eine zentrale Bedeutung ein, deutet aber zugleich an, dass viele dieser Bewegungen in einem aufgespannten harmonischen Raum stattfinden, der fühlbar bleibt, wenn jene ihn ausschreiten. So mag für eine orthodoxe Schenker-Analyse irritierend sein, dass von der ersten Schicht nach dem Hintergrund an die Exposition mit einer Terz schließt; die 1 des Quint- oder Terzzuges wird von einer 3 überlagert. Damit wird ausgedrückt, dass die Bewegung zur 1, so bedeutsam sie für die Konstitution der Schlusskraft der Tonika sein mag, die 3 nie endgültig hinter sich lässt. Den Anlass zu dieser Deutung gaben Detailbeobachtungen am Tonsatz. [10.8.1–4] In den Expositionen der Klaviersonaten 73 Ein typisches Beispiel dafür stellt der ganztaktige Triller der großen Kadenzen dar, der dem Grundton zustrebt. Die Trillerfigur selbst lässt sich als figürliche Manifestation dieser Anspannung interpretieren. 74 Die ersten Beispiele ähneln Schenkers Figur 101,1 (Schenker 1956), in der das Übergreifen zur Erhaltung der Lage dient.
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KV 279, 281, 282 und 284 wird die 3 nach der stärksten (KV 279) oder letzten Kadenz (übrige Beispiele) wieder aufgegriffen.75 [10.8.5+6] In den anderen Expositionen sind es Details der Kadenzgestaltung, die die hier vorgeschlagene Interpretation nahelegen: so in der Sonate KV 280 (189c) der schnelle Absturz der Melodie von der Sexte zum Grundton76, in der Sonate KV 283 (189h) das durch die Akkordbrechungen ausgelöste ständige Mitführen sämtlicher Akkordtöne (hier dargestellt an der Kadenz Takt 15/16). Umgekehrt: Als Bewegungen innerhalb einer Terz interpretiert, sieht man in der raschen Abwärtsbewegung von KV 280 (189c) ein Durchlaufen mehrerer struktureller Stimmen (eines ›Soprans‹ und eines ›Alts‹), deren obere den Ton f 2 nicht verlässt. Daher kann der Ton e 2 zwanglos als Fortsetzung von f 2 aufgefasst werden. In KV 283 (189h) wird verständlich, warum eine deutlich erkennbare lineare Bewegung h 1-a 1-g1 ständig von harmonischen Begleittönen umhüllt wird, vor allem von einer Bewegung d 2-c 2 in den obersten Sechzehnteln, die am Ende der Kadenz auf den ersten Blick nicht fortgesetzt zu werden scheint. In der Sonaten-Funktionalität begründet die Notwendigkeit, ganz schwere Ereignisse vor- oder nachzubereiten, die Entstehung weiterer Schichten.77 Von der immanenten Logik der Schichtenanalyse aus könnte man sagen: Den Basstönen und/oder Akkorden im Hintergrund hört man ihre metrische Bestimmung nicht an (sie wird durch die Taktstriche lediglich gefordert).78 In der ausgeführten Komposition aber sollen die Ereignisse die gewünschte Wirkung tatsächlich und mit Selbstverständlichkeit hervorbringen. Eben darum wird in den folgenden Schichten der geeignete Kontext geschaffen, indem hintergründige Ereignisse prolongiert oder neue Ereignisse hinzugefügt werden.79 6. Zusammenfassung Schenker war der Überzeugung, die Klaviersonaten Mozarts angemessen analysieren zu können, während hier behauptet wird, die Schenker’sche Analyse lasse das ›Sonatenförmige‹ der Sonatensätze außen vor. Der Widerspruch bedeutet nicht, dass Schenker durch die hiesigen Überlegungen widerlegt wäre, sondern vielmehr, dass 75 In den Klaviersonaten KV 279, KV 281 und KV 282 erscheint eine Tonika in Terzlage sogar im jeweils letzten Takt der Exposition. 76 Eine analoge Kadenz begegnet in den Sonaten KV 281, 282 und andeutungsweise in 284. 77 Bei Haas/Diederen entsteht eine neue (ausführlichere) Schicht, um satztechnische Mängel der vorherigen (einfacheren) Schicht zu beseitigen. 78 Man müsste sich beim Spielen der Diagramme zumindest sehr anstrengen, um sich oder den Zuhörern die metrischen Qualitäten zu suggerieren. 79 Damit wird auch gesagt, dass zwei ganz schwere Ereignisse durch ein ausreichendes Maß an Zeit getrennt werden müssen, um überhaupt als zwei verschiedene ganz schwere Ereignisse erscheinen zu können.
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die Funktionalität um 1775 partiell anders gewesen ist, als Schenker sie beschrieben hat, und dass daher auch die Strukturen auf etwas andere Weise Teil des Gesamtgefüges gewesen sind, als es bei Schenker angegeben wird. Die ungebrochene Relevanz von Schenkers Sonatenanalysen besteht darin, dass sie die neuralgischen Punkte der tonalen Entwicklung nennen (den Kopfton 3, den Übergang 3-2, das Ende des internen Quint- oder Terzzuges, die Prolongation der Dominante in der Durchführung, den Wiedereintritt des Kopftons). Die hier konstatierte Unangemessenheit betrifft die Tatsache, dass an den Tönen, Akkorden und Konstellationen um 1775 funktionale Klangeigenschaften zu hören sind, die einerseits die gesuchten ›sonatenförmigen‹ Bestimmungen des Sonatensatzes darstellen, die andererseits aber durch ein strukturelles Gefüge Schenker’scher Provenienz allein nicht benannt werden. Soll für 1775 eine Funktionalität angegeben werden, in deren Lichte ein Hörer die zeitliche Anordnung der Töne in einem Sonatensatz als Ausdruck ›sonatenförmiger‹ Klangeigenschaften erfahren kann, dann kommen als Strukturen zwar die Schenker’schen in Frage, aber deren Abstimmung muss Momente mitumfassen, die bei Schenker nicht (oder nicht in dieser fundamentalen Weise) einbezogen wurden: die Metrik und bestimmte ›stoffliche‹ Eigenschaften der Töne. In der Sonaten-Funktionalität schrumpft die konstitutive Bedeutung der Schenker’schen Strukturen. Sie nennen zwar nach wie vor bestimmte Einheiten des Satzes, ihre vollständige Bedeutung ergibt sich aber erst aus der Wechselwirkung mit metrischen Bestimmungen. Der Wandel der Funktionalität im 18. Jahrhundert – oder, was dasselbe ist: die Entstehung der ›Sonatenform‹ – lässt sich an folgenden Unterschieden zwischen Kompositionen von etwa 1710 und 1775 festmachen: Das sinnlich fassbare Moment des Wandels ist die Veränderung der funktionalen Klangeigenschaften von Tönen gewesen (was man als Entstehung des Sonata-Style verstehen könnte). Den Tönen einer Sonate von Mozart lassen sich andere Klangeigenschaften anhören als einer barocken Suite. Einige Typen von Klangeigenschaften gab es um 1710 offensichtlich noch gar nicht. Für alle aber gilt, dass sie um 1775 eine Relevanz für die Formbildung besitzen, die sie an einer barocken Komposition nicht besaßen, mögen sie als solche vorgekommen sein oder nicht. Unterschiede von der Art, ob der Kopfton der Urlinie metrisch schwer oder leicht ist oder ob der Weg zur 1 am Ende auf einen starken Tonikaakkord hinführt oder nicht, mag man auch an dem einen oder anderen Suitensatz um 1710 wahrnehmen, in einem Sonatensatz um 1775 bilden sie eine Bedingung dieser (bestimmten Art von) Formbildung. ›Sonatenform‹ setzt zu ihrem Verständnis voraus, dass der Hörer alle neuralgischen Punkte des Struktur-Gefüges als durch metrische und stoffliche Qualitäten inszeniert erlebt, weil mit diesen Inszenierungen wesentlich die sprichwörtliche ›Dynamik‹ der Sonatensätze zusammenhängt.80 80 Selbstverständlich kann ein ›neuralgischer‹ Punkt unspektakulär oder verhältnismäßig neutral inszeniert sein. Entscheidend ist, dass in einer Komposition um 1775 auch eine solche Neutralität
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Dem Wandel der Klangeigenschaften entspricht auf der strukturellen Seite eine veränderte Rolle der Metrik und der stofflichen Eigenschaften. Tauchen die metrischen Bestimmungen der Töne in den Bach-Analysen von Haas/Diederen vom ›Umriss‹ an (einer Schicht zwischen Mittel- und Vordergrund) auf, so finden sie sich hier – zusammen mit stofflichen Eigenschaften – bereits im Hintergrund. Dieser Handhabung der Schichtenanalyse entspricht die Vorstellung, dass die ›Sonatenform‹ vom Hintergrund an auf einer bestimmten Wechselwirkung zwischen tonalen, metrischen und stofflichen Qualitäten beruht. Dieser Wechselwirkung entspricht, dass die Metrik über die traditionelle Aufgabe der zeitlichen Strukturierung (so bei Diederen/ Haas) hinaus dazu dient, den Tönen jene erwähnten sinnlich-erfassbaren Qualitäten zu verleihen (die unter Umständen für einen ganzen Satz ›thematisch‹ sein können).81 Schließlich ist es – allgemein gesprochen – die zeitliche Anordnung der Töne in der Partitur gewesen, die von 1740 an allmählich Anlass dazu gab, die strukturellen Verhältnisse der Kompositionen anders zu deuten als vor 1740. Technisch gesprochen, müssen die offensichtlichen Veränderungen der Satztechnik im 18. Jahrhundert als materialer Wandel gelesen werden, durch den die Komponisten ihre Hörer dazu brachten, eine neue Funktionalität zu erleben. Die bekannten (und von zeitgenössischen Theoretikern erwähnten) Momente, die neue Melodiebildung, die vereinfachte Harmonik mit ihrer vereinfachten Bassbewegung, die Motivik, die symmetrische Syntax, die Instrumentationseffekte, die größere Rolle der Dynamik oder die vielbesagten Kontraste sind die satztechnischen Mittel gewesen, um an den Tönen neue funktionale Verbindungen – und das heißt – neue Klangeigenschaften erlebbar zu machen.
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eine Option der Inszenierung darstellt. (Eben darum dürfte hinsichtlich einer ›barocken‹ Komposition nicht von Neutralität die Rede sein.) 81 In den mittel- und vordergründigen Schichten hängt die veränderte Bedeutung der Metrik mit Phänomenen zusammen, die Wilhelm Seidel (1995) beschrieben hat, nämlich mit dem Wirken des Metrums selbst in repetierten Achteln.
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Schenker-Rezeption Die aktuelle Schenker-Rezeption verzweigt sich in divergente und bisweilen konfligierende Teildiskurse: Historiker werfen Pragmatikern vor, eine zeitgebundene Theorie instrumentell zu dekontextualisieren, Musiker monieren das Unkünstlerische wissenschaftlicher Reformulierungen, Vertreter der New Musicology kritisieren die impliziten Ideologeme einer nur scheinbar wertfreien Analysetechnik und Vertreter natur- oder formalwissenschaftlicher Wissenschaftskonzepte messen die SchenkerAnalyse am Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, mit dem sie bisweilen auftritt. Die Positionen, von denen aus argumentiert wird, lassen sich grob in zwei Hauptstränge differenzieren – Hauptstränge, die der snowschen Zweiteilung der Wissenschaften in Sciences und Humanities entsprechen.2
1 Dieser Beitrag ist ein gekürzter und bearbeiteter Auszug aus Schwab-Felisch 2018. 2 Snow 1959. – Im Rahmen einer eingehenderen rezeptionshistorischen Studie wäre diese Unterteilung in weitere Oppositionen auszudifferenzieren, Oppositionen, die einander zum Teil überschneiden: Princeton vs. Yale; Neo-Schenkerians vs. orthodoxe Schenkerians; Analyse des Hörens vs. Hören der Analyse; metatheoretische Einbindung in übergreifende Theoriekonzepte (Hanninen 2012) vs. pragmatischer »Hands-on-approach« (Cadwallader / Gagné 2011) und etliche andere mehr. Im gegebenen Zusammenhang freilich mag die grobe Kategorisierung genügen.
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Science Schenker, dessen Harmonielehre in der ersten Auflage noch das Inkognito »von einem Künstler« trug, hatte stets hervorgehoben, Musikanalyse sei eine Kunst und keine Wissenschaft. Dessen ungeachtet ist die Schichtenlehre im Zuge ihrer Amerikanisierung immer wieder mit formalwissenschaftlichen und empirischen Methoden und Wissenschaftskonzepten konfrontiert worden. 1. Versuche einer Formalisierung der Schichtenlehre zielen auf eine möglichst exakte logische oder mathematische Beschreibung theoriespezifisch definierter musikalischer Elemente, Relationen, Regeln und Verfahren. Benjamin Boretz etwa erarbeitete bereits Ende der 1960er Jahre idiomübergreifende formale Prinzipien musikalischer Strukturen.3 Mit Aufkommen der elektronischen Datenverarbeitung entstanden etliche Versuche, die Analyse nach Schenker zu automatisieren.4 Dabei ging es weniger um den pragmatischen Zweck, musikalische Analysen effizient generierbar zu machen, als vielmehr um das Interesse, Komponenten des analytischen Prozesses zu explizieren, die in der ursprünglichen Theorie implizit geblieben waren.5 Neuere Ansätze zielen darauf ab, sämtliche Regeln der Analyse datengetrieben aus einem Korpus musikalischer Beispiele und korrespondierender Analysen abzuleiten, statt ihre Formulierung dem Analytiker zu überlassen.6 2. Ansätze zu einer Empirifizierung der Schichtenlehre bestehen teils in Versuchen, die kognitive Realität bestimmter Elemente der Theorie Schenkers empirisch zu überprüfen7, teils darin, Schenker aus der Perspektive empirischer Forschung zu kritisieren und Gegenmodelle zu entwickeln, die bestimmte Konzepte Schenkers aufgreifen, sie aber so in Theorie umsetzen, dass sie rigorosen empirischen Standards standhalten. Ansätze wie jene Leonard B. Meyers 8, Fred Lerdahls / Ray Jackendoffs 9 oder Robert Gjerdingens10 stimmen bei aller Divergenz darin überein, die Strukturbeschreibungen, die Theorie leistet, in der Hörwahrnehmung verankern zu wollen. Eugene Narmour etwa kritisiert, der Ursatz dürfe nicht als analytisches Resultat gelten11, weil er als quasi-axiomatische Prämisse von Anfang an in Analyse eingespeist werde. Gegenüber der Idee der Interpretativität besteht 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Boretz 1969–73. Frankel u. a. 1976 Vgl. Smoliar 1980; Marsden 2010. Kirlin 2014. Siehe etwa Serafine u. a. 1989; Martinez 2002. Meyer 1956. Lerdahl / Jackendoff 1983. Gjerdingen 2007. Narmour 1977.
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Narmour auf der Fundierung von Analyse in objektiven Gesetzmäßigkeiten. Eben diese findet er in elementaren, präkulturell gegebenen Prozessen der musikalischen Perzeption und Kognition.12 Narmours Implication-Realization Model, das sich auf ein breites Fundament empirischer Arbeiten stützt und seinerseits mehrfach zum Gegenstand empirischer Überprüfung geworden ist13, hat mit der Theorie Schenkers denn auch nur noch die allgemeine Idee von Hierarchizität gemeinsam.14 Humanities Keineswegs alle Schenker-Forscher hießen Felix Salzers Modifikationen der Schichtenlehre gut. So wurde schon vergleichsweise früh darüber debattiert, ob das Repertoire, auf das Schenker-Analyse angewendet werden kann, historisch erweitert werden dürfe oder nicht.15 Weitreichenden Einfluss auf die Schenker-Rezeption hatte freilich erst William Rothsteins Kritik an der rationalistischen Verzerrung der Theorie Schenkers.16 Rothstein beschrieb nicht nur die epistemologischen und kommunika tionsstrategischen Modifikationen, denen die Schichtenlehre im Zuge ihrer Amerikanisierung unterzogen worden war, sondern kritisierte auch ihre Vulgarisierung zu einer bloßen Technik der Strukturanalyse: To Americanize Schenker, in my view, means to focus purely on the rationalist side of Schenker’s thought while jettisoning all ambiguities, all internal inconsistencies, all that arises from analysis rather than from theory, and all that is not narrowly technical; this is just what Proctor and Riggins have done. They would turn Schenkerian analysis into a streamlined technology—very much in the American spirit— in which fixed rules lead to readily predictable results, and in which subtler questions of judgment are irrelevant.17
Rothsteins Kritik zog rasch weite Kreise.18 In der Folge bemühte man sich, Schenkers ursprünglichen Ansatz wieder ins Recht zu setzen. Dies betraf vor allem Schenkers Begriff von Analyse als genuin künstlerischer Aktivität.19 Einflüsse aus Ideologiekritik und postmoderner Musikwissenschaft kamen im Lauf der 1980er und 1990er Jahre hinzu. Sie förderten die Umdeutung des Schenker’schen Erbes zu einer pluralistischen, weltoffenen, für Fragen von Kontext und Bedeutung sensibilisierten Methode. 12 13 14 15 16 17 18 19
Narmour 1990. Krumhansl 1995; Schellenberg 1996; 1997. Schwab-Felisch 2002. Vgl. Sprick 2009. Rothstein 1986; 1990. Rothstein 1990, 295. Siehe etwa Snarrenberg 1993. Burstein 2011.
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Dazu gehörte auch die Vorstellung, Analyse ziele als sprachlich-graphisches Analogon der musikalischen Aufführung auf eine rezeptive Aktualisierung musikalischer Kompositionen:20 Nicht letztgültige Wahrheiten, sondern begründete Interpretationen standen nun am Ende des analytischen Prozesses, Interpretationen, die auf unterschiedlichen Kriterien der Evaluation analytischer Beobachtungen beruhen konnten, ohne dadurch zwangsläufig als unterschiedlich wertvoll gelten zu müssen. 21 Historische Rekonstruktion und produktive Rezeption, Ideologiekritik und musikanalytischer Pragmatismus, Empirifizierung und esoterischer Ästhetizismus nun sind Rezeptionsweisen, die nicht ohne Spannungen zueinander koexistieren. Entsprechend steht die Schenker-Forschung vor einer Reihe offener Fragen. Vier der wichtigsten seien im Folgenden kurz umrissen.
Desiderata Prämissen Wie der deskriptive Apparat der Schichtenlehre mit den religiösen, philosophischen, politischen und ästhetischen Überzeugungen ihres Urhebers zusammenhängt, ist eine zentrale Frage der neueren historischen Schenker-Forschung. Einige begreifen ihn als bloße Funktion einer sozialen und politischen Agenda – und fordern, die Theorie als ganze fallenzulassen.22 Andere sehen musiktheoretische und weltanschauliche Komponenten des Schenker’schen Œuvres als ein integrales Netzwerk 23, in dem politische und musikalische Ideen einander wechselseitig fundieren.24 Wieder andere betonen, die Einsichten, die die Schichtenlehre artikuliere, seien trotz aller weltanschaulichen Exkurse doch wesentlich musikalischer Natur.25 Umstritten bleibt mithin, in wieweit die extrastrukturellen bzw. nicht-epistemischen Faktoren, die für den ›Ent deckungszusammenhang‹ der Schichtenlehre eine Rolle gespielt haben, auch für ihren ›Rechtfertigungszusammenhang‹26 bestimmend sind. Relevant ist diese Frage auch insofern, als nicht von vornherein auszuschließen ist, dass die De-Ideologisierung, 20 21 22 23 24 25 26
Kielian-Gilbert 2003. Siehe auch den Beitrag Frank Samarottos in diesem Band. Gjerdingen 2007. Bent 1994. Cook 2007. Schachter 2001. Reichenbach 1938. – Die klassische Unterscheidung von Entdeckungs- und Rechtfertigungszusammenhang wird in der Wissenschaftstheorie seit Kuhn durchaus kontrovers diskutiert. Diese Diskussion nachzuzeichnen ist hier nicht der Ort.
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die amerikanisierte Versionen der Schichtenlehre ausdrücklich verfolgen, ideologische Elemente zwar oberflächlich umgeht, in den technischen Begriffen der Theorie aber unerkannt und damit umso wirkungsvoller transportiert. Identitätskriterien Die Prozesse der Präzisierung, Disambiguierung, Systematisierung, Differenzierung, Ergänzung und Erweiterung, denen die Theorie Schenkers im Zuge ihrer Rezeptionsgeschichte unterzogen wurde, zeigen, dass die Schichtenlehre keineswegs das in sich abgeschlossene Gegebene ist, als das manche Schenkerianer sie sehen wollten.27 Wann allerdings eine Modifikation noch als schlüssige Fortsetzung Schenker’schen Denkens und wann als Deviation zu gelten hat, ist ebenso strittig wie die Frage, unter welchen theoretischen Voraussetzungen man schenkerianische Konzepte (wie das der Prolongation) von ihren theoretischen Prämissen (wie jener der grundsätzlichen Unterscheidung von Konsonanz und Dissonanz) lösen dürfe. Ob eine Theoriekomponente geändert oder ausgetauscht werden kann, entscheidet sich nicht zuletzt auf Basis eines Begriffs dessen, was die Identität einer Theorie ausmacht. Welche Kriterien einer Identitätsbestimmung der Schichtenlehre zugrundezulegen sind, ließe sich im Rahmen wissenschaftstheoretischer Diskurse erörtern.28 Die bestehende Schenker-Rezeption freilich diskutiert Identität eher unter dem pragmatischen Aspekt der Forschungsfrage, auf welche die Theorie antworten soll. Je nach Forschungsinteresse und Gewichtung einzelner Theoriekomponenten ist Schenkers Theorie als Theorie der Komposition, der Perzeption 29, der strukturellen Korrelate ästhetischer Klangwirkungen30, der Tonalität, der musikalischen Struktur, des organischen Zusammenhangs oder der Stimmführung31 gekennzeichnet worden.32 Entsprechend besitzt die Entscheidung, welchen Komponenten oder Momenten der 27 Siehe etwa die Kontroverse zwischen Roy Travis (1959) und Ernst Oster (1960). 28 Zentrale Texte der Wissenschaftstheorie operationalisieren die Identitätsfrage über die Unterscheidung zwischen dem ›Kern‹ und der ›Peripherie‹ einer Theorie. Imre Lakatos etwa sucht der Beobachtung zu entsprechen, dass Theorien – anders als es das Popper’sche Falsifikationskriterium nahelegt – bei Vorliegen unvereinbarer empirischer Befunde in aller Regel keineswegs fallengelassen, sondern durch Modifikation von Hilfshypothesen an die neue Datenlage angepasst werden (Lakatos 1974, 129–134 und passim, Schurz 2008, 182–184). Daneben sind in der Wissenschaftstheorie eine Reihe weiterer, hier zu vernachlässigende Bedeutungen des Begriffspaars gebräuchlich (siehe etwa Quine 1951; Stegmüller 1986, Kornmesser 2012). In welchem Umfang Schenkers Theorie auf Grundlage einer oder mehrerer dieser Bedeutungen sinnvoll zu beschreiben wäre, ist gegenwärtig ungeklärt. 29 Temperley 2011. 30 Siehe den Beitrag von Michael Polth in diesem Band. 31 Brown 2005. 32 Die zitierten Bestimmungen sind – anders als Brown suggeriert – keineswegs exklusiv.
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Schichtenlehre zentrale Bedeutung zukommt, eine stark normative Komponente, eine Komponente, deren Bestimmung auch davon abhängt, wie man die epistemischen Werte konfiguriert, von denen her einzelne Theorieelemente ihre Legitimität erhalten – Werte wie Logizität, Exaktheit, Reichweite, Spezifik, Differenziertheit, Komplexität, deskriptive Potenz, ästhetische Relevanz oder Anschlussfähigkeit.33 Theoriearchitektur Keiner der bisher genannten Punkte kommt ohne eine Reflexion von Theoriearchitektur aus. Aufgabe einer solchen Reflexion ist es, Theorieelemente und logische Beziehungen zwischen Theorieelementen zu identifizieren, im Detail anzugeben, nach welchen Regeln Strukturen gebildet, aus Strukturen abgeleitet und zu Strukturen ins Verhältnis gesetzt werden sowie aufzuzeigen, welche Metaregeln die Anwendung welcher Regeln regulieren. Reflexion kann explizieren, gewichten, neu verknüpfen oder reformulieren. Wo sie gelingt, beschränkt sie sich nicht darauf, Theorieelemente zu vergegenwärtigen, sondern modelliert sie aus einer eigenen – reflexionsimmanent oder theoretisch begründeten – Perspektive. Auch die wissenschaftstheoretische Klassifikation von Elementen der Schichtenlehre steht keineswegs fest. Als Beispiel mag der Disput zwischen Matthew Brown und Mark DeBellis dienen34: Brown bezeichnet ›Ursatz‹ als theoretischen Begriff, DeBellis dagegen als Beobachtungsbegriff, und zwar deshalb, weil Instanzen des Ursatzes sinnlich wahrnehmbar seien, mithin dem Beobachtbarkeitskriterium entsprächen. Dass dieses Kriterium sich nicht dazu eignet, empirische von theoretischen Begriffen zu unterscheiden, hat freilich bereits Yehoshua Bar-Hillel hervorgehoben.35 Und es wäre ein lohnendes Unterfangen, zu ergründen, ob Joseph D. Sneeds Begriff der T-Theoretizität36 auf Konzepte wie das des Ursatzes sinnvoll angewendet werden kann. Wissenschaftskontext In der aktuellen Musiktheorie begegnet das doppelte Problem, dass traditionelle Varianten der Schenker-Analyse nur begrenzt anschlussfähig und anschlussfähige nur begrenzt leistungsfähig sind. Dass etwa Emilios Cambouropoulos den Begriff der Stimmführung systematisch aufzuarbeiten sucht, die Schenkerianische Perspektive dabei aber unberücksichtigt lässt37, ist nicht allein der Spezifik des kognitionspsy33 34 35 36
Siehe etwa ebd., 18–24. Brown 2005; DeBellis 2010. Stegmüller 1980, 8f., siehe dagegen Schurz 2008, 186. »Eine Größe ist T-theoretisch, wenn ihre Messung stets die Gültigkeit eben dieser Theorie T voraussetzt.« (Stegmüller 1986, 33. Siehe auch Schurz 2008, 184–188.) 37 Cambouropoulos 2008.
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chologischen Diskurszusammenhanges anzulasten, dem Cambouropoulos angehört, sondern ebenso der Tatsache, dass sich die Analyse nach Schenker nicht hinreichend darum bemüht, auch für angrenzende Disziplinen wie etwa Music Cognition methodisch akzeptable Resultate zu formulieren. Umgekehrt ist es anschlussfähigen Aktualisierungen der Schichtenlehre bisher nicht gelungen, Modelle zu formulieren, deren Komplexität an die der Schichtenlehre heranreicht. Lerdahls und Jackendoffs Generative Theory of Tonal Music 38 etwa zeigt bei aller Exaktheit gegenüber Schenkers ursprünglicher Theorie doch eine beträchtlich eingeschränkte Reichweite – etwa hinsichtlich ihres Vermögens, kontrapunktische Relationen abzubilden. Je stärker die Disziplin Musiktheorie durch empirische und formalwissenschaftliche Methoden bestimmt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Schenkerianische Diskurse als wissenschaftlich irrelevant wahrgenommen werden. Auf der anderen Seite bestätigt die analytische Unterkomplexität bisheriger szientifischer Reformulierungen (wie etwa die der Generative Theory of Tonal Music) traditionelle Schenker-Analytiker in ihrer Tendenz, innerhalb der Grenzen ihres Spezialdiskurses zu verharren. Eine der schwierigen Aufgaben, vor denen die Schenkerrezeption steht, besteht denn auch darin, Instrumente des Dialogs zu finden, die es erlauben, das jeweils eigene Tun für methodisch divergente Ansätze transparent zu halten.
Rationale Rekonstruktion Rationale Rekonstruktion und Schenkerian Analysis Die Freilegung extra- und metatheoretischer Voraussetzungen der Theorie Schenkers, die wissenschaftstheoretisch informierte Durchdringung ihrer Struktur wie auch die Förderung und Reflexion ihrer Weiterentwicklung sind zentrale Aufgaben einer Schenker-Forschung, die Schenkers Theorie nicht allein als historisches Faktum, sondern als relevanten Beitrag auch zur heutigen Musiktheorie begreifen möchte. Im Rahmen dieser Aufgaben nun bildet rationale Rekonstruktion ein Instrument von zentraler Bedeutung. In die Schenker-Diskussion ist der Terminus ›rationale Rekonstruktion‹ von Matthew Brown eingeführt worden.39 Nach einigen früheren Arbeiten zum The38 Lerdahl / Jackendoff 1983. 39 Browns Dissertation von 1989 trägt den Titel: »A Rational Reconstruction of Schenkerian Theory«. – Der Terminus ›rationale Rekonstruktion‹ wurde zwar bereits vor Brown im musiktheoretischen Kontext verwendet (siehe etwa Babbitt 1965, Fußnote 16), erst Brown aber hat die rationale Rekonstruktion einer bestimmten Theorie zu einem eigenständigen Projekt der Musiktheorie erhoben. – Innerhalb des deutschen Sprachraums war es vermutlich Gerhard Engel, der den Terminus zuerst auf Schenker bezog: »Schenkers Analysemethode hat auch für den heutigen
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ma40 hat Brown mit Explaining Tonality41 einen großangelegten Versuch vorgelegt, die Schenker’sche Theorie einer systematischen Revision zu unterziehen.42 Die »Naturalisierung« Schenkers, die Brown vorschwebt, ist gleichbedeutend mit einer Reformulierung der Schichtenlehre als empirisch adäquate Theorie funktionaler Tonalität, als eine Tonalitätstheorie also, die erstens der Annahme entspricht, es sei grundsätzlich möglich und sinnvoll, intersubjektiv überprüfbare gesetzesartige Aussagen über musikalische Phänomene und durch sie hervorgerufene emotionale Zustände zu treffen43, und zweitens den Maßstäben von Genauigkeit, Reichweite, Fruchtbarkeit, Konsistenz, Einfachheit und Kohärenz auf bestmögliche Weise entspricht.44 Browns Rekonstruktionsprojekt geriet allerdings gleich mehrfach in die Kritik: Aus wissenschaftstheoretischer Perspektive wurde die terminologische Korrektheit der Brown’schen Argumentation bezweifelt45, aus musikwissenschaftlicher die unreflektierte Übertragung eines naturwissenschaftlichen Wissenschaftsmodells auf einen geisteswissenschaftlichen Gegenstand moniert – samt ihren Begleiterscheinungen der historischen Dekontextualisierung, Marginalisierung ideologischer Implikationen und Ausblendung des Konstruktcharakters von Theorie.46 Eine Auseinandersetzung mit Browns Publikation liegt jenseits der Möglichkeiten dieses Beitrags; hier soll der Einwand genügen, dass bereits das erklärte Ziel des Buches, zu begründen, weshalb
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Musikwissenschaftler nur wenig von ihrer Faszination eingebüßt […]. Dennoch ist sie wegen ihrer nicht ausreichenden Trennung von formalen, psychologischen, naturphilosophischen und geltungstheoretischen Aspekten musikalischer Strukturen dringend entwicklungsbedürftig. In der Sprache der modernen Wissenschaftstheorie ausgedrückt: Ohne eine Rekonstruktion des Schenker’schen Ansatzes mit Hilfe neuerer formaler und empirischer Erkenntnisse wird sein theoretischer Gehalt nicht auszuschöpfen sein.« (1990, 261–263) Engels Vorschlägen, die Schichtenlehre zu rekonstruieren, mangelt es freilich an Einsicht selbst in elementare ihrer Prinzipien. Brown 1989; 1996. Brown 2005. Vgl. Brown 2005, xvi: »First, no one has ever offered a convincing argument to show why we should accept Schenker’s concepts as necessary and sufficient for explaining functional tonality. As I see it, such an argument requires us to reconstruct them systematically from the ground up. This is precisely what I hope to accomplish in the present volume.« Vgl. Brown 1996, Abschnitt 13: »…naturalized music theory suggests that the issue of evaluating theories and analyses is closely entwined with the matter of empiric demonstration. It puts a premium on the idea that music theories and analyses should be judged according to their empiric adequacy—that is, whether they fit the physical facts—and their predictive power—that is, whether they predict how particular musical relationships will occur in future instances. In other words, it accepts the possibility of constructing law-like generalizations about musical phenomena and the emotional states that [they] create, and that these generalizations can be confirmed by other people.« Brown 2005, 18–24 sowie passim. DeBellis 2010. McDonald 2007.
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man »Schenkers Konzepte als notwendige und hinreichende Erklärungen funktionaler Tonalität anzusehen« habe, als fragwürdig erscheinen muss.47 »Eine Rekonstruktion«, so meine ich mit Wolfgang Stegmüller, »kann zu einer teilweisen oder vollständigen Rechtfertigung einer […] Theorie führen, soll aber nicht von vornherein als eine solche Rechtfertigung intendiert sein.«48 Damit stellt sich die Frage, worin, wenn nicht in ihrer Affirmation, das Ziel einer rationalen Rekonstruktion der Schichtenlehre bestehen soll. Bevor allerdings diese Frage beantwortet werden kann, sei genauer beleuchtet, was man sich unter ›rationaler Rekonstruktion‹ überhaupt vorzustellen hat. Zur Begriffsgeschichte Der Ausdruck ›rationale Rekonstruktion‹ geht auf Rudolf Carnap und Hans Reichenbach zurück: Carnap etwa definiert das »in Stufen geordnete System der Gegenstände«49, das er in Der logische Aufbau der Welt entwickelt, als »rationale Nachkonstruktion des gesamten, in der Erkennntis vorwiegend intuitiv vollzogenen Aufbaues der Wirklichkeit« (1998, 139). Ähnlich Reichenbach, der die Logik als Analyse nicht des »wirklichen Denken[s]«, sondern seiner »rationale[n] Rekonstruktion« aufgefasst wissen will (1999, 1). Mit leicht anderem Akzent verwendet Carnap den Begriff in späteren Publikationen, und zwar im Sinne der (idealsprachlichen) Explikation normalsprachlicher Äußerungen: Unter »rationaler Nachkonstruktion« ist hier das Aufsuchen neuer Bestimmungen für alte Begriffe verstanden. Die alten Begriffe sind gewöhnlich nicht durch überlegte Formung, sondern durch spontane Entwicklung mehr oder weniger unbewußt entstanden. Die neuen Bestimmungen sollen den alten in Klarheit und Exaktheit überlegen sein und sich vor allem besser in ein systematisches Begriffsgebäude einfügen. Eine solche Begriffsklärung, heute oft ›Explikation‹ genannt, scheint mir immer noch eine der wichtigsten Aufgaben der Philosophie zu sein, insbesondere, wenn sie sich auf die Hauptkategorien des menschlichen Denkens bezieht.50
47 Vgl. Neumeyer 2010: »Brown believes that there is implicit in Schenker’s work a fully adequate, rationally demonstrable theory of monotonal functional tonality that models what the expert composer/listener knows. All this precedes the book, which resembles nothing so much as a triumphal run to victory, leaping over all obstacles on the way.« 48 Stegmüller 1970, 5. 49 1998, 34. 50 Carnap 1961, XVII; siehe auch Beaney 2004.
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Seither ist der Terminus in einer Vielzahl von Bedeutungsvarianten gebraucht worden.51 Von besonderem Einfluss auf die wissenschaftstheoretische Diskussion waren dabei die Arbeiten Wolfgang Stegmüllers: 1967 legte Stegmüller eine exemplarische Studie zu »Kants Metaphysik der Erfahrung« vor52, eine Studie, in deren erstem Teil grundsätzliche Eigenschaften rationaler Rekonstruktionen zur Sprache kommen, während die Rekonstruktion des Kant’schen Denkzusammenhangs selbst noch als weitestgehend normalsprachliche philosophische Interpretation durchgeführt ist. Stegmüllers spätere Arbeiten zum Thema folgen der als ›Non-Statement-View‹ oder ›strukturalistisches Theorienkonzept‹ bekannten Wissenschaftstheorie – eine Theorie, die 1971 von Joseph D. Sneed begründet und im Anschluss von Stegmüller und anderen in einer Vielzahl von Publikationen dargestellt und weiterentwickelt wurde.53 Für das hier vertretene Konzept von rationaler Rekonstruktion allerdings ist nicht die strukturalistische Wissenschaftstheorie, sondern der von Axel Bühler (2002) vertretene offene Rekonstruktionsbegriff maßgeblich, ein Rekonstruktionsbegriff, der weder an ein spezielles Theoriekonzept noch eine spezielle Methode der Rekonstruktion gebunden ist, sondern Rekonstruktion als eine »Art der Textinterpretation« (2002, 118) in den Blick nimmt, die sich von ›Direktinterpretation‹ (ein Terminus Stegmüllers) dadurch unterscheidet, »dass sie in ihren Resultaten vom Inhalt des interpretierten Textes abweicht oder ihn gar ergänzt« (ebd.): Wenn wir in einer Argumentation Mängel […] feststellen, dann ergänzen wir oftmals die Argumentation durch vom Autor nicht aufgeführte Prämissen […], wir ersetzen vom Autor verwendete Prämissen durch andere oder wir bedienen uns bei der Darstellung anderer Begriffe als der Autor selber. Haben wir es mit einer Theorie zu tun, dann treffen wir oft begriffliche Unterscheidungen, die der Autor nicht gemacht hat, formulieren Einzelthesen, die der Autor nicht hervorgehoben hat, oder stellen die Theorie als konsistente Aussagenmenge dar, was dem Autor möglicherweise nicht gelungen war.54
Beispiele für rationale Rekonstruktionen sind nach Bühler zunächst »Begriffsexplikationen und Systematisierungen von Thesen oder Theorien«. Aber auch «in der Zeit sich abspielende Prozesse werden […] rational rekonstruiert.«55 Spezifisch für rationale Rekonstruktion ist der normative Gebrauch von Rationalitätsstandards:
51 52 53 54 55
Lakatos 1971; Mittelstraß 1981; Carrier 1986; Scholtz 1992, Schurz 2008. Stegmüller 1970. Siehe etwa Stegmüller 1980; 1986; Balzer 1982; Balzer / Moulines / Sneed 1987 Bühler 2002, 118. Ebd., 119.
Rationale Rekonstruktion der Schichtenlehre Heinrich Schenkers Die Rationalitätsstandards des Autors der rationalen Rekonstruktion schreiben vor, welche Weiterentwicklungen einer Theorie oder einer Argumentation vorzunehmen sind. Die Rationalitätsstandards legen fest, was rational gewesen wäre, wenn der Autor des interpretierten Textes sich anders verhalten hätte. Der Vergleich mit dem Rationalitätsstandard ergibt, dass der Autor ihm nicht entsprochen hat; und aus der normativen Verwendung eines Rationalitätsprinzips resultiert eine negative Bewertung der Handlung als nicht-rational.56
Dabei stehen Rationalitätsstandards keineswegs von vornherein fest: Bezüglich von Argumentationen, die wir in Texten finden, wird die Aufgabe der rationalen Rekonstruktion sein, sie so zu modifizieren, dass sie schlüssig werden (und die Prämissen miteinander konsistent). Schlüssigkeit ist eine Anforderung der Rationalität an Argumentationen. Zu beachten ist, dass keineswegs eindeutig festgelegt ist, was als rational zu gelten hat. Dementsprechend ist eine je gegebene rationale Rekonstruktion von dem jeweils zu Grunde gelegten Rationalitätsstandard abhängig.57
Anforderungen Die Anforderungen, denen rationale Rekonstruktionen zu genügen haben, hat Wolfgang Stegmüller in der oben genannten vorstrukturalistischen Schrift präzisiert: Erstens soll »die Theorie in solcher Form dargeboten werden, dass die Darstellung mit den Grundideen des betreffenden Philosophen im Einklang bleibt«, zweitens »mittels präziser Begriffe dargestellt werden« und drittens als »konsistente Theorie entwickelt werden, falls dies möglich ist.«58 Jeder dieser Punkte bedarf der Erläuterung. Ad 1) Jede rationale Rekonstruktion erzeugt eine Differenz zur Ausgangstheorie. Gleichzeitig soll diese Differenz durch so etwas wie eine höhere Identität aufgehoben sein. Maßgeblich sind die »Grundideen des betreffenden« Autors. Worin die Grundideen eines Autors bestehen und wann eine Darstellung sich mit ihnen im Einklang befindet, ist freilich in hohem Maße interpretationsbedürftig. Konzepte dissonanter Prolongation beispielsweise59 setzen ein zentrales technisches Prinzip der Schichtenlehre außer Kraft: die Bindung von Prolongation an die Konsonanz des prolongierten Klanges. Ob Stegmüllers Bedingung durch diesen Umstand verletzt wird oder nicht, hängt nicht zuletzt davon ab, ob das Prinzip der konsonanten Prolongation oder aber 56 57 58 59
Ebd., 126. Ebd., 120. Stegmüller 1970, 2. Morgan 1976; Straus 1987; Väisälä 2004.
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das der Prolongation schlechthin als Grundidee gelten soll. Bühler schlägt als generelle Urteilsgrundlage ein quantitatives Kriterium vor: Von derjenigen Rekonstruktion R, die mehr zentrale Textstellen berücksichtigt, wird sich eher sagen lassen, dass sie die Theorie des untersuchten Autors weiterentwickelt. Von der Rekonstruktion R’ dagegen, die nur wenigen zentralen Passagen des Autors gerecht wird, wird man dagegen nicht – oder nur mit größeren Einschränkungen – sagen können, sie diene der Entwicklung derselben Theorie.60
Die Frage, ab wann eine modifizierte Variante ihre Ausgangstheorie hinter sich lässt, ruft im Übrigen auch die komplementäre auf, was eine Rekonstruktion von einer bloßen Modifikation unterscheidet. Viele Beiträge zur Schenkerian Analysis liefern Ergänzungen oder Präzisierungen, ohne dass sich ihre Prämissen von denen Schenkers wesentlich unterscheiden: Sie stehen nicht nur im »Einklang« »mit den Grundideen« Schenkers, sondern bleiben seinem Ansatz auch weitgehend verhaftet. Carl Schachters Studien zu einer Schenkerianischen Rhythmik und Metrik etwa61 bearbeiten theoretische Fragen, die in der Ausgangstheorie unausgeführt geblieben sind, führen aber keine grundlegend neuen Konzepte oder Methoden ein. Als Rekonstruktionen wird man sie kaum rubrifizieren wollen. Rationale Rekonstruktion verlangt mithin die Reformulierung einer Theorie oder einer ihrer Komponenten von einem substantiell unterschiedlichen Standpunkt aus (wie auch immer das Kriterium der substantiellen Differenz operationalisiert werden mag). Ad 2) Das Konzept von Begriffsexplikation, das Rudolf Carnap vorschlug, zielte auf ein Höchstmaß an begrifflicher Genauigkeit – eine Genauigkeit, die nur mithilfe einer logischen Idealsprache zu erreichen war. Letztere Bedingung freilich führte zu dem Dilemma, dass die rationale Rekonstruktion einer Theorie zwar aus prinzipiellen Gründen wünschenswert, aus pragmatischen aber unmöglich erschien: Die Komplexität einer idealsprachlichen Übersetzung aller Einzelaussagen, aus denen eine Theorie (traditionellen Theorienkonzepten zufolge) besteht, lässt jeden Rekonstruktionsversuch als praktisch unrealisierbar erscheinen.62 Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet – Stegmüller zufolge – das strukturalistische Theorienkonzept: die »axiomatische Beschreibung der Grundstruktur einer Theorie mit Hilfe eines informellen mengentheoretischen Prädikates« 63, ihre »informelle Formalisierung«.64 Ob Schen60 61 62 63 64
Bühler 2002, 124 Schachter 1976; 1980; 1987. Stegmüller 1986, 20. Ebd., 31. Ebd., 21. – »Die Wendung ›Formalisierung‹ soll kein formalsprachliches Vorgehen andeuten, sondern allein darauf hinweisen, daß dieses axiomatische Vorgehen dem Präzisionsstandard der heutigen Mathematik genügt. Und das »Attribut ›informell‹ beinhaltet, daß als mengentheoretisches
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kers Schichtenlehre einer methodisch analogen rationalen Rekonstruktion zugänglich wäre, ist bislang ungeklärt. Soll der Rekonstruktionsbegriff allerdings als Instrument einer metatheoretischen Reflexion produktiver Schenker-Rezeption zur Verfügung stehen, mithin imstande sein, Reformulierungen der Schichtenlehre als rekonstruktiv oder nicht-rekonstruktiv zu differenzieren, kommt eine Beschränkung auf den strikten Rekonstruktionsbegriff des strukturalistischen Theorienkonzepts nicht in Frage. Zielführender erscheint der bereits oben skizzierte offene Rekonstruktionsbegriff Bühlers – ein Rekonstruktionsbegriff, der die Rationalitäts- und Präzisionsstandards eines Rekonstruktionsprojekts von der Perspektive abhängig macht, unter der ein Theoriezusammenhang rekonstruiert wird. Entsprechend offen ist denn auch Bühlers Bestimmung des Präzisionskriteriums: Auch die Forderung nach Präzision der Begriffe werden wir nicht als eine Forderung nach absoluter Präzision auffassen dürfen. Wenn wir es nicht mit mathematischen Begriffen zu tun haben, kann eine rationale Rekonstruktion nur dazu führen, dass die Präzision von Begriffen erhöht wird, nicht aber dazu, dass eine vollständige oder ideale Präzision erreicht würde.65
Ad 3) Das Konsistenzgebot fasst Stegmüller wie folgt: Wenn zwei verschiedene rationale Rekonstruktionen gegeben werden können, die sich aufgrund der anderen Maßstäbe [der Exaktheit, des Einklangs mit der Originaltheorie, des Umfangs] als gleichwertig erweisen, sich jedoch dadurch voneinander unterscheiden, daß nur eine davon die interpretierte Theorie als eine konsistente Theorie wiedergibt, dann sollte dieser letzteren Darstellung der Vorzug gegeben werden«.66
Bühler akzentuiert demgegenüber die Relativität des Konsistenzgebots: Der Forderung nach der Konsistenz der rationalen Rekonstruktion werden wir oft nur in Bezug auf unseren jeweiligen Wissensstand nachkommen können: Die rationale Rekonstruktion soll im Lichte unseres besten Wissens konsistent sein. Konsistenzbeweise sind in sehr vielen Fällen ja gar nicht möglich.67 Grundsymbol das Zeichen ›∈‹ für die Elementschaftsrelation gewählt wird und die logischen Ausdrücke in ihrer üblichen umgangssprachlichen Bedeutung zu verstehen sind, allerdings ausgestattet mit den bekannten Normierungen im Fall des ›wenn…dann---‹. Insbesondere sind Junktoren und Quantoren keine Zeichen einer formalen Sprache, sondern bloße Abkürzungen.« (Stegmüller 1986, 21) 65 Bühler 2002, 120. 66 Stegmüller 1974, 4. 67 Bühler 2002, 120.
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In Bezug auf den Gegenstand Schichtenlehre ist das Konsistenzgebot insofern von besonderer Bedeutung, als es heute kaum mehr möglich scheint, hinter die Pluralität möglicher Rekonstruktionen zurückzufallen: Versteht man rationale Rekonstruktion als Reformulierung einer Theorie aus der Perspektive eines anderen Wissenszusammenhangs (und nicht als das Ergebnis einer bestimmten Methode), ist man gezwungen, sich von der Idee zu verabschieden, eine einzige Rekonstruktion vermöchte sämtliche Möglichkeiten auszuloten, die aus dem Dialog zwischen Rekonstruierendem und Rekonstruiertem entstehen können. Auch die Idee einer umfassenden Rekonstruktion, eines integralen Entwurfs mit einem Systemanspruch und einer Reichweite, die denjenigen des Originals entsprechen, mutet angesichts des Differenzierungsprozesses, den die Wissenschaften seit Schenkers Tod durchlaufen haben, utopisch an. Es scheint, als sei Rekonstruktion unter den gegenwärtigen Bedingungen eher als kollektives Unternehmen zu realisieren, ein Unternehmen, in dem zahlreiche Einzelstudien mehr oder minder unabhängig voneinander und unter jeweils eigenen Prämissen diversen durch Schenkers Theorie angeregten Teilfragen nachgehen. Rekonstruktive Operationen Rationale Rekonstruktion erfasst qua definitionem nicht sämtliche Komponenten einer Theorie – sie modifiziert, aber baut nicht von Grund auf neu. Der partielle Zugriff auf eine Theorie aber ist gleichbedeutend mit einer Selektion zu rekonstruierender Aspekte. Dabei besteht eine Vielzahl möglicher rekonstruktiver Operationen – darunter beispielsweise… …die Neurahmung (etwa durch eine Rekonstruktion metatheoretischer Prämissen), …die Neukartierung von Geltungsbereichen (wie sie etwa vorzunehmen wäre, wollte man das Verhältnis von Schenker’scher Struktur und traditionellem Formbegriff nicht als Ausschluss-, sondern Ergänzungsverhältnis modellieren), …die Änderung innerer Begründungsstrukturen (wie bei dem immerhin denkbaren Versuch, die Gültigkeit des Prinzips der sekundweisen Fortschreitung nicht im Rekurs auf die Tradition der Kontrapunktlehre, sondern auf statistische Regularitäten musikalischer Korpora zu begründen68), …die Rekonzeptualisierung des deskriptiven Instrumentariums selbst (etwa durch Präzisierung, Disambiguierung, Systematisierung, Vereinfachung, Vereinheitlichung, Differenzierung, Ergänzung, Erweiterung und Rekonzeptualisierung) sowie 68 Huron 2006, 158–163.
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…die Rekonstruktion durch Formalisierung (etwa mithilfe der informellen Mengenlehre, die in der strukturalistischen Wissenschaftstheorie zur Axiomatisierung von Theorien herangezogen wird). Ziele einer rationalen Rekonstruktion der Schichtenlehre Rationale Rekonstruktion, so wurde gesagt, zielt darauf ab, eine bestehende Theorie veränderten Rationalitätsstandards anzupassen. Eben darum ist es auch der rationalen Rekonstruktion der Schichtenlehre zu tun. Wenn allerdings Rationalitätskriterien nicht a priori feststehen, gleiche Rationalitätskritierien auf disziplinär und methodisch verschiedene Weise operationalisiert werden können und nicht jeder Rekonstruktionsversuch eine Theorie als ganze im Blick hat, ist ›rationale Rekonstruktion‹ zunächst nicht mehr als ein Label zur methodologischen Charakterisierung eines bestimmten Teils produktiver Rezeption (und zwar all derjenigen Reformulierungen einer Theorie, die erstens als rational gelten können und sich zweitens vom reformulierten Original methodisch und / oder disziplinär hinreichend stark unterscheiden). Darüber hinaus könnte der Rekonstruktionsbegriff aber auch als Reflexionsbegriff und methodologischer Bezugspunkt dienen: Ein Forschungsprojekt von vornherein als rationale Rekonstruktion aufzufassen erlaubte es, seine Prämissen, Konzepte und Resultate im Dialog mit einem übergreifenden Rekonstruktionsdiskurs zu entwickeln, einem Diskurs, der die methodologische Reflexion einer Vielzahl rekonstruktiver Projekte aufnimmt, weiterdenkt und allgemein verfügbar macht. In diesem Sinne bliebe die rationale Rekonstruktion der Schichtenlehre Heinrich Schenkers ein Desiderat – ein doppelt unabschließbarer Prozess aus Entwicklung und Reflexion, ein methodologisches Projekt, das verspricht, Fragen nach dem Aufbau der Theorie, ihren internen Begründungsstrukturen und der Logik ihrer deskriptiven Kategorien umfassender und reflektierter zu beantworten als bisher.
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Kein anderer Begriff unterlag in Heinrich Schenkers Denken einem so tiefgreifenden Bedeutungs- und Wertungswandel wie jener des Motivs. Diese Entwicklung, die etwa Allen Cadwallader und William Pastille in ihrem Aufsatz »Schenker’s HighLevel Motives«1 detailliert nachvollzogen haben, soll zunächst zusammenfassend skizziert werden. Allerdings, um dann des Näheren auf eine Idee hinzuweisen, die in Schenkers Werken der 1920er Jahre aufscheint, in Der freie Satz jedoch wieder in den Hintergrund tritt: die Idee einer Wiederholung für das Werk charakteristischer Motive in verschiedenen Schichten und Zeitdauerdimensionen. Zu Beginn der Harmonielehre (1906) nennt Schenker das Motiv die »einzige Ideenassoziation überhaupt, die die Musik aufweist.«2 Erst durch die »Entdeckung« des Motivs sei die Musik zur Kunst geworden. Schenker definiert das Motiv als »Tonreihe, die zur Wiederholung gelangt«3, und zwar zur »unmittelbaren« Wiederholung.4 Denn »solange [...] die sofortige Wiederholung fehlt, ist die Reihe [...] vorläufig nur als unselbständiger Bestandteil eines höheren Ganzen zu betrachten.«5 Drei Faktoren konstituieren somit den Motiv-Begriff der Harmonielehre: 1. Es werden im Wesentlichen melodische Strukturen (»Tonreihen«) fokussiert. Nur »beiläufig« bediene sich die Musik »auch in ihren übrigen Elementen (wie z. B. im Rhythmus, in der Harmonie etc.) der assoziativen Wirkung der [...] Wiederholung.« 6 2. Erst durch Wiederholung wird eine Tonreihe zum Motiv. 3. Notwendig ist die Unmittelbarkeit der Wiederholung, welche die Abgrenzung des Motivs auf der Wahrnehmungsebene erst gewährleistet. 1 Cadwallader / Pastille 1992. 2 Schenker 1906, 4. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Ebd., 4f. 6 Ebd., 6.
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Vor dem Hintergrund der Theorietradition des 19. Jahrhunderts fällt vor allem die radikal inhaltlich geprägte Auffassung auf: Für Umfang und Art der kleinsten Wiederholungsstruktur, als welche das Motiv gilt, werden keinerlei formale Kriterien formuliert – ähnliches gilt ja auch für Umfang und Inhalt der ›Stufe‹. Als ideengeschichtlicher Hintergrund tritt zudem ein biologistischer Ansatz hervor: Ursache des Wiederholungsprinzips sei der Fortpflanzungstrieb: »In der Natur: Fortpflanzungstrieb - Wiederholung - individuelle Art; in der Tonwelt ganz so: Fortpflanzungstrieb - Wiederholung - individuelles Motiv«.7 Das Motiv wird als Individuum verstanden, als »dramatischer Held«8, dessen Lebensgeschichte in ihren charakteristischsten Momenten dargestellt wird. Die hier aufscheinende Strukturidee könnte man als ›dynamisches Organismusmodell‹ beschreiben: Motiv-Individuen setzen sich mit ihrer Tonumwelt und mit anderen Motiv-Charakteren auseinander, verbinden sich, leben sich aus, widerstreiten einander. Im ersten Kontrapunkt-Halbband (1910) legt Schenker dar, dass das Prinzip des ›fließenden Gesangs‹, d. h. einer vornehmlich auf Sekundschritten basierenden Stimmführung, auch im ›freien Satz‹ latent wirksam sei. Dieser Denkansatz erweist sich als der entscheidende Katalysator für die Entwicklung der Schichtenlehre. In der Analyse des es-Moll-Präludiums aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers (1921) verwendet Schenker bereits den Begriff ›Urlinie‹ (Beispiel 12.1): Diese habe »die Form eines im Grunde dreitönigen Motivs [...], dessen Fortpflanzungstrieb9 zahllose Wiederholungen gebiert.«10 Das angesprochene Motiv ist eine Folge von zwei fallenden Sekunden – die Bezeichnung ›Zug‹ fehlt noch. Schenkers Text preist die Mannigfaltigkeit der Kontexte und Verknüpfungen, in denen das ›UrlinieMotiv‹ erscheint. Im Lichte seiner späteren, differenzierteren Analysetechnik scheint er im Bemühen, die Omnipräsenz des Terzfalls aufzuweisen, bisweilen über das Ziel hinauszuschießen.11 ›Motiv‹ meint hier also eine wenig charakteristische Folge von Stimmführungs tönen, die vielfach wiederholt wird. Allerdings ist die dritte der oben genannten Konstituenten – die unmittelbare Wahrnehmbarkeit als prägnante Tonfigur – kaum mehr gewährleistet: Es handelt sich bereits um ein ›verborgenes‹ Motiv. 7 Ebd. 8 Ebd., 20. 9 Hier verweist Schenker auf die Harmonielehre (Schenker 1906, 4). 10 Schenker 1921, 38. 11 In Takt 39 nimmt Schenker ein Mittelstimmen-Motiv ces1-b-as an, ohne im Text darauf einzugehen: Im Notentext erscheint b jedoch nur als 16tel-Nebennote vor ces1, as als Achtel innerhalb einer Brechung des verminderten Septakkords. Schenker konstruiert so eine Stimmtausch-Parallelität zu Takt 23/24. In diesem Zusammenhang erscheint wiederum unklar, warum in Takt 23/24 die Töne b 1-as 1-ges 1 das ›Urlinie‹-Motiv formieren, während in Takt 39 die übergebundene Sept ces1 den Anfangston des Terzmotivs bildet.
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Im zweiten Meisterwerk-Jahrbuch (1926) erscheint im Aufsatz »Vom Organischen der Sonatenform« eine Analyse von Haydns g-Moll-Sonate op. 54 Nr. 1. Schenker bezeichnet hier eine Vielzahl unterschiedlicher Prolongationsformen des Mittel- und Vordergrunds als ›Motive‹ und fordert zudem eine Bedeutungsabstufung aufgrund der jeweiligen Schichtenverankerung: »Hätte die Theorie Kunde von diesen Zusammenhängen, sie müsste vor allem die Brechungen als Motive höchster Ordnung werten [...], nun erst hätte sie auch von den Motiven niederer Ordnung zu sprechen, als da sind: der Sextzug in T. 1–2, der Terzzug in T. 3–4, der Septzug des3–e 2 in T. 10–11, der Sextzug aufwärts mit dem 5-6-Auswechslungssatz in T. 14–17 usf.; die Diminutionswechsel in T. 5, 6–8 (hier die Übergreifzüge), beim 2. Gedanken T. 12ff. usf. Tut sie das? Nein, für sie kommen [...] höchstens die Tonfolgen in Betracht, die früher oder später zu genauen Wiederholungen gelangen«.12 (Beispiel 12.2) 12.2 | 75 Zu entnehmen ist hier dreierlei: 1. Der Motivbegriff löst sich gleichsam auf in die verschiedenen Prolongationsformen, welche Schenker mit der Entwicklung der Schichtenlehre begrifflich gefasst hat. Pastille / Cadwallader schreiben hierzu: »Here the term ›motive‹ is clearly applied to the constituent transformative elements of Schenker’s method – that is, linear progressions, arpeggiations, octave transfers, and the like. These abstract elements now have the status of motives in Schenker’s thought; indeed, these elements are his high-level motives.«13 2. Im Sinne dessen tritt das Merkmal der Wiederholung in seiner Bedeutung zurück: Die in der Analyse benannten ›Motive‹ werden nicht oder allenfalls in der Reprise wiederholt. 3. Der Motivbegriff entzweit sich: in eine schenkerspezifische Interpretation im Sinne der Schichtenlehre einerseits und in den pejorativ bewerteten traditionellen Motivbegriff andererseits. In Der freie Satz (1935) schließlich distanziert sich Schenker völlig vom Motiv- Begriff.14 Er wird gleichsam zum Feindbild, zum Inbegriff aller Unzulänglichkeit der konventionellen Musiktheorie. Auf der anderen Seite war jener neugefasste Begriff, den Schenker in den Jahr büchern noch auf seine Schichtenlehre bezogen hatte, im Zuge der letztgültigen Ausformung seiner Theorie sinnlos geworden. Durch die terminologische Ausdifferenzierung verschiedenster Stimmführungsphänomene hatte Schenker den Motiv-Begriff – bildlich gesprochen – zum Platzen gebracht. Zudem ging es ihm immer darum, den Originalitätsanspruch seiner Theorie auch durch eine originäre Terminologie zu untermauern: Der traditionsbefrachtete Motiv-Begriff war zum ›Fremdkörper‹ geworden. 12 Schenker 1926, 48. 13 Cadwallader / Pastille 1992, 132. 14 Schenker 1956.
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In Der freie Satz betont Schenker weiterhin die Bedeutung des Wiederholungsprinzips, das nun allerdings vom Motivischen losgelöst erscheint: Zu den »sofort erkennbaren«, »nachahmenden« Wiederholungen15 seien später die »mehr verborgenen« Wiederholungen gekommen: Diese »haben der Musik [...] weiteste Spannungen und Ziele gewiesen; also konnten auch umfangreichste Tongebilde sich auf Wiederholungen stützen!« Und weiter: »Daß aber neben den neuen Arten von Wiederholungen und inmitten dieser sich auch noch die ersten Formen sofort erkennbarer Wieder holungen behauptet haben, versteht sich schon aus ihrem Sinn; jede Art von Wiederholung ist an ihrem Platze gut und fördernd. In der Ableitung von Tonfolgen aus dem Einfachsten haben wir vor allem diese neue Art von Wiederholung zu erkennen«.16 Schenker versteht unter diesen ›verborgenen‹ Wiederholungen vor allem die Übertragung der Ursatz-Formen, aber auch von Zügen, Brechungen, Wechselnoten usf. aus den früheren in die späteren Schichten. Die in Der freie Satz angeführten Beispiele für ›verborgene‹ Wiederholungen beziehen sich eigenartigerweise zumeist auf den Vordergrund.17 Selten werden schichtenübergreifende Bezüge hergestellt. Die zur Wiederholung gelangenden Strukturen sind – wie Schenker selbst schreibt – »so unscheinbar, so atomhaft«, dass sie »manchmal noch nicht einmal unter den Begriff eines Motivs fallen«.18 Allen Beispielen für ›verborgene‹ Wiederholungen sind folgende drei Aspekte gemeinsam: 1. Die Wiederholungsstrukturen entsprechen – soweit es sich nicht nur um einzelne Intervalle handelt – immer einem der von Schenker typisierten Stimmführungsbegriffe. 2. Keine der angeführten Wiederholungsstrukturen ist für das jeweilige Werk prägend in dem Sinne, dass sie als Ausgangspunkt der Entwicklung individueller Charakteristika fungieren. Vielmehr wird gerade das »semper idem« des Ursatzes und der Prolongationsformen betont. 3. Bei den aufgezeigten Beispielen spielt Chromatik keine konstitutive Rolle. Ausschlaggebend sind immer die diatonischen Strukturen. Chromen werden – wie auch sonst – entweder als bloße ›Einfärbungen‹ oder als Mittel der ›Inhaltsmehrung‹ und Retardation gewertet. In den Tonwille-Analysen akzentuiert Schenker demgegenüber sehr deutlich die Intention, das Besondere, Einzigartige der Werke offenzulegen: So schreibt er im zweiten Heft etwa zu Beethovens Sonate op. 2 Nr. 1, I. Satz: »Die eigenen Merkmale dieses Tongebildes, wodurch es sich in seiner Besonderheit von allen anderen abscheidet, 15 16 17 18
Ebd., 154. Ebd., 155. Ebd., Fig. 119. Ebd., 155.
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treten gleich in T. 1–8 hervor«.19 Schenker beschreibt ein Bündel thematischer Merkmale, die er später als »Urmerkmale«20 oder »Urmale«21 anspricht. Ähnliches formuliert er zu Beginn der Analyse von Mozarts a-Moll-Sonate KV 310:22 »Ein Sechzehntelvorschlag dis2 – und nicht allein der erste Ton der Urlinie e 2 ist gezeugt, sondern, eine wahre creatio ex nihilo, der ganze erste Satz! Schon der erste Schöpfungsatem entwirft die Besonderheit des neuen Tonlebendigen, bestimmt Maß und Inhalt des Ganzen wie der Teile.« Analytisch noch intensiver löst Schenker die hier aufscheinende Idee in zwei 1924 publizierten Analysen ein: Im ersten Satz von Beethovens Appassionata sei das »Umschreiben der 5 mittels der 6«, somit die Nebennote c-des-c das Urlinie-Motiv, »das fortan alle Teile des Satzes ausfüllt.«23 (Beispiele 12.3.1 und 12.3.224) Das »tiefste Geheimnis dieser Komposition« sei die »im Zwang der Nebennote des Urlinie-Motivs begründete Verkettung aller Teile.«25 Die fallende Sekunde des-c als »Teilmotiv« wird in der Unterstimmenbewegung f-e und ges-f bei b) doppelt reproduziert. Schließlich benennt Schenker auch noch »die Verkleinerung des Urlinie-Motivs c-d-c in T. 3 und 4« (Beispiel 12.3.3). Das angesprochene Motiv oder Teilmotiv ist in drei Schichten und somit Zeitdauerdimensionen gleichzeitig wirksam. Umgekehrt – von der Mikrozur Makrostruktur – verfährt Schenker in seiner Analyse von Schuberts Moment musical f-Moll op. 94 Nr. 3 im zehnten Heft (Beispiel 12.4): Analytischer Ausgangspunkt ist hier eine »Doppelschlagfigur«, welche »wie in einer Knospe, die schöne Blüte aller Diminutionen« einschließe. »Sie ist sogar Anregung für die Urlinie (3 4 3 2 1) – wahrlich ein Werde-Geheimnis, das nur die organisch schaffende Phantasie eines Genies auszutragen, auszudrücken vermag.«26 Schenker selbst verwendet hier die Begriffe ›Mikrokosmos‹ und ›Makrokosmos‹. Er beschreibt einige mehrtaktige Vergrößerungen des Motivs, welche gleichsam Bindeglieder zwischen dem Diminutionsmotiv des Beginns und der Urlinie darstellen. Im Mittelteil sei der Anfangston as des Motivs tonikalisiert und es erklinge eine Vergrößerung, welche wiederum den Terzton c 2 von As-Dur einkreist (Beispiel 12.4 b). Die verbindende Idee dieser Analysen, dass aus einer am Anfang exponierten genetischen Anlage die Entwicklung des Ganzen in seinen wesentlichen Zügen hervorgetrieben wird, fasst Schenker im 4. Tonwille-Heft zusammen: »Ein Keim ist da 19 Schenker 1922b, 25. 20 Ebd., 26. 21 Ebd., 27. 22 Schenker 1922a, 7. 23 Schenker 1924a, 4. 24 Beispiel 12.3.2 bringt eine gegenüber Beispiel 12.3.1 modifizierte Interpretation: Die Nebennoten-Schritte der Außenstimmen (c-des-c, f-e-f ) erscheinen gleichzeitig. 25 Schenker 1924, 4. 26 Schenker 1924b, 22.
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und wächst – wer kann sagen, ob er aus eigenem Trieb gewachsen, ob ihn das Genie aufgezüchtet; ein Ganzes ist geworden – wer kann sagen, was der Selbsttätigkeit des Stoffes gehört, was das Genie hinzugetan. Immer aber wird das Gesamt aus dem einen Keim entschieden und so in der kleinen Welt der Töne das Gesetz der großen Natur zum Austrag gebracht.«27 Nun ist dieser Grundgedanke einer kompositorischen ›Entwicklungsgenetik‹ zweifelsohne keine neue und originäre Idee: In der Musikästhetik und -theorie des 19. und 20. Jahrhunderts ist die metaphorische Auffassung von Werken als »Ton organismen« ein weitverbreiteter Topos. Jedoch wurden durch Schenkers Schichtenund Stimmführungslehre derartige Prozesse ›genetisch‹ angelegter Entwicklung analysetechnisch besser zugänglich gemacht. Der Versuch, hieraus ein allgemein geltendes, monistisches Prinzip kompositorischer Strukturbildung der Musik des 18. und 19. Jahrhunderts ableiten zu wollen, erschiene unangemessen und überzogen: Zum einen liegen entwicklungsgenetische Prozesse nicht allen oder auch nur den meisten ›Meisterwerken‹ des 18. und 19. Jahrhunderts zugrunde. Zum anderen kann das Ausmaß, in dem kompositorische Gesamtstrukturen von solchen Prozessen geprägt sind, sehr unterschiedlich sein. Diese nur partielle Erklärungskraft hat Schenker, der nach allen Meisterwerken gemeinsamen, vom Einzelwerk losgelösten Prinzipien suchte, wohl bewogen, die Idee vom ›Keim‹, der wächst, späterhin wieder zurückzustellen. Gleichwohl sind entwicklungsgenetische Prozesse in zahlreichen Werken und in personalstilistisch sehr unterschiedlichen Ausformungen analytisch einholbar. Vor diesem Hintergrund erscheint die These berechtigt, hier manifestiere sich eine epochenübergreifend bedeutsame Form kompositorischen Denkens. Zur Veranschaulichung und Konkretisierung der ästhetischen Prinzipien und Kompositionstechniken, die hier wirksam sind, seien Chopins cis-Moll-Walzer op. 64 Nr. 2 (Beispiel 12.5) und Schuberts Lied Die Liebe hat gelogen (Beispiel 12.6) als Werkbeispiele herangezogen. Zunächst sollen die grundlegenden Aspekte benannt werden: 1. Ein eng umgrenztes Ausgangsmaterial wird in erkennbar systematischer Form zur Entfaltung gebracht. Es besteht aus einem Bündel von Merkmalen, vor allem aus bestimmten, charakteristischen Tonhöhenfolgen, Intervallkonstellationen, Zusammenklängen, evtl. zusätzlich rhythmisch-metrischen Proportionen. Chromatische Töne sind hier häufig von zentraler, gleichsam katalytischer Bedeutung. 2. Dieses thematische Material erscheint zunächst im Incipit – den Anfangstakten eines Werkes / Satzes – gebündelt und wird hier an der (Hör-)Oberfläche exponiert.
27 Schenker 1923, 22.
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Im Incipit von Chopins cis-Moll-Walzer sind etwa folgende Merkmale verknüpft (Beispiel 12.7, T. 1–2): a) Oberstimmenmotiv e 2-dis2; b) Sekundaufwärtsschritt I.-II. Stufe im Bass (10-8-Verhältnis der Außenstimmen); c) Oberstimmensatz aus parallelen fallenden Sexten (untere Stimme chromatisch). Im Vorspiel von Schuberts Die Liebe hat gelogen sind von besonderer Bedeutung: die Umkreisung der drei Töne des Tonikaklangs es-f-d in der Oberstimme, c-des(!)-c-h im Alt, g-as-g-fis-g im Tenor, f-g-as-g im Bass. Grundton und Quinte sind chromatisch, die Terz diatonisch eingekreist (Beispiel 12.7). Aus der wechselnden rhythmischen Verschiebung und harmonischen Fassung dieser Intervalle ergeben sich alle wesentlichen Satzkonstellationen des Liedes. 3. Die thematischen Merkmale werden in größere Zeitdauerdimensionen projiziert und auskomponiert, erfassen dabei die tieferen Satzschichten (Vorder- und Mittelgrund). Sie bestimmen die wesentlichen Strukturverläufe, die werkindividuellen harmonischen und motivisch-thematischen Entwicklungen. Das Material wird in diesem Prozess seinen Implikationen gemäß entfaltet, ausgetragen, in immer neuen Konstellationen ausgeschöpft. Abschließend sollen die wichtigsten hierbei angewandten Techniken skizziert und exemplifiziert werden, welche im Werkkontext ineinandergreifen. Eine Analyse müsste auch insbesondere dieses Ineinandergreifen thematisieren. a) Reproduktion und Verkettung: Das Oberstimmenmotiv der in Sexten verklanglichten fallenden Sekunde wird bei Chopin vielfach wiederholt und dergestalt verkettet, dass der Schlusston eines Motivs zum Anfangston des nächsten Motivs wird (Beispiel 12.8). Anfangs ist jeder Motivton durch einen eigenen Basston konsonant gestützt. In Takt 9 und 11 stehen die Motive als Vorhalte über einem Basston. Im Piu mosso-Teil (ab T. 33) erscheint die fallende Sekundkette – ausgeschmückt durch Wechselnoten und Brechungen – als Vorhaltskette: zum einen also in einer veränderten Satzkonstellation, zum anderen auf halbe Notenwerte beschleunigt. b) Rhythmische Verkleinerung und Vergrößerung von Motiven: Bei Chopin erscheint die Fortbewegungsstruktur des Verkettungsmotivs auch auf Achtelebene – umgekehrt und im Verhältnis 1:6 diminuiert (Beispiel 12.5, ab T. 10). Bei Schubert spielen sowohl Vergrößerungen als auch Verkleinerungen der Einkreisungsfigur eine wichtige Rolle. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht der Mittelteil Takt 8–11 (Beispiel 12.9): Der chromatische Schritt c-des, welcher im Vorspiel im Halbe-Metrum erklingt, erscheint in Takt 8–9 in ganztaktiger Folge, hervorgehoben in den Spitzen der Oberstimmen. Zugleich im Bass in den Anfangstönen der zweitaktigen Phrasen Takt 8–9 und 10–11, des erscheint in Takt 10 enharmonisch umgedeutet als cis. Die wörtliche Wiederholung der Zweitaktphrase Takt 8–9 in Halbtontransposition aufwärts bildet die höchstrangige
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Auskomponierung des Intervallverhältnisses c-des in diesem Stück.28 Charakteristischerweise finden sich hier Umkreisungsfiguren auch auf kleinerer Notenwert ebene: In der Oberstimme von Takt 8 wird b1 im Viertelmetrum eingekreist, auf Schlag drei a1 in der Singstimme in Sechzehnteln. c) Verlegung von Oberstimmen- oder Mittelstimmenintervallen in den Bass: Dies treibt aus im Incipit nur melodisch wirksamen Intervallen harmonische Strukturen, ›Stufen‹ im Sinne Schenkers hervor. An den harmonischen Schaltstellen im ersten Teil des Chopin-Walzers bestimmt das Kopfintervall e-dis des Oberstimmen-Incipits das Geschehen (Beispiel 12.5): In Takt 5–7 verharrt der Bass auf E, in Takt 8 wird – nach dem Kadenzschritt E-A – mit e 0 -dis 0 das Ruder dergestalt herumgeworfen, dass ab Takt 9 ein Aufwärts-Parallelismus anschließen kann. In Takt 12–13 erfolgt mit den Basstönen e 0 (gehalten!) und dis 0 (auf zwei Takte verbreitert) die Wendung zur kadenzeinleitenden DD. d) Harmonische Reichhaltigkeit durch Reharmonisierung charakteristischer Intervalle: Wesentliche harmonische Wendungen entstehen in Schuberts Lied durch verschiedenartige Harmonisierungen des Schrittes c-des in Takt 1–2, Takt 5–6 (enharmonisch umgedeutet als c-cis-c) sowie Takt 15–16 (Beispiel 12.10).29 e) Dissoziation / Verschiebungen der im Incipit exponierten Intervallkonstellationen: Der Mittelteil des Walzers (T. 65–96) steht in der enharmonisch umgedeuteten Durvariante Des-Dur. Er beginnt – wie der erste Teil – in Außenstimmen-Dezimen (Beispiel 12.11). Der Bass verharrt zunächst, wo die Oberstimme ihren Sekundabstieg bringt, es2 bleibt dissonant und wird so – kontrapunktiert von einer chromatischen Durchgangsbewegung der Mittelstimmen – in eine schnellere Abwärtsbewegung gedrängt. Der Aufwärtsschritt des Basses erfolgt erst – wiederum mit chromatischem Durchgang – im fünften Takt. Die Außenstimmen kommen hier wieder in Dezim-Position. Der im ersten Teil synchrone Sekundschritt der Außenstimmen wird im Mittelteil dissoziiert: Die Oberstimme schreitet voran und wird so dem viertaktig gedehnten Bassschritt strukturell untergeordnet. Dies bildet die Anlage für einen chromatisierten 5–6-Auswechslungssatz, welcher den Bass in einem Quintzug Des-As aufwärtstreibt. Ähnliches in ganz anderer Gestaltung bei Schubert (Beispiel 12.12): Der Schluss des Mittelteils (T. 11–13) bezieht sich deutlich auf die Konstellation der drei Oberstimmen in Takt 5, zweite Hälfte und Takt 6, erste Hälfte: Es werden dieselben, im Incipit veranlagten Intervallschritte vollzogen, jedoch in rhythmisch 28 In größeren Formen kann es zu noch wesentlich ausgedehnteren höchstrangigen Auskomponierungen solcher Intervallschritte kommen. 29 Insbesondere bei Schubert ist festzustellen, dass Reharmonisierungsvarianten thematisch zentraler Intervalle wesentliche harmonische Weichenstellungen und Entwicklungen auch größerer Formanlagen hervorbringen.
Zum Problem des Motivischen bei Schenker
veränderter Abstimmung. Der Schritt a-gis (T. 12) pendelt nochmals dramatisch zu a zurück, bevor es zum Abgang as-g kommt. f) Die harmonische Ausstrahlung von Kernintervallen: Wie eingangs erwähnt bilden Umkreisungen der Töne des Tonikaklangs die thematischen Hauptmerkmale im Incipit des Liedes. Im Unterschied zu Grundton und Quinte wird der Terzton im Incipit nicht chromatisch, sondern diatonisch (es-f-d) eingekreist. Jedoch ist der gesamte weitere Verlauf zutiefst geprägt vom Wechsel zwischen es und e: Takt 1 und 3 es, Takt 4–7 e, Takt 8–9 es, Takt 10–12 e, in Takt 13 Rückkehr zu es, in Takt 16 kommt es zur einzigen direkten Abfolge von es und e. Auch dieses Phänomen fortgesetzter ›Mischung‹ wurzelt insofern in der Logik des Incipits, als die Durterz e als enharmonisch umgeschriebener chromatischer Umkreisungston fes zu es interpretiert werden kann: Was an der Satzoberfläche als Schwanken zwischen Dur- und Moll-Tonika zum Ausdruck kommt, ist in der Intervallkonstellation des Incipits ›ideell‹ veranlagt. Die Dur-Wendung des Schlusses erscheint vor diesem Hintergrund nicht als Aufhellung, sondern – in engem Bezug zur Textsemantik – als ›gelogene‹ Auflösung eines eigentlich unlösbaren Konfliktes. Insgesamt sollte verdeutlicht werden: Es gibt ein Repertoire klar benennbarer Kompositionstechniken, welche in Werken unterschiedlicher Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts die beschriebene ›Entwicklungsgenetik‹ zur Entfaltung bringen. Ein Faszinosum besteht nun darin, dass gerade die individuellen, außergewöhnlichen, nicht aus Gattungs- oder Stilkonventionen erklärbaren Charakteristika von Werken im Sinne einer kompositionstechnischen Kausalität verständlich werden können. Es manifestiert sich hier eine besonders intensive und konzentrierte Form ›motivischen‹ Denkens, die Schenker in den 20er Jahren erkannt und analytisch erschlossen hat: Aus gleichsam mikroskopischer Substanz geht in einem Prozess der Aufschaukelung und häufig lückenlosen Entfaltung die Makrostruktur eines Werkes hervor.
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13 Schenker, Luhmann und das Problem der ›steigenden Urlinie‹ STEFAN ROHRINGER
»Eine solche Theorie würde ausschließlich auf eigenes Risiko aufgeführt werden.«
Niklas Luhmann
I. Heinrich Schenkers Neuaufstellung der ›Urlinie‹-Konzeption in den Jahren 1925/26 ist bestimmt durch die Einschränkung der bis dato bidirektionalen Urliniebewegung auf drei fallende mit dem Grundton in ›obligater Lage‹ schließende Formen (von der Oktav, der Quint oder der Terz des tonikalen Dreiklangs).1 Eine stufenweise aufwärts in den ersten Urlinieton – den sogenannten ›Kopfton‹ – führende Bewegung wird der ersten Schicht zugerechnet und fortan als ›Anstieg‹ bezeichnet. Fallende Züge von Urlinietönen aus, die nicht in den Schluss der Komposition führen, werden als »Gang von der Oberstimme zu den Mittelstimmen«2 oder als Ergebnis einer ›Unterbrechung‹ der Urlinie auf der 2 interpretiert. Züge, die oberhalb eines Urlinietons ansetzen und zur Urlinie zurückführen, gelten dementsprechend als Folge eines ›Übergreifens‹.3 Urlinien, die trotz eines Ganzschlusses in der Tonika nicht mit der 1 enden, sowie die Kombination von Urliniesegmenten, die ihren Ausgang von unterschiedlichen Tönen des tonikalen Dreiklangs nehmen, ohne dass zwischen ihnen ein hierarchisches Verhältnis bestünde4, und steigende Urlinien scheiden aus der Urlinie-Konzeption aus. 1 Schenker wird später vom »Gesetz des Kopftones« sprechen: vgl. Schenker 1956, 83. 2 Schenker 1956, 80. 3 Ausgenommen ist hiervon der Kopfton. Einen ›Abstieg‹ in den Kopfton kennt Schenker weder unter diesem noch einem anderen Begriff. Vgl. auch den Passus zur Eigendynamik der Theoriebildung weiter unten im Haupttext. 4 Vgl. Schenker 1925: Die erste Reprise (dieser Begriff nach Momigny 1806, 332) weist eine Urlinie von der 3 auf, die zweite Reprise eine Urlinie von der 5. Gemäß der 1926 erreichten Theorie-
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Durch die Ausgliederung aus der bisherigen Urliniekonzeption erhält der Anstieg den Status einer fakultativen Möglichkeit, die zur fallenden Urlinie hinzutreten kann. Schenkers Unterscheidung verhält sich zu den denkbaren Formen der satztechnischen Einrichtung jedoch allenfalls kontingent. Ihre Motivation hat sie in dem von ihm verfolgten Theoriekonzept: Zwar versteht sich z. B. bei (1 2) 3 2 1 nur 3 2 1 und unmittelbar auch der betreffende Raum der Urlinie als ein Aprioricum schon von selbst […], doch zeigt der Anstieg in diesem Raum darüber hinaus auch noch das besondere melodische Geschehen, das hintergründig erste Steigen und Fallen des Inhaltes an. Der Urlinie-Raum drückt nur sich aus, der Anstieg aber den Raum wohl wie den besonderen Gang. Hier ist es der Anstieg […], dort der Abstieg, der mehr Stimmführung verbraucht; wie wäre aber all das Besondere auszudrücken, wenn der Anstieg begrifflich für den Urlinie-Gang stünde? Man sehe z. B. den ersten Satz der in diesem Jahrbuch dargestellten Sinfonie von Mozart [KV 550]: Der Urlinie-Raum ist der Quintklang des Grundklangs (1–5). Wie aufschlussreich aber ist gerade das Fallen der Urlinie in diesem Raum, [...] dem kein Anstieg vorausgeht!5
Schenker hüllt sein Argument für die Notwendigkeit einer terminologischen Differenzierung in die Frage, wie »all das Besondere auszudrücken [wäre], wenn der Anstieg begrifflich für den Urlinie-Gang stünde?«. Dem ist entgegnet worden, das Verhältnis, demzufolge es »hier […] der Anstieg [ist], dort der Abstieg, der mehr Stimmführung verbraucht« 6, könne auch dann als das »Besondere« begrifflich gefasst werden, wenn sowohl Ab- wie auch Anstieg einer bidirektionalen Urlinie angehörten: Gerade weil der Anstieg an der Urlinie teilhabe, sei sein Fehlen für die spezifische Struktur des Werkes »aufschlussreich«. Begriffliche Unterscheidung und Ausgliederung des Anstiegs aus der Urlinie seien dagegen hinderlich, weil der Begriff ›Anstieg‹ ein nur nachgeordnetes Strukturelement beschreibe.7 Freilich setzt eine solche Argumentation nichts Geringeres voraus, als dass die Urlinie dem Werk sein je individuelles Gepräge gibt: Wird auch der Anstieg zur Urlinie gerechnet, ist die Urlinie in ihrem Steigen und Fallen so individuell wie das Werk, dem sie zugehört. Welche melodischen Vorgänge – so gesehen – von der Urlinie überhaupt ausgenommen werentwicklung müsste der Kopfton der ersten Urlinie entweder als Teil einer ›Brechung‹ gewertet werden (wäre die 5 Kopfton) oder der Kopfton der zweiten Urlinie als Teil eines ›Übergreifzuges‹ (wäre die 3 Kopfton). 5 Schenker 1926a, 22. 6 Ebd. Damit wird auf die unterschiedlichen Proportionen zwischen Anstieg und Urlinie verwiesen, durch die sich »das hintergründig erste Steigen und Fallen des Inhaltes« auszeichnen kann. 7 So bei Bernd Redmann: »Wäre der ›Anstieg‹ nämlich ein möglicher ›Urlinie‹-Bestandteil, so wäre dessen Fehlen hinsichtlich der spezifischen Werkstruktur sogar noch ›aufschlussreicher‹ als ein ›Anstieg‹, der als ein a priori sekundärer Strukturbestandteil behandelt wird« (1997, 419).
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den können, tragen doch sämtliche zur Individualität des Werkes bei, ist fraglich. In der Konsequenz des Gedankens liegt es, alle Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen vermeintlich primären und sekundären Strukturelementen preiszugeben. Damit entfällt aber auch der Beweggrund der Argumentation selbst, nämlich, den ›Anstieg‹ vom Makel eines nachgeordneten Strukturelementes zu befreien. Entsprechend anders ist das Vorgehen Schenkers: Es besteht darin, das »Besondere« im Werk durch das wechselseitige Beleuchten differenter Begriffe ›auszudrücken‹. Seine Theorie konstatiert im Werk nicht Elemente von qualitativ primärer und sekundärer Substanz, sondern zielt auf die Bestimmungen von Relationen. In diesem Sinne ist ›Anstieg‹ ein funktionaler Begriff.8 Dabei exemplifiziert die Unterscheidung von Urlinie und Anstieg die regulative Idee der Diminution, derzufolge Töne einer Schicht durch Töne der jeweils nächsten Schicht auskomponiert werden. (In Der freie Satz spricht Schenker von der »streng logischen Bestimmtheit im Zusammenhang einfacher Tonfolgen mit komplizierten«.9 Das schließt Momente wechselseitiger Korrelation ausdrücklich mit ein: »Einerseits richtet sich der Inhalt der zweiten und der folgenden Schichten nach dem der ersten Schicht, zugleich aber nach dem geheimnisvoll geahnten und verfolgten Ziele im Vordergrund.«10) Versteht man den Anstieg als Auskomponierung des ersten Urlinietons, ist es konsequent, dass er der Urlinie nicht angehört.
II. Im Folgenden werden zentrale Aspekte der späten Theorie Schenkers mit Hilfe von Luhmanns Systemtheorie beobachtet.11 Ziel ist eine Reformulierung des Designs der Schenker’schen Theorie. Damit gehen generelle Überlegungen zum epistemologischen Status der Theorie Schenkers einher.12 Denn die Diskussion um steigende 8 Das wird auch aus Folgendem ersichtlich: Obwohl der ›Anstieg‹ die Qualität eines Zugs von einer Mittel- zu einer Oberstimme hat, trennt ihn Schenker begrifflich von den ›Untergreifzügen‹ als den zu den übrigen Urlinietönen (und in ›späteren‹ Schichten zu Oberstimmentönen der jeweils vorigen Schicht) führenden Zügen. Dass beim ›Anstieg‹ noch kein »Zurückgreifen auf eine tie fere Lage der Mittelstimme« (Schenker 1956, 86) behauptet werden kann, weil das Verhältnis der Stimmen vor Erreichen des Kopftons noch ungeklärt ist, kann hierfür nicht der Grund gewesen sein: Schenker macht die Chronologie der akustischen Ereignisse im Werk auch sonst nirgends zum Argument. 9 Schenker 1956, 49. 10 Ebd., 112. Wie weit sich Schenker damit von seinen früheren Vorstellungen über Morphologie und dem Postulat organischer Generativität entfernt hat, zeigt der Vergleich mit einer Passage aus dem ersten Tonwille-Heft. Hier wird von der Urlinie behauptet, »in sich die Keime aller das Tonleben gestaltenden Kräfte« zu bergen (Schenker 1921, 22). 11 Ich danke Verena Weidner für wertvolle Hinweise zum Theoriedesign bei Niklas Luhmann. 12 Der Versuch einer historischen Rekonstruktion der Epistemologie von Schenkers Ursatz in Hinton 2004.
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und fallende Urlinien führt zu keiner geringeren Frage als der nach der Differenz von Erkenntnis und Realgegenstand, wie sie auch aus der Diskussion konstruktivistischer Erkenntnistheorien bekannt ist. Abschließend wird das Problem der ›steigenden Urlinie‹ neu fokussiert. Die exponentielle Vermehrung der Begriffe in Schenkers später Theorie ist keine Äußerlichkeit. Für sie gilt, was Niklas Luhmann programmatisch an den Anfang von Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, der Ouvertüre zu seiner eigenen späten Theorie, gestellt hat: Im Unterschied zu gängigen Theoriedarstellungen, die, wenn überhaupt, einige wenige Begriffe der Literatur entnehmen, sie in kritischer Auseinandersetzung mit vorgefundenen Sinngebungen definieren, um dann damit im Kontext der Begriffstraditionen zu arbeiten, soll im folgenden versucht werden, die Zahl der benutzten Begriffe zu erhöhen und sie mit Bezug aufeinander zu bestimmen.13
Luhmann führt daraufhin dreiunddreißig (!) Begriffe an, darunter ›System‹, ›Umwelt‹, ›Sinn‹, ›Relation‹ und ›Beobachtung‹, die sich, »soweit möglich, aneinander schärfen« sollen.14 Dass Luhmann nicht dazu neigt, sein Denken in geistesgeschichtliche Traditionen zu stellen, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Frage, wie das Verhältnis von Ganzem und Teilen zu denken sei, ein Topos der europäischen Philosophiegeschichte ist. Der funktionale Ansatz lässt sich zurückverfolgen bis in die Antike.15 Anfang des 20. Jahrhunderts forderte Ernst Cassirer in Substanzbegriff und Funktionsbegriff 16 mit Blick auf die moderne Naturwissenschaft, ein zeitgemäßes Wissenschaftsparadigma habe sich am Funktionsbegriff zu orientieren: »Was uns im Gebiete des Bewußtseins empirisch wahrhaft bekannt und gegeben ist, sind niemals die Einzelbestandteile, die sich sodann zu verschiedenen beobachtbaren Wirkungen zusammensetzen, sondern es ist stets bereits eine vielfältig gegliederte und durch Relationen aller Art geordnete Mannigfaltigkeit, die sich lediglich kraft der Abstraktion in einzelne Teilbestände sondern läßt. Die Frage kann hier niemals lauten, wie wir von den Teilen zum Ganzen, sondern wie wir von dem Ganzen zu den Teilen gelangen. Die Elemente ›bestehen‹ niemals außerhalb jeglicher Form der Verknüpfung, so daß der Versuch, die möglichen Weisen der Verknüpfung aus ihnen herzuleiten, notwendig im Kreise verläuft.«17 Explizit unter dem Begriff der ›funktionalen Analyse‹ hat Bruno Haas den funktionalen Ansatz in die zeitgenössische Kunstanalyse eingebracht.18 Nach Haas »besteht die Werkanalyse darin, Funktionen zu bestimmen. Die Funktion wurde erklärt als die durch die konkrete 13 14 15 16 17 18
Luhmann 1987a, 11f. Ebd., 12. Vgl. Uehlein 2010. Cassirer 1910. Ebd., 445; vgl. auch Rohringer 2010 und 2016. Haas 2003, insbesondere 213–255.
Schenker, Luhmann und das Problem der ›steigenden Urlinie‹ Werkganzheit vermittelte Bestimmung oder Eigenschaft eines Teils. Sie ist also diejenige Bestimmung des Teils, die ihm zukommt, insofern er Teil des konkreten Ganzen ist; außerhalb dieses singulären Zusammenhangs würde sie ihm nicht zukommen.«19 Haas hat als Erster einen ausdrücklichen Bezug zwischen der funktionalen Analyse und Schenkers Theorie geltend gemacht, von der er behauptet, sie müsse »ohne Modifikation als gültige Anwendung unserer Methode« anerkannt werden. 20 Eine direkte Zuordnung von Begrifflichkeiten nimmt Haas jedoch nur in Bezug auf den »von Schenker entdeckten Ursatz« vor, in dem er das von ihm sogenannte ›Prinzip‹ »der Musik des 18. Jahrhunderts« als diejenige Funktion erkennt, die »unter allen den Vorrang [hat]; und diejenige [ist], welche das Als-Etwas des ganzen Kunstwerks ist.«21 Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass die Unternehmung, Schenkers späte Theorie mit Hilfe der Luhmann’schen Systemtheorie zu beobachten, nicht nur aufschlussreiche Übereinstimmungen im Hinblick auf das Theoriedesign zwischen beiden Ansätzen zu Tage fördert, sondern ebenso Unterschiede in der analytischen Zielsetzung. Auch Luhmann spricht von ›funktionaler Analyse‹, versteht darunter allerdings etwas völlig anderes als Bruno Haas: »Die funktionale Analyse benutzt Relationierungen mit dem Ziel, Vorhandenes als kontingent und Verschiedenartiges als vergleichbar zu erfassen.«22 Mit ›Relationierung‹ ist hier nicht das Verhältnis zwischen Teilen in Bezug auf ein Ganzes gemeint, sondern die »Relation von Problem und Problemlösungen«. 23 Diese wiederum wird »nicht um ihrer selbst willen erfasst; sie dient vielmehr als Leitfaden der Frage nach anderen Möglichkeiten, als Leitfaden nach funktionalen Äquivalenten.«24 Insofern der Fokus dieses Beitrags auf dem Vergleich des Designs der Theorien von Schenker und Luhmann liegt, ist die Differenz zwischen den beiden Konzepten ›funktionaler Analyse‹ hier ohne Belang. 25
Bei der Frage, wie ein solches Verfahren in Gang zu setzen sei, bezieht sich Luhmann auf die operative Logik George Spencer-Browns mit deren Leitidee »Draw a distinction and a universe comes into being«.26 Browns Formkalkül bedeutetet, den ›Weltenbrei‹ ohne Rekurs auf ontologische Setzungen zu zerschneiden. Die Erst-Unterscheidung ist eine kontingente Operation. Gleichwohl zieht sie eine Sequenz von keineswegs willkürlichen Anweisungen, d. h. Folgeunterscheidungen nach sich. Unterscheidungen im Sinne Browns ›zeichnen‹ eine ›Form‹ mit zwei Seiten, von der nur eine Seite – die ›Innenseite‹ – zur Bezeichnung herangezogen wird. Dieser Vorgang 19 Ebd., 215. 20 Ebd., 214. 21 Ebd., 222. 22 Luhmann 1987a, 83. 23 Ebd. 24 Ebd., 84. Luhmann bringt als Beispiel: »Flugzeuge müssen nicht, wenn man einmal die Flugphysik beherrscht, als Copie von Vögeln gebaut werden.« (1992, 409) 25 Dazu, dass die Dekomponierung singulärer Verhältnisse und die Suche nach funktionaler Äquivalenz einander keineswegs ausschließen, vgl. Rohringer 2016. 26 Spencer-Brown 1969, 3.
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wird von Luhmann ›Beobachtung‹ genannt.27 Luhmann begegnet dem Problem der Legitimation dieser ersten aller Operationen (»Die Logik selbst beschränkt sich auf das Notwendige und schweigt, wenn man sie fragt, mit welcher Unterscheidung man anfangen soll!«28 ) damit, dass er es scheinbar ignoriert. Mit Blick auf die Grundlegung der Systemtheorie heißt es in Erkenntnis als Konstruktion: »Wir gehen davon aus, daß alle erkennenden Systeme reale Systeme in einer realen Umwelt sind, mit anderen Worten, daß es sie gibt.«29 Gegen den von radikalkonstruktivistischer Seite erhobenen Vorwurf der erkenntnistheoretischen Naivität30 macht Luhmann geltend: »Eine Reflexion des Anfangs kann nicht vor dem Anfang durchgeführt werden, sondern erst mit Hilfe einer Theorie, die bereits hinreichende Komplexität aufgebaut hat«.31 Damit paraphrasiert Luhmann eine Passage aus Soziale Systeme: Jeder Schritt [innerhalb der Theorie] muß eingepaßt werden. Und selbst der Willkür des Anfangs wird […] im Fortschreiten des Theorieaufbaus die Willkür genommen. So entsteht eine selbsttragende Konstruktion. […] Jede Begriffsbestimmung muß dann als Einschränkung der Möglichkeit weiterer Begriffsbestimmungen gelesen werden. Die Gesamttheorie wird so als ein sich selbst limitierender Kontext aufgefaßt.32
Luhmann fordert spezielle »theorietechnische Vorkehrungen, [die] Haltbarkeit und Anschlussfähigkeit nach innen und nach außen«33 gewähren. Infolge des Verzichts auf ontische Setzungen zeigt sich die ›Richtigkeit‹ der pragmatischen Anfangsunterscheidung allein am Gebrauchswert der durch sie initiierten Operationen und Beobachtungen: Eine solche Theorie würde ausschließlich auf eigenes Risiko aufgeführt werden. Und sie versuchte zugleich, ein Höchstmaß an gesellschaftlicher Resonanzfähigkeit zu inkarnieren. Sie hätte keine abbildende, auch keine repräsentierende Funktion. Sie bezöge ihre Beschränkungen nicht als Vorgabe aus der ›Natur‹ oder dem ›Wesen‹ 27 28 29 30 31 32 33
Die »distinction« Operation/Beobachtung ist selbst eine Form. Luhmann 1992, 374. Luhmann 1988, 221. Luhmann selbst verweist auf Zolo 1986. Luhmann 1988, 221. Luhmann 1987a, 11. Ebd., 11. Luhmanns Beschreibung der Genese der Systemtheorie gleicht der von der Systemtheorie vorgenommenen Beschreibung der Genese von Systemen: Die Theorie betreibt ihre Konstruktion aus sich selbst heraus, sie entwickelt sich selbstreferentiell, so wie auch das soziale System, dem sie zugehörig ist. Zwar konstituieren Theorien mit ihrer Unterscheidungs- und Bezeichnungsleistung soziale Systeme. Unterscheidungs- und Bezeichnungsleistung aber ereignen sich in der Zeit. Das bedeutet nicht nur, dass sich die Aussage auch umkehren lässt: Erst soziale (und psychische) Systeme bringen Theorie hervor. Es bedeutet auch, dass Theorien als Systeme beschrieben werden können, weil sie Prozesse in der Zeit generieren.
Schenker, Luhmann und das Problem der ›steigenden Urlinie‹ ihres Gegenstandes, sondern müßte sie selbst konstruieren. […] Ihre Leistung wäre: sichselbstdisziplinierende Beobachtungsmöglichkeiten freizusetzen […]. Alles weitere ist eine Frage der unter so strengen Bedingungen noch realisierbaren Komplexität.34
Die einzige Annahme über ›dasjenige da draußen‹ besteht Luhmann zufolge darin, dass es »unhaltbar [ist] anzunehmen, ein System könne die eigenen Strukturen auf Grund eines bloßen Rauschens der Umwelt, auf Grund von Störung und Irritation aufbauen«35, denn, so seine verblüffende Antwort: »Das würde viel zu lange dauern.«36 Der Rekurs auf die Systemtheorie in der Schenker-Analytik ist nicht neu. Als Erster hat Michael Polth in seinem Versuch über Tonalität explizit auf Niklas Luhmann Bezug genommen und einen Zusammenhang mit Heinrich Schenker hergestellt, dessen Analysen »einen Eindruck von der umfassenden Abstimmung der Teilsysteme Harmonik, Diastematik und Metrik zum Ausdruck einer Tonart« gäben. 37 Polths Konzept von Funktionalität wird in der vorliegenden Untersuchung im Grundsatz geteilt, ebenso seine Einschätzung, dass Werke als Systeme beschrieben werden können. Gleichwohl irritiert seine Referenz auf die Systemtheorie dort, wo sie explizit erfolgt: So heißt es mit Blick auf den Vorgang der Dekomposition, »zu Beginn der Analyse [herrsche] ein Zustand ›doppelter Kontingenz‹ (Luhmann) […]. Jeder Blick auf den Tonsatz geschieht im Hinblick auf den Entwurf des tonalen Systems, jeder hypothetische Entwurf des tonalen Systems wird selbst wiederum am Tonsatz auf Stimmigkeit überprüft und gegebenenfalls korrigiert. Der Vorgang ist beendet, wenn zwischen dem durch Deutung gewonnenen Sys tem und dem im Lichte des Systems gedeuteten Tonsatz eine Harmonie eintritt.«38 Polth spricht von ›doppelter Kontingenz‹ in Verbindung mit Beobachtungen, die von Hörenden bzw. Analysierenden, also von psychischen Systemen vorgenommen werden. Für Luhmann indes handelt es sich um ein Phänomen der ›Kommunikation‹, dem ausschließlichen Operationstyp sozialer Systeme. Für psychische Systeme gilt: »Das Bewußtsein bleibt ganz bei sich selbst«. 39 Ferner spricht Polth von der »Kommunikation zwischen Hörer und Werk«40 und nimmt mit dieser Formel implizit Bezug auf einen früheren Text, in dem es in Verbindung mit der These, dass die »tonale Deutungskompetenz […] sich der Einordnung in die Kategorie historisch-ahistorisch«41 entziehe, heißt: »Hilfreich ist die Vorstellung, daß zwischen dem heutigen Betrachter und den Werken der damaligen Zeit eine Kommunikationssituation besteht: Die Rückentäußerungen Mozarts in seinen Werken treffen angesichts eines Forschers 34 Luhmann 1993, 258f. Vgl. auch Fuchs 2003: »Das Neue kann man nicht suchen, es stellt sich sozusagen am Rande ein, als Nebeneffekt eines Denkens/Kommunizierens, das Komplexität steigert – auf Teufelkommraus.« 35 Luhmann 1987b, 313. 36 Ebd. 37 Polth 2001, 28. Das Design der Schenker’schen Theorie oder des mit ihr verbundenen Wissenschaftssystems sind hingegen nicht explizit Gegenstand von Polths Untersuchung. 38 Ebd., 30. 39 Luhmann 1997, 84 (die Hervorhebung im Original). 40 Polth 2001, 13. 41 Polth 2000, 192.
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Schenker, Luhmann und das Problem der ›steigenden Urlinie‹ pomorphisierung des Werkes als ›profitierender Partner‹ überspielt dies. Tatsächlich meint die Rede von den »Strukturen [, die sich] zwischen den beteiligten Partnern allmählich stabilisieren« im älteren Text nichts anderes als die Rede von »Stimmigkeit« oder »Harmonie« im jüngeren: einen Zustand innerhalb des psychischen Systems des Hörers bzw. Analysierenden, nicht zwischen (profitierenden) »Partnern«. Freilich bleibt davon unberührt, dass es innerhalb der psychischen Systeme von Hörern bzw. Analysierenden zu einer Art ›Konflikt‹ zwischen den applizierten Strukturen, dem »Tonsatz«, und dem applizierten »Entwurf des tonalen Systems« kommen kann, nur dass dies – als Bezugnahme auf fremd- und selbstreferentielle Inhalte – ein Prozessieren von Unterscheidungen ist, das ausschließlich auf der Seite Egos erfolgt und folglich dem ›Verstehen‹ angehört. Eine Kritik an Polths Sprachgebrauch griffe zu kurz. Die Übertragung der zwischen psychischen Systemen herrschenden Konstellation auf das psychische System erweckt den Eindruck, dass vor der Konsequenz einer konstruktivistischen Epistemologie, wie sie der Systemtheorie zugehörig ist, trotz der partiellen terminologischen Bezugnahme zurückgescheut wird. Eine solche hätte die uneingeschränkte Anerkenntnis der nicht hintergehbaren Selektionstätigkeit auf Seiten Egos bedeutet. Für diese Einschätzung spricht nicht zuletzt der im weiteren Verlauf des jüngeren Textes von Polth gemachte Versuch, bei zwei Literaturbeispielen zu einer tatsächlichen Klärung der Frage zu gelangen, was die »Leistung der Werke bzw. ihrer Komponisten« für den »klare[n] Systemcharakter« des tonalen Systems ist.46
Luhmann reformuliert die ›zweiseitige Form‹ Spencer-Browns als ›System/Umwelt‹Differenz.47 Zwischen Umwelt und System herrscht ein Komplexitätsgefälle, das auf Seiten des Systems zu Komplexitätsreduktion und -zuwachs führt. (Komplexität meint, dass nicht alle Elemente einer Einheit in einer Beobachtung miteinander verbunden werden können.) Ein Komplexitätszuwachs kann durch die Erhöhung der Anzahl der Elemente im System erzielt werden, da hierdurch die Anzahl der möglichen Relationen exponential zunimmt. Theoretisch kann jedes System unendlich wachsen, indem es unendlich viele Relationen hervorbringt. Das würde jedoch eine Unübersichtlichkeit bedeuten, die der Funktionstüchtigkeit des Systems und seiner ordnenden Zielsetzung entgegenstünde. Systeme können dem durch eine Ausdifferenzierung begegnen (beispielsweise durch die Bildung von Untersystemen). Damit geht einher, dass aus den denkbaren Operationen und Beobachtungen, die kommuniziert werden, eine aktualisierte Auswahl getroffen wird, was letztlich zum Begriff des ›Sinns‹ führt. Er bezeichnet die Einheit der Differenz von Aktualität und Potentialität der Kommunikation und gestattet dadurch deren permanente Autoreproduktion.48 Es überrascht nicht, dass Luhmann, dessen Interesse ›Wie‹- und nicht ›Was‹-Fragen 46 Polth 2001, 18. 47 Die System/Umwelt-Differenz ist keine Definition, sondern eröffnet einen Möglichkeitsraum für Folgeunterscheidungen. 48 Dasjenige, was umgangssprachlich als ›Sinn‹ verstanden wird, ist demnach eine aktuelle Kommunikation, die durch Selektion aus der Potentialität aller zuvor möglichen Kommunikationen hervorgegangen ist. Jede selegierte und damit aktuelle Kommunikation ermöglicht einen neuen Potentialitätsraum, der durch die Menge aller möglichen Anschlusskommunikationen gebildet
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gilt, keine inhaltliche Definition von ›Sinn‹ gibt. ›Sinn‹ ist das Medium, in dem sich alle kommunikative Formung ergibt, die soziale (und psychische) Systeme vornehmen. Der Begriff ›Medium‹ verweist auf die Idee loser Kopplung – im Gegensatz zur ›Form‹ als fester Kopplung –, was bedeutet, dass ›Sinn‹ trotz der mit ihm verbundenen ›Exclusion‹ als einem je spezifischen einen ›Verweisungsüberschuss‹ auf weitere Möglichkeiten der (sinnhaften) Ordnung von Systemen hat: Soziale Systeme motiviert dies zu weiteren Kommunikationen. ›Sinn‹ ist als Medium Voraussetzung der Konstituierung von Kommunikation, so wie auch hier wiederum die Umkehrung gilt: Kommunikation dient der Konstituierung von ›Sinn‹. Zur Wahl der Beobachtungen bedarf es Konditionierungen, d.h. »Kriterien, die es ermöglichen, zu unterscheiden, ob die Bedingungen für eine Operation gegeben sind oder nicht.«49 Damit kommen wir explizit zu Fragen des Theoriedesigns innerhalb wissenschaftlicher Systeme zurück: »Theorien leisten eine asymmetrische und Methoden eine symmetrische Konditionierung«50 innerhalb wissenschaftlicher Systeme als deren Programme. Methoden dienen dazu, den binären Code des Wissenschaftssys tems, der ›wahr/unwahr‹ lautet, anzuwenden. Theorien hingegen sind einwertige, quasi differenzlose Unterscheidungen, d. h., die zweite Seite der Formzeichnung bleibt unbeobachtet. In diesem Zusammenhang dient ›Asymmetrisierung‹ als Grundbegriff: Er soll besagen, daß ein System zur Ermöglichung seiner Operationen Bezugspunkte wählt, die in diesen Operationen nicht mehr in Frage gestellt werden, sondern hingenommen werden müssen.51
In wissenschaftlichen Systemen leisten Theorien mit ihrer Leitunterscheidung die notwendige Asymmetrisierung. Damit wird (vorläufig) ausgeschlossen, mit einer anderen Anfangsunterscheidung ein alternatives Theorieprogramm in Gang zu setzen: Analysiert man die Aussageform von Theorien genauer, so zeigt sich, daß ihre Besonderheit darin besteht, Vergleiche zu ermöglichen. Vergleiche erfordern das Festhalten eines willkürlich gewählten Vergleichsgesichtspunktes, und an dem Vergleichsgesichtspunkt hängt die Asymmetrisierung.52
Asymmetrisierungen können dabei die Form von ›Ontologien‹ annehmen – als »Nebenprodukt«53 der Kommunikation. Letztlich handelt es sich aber um eine Um-
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wird. Aus dieser Menge muss wiederum eine bestimmte Kommunikation selegiert und damit aktualisiert werden. Luhmann 1992, 404. Ebd., 405. Luhmann 1987a, 631. Luhmann 1992, 408. Luhmann 1987a, 205.
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stellung des Ontologie-Begriffes. Ontische Setzungen werden zu »(zirkulär) als Erfordernis wissenschaftlicher Erklärung«54 eingeführten Aussagen. Dadurch wird ein weiteres Beobachten mit dem Ziel unterbunden, Systemen den »komplexitätsreduzierenden und -aufbauenden Zugriff auf ihre eigenen Operationen«55 zu erhalten. Damit ist etwas anderes gemeint als die Selbstverständlichkeit, dass bei jeder konsistenten Methode Resultate Theoremen geschuldet sind. Es wird der landläufigen Vorstellung widersprochen, eine unumgängliche ›Verunreinigung‹ der Datenerhebung könne dadurch ›herausgerechnet‹ werden, dass Ausgangssätze qua Experiment ›falsifiziert‹ werden: Insofern ›Falsifizierbarkeit‹ (im Sinne des Kritischen Rationalismus) ein Kriterium ist, das Theorien der empirischen Wissenschaften von solchen der nicht-empirischen Wissenschaften dadurch unterscheidet, dass jegliche Falsifizierbarkeit eine exakte Definition von Grenzen (›zutreffend/nicht-zutreffend‹) voraussetzt, erscheint es fraglich, ob die einer Schenkeranalyse zugrunde liegende Annahme, »daß die analysierte Komposition eine der Ursatzformen ausprägen wird« falsifizierbar ist, wie es beispielsweise Oliver Schwab-Felisch56 mit Bezug auf eine Untersuchung Fred Lerdahls57 behauptet.58
Die Beobachtung des Modus der Autopoiesis führt den Gedankengang an den Anfang zurück: »Mit all dem ist die Frage noch nicht angepackt, mit welchen Unterscheidungen man einen Theorieaufbau beginnen soll.«59 Luhmann zeigt zunächst eine historische Perspektive auf: Sicher ist die einfachste Auskunft eine rein historische: Man arbeitet mit den Unterscheidungen, die sich schon bewährt haben und deren Kondensate die Formulierungen von Theorien ermöglichen, die ihrerseits Erkenntnisse festhalten, die man für wahr hält.60
Sollen Theorie (und System) gestärkt werden, muss bei der Ausschau nach einer »Direktive«61 wiederum selbstreferentiell verfahren werden. Luhmann veranschaulicht 54 55 56 57 58
Luhmann 1992, 279. Nassehi 1992, 60. Schwab-Felisch 2005, 375, Anm. 230. Lerdahl 1991. Ohnehin ist es Lerdahls These nicht, dass die Annahme eines Ursatzes falsifizierbar, sondern dass der Begriff des Ursatzes trotz gewisser Ähnlichkeiten mit dem in den Kognitionswissenschaften üblichen Schemabegriff nicht kongruent sei. Denn, so Lerdahl, im Gegensatz zu Schemata, die Harmonik und Phrasenbildung betreffen, beeinflusse das Unterlegen Schenkerianischer Strukturen das un(ter)bewußte Hören mutmaßlich nicht aktiv (287). Dass Stimmführung ebenfalls Gegenstand einer Schema-Theorie sein kann (vgl. Gjerdingen 1986, 1988, 2007), findet bei Lerdahl keine ausdrückliche Erwähnung. Zu Lerdahls kognitionswissenschaftlichen Annahmen vgl. Dibben 1994. 59 Luhmann 1992, 379. 60 Ebd. 61 Ebd.
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dies unter Hinweis auf das Re-entry, d. h. auf das »rekursive […] Zurückkommen und Wiederverwenden Desselben in neuen ›settings‹« 62, durch das eine dem Komplexitätszuwachs gegenläufige Bewegung initiiert werden könne. Die Direktive lautet folglich: »[…] bevorzuge wiedereintrittsfähige Unterscheidungen. Befolgt man diese Maxime, trifft man zwangsläufig eine scharfe Auswahl.« 63 Mit Blick auf die Leitunterscheidung der Systemtheorie ›System/ Umwelt‹ beobachtet Luhmann alsdann die Theo rielandschaft: »Erkennt man einmal die Dynamik dieses Vorgangs und seine Vorteilhaftigkeit, kann man ihn in vielen weiteren Theorieformungen wiederentdecken.« 64 Hiervon grenzt Luhmann ab: Innerhalb der Unterscheidung von Ganzem und Teilen spricht man heute von ›Hologramm‹ […]. Dieser Fall ist interessant, weil er zeigt, wie man in die traditionelle, analogisierende Betrachtungsweise zurückgleitet, wenn man nur darauf besteht, daß das Ganze in die Teile eingeschrieben, in ihnen repräsentiert werden müsse – das Ganze und nicht die Unterscheidung von Ganzem und Teilen.65
Und Luhmann ergänzt: Daß im Kontext der Unterscheidung von Ganzem und Teilen bisher keine Lösung gefunden worden zu sein scheint, bestärkt mich in der Annahme, daß die Unterscheidung von Ganzem und Teilen als Leitunterscheidung ersetzt werden muß durch die wiedereintrittfähige Unterscheidung von System und Umwelt.66 Unter Verweis auf die Arbeiten zur Werkanalyse von Bruno Haas67 könnte Luhmanns Einschätzung für veraltet erklärt werden. Hier zeigen sich weitere gewichtige Unterschiede zwischen Luhmann und Haas. Das ist zuvörderst Folge der bei Haas anders gearteten erkenntnistheoretischen Grundlegung, die sich mit ihren Bezugspunkten Hegel (und Heidegger) von konstruktivistischer Erkenntniskritik deutlich fernhält. Zwar geht auch Haas davon aus, dass »funktionale Beschreibungen erläutert, aber nicht bewiesen werden« können.68 Gleichwohl aber tritt für ihn notwendig ein deiktisches Moment zum funktionalen hinzu, wobei die »richtige Bestimmung einer Funktion« 69 verbürgt wird, indem sie für den Betrachter das »Interessanteste der Kunst näher[zu]rücken« vermag.70 Darin anerkennt die »funktionale Analyse […] die ›subjektive‹ Lust am Werk […] als Kriterium ihrer Richtigkeit«.71 Gegen 62 Luhmann 1992, 380. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Ebd., 381. 66 Ebd., Anm. 32. 67 Haas 2003. 68 Ebd., 220. 69 Ebd., 215. 70 Ebd. 71 Ebd., 216.
Schenker, Luhmann und das Problem der ›steigenden Urlinie‹ den denkbaren Vorwurf eines »schlechten Subjektivismus«, bei dem jeder »etwas anderes am Werk ›evident‹ finden« könnte, wendet Haas ein: »Allein, jedes empirische Wissen geht auf richtige Beschreibung des Vorliegenden zurück«.72 Damit scheint das Definiendum zugleich Definiens und wieder Definiendum zu sein. Obgleich dies an die für die Systemtheorie Luhmanns charakteristische Gedankenfigur der Tautologie erinnert (als Konstitutiens der Funktionalität der Systemtheorie), scheint Haas’ Vorsatz an anderen Stellen dahin zu gehen, aus dieser Zirkelbildung durch eine Art Evidenzerlebnis auszubrechen, das dem Hörer den unmittelbaren Zugang zur intentio auctoris ermöglicht. So äußert Haas mit Blick auf Schenkers Graphen: »Diese Bilder sagen schon alles. Und zwar sagen sie es so, daß sie es gerade nicht sagen, daß sie nämlich Beethoven selbst sprechen lassen.«73 Aus der Perspektive der Systemtheorie Luhmanns erhalten funktionale Bestimmungen das ›Kriterium ihrer Richtigkeit‹ durch ihre Anschlussfähigkeit für weitere kommunikative Akte. Empirie ist hier nur soweit im Spiel, als sich zu jedem Beobachter gemeinhin ein Gegen-Beobachter findet. Was eine ›richtige Bestimmung‹ ist, erweist sich demnach nicht durch Evidenz, sondern Evolution. In Luhmanns Schriften gibt es für die Verwendung des Begriffs der ›Evidenz‹ in Verbindung mit Kunstwerken nur eine einzige Belegstelle: »Das Medium der Kunst ist demnach für alle Kunstarten die Gesamtheit der Möglichkeiten, die Formgrenzen (Unterscheidungen) von innen und nach außen zu kreuzen und auf der anderen Seite Beziehungen zu finden, die passen, aber durch eigene Formgrenzen ein weiteres Kreuzen anregen. Das Medium der Kunst ist also jedem Kunstwerk präsent – und doch unsichtbar, da es nur auf der noch unbezeichneten Seite gleichsam als Attraktor weiterer Beobachtungen wirkt. Im Suchen verwandelt sich dann das Medium in Form. Oder man scheitert. Im Zusammenwirken von Form und Medium ergibt sich dann das, was gelungene Kunstwerke auszeichnet, nämlich unwahrscheinliche Evidenz.«74 Der Akzent liegt hier deutlich anders als bei Haas. Evidenz gründet nach Luhmann zuvörderst auf der Unwahrscheinlichkeit, das »Zusammenwirken von Form und Medium« im Kunstwerk könne überhaupt gelingen. Luhmann formuliert – für ihn typisch – seine Beobachtung in Form einer Paradoxie. Als ›Kriterium der Richtigkeit‹ wird »unwahrscheinliche Evidenz« nicht in Anspruch genommen.
Die Funktion des wissenschaftlichen Teilsystems, das hier der Einfachheit halber ›Schenkeranalyse‹ genannt wird, ist die Bestimmung musikalischen Zusammenhangs. Für dieses System ist zugleich gesagt, dass musikalischer Zusammenhang durch eine je spezifische ›Form‹ (im Sinne Luhmanns) als ›feste Kopplung‹ gegeben ist, nämlich durch diejenige, die von Heinrich Schenker beschrieben wird (in Unterscheidung zu anderen Formen musikalischen Zusammenhangs wie beispielsweise solchen, in denen das Verhältnis von Tönen hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit von Tonfeldern bestimmt ist). Wird die Unterscheidung ›musikalischer Zusammenhang /kein musikalischer Zusammenhang‹ in die Theorie ›hineincopiert‹, schließt das zugleich mit ein, dass musikalischer Zusammenhang auf die von Heinrich Schenker beschriebene Art im Werk hergestellt ist, ohne dass dazu im Einzelnen festgelegt wäre, wie dies geschieht. 72 Ebd., 220. 73 Ebd., 217. 74 Luhmann 1997, 191.
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Dadurch werden Möglichkeiten der historischen Differenzierung und Stilkritik eröffnet. Die Anfangsunterscheidung ›relativer Vordergrund /relativer Hintergrund‹ wird mehrfach in die Theorie ›hineincopiert‹. Durch das Re-entry der Diminution, d. h. die mehrfach wiederholte Operation der Auskomponierung, ergibt sich das Schichtenmodell75 als jene Struktur, die innerhalb des Systems ›Schenkeranalyse‹ Individuation und Generalisierung ermöglicht. Der Begriff der ›Subordination‹ wird an dieser Stelle bewusst vermieden: ›Funktionalität‹ in der Perspektive der Systemtheorie Luhmanns impliziert, dass die behaupteten sozialen Systeme keiner hierarchischen Staffelung unterliegen und im Gegensatz zu den stratifikatorischen Gesellschaften früherer Zeiten ›keine Spitze‹ mehr aufweisen.76 Schenker’sches Schichtenmodell und Luhmann’scher Funktionalismus scheinen sich daher zunächst kategorisch auszuschließen. Dieser Gegensatz erweist sich aber als auflösbar, werden ›hintere‹ und ›vordere‹ bzw. ›frühere› und ›spätere‹ Schichten nicht im Sinne der Subordination begriffen, sondern im Sinne der Zuordnung. Von daher erweist sich Schenkers eigene Wortwahl bei der Erläuterung des Designs seiner Theorie immer dann als anachronistisch, wenn sie dem Sprachgebrauch der Stratifikation verhaftet bleibt.
Die Beobachtungen im System ›Schenkeranalyse‹ sind auf Komplexitätszuwachs ausgerichtet. Es scheint mengentheoretisch logisch, dass abstrakte Anfangsunterscheidungen einen Komplexitätszuwachs motivieren. In diesem Sinne ist mit der UrlinieKonzeption in der späten Theorie Schenkers ein intelligentes Formkalkül gegeben, aus dem einerseits eine Reihe von Folgeentscheidungen hervorgeht, die zur Ausdifferenzierung des Theorieprogramms und damit mittelbar zur Komplexitätssteigerung des Systems ›Schenkeranalyse‹ führen, und das andererseits durch dessen Asymmetrisierung ein unbegrenztes Wachstum der Relationsdichte verhindert: Mit ihrem quasi ›ontischen‹ Status als ›erster Beweger‹ stabilisiert die Urlinie das System, das auf sie zurückgeht.77 Ein anderes Validitätskriterium außer der Gewährleistung von Anschlussfähigkeit kann für Theorie und System nicht benannt werden. Aus Sicht der Systemtheorie erscheint es daher als keineswegs unproblematisch zu behaupten, die ›Richtigkeit‹ einer Unterscheidung bemesse sich danach, inwiefern die dadurch ermöglichten Relationen dem analysierenden Subjekt als ästhetisch relevant erscheinen. Der ›blinde Fleck‹, den die funktionale Analyse, so wie sie hier verfolgt wird, nutzt, um Beo75 Bereits Haas (2003) konstatiert einen Widerspruch zwischen der Inanspruchnahme der Schenker’schen Theorie durch eine moderne »Methode der Werkanalyse« (ebd., 214) und Schenkers »eigener Grundlegung« (ebd.). Allerdings sieht Haas diesen Widerspruch zuvörderst darin, dass »Schenker die historische Begrenztheit seiner Entdeckungen verkannt und sich dadurch den Zugang zur neueren und älteren (vor dem 17. Jahrhundert) Musik verbaut« (ebd.) habe. 76 Vgl. Luhmann 1987a, 264. 77 »Gemeinsam mit der ›Bassbrechung‹ bildet die Urlinie den ›Ursatz‹. Dieser erscheint in der Perspektivierung durch die Systemtheorie Luhmanns als ›Einheit der Differenz‹ von melodischer Linearität einerseits und harmonischem Stufengang andererseits.
Schenker, Luhmann und das Problem der ›steigenden Urlinie‹ bachtungen vorzunehmen, ist, dass Musik ästhetisch berührt. Das heißt wiederum nicht, dass Kompositionen, die im Lichte einer funktionalen Analyse erscheinen, aufgrund des darin herrschenden Verhältnisses von Komplexitätsreduktion und Komplexitätszuwachs in ihrer relationalen Klarheit und Dichte nicht als ›schön‹ wahrgenommen werden können. Aber diese ästhetische Betrachtung erscheint primär durch das Theoriedesign motiviert. Ob und inwiefern ein ›Zeigemodus‹ innerhalb des Systems Schenkeranalyse Phänomene aufruft, die ihren Ort ›in der Musik‹ haben, kann nicht mit Rekurs auf die Systemtheorie beantwortet werden. An die Stelle der einen setzt die Systemtheorie die multizentrische Realität der vielen Beobachter.78 Damit ist freilich nicht gesagt, dass funktionale Analyse generell nicht zuständig sei für ästhetische Erfahrungen, sondern nur, dass die Kommunikation mit anderen Systemen, durch die dieser Punkt beleuchtet werden könnte, hier nicht beobachtet wird.
III. Schon aus dem Bisherigen ist ersichtlich, dass der häufig erhobene Vorwurf, Schenkers späte Theorie sei ein Ausdruck dogmatischer Verengung79, ihren funktionalen Ansatz verkennt. Was hier im Namen der (›Bewegungs‹-)Freiheit (beispielsweise mit Blick auf die Direktionalität der Urlinie) gefordert wird, bedeutet letztlich einen Mangel an Unterscheidungsmöglichkeiten. Was aber nicht unterschieden wird, kann nicht relational zueinander bestimmt werden. Fraglos ist die gängige Diskussion um steigende und fallende Urlinien durch diese Gedankenfigur nicht bestimmt. Schenker selbst spricht mit Blick auf die menschliche Erfahrung »eines Endes, des Erlöschens aller Spannungen und Ziele«80 vom »natürlichen Bedürfnis auch die Urlinie bis hinab zum Grundton […] zu führen, wie auch den Bass zum Grundton des Klanges zurückfallen zu lassen«. Martin Eybl hat aber zu Recht darauf hingewiesen, dass Schenkers Argument, »mit dem Erreichen des Grundtons [würden] »alle Spannungen des Kunstorganismus« tatsächlich erlöschen […], eine in den Grundton steigende Urlinie […] nicht aus[schlösse].«81 Auf Seiten derjenigen, die Schenkers Festlegung auf fallende Urlinien teilen, wurde nach Erklärungen gesucht, die dem Mangel an Begründung aufzuhelfen versuchen, der in Schenkers Ausführungen spürbar wird. So hat Steve Larson eine psychologische Erklärung angeboten und mit dem tonräumlichen Verhalten argumentiert: Ein melodischer Abstieg gehe generell mit einem Spannungsabfall einher.82 Larson, der durchaus einräumt, dass diese Erklärung weitere fordere, stützt sich auf Ausführungen von 78 Vgl. Fuchs 1999, 121f. 79 Stellvertretend seien hier genannt die Ausführungen über »Totalitäres Denken in der Musiktheorie« in Eybl 1995, 115ff. 80 Schenker 1956, 43. 81 Eybl 1995, 90f., Anm. 31. 82 Larson 1987, 17f.
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Felix Salzer und Carl Schachter, die in der für die europäische Mehrstimmigkeit zwischen Renaissance und Moderne geltenden Regel der stufenweise fallenden Vorhaltsauflösung den stärksten Ausdruck dieses Prinzips erkennen.83 Obwohl auch Salzer und Schachter anthropologisch argumentieren, ergibt sich durch den Bezug auf die Regularien der Dissonanzbehandlung ein Hinweis auf die historische Zuständigkeit von Schenkers Theorie. Demgegenüber hat sich Ernst Oster im Kommentar zu seiner Übersetzung von Der freie Satz auf die Obertonreihe berufen: Als Obertöne streben 8, 5 und 3 für Oster zum Fundament, das sie hervorgebracht hat.84 Eine andere Begründung als diese naturalistischen oder konventionalistischen kann gegeben werden, werden die unter den Bedingungen des Theorieprogramms ›steigenden Urlinie‹ gemachten Beobachtungen ihrerseits aus systemtheoretischer Perspektive beobachtet: Im vierten Tonwille-Heft von 192385 legt Schenker seinem Graph von Bachs Prae ambulum aus dem Klavierbüchlein für Wilhelm Friedemann Bach BWV 924 eine steigende Urlinie zugrunde (Beispiel 13.1.1), in deren Verlauf 7 und 8 mehrfach erscheinen: In Takt 6 ist die 7 Durchgang zwischen 6 und 8. Im darauffolgenden Takt führt eine Vorhaltsauflösung von 8 zu 7 zurück, die nun bis zur erneuten Auflösung in die 8 (im Rahmen der Schlusskadenz zu Takt 18) prolongiert wird. 83 »When we follow a dissonant suspension with upward motion to a consonance, we of course resolve the dissonance; but a residue of tension remains in the melodic motion.« (Salzer/Schachter 1969, 80f.) 84 Vgl. Schenker 1979, 13, Anm. 5. Tatsächlich ist dieses Argument Schenker nicht fremd. Auf der Wahl der Obertonreihe als Ausgangspunkt der Argumentation resultiert auch der vermeintliche Widerspruch, den Eybl (1995, 91f., Anm. 32) glaubt konstatieren zu müssen, wenn er darauf hinweist, dass die bereits in Schenker 1924a (49–51) abgedruckten Erläuterungen noch in Schenker 1926b (195–9) vollständig übernommen worden seien. In den ersten drei Figuren überführt Schenker den vertikalen, aus Obertönen gebildeten Klang sukzessive von der Auffächerung im Rahmen der Obertonreihe (Fig. 1.) in die Oktave (Fig. 2.) – eine der »Kunst als Menschenwerk« geschuldete »Verkürzung des Naturklangs« – und letztendlich in eine die Oktave füllende steigende diatonische Tonleiter (Fig. 3.). Da jeder Ton einen Zirkumflex erhält, Schenker die einzelnen Segmente des Urlinieraums ebenfalls steigend benennt und auch die Durchgänge gemäß der steigenden Folge aufzählt (»Sekund, Quart, Sept«), kann leicht der Eindruck entstehen, hier werde von einer steigenden Urlinie ausgegangen. Die Herleitung der steigenden Tonleiter allerdings zeigt an, dass Schenker die nach oben strebende Richtung, die durch die Obertonreihe vorgegeben war, allein aus Gründen der Darstellung beibehielt. Dafür spricht auch, dass in den nachfolgenden Beispielen, wo verschiedene Möglichkeiten für eine fundierende Bassstimme diskutiert werden (Fig. 4), ausschließlich fallende Urlinie-Segmente kontrapunktiert werden. Schenker mag zum Zeitpunkt des Verfassens seiner Erläuterungen noch nicht endgültig über das Verhältnis von Aufwärts- und Abwärtsbewegung im Urlinieraum befunden haben. Dass der Beitrag keinen dezidierten Hinweis auf eine steigende Urlinie enthält, sondern nur deren Tonraum darstellt, machte es Schenker gleichwohl möglich, den Beitrag unverändert in das spätere Jahrbuch zu übernehmen – zumal im Text als vollständige Urlinie einzig ein fallender Terzzug angeführt ist. 85 Schenker 1923.
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Anders als in der Urlinietafel im Anhang, wo die diversen 7 und 8 ohne erkennbare funktionale Unterscheidung auftreten, hat Schenker in seinen erläuternden Text zusätzliche Schaubilder (Beispiel 13.1.2) aufgenommen, die erkennen lassen, dass eine weitere Ausdifferenzierung der funktionalen Zuordnungen stattgefunden hat. Zwar erweist sich bereits für die Gestaltung der Urlinietafel der Gedanke als zentral, Urlinie und realer Oberstimmenverlauf müssten nur partiell deckungsgleich sein. Indem Schenker in »Fig 1 a)« den Bassverlauf und mit ihm den erweiterten Stufenbegriff seiner Harmonielehre 86 mit einbezieht, kommt es aber zu einer Distinktion zwischen mehrfach der Urlinie angehörenden Tönen. Schenker hat sich in Der freie Satz ohne direkten Bezug auf seine frühere Analyse von einer solchen Lesart distanziert: Weil »die Quarte […] im Naturklang nicht vertreten« sei, so Schenker hier, »kann auch 8–5 als ein selbständiges Urlinie-Stück nicht gelten, nicht einmal als Umkehrung von 5–1, nur als ein Teil von 8–1«.87 Damit scheint auch 5–8 als selbständige Bewegung ausgeschlossen. Aus der Perspektive der Systemtheorie Luhmanns ließe sich Schenkers Abkehr von einer steigenden Urlinie 5-6-7-8 auch anders beleuchten: In der Konsequenz des Gedankens einer steigenden Urlinie 5-6-7-8 hätte es hinsichtlich des vorliegenden Stücks nahegelegen, zwischen einem Anstieg zum Anfangston der steigenden Urlinie und der steigenden Urlinie selbst zu unterscheiden. Da kein Richtungswechsel im melodischen Stufengang vorläge, ergäbe die Verknüpfung beider Bewegungsformen eine ›effizierte‹ Bewegung.88 Vorgänge dieser Art kennt auch die späte Theorie Schenkers: Ein gängiger Fall besteht darin, 3-2 || 3-2-1 mit einem übergreifenden Septim-Durchgang 5-4 zu verbinden, der auf den Kopfton zu Beginn des zweiten Urliniezuges zurückführt, ohne dass deswegen von 5-4-3-2-1 ausgegangen würde. Dieses Beispiel markiert jedoch zugleich auch die entscheidende Differenz: Die Bewegungsformen sind hier unterscheidbar, weil die erste auf eine zweite Form zurückführt. Ein Anstieg als ein Erstes leistet dies jedoch nicht. Die Auftrennung der steigenden Sexte von 3 nach 8 in Terz- und Quartzug wäre nur aufgrund einer besonderen Qualität des Quinttons zu rechtfertigen, die dem Ton ›an sich‹ zukäme. Eine solche Zuschreibung aber widerspräche der funktionalen Direktive. Diese Einschätzung wird durch die Entwicklung, welche die Theoriearbeit Schenkers genommen hat, gestützt: Terz, Quinte und Oktave sind als Ausgangspunkte der Urlinie grundsätzlich gleichberechtigt.89 86 Schenker 1906. 87 Schenker 1956, 42. 88 ›Effiziert‹ ist nach Bernhard Haas eine Bewegung dann, wenn die sie bildenden Töne nicht einer strukturellen Schicht angehören, sondern verschiedenen, die Art des Zusammenhangs aber auf ein gängiges Muster, beispielsweise eines Zuges, rekurriert, das stark genug ist, Töne unterschiedlicher Provenienz zu binden. 89 Schenkers Rede von der »erste[n] akkordische[n] Aufstellung […] des Klanges« in seiner Analyse von BWV 924 (1923, 3) ruft in Erinnerung, dass der Ursatz gemessen an dem Zweck der Auskomponierung des Tonika-Dreiklangs bereits eine erste Ableitung darstellt: Im Ursatz ist der Klang in Bewegung gesetzt. Wie die spätere Ursatzkonzeption Schenkers zeigt, muss der Klang durch die Urlinie nicht vollständig durchmessen werden, ansonsten wären Terzzüge als Urlinie undenkbar. Hier wird eine Verschiebung in der Konzeption Schenkers sichtbar: Die Unschlüssigkeit über die Hierarchisierung der Bewegungsrichtungen im Urlinieraum mag ihren Grund auch darin gehabt
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Damit, dass der stufenweise melodische Anstieg zwischen g und c mit der Auskomponierung der I. Stufe einhergeht, korreliert in BWV 924 die Qualität der ersten 7 in Takt 6 als Durchgangston: Sie ist im zusätzlichen Schaubild Schenkers (Beispiel 13.1.2) geschwärzt. Eine andere Bedeutung hat die ab Takt 7 prolongierte 7: Sie ist Leitton in der strukturellen Kadenz des Stücks und erscheint im zusätzlichen Schaubild (Beispiel 13.1.2) mit unausgefülltem Notenkopf. Zur Differenzierung zwischen den beiden Qualitäten trägt offenbar bei – was Schenker nicht explizit beschreibt –, dass die 7 bei ihrem ersten Erscheinen im Rahmen einer tenorisierenden Kadenz Verwendung findet, die einer untergeordneten Kadenzklasse angehört. Diese Form der Zuordnung entspricht der schwachen metrischen Position des Akkords der VII., den Schenker fälschlicherweise als Akkord der V. Stufe bezeichnet, und der der I. Stufe knapp vor Ende von Takt 6. Deutlich hiervon unterscheidet sich die Verwendung der 7 im Rahmen der Basskadenz am Ende des Stückes. Dass der Orgelpunkt auf der fünften Bassstufe90 bereits mit der Rückwendung von der 8 zur 7 in Takt 7 eintritt, nimmt Schenker allem Anschein nach zum Anlass, die zweite 7 analog zur Bassstufe bis zu ihrer Auflösung prolongiert zu sehen. Nun könnte vorgebracht werden, folge man dem Weg der zusätzlichen Schaubilder nur konsequent und bringe noch weitere Unterscheidungen an, so gestatte dies schließlich die Applizierung einer undirektional steigenden Urlinie. Damit wäre der Nachweis erbracht, dass der Grad der Differenzierung zwischen verschiedenen Bewegungsformen, durch den sich eine späte Schenker-Analyse gemeinhin auszeichnet, nicht auf eine fallende undirektionale Urlinie angewiesen ist.91 Zumindest für das vorhaben, dass Schenker noch nicht entschieden hatte, ob und wie Urlinie und Klang ins Verhältnis gesetzt werden sollten. Dass er sich für eine Lösung entschied, in der Terz und Grundton den Klang bereits vollständig vorstellen, obwohl ›real‹ kein Dreiklang erklingt, mag man auch als Argument für eine von der Quinte ansteigende Urlinie nehmen: Wie hier auf die Darstellung der Terz verzichtet wird, so dort auf die der Quinte. In diesem Zusammenhang hat Bernhard Haas geltend gemacht, dass sich »aus der im Ursatz implizierten Gleichsetzung der Terz der (zunächst pythagoräisch vorgestellten) Diatonik mit der des Dreiklangs (der zunächst als Frequenzverhältnis 4:5:6 (Dur) bzw. 10:12:15 (Moll), d. h. mit der sogenannten natürlichen Terz vorgestellt wird) […] nicht nur ein Teil der Diskussion über Stimmungssysteme im 18. Jahrhundert, sondern auch eine ganze Gattung musiktheoretischer Literatur über das Wesen des (europäischen) Tonsystems« erkläre (2003, 263, Anm. 29). Man kann Haas’ Rekurs auf die ›Natur‹ des Tonsystems mit der Luhmann’schen Gedankenfigur der »Einheit einer Differenz« (1987, 283) gegenlesen. Die Quinte erlaubt die für das Theoriedesign offenbar entscheidende Grundlegung nicht: Pythagoräische Quinte und natürliche Quinte können nicht »implizit« gleichgesetzt werden – sie ›sind‹ es bereits. 90 Im Folgenden werden Bassstufen mit ausgeschriebenen Zahlen nummeriert. 91 Schenkers erste Analyse des Präludiums wird in der Schenkerforschung zumeist nur für die Erörterung der Frage herangezogen, inwiefern der Übergang vom älteren zum endgültigen Urlinie-Konzept für eine kontinuierliche oder diskontinuierliche Theorieentwicklung steht. Hier stehen sich prinzipiell die Auffassung William Pastilles (1990), der von einer kontinuierlichen, und Martin Eybls, der von einer diskontinuierlichen Entwicklung ausgeht, gegenüber. Pastille
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liegende Stück aber kann dies mit Recht bestritten werden. Einen einzigen durchgehenden Strukturzug von e bis c zu lesen, bedeutet, bereits getroffene Unterscheidungen wieder preiszugeben. Denn sind die Penultima der Tenor- und jene der Basskadenz aufgrund der unterschiedlichen Kadenzklassen und metrischen Positionen nicht derselben Schicht zugehörig, lässt sich keine Prolongation der 7 ab Takt 6 behaupten bzw. kann die 8 am Ende von Takt 6 nicht als obere Wechselnote einer späteren Schicht gelten. (Ebenso wenig lassen sich Penultima und Ultima der Tenorkadenz als Prolongation der 6 verstehen, da weder VII. noch I. Stufe sinnvoll auf einen Strukturton a bezogen werden können.) Für die Schwierigkeit, dass einerseits der Gang von e bis c einer einzigen Bewegung92 zugehörig ist, andererseits aber die Komposition mit dem erstmaligen Erreichen der 8 noch nicht ihr Ende findet, bietet das Konzept einer steigenden Urlinie demnach keine Lösung. (Eine Fortsetzung der Urlinie über die 8 hinaus widerspräche der notwendigen »Verkürzung des Naturklangs«93 auf Menschenmaß.) Hält man nach einer alternativen Lösung Ausschau, die zumindest partiell am Programm ›steigende Urlinie‹ festhält und dennoch den beiden unterschiedlichen Funktionen des h1 und c 2 Rechnung trägt, ohne den durch die Bassbewegung angezeigten Beginn eines neuen Formteils mit Takt 7 unberücksichtigt zu lassen, so bleibt einzig, als Urlinie die Wechselnotenbewegung c 2-h 1-c 2 anzunehmen (Beispiel 13.1.3).94 begründet seine Auffassung damit, dass die Urlinien früherer Analysen den späteren Analysen ohne Schwierigkeit als Schichten des Mittelgrunds zugeführt werden könnten. Eybl hält dagegen, dass »Urlinien, die auf 3 schließen oder am Ende in die 8 steigen […] einer solchen Forderung« widersprächen (1995, 95). Seine Einschätzung bezüglich der steigenden Urlinie wäre jedoch nur unter der Voraussetzung zustimmungsfähig, die von Schenker in Der Tonwille behauptete Urlinie für BWV 924 (1923) müsse als ununterbrochene Bewegung in späteren Analysen einer einzigen Schicht des Mittelgrundes zugehörig sein. Dieser Anspruch aber erscheint überzogen und wird von Pastille nicht erhoben. Einzig die unvollständige Urlinie 5-4-3 der Tonwille-Analyse von Robert Schumanns Von fremden Ländern und Menschen gibt Anlass zur Diskussion (Schenker 1924b). Weder Pastille noch Eybl diskutieren die Entwicklung von Schenkers Theorie unter dem hier in Anschlag gebrachten wissenschaftstheoretischen Paradigma. 92 Zu dieser »einzigen Bewegung« ist freilich zu sagen, dass sie – wie Schenker darlegt – für die prolongierende Überbrückung der ›Tritonusschwelle‹ zwischen III. und VII. Stufe einen Wechsel des verwendeten Satzmodells und eine zeitweise Änderung der Bewegungsrichtung der realen Oberstimme in sich einschließt. (Vgl. Schenker 1923, 4, Fig. 2.) 93 Vgl. Anm. 83. 94 Dass Schenker eine solche Lösung nicht erwogen hat, ergibt sich aus seinen Überlegungen zu dissonanten Durchgangstönen. Schon im Kontrapunkt hatte Schenker am Beispiel des Gebrauchs der Sekunde im zweistimmigen Satz zweiter Gattung seine Auffassung vom Durchgang als einem Ton verdeutlicht, der seine beiden benachbarten Töne dadurch scharf voneinander trennt, dass er keine »harmonische Beziehung auch nur zu einem der sie [die Sekunde] umgebenden Töne« unterhält (1910, 239). Der Durchgangston schaffe eine »wirkliche Neutralität von Ton zu Ton«. (Ebd.) Die ebenfalls unter diese Bedingungen fallenden dissonanten Wechselnoten weist Schenker mit dem Argument zurück, »daß die die Dissonanz umrahmenden Konsonanzen identisch sind«
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Freilich, ungeachtet dessen, dass damit das bidirektionale Urlinien-Konzept beibehalten wird, zeigt sich aus systemtheoretischer Perspektive die Vorläufigkeit dieser Lösung auch anderer Stelle: Jede Lesart hat sich zu der Auffälligkeit zu verhalten, dass mit Takt 11 die Auflösung der dominantischen Septime f in die Tonikaterz e vollzogen wird. Das Arpeggio der beiden vorausgehenden Takte überführt den von der Mittelstimme g 1 ausgehenden Septimdurchgang in die obligate Lage. Auflösungston ist der Oberstimmenton des ersten Akkords im Stück e 2. An dieser Stelle scheint eine für die Formgebung der Komposition richtungsweisende Entscheidung getroffen zu werden: Der Bass fällt nicht zurück zur I. Stufe, sondern hält an der V. Stufe fest. Damit unterbleibt die mögliche Unterbrechung des Ursatzes (in Verbindung mit einer übergreifenden dominantischen Septime). Die Relation zwischen dem e 2 des Beginns und dem e 2 in Takt 11 kann – um mit Schenker zu sprechen – »begrifflich gefasst« werden, wenn als Ausgangston der Strukturbewegung e 2 (und nicht c 2 wie in der alternativen Lesart in Beispiel 13.1.3) gewählt ist. Bekanntlich ist ebendies die Lösung in Schenkers späterer Deutung in Der freie Satz (Beispiel 13.1.4):95 Hier wird die Bewegung e–c als Gang von der Oberstimme e 2 zur Mittelstimme c 2 interpretiert und der ›Rückfall‹ von c 2 zu h1 als Teil einer Ausfaltung verstanden. Zwischen den hier diskutierten Lesarten besteht ein Komplexitätsgefälle. Schenkers späte Deutung überzeugt aus der Perspektive der Systemtheorie dadurch, dass sie sich in höherem Maße als die »selbsttragende Konstruktion« erweist.96 Erzeugt wird eine »emergente Realität, die sich nicht auf Merkmale zurückführen läßt, die im Objekt oder Subjekt schon vorliegen«.97 Zugleich gilt: »Emergenz ist […] nicht einfach Akkumulation von Komplexität, sondern Unterbrechung und Neubeginn des Aufbaus von Komplexität.«98 Schenkers doppelte Bestimmung des Tons e als Kopfton
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(ebd., 240), was den »offenbaren Nachteil« (ebd.) mit sich bringe, »daß nun alle drei Töne zu einer höheren melodischen Einheit zusammentreten, indem hier bloß der eine Ton C des Kontrapunkts gleichsam melodisch auseinandergewickelt zu sein scheint.« (Ebd.) Und Schenker schlussfolgert: »Die stufenweise gebrachte Dissonanz auf dem Aufstreich muß in derselben Richtung auch fortgehen, in der sie gekommen ist.« (Ebd.) Dieser Konsequenz entspricht späterhin auch der Ursatz: Die Bassbrechung verdankt sich der ›Konsonantmachung‹ der 2, die dissonanter Durchgang zwischen 3 und 1 ist. Schenker 1956, Fig. 43 zu b). Freilich ist durch die vorige Erörterung nicht ausgeschlossen, dass durch weitere Beobachtungen mit steigenden und fallenden Urlinien an verschiedenen Beispielstücken zu einer plausiblen Bewertung des Konzepts einer steigenden Urlinie gekommen werden kann. Andererseits erlaubt gerade der Gedanke des Systems, dass nur über solche Fälle eine Kommunikation geführt zu werden braucht, die auch behauptet werden, oder wie Luhmann sagt: »Man formuliert nicht aufs Geratewohl Sätze, um dann sich um die Feststellung ihrer Unwahrheit zu bemühen. Die festzustellende Unwahrheit muß ›interessant‹ sein, muß also im Falle ihrer Wahrheit eine sinnvolle Theorie ergeben.« (1992, 205) Luhmann 1987a, 658. Ebd., 44.
Schenker, Luhmann und das Problem der ›steigenden Urlinie‹
und als Ausgangston eines Gangs in die Mittelstimme entspricht diesem Theoriedesign: Die neu hinzutretende Relation bedeutet eine Komplexitätszunahme. Zugleich aber ist das Relationsganze von Grund auf neu bestimmt, wird der »Neubeginn des Aufbaus von Komplexität« in Gang gesetzt.
IV. David Neumeyer hat mit einer Reihe revisionistischer Beiträge99 versucht, Schenkers Ansatz zu erweitern. Neumeyer problematisiert das seiner Ansicht nach unter Schenkerians gängige Autoritätsargument (»because Schenker said so«100) und mahnt eine Revision der Theorie unter Einschluss steigender Urlinien in einem zwei- oder auch dreistimmigen Ursatz an. Dabei möchte Neumeyer die steigende Urlinie nicht als ein abstraktes Problem der Theorie verstanden wissen, sondern begreift sein Konzept als a practical, musically concrete issue, since there are compositions whose tonal de signs it seems to explain most sucessfully, although those compositions represent only small percentage of the repertoire of traditional tonality.101
Neumeyer konzentriert sich im Wesentlichen auf 5-6-7-8 als Form der steigenden Urlinie und führt als Belege Kompositionen von Beethoven bis Brahms an. Einwänden mit Bezug auf die Obertonreihe hält Neumeyer das Prinzip der Oktavidentität entgegen, auf das sich auch Schenker stütze, wenn er es – anders als noch in den Figuren zu Beginn von Der freie Satz102 – zulasse, dass in der realen Bassführung Quarten und Quinten einander ersetzten.103 Neumeyer bezieht sich auf das oben bereits diskutierte einzige Beispiel für eine Analyse Schenkers mit einer steigenden Urlinie – Bachs Prae ambulum BWV 924 – in Der Tonwille 104 nur insofern, als Schenkers Ausführungen keinen Hinweis darauf enthielten, er, Schenker, erachte die steigende Urlinie prinzipiell in irgendeiner Form als problematisch.105 Gleichwohl räumt Neumeyer ein, dass vom Standpunkt der voll entwickelten Theorie aus Schenkers frühe Analyse nicht überzeugend sei.106 Neumeyer möchte Schenkers frühe Urlinienkonzepte folglich nicht einfach reanimieren, sondern auf Grundlage der Errungenschaften von dessen später Theorie fortentwickeln. Fraglos ist es dabei Neumeyers Ziel, zur Stabilisierung 99 Neumeyer 1987a, 1987b und 1987c. 100 Neumeyer 1987a, 275. 101 Ebd., 275f. 102 Vgl. in Schenker 1956 die Figuren vor und ab Fig. 20.3. 103 Neumeyer 1987a, 280f. 104 Schenker 1923. 105 Neumeyer 1987a, 277. 106 Ebd.
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und Funktionstüchtigkeit des Systems ›Schenkeranalyse‹ beizutragen. Eine Untersuchung seines Ansatzes kann jedoch zeigen, dass Neumeyer das Gegenteil erreicht, weil er eine Entdifferenzierung der Theorie betreibt. Dies soll zunächst am Problem des ›Leerlaufs‹ verdeutlicht werden. ›Leerlauf‹ entsteht nach Schenker, wenn Urlinie und Bassbewegung sich nicht als Note-gegen-Note-Satz verhalten. In den Ursatzformen Schenkers ist dieses Phänomen unterschiedlich stark ausgeprägt. Fällt die Urlinie von der Quinte aus, ist es die Quarte, die durch keine Strukturbewegung des Basses unterstützt wird, fällt die Urlinie von der Oktave aus, sind es zusätzlich noch Septime und Sexte. Nach Schenker gehört es zu den Aufgaben späterer Schichten, den ›Leerlauf‹ durch Auskomponierung zu beseitigen.107 Darin scheint Neumeyers steigende Urlinie den fallenden Urlinien Schenkers auf den ersten Blick verwandt: Die die Bassbrechung prolongierenden Bass töne in den Ursatzformen Neumeyers verhindern ebenfalls den Leerlauf. Bei Schenker setzen jedoch notwendige ›Konsonantmachungen‹ die Basslinie in Bewegung. Sie kann bei Eintritt des zweiten Urlinietons in keiner der drei Urlinieformen auf ihrem Anfangston verweilen. Nur im Falle einer von der 8 fallenden Urlinie besteht infolge der Diatonik die Möglichkeit, dass mit der 5 und der 6 zwei stufenweise aufeinander folgende Töne konsonant zu ein und demselben Basston sind. Die Wahrscheinlichkeit jedoch, dass diese Form des Leerlaufs in Erscheinung tritt, ist gering, weil der bereits unter der Septime erforderliche Wechsel des Basstons Möglichkeiten der Fortschreitungen eröffnet, unter denen die Rückkehr zum Grundton nur dann eine sinnvolle Option darstellt, wenn der Ton als vierte Bassstufe in der Oberquinttonart Verwendung findet (was wiederum den erneuten Wechsel zur fünften Bassstufe noch unter der 6 notwendig macht). Bei einer von der Quinte ansteigenden Urlinie hingegen ist keine Konsonantmachung im Übergang von der 5 zur 6 und folglich auch keine initiale Bassbewegung gefordert. Vielmehr ist die 5-6-Konsekutive aufwärts ein kontrapunktischer Topos. Erst die Durchgangsdissonanz der Septime und die abschließende 8 motivieren die Bassbrechung. Obwohl die primäre Sexte im mehrstimmigen Satz ein labiles Intervall ist, da sie keinen grundstelligen Akkord ermöglicht und es von daher angemessen erscheint, sie als Außenstimmenintervall zu vermeiden, liegt ein ›Stimmführungszwang‹ im Sinne Schenkers nicht vor. Während die »Neutralität von Ton zu Ton«108, die Schenker dem (Sekund-)Durchgang beimisst, im Ursatz durch die Bassbrechung geschärft wird, verlieren Neumeyers Ursatzformen an kontrapunktischer Profilierung, was sie an harmonischer gewinnen: Nur für den Fall, dass die Urlinie durch die Grundakkorde der I, IV. und V. Stufe harmonisiert wird, sind melodische Strebewirkung und Stufengang in ein wechselseitig sich stützendes Verhältnis gebracht (Beispiel 13.2). 107 Schenker 1956, 51f. 108 Vgl. Anm. 94.
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Die von Neumeyer in Kauf genommene Verschiebung der Wertigkeiten zwischen Urlinie und Bassbrechung im Ursatz wird besonders deutlich, wo er die Möglichkeit vorstellt, die 6 als None über der V. Stufe zu setzen und als leerlaufenden Durchgang aufwärts – eine weitere Bassnote kann nach Erreichen des Quintteilers nicht mehr folgen – in die 7 fortzuführen (Beispiel 13.2 g). Freilich unterstellt dieser irreguläre Transitus im Hintergrund eine prinzipielle Änderung in der Dissonanzauffassung und markiert einen fundamentalen Unterschied zu Schenkers Idee der Konsonantmachung – ein bemerkenswerter Widerspruch, bedenkt man, dass es Neumeyer mit seiner Weiterentwicklung nicht zuletzt um eine Stabilisierung der späten Theorie Schenkers zu tun ist. Franz Schuberts Valse noble in E-Dur, D 969, Nr. 7 (Beispiel 13.3) ist für Neumeyer »eine der deutlichsten kompositorischen Umsetzungen einer einfach harmonisierten ansteigenden Urlinie von der 5.«109 Neumeyer räumt zwar ein, dass im A-Teil der Komposition die Quinte h sich wie ein Deckton verhielte, während die darunter befindliche Terz gis melodisch aktiver sei, zumal von ihr ein Terzzug in den tonikalen Schluss des A-Teils führe. Dennoch glaubt er bereits in der Stellvertretung des 2. durch den 7. Ton in der Schlusswendung der ersten Reprise einen Hinweis auf die Anordnung am Ende des abschließenden A'-Teils erkennen zu dürfen, wo die steigende Urlinie um die fehlende 6 ergänzt werde (Beispiel 13.4.1). Nach Neumeyer spricht für die steigende Urlinie, dass »ein Abstieg von der 3 nicht genügend deutlich ist (und im übrigen Quintparallelen mit dem Bass hervorbringen würde).«110 Zunächst erstaunt der in Klammern gesetzte Zusatz, denn genau darin, die in einer früheren Schicht angelegte satztechnische Problematik aufzulösen, kann die Aufgabe einer späteren Schicht bestehen.111 Neumeyers vermeintliches Ausschlusskriterium erweist sich somit als Argument nicht für eine steigende, sondern eine fallende Urlinie. Ferner muss, soll schon mit dem Kriterium ›genügender Deutlichkeit‹ argumentiert werden, darauf hingewiesen werden, dass durch die starke Akzentuierung des e in Takt 22 die Möglichkeit, cis als Anschlusston zu h wahrzunehmen, stark gemindert ist. Insofern die cis-Stufe den tonikalen Sextakkord in Quintlage ersetzt, kann auch nicht davon gesprochen werden, die Konstellation am Ende der ersten Reprise werde um einen fehlenden Ton ergänzt. Natürlich ist es prinzipiell möglich, dass ein motivisches Design im Vordergrund gewählt ist, von dem aus keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die strukturelle Relevanz einzelner Töne in früheren Schichten gezogen werden 109 »[…] one of the clearest compositional realizations of a simple harmonized ascending Urlinie from 5.« (Neumeyer 1987a, 284.) 110 Neumeyer, 1987a, 284: »[…] a descent from 3 is not clearly enough represented (and would in any case generate parallel fiths with the bass).« 111 Nach Haas /Diederen 2008 erlaubt das »›Zusätzliche‹« einer späteren Schicht »die Angabe von Gründen, gewissermaßen [von] ›Mängeln‹ in der Version ohne das Zusätzliche [gemeint: in einer früheren Schicht, S.R.], die dieses Zusätzliche motivieren.« (ebd., 27).
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können. Was der Deutung Neumeyers widerspricht, ist denn auch die Formwirkung in Takt 17. An dieser Stelle kommt es nicht zum möglichen Dacapo des A-Teils. Das Hinzutreten der dominantischen Septime a im Halbschlussklang zeigt noch einmal an, dass die melodische Aktivität mehr im Part112 des Alts liegt als in dem des Soprans. Der Effekt erinnert an eine übergreifende Mittelstimme. Darüber liegt wiederum h als Deckton. Eine Unterbrechung scheint nicht vorzuliegen. Der Ton gis wird zwar in Takt 21 wie zu Beginn mit der I. Stufe harmonisiert, doch erfolgt diese Rückwendung zu spät und beiläufig, um der Reichweite der vorausgegangenen Dominante noch Entscheidendes entgegenzusetzen.113 Dem Übergreifzug voraus geht die Wendung zur 2 im Mittelteil der Komposition. Die C-Stufe wäre demnach Auskomponierung des chromatischen Durchgangstons g zwischen 3 und 2 (Beispiel 13.4.2). Es wäre ein Missverständnis, in dieser alternativen Deutung nur den Nachweis dafür zu sehen, dass sich Neumeyers Lesart durch eine konventionelle ersetzen ließe. Der Vorzug der alternativen Deutung besteht nicht in ihrer Konventionalität, sondern in ihrer Komplexität. Die Wahl des Quinttons als Kopfton ermöglicht zwar – insbesondere dann, wenn der Stufenplan sich durch eine Pendelbewegung zwischen I. und V. Stufe auszeichnet – dessen größere Präsenz als reale Oberstimme. Doch kann dies bei mangelnder Auskomponierung bedeuten, dass die reale melodische Bewegung zum Erliegen kommt.114 So auch hier – metaphorisch gesprochen: Neumeyers Urlinie verhält sich passiv, wartet ab, bis sich die Möglichkeit bietet, über einen steigenden Tonleiterausschnitt in den Schlusston zu gelangen. Demgegenüber sind Schenkers Urlinien aktiv. Jeder neue Urlinieton geht mit dem Eintritt eines neuen Formabschnitts einher.115 Urlinietönen kommt diese Funktion aber nur deswegen zu, weil sie in einen konkreten Stimmführungszusammenhang eingebettet sind. Andernfalls verblasst ihre Funktion. Dass in Neumeyers Lesart von Schuberts Valse die Urlinietöne in den Vordergrund aufrücken, kann als Ausdruck des Mangels an zugeordneten Schichten verstanden werden. Neumeyers Analyse zeichnet sich durch einen Verlust
112 Analog zum Sprachgebrauch ›voice‹ versus ›part‹ in der amerikanischen Musiktheorie (vgl. Wen 1999, 277ff.) wird nachfolgend von ›Stimme‹ nur mit Blick auf den ›imaginary continuo‹ (dieser Begriff nach Rothstein 1991, 296) gesprochen, der der Einrichtung des tonalen Tonsatzes zugrunde liegt. ›Part‹ hingegen meint im landläufigen Sinne die Stimme im akustisch realen Satz. 113 Diese Zuordnung der I. zur V. Stufe wird von Schubert durch die Auffassungs-Quartsextakkorde der Takte 18 und 20 gezielt vorbereitet. 114 Hiermit ist ein Problem von Stücken mit einer Urlinie von der 5 angesprochen, das unabhängig von Neumeyers Darstellung Anlass zur Diskussion böte. 115 In diesem Sinne spricht Michael Polth mit Blick auf die Sonatenform davon, dass »Urlinietöne eine Folge von Funktionen von großer Reichweite sind, an denen die Phasen der Tonartenentwicklung eines Satzes im Ganzen deutlich werden.« (2005, 473) Prinzipiell gilt diese Aussage freilich auch für kleinere Formen.
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an Komplexität aus, angesichts dessen die Frage nach der Möglichkeit steigender Urlinien marginalisiert erscheint.116
V. »Die folgenden Überlegungen gehen davon aus«117, dass sich innerhalb des funktionalen Systems ›Tonalität‹ ein Wechsel des ›Programms‹ ereignet hat.118 Tonalität in der Musik des ausgehenden 18. Jahrhunderts kann als ›Ursatz-Tonalität‹ (im Sinne Heinrich Schenkers), Tonalität in Werken ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts hingegen als ›Tonalität der Tonfelder‹ (im Sinne Albert Simons)119 verstanden werden.120 Fraglos ist der Eintritt der VI. Stufe in Verbindung mit dem 6. Ton ein außergewöhnlicher Moment der Komposition, der mit Bedacht erst am Ende der zweiten Reprise und nicht bereits bei der Parallelstelle zuvor realisiert scheint. Schubert komponiert als Mitte einer dreiteiligen Form den Schritt von der sechsten zur fünften Bassstufe in der Mollvariante der Haupttonart aus. Die Funktion der V. Stufe scheint sich jedoch darauf zu beschränken, der Musik den Weg zum variierten Rahmenteil in der Ausgangstonart zu ebnen. Als zentrales klangliches Ereignis erweist sich hingegen die vorangestellte C-Stufe. Zu ihr stellt die am Ende der Komposition nachgereichte diatonische VI. Stufe cis-Moll einen korrespondieren Kontrast her. Allerdings
116 Dieser Punkt bleibt von Neumeyer unbemerkt, weil ihm einzig daran liegt, die ›Faktizität‹ steigender Urlinien zu erweisen. Freilich kann durch die vorige Erörterung nicht ausgeschlossen werden, dass sich in anderen Fällen das Konzept einer steigenden Urlinie als überzeugendes Theorieprogramm erweisen könnte. Allerdings würde die Diskussion der restlichen Beispiele in Neumeyers Beitrag (1987a) zu prinzipiell gleichen Ergebnissen führen. 117 »Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt. Sie beginnen also nicht mit einem erkenntnistheoretischen Zweifel. Sie beziehen auch nicht die Rückzugsposition einer ›lediglich analytischen Relevanz‹ der Systemtheorie. Erst recht soll die Engstinterpretation der Systemtheorie als eine Methode der Wirklichkeitsanalyse vermieden werden. Selbstverständlich darf man Aussagen nicht mit ihren eigenen Gegenständen verwechseln; man muß sich bewußt sein, daß Aussagen nur Aussagen und wissenschaftliche Aussagen nur wissenschaftliche Aussagen sind. Aber sie beziehen sich, jedenfalls im Falle der Systemtheorie, auf die wirkliche Welt. Der Systembegriff bezeichnet also etwas, was wirklich ein System ist, und läßt sich damit auf eine Verantwortung für Bewährung seiner Aussagen an der Wirklichkeit ein.« (Luhmann 1987a, 30.) 118 Zu diesem Sprachgebrauch vgl. Rohringer 2009. 119 Haas 2004; Polth 2006a. 120 Ansätze, den Programmwechsel historisch und systematisch zu beschreiben, finden sich beispielsweise bei Haas mit Blick auf Ihr Bild von Franz Schubert (2004, 70–81), bei Polth in Zusammenhang mit W. A. Mozarts Prager Sinfonie (2006b) und bei Rohringer in Verbindung mit Schuberts Klaviertrio B-Dur D 898 (2009).
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bildet der Ton c im Part des Soprans hierbei nicht das melodische Korrelat zum Ton cis, dem stattdessen der Ton e als Pendant gegenübersteht.121 Der Kontrast zwischen E-Dur und C-Dur fällt umso stärker aus, als ein vermittelndes e-Moll ausgespart ist. Diesem Großterzverhältnis wird am Ende der zweiten Reprise das Kleinterzverhältnis zwischen I. und leitereigener VI. Stufe gegenübergestellt. Die unterschiedliche Größe der Terzen im Abstand vom Grundton der I. Stufe zu denen der beiden Nebenstufen wird nicht zuletzt dadurch akzentuiert, dass sowohl die C-Stufe als auch die cis-Stufe in Terzlage erscheinen. Insofern wird die Kontrastwirkung zwischen den Stufen nicht durch eine korrelierende melodische Struktur dynamisiert, sondern – gerade umgekehrt – durch den Einsatz stationärer Töne geschärft.122 In der Theorie Schenkers korrespondiert mit dem technischen Verfahren der Diminution die ästhetische Idee von Tonalität als »Stimmführungskunst«.123 Die Klanglichkeit in Schuberts Valse hingegen verleiht der Rede vom ›Akkordsatz‹ einen unmittelbaren Sinn. Töne scheinen nicht länger Mittel der Stimmführung zu sein, Akkorde nicht ihr Ergebnis. Die durch die Schenkeranalyse deduzierten Urlinietöne scheinen eine vergangene Verbindlichkeit in Erinnerung zu rufen, zugleich aber bereits Bestandteil einer anderen Ordnung geworden zu sein. Die klanglich auffälligste Bildung124 erfolgt durch die Relation von rahmender E-Stufe und mittiger C-Stufe. Gemeinsam bilden beide Stufen ein fünftöniges ›Konstrukt‹125 (c-g-e-h), dem der Ton es/dis fehlt (Beispiel 13.5.1). Die Harmonik der ersten Reprise zeichnet sich durch die Aussparung einer subdominantischen 121 Neumeyer geht, um seine These von der Quinte als Kopfton zu stützen, von einer auskomponierten oberen Wechselnote c im Mittelteil aus. Das erklärt den Ton e im Sopranpart zur übergreifenden Mittelstimme und ordnet ihm die Funktion eines Decktons zu – eine Funktion, die Neumeyer für das h in den Rahmenteilen nicht gelten lassen möchte. 122 Zwischen den stationären Tönen vermitteln sporadisch nur noch kleinräumige melodische Bewegungen. Diese lassen sich gerade aufgrund ihrer Einfachheit immer noch auf die Schenker’sche Urlinie und ihre Anverwandten beziehen. Bestimmte melodische Bewegungen sterben aber auch ab: Neumeyers These einer von der Quinte ansteigenden Urlinie kann beispielsweise als Indiz dafür gelten, dass die 4, die in der Musik des 18. Jahrhunderts (zumeist in Verbindung mit der siebten Bassstufe) häufig Teil einer formbildenden Kadenz ist, ihre Qualität als charakteristischer Durchgangston zwischen 5 und 3 verloren hat. 5 und 3 erscheinen in Schuberts Tonsatz aus der Perspektive der traditionellen Stimmführung separiert. 123 Dieser Begriff nach Haas 2004, 70. 124 Die Reduktion der motivischen Gestaltung auf wenige immerzu repetierte Pattern lässt den harmonischen Verlauf als Abfolge rhythmisierter Klangflächen deutlich hervortreten. 125 Ein ›Konstrukt‹ wird dadurch gebildet, dass der bekannte Algorithmus der Ableitung mediantischer Tonarten bis zur vollständigen Zirkelbildung durchgeführt wird. Die hierdurch gewonnenen sechs Töne werden in eine Grundtonreihe und eine Quinttonreihe gegliedert. Molldreiklänge ergeben sich durch Einfügen entsprechender Quinttöne, Durdreiklänge durch Einfügen entsprechender Grundtöne. Konstrukte sind absolut im Tonraum definiert: Jedes Konstrukt kann
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›Funktion‹126 aus: Weder erscheinen Formen der IV. noch der II. Stufe. Bemerkenswert ist ferner der Gebrauch des tonikalen Sextakkords in Takt 6.127 Der Ton gis in der Basslinie ist Terzdurchgang zwischen e und h. Er erscheint zusätzlich akzentuiert durch den Griff in der rechten Hand, der die Verdopplung des Terztons im Sextakkord nicht vermeidet. Der mit gis korrespondierende Ton ist dis 3 zu Beginn von Takt 7. Beide bilden gemeinsam eine Quinte als Teil eines Hexatons128 über e (e-h-fiscis-gis-dis). Auch das Hexaton ist unvollständig: Der Ton cis fehlt. Fraglos erscheint zudem das Triton e-h-fis, das aus den Quinten von I. und V. Stufe besteht, welche die Takte 1–4 beherrschen, als der manifeste Teil der Anordnung; die Quintbeziehung gis-dis verharrt demgegenüber in Latenz. Mit dem die zweite Reprise abschließenden Viertakter erscheint die Situation verändert: Die rückleitende Taktgruppe (T. 17–20) restituiert nicht bloß das Triton e-h-fis, sondern ergänzt es um den Ton a zum Tetraton (a-e-h-fis). Die cis-Stufe führt den in der ersten Reprise fehlenden Ton cis ein und bindet ihn mit der zugehörigen Quinte gis. Dadurch wird der in der ersten Reprise an analoger Stelle noch in Latenz durch ein komplementäres Konstrukt zum chromatischen Total ergänzt werden. Für diese Anordnung bestehen wiederum prinzipiell zwei Möglichkeiten. 126 Eine ›Funktion‹ wird dadurch gebildet, dass der bekannte Algorithmus der Ableitung paralleler Tonarten unter Voraussetzung der Enharmonik bis zur vollständigen Zirkelbildung durchgeführt wird. Die hierdurch gewonnenen acht Töne werden in eine Grundtonreihe und eine Quinttonreihe gegliedert. Durdreiklänge ergeben sich durch Einfügen entsprechender Quinttöne, Molldreiklänge durch Einfügen entsprechender Grundtöne. Klänge, die aus den Tönen einer Funktion gewonnen werden, gelten als funktional äquivalent. Jede Quinttonreihe kann zur Grundtonreihe einer benachbarten Funktion erklärt werden und umgekehrt. Insgesamt können drei Funktionen gebildet werden, bis auch hier ein Zirkel vollständig durchmessen ist: Jeder der zwölf Töne des chromatischen Totals erhält dadurch seine Bestimmung als Grundton und als Quintton. Diese drei Funktionen heißen auch bei Albert Simon ›Tonika‹, ›Dominante‹ und ›Subdominante‹. Die Zirkelbildung führt dazu, dass ›steigend‹ (›plagal‹) von Dominante zu Subdominante, ›fallend‹ (›authentisch‹) von Subdominante zu Dominante gelangt wird. 127 Der tonikale Sextakkord markiert in Tonsätzen des 18. Jahrhunderts häufig den Beginn einer strukturellen Kadenz – Caplin (1998) spricht von ›expanded cadential progression‹: Versteht man die Funktion einer Bassstimme zuvorderst darin, den Satz durch den Grundton eines Dreiklangs (oder Septakkords) zu fundieren, so zeigt der tonikale Terzton den Anfang einer Bassbewegung an, die zum Grundton führen wird. Diese Bewegung verläuft in der Regel über den SekundDurchgang der vierten Bassstufe zum Grundton der V. Stufe, bevor der abschließende Quintfall zum Grundton der I. Stufe erfolgt. Im vorliegenden Stück ist dieser Durchgang ausgespart: Der tonikale Sextakkord sitzt gemessen an der von Schubert gewählten herkömmlichen Taktgruppenordnung von 2 x 4 Takten einen Takt zu spät (T. 6 statt T. 5). 128 Die dritte Art Tonfeld in der Theorie Albert Simons ist die ›Quintenreihe‹. Die kleinste Quintenreihe besteht aus zwei Quinten (Triton). Eine einzelne Quinte ist noch kein Feld, entsprechend gelten zehn Töne im Quintabstand, wodurch nur eine Quinte ausgespart ist, ebenfalls als kein Feld. Damit ist das größte Feld das Enneaton mit neun Tönen im Quintabstand. Vgl. auch Haas 2004, 25.
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verbliebenen Quinte gis-dis Anschluss ermöglicht. Letztlich fasst das nochmalige Erscheinen von a als Spitzenton a 3 die gesamten letzten acht Takte der zweiten Reprise ein: Die Konstituierung des die Diatonik von E-Dur bildenden Heptatons über a (ae-h-fis-cis-gis-dis) ist zum Abschluss gebracht. Nach Albert Simon gibt es in einem Stück zwei »Tonfelder des Ganzen«.129 Im vorliegenden Fall sind dies Heptaton und Konstrukt. Zunächst wird die Leerstelle im Hexaton über e, die am Ort des cis in der ersten Reprise belassen worden war, mit Eintritt der C-Stufe durch den Konkurrenzton c gefüllt. Entsprechend wird fis durch g substituiert. Hierbei handelt es sich um ein einfaches und paradigmatisches Verfahren, zwei Tonfelder auseinander hervorgehen zu lassen (Beispiel 13.5.2). Dieser Prozess wird auf der Ebene der Stimmführung reflektiert: Die zweimal wiederholte Tonleiterbewegung c 2-h1-a 1-g 1 im Alt ab Takt 9 wird beim dritten Mal im Übergang zu Takt 13 um den Schritt g-fis in der Basslinie ergänzt. Die Umkehrung des Schritts erfolgt im Übergang zum Folgetakt. Die Aussparung des subdominantischen Feldes in der ersten Reprise wird im Mittelteil durch seine Anlagerung an die zum Konstrukt gehörende Quinte c-g kompensiert. Diese Subdominante besteht zunächst aus der Terz c-e (T. 9), die um den Durchgangston a und den vorläufigen Zielton der Melodiebewegung des Alts g ergänzt wird. Durch den besagten Schritt in der Basslinie von Takt 12 zu 13 tritt fis hinzu. Als letzter Ton des Feldes erscheint ais in Takt 15. Die Funktion ist sechstönig (a-e-c-g-ais-fis): Es fehlen der Grundton dis sowie der Quintton cis (Beispiel 13.5.3). Die Aussparung dieser beiden Töne sensibilisiert für ihren Eintritt am Ende der zweiten Reprise in verändertem Zusammenhang. Das gilt insbesondere für den Ton cis, der hier seinen Konkurrenzton c ostentativ verdrängt. In dieser Deutung wird der von Neumeyer für die Behauptung einer steigenden Urlinie herangezogene Melodieschritt cis-dis im Übergang von Takt 14 zu 15 als ein stimmführungstechnisches Korrelat der Arbeit mit Tonfeldern begriffen: Mit ihm wird das Heptaton über a manifest (Beispiel 13.5.4). Fraglos kann also Schuberts Komposition als jenes paradigmatische Beispiel gesehen werden, zu dem es Neumeyer erklärt. Jedoch wird hier – entgegen der Intention Neumeyers – der Aufwärtszug nicht als das Ende einer steigenden Urlinie interpretiert, sondern stattdessen vorgeschlagen, darin den Teil einer Anordnung zu sehen, die einen Programmwechsel innerhalb der Funktionalität impliziert, der grundlegender ist, als sich durch eine Revision der Schenker’schen Theorie beschreiben ließe.
129 Haas 2004, 71. Unschwer kann auch hierin Luhmanns Gedankenfigur der ›Einheit der Differenz‹ erkannt werden.
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14 Fundamental Line(s) N ICOL A S M EEÙS
The fundamental structure of Schenker’s theory is a cadence—both melodic/contrapuntal and harmonic. As Schenker himself notes, “In order to gain insight into cadences in free composition it is important to recognize that there the closure is no longer based on the horizontal line alone but rather (and to a larger degree), on the harmony of the vertical [dimension], or, more precisely, on the succession from scale degree V to I.”1 The bass arpeggiation, in other words, is not merely a contrapuntal line: it denotes harmonic degrees, full chords, symbolized by the Roman numerals. The fundamental structure itself, therefore, cannot be viewed merely as a two-part counterpoint: it also is a shorthand for a full harmonization, subject to the usual rules of voice leading. A fully spelled out fundamental structure from 3 may look like Example 14.1. This presentation is that of the clausula formalis, the “formal cadence” of traditional counterpoint theory. Each of the four parts has its name: the bass arpeggiation is the clausula bassizans, the descending fundamental line is the clausula tenorizans; the additional lines, implied but not formally present in the two-part fundamental structure, are the clausulae altizans and cantizans.2 These lines must be present, in one form or another, in any fundamental structure, because they are inherent in the harmonic degrees I–V–I. Schenker himself hints at this fact when he writes that “in V2 both leading tones in the upper and inner voices are united, and the bass brings in the root of the V. In this way alone is the complete triad achieved, as required by the arrangement for closing in three-part strict counterpoint”.3 1 Schenker 1987, 105. 2 For the terms bassizans, tenorizans, altizans and cantizans, see Meier 1974, 77ff. and Meier 1988, 89. As can be seen in Example 14.1, these terms do not specify positions in the polyphonic fabric, but characteristic melodic motions: the tenorizans line is here shown in the treble, the cantizans one in the tenor. 3 Schenker 1979, 16. The contrapuntally spelled fundamental structure minimally counts three voices; but a correct voice leading usually requires four voices if the fundamental structure also counts three harmonic degrees.
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One might argue that Schenker himself objects to the presentation of the fundamental structure as a cadence when he discusses “the difference between the forms of the fundamental structure and cadences of conventional harmony.” 4 His criticism, however, is directed not so much against the idea of the cadence as against the “conventional theory of harmony” that reduces it to a mere succession of harmonies. The subsequent discussion of this point in § 28 of Free Composition stresses the importance of the fundamental line, which “knows only the descending direction” and “is the source of all the voice-leading transformations, a role that the upper voice in the cadences of customary harmonic theory never plays”. And the criticism leads Schenker to make formal mention of the fact that the fundamental structure consists of more than two voices: “Finally, in the cadences of harmonic theory the voices are led mechanically, according to the rule that common tones are to be retained. Since this rule is no longer valid even in thoroughbass, how much less must it apply to a fundamental structure where the inner voices are subordinate to the outer voices, that is, to the fundamental line and the bass arpeggiation”.5 In this paper, I will suggest reasons why Schenker chooses the tenorizans as the fundamental line, and in what sense the inner voices, cantizans and altizans, are “subordinate” to it. My claim will be that the relation of the subordinate lines to the fundamental one is of the order of the unfolding. I will further discuss this on the basis of two examples, one each for the altizans and for the cantizans lines, in which the inner voices evidence a level of insubordination that may lead (and that actually led) to some confusion in the analysis.
The Tenorizans As Fundamental Line William Pastille writes, “The Ursatz is something of an enigma. In order to feel comfortable working with it, we academic Schenkerians have done our best to demystify it. […] But when one reads Free Composition, one cannot escape the sense of mystery that surrounds the concept […].”6 One of the most puzzling aspects of the Ursatz is Schenker’s late decision (no earlier than around 1925, the date of the first volume of Das Meisterwerk in der Musik) that the fundamental line should be descending. In view of the contrapuntal complex described in Example 14.1 above, however, this appears the logical decision, among others for the following reasons:7 – The altizans line does not lead to the tonic (1) and therefore does not convey the idea of tonal closure. 4 Schenker 1979, 17. 5 Ibid., my italics. Schenker at times referred to the Ursatz as an Außensatz, “a set of outer voices”, which of course implies inner voices. Schenker 1925, 188. 6 Pastille 1990, 71. 7 I develop here points already made in Meeùs 1998.
Fundamental Line(s)
– The cantizans line (in the tenor of Example 14.1), in this particular neighbor-note configuration at least, merely returns to its starting point and therefore fails to convey the idea of tonal movement and of tonal space. – The tenorizans line expresses both tonal closure by its ending on the tonic and melodic movement through the passing note; so doing, it opens the path, as Schenker himself says, to further harmonic and melodic prolongations. – The tenorizans line, in addition, is the least subject to variation from one composition to another. It is the most likely to be found more or less conspicuously present, in any composition, in the form illustrated in Example 14.1. If Schenker wanted the fundamental structure to form an “archetype,” as William Pastille terms it, if he wanted it to offer the most compact and the most general description of a variety of situations, then the choice of the tenorizans line was the most reasonable one.8 But such an explanation fails to justify the organic nature of the fundamental line and to explain in what sense it “is the source of all the voice-leading transformations.” In this respect, it is interesting to note that the three upper voices of Example 14.1 could be unfolded to form one single melodic line, as in Example 14.2. This example suggests several interesting conclusions, further discussed in the following sections of this paper: – The cantizans line, when it takes the neighboring shape indicated here, is usually integrated into the fundamental line as an unfolding. Such a reading confirms the hypothesis that the fundamental structure is more than a two-part structure: Schenker eliminates the unfolded 8–7–8 by relegating it to an inner voice. – Any fundamental line from 5 somehow seems a concatenation of an altizans and a tenorizans line, which is another way to state that a line from 5 may be articulated on 3, as Schenker noted.9 In a sense, the 3 could be considered the “tenorizans note”, the 5 the “altizans note.” This may cause some uncertainty in the analysis, as it may be difficult to determine the true head note and to ascertain whether the 5–3 span belongs to the fundamental line itself, or links by unfolding to a line from 3. In most cases, such situations are easily untangled and the correct analysis is straightforward. In the examples discussed below, however, the intertwining of the cadential lines is such that it becomes difficult to say which line is the directing one, and to decide which analysis is the “correct” one.
8 The reason why the line must be descending is inherent in the diatonic system and in the structure of the triad, as further discussed below in the section devoted to the cantizans line: see footnote 13. 9 This point is discussed in §§ 36 and 38 (among others) of Free Composition (Schenker 1979, 20).
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The Altizans Line
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If a line from 5 can be considered a concatenation of an altizans and a tenorizans line, the question arises whether the true head note is 5 or 3. The first movement of Mozart’s Sonata in C major, K. 545, presents an interesting case in point. The first four measures perform an initial arpeggiation from 1 to 3 in which 3 is reached through an Übergreifzug from 5, the initial 1 being prolonged by a cantizans line; the fundamental line is interrupted on 2 in measure 12. This all reduces to a complex intertwining of cadential lines, of which the tenorizans one, 3–2, may be the least conspicuous, as shown in Example 14.3. There is no apparent reason, in such a case, to decide that 3, rather than 5, is the head note. Schenker, who chooses the line from 3, provides a probable explanation in Example 124.5a of Free Composition, which may be redrawn as my Example 14.4. He writes, “A third-arpeggiation is formed by the boundary tones of the diminution in m. 1–4. The high a2 in measure 3 has been prepared by the g 2 in measure 1. The a 2 in measure 5 begins the descending motion to d 2 and ultimately evokes also the g 2 at the end of the example.”10 The descending motion from a2 is but a line to an inner voice (which turns out to be the fundamental line), linking the altizans line to the head note of the tenorizans one. The return of g 2 at the end of the first theme (m. 11–12) indicates that the altizans line did not really leave 5. This case is quoted by Irna Priore in her thesis on “The Case for a Continuous 5,” where she refers to the analysis by Edward Laufer who privileged 5 as the head note.11 It is most interesting that the reason why Schenker chooses 3 is, precisely, that the 5 is continuous: it is the return of g 2 that prevents the line a2–e 2 to appear in any way fundamental. This raises a question about the true motion of an altizans line, shown in Example 14.1 in a somewhat “modernized” version, with the dominant seventh passing between 5 and 3. Seventeenth and eighteenthcentury presentation of the clausula formalis would often show the altizans line as a continued 5, as in Example 14.4. One may hypothesize that a true line from 5 probably implies a change of harmony that prevents 3 from appearing as a possible candidate as head note. In KV 545, the altizans line is part of a prolonged I, in which 3I forms the starting point of the fundamental structure. This would not be 3 possible in the case of 5I — 4 III or 5I — 4 V 3 where 5 remains the only possible head note. Note in Example 14.4 the somewhat puzzling ligature that Schenker draws between f 2 and e 2. It probably indicates that if 3 is the head note, then f 2, 4, must 10 Schenker 1979, 104. The somewhat unusual notation of the registers in this quotation will be used throughout the present paper: a 2, which is a transliteration of the German (and British) a” (zweigestrichenes a), corresponds to the American A4. 11 Priore 2004, 67–73. Laufer 2001.
Fundamental Line(s)
at a deeper level be considered a neighbor note rather than a passing note in the line descending from a2. This in turn has consequences for the analysis of the recapitulation, where the first theme returns in the key of the subdominant. I will not further comment this point here. The second theme begins at d 3 in measure 14, resulting from an octave transfer of d 2, the 2 of the interrupted fundamental line. The space of a fifth between this transferred 2 (d 3) and the 5 (g 2) of the altizans line delimitates the tonal space of the second theme. In other cases, the second theme develops within a tonal span between the altizans 5 and the (untransferred) 2 of the interrupted tenorizans line a fourth lower. Beethoven’s Sonata op. 10, no. 2 is a case in point, where the exposition presents a somewhat hidden interrupted fundamental line, 3–2, under a continuous 5 marked by a double neighbor note, as summarized in Example 14.5; the span from 5 to 2 strongly delimitates the tonal space of the second theme. It might be argued that the development section of this movement, in which the key of d predominates until the false recapitulation in D, belongs to the overall structure as a kind of vast neighboring motion of the altizans 5.
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The Cantizans Line The cantizans melody minimally may be described as a leading-tone resolution ascending from 7 to 1. In the shape illustrated in Example 14.1, it does not form a “line” (a Zug) in Schenker’s sense: it reduces to a mere neighbor-note movement. As such, it often joins the tenorizans line in an unfolding, as we saw in Example 14.2. A true cantizans Zug is not unconceivable, however; it would have to raise and fill the space from 5 (or possibly 3) to 1. Such a line is rare, if only because it involves an inherent false relation,12 a tritone, resulting from two major thirds in conjunct succession (a situation already mentioned in some of the earliest Renaissance counterpoint treatises) as illustrated in Example 14.6, which also shows that the ascending cantizans line necessarily requires an additional degree (II or IV) supporting the 6.13 The satisfactory realization of such a line certainly requires a great deal of elaboration. 12 This point was made by William Drabkin during the oral presentation of my paper “La direction de la ligne fondamentale schenkérienne,” quoted in note 7, for the Society for Music Analysis in London on 21 March 1998. 13 Degree 6 is the only note of the diatonic scale that belongs neither to the I nor to the V degree. Both the formal cadence of Example 14.1 and the unfolded line of Example 14.2 avoid it. That is to say that, for reasons inherent in the structure of the diatonic scale and of triads, a line passing through 6 is incompatible with the simple case illustrated in Example 14.1. If the fundamental line is to represent the most general case, it must reach 1 without passing through 6 — that is, it must reach 1 through a descending motion.
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J. S. Bach’s Little Prelude in C major, BWV 924, is a case in point, in which Schenker himself was mislead by the close intertwining of the cantizans and tenorizans lines. Schenker’s graph for that Prelude that comes closest to a true fundamental structure is shown in Example 14.7.14 The Prelude counts eighteen measures, the structural dominant being reached as early as measure 7. The cantizans line therefore fails to describe more than half the work; it fails also to mark the V7 of m. 9–10 as the climax of the work. There is a general agreement today to consider that the fundamental line for this Prelude is descending from 3, with a first order neighbor note 4 in m. 9–10, resolving on the dominant through a 64 and a chromatic passing e!.15 A graph of this version of the fundamental structure might take the form shown in Example 14.8, which in turn fails to convey the growing tension of measures 1–8. In order to give a complete account of the piece, the graphs of Example 14.7 and 14.8 should be combined as in Example 14.9, which stresses both the tenorizans and the cantizans lines and shows how closely intertwined they are, indicating also how Bach managed to solve the problem of an ascending cantizans line. The parallelism between the bass and the inner part, with the tonicisation of IV, includes the conjunct major thirds in a sequence that hides the false relation. The register transfers, from 5 to 6 in the inner part and from 2 to 2 in the fundamental line, concurs with the unfoldings §b1–f 1 in m. 7–9 and d 1–b1 in m. 16–17 to entangle the two lines. The cantizans line appears as an Untergreifzug from 3 to 1. This is a complex version of the unfolding illustrated in Example 14.2. Each note of the ascending line is prepared by an upper neighbor note (forming a series of Übergreifzüge), allowing for the tonicisation of F by which Bach veils the false relation f 1–§b1. Another of J. S. Bach’s Little Preludes in C major, BWV 939, which Schenker analyzes in Der Tonwille immediately after BWV 924,16 shows in the first four measures a situation that compares almost exactly to the one discussed above. Schenker’s graph for these measures is paraphrased in Example 14.10 below. He comments, “In measures 1–4, a neighboring motion of the third of the tonic harmony is effected. As is usually the case, this neighboring motion accompanies the composing-out of the fourth-space. (Because of the lower register of the bass, the third appears first as e 1 in m. 1.) While the neighboring motion merely embellishes the 3 of the fundamental line, the fourth-line expresses the basic idea, which, in addition, presents strict motivic repetitions that conform to the intervallic succession of the fourth-line.”17 Contrarily to what he had done for BWV 924, Schenker correctly establishes here the respective 14 Schenker 1923a. While Schenker’s background graph shown here as Example 14.7 describes the cantizans line as 5–8, his annexed Urlinie-Tafel shows it as (3–4)–5–6–7–8. 15 See for instance Forte & Gilbert 1982a, 199 and 1982b, 93. 16 Schenker 1923b, 7. 17 Translation by Norman Douglas Anderson. See Anderson 1983.
Fundamental Line(s)
roles of the ascending cantizans line (“the basic idea”) and “mere” embellishment of the tenorizans head note by the neighbor note of first order.18
*** In a majority of cases, the implicit inner lines of the fundamental structure do not deserve particular consideration at the deep middleground level. The fundamental line and the arpeggiation of the bass are sufficient to reveal the structure of the work. The cases illustrated above, however, arbitrarily chosen examples of situations that would deserve further study, show that accounting for the inner lines can sometimes contribute to a more detailed and more exact analysis. A polyphonic conception of the fundamental structure also helps demystifying the fundamental line, which needs not be thought of “as a ‘theoretical construct’, or as a ‘hypothetical substructure’, or as an ‘axiom’”,19 but merely as a compact representation accounting for a contrapuntal complex of lines, much as the bass arpeggiation stands for a series of harmonic degrees.
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18 We should recall that Schenker had not yet decided in 1923 that the fundamental line ought to be descending — that is that, in such cases of competing contrapuntal lines, it is the tenorizans one that must be recognized as the structural line. 19 Pastille 1990, 71.
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15 Diminution and Harmonic Counterpoint in Late-Eighteenth-Century Naples: Vincenzo Lavigna’s Studies with Fedele Fenaroli GIORGIO SA NGU I N E T T I
Schenker’s theory has its roots in the theoretical traditions of the eighteenth century, specifically in species counterpoint and in the practice of thoroughbass: for him, these disciplines formed the basis of the “true theory, as opposed to the “false” theory that was based on nineteenth-century harmony and form. Species counterpoint and thoroughbass did indeed constitute an indispensable theoretical foundation for Schenker’s concept of musical structure, but they were not sufficient to explain the nature of tonal music: two other principles were required. The first was Schenker’s own theory of harmonic structural degree (Stufen) progression. The second principle was diminution, a technique used in the Renaissance and Baroque periods, consisting of substituting for a melody in long notes a passage of notes of shorter values: in itself, diminution implies a generative process from simple to complex figurations. All four of these elements contributed to the final stage of Schenker’s theory as formulated in Der freie Satz: counterpoint and harmony are synthesized in the horizontal (Urlinie) and vertical (Baßbrechung) components of the Ursatz: the principle of diminution is an essential component of the idea of structural levels, and thoroughbass supplies the basis for many techniques of prolongation. For two of these four constituents of Schenker’s mature theory—species counterpoint and general bass—he referred to a specific teaching tradition: Fux’s Gradus ad Parnassum and its legacy on one hand, and the thoroughbass treatises, exemplified in C. P. E. Bach’s Versuch, on the other (the Versuch was also the principal source for his idea of improvisation).1 Harmony, in 1 Schenker 1925.
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Schenker’s conception, was rooted in Rameau’s idea of fundamental scale degrees and Viennese harmonic tradition, but had no equivalent in teaching practice: for Schenker, harmony was an abstract, spiritual idea, and he considered the traditional pedagogy of harmony deplorable.2 Regarding the sources for his idea of diminution, Schenker did not mention any specific historical treatise, nor any teaching tradition.3 In § 251 of Der freie Satz, Schenker admits that Italians created the idea of diminution, but, he adds that their art has been always confined to vocal and vocal-derived music: they could not create “genuine” instrumental diminution because “only diminution generated by the word was in the blood of the Italians”; and “the Italian musicians lacked training in absolute diminution.”4 The only Italian composer who escaped Schenker’s deprecation—a judgment grounded on a very partial (to say the least) historical knowledge of Italian music—and who he saw as creating authentic instrumental diminution was Domenico Scarlatti, whom Schenker placed in his personal pantheon alongside the great German masters.5 However, he did not explain how Scarlatti’s art could have flourished in such an infertile soil. In the next paragraph of the same work (§ 252) Schenker further clarifies the difference between Italian (nonorganic) and German (organic) diminution. Apart from a fleeting mention of C. P. E. Bach’s Versuch in relation to performance, the place of diminution in composition pedagogy is left unanswered. For Schenker, diminution, being related to improvisation and instinct, was the most intimate part of music as an art, and could not be transmitted through formal teaching: here lied the secret of artistic creation. Schenker’s explicit denial of the possibility of teaching the art of composition explains why he did not mention any treatise, method, or teaching tradition specific to diminution: for him, diminution was synonymous with composition, and thus not possible to teach. In this lofty interpretation of the term, diminution clearly lies outside the realms of both theory and pedagogy. But there can be another, less “artistic” way of understanding diminution in terms of Schenkerian theory. Diminution may in fact be considered a technique of elaborating an indispensable harmonic-contrapuntal structure, resulting in a new melodic and harmonic content. In this sense, diminution 2 See Wason 1985. 3 “Diminution in its entirety surely does not allow for a single theory, for the subject matter is too vast: no theorist could furnish a method in diminution technique for all genres of composition” (Schenker 1925, 3). In footnote 8 to §251 of Der freie Satz (1956) Schenker praises a (then) recently published book on diminution: Robert Haas’ Aufführungspraxis der Musik (Haas 1931). 4 “…wo sich italienische Musiker im extempore lockerer Diminutionen verloren, die einander fremd, unorganisch blieben, befleißigten sich die deutschen streng organischer Bindungen aller Art” (Schenker 1956, 151). 5 “Nur ein einziges Mal, in Domenico Scarlattis Genie offenbarte auch der italienische Geist eine hinreißende Befähigung zur absoluten Diminution” (Schenker 1956, 147).
Diminution and Harmonic Counterpoint
can be considered a synonym of Auskomponierung. In this more prosaic sense diminution can indeed be taught, and in many ways it was. The practice of making diminutions on simple tone patterns with more or less evident harmonic implications, was indeed common in sixteenth-century vocal and instrumental music. Out of the many treatises on diminution from this period, some bear examples of diminutions on simple patterns, or cadenze. In Fontegara (1535), Sylvestro Ganassi offers examples of diminutions on “Chadenzie” in different “proportiones”: his examples of diminution are arranged on tables, in order of growing complexity.6 A later work, Francesco Rognoni’s Selva de varii passaggi (1620) features a series of cadenze in different keys followed by diminutions.7 Rognoni’s cadenze also go unsupported by a bass, but they show a clearly defined harmonic orientation. All cadenze in Part One are based on a 8-7-8 model, a melodic succession that clearly implies an underlying I-V-I harmonic progression.8 Diminution was also an essential part of counterpoint theory, from the earliest treatises of the fourteenth century (such as De diminutione contrapuncti)9 up to Fux’s systematization. In part III of Le istituzioni armoniche, Zarlino divides counterpoint into semplice (note against note) and diminuito: the latter type includes every sort of rhythmic figures. The idea of diminution eventually led to the species concept, passing through Diruta (1609), Banchieri (1613), Zacconi (1622), and Bononcini (1673) to the definitive classification in five species in Fux’s Gradus ad Parnassum (1725).10 Diminution was also in many ways connected to thoroughbass theory. Many thoroughbass treatises, such as Friedrich Erhard Niedt’s Musicalische Handleitung (1700) or Francesco Gasparini’s L’armonico pratico al cimbalo (1708), offer examples of diminution both in the bass and in the accompaniment. Fluency in creating diminu tion was indeed a basic skill for continuo players. In all its manifestations, the concept of diminution was deeply connected to that of performance; by the end of the eighteenth century, however, the fields of composition and performance began to diverge. Some performance treatises (like Quantz’s Versuch) offered the last examples of diminutions similar to those offered by Rognoni a century and half earlier; but in the realm of composition pedagogy the diminution principle had been (partially) absorbed in the five species of strict counterpoint, and sometimes appeared in the figurations of thoroughbass accompaniment. The reasons for the decline of the idea of diminution were probably the rise of harmony as discipline on one 6 Ganassi 1535. See also the German translation in Ganassi 1956. 7 Rognoni 1620; Forni 1983. Rognoni’s Selva is described in Carter 1989. 8 Banchieri too offers examples of diminutions (fioretti di gorgia) on 8-7-8 cadenze in Brevi documenti musicali (1609). See Haas 1931, 145. 9 Coussmaker S III, 62–4. 10 The development of the species idea is described in Bent 2002, 563–8.
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hand, and the growing influence of the theory of musical phraseology on the other.11 At the beginning of the nineteenth-century the idea of diminution had virtually disappeared from both music pedagogy and performance. In this f leeting survey of diminution pedagogy, we have seen the principle of diminution in relation to several traditions: pre-tonal instrumental music, thorough bass, and counterpoint. Schenker’s idea of diminution, however, is different: in his view of tonal music, diminution consists in the elaboration of increasing complexity of elementary contrapuntal structures that are harmonically conceived. In this sense, there was no evidence that such a didactic tradition existed before twentieth century treatises inf luenced by Schenker’s ideas, such as Aldwell and Schachter’s Harmony and Voice Leading.12 In the following, I will discuss a document that attests the existence of just such a tradition: a manuscript (which, as far as I know, has never been discussed previously) containing a complete series of counterpoint exercises written near the end of the eighteenth century by Vincenzo Lavigna, a pupil of Fedele Fenaroli, one of the most celebrated among Italian composition teachers between the eighteenth and nineteenth centuries.13 These exercises show that diminution practice was in use as a teaching tool in Italian pedagogical tradition at least until the end of the eighteenth century. Although a generative process is not stated but only suggested, in these exercises diminution is present at the very beginning of counterpoint studies, and deeply rooted in a clear harmonic structure with a hierarchy of Stufen not unlike Schenker’s. In addition, the approach to the first, more elementary configuration of tonal structure strikingly recalls the configuration of a Schenkerian Ursatz. Vincenzo Lavigna’s studies with Fenaroli took place in Naples from 1791 to 1794 at the Conservatorio della Pietà dei Turchini. While Lavigna was certainly not a famous musician (though not a neglig ible one), thirty years after finishing his course with Fenaroli, he happened to become the teacher of a rather more well-known composer, Giuseppe Verdi. The way composition was taught in the Neapolitan conservatories between the seventeenth and the nineteenth century had an enormous and lasting influence on Italian music and, less directly, on European music: the so-called “Neapolitan school” of composition was very highly regarded in Italy, and renowned in the rest of Europe. 11 See Horsley 1963. 12 Aldwell & Schachter 2003. This book introduces scale degrees II, III, IV, and VI as part of the elaboration of a basic structure composed by an opening tonic, a dominant, and a closing tonic. 13 Fedele Fenaroli (1730–1818) was one of the most celebrated teachers of the so-called Neapolitan tradition. A student of Durante, he was responsible for the reorganization of the Neapolitan conservatories after unification in 1806. His methods, Regole musicali per i principianti di cembalo (Fenaroli 1775) and Partimenti ossia basso numerato (various editions, starting from around 1800) were in use until the beginning of the twentieth century.
Diminution and Harmonic Counterpoint
Among the unique aspects of this school, the most remarkable were the coherence and continuity of its teaching methods. Despite the relatively few printed treatises or manuals, the Neapolitan masters produced a huge amount of teaching material: counterpoint examples and exercises, partimenti, disposizioni, solfeggi, duos, fugues, canons, and more. Most of this music is in manuscript, diligently copied over and over by generations of students. The continuity of the school helped to preserve this material: the library of today’s Conservatorio di S. Pietro a Majella is the direct heir of the library of the Real Collegio di Musica, and still today contains many copybooks of students who came from far and wide to study with the celebrated teachers here. The study of composition exercises is not a major field in musicological research. The ambivalent status of a music that cannot be considered “genuine” music and cannot be evaluated as a work of art, even if written by a great composer, has indeed jeopardized the preservation of the documents themselves, often discarded as irrelevant. A turning point in the consideration of this kind of sources were the studies of Alfred Mann.14 Mann, however, focused on first-rank figures such as Handel, Mozart, or Beethoven; quite understandably, he did not consider lesser figures worthy of investigation. Why, then, should we bother to study the exercises of a minor composer such as Lavigna? Does it make sense to do so? The answer, in my opinion, lies in the trans-individual nature of these exercises. They reflect not only the compositional skills of Vincenzo Lavigna—which we could most certainly ignore without dire consequences—but also the pedagogical ideas of Fedele Fenaroli, a man who taught generations of Italian composers; and, more importantly, Fenaroli’s ideas were part of a coherent, and continuous, secular method of teaching—the Neapolitan school— whose influence on European music is difficult to underestimate. The massive emigration of Italian musicians to the rest of Europe in the eighteenth century contributed not only to the diffusion of Italian music, but also of their methods of teaching. A famous case is Haydn’s studies with Porpora: as the Austrian composer later declared, “I had the good fortune to learn the true fundamentals of composition from the famous Herr Porpora;”15 as for Porpora, he was a teacher in the Naples Conservatories of S. Onofrio and S. Maria di Loreto and was a student of Gaetano Greco, another celebrated Neapolitan teacher.
14 See in particular Mann 1987. 15 This statement appears in a letter to “Mademoiselle Leonore” containing an autobiographical sketch. See Landon 1959.
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The Manuscript Noseda Th.c.117 baßna’s collection is contained in the manuscript Noseda Th.c.117 in the library of the Milan Conservatory. The manuscript is part of a large collection known as “Fondo Noseda,” once the private collection of a musician, Gustavo Adolfo Noseda, who bequeathed it to the Milan conservatory. With more than 10,000 items the Fondo Noseda is the most important collection of eighteenth and nineteenth-century Neapolitan music outside Naples. Vincenzo Lavigna was born in Altamura, near Bari, in 1776 (or 1777) and died in Milan in 1836. He studied at the Conservatorio di S. Maria di Loreto in Naples between 1790 and 1799 with Fedele Fenaroli and Saverio Valente.16 In 1802 Lavigna moved to Milan and, with the help of a recommendation from Paisiello, he held the position of maestro al cembalo at La Scala for many years, also teaching solfeggio and voice at the conservatory. His operas were performed regularly by famous singers such as Isabella Colbran. An interesting aspect of Lavigna’s personality was his deep love and knowledge of Classic period music, particularly by Mozart; Lavigna conducted the first performance of Don Giovanni at La Scala in 1814, and the performance was so successful that the production had a run of a whole year. His merits notwithstanding, Lavigna would hardly be remembered today had he not been the teacher to which the young Verdi turned when the Milan conservatory refused to admit him as a student. Verdi always expressed affection and reverence for his old master and for the tradition in which he had studied, as we can learn from a letter to Francesco Florimo17 from January 9, 1871: Lavigna was a student of Fenaroli who, in his very old age, still gave lessons in the Collegio…I don’t know which, but at the same time Lavigna took private lessons from Valente. […] Lavigna had a very high opinion of him and, to judge by the five 16 Saverio Valente (Naples, late 1700s–early 1800s) studied with Fenaroli at S. Maria di Loreto and became a teacher at the Real Collegio di Musica in 1807. The following didactic manuscripts are preserved in the Milan and Naples Conservatory libraries: Partimenti del sig. D. Saverio Valente accademico filarmonico (1808), I-Nc 18.3.79; Partimenti di Saverio Valente accademico filarmonico I-Mc. Noseda Q. 13.17; Partimenti Principj di Cembalo del sig. r D. Saverio Valente Accademico Filarmonico I-Mc. Noseda Q. 13.15; Partimenti I-Mc. Noseda Q. 13.16; Scala di soprano, o tenore in 3.a mag.re e min.re con tutt’i salti, e poi a quattro voci, a S.a, ed a 3.a madricali di Saverio Valente accademico Filarmonico I-Nc.O(D).1.4; Esercizio quotidiano per le 4.o voci, diviso all’unisone a due nella scala, da esercitarsi giornalmente da figlioli del R. conserv. di S.M. di Loreto; composto dal M.stro di Cap.la incardinato nello stesso R.I. conserv.o Save [rio Valente] I-Nc.Solfeggio 413. 17 Francesco Florimo (1800–88), a student of Furno, Zingarelli and Tritto was the chief librarian at the Naples conservatory from 1851 until his death. He was a close friend to Bellini, and one of the first supporters of Wagner in Italy. His four volumes work, La scuola musicale di Napoli e i suoi Conservatorii (Florimo 1880–3) is still considered a standard work.
Diminution and Harmonic Counterpoint or six original fugues that Lavigna kept and the many fugal subjects which I too have used in my studies, Valente was very much more skilled in counterpoint than Fenaroli. It was Paisiello (in 1801, I think) who, on his way to Paris, brought Lavigna to Milan, I don’t know why. Recommended by Paisiello, he wrote an opera for La Scala, and he was appointed Maestro concertatore in that theatre, a position he held until 1832. I knew him in this year, and studied counterpoint under his direction until 1835. Lavigna was very skilled in counterpoint, thought a little bit pedantic, and saw no other music than Paisiello’s. […] during the three years I spent studying with him I wrote nothing but canons and fugues, fugues and canons in every possible way […].18
The Content of Noseda Th.c.117 The manuscript Noseda Th.c.117 consists of seven exercise books bound together, written under the supervision of Fedele Fenaroli and his assistants, Saverio Verde and Giuseppe Gargani between 1791 and 1795. They bear no text, only exercises: as we shall see, the extant handwritten collections of rules are usually separate from exercises. Every single book bears the heading Studio [studi] di contrappunto: the discussion of the exercises will make clear the peculiar meaning of counterpoint used here, but for the time being we should keep in mind that the term contrappunto was used basically as an antonym to partimento. On one hand, contrappunto designated the art of composing any skillfully written music, either in strict or free style; on the other hand, partimento indicated the art of improvising at the keyboard on a written guide. The realm of counterpoint, therefore, included strict composition, imitation and fugue, but also free styles such as the toccata or sonata for cembalo, or the vocal duet.
18 “Il Lavigna era un allievo di Fenaroli, che vecchissimo dava ancora lezioni nel collegio di…(non so più quale) ma nello stesso tempo Lavigna prendeva lezioni particolari da Valente. […] Lavigna ne aveva altissima opinione e se si deve giudicare da cinque o sei fughe originali che Lavigna conserva e da molti soggetti di fuga, che han servito anche per i miei studi, Valente era un contrappuntista molto, ma molto più sicuro di Fenaroli. Lavigna fu condotto (credo nel 1801) a Milano da Paisiello che andava a Parigi, non so per qual motivo. Raccomandato da Paisiello scrisse un’opera per la Scala e venne fissato maestro concertatore in quel teatro ove stette fino al 1832. In quest’anno lo conobbi e studiai sotto la sua direzione il contrappunto fino al 1835. Lavigna era fortissimo nel contrappunto, qualche poco pedante e non vedeva altra musica che quella di Paisiello! […] nei tre anni passati con lui, non ho fatto altro che canoni e fughe, fughe e canoni in tutte le salse” (Abbiati 1959, I, 118). Verdi's studies in composition are discussed in Montemorra Marvin 2007.
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MONTH
TITLE
INSTRUCTOR
CALL NUMBER
1791/1792
September/ October
Studi di contrappunto disposti a due
Saverio Verde
Th.c-117/a
1792/1793
December / January
Saverio Verde
Th.c-117/d
1793
February / July
Studi di contrappunto disposti a due per imitazione
Studi di contrappunto disposti a tre
Fedele Fenaroli / Giuseppe Gargani
Th.c-117/b
1793
July / October
Disposizioni a tre per imitazione
Fedele Fenaroli / Giuseppe Gargani
Th.c-117/e
1794
January / June
Studio di contrappunto disposto a quattro
Fedele Fenaroli
Th.c-117/c
1794/1795
June / January
Fedele Fenaroli
Th.c-117/f
1795
April 8 / June 23
Studio di contrappunto disposto a quattro per imitazione
Fedele Fenaroli
Th.c-117/g
Studio di contrappunto fugato a 4°
Table 1 Table 1 lists the individual copybooks bound together in Noseda Th.c.117, along with the year, month, title, name of the instructor, and individual call numbers of the single sections of the manuscript. As we can see, the titles depict a very traditional course in counterpoint, not so unlike a Fuxian approach. The sheer amount of time devoted to these studies—it took more than four years to proceed from two to four voices—confirms what Verdi wrote to Florimo in the abovementioned letter: that is, counterpoint in Naples was taken very seriously, and that it constituted the bulk of composition teaching. Book 1 Table 2 offers a closer examination of the contents of the first book of exercises, and makes clear that it contains something different from a standard course in counterpoint: instead, the content of Table 2 looks more like a course in thoroughbass, or perhaps even harmony. However, the ordering of the material is unusual for a thoroughbass method: for example, it is not common for a continuo treatise to begin with cadences, not to mention the fact that there are only two voices.
Diminution and Harmonic Counterpoint
Book 1: Table of content Title: Studi di contrappunto disposti a due (1791–92) Instructor: Saverio Verde (Fenaroli’s assistant) 1.
Cadenze
3.
Counterpoints to a bass
2.
Scales a)
Bass moving by skip
Ascending by third, and descending stepwise Descending by third, and ascending stepwise Ascending by fourth, and descending by third Descending by fourth, and ascending stepwise Ascending by fifths, and descending by fourth Descending by fifth, and ascending by fourth Ascending by sixth, and descending by fifth Ascending by fourth, and descending by fifth
b) Bass moving stepwise
4. 5.
chromatically in the minor mode descending with suspensions
12 basses, each realized four times: the first two “in simple manner,” the other two, one with suspension, the other with imitations Counterpoints to a melody
Table 2 As a matter of fact, the order of the first book, as illustrated in Table 2, matches exactly the content of a typical Neapolitan partimento manual. The general design of a partimento handbook follows this model: cadences – scales – bass patterns – suspensions.19 An interesting question arises now: if Neapolitans considered contrappunto as opposed to partimento, why do both disciplines follow the same syllabus? Another source can help us to answer to this question: a course in counterpoint preserved in the library of the Conservatory of San Pietro a Majella in Naples. On the front page is an attribution to Fenaroli, but it was probably written by an anonymous student attending the master’s lessons.20 The Naples manuscript is a source parallel to the Nosedas: the syllabus is obviously the same, but the exercises are presented in 19 This ordering of the matter is clearly discenible in Fenaroli’s Regole, or in various handwritten sources of Durante’s partimenti. 20 Studio di Contropunto del Sig.r D. Fedele Fenaroli, ms., I-Nc 22.2.6-2.
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sketch form (not fully realized), with few notes accompanying them. The beginning of the text, written in uncertain Italian by a not very literate student, reads as follows: Those, who want to learn Counterpoint, should study well the first and second f igured book [of Fenaroli’s Partimenti] and the movements of the Bass in the third book as well; later they should begin to place the singing voice in various modulations above the three fundamental tones of the Bass, that is, the first, fourth, and fifth of the key, upon which rests all Music. The student is taught also to try hard to make the voices singing, because on singing rests the development of both imagination in composing and a harmonious and natural style.21
Parallel to I-Nc 22.2.6-2 is Studi, o sia scuola di contropunto del Sig. D. Fedele Fenaroli per uso di Ferdinando Sebastiani (1819), I-Nc 22.1.23. In it, we read the following advice: “In order to get the real knowledge of harmony, the beginner in counterpoint must work very hard on the three fundamental tones and especially on the scales and on bass progressions; but, above all, he must strive to obtain a natural, easy and harmonious melody.”22 As the abovementioned Naples manuscripts make clear, Fenaroli considered the first stage in counterpoint studies as the thorough working-out of the upper voice (the bass was given) of a four-voices texture; at this stage, the inner voices were not present, but only implied. Later on, the bass too would be involved in the process of elaboration, and the work would focus on both outer voices rather than on the soprano only. Contrappunto, in this sense, meant nothing else than singable voice-leading of a harmonically conceived structure: from the very beginning, the idea of a deep connection between harmony and voice leading was stressed.23 As I have already mentioned, the progression and ordering of the studies, as outlined in the Naples copy-book, is very similar to the Lavigna exercises. The few existing differences can be explained on the grounds that the instructor who actually taught Lavigna in the first stages of his instruction was not Fenaroli himself, but
21 “Quelli che desiderano apprendere il Contropunto è necessario che prima studiassero bene il primo e secondo libro numerico, ed ancora li movimenti del Basso del terzo libro, e poi principiassero a porre la parte cantante in varie modulazioni sopra le tre note fondamentali del Basso, che sono, prima, quarta, e quinta del tono, sopra le quali è appoggiata tutta la Musica. Si insegna ancora allo studente a studiare molto di cantare, mentre dal cantare dipende, e la fantasia nel comporre, e la formazione dello stile armonico, e naturale” (I-Nc 22.26-2, c. 1v). 22 “Il principiante di contropunto deve faticare su le tre note fondamentali e molto su le scale, e movimento del Basso per poter giungere alla vera cognizione dell’armonia, ma sopra tutto deve badare alla cantilena che sia naturale, facile, ed armoniosa” (I-Nc 22.2.6-2, c.3r). 23 See also Beach 1994.
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rather S averio Verde (about whom very little is known) and who clearly was a “mastriciello”—an assistant to Fenaroli.24 Cadenze I will begin the examination of the Lavigna copybook from the first exercises on “cadenze”25 in two voices: Example 15.1 is a transcription of folio 1 verso and folio 2 recto of the manuscript; Example 15.2 is a facsimile of the manuscript of the same exercises. The harmonic basis for these cadenze is different from the one suggested by the anonymous student of the Naples manuscript: Lavigna here uses only the first and fifth harmonic degrees, and not the fourth. As a result, the bass has the aspect of a Schenkerian Bassbrechung, the bass arpeggiation with opening tonic, dominant, and closing tonic. Above the same bass arpeggiation, Lavigna places six different models of top voice: 3-2-3, 1-7-1, 1-2-1, 5-4-3, 3-4-3, and 3-7-1. The result is quite similar to what Schenker calls an Ursatz, even if the most important model, 3-2-1, does not appear. Immediately after the presentation of the six models we come upon five series of cadenze with elaborations of increasing complexity. We can distinguish five levels of diminution, separated in the manuscript by thick bar lines. Level I corresponds to the second species of counterpoint, with two notes in each bar. Level II uses a mixture of half and quarter notes. Level III uses quarter and eighth notes in various combinations, including embellishing notes such as the appoggiatura. Level IV introduces sixteenth notes, and level V makes use of suspensions in the upper part and introduces the elaboration of the bass, including the use of the fourth scale degree. At this point, any Schenkerian would be tempted to interpret each level of diminution as a composing-out of the previous level; or, at least, as a different diminution of the first, Ursatz-like, model. Is this the case with the Lavigna-Fenaroli exercises? There are no explicit indications either in the Lavigna exercise book or in the notebook of the anonymous Naples student that the more elaborated cadenze were consciously intended as diminutions of the simpler ones; in other words, that there was a generative process starting from the quasi-Ursatz model going through the five levels of diminutions. Fenaroli (or his assistants) could have simply said: write six cadenze with whole notes, then ten with half notes, and so on. But there are signs that a generative 24 The following music in manuscript by Saverio Verde exists in the libraries of the conservatories in Naples and Milan: Infida sors Crudelis (motet), I-Nc. Mus. Rel. 3360 (1-15); Dixit Dominus (Psalm 109), I-Nc. Mus. Rel. 3359 (1-15); Magnificat, I-Nc Mus. Rel. 3357 (1-13); Te Deum, I-Mc. Noseda Q.12.23. All four pieces are for four voices, choir, and orchestra. I was unable to find any biographical note about the author. 25 As it will become clear later in this article, the word cadenza indicates here something different from the current notion of cadence. For this reason, I shall retain the original term cadenza.
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process was at least implied in the method of work. One example is the first diminution of level I, marked in the manuscript with the number 5 (see Example 15.2: the numerals refer to diminutions present in each level: they are, however, inaccurate). The size of the notes seems to suggest that the writer first drew the larger notes E and D as whole notes (compare them with the whole note C in the third bar) and later the smaller C and B as diminutions: the model could be identified as the first, with the exception that the last note is C instead of E. Another example is the first diminution in level II, marked by the numeral 10: here, too, the larger half notes seem to suggest a generative process from the first model with the substitution of the closing tonic to the original 3; in this case, as in the previous, it is also possible to derive it—in a less direct way—from the last model, with the leading tone substituting for the second scale degree. In fact, the most frequent deviation is the appearance of the closing tonic in the upper voice of the diminutions, even where the supposed model ends with a nother scale degree. In those cases, the Ursatz model 3-2-1 emerges as “shadow model” for many diminutions. Scales
15.3 | 98
Most Italian eighteenth-century schools of composition used scales in two ways: the first, universally known, was the so-called “Rule of the Octave,” the most important technique for the accompaniment of unfigured bass. Another, less frequent technique was the employment of scales as a substitute for the cantus firmus in elementary counterpoint.26 The Lavigna-Fenaroli manuscript attests to a third use, actually a mixture of the first two: the scale functions as a bass for a series of diminutions of increasing complexity based on an implied harmonic fabric. In this sense, the scale quite naturally takes the place of the cadenza in the previous series of exercises. As for the cadenze, the question arises whether there is a generative process from the whole note scales to the diminutions. The thoroughbass figures added to the bass of scales 4 and 5 (see Example 15.3) suggest that a chordal texture is implied in the two-voice writing, and that, when the chordal structure is more or less the same—as in scales 4 and 5—the diminutions consist of a compound (or polyphonic) melody connecting the different voices of the fabric, using passing as well as other melodic tones. From this point of view, scale 1 may be seen as a paradigm for those scales starting with an 8-7-8 motion in the upper voice (as scales 4, 5, 7, 11, 12); scale 2 as paradigm for those scales starting with a 3-4-3 motion in the first three bars (nn. 9, 10, 11). Similarly, many scales exhibit the typical “modulation” in the descending phase of the “Rule of the Octave” (such as scales 4, 5, 10, 11, 12) even if they start in the same way as scale 1: scale 3, in the ascending phase, is clearly a variant of scale 1, and in the 26 A famous example of this practice is Mattei 1825.
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descending phase of scale 2. Similarly, numbers 9 and 10, which take as basis no. 2 in the ascending phase and no. 1 in the descending, while nn. 11 and 12 become nearer to no. 2 also in descending. Other scales exhibit different models: for example, scale 6 is based on the 7-6 suspension. To summarize: counterpoints written on scales, even in two voices, are based on an implicit chordal texture derived from the “Rule of the Octave;” the most widely used model is the one proposed by Fenaroli himself in his Regole musicali and in his collections of partimenti, but other models are possible (for example, the ascending scale realized as a chain of overlapping suspensions, such as series of 7-6 (8) or 9-8 (10): see Fenaroli’s Partimenti ossia basso numerato, book 3). The more elaborated scales are clearly diminutions of some whole-notes models, but there is not a single whole-tone paradigm for the more elaborated scales: rather they combine elements from different models. Bass Progressions Table 2 lists the various models of sequential progression used as basses for a series of counterpoints in the upper voice. They are employed in the same manner as the cadences and scales: each bass serves for a series of no less than ten different counterpoints of increasing complexity. The question of whether they can or cannot be considered elaborations of the same paradigm can be posed as well. Example 15.4 shows the thirteen counterpoints on a bass descending by thirds and ascending by seconds. The first two note-against-note counterpoints are built on sequences: the first replicates a 5-6 model, the second a 10-6. All subsequent versions, from three to thirteen, are diminutions of the first two. Specifically, numbers 3, 4, 6, 7, 11, 12 are elaborations of the first; and numbers 5, 8, 9, 10, and 13 are elaborations of the second counterpoint. Some, as n. 6, may be seen as combination of the two models; but a generative process is clearly discernible. Not all series of diminutions of a bass progression are intended as composings-out of a basic model, however. Some, like the basses “ascending by fourth and descending by third” show the quest for different solutions, without regard to structural dependence. The fourth section contains the realization of the 12 basses with four solutions each: two “simple,” one using dissonances and one by imitation. The basses are the same ones we find in the Naples notebook, where no realization is given. Even here the first “simple” exercise is almost always tacitly assumed as “middle ground” for the other, more complex, realizations. The last section of book one is called “parti di canto,” or counterpoints to a given melody. Each parte di canto is given three or four different accompaniments; in most cases the principle of deriving of a bass through the diminution of a previous, simpler version is apparent.
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Book 2 The transition from book 1 to book 2, Studi di contrappunto disposti a due per imitazione, is crucial, because the suppression of the given voice, either bass or melody, requires the students to plan the exercises by themselves. The second collection thus consists of six imitative two-voices counterpoints in different styles, ranging from strict writing to the instrumental duet. Generally speaking, they are similar to the “Imitations” described by Fux in his Gradus ad Parnassum, part 3, but much longer. The subject is stated on different degrees of the home key, and almost always there is a strong cadence about two thirds of the way into the exercise; after that point the imitation changes in character, either introducing a new countersubject or strettos, or exploring different tonal regions (for example, if the first part explores the “sharp” side, the second usually goes in direction of the “flat” side). All procedures already learned in the first book are employed: cadences, sequential progressions of the bass and scales. However, the abandonment of the guidance of a given voice has some drawbacks: the first exercises, in particular, are flawed by awkward and unconvincing modulations. These problems are solved in the subsequent course of study. Book 3 Book 3 follows the same path as book 1, but in three voices, with the exception of the cadences, which are not replicated. There is nothing particular to note here except for the increasing quantity of the different versions required for each exercise: there are sixteen different versions of the major scale, which will reach the quite incredible number of thirty-two in the book of four-voice exercises. Book 4 Book 4 testifies to a remarkable improvement in the musical quality and elegance of the voice leading. Example 5 shows one of the twelve Disposizioni a tre per imitazione composed by Lavigna under the supervision of Fenaroli and another of his assistants, Giuseppe Gargani.27 The disposizione was a kind of exercise widely used in the Neapolitan school, and its purpose was to fill the gap between strict counterpoint and free composition. In its simplest form, it was practiced with the aid of a bass or a given melody, and the students were required to compose a skillful and interesting voice on a stereotypical bass motion, such as a cadence, or a scale.28 As the students became 27 All twelve disposizioni are based on themes by Fenaroli; the themes appear also in the Naples notebook as sketches that are four- or five bars long. 28 Baron Giuseppe Staffa gives a description of the disposizione in his 1849 treatise, the aim of which was to hand down to posterity the oral precepts of the school of Naples, which at that time were
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more advanced, they were required to compose an imitative disposizione on their own, beginning with a theme of two to four bars. The disposizione VI a tre per imitazione in Example 15.5 is one of the finest in Lavigna’s collection: a two-part duet in F minor with bass in the expressive style of Durante. Examining the remaining three books would bring us too far from the basic premises of Fenaroli’s approach to diminution and counterpoint, which are more clearly discernible in the earlier exercises.
A Comparison with Other Sources A good number of manuscript sources related to counterpoint studies in the Neapolitan milieu have been preserved, but few of them have the same degree of completeness as Noseda Th.c.117. As we have seen, there are two kinds of these sources: exercise books, and collections of rules. An interesting source of the second type is Istituzioni e regole di contrappunto, a manuscript ascribed to Leonardo Leo bearing the date 1792 on the frontispiece, obviously written by a later hand.29 Leo’s approach to counterpoint is different from Fenaroli’s: Leo too deals with cadences, but their classification is different and there is no trace of diminutions. In general, Leo’s concept of counterpoint is stricter and closer to Fux, while Fenaroli seems to follow his teacher, Durante, and favors a synthesis of harmony and counterpoint. From this point of view, the legendary opposition between Leists and Durantists seems to find further confirmation. Since Leo’s manuscript seems to imply that Fenaroli’s idea of counterpoint was not the only one being used in the Naples conservatories, other questions arise: first, was Fenaroli’s approach to counterpoint older than Fenaroli himself, and second, was it used only in Naples, or in other Italian centers, or even outside Italy? Regarding the first question, I am not currently aware of sources of this kind earlier than Lavigna’s copybook; but there are many from the same or from later periods. The most important Neapolitan counterpoint treatise from that period is doubtlessly Nicola Sala’s Regole del contrappunto pratico (1794).30 At the beginning of book 1 Sala offers an example of a cadenza of the 8-7-8 kind on the I-V-I fundamental harmonic degrees. Sala presents three versions of the same cadenza: “semplice” (8-7-8), rapidly vanishing. According to Staffa, “the disposizione must be higly regarded, because, by maintaining all the harmonic and melodic rules that pertain to it, the student learns the art of arranging the ensemble of voices, and thus it greatly contributes to the ultimate success of the music” [“la disposizione deve inspirare grandissima premura, perchè conservando essa tutte le regole armoniche e melodiche, che le appartengono, insegna l’arte di figurare tutte le voci che insieme canteranno, e contribuisce molto al buonissimo risultato della musica”] (Staffa 1849, 359). See also Sanguinetti 2005. 29 Leonardo Leo, Istituzioni (e regole) dei contrappunto (1792), I-Nc 22.2.6-3. Leo’s treatise is discussed in Abbate 2007. 30 Sala 1794.
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“composta” (with 4-3 suspension) and “doppia” (with the insertion of a neighboring six-four); he does not offer examples of diminution. Another similar exercise book written perhaps a decade after Lavigna’s is I-Mc Noseda Th.c.141, entitled Introduzione allo studio del contrappunto. The author is Vincenzo Fiodo (1782–1862) who studied in S. Maria della Pietà dei Turchini under Giacomo Tritto and Alessandro Speranza. Fiodo’s approach clearly follows the same syllabus as Lavigna, and makes a very extensive and flamboyant use of diminutions, especially on scales. A later source comparable with Fenaroli’s approach is a collection of exercises by Claudio Conti (1836–1879), 31 Corso di armonia, partimenti armonizzati e contropunto (I-Nc 15.7.12), written probably at the beginning of the second half of the nineteenth century. Conti’s collection, a large volume lavishly bound in red Moroccan leather, offers at cc. 74r-81r (and later on at cc. 93r-193r) a counterpoint course very similar to Lavigna’s. There are differences in the (much lesser) degree of emphasis on diminutions, and in the fact that VI appears as a structural degree along with I and V in the earliest stages of the cadenze. This modified version of Fenaroli’ syllabus is also followed by Corso di contrappunto, manuscript I-Nc 84.3.53(9), written a quarter of a century later (1875) by Paolo Bono, a student of Nicola d’Arienzo. D’Arienzo was a distinguished composer and theorist, who championed introducing into modern practice a scale composed of two Phrygian tetrachords.32 A still later witness of this practice is found in another Corso di Contrappunto (I-Nc 46.1.48) written in 1879. The student, Nicola Spinelli, was a pupil of Paolo Serrao, a distinguished teacher who had among his students Franco Alfano. The answer to the second question—how widespread Fenaroli’s approach to counterpoint was—is more problematic. During the tonal period, diminution had a looser, less direct connection with the pedagogy of composition than more solid disciplines such as counterpoint or thoroughbass: its procedures were transmitted mainly through improvisation and performance. At least, that’s the picture we get from the “official” sources like printed treatises or manuals (except for some thoroughbass treatises such as those by Gasparini and Niedt): but, in my opinion, if we rely on these sources a lone, our information is bound to remain largely incomplete. Music teaching has always been transmitted orally, from teacher to student. Printed manuals were sometimes used, sometimes not; if they were used, very often they were modified or supplemented during the lessons. A more precise picture of the way composition was taught in the past must rely more on manuscript sources like exercises books or students’ lesson 31 Claudio Conti, composer and teacher, was a student of Gennaro Parisi and Saverio Mercadante at the Collegio di Musica S. Pietro a Majella. For further details see Caroccia 2004, 113 n. et passim. 32 D’Arienzo 1878. D’Arienzo wrote also a treatise in composition: Scuola di composizione musicale (d’Arienzo 1900). See Sanguinetti 2001.
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notes: these can provide a glimpse of real day-to-day life in a composition workshop. Perhaps a more complete picture of these sources will give an answer to this question, and to other questions regarding composition pedagogy.
Some (Provisional) Conclusions Let us summarize some basic principles behind Fenaroli’s approach to counterpoint teaching: 1. At the beginning of their studies, students must learn to elaborate, in as many different ways as possible, some basic harmonic-contrapuntal paradigms: these paradigms were: cadenze, scales, and simple bass patterns, called “bassi di combinazione;” 2. Even if not stated explicitly, the passage from simple, whole-note models to the more elaborated ones often imply a generative process; 3. Only later would the students proceed to apply the patterns to musically conceived exercises: the “bassi di composizione” and the “disposizioni”; 4. An important aspect of pedagogy was the continuous variation and recomposition process of the same basic patterns.33 There are some affinities between this syllabus and Schenker’s agenda. The most striking is, of course, the similarity between the cadenze and the Schenkerian Ursatz, both in the structure and in the fact that they are both susceptible to generate diminutions. However, superficial affinities like this should not be overemphasized. First of all, the Ursatz is not a cadence: it is the overarching structure of a whole composition, not a closing formula. On the other hand, neither are Fenaroli’s cadenze cadences— nothing in the text suggests that they are intended as closing formulae; rather, they are the initial, elementary harmonic structures upon which the student can create his diminutions. In this sense, cadenze are closer to Schenker’s Ursatz than to cadences. The difference between the Ursatz and the cadenze lies more in the breadth of the generative process in which they are involved rather than in their inner structure. The Ursatz is the elemental structure of tonal music; not only does every successive layer of diminution originate from it, it is also immanent, conceptually present behind every detail of the surface. The cadenze too are the elementary structures of tonal music; but, after the initial exercises, they are replaced by other tonal models: scales, bassi di combinazione, and bassi di composizione. One could speculate that a cadenza might be 33 The latter point was a constant feature of Italian pedagogy: at times, students were required to set the same text twenty times or more (Rossini’s six different settings of Metastasio’s Mi lagnerò tacendo are perhaps a vestige of this practice).
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considered the “background” of a scale or a basso di combinazione, but this would bring us too far into the conjectural realm. One additional aspect of cadenze deserves some attention. The passage from the counterpoint treatise ascribed to Fenaroli quoted at the beginning of this article states that “the three fundamental tones of the Bass [are] the first, fourth, and fifth of the key, upon which rests all Music.” This idea echoes a famous passage from Fenaroli’s Regole musicali (1775): “All music is nothing but a chord of first, third and fifth. Out of the seven tones of Music three are fundamental, namely the first, the fourth and the fifth of the tone.”34 Of these three ‘fundamental tones’, however, only two can be found in the cadenze, I and V; the third of these “fundamental” degrees, IV, enters only in the last level of diminutions, when the diminution process involves the bass. This discrepancy between the theory and the practice of teaching is, on one hand, an implicit admission of the lower structural status of the pre-dominant harmony, another Schenkerian idea. On the other hand, it could also be evidence that “official” sources like treatises or printed manuals, may provide only an incomplete picture, especially in the context of a strong oral tradition. Although the idea of a connection between the hypernationalist German Schenker and a distant, Mediterranean tradition might seem bizarre, there are several points where the two traditions can be said to meet. First, as I have already mentioned, in the eighteenth century, many Italians—and among them many Neapolitans—lived, worked and taught virtually in every musical center of Europe. German composers often studied with Italian teachers, as Haydn did with Porpora. Secondly, Viennese harmonic theory (one tradition upon which Schenker relied) bore clear affinities with the Neapolitan tradition: both were grounded on figured bass, scales and cadences, and both were “conservative” in respect to the more “progressive” German theory.35 Clearly, generative diminution and harmonically oriented counterpoint have little to do with the more ideological aspects of Schenker’s thought, such as the ideas of “absolute Diminution” and “streng organische Bindung”: they have more to do with surface, or middle ground, phenomena rather than with the overarching Ganze. It is somewhat an irony that, the more distant we feel from the ideology of organicism and unity, the more historical evidence we find of many of Schenker’s insights.
34 “Tutta la musica altro non è se non un accordo di prima, terza e quinta. Dei sette toni della Musica tre sono fondamentali, cioè la prima nota del tono, la quarta, e la quinta” (Fenaroli 1775, 1). 35 See Wason 1985, xiii. Apart from a passing mention of Bonifazio Asioli, however, Wason does not mention any connection between Viennese and Italian traditions.
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16 Die ornamentale Struktur des Tonsatzes. Ornamentik als Grenzbereich zwischen Analyse und Vortragslehre M A R T I N E Y BL
Die Forderung, Analyse und Vortragslehre miteinander zu verbinden, ist heutzutage nahezu eine Selbstverständlichkeit. Die Interpreten sollten die Stücke, die sie spielen, zuvor analysieren. Von Analytikern erwartet man, dass sie die Konsequenzen ihrer Einsichten für adäquate Aufführungen von Stücken ansprechen. Was sollte aber Ornamentik mit dem Verhältnis von Analyse und Vortragslehre zu tun haben? Dass sie einen Teil der Vortragslehre ausmacht, wird niemand bestreiten. Sie erlebte ihre Blüte im 18. Jahrhundert, später sank ihre Bedeutung. Lediglich in der historischen Aufführungspraxis genießt sie bis heute hohen Stellenwert. Doch die Beziehung von Ornamentik und Analyse, die der Untertitel des vorliegenden Beitrags suggeriert, leuchtet nicht unmittelbar ein. Was Analyse, die gedankliche Durchdringung eines Werkes, für dessen vokale oder instrumentale Ausführung leistet, lässt sich an konkreten Beispielen anschaulich machen. Analyse bietet Entscheidungsgrundlagen für die Interpretation bestimmter Kompositionen. Anstelle dessen behandelt die vorliegende Untersuchung eine allgemeinere Frage: Was charakterisiert eine Interpretation im Geiste Heinrich Schenkers? Was zeichnet sie gegenüber anderen Ansätzen aus? Eine mögliche Antwort darauf setzt zwei Arbeitsschritte voraus. Zunächst werden thesenhaft zwei Idealtypen des Tonsatzes, serielle und ornamentale Struktur, einander gegenübergestellt. Dazu soll das ornamentale Moment des Tonsatzes in historischer Perspektive bestimmt werden. In der Auseinandersetzung zwischen Schönberg und Schenker über akkordfremde Dissonanzen – ihr ist der zweite Abschnitt gewidmet – erhalten die beiden Strukturmodelle zusätzlich Profil; sie bilden unausgesprochen die Grundlage des Konflikts. Als Konsequenz daraus sollte sich die Beantwortung der Frage nach dem Spezifikum
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der Schenker’schen Aufführungslehre ergeben: Interpretation nach Schenker mache wesentlich das Bewusstsein einer ornamentalen Struktur des Tonsatzes aus. An einem kurzen Beispiel wird dies zuletzt demonstriert. Noch eine terminologische Vorbemerkung: Einer weit gefassten Definition des Begriffs ›ornamental‹ widmen sich die nachfolgenden Überlegungen ausführlich. Und auch der Terminus ›seriell‹ wird im weiteren in einer allgemeinen Bedeutung, keineswegs ausschließlich im Sinne der Zwölftontechnik oder der Darmstädter Schule verwendet.
I. Die beiden Strukturmodelle des Tonsatzes, die hier vorgestellt werden sollen, repräsentieren einander entgegengesetzte Konzepte, die sowohl analytische Beobachtungen wie interpretatorische Entscheidungen grundlegend berühren. Zweistimmiger Kontrapunkt: a
b
c
d
–
d
c
b
a
–
a'
b'
c'
d'
–
...
a'
b'
c'
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–
d'
c'
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–
d
c
b
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–
...
Akkorde: a b c
d e f
c b a
e f d
b' a' c'
Abbildung 1: Serielle Struktur (Prinzip Reihung / A ddition): abstrahierte Beispiele für Kontrapunkt und Akkordfolge In einer seriellen Struktur des Tonsatzes (siehe Abbildung 1) werden gleichwertige Elemente aneinander gereiht oder übereinander geschichtet. Der Name ›seriell‹ spielt auf die Zwölftontechnik an, die diesen Typus modellhaft verkörpert. Keimzelle der Komposition ist hier die Reihe. Reihenabläufe werden melodisch aneinander gefügt und kontrapunktisch einander überlagert. Akkorde bilden einen Spezialfall der Reihung; denn die Töne folgen einander nicht einzeln, sondern im einfachsten Fall in Gruppen von drei, vier oder sechs Tönen, je nachdem, wie viele Stimmen die Akkorde umfassen. Auch eine unregelmäßige Aufteilung der Reihentöne auf Akkorde ist denkbar. Entscheidend ist, dass die Reihenfolge der Töne nicht willkürlich verändert
Die ornamentale Struktur des Tonsatzes
wird. Die Keimzelle der Komposition – die Reihe als Abfolge von Tonhöhen – wird in einer seriellen Struktur nicht durch Einfügungen erweitert, sondern sukzessiv oder simultan vervielfacht.
D D
A j
k
A
A
l
E
E
m
F F
B B
B
n
G G
C
o
p
C C
q
H H
Abbildung 2: Ornamentale Struktur (Prinzip Einfügung / Insertion) Im zweiten Strukturtyp (siehe Abbildung 2) tritt anstelle von Addition als generativem Prinzip die Insertion. Die Ausdehnung der zeitlichen Dimension erfolgt hier nicht durch Multiplikation elementarer Bausteine, sondern durch fortgesetzte Einfügung neuer Elemente. Eine serielle Struktur wird durch Anfügungen, eine ornamentale durch Einfügungen erweitert. Gibt es zwei verschiedene Versionen, eine unverzierte und eine verzierte, so sind die Einfügungen – gleichgültig, ob sie vom Komponisten oder von Interpreten stammen – im Vergleich klar erkennbar. Doch auch wo nicht mehrere Versionen als Produktionsstufen einer ornamentalen Struktur vorliegen, ergeben sich durch die Zuordnung einzelner oder mehrerer Töne zu anderen sowie durch strukturelle Bezugspunkte, nämlich entfernt voneinander liegende Elemente, die sich aufeinander beziehen, unterschiedliche Ebenen, die sich als Grundstruktur und deren Erweiterung durch Einfügungen verstehen lassen. Im Zusammenhang mit der ornamentalen Struktur des Tonsatzes bezeichnen hier die Begriffe ›Verzierung‹ und ›Ornament‹ nicht bloß kodifizierte Ornamente wie den Mordent oder den kurzen Vorschlag, sondern alle Arten von Diminution. Man könnte ›ornamentale Struktur‹ auch mit ›hierarchische Struktur‹ übersetzen. Die Verwendung des ursprünglich theo logischen Terminus ›Hierarchie‹ würde jedoch verstärkt einem Missverständnis Vorschub leisten, dem der ästhetische Terminus ›ornamental‹ in geringerem Maße ausgesetzt ist: dass das hierarchisch Untergeordnete das minder Wichtige, das Verzichtbare, ja Überflüssige sei. Sollten etwa die Diminutionen in einem Variationenzyklus, die Auszierungen und Umspielungen des Themas das minder Bedeutsame darstellen? Im Gegenteil: Sie allein legitimieren die immer neue Wiederholung ein und derselben Grundstruktur. In der historischen Realität werden die Idealtypen ›serielle‹ und ›ornamentale Struktur‹ wohl kaum in reiner Form auftreten. Die Zuordnung serielle Struktur / atonale Musik und ornamentale Struktur / tonale Musik trifft die Sache im Großen und Ganzen. Gleichwohl finden sich serielle Momente ebenso in der Struktur wie in der Theorie tonaler Musik. Diverse Versuche von Komponisten des 20. Jahrhunderts, mit
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serieller Technik tonale oder zumindest grundtonbezogene Musik zu schreiben, belegen, dass tonale Musik durchaus seriell konzipiert sein kann. Auch verträgt sich die von Schenker entwickelte Vorstellung einer durch und durch hierarchischen Struktur tonaler Musik nicht mit parataktischen Elementen, die in tonaler Musik ebenfalls eine wenn auch untergeordnete Rolle spielen.1 Überdies liegt wohl eine der Wurzeln seriellen Denkens in der Musiktheorie des 18. Jahrhunderts. Schenker selbst hat indirekt darauf aufmerksam gemacht. Er hielt Jean-Philippe Rameau für den Urheber einer Fehlentwicklung des musikalischen Denkens, derzufolge Musik als bloße Abfolge von Akkorden verstanden wurde. Rameau habe sich einer Überbetonung der Vertikalen und einer Missachtung der Horizontalen schuldig gemacht. Schenker bezog seine Informationen über die Theorie des 18. Jahrhunderts offensichtlich von Johann Philipp Kirnberger 2 ; wenn er Rameau sagte, meinte er (ohne es zu wissen) Marpurg. Dabei hatten aber Friedrich Wilhelm Marpurg und seine Nachfolger die Fundamentalbasstheorie grundlegend missverstanden.3 Im Namen Rameaus ließ Marpurg – ähnlich wie später Schönberg – jeden Zusammenklang in tonaler Musik als Akkord gelten. Im Unterschied zu Rameau und Kirnberger jedoch differenzierte er dabei nicht zwischen akkordeigenen und akkordfremden Tönen, wodurch nicht nur Rameaus übersichtliches Akkordsystem aus Dreiklängen, Septakkorden und ihren Umkehrungen unterminiert, sondern auch der qualitative, funktionale Unterschied von Tönen bzw. Akkorden nivelliert wurde. Trotz einzelner parataktischer Momente in Theorie und Praxis tonaler Musik prägte das Prinzip einer Erweiterung durch Insertion die tonale wie auch die modale Musik auf ähnlich grundlegende Weise. Sowohl in einstimmiger wie in mehrstimmiger Musik des Abendlandes dominierte die Technik der Einfügung, sei es die melodische Diminution (wie etwa im Tropus des Gregorianischen Chorals), sei es die Einfügung ganzer Formteile – man denke an die Kadenz in Opernarie und Solokonzert. In Einstimmigkeit wie Mehrstimmigkeit ist Insertion primär eine Technik der Melodiebildung und gehört so in die Dimension der Horizontale. Oft blieben die Auswirkungen auf die Vertikale, den Zusammenklang, satztechnisch überhaupt unberücksichtigt. Diminutionen konnten Satzfehler verursachen (irreguläre Dissonanzen, verbotene Parallelen), ohne dass jemand daran Anstoß nahm. Beschränkt man den Begriff des Ornaments nicht auf Zusätze am Rande und außerhalb des Notentextes – bezieht man also alle Arten der Insertion mit ein –, so zeigt sich, dass über Jahrhunderte die Grenze des Notentextes zum Ornament hin offenstand: Der Text drang in den Bereich des Ornamentalen vor, wie umgekehrt das Ornamentale in den Notentext eindrang (siehe Abbildung 3). 1 Siehe dazu Eybl 1995, 71–117. 2 Schenker 1930, besonders 14. 3 Zur Marpurg-Kirnberger-Debatte siehe Lester 1992, 231–257.
Die ornamentale Struktur des Tonsatzes
Notentext Ornamentales
Analyse
Klingende Musik
Grundstruktur
multiplicatio flores glosas diminutioni agréments ornamenti Auszierungen Manieren Vortragslehre
Abbildung 3: Notentext und Ornamentales in der europäischen Musik ca. 1100–1900 Der Bereich des Ornamentalen bildete in der abendländischen Mehrstimmigkeit einen Brennpunkt des Interessenkonfliktes zwischen Komponisten und Musikern und ist eng verknüpft mit deren sozialer Differenzierung und dem Prozess zunehmender Arbeitsteilung. Würde es sich bei den Lehrschriften zur mittelalterlichen Mehrstimmigkeit um Kompositionslehren im modernen Sinne handeln, wäre die Aufgabenverteilung klar. Im Zeitraum zwischen etwa 1100 und 1450 beschränken sich diese Lehrschriften im Wesentlichen auf die Herstellung einer Grundstruktur. So scheint sich daraus zu ergeben, dass, wer die Noten schreibt, für die Grundstruktur verantwortlich ist; die Musiker, die den Notentext in ein Klangereignis überführen, würden demnach über den Bereich des Ornamentalen verfügen. Doch bewegten sich die Ausführung mittelalterlicher Organa und der frühe Kontrapunkt an der Grenze von Oralität und Schriftlichkeit. Die ›Kompositionslehren‹ sind vielfach von Improvisationsanweisungen nicht zu unterscheiden. Deshalb ist in der Praxis eine säuberliche Aufteilung der satztechnischen Komponenten ›Grundstruktur‹ und ›Ornament‹ auf Komponisten und Musiker schon in der Frühzeit der Mehrstimmigkeit problematisch. Wurde der Kontrapunkt improvisiert, lagen beide Bereiche in einer Hand. Grundstruktur und Ornament bezeichnen dann zwei Schritte der Ausführung: die Bestimmung eines Gerüsttons als nächstes Ziel und die Wahl einer Einfügung auf dem Weg dorthin. Nur vereinzelt geben die Lehrschriften Hinweise für die ornamentale Ausführung. Traktate um 1100 sprechen von einer möglichen multiplicatio der Töne, so dass statt des einen Tons im Satz Note gegen Note zwei, drei oder mehr gesungen werden können. Der gegen 1200 entstandene Vatikanische Organum-Traktat
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bietet ganze Listen von Möglichkeiten für die ornamentale Ausgestaltung einfacher Tonschritte.4 In den überlieferten Stücken greift der Notentext selbst sehr oft in den Bereich des Ornaments aus. Es bleibt dabei offen, ob das Notierte quasi ein Protokoll des Erklungenen darstellt, ein Beispiel möglicher Optionen für Musiker festhält oder als Vorschrift für Musik diente. Die Musiker, die eine Grundstruktur improvisierend erfanden, hielten ebenso wie die Komponisten ornamentierter Musik die Grenze zwischen Grundstruktur und Ornamentalem von Anfang an durchlässig. Großen Raum nahm das Ornament in den Gesang- und Instrumentalschulen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts ein. Noch immer bestand ein großer Freiraum zwischen Notentext und Erklingendem, ein Freiraum, in dem sich die Musikerinnen und Musiker mit Selbstbewusstsein bewegten. Eine Bemerkung des Kastraten Pier Francesco Tosi (ca. 1653–1732) aus dem Jahr 1723 dokumentiert anschaulich das Pochen der Musiker auf Autonomie. Er klagte, die Komponisten trügen gelegentlich Vorschlagnoten in den Notentext ein, gerade so, als ob sie besser als die Sängerinnen und Sänger wüssten, wie man singt. Nein, für Tosi blieben die ornamenti ein für alle Mal Sache der Musiker.5 Umgekehrt hörte man immer wieder Beschwerden darüber, dass Ausführende zuviel an Ornamenten anbrächten – ein Topos im ewigen Konflikt zwischen Musikern und Komponisten. Auch der Wunsch der Komponisten, den Freiraum der Musiker einzuschränken, indem sie immer größere Teile des Ornamentalen in den Notentext aufnahmen, hat lange Tradition. Betrachtet man den gesamten Zeitraum von 1100 bis 1900, wurde der Entscheidungsspielraum der Musiker zunehmend kleiner. Die Entwicklung verlief freilich nicht geradlinig durch alle Epochen, Länder und Gattungen. Beide Konfliktparteien mussten über die Jahrhunderte immer wieder Niederlagen einstecken. Doch am Ende haben die Komponisten ihren Einfluss auf die klingende Musik entscheidend erhöht. »Spiel, was dasteht«, heißt es zuletzt in den Musikschulen und Konservatorien landauf, landab. Zwei Marksteine auf diesem Weg zunehmender Normierung seien genannt. Mit dem Begriff contrapunctus diminutus, diminuierter Kontrapunkt, integrierte Johannes Tinctoris 1477 die Diminution in die Kompositionslehre und reglementierte zugleich die Dissonanzverwendung erstmals präzise.6 Damit verschafften sich die Komponisten Zugriff auf Ornamente wie Durchgang, Nebennote oder Ligatur, deren Ausführung zuvor ohne feste Regeln den Sängern überlassen war. Ausgehend von Frankreich wurden am Ende des 17. Jahrhunderts Zeichen für Ornamente entwickelt, um derart auch die ornamentale Ausgestaltung detailliert im Notentext festzulegen. Im 18. Jahrhundert, als die weite Verbreitung von Musikalien und der wachsende anonyme Markt die richtige Ausführung der ab4 Eggebrecht 1984, 50, 54, 73–77. 5 Tosi 1723. 6 Tinctoris 1477.
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gekürzten Ornamente gefährdeten, gingen Komponisten verstärkt dazu über, Ornamente sicherheitshalber im Notentext auszuschreiben. Die klassische Rhetorik weist den ornatus der elocutio, der Ausformulierung des Textes zu. Die Anbringung von Figuren gilt als Sache des Autors, nicht des Vortragenden. In der Musik ist das anders: Über die Ornamente verfügen weder die Komponisten noch die Ausführenden allein. Johann Mattheson, der in seinem Vollkommenen Kapellmeister (1739) die Musik in einem bisher unbekannten Ausmaß durch Adaptierung der Fachtermini am Renommee der Redekunst teilhaben zu lassen suchte, sah sich durch die unterschiedlichen Funktionen des ornatus zu einem bemerkenswerten Eingriff gezwungen. Mattheson veränderte die Folge der Produktionsstufen einer Rede einschneidend. In der klassischen Rhetorik waren dies inventio - dispositio - elocutio - memoria - pronuntiatio /actio. Die beiden letzten Stufen ließ Mattheson stillschweigend beiseite. Und elocutio ersetzte er durch zwei Neologismen: elaboratio und decoratio.7 Aus einem Arbeitsschritt wurden dadurch zwei. Die elaboratio blieb den Komponisten vorbehalten, während an der decoratio Komponisten und Ausführende gleichermaßen Anteil hatten. Die scharfe Grenze, die die literarische Rhetorik durch die Scheidung von elocutio und pronuntiatio zwischen Autor und Vortragendem zog, wurde durch Matthesons Neukonzeption entsprechend der musikalischen Praxis aufgelöst. Die Grenze zwischen Notentext und Ornament blieb solcherart offen. Klassische Rhetorik
Mattheson, Der vollkommene Kapellmeister (1739)
dispositio
dispositio
inventio elocutio
memoria
pronuntiatio/actio
inventio
elaboratio decoratio – –
Abbildung 4: Arbeitsschritte in klassischer Rhetorik und bei Mattheson In der deutschen Musiktheorie des Generalbasszeitalters waren Ornamentik und musikalische Rhetorik sachlich und terminologisch eng verknüpft. Im Hinblick auf eine historisch breit fundierte Definition des Ornaments erscheint es nützlich, diese Verknüpfung im Anschluss an Mattheson aufzulösen (siehe Abbildung 4). Sein Be7 Mattheson 1739, 235–244. Von Elaboratio und Decoratio fehlen Belege vor Mattheson (siehe Bartel 2004). Beide Begriffe sind nicht Teil der rhetorischen Terminologie und fehlen daher in Lausberg 1990 und Ueding 1994.
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griff der decoratio entspricht den Figurae musicae oder Ornamenta in Joachim Burmeisters Musica poetica (1606).8 Dabei ist zwischen speziellen melodischen Formeln – bei Mattheson heißen sie ›Manieren‹ – und anderen satztechnischen Besonderheiten zu unterscheiden; nur diese zweite Gruppe nennt Mattheson ›Figuren‹. Beide Gruppen, Manieren und rhetorische Figuren (im Sinne Matthesons), werden in der deutschen Musiktheorie aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, jener der Semantik (Burmeister) oder – wie in der Kompositionslehre von Christoph Bernhard – jener des Dissonanzgebrauchs. Der Sache nach nehmen lediglich die speziellen melodischen Formeln – unabhängig davon, ob sie mit einer speziellen Semantik eingesetzt werden, und ebenso unabhängig davon, ob sie Dissonanzen exponieren – an der Entwicklung der musikalischen Ornamente in Europa teil. Auch wenn sie Burmeister unter die Ornamenta zählt, stehen rhetorische Figuren im Sinne Matthesons in einer anderen, auf Wort-Ton-Beziehungen fokussierten Tradition. decoratio Burmeister: Figurae musicae / Ornamenta Manieren [melodische Formeln]
(rhetorische) Figuren [satztechnische Besonderheiten]
Bereich der Ornamentik
Bereich des Wort-Ton-Verhältnisses
Abbildung 5: Teilbereiche von decoratio nach Mattheson Vor dem Hintergrund der skizzierten historischen Entwicklung ergibt sich folgende Definition. Musikalische Ornamente sind improvisierte, durch graphische Zeichen notierte oder ausgeschriebene Einfügungen einzelner Noten oder formelhafter Notengruppen. Im 14. Jahrhundert spricht man von flores (Blüten, Schmuck) 9, im 16. Jahrhundert von glosas 10 oder diminutioni 11, im Generalbasszeitalter von ›Kunst stücken‹ 12, agréments 13, ornamenti 14, von ›Auszierungen‹ und ›Manieren‹ .15 Die bis ins 18. Jahrhundert weit gefasste Definition wurde im 19. Jahrhundert eingeschränkt. Je weiter Komposition den Bereich des Ornaments okkupierte, je kleiner der Spielraum 8 9 10 11 12 13 14 15
Zur Definition der musikalischen Figuren bei Burmeister siehe Bartel 2004, 26. Z. B. Petrus dictus Palma ociosa 1336 (siehe Eggebrecht 1984, 237–240). Ortiz 1553. Diruta 1593 / 1609, siehe auch Krebs 1892, 334. Bernhard ~1650, 31–39. D’Anglebert 1689. Tosi 1723, 18. Quantz 1752.
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der Ausführenden wurde und je genauer der Notentext das Klangprodukt vorschrieb, desto mehr wurde der Begriff Ornamentik auf das beschränkt, was über den ausgeschriebenen Notentext hinausging. Dieser gängigen, doch historisch irreführenden Auffassung nach besteht Ornamentik lediglich in der Erklärung der durch besondere Zeichen notierten Verzierungen und in Überlegungen, wo solche Manieren allenfalls ›eigenmächtig‹ von Interpreten eingefügt werden könnten. Ein solch beschränkter Begriff ist bis in die Gegenwart und bis in die höchsten Höhen der Wissenschaft hinein geläufig – zu denken wäre etwa an den Artikel »Verzierungen« in der jüngsten Auflage der Musikenzyklopädie MGG.16 So ist es wenig verwunderlich, dass heute die Forderung, Ornamentik habe sich auch mit Notentexten zu beschäftigen, überraschend und auf den ersten Blick unverständlich erscheint. Wenn Ornamentik das Ornamentale in der Musik zu ihrem Gegenstand hat, muss sie Teil der Aufführungslehre ebenso sein wie Teil der Analyse. Es ist ein Verdienst Heinrich Schenkers, diesen Grenzbereich zwischen Aufführungslehre und Analyse als Einheit verstanden und die Analyse aus dieser speziellen Perspektive heraus befruchtet zu haben.
II. Mit seinem Interesse für das Ornament stand Schenker jedoch innerhalb der Wiener Moderne isoliert. Moderne Künstler lehnten das Ornament als überflüssigen Zierrat und Relikt einer überholten Kulturstufe ab. »Wir haben das ornament überwunden, wir haben uns zur ornamentlosigkeit durchgerungen«, erklärte der Architekt Adolf Loos 1908 in seiner Polemik gegen den Jugendstil mit dem legendären Titel Ornament und Verbrechen.17 Arnold Schönberg übernahm in seiner Harmonielehre (1911) die Aversion gegen die »›Ornamentierer‹ (wie Adolf Loos sagt)« und zog gegen das Konzept harmoniefremder Töne zu Felde.18 Seit dem 18. Jahrhundert stellt die Harmonielehre den Akkorddissonanzen akkordfremde Dissonanzen gegenüber. Dabei handelt es sich um Einfügungen, Ornamente wie Durchgänge, Vorhalte, Nebennoten. Schönberg will der Unterschied nicht einleuchten. Für ihn bildet, was zusammenklingt, einen Akkord (Beispiel 16.1). Schönberg behandelt alle Elemente gleichwertig. Schenker hält diese Sichtweise für ein Missverständnis und wendet sich in seinem Jahrbuch Das Meisterwerk in der Musik entschieden gegen Schönbergs Auffassung.19 Carl Dahlhaus hat die ideengeschichtlichen Grundlagen der Debatte entfaltet und auf die überraschende Pointe der 16 17 18 19
Gutknecht 1998, 1418–1464. Loos 1931, 78–88. Schönberg 1911, 299 und 344–372. Schenker 1926, 9–42, besonders 30–37.
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Auseinandersetzung hingewiesen.20 Denn beide, Schönberg und Schenker, leugnen ja den Unterschied zwischen harmonieeigenen und harmoniefremden Dissonanzen. Sie tun es freilich aus unterschiedlichen Gründen und mit entgegengesetzten Argumentationszielen. Schönberg will keine harmoniefremden Dissonanzen anerkennen, Schenker keine harmonieeigenen. Im Zusammenhang mit den beiden Idealtypen ›ornamentale‹ und ›serielle Struktur des Tonsatzes‹ lohnt es sich, den Konflikt nochmals aufzurollen. Schönbergs Argumentation ist im Rahmen seiner Prämissen von bestechender Logik. Wenn es, wie er annimmt, zwischen Konsonanzen und Dissonanzen keinen funktionellen Unterschied gibt und Konsonanzen wie Dissonanzen schon bisher gemeinsam Akkorde bilden konnten (Dreiklänge, Septakkorde), warum sollte es dann eine weitere Spezies von Dissonanzen geben, die für die Akkordbildung ausgeschlossen wäre? Diese dritte Art von Zusammenklängen würde heute als Durchgangsdissonanz gelten, doch, so Schönberg, »der 7-Akkord und der 9-Akkord geschahen auch nur im Durchgang, bevor sie ins System aufgenommen wurden.«21 Damit nimmt er Schenker den Wind aus den Segeln; denn genau das ist dessen Argument: Auch die ›Akkorddissonanzen‹ Sept und Non sind eigentlich Durchgangserscheinungen. Deshalb sollte laut Schenker von Akkorddissonanzen gar nicht die Rede sein. Schenker zitiert seitenweise Schönbergs Text, doch wirkt er durch die merkwürdige Koinzidenz der Argumente wie gelähmt. Jedenfalls geht er nicht auf den entscheidenden Punkt ein: das Bewegungspotential der Dissonanz innerhalb der Tonalität. Schönberg betrachtet den tonalen Satz aus der Perspektive der Atonalität. Es gebe in beiden Welten dieselben dissonanten Klänge, nur seien sie eben im tonalen Satz eingebunden in Konsonanzen, noch nicht emanzipiert. Die emanzipierte Dissonanz, die Schönberg (der Sache nach in der Harmonielehre, dem Begriff nach erst 1925) proklamierte 22, ist jedoch ein Klang ohne Bewegungspotential, eine statische Spannung ohne Tendenz zur Fortführung. So geht das dynamische Element der Tonalität, das Schenker hervorhebt, in Schönbergs Rückblick verloren. Ist es nicht Schönberg selbst, mag man einwenden, der von einem ›Triebleben der Harmonien‹ spricht? Sollte damit nicht gerade ein dynamisches Moment der Harmonik gemeint sein? Vom Triebleben der Harmonien ist zunächst im tonalen Kontext die Rede. Schönberg ist sich der metaphorischen Sprechweise bewusst, wenn er der schrittweisen Auflösung der Dissonanz im Septakkord einen »Schein von Notwendigkeit« attestiert. Der Akkord gehe mit der Wucht des Harmoniewechsels V–I scheinbar seinem ›Triebleben‹ nach.23 Die Akkordfolge wurzle in der »Anziehung der 20 21 22 23
Dahlhaus 1978. Weiters dazu: Borio 2001; Goldenberg 2004. Schönberg 1911, 361. Schönberg 1976, hier 211. Schönberg 1911, 95f.
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Tonika auf die Dominante«. In der Auflösung erfülle sich die »heftigste Sehnsucht« des Dominant-Grundtons; denn es sei ein »Bedürfnis« jedes Grundtons, »von einem, eine Quint tiefer als er liegenden Grundton überwältigt, überwunden zu werden«.24 Wer Trieben und Neigungen nachgeht, wiederholt immer dieselben Handlungen. So passt das Bild des Trieblebens auf die Dissonanzbehandlung im System der tonalen Musik, das nur eine beschränkte Zahl von Möglichkeiten für die Weiterführung (›Auflösung‹) dissonanter Klänge vorsieht. Wenngleich sich Schönbergs Harmonielehre primär mit tonaler Harmonik befasst, werden auch Klänge außerhalb des Systems peripher angesprochen, eben etwa in der Polemik gegen den Begriff der harmoniefremden Töne. Eines der üblichen Argumente, Durchgangsakkorde in tonaler Musik zu rechtfertigen, nenne ihre kurze Dauer, das schnelle Vorübergehen, so dass ihre Dissonanzen dem Hörer gar nicht bewusst würden. Schönberg meint dagegen, das Ohr könne solche Akkorde auch wahrnehmen, »wenn sie losgelöst vom Zusammenhang vorkommen, wenn sie länger klingen, wo das Ohr ja mehr Zeit hat, sie zu analysieren [...].« 25 Zu Recht spricht Schönberg von einer Sache des Hörens. Während Schenker eine ornamentale Struktur hört, schlägt Schönberg vor, Durchgangsakkorde als Teil einer seriellen Struktur aufzufassen. Schenker versteht diese Akkorde als Übergangserscheinung; sie liegen zwischen einem Zustand und dem nächsten, sie führen weiter, sind zielgerichtet: Die Dissonanz schlage »eine Melodie-Brücke von Konsonanz zu Konsonanz«.26 Schönberg dagegen nimmt sie als ein Element des Tonsatzes auf derselben Ebene wie die anderen Akkorde auch. Er regt an, den Klang für sich zu betrachten, als isolierte Einheit, die auch ohne ihren Kontext bestehen kann. Schenker bezieht den Durchgangsklang dynamisch auf seine Zukunft, Schönberg will ihm Zeit geben, ihn als statische Einheit der Zeit entheben und betont seine Gegenwart. Hiermit stößt er die Tür zu atonaler Musik auf. Denn, so lassen sich Schönbergs verstreute Bemerkungen zusammenfassen, seitdem die sogenannten harmoniefremden Töne sich emanzipiert haben und die Zusammenklänge, die sie bilden, als isolierte, eigenständige Akkorde gehört werden, sind die Konsonanzen, in die solche Klänge vormals »vorsichtig eingepackt« waren 27, überflüssig geworden. Schönbergs Metaphorik legt die Erwartung nahe, das Triebleben der Harmonien und die emanzipierte Dissonanz stellten einen Gegensatz dar: In tonaler Musik folgen die Dissonanzen ihren Trieben und lösen sich entsprechend in Konsonanzen auf, während die emanzipierte Dissonanz ungebunden fortschreitet. Losgelöst vom Zusammenhang können diese Klänge ihre Triebe und Neigungen überwinden. Sie folgen dann nicht 24 25 26 27
Schönberg 1911, 55. Schönberg 1911, 362. Schenker 1926, 24. Schönberg 1911, 54.
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mehr der alten Anziehungskraft eines Auflösungsakkords, sie gehorchen nicht mehr ihren alten Sehnsüchten und Bedürfnissen. Sie haben sich davon emanzipiert und sind frei in ihrer Fortschreitung. Vor dem Hintergrund des vermuteten Gegensatzes zwischen Triebleben der Harmonien und emanzipierter Dissonanz überrascht die Fortsetzung von Schönbergs oben zitierter Erklärung. Das Ohr könne, so heißt es da, Durchgangsakkorde auch wahrnehmen, »wenn sie losgelöst vom Zusammenhang vorkommen, wenn sie länger klingen, wo das Ohr ja mehr Zeit hat, sie zu analysieren, wo das Ohr mehr Zeit hat, sich mit ihnen zu befreunden, indem es ihre Triebe und Neigungen erkennt und anerkennt.« 28 Wenn nun, wie Schönberg sagt, das Ohr auch an losgelösten, isolierten Klängen Triebe und Neigungen erkennen kann, bedeutet dies entweder ein Hören im Sinne tonaler Musik, also ein Erkennen von Trieben und Neigungen, die im atonalen Tonsatz nicht ihre Erfüllung finden. Das ergäbe eine Folge ständiger Enttäuschung. Oder aber es sind hier Triebe und Neigungen völlig anderer Art als in tonaler Musik gemeint, etwa das bloße Bedürfnis, in immer neue Akkorde fortzuschreiten. Während die Triebe und Neigungen in tonaler Musik die Akkorde in immer dieselben Auflösungsklänge führen, würden Triebe und Neigungen in atonaler Musik die unterschiedlichsten Fortschreitungen zulassen, ja erfordern. In diesem Sinne scheint Theodor W. Adorno Schönberg verstanden zu haben. In seiner Philosophie der neuen Musik wurde das »Triebleben der Klänge« ja zu einem Synonym für die Harmonik der freien Atonalität.29 Mit der Zuschreibung von Trieben und Neigungen an Klänge, die aus dem tonalen Zusammenhang gelöst erscheinen, übertrug Schönberg Vorstellungen aus der harmonischen Tonalität auf atonale Musik. Dies lässt sich als Ausdruck der Hoffnung verstehen, wenn in atonaler Musik schon auf die formbildenden Tendenzen der Harmonie zu verzichten sei, bleibe wenigstens im Mikrobereich, bei der Akkordverbindung, die Zusammenhang stiftende Kraft tonaler Harmonik irgendwie, wenngleich verwandelt, erhalten. Schönberg war davon überzeugt, dass die neuen Harmonien »dem Zwang einer unerbittlichen, aber unbewussten Logik in der harmonischen Konstruktion« gehorchten.30 Diese Proklamation einer unbewusst wirksamen Logik entspricht der unschwer nachvollziehbaren Annahme, dass Akkorde in frei-atonaler Musik nicht beliebig aufeinander folgen, dass es bessere und weniger gelungene Akkordfolgen gibt. Die Prinzipien dieser Logik sind bis heute keineswegs restlos geklärt. Bereits Schönbergs Reihentechnik kann als ein Versuch gelten, die Logik atonaler Musik bewusst anzuwenden, und solcherart implizite in explizite Theorie überzuführen. Eines der 28 Ebd., 362. 29 Adorno 1976, 82, 95 und 141. 30 Schönberg 1911, 466.
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wichtigsten Prinzipien dieser Logik hat in der Tonalität ihr negatives Vorbild: Der Bevorzugung von Akkordverbindungen mit gemeinsamen Tönen in tonaler Musik korreliert in atonaler Musik die Komplementärharmonik, die gerade gemeinsame Töne in der Abfolge zweier Akkorde vermeidet. Das Vorhandensein von Logik im Sinne von Folgerichtigkeit erlaubt jedoch nicht notwendig, auch von Trieben und Neigungen – und dementsprechend von harmonischer Dynamik zu sprechen. Zwei Merkmale frei-atonaler Musik lassen die Metapher unangebracht erscheinen. Zum einen führt die Akkordfortschreitung in unterschiedlichste Klänge. Zwar schaffen Regeln (etwa die der Vermeidung tonaler Anklänge oder gemeinsamer Töne) einen gewissen Horizont. Doch derlei Tabus geben keine Richtung vor. Sie stecken bloß den Rahmen des Erlaubten ab. Innerhalb dieser Grenzen bestehen viele Möglichkeiten, nicht bloß ein paar wie in tonaler Musik. Die Fixierung auf bestimmte Ziele, die Triebe und Neigungen auszeichnet, ist der Harmonik frei-atonaler Musik fremd. Zum anderen ist in frei-atonaler Musik das alte Prinzip eines Alternierens von Spannung und Entspannung, die Grundlage harmonischer Dynamik, eliminiert. Die Abfolge von Spannung und Entspannung begründet bereits das Klangwechselprinzip mittelalterlicher Polyphonie und ist konstitutiv für tonale Harmonik. Der Eindruck zielgerichteter Bewegung, der die Dynamik einer Akkordfortschreitung ausmacht, ist frei-atonaler Musik nicht fremd. Die unbestrittene Dynamik dieser Musik speist sich jedoch aus anderen Quellen (wie Melodik, Rhythmik oder Kontrast). Die Vorstellung, atonale Akkorde besäßen nach dem Vorbild tonaler Klangfolgen ein ›erfülltes‹ Triebleben, muss demnach als Fiktion gelten. Der Höreindruck scheint dies zu bestätigen: Die Klänge tragen ihre Fortsetzung nicht in sich, sie steuern auf keine Ziele zu. Demgegenüber funktionieren Dissonanzen in tonaler Musik, wie gesagt, als dynamische Zusammenklänge, in ihnen steckt kinetisches Potential, sie drängen fort. Schönbergs Metapher vom Triebleben des Dominantseptakkords drückt diese Dynamik aus. So präsentiert Schönberg in seiner Harmonielehre unterschiedliche Perspektiven: Er betrachtet tonale Musik sowohl als ornamentale wie auch als serielle Struktur. Für Schenker ist hingegen eine serielle Lesart tonaler Musik ausgeschlossen. Für ihn durchdringt das Prinzip der Diminution alle Schichten des Satzes. Eine ornamentale Struktur des Tonsatzes umfasst Elemente auf verschiedenen Ebenen in unterschiedlicher Funktion. Die Töne sind nicht parataktisch aufgereiht, sondern einander zugeordnet. Einfügungen haben den Zweck, (1) einzelne Töne zu umspielen (Nebennoten), (2) einzelne Töne kurzfristig zu ersetzen (Ligaturen, Vorschläge) oder (3) zwei Töne zu verbinden (Durchgang). Einfügungen können ihrerseits Bezugspunkte weiterer Einfügungen werden. In Schenkers Worten: Ein Durchgang (als Teil eines Zuges) kann konsonant gemacht, der dabei entstehende neue Akkord prolongiert werden, was wiederum neue Züge mit neuen Durchgängen generiert. Dadurch entsteht
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ein komplexes mehrschichtiges System von Tonbeziehungen. Jedes Element dieses Systems ist anderen Elementen zugeordnet. Die Beziehungen auf das Vorhergehende und das Kommende bestimmen die Funktion der Elemente. Jeder Ton hält eine Bewegung von einem Ausgangspunkt auf ein Ziel hin aufrecht; das gesamte System ist durch und durch dynamisch.
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Zuletzt soll ein Beispiel meine Ausführungen veranschaulichen (Beispiel 16.2). Als ich vor einigen Jahren im Unterricht über das erste Thema des langsamen Satzes in Beet hovens Neunter sprach, unterbrach mich ein Student mit der Frage: »Warum ignorieren Sie das doppelte Quartmotiv am Beginn?« Es geht keineswegs darum, diesen jungen Mann im Nachhinein zu diffamieren. So dumm war die Frage nicht, die er stellte. Aber sie ist symptomatisch für ein musikalisches Denken, in dem viele von uns (mich selbst mit inbegriffen) aufgewachsen sind. Ich vermute, er hätte gerne gehört, dass das Thema aus lediglich zwei motivischen Keimzellen besteht: der Quart, die zweimal fallend, einmal steigend auftritt, und einem Skalenausschnitt von drei Tönen, der ebenfalls zunächst fallend, dann steigend erscheint (Beispiel 2). Am Ende, so könnte man sagen, werden Zweiton- und Dreiton-Motiv miteinander kombiniert; die drei Töne nehmen die Quart des Zweiton-Motivs als Rahmenintervall auf. Beide Motive zusammen ergeben eine größere Einheit, die in Umkehrung in unmittelbarer Folge erklingt (Töne 3–6 und 7–10). Was ergibt eine solche Analyse? Sie nimmt alle Töne als gleichwertig, deren harmonische Implikationen bleiben ausgeblendet, die Melodie ruht in sich. Wie anders fällt dagegen eine Interpretation aus, die die ornamentale Struktur des Themas berücksichtigt (Beispiel 16.3)! Bis das d 2 in Takt 4 wieder aufgenommen wird, entfaltet die Melodie in fallender und steigender Brechung den Tonraum des B-Dur-Klangs. Der Aufstieg erfolgt rascher als der Abstieg und akzentuiert damit den Zielton d 2, der beim zweiten Mal seine Funktion verändert hat: Er wird zu einem Vorhalt innerhalb eines Quart-Sext-Akkordes. In die Brechung sind Durchgänge als Achtelnoten eingefügt, die den Rahmentönen, vor denen sie jeweils stehen, mehr Gewicht geben. Zudem wird der zweite Ton der Brechung von der Nebennote a 1 aus erreicht. Die beiden Quarten des Beginns funktionieren ganz unterschiedlich. Bildet das a1 denn überhaupt mit dem ersten Ton ein Motiv? Ist in der Vorstellung eines Musikers zwischen diesem a 1 und dem folgenden b 1 , auf das es mit höchster Intensität hinzielt, Platz für eine motivische Zäsur, für den Beginn einer Sequenz? Sind dafür nicht die ersten drei Töne der Melodie viel zu eng verbunden? Wer den großen Bogen von d 2 zu d 1 und zurück wiedergeben möchte, wird durch eine motivische Gliederung
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in serieller Manier gebremst und gestört. Und natürlich bilden die letzten drei Noten keine eigene motivische Einheit. Das d 2 löst sich ins c 2 auf, die Sext geht in die Quint. Dazwischen liegt eine komplexe Verzierung. Denn das es 2, eine nach unten abspringende obere Nebennote, ein accento in der Terminologie des 17. Jahrhunderts, hat Beethoven mit einem langen Vorschlag versehen. Das es 2 ist ein Nachschlag zu d 2, das f 2 ein Vorschlag vor es 2, das c 2 schließlich die Auflösung von d 2 – eine höchst diffizile Angelegenheit für die Ausführenden. Der Vorschlag muss die gehörige Intensität bekommen, der Nachschlag ebenso wie die Auflösung mit entsprechender Leichtigkeit gespielt werden, all das, wie Beethovens crescendo-Gabel vorgibt, mit unverminderter Spannung. Zu guter Letzt sollte der erste Ton d 2 nach schier endloser Ausdehnung in das c 2 am Ende gefunden haben, ohne dass der Faden jemals reißt. Mit dem konkreten Beispiel im Sinn mag die Spezifik einer Vortragsweise im Geiste Schenkers deutlich werden: Sie erkennt die Verschiedenheit, die Ungleichheit der Töne und Klänge, sie behält deren jeweils unterschiedliche Funktion im Blick. Sie zeichnet ein dynamisches Verständnis des Tonsatzes aus. Stets ist nach den nächsten Zielen zu fragen. Jeder einzelne Augenblick steht nicht für sich, sondern ist Teilmoment von Bewegung. Interpretation im Geiste Schenkers heißt: vortragen im Bewusstsein der ornamentalen Struktur des Tonsatzes.
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17 Schenker und Bach – ein Zwiegespräch zwischen einem Interpreten und einem Musiktheoretiker PAU L SCH EEPER S U N D JOH A N N ES L EER TOU W ER
Heinrich Schenker hat sich zeitlebens eingehend mit dem Verhältnis zwischen Analyse und Interpretation beschäftigt. Bemerkungen hierzu finden sich in zahlreichen seiner Analysen, etwa in den Erläuterungsausgaben Beethovenscher Klaviersonaten oder in den Periodika Der Tonwille und Das Meisterwerk in der Musik.1 Eine große Bedeutung kommt auch seiner Schrift Die Kunst des Vortrags zu. Schenker hat diese Schrift zu seinen Lebzeiten mehrfach angekündigt, aber den Text nie vollendet. Das auf der Basis mehrer Fragmente rekonstruierte Manuskript ist erst im Jahre 2000 in englischer Übersetzung erschienen.2 Wie die intensive Zusammenarbeit zwischen Carl Schachter und Murray Perahia bezeugt, ist das Verhältnis zwischen Analyse und Interpretation auch in der Nachfolge Schenkers ein vielbeachtetes Thema geblieben. In wissenschaftlichen Publikationen ist der Frage nach dem Einfluss analytischer Entscheidungen auf den musikalischen Vortrag allerdings eher selten nachgegangen worden, was darauf zurückzuführen sein mag, dass für gewöhnlich keine Möglichkeit besteht, die durch eine Analyse motivierten Veränderungen des Vortrags zu dokumentieren. An diesem Punkt setzt unser in enger Zusammenarbeit zwischen einem Theoretiker und einem Interpreten entstandener Beitrag an. Der von Paul Scheepers verfasste schriftliche Teil erörtert verschiedene analytische und interpretatorische Aspekte der Sonaten und Partiten für 1 Siehe Burkhart 1983. 2 Esser 2000. Diese Ausgabe beruht auf Quellenmaterial, das hauptsächlich aus der Zeit um 1910 stammt. Hinsichtlich der Beziehung zwischen ›reifer‹ Schenkeranalyse und Aufführungspraxis sind die vielen Kommentare über den Vortrag in Der Tonwille und Das Meisterwerk in der Musik interessanter.
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Paul Scheepers und Johannes Leertouwer
Solo-Violine von Johann Sebastian Bach3, die von Johannes Leertouwer4 eingespielten Klangbeispiele5 ermöglichen es dem Leser, die interpretatorischen Konsequenzen bestimmter analytischer Entscheidungen unmittelbar nachzuvollziehen.6 Die diesem Text beigegebenen Hörbeispiele (https://av.tib.eu/series/1062) dokumentieren sowohl die analytischen als auch die klingenden Resultate der Untersuchung. Auf eine Kommentierung dieser Beispiele wurde verzichtet. So kann der Hörer selbst feststellen, wie sich eine bestimmte analytische Perspektive auf eine Aufführung auswirkt und beurteilen, ob ihn Analyse und Aufführung überzeugen oder nicht. Im Mittelpunkt unserer Untersuchung standen Fragen nach der musikalischen Form, der Phrasierung und der Stimmführung: Auf welche Art und Weise lässt sich ein langer Abschnitt einer Komposition einteilen? Wie vermeidet man als Interpret, dass ein gegliederter Abschnitt in seine Teilstücke zerfällt? Welche Zwischenstationen strebt man an und wie stark betont man sie?7 Wie ist eine Passage zu phrasieren? Welche Stimme ist die Hauptstimme, und welche Stimmen sind Nebenstimmen?
Die 8 als Kopfton der Urlinie Es fällt auf, dass überraschend viele Solo-Violinkompositionen Bachs auf einen (fallenden) Oktavzug als Urlinie zurückzuführen sind. Zudem bilden einige Sätze, denen ein Terzzug zugrunde liegt, im Mittelgrund einen (ebenfalls fallenden) Dezimenzug aus. Zunächst einige allgemeine Bemerkungen zum Oktavzug, dem Stiefkind unter Schenkers Urlinienformen. Schenker selbst gibt in seinen späten Schriften (ab Der Tonwille) nur elf Beispiele für diese Struktur an (siehe die folgende tabellarische Übersicht); von diesen elf Beispielen stammen sieben aus Kompositionen J. S. Bachs. Auch in den Schriften späterer Schenkerianer sind Oktavzüge als Urlinien verhältnismäßig selten. Die Übersicht nimmt auch die Beispiele auf, die in Felix Salzers Strukturelles Hören sowie in Allen Fortes und Steven E. Gilberts Introduction to Schenkerian Analysis 3 Wichtig für uns waren Schenkers Analysen des Largos aus der C-Dur-Sonata (BWV 1005) und des Präludiums aus der E-Dur-Partita BWV 1006 (Schenker 1925, 61–73 und 75–98). 4 Johannes Leertouwer und Paul Scheepers sind Kollegen am Konservatorium von Amsterdam und arbeiten seit einigen Jahren eng zum Thema ›Analyse und Aufführungspraxis‹ zusammen. Dies führte u. a. zu einem gemeinsamen Vortrag auf der Konferenz der Vereniging voor Muziektheorie (Utrecht 2004). 5 Aufnahmedatum: 30. und 31.08. 2006, Aufnahmeort: die Oude Dorpskerk von Bunnik. 6 Bisweilen konnte eine Passage auf mehrere Weisen korrekt analysiert werden. Nicht selten gab das klingende Resultat den Ausschlag für eine analytische Variante. Manchmal aber wurde auf eine Entscheidung für eine von mehreren Aufführungsmöglichkeiten verzichtet: Für beides ließen sich überzeugende Argumente finden. 7 Oft waren modulierende Passagen Gegenstand unserer Diskussionen: Wenn die Dominante der neuen Tonart als ein musikalisches Ziel gefühlt wird, an welcher Stelle wird dieses Ziel genau erreicht?
Schenker und Bach
erwähnt werden. Im neuesten Lehrbuch zur Schenker-Analyse wird nicht ein einziges Beispiel genannt8; die Autoren stellen summarisch fest, 8-Urlinien seien sehr selten. In dieser Allgemeinheit ist die Aussage allerdings kritisch zu bewerten. Es mag unstrittig sein, dass der Oktavzug ab etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts nur sporadisch vorkommt, doch darf bezweifelt werden, dass dies auch für das Œuvre Bachs gilt.9
Übersicht Heinrich Schenker, Der Tonwille 3 (1922)
Joseph Haydn, Klaviersonate in Es-Dur, Hob. XVI No. 52, II. Satz (11–3).
Heinrich Schenker, Das Meisterwerk in der Musik 1 (1925)
J. S. Bach, Sonata für Violine solo C-Dur BWV 1005, Largo (61–73). J. S. Bach, Partita für Violine solo E-Dur BWV 1006, Preludio (75–98). J. S. Bach, Präludium d-Moll BWV 940 No. 6 (99–105). J. S. Bach, Präludium a-Moll BWV 942 No. 12 (115–23).
Heinrich Schenker, Das Meisterwerk in der Musik 2 (1926)
J. S. Bach, Suite für Violoncello solo C-Dur BWV 1009, Sarabande (97–104). Ludwig van Beethoven, Klaviersonate F-Dur op. 10 No. 2, I. Satz (49–50).10
Heinrich Schenker, Der freie Satz (1956)
Wolfgang A. Mozart, Klaviersonate in A-Dur KV 331, II. Satz, Trio (Fig. 20,4). J. S. Bach, Französische Suite E-Dur BWV 817, Courante (Fig. 47,3). J. S. Bach, Französische Suite E-Dur BWV 817, Allemande (Fig. 76,4). Johannes Brahms, »Wie bist du, meine Königin« op. 32 No. 9 (Fig. 152,5).
Felix Salzer, Strukturelles Hören (1977)
Anonymus (16. Jahrhundert), Allemande (Beispiel 447). Franz Schubert, Winterreise op. 89 No. 15, »Die Krähe« (Beispiel 448). Allen Forte / Steven E. Gilbert: Introduction to Schenkerian Analysis (1982)
8 Cadwallader / Gagné 2007. 9 Warum man gerade bei J. S. Bach verhältnismässig oft auf 8-Urlinien trifft, bleibt zu klären. Des Weiteren wäre der Hypothese nachzugehen, 8-Urlinien begegneten in spät-barocker Musik allgemein häufiger als in Musik aus späterer Zeit. Indizien zeigen sich immer wieder. So stieß ich vor einiger Zeit auf eine 8-Urlinie im Anfangssatz (Adagio) aus Telemanns dritter Fantasie für Solo-Violine f-Moll TWV 40 No. 16. 10 Vgl. Schenker 1956, Fig. 101, 4: dort analysiert Schenker denselben Sonatensatz mit einer 3-Urlinie als struktureller Grundlage!
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Paul Scheepers und Johannes Leertouwer
J. S. Bach, Choral No. 22 »Schmücke dich, O liebe Seele« (178).11 J. S. Bach, Choral No. 20 »Ein’ feste Burg ist unser Gott« (181). J. S. Bach, Choral No. 46 »Vom Himmel hoch, da komm’ ich her’« (181). J. S. Bach, Choral No. 24 »Valet will ich dir geben« (186). J. S. Bach, Choral No. 44 »Mach’s mit mir, Gott, nach deiner Güt« (186). J. S. Bach, Choral No. 47 »Vater unser im Himmelreich« (186).12 J. S. Bach, Präludium a-Moll BWV 942 No. 12 (204f.).13 J. S. Bach, Suite für Violoncello solo d-Moll BWV 1008, Courante (211).
17.1 | 112 17.2 | 113 17.3 | 113
Die Kriterien, denen eine von der 8 ausgehende Urlinie entsprechen soll, sind u. a. von David Beach ausführlich diskutiert worden14 – anhand zahlreicher Beispiele von Heinrich Schenker, Ernst Oster, Allen Forte, Steven E. Gilbert und David Neumeyer.15 Wichtig erscheint demnach, dass die 8 als Ton ›hörbar‹ exponiert wird und dass jeder der Töne – vor allem aus der ersten oberen Hälfte der Urlinie (8-7-6-5) – sowohl melodisch ausführlich dargestellt als auch harmonisch-kontrapunktisch gestützt wird. Die Exposition der 8 kann gleich zu Beginn einer Komposition stattfinden – wie etwa im Adagio der g-Moll-Sonata (Beispiel 17.1, ⊙ Klangbeispiel 1) – oder durch ein Ereignis im Mittelgrund vorbereitet werden (häufig durch den Anstieg 5-6-7-8; Beispiel 17.2). Der harmonisch-kontrapunktische Hintergrund eines Oktavzugs kann anhand der Literaturbeispiele auf mehrere Modelle zurückgeführt werden. Beispiele 17.3.1– 17.3.5 zeigen eine Auswahl dieser Modelle.16 Fallen einige der erwähnten Kriterien nicht deutlich genug aus, kann bezweifelt werden, dass es sich um einen Oktavzug handelt. In der Regel geht man in solchen Fällen besser von einer 5-Urlinie aus, deren Kopfton entweder im ›Abstieg‹ 8 → 5 erreicht oder durch eine Kombination aus Anstieg (5 → 8) und Abstieg (8 → 5) prolongiert wird. Auch im Hinblick auf Bachs Präludium a-Moll BWV 865 (WK I) stellt sich die Frage, ob hier ein Oktavzug anzunehmen ist, dessen Kopfton im Anstieg 5 → 8 er-
11 Forte / Gilbert verwenden die Choralnummerierung der ›Riemenschneider‹-Ausgabe (New York: Schirmer 1941). Dieselbe Nummerierung findet man auch in J. S. Bach, 371 Vierstimmige Choralgesänge (Wiesbaden: Breitkopf & Härtel). 12 Meiner Meinung nach gibt es in diesem Choral eher eine 3-Urlinie (mit einem Dezimenzug zur 1 auf Mittelgrundebene) als eine 8-Urlinie. 13 Vgl. die Analyse des gleichen Präludiums in Schenker 1925, 115–123. 14 Beach 1988. 15 Neumeyer 1987. 16 Siehe auch Beispiel 17.2.
Schenker und Bach
reicht wird, oder ein durch 5 → 8 beziehungsweise 8 → 5 diminuierter Quintzug.17 Die erste Interpretation wird in Beispiel 17.4.1 gezeigt, die zweite in Beispiel 17.4.2.18 Beide Interpretationen sind nach den Kriterien der Schenkerschen Analyse möglich und legitim. Dennoch bevorzuge ich die erste, weil die 8 deutlich exponiert und überdies harmonisch in ausreichendem Maß unterstützt wird. Schwierigkeiten könnte allerdings der Anstieg von der 5 aus in den Takten 1–4 bereiten; denn wie bereits David Beach festgestellt hat, handelt es dabei eigentlich nur um einen ›Pseudo-Anstieg‹. Besser verstanden wäre der Vorgang meines Erachtens mit einer Höherlegung von gis1 zu gis2 (T. 3, Auflösung zu a 2, T. 4), die eine Bewegung 8-7Nbn.-8 hervorbringt. Beach aber nimmt einen Quintzug mit Nebennote an (T. 2–3: 6 Nbn.; T. 4: 5). In Takt 5 wählt er nicht gis1, sondern h1 als tiefsten Ton in der rechten Hand; dies hat zur Folge, dass die Höherlegung gis1-gis 2 und somit auch die Linie 8-7Nbn.-8 für ihn nicht in Frage kommt.19
277 17.4 | 114
Zu Heinrich Schenkers Analyse des Präludiums aus Bachs Partita E-Dur, BWV 100620 Ausgehend von der Einsicht, dass eine Analyse nach Schenker nur dann von aufführungspraktischer Bedeutung ist, wenn die musikalischen Ereignisse, die sie als strukturell wichtig qualifiziert, auch in thematischer oder formaler Hinsicht herausragen, lasen wir Schenkers Analyse des E-Dur-Präludiums ein weiteres Mal. Gefragt war nach den musikalischen Hauptereignissen des Eröffnungsteils (T. 1–29) und ihrem Einfluss auf die im Kontext einer Schenker-Analyse anfallenden Entscheidungen, zudem nach der musikalischen Bedeutung des von Schenker bestimmten Kopftons 8. (Beispiel 17.5) 17 In diesem Zusammenhang ist eine Diskussion zwischen Ernst Oster und David Beach über dieses Präludium erwähnenswert. Wie Beach (1988) auf amüsante Weise beschreibt, hatte er mit Oster eine Unterrichtstunde verabredet und erschien in der Überzeugung, die Struktur dieses Präludiums basiere auf einer 8-Urlinie. Am Ende der Diskussion mit Oster aber hatte sich seine Meinung zugunsten einer 5-Urlinie geändert. Als er später mit Oster darüber sprach, erzählte dieser, ihm sei genau das Gegenteil geschehen: Vor der Stunde war er von der 5-Urlinie überzeugt gewesen, aber nach der Diskussion mit Beach hatte er dessen ursprüngliche Auffassung übernommen. 18 Beach 1988, 285. 19 Dies ist meiner Meinung nach etwas merkwürdig: In den Takten 9–12 entscheidet sich Beach doch für eine solche Höherlegung e1-f 1 → f 2-e 2. Vielleicht lässt sich die Sache folgendermaßen begründen: In den Takten 1–4 ist die Auffassung einer Mittelstimme a1 (T. 1) - h 1 (T. 2) - d 2 (T. 3) - c 2 (T. 4) prinzipiell nicht unmöglich; hingegen wäre in den Takten 9–12 die Annahme einer auf diese Weise gebildeten Mittelstimme e 1 (T. 9) - f 1 (T. 10) - h1 (T. 11) - c 2 (T. 12) sehr unglaubwürdig. 20 Schenker 1925, 75–98.
17.5 | 114
278
17.6 | 115 17.7 | 118
Paul Scheepers und Johannes Leertouwer
Ohne Zweifel spielt die 8 in diesem Präludium eine gewichtige Rolle: Rasche Höher- und Tieferlegungen der 8 (e 3-e 2-e 1 und wieder zurück) exponieren bereits in den ersten zwölf Takten die Gesamtheit der Register, in denen sich das Präludium bewegt. Das Spiel mit Höher- und Tieferlegungen bestimmt zudem auch den längsten Entwicklungsteil (T. 79–109) und den Schlussteil (Beispiel 17.6). Im Laufe der Takte 1–12 aber tritt ein anderes wichtiges Moment im Präludium hinzu: der mit dem Motiv 3-4-3-2-1 verbundene Terzton gis (Beispiel 17.7, ⊙ Klangbeispiel 2). Das besagte Motiv erscheint zuerst in Takt 3 und gewinnt im Laufe der folgenden Takte bis Takt 12 so weit an Bedeutung, dass zwischen 8 und 3 geradezu eine Art von Streit um die ›Vorherrschaft‹ entsteht. In Takt 13 hat gis2 die Oberhand gewonnen: Der gesamte Inhalt der Takte 13–17 zielt auf diesen Ton; dies geht mit Variationen des Motivs x einher. Ab Takt 17 beginnt einer der wichtigsten Prozesse dieses Präludiums: die Dehnung des Motivs x. Die gedehnte und am Schluss erweiterte Fassung21 prägt die Hauptlinie der gesamten Passage von Takt 17 bis zum Anfang von Takt 29 (⊙ Klangbeispiel 3). Der besagte Prozess der Dehnung ist ab Takt 29 nicht mehr aufzuhalten. Motiv x trägt die Struktur der Abschnitte Takt 29–51 (der erste durchführungsartige Entwicklungsteil), Takt 59–79 (eine nach A-Dur transponierte Fassung der Takte 9–29), Takt 79–109 (der zweite und zugleich grösste Entwicklungsteil) und Takt 109–30 (die Schlussentwicklung) (Beispiel 17.7, ⊙ Klangbeispiele 4–7). Jedes Klangbeispiel enthält zuerst die der jeweiligen Passage zugrundeliegende spezifische Variante des Motivs x (in Klangbeispiel 5, 6 und 7 gefolgt von einer harmonisierten Fassung dieses Motivs, danach die in Beispiel 17.7 dargestellte Reduktion, gespielt auf der Orgel) und zuletzt den entsprechenden Ausschnitt aus der Originalkomposition. Die Bedeutung der 3 und des Motivs x dürfte aus dem Gesagten hervorgehen: Das Motiv bildet die Keimzelle oder das Hauptthema des Präludiums, und die Takte 1–29 könnte man als Exposition dieser beiden Elemente auffassen. Für den Interpreten eröffnet diese analytische Einsicht faszinierende Perspektiven. So könnte man hinsichtlich der Takte 1–29 fragen, ob es möglich ist, die beiden vorgestellten Auffassungen (die eine, in der allein die 8 im Brennpunkt des Interesses steht, und die andere, die das Spiel mit der abnehmenden Wichtigkeit der 8 und der zunehmenden Wichtigkeit der 3 akzentuiert) derart deutlich zu artikulieren, dass der Unterschied zwischen ihnen sinnfällig wird. Im Falle der zweiten Auffassung erhebt sich zusätzlich die Frage, an welcher Stelle die 3 zum ersten Mal ins Zentrum rückt. Takt 3 kommt nicht in Frage, weil die 3 hier in einem ›zu tiefen‹ Register liegt (gis1 statt gis 2). In Takt 8 erscheint die 3 noch nicht mit ausreichender Selbständigkeit – eher ist sie Bestandteil einer zwei21 Die Tonfolge gis 2-a 2-gis 2-fis 2-e 2 wird um die Töne dis 2-e 2 verlängert.
Schenker und Bach
279
taktigen Motivgruppe. Einiges spräche für Takt 13. Wir allerdings bevorzugen Takt 17: 3/gis 2 bildet hier den Kopfton des hier zum ersten Mal gedehnten Motivs x. Die vorausgegangenen Vertreter der Tonqualität gis sind also gewissermaßen antizipierend (⊙ Klangbeispiele 8 [fokussiert 8] und 9 [fokussiert 3]).
Dezimenzüge Mit der Entscheidung für die 3 als Kopfton ist die Urlinie des gesamten Präludiums zwangsläufig als Terzzug bestimmt. Im Mittelgrund allerdings bildet ein Dezimenzug die Hauptlinie: er besteht aus vier fallenden Terzzügen und einem fallenden Sekundschritt (Beispiel 17.8). Der erste dieser Teil-Terzzüge findet sich in den Takten 1–29: Harmonisch basiert die Folge vom zehnten zum achten Ton auf einer fast statischen I. Stufe von E-Dur. In diesem Dezimenzug ist das Fallen von gis 2 aus deutlich fühlbar: Die Hauptlinie schleppt sich beinahe quälend langsam abwärts, und die Töne des Zugs schließen unmittelbar aneinander an. Nur am Ende findet zur Wiederherstellung der obligaten Lage eine Höherlegung des Schritts 2-1 statt; die Urlinie 3-2-1 wird dadurch zusätzlich betont.22 Mittelgrund-Dezimenzüge – vor dem Hintergrund eines Terzzugs als Urlinie23 – findet man innerhalb der Kompositionen Bachs für Solo-Violine außer im E‑DurPräludium auch im Presto der g-Moll-Sonata (Beispiel 17.9.1) und im Allegro der a-Moll-Sonata (Beispiel 17.9.2).24 Ähnlich wie beim Oktavzug ist für einen ›echten‹ Dezimenzug entscheidend, dass die Dezime deutlich exponiert wird, jeder Ton ausreichend harmonisch unterstützt wird und das Fallen des Zugs durch die gesamte Komposition hindurch fühlbar ist
22 Die Entscheidung für die Dezime als Kopfton in T. 1–29 hat zur Konsequenz, daß die Takte 51–59 und 59–79 nicht ebenso analysiert werden können wie in Schenkers Meisterwerk. Schenker bestimmt in T. 1–29 und T. 59–79 nur einen Hauptton: a 2 /a1, A: 8/E: 4, entsprechend dem e 2 (E: 8) T. 1–29. In T. 51–59 erkennt er einen Terzzug cis 2 -b 2 /b1- a 2 /a1 (Bsp. 6a, 6b). Nehmen wir jedoch den Terzzug cis 2 -b1-a1 erst in den Takten 59–79 an, dann folgt daraus eine andere Interpretation der Takte 51–59: cis 2 -d 2 (Nbn.) - cis 2 (E: 6-!7 Nbn. - 6, A: 3-4 Nbn.-3). Siehe Bsp. 6c. 23 Der freie Satz enthält ein schönes Beispiel für einen Dezimenzug als Hauptlinie eines Themas – also nicht einer vollständigen Komposition: Fig. 81,2, das Öffnungsthema aus dem ersten Satz der 4. Symphonie von Johannes Brahms. Der Dezimenzug dieses Beispiels zeigt keine Höherlegung des letzten Schritts 2-1; die ›lokale Urlinie‹ ist, wie Schenker in Fig. 81, 2a skizziert, 3-2-1, impliziert also eine Tieferlegung des Schlusses 2-1. 24 Im letzteren Fall kann man sich eventuell auch für eine 8-Urlinie entscheiden.
17.8 | 120
17.9 | 120
280 17.10 |121
Paul Scheepers und Johannes Leertouwer
– wobei zwischenzeitliche Höher- und Tieferlegungen selbstverständlich nicht ausgeschlossen sind (Beispiel 17.1025). In dieser Invention ist das Fallen der Hauptlinie vom zehnten zum ersten Ton über die gesamte Komposition hinweg deutlich zu hören: Der letzte Teil 26 erklingt in einem tieferen Register als der erste.27
Strukturelle Dominante
17.11 | 122
Schenkers Analyse des E-Dur-Präludiums führte uns des Weiteren zu der Frage, an welcher Stelle strukturelle Dominanten von Nebentonarten anzusetzen sind. Gibt es vielleicht mehr als eine Möglichkeit? (Beispiel 17.11) Der Tonarten-Weg in den Takten 29–51 (der erste durchführungsartige Entwicklungsteil dieses Präludiums) führt von E-Dur nach cis-Moll – im Detail: von der I. Stufe in E-Dur (T. 29) geht es zur V. Stufe in fis-Moll (T. 33); mit Hilfe einer Sequenz wird in Takt 37 die I. Stufe von fis-Moll erreicht. Der Zielakkord wird fast unmittelbar in eine IV. Stufe von cis-Moll umgedeutet, es folgen die V. und die I. Stufe von cis-Moll (T. 38). Von Takt 39 an hören wir im Wesentlichen eine Prolongation der Dominante von cis-Moll, die ihrerseits zur Schlusskadenz auf der I. Stufe führt (T. 51). Die Frage, an welcher Stelle man eine strukturelle V. Stufe als erreicht und von wo an man sie als prolongiert annehmen soll, ist für die Aufführungspraxis von Bedeutung. Schenkers Analyse suggeriert, die V. Stufe von cis-Moll sei schon in Takt 37 erreicht (siehe die Bezeichnung V----- unter der zweiten Notenlinie in Beispiel 17.11).28 Man solle diese V in Gedanken festhalten und auf die V in Takt 43 beziehen (in Beispiel 17.11 durch eine gestrichelte Linie angezeigt). Schenker schlägt dem Geiger vor, in Takt 36 ein Crescendo anzusetzen.29 Wir fragen uns allerdings, ob sich Schenkers Idee, auf die Dominante in Takt 37 hinzuspielen und von da an eine Prolongation deutlich zu machen, ohne Pedanterie und Übertreibung realisieren lässt (⊙ Klangbeispiel 10). Wir zweifeln daran, dass die V. Stufe an dieser Stelle so bedeutend ist, wie Schenker annimmt: Ist sie nicht antizipierend, eine ›stärkere‹ Dominante vorausnehmend? 25 Siehe auch die Diskussion über die Urlinie-Frage in dieser Invention in Plenckers 2000 und Scheepers 2000. Seitdem hat sich meine Meinung zugunsten eines Dezimenzugs zur 1 anstatt eines 8-1-Oktavzugs geändert. 26 Ab T. 26: 6 Nbn.-5-4-3-2-1, entsprechend T. 1–12, aber nunmehr von B-Dur nach F-Dur statt von F-Dur nach C-Dur modulierend. 27 T. 1–12. 28 Siehe hierzu auch Schenker 1925, 84. 29 Ebd.
Schenker und Bach
In motivischer Hinsicht gibt es keinen Grund, Takt 37 besonders hervorzuheben: Vom zweiten Viertel dieses Taktes an setzt eine Sequenz ein (des Geschehens von Takt 36 ab dem dritten Viertel). Zwar beschleunigt sich der harmonische Rhythmus, und es wird damit der Weg nach cis-Moll eingeschlagen, aber auf einer höheren Ebe4 (T. 37) ne kann man die Takte 37–39 als eine viel ›breitere‹ Bewegung von fis: I = cis: IV 3 2 über cis: I (T. 38) nach cis: V (T. 39) zusammenfassen (der cis: I-Akkord dient also nur dem Konsonantmachen des durchgehenden e 2 /3). Daher gibt es andere, vielleicht bessere Stellen, an denen ein Geiger auf cis: V2 hinspielen kann: den Anfang von Takt 39 und – noch etwas später – den Anfang von Takt 43 (Beispiele 17.12.1 und 17.12.2). Diesen beiden Dominantstellen entsprechen – im Gegensatz zur Dominante in Takt 37 – auffällige musikalische Ereignisse: der klare motivische Kontrast in Takt 39 und der Eintritt des Dominant-Orgelpunkts in Takt 43. Entscheidet man sich für die V in Takt 39, folgt eine recht lange V-Prolongation, in der man über das Ereignis in Takt 43 mehr oder weniger hinwegspielen wird; bei einer Entscheidung für Takt 43 geschieht dasselbe mit Takt 39; die in diesem Takt erreichte Dominante wäre in diesem Fall sozusagen antizipierend und der Spannungsbogen würde bis zum Takt 43 verlängert. Eine Entscheidung für die eine oder die andere Interpretation fällt nicht leicht (⊙ Klangbeispiele 11 [T. 43 als Ziel] und 12 [T. 39 als Ziel]). Es liegt nahe, die erste Entwicklungspassage des Präludiums mit den Takten 79– 109 zu vergleichen: der zweiten, stark gedehnten Fassung der ersten Entwicklungspassage (siehe Beispiel 17.13). Wegen der bedeutenderen Ausdehnung ist die Gefahr größer, dass die Passage beim Spielen in viele zusammenhanglose Teile auseinanderfällt; daher kommt es mehr noch als in der ersten Entwicklung darauf an, sich für Zwischenstationen auf dem Weg zu entscheiden. Der Weg geht von A: I (T. 79) zunächst nach h: I (T. 83); es folgt eine (erste) Sequenz in dieser Tonart. In Takt 87 droht eine Auflösung nach cis:I, die Bach jedoch im allerletzten Augenblick vermeidet: statt cis:I kommt fis: V( 65 ). In Takt 90 setzt von fis:V aus eine zweite Sequenz der Takte 79–82 ein; diese führt zu fis: 3I in Takt 94. Dort ändert sich die Thematik, und es schließt sich ein langer Abstieg zu fis: V2 (T. 100) an. In Takt 102 erfolgt eine Höherlegung von V2 , und an dieser wichtigen Stelle ändert sich wiederum die Thematik: Es kehrt Material aus den Takten 39–43 wieder, jetzt auf der Grundlage von fis:V statt cis:V. All dies führt zur Schlusskadenz auf fis: 1I in Takt 109. Genau wie in den Takten 29–51 stellt sich auch im zweiten Entwicklungsteil die Frage, an welcher Stelle die V. Stufe von fis-Moll erreicht wird und wie lange ihre Prolongation dauert. Wir empfinden Takt 87 nicht als überzeugendes musikalisches Ziel; Beispiel 17.13.1–3 zeigt drei unserer Meinung nach einleuchtendere Vorschläge.
281
17.12 | 123
17.13 | 124
282
Paul Scheepers und Johannes Leertouwer
In Beispiel 17.13.1 ist die V. Stufe in Takt 90 das Hauptziel.30 Folglich dauert die Prolongation der V. Stufe sehr lange, vielleicht zu lange; zudem könnte man gegen diesen Vorschlag einwenden, dass in Takt 90 der Sequenzprozess noch nicht beendet ist. Die Beispiele 17.13.2 und 17.13.3 zeigen Möglichkeiten, die Prolongation zu verkürzen und stattdessen den Weg (und damit den Spannungsbogen) auf die V. Stufe hin zu verlängern: Die V. Stufe in Takt 100 (Beispiel 17.13.2, von einem Geiger ziemlich schwierig hervorzubringen!) beziehungsweise in Takt 102 (Beispiel 17.13.3); die Dominante in Takt 90 erscheint im Lichte dieser Deutungen antizipierend. Von Interesse dürfte in diesem Zusammenhang sein, dass der Dominant-Orgelpunkt in der Lautenfassung des Präludiums (BWV 1006a) in Takt 100, in der Fassung als Sinfonia der Kantate 29 (»Wir danken dir, Gott, wir danken dir«, BWV 29) ausgerechnet in Takt 102 beginnt31 (⊙ Klangbeispiele 13 [T. 90 als Ziel] und 14 [T. 102 als Ziel]).
Übergreifen und Phrasierung
17.14 | 126 17.15 | 127 17.16 | 128 17.17 | 129 17.18 | 130
Ähnliche Passagen, in denen man einen Modulationsweg aus Schenkerscher Perspektive auf verschiedene Art und Weise einteilen kann, finden sich in den Beispielen 17.14–17.18. In diesen Beispielen bildet die Übergreiftechnik ein effektives Mittel, den Spannungsbogen zu verlängern. In Beispiel 17.14 kann hierdurch der Weg von h: V2 nach fis: V5 um einen Takt ausgedehnt werden (T. 8–11 statt T. 8–10), in Beispiel 17.16 geht es um den Weg von C: 8I nach g: 3I (T. 8–12 statt T. 8–10), in Beispiel 17.17 um den Weg von g: 8I nach d: 3I (T. 1–7 statt T. 1–5) und in Beispiel 17.18 um den Weg von F: 8I nach C: 3I (T. 1–7 statt T. 1–5). In Beispiel 17.17 stoßen wir zudem auf ein interessantes Phrasierungsproblem, bei dem die Schenkersche Betrachtungsweise zu überraschenden Lösungen führen kann. Es geht dabei um die Frage, welche Beziehungen zwischen den beiden Tönen eines Sprunges möglich sind. Bilden sie ein unteilbares Ganzes – das sozusagen unter einem Bogen gespielt werden kann – oder gehören sie zu verschiedenen Stimmen (daraus ergäben sich Möglichkeiten für eine subtile Phrasierung)? In den Takten 3–5 geht es genau um solche Fragen, konkret auf Takt
30 Diese Entscheidung trifft Schenker auch in der Urlinientafel und in Figur 1a und b seiner Meis terwerk-Analyse. Figur 1c ist allerdings etwas verwirrend, da Schenker hier schon ab T. 87 eine prolongierte V. Stufe andeutet. 31 Bsp. 17.13.4 zeigt noch eine vierte Möglichkeit, den Weg von T. 79 bis 109 einzuteilen, nämlich mit fis: 3I in T. 94 als einer wichtigen Zwischenstation. Weiter geht es wie in Bsp. 17.13.2 skizziert, also über V5 in T. 102 nach fis: 1I in T. 109. Die Entscheidung für T. 94 als Zwischenstation ist damit begründet, dass in diesem Takt der Sequenzprozess endgültig beendet ist und die Motivik eine neue Phase dieses Entwicklungsteils ankündigt. Wir haben diese Möglichkeit jedoch (noch) nicht genügend erprobt.
Schenker und Bach
4 bezogen: »Wie möchte man die Tongruppe g 2-fis 2-a 2-c 2-b 1 spielen?« Als ein großes Ganzes (⊙ Klangbeispiel 15)? Eine andere Möglichkeit wäre die Interpretation als latente Mehrstimmigkeit: c 2 wird als Fortsetzung von d 2 (auf dem ersten Viertel des Takts) aufgefasst und als durchgehende Septime von g:V auf dem dritten Viertel in den Ton b1 (g: 3I ) aufgelöst. Wenn a 2 und c 2 verschiedenen Stimmen angehören, ist ein gewisses Absetzen beider Töne voneinander nicht fehl am Platz (⊙ Klangbeispiel 16). Wie steht es aber um die Beziehung zwischen fis 2 und a 2? Gehört a 2 zu fis 2? Noch interessanter wird es, wenn wir diese Passage auffassen wie in Beispiel 17.19 (und ausführlicher in Beispiel 17.17.2) skizziert: Man stößt dann auf eine noch viel tiefere hintergründige Struktur, gebildet von einer großen sequenzierenden Übergreifbewegung mit einem seufzerähnlichen Übergreifmotiv g 2-fis 2 als Grundlage. Das g 2 liegt schon auf dem dritten Viertel des Taktes 3 – vergessen wir nicht, dass ein solches ›großes‹ Übergreifmotiv auch in der Mittelstimme ab dem dritten Viertel des Taktes 3 vorkommt: das Motiv d 2-c 2, in welchem der Ton d 2 einen Sept-Vorhalt zu c 2 bildet. Auf dem vierten Viertel von Takt 4 bildet a 2 mit g 2 ein analoges Übergreifmotiv. Auf diese Weise gewinnt der Übergreifprozess an Gestalt. In Takt 5 wird das Motiv um die Töne f 2 (auf dem zweiten Viertel) und es 2 (auf dem vierten Viertel) erweitert, aus dem Übergreifmotiv entsteht ein Übergreifzug. Auf dem vierten Viertel von Takt 5 hebt ein zweiter Übergreifzug an: b 2-(schon ein Stück weit vorbereitet durch b 2 auf dem zweiten Sechzehntel von Takt 5)-a 2-g 2-f 2 (→ es 2 usw.). Mit anderen Worten: Ein subtiles Absetzen zwischen fis 2 und a 2 ist gerechtfertigt, und umgekehrt sollte man eine allzu große Zäsur zwischen dem dritten und vierten Viertel von Takt 5 vermeiden (⊙ Klangbeispiel 17). Die besondere Handhabung der Übergreiftechnik wirft auch ein Licht auf eine wichtige Formfunktion: das Erreichen der Dominante der neuen Tonart d-Moll.32 Die Modulation nach d-Moll wird in Takt 5 durch das Dissonantmachen von g 2 (g: 8) eingeleitet: g 2 wird zur Septime von d:V 65 umgedeutet und nach f 2 aufgelöst (d: 3I ). Ist die V 65 bereits die strukturelle Dominante, was bedeuten würde, dass d: 3I danach bis zum zweiten Viertel von Takt 7 prolongiert wird? Oder spielt man – wegen des fortgesetzten Übergreifprozesses – über diese V. Stufe hinweg und strebt stattdessen die zweite Hälfte von Takt 6 an? Inmerhin erscheint auch dort ein g 2 in dissonanter Fassung, das auf dem vierten Viertel nach f 2 (d: 3I ) aufgelöst wird. Die erste Deutung wird in Beispiel 17.17.1 skizziert, die zweite in 17.17.2; wegen der stärkeren Berücksichtigung des Übergreifprozesses und des damit verbundenen längeren Spannungsbogens zur Dominante bevorzugen wir diese zweite Fassung von Beispiel 17.17.2 (⊙ Klangbeispiel 17). 32 Vgl. hierzu die Diskussionen hinsichtlich Bachs E-Dur-Präludium.
283
17.19 | 131
284
17.20 | 131
Paul Scheepers und Johannes Leertouwer
Auch in den Beispielen 17.14, 17.16 und 17.18 hat die Annahme eines ÜbergreifProzesses verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zur Folge, in denen (genau wie im Adagio der g-Moll-Sonata) gerade über den Anfang der Modulation – wo die Dominante der neuen Tonart zum ersten Mal erreicht und aufgelöst wird – wegen des fortlaufenden Übergreifprozesses hinweggespielt werden kann: Man befindet sich auf dem Weg zu einer erst später eintretenden strukturellen Dominante, was einen längeren Spannungsbogen zur Folge hat.33 Ein anderes Beispiel für Fragen der Phrasierung bildet die Coda (ab T. 18) aus dem Largo der C-Dur-Sonata (Beispiel 17.20). Konkret geht es um Takt 19 und den ›Kopfsprung‹ von c 3 zu b1 am Ende des Taktes. Beide Töne aneinander anzuschließen, klingt nicht sehr überzeugend (⊙ Klangbeispiel 18). Andererseits wäre eine große Zäsur ebenso problematisch (⊙ Klangbeispiel 19). Vielleicht könnte die subtile Betonung der melodischen Hauptlinie in dieser Passage eine Lösung darstellen. Die Hauptlinie beginnt in Takt 18 auf c 2 / I und kehrt über b1 und h1 wieder nach c 2 zurück (T. 19); daraufhin fällt sie zu b1 (auf dem vierten Viertel des Taktes) und a1/I (T. 20). Der Ton b1 (T. 19) kommt also nicht von c 3, sondern von c 2. Eine vorsichtige Akzentuierung dieses Tons c 2 innerhalb der Zweiunddreißigstel-Tonfolge (zweites Viertel T. 19) könnte die angedeutete Beziehung verdeutlichen, vorausgesetzt, sie geschieht nicht pendantisch-übertrieben, sondern subtil (⊙ Klangbeispiel 20). So kann man sich eine kleine Zäsur zwischen c 3 und b1 leisten, ohne die Einheit dieser Passage zu zerstören.
Haupt- und Nebenstimme Nun schlagen wir eine Brücke zum Schluss der Coda und gelangen zu unserem letzten Beispiel (17.20). Es handelt sich hier um die Frage, welche Stimme Haupt- und welche Nebenstimme ist, präziser, wie die die ›lokale Urlinie‹ dieser Coda von F: 5I in Takt 18 über 3-2 in Takt 20 zu F: 1I in Takt 21 verläuft. In Beispiel 17.20 sind drei Möglichkeiten skizziert:
33 Bemerkenswert in Bezug auf den Anfang der Modulation ist in diesen Beispielen die Rolle des Dissonantmachens von 8 (umfunktioniert zur Septime der V. Stufe der neuen Tonart). Dies geschieht etwa in Bsp. 14a, T. 10, wo c 2 zur Septime von g:V umgedeutet wird und nach b 1 (g: 3I ) aufgelöst wird. Man kann also beim Spielen den Bogen bis zu dieser Stelle spannen und danach bis zur Wiederkehr von g: 3I auf dem dritten Viertel des T.12 prolongierend spielen; es ist aber auch möglich, über T. 10 hinweg zu spielen, geleitet von einer großen Übergreif bewegung, die in T. 10 4 – 3 in T. 12 das einsetzt und erst in T. 12 endgültig beendet ist (Bsp. 14b). Im letzteren Fall ist g: VII I Hauptziel; auch hier geben wir dem längeren Spannungsbogen zur strukturellen Dominante den Vorzug.
Schenker und Bach
a) In Beispiel 17.20.1 besteht eine direkte Beziehung zwischen dem Ton g1 (2, zweites Viertel T. 20) und dem höhergelegten Ton f 2 ( 1, drittes Viertel). Die Linie wird über ein erneutes f 2 hinweg (erstes Viertel T. 21) zu e 2 fortgesetzt (7, zweites Viertel T. 21) mit endgültiger Auflösung zu 1I . In dieser Fassung wird der Ton as 2 (zweites Sechzehntel des dritten Viertels T. 20) weniger betont als der Ton f 2 (⊙ Klangbeispiel 21). b) Die zweite Möglichkeit – gezeigt in Beispiel 17.20.2 – ist wohl die raffinierteste: Zunächst schließt der Ton as 1 (!3, drittes Viertel T. 20) an g 1 an (2, zweites Viertel). Danach aber wird as 1 höhergelegt zu as 2. Die Hauptstimme verläuft von da an in der zweigestrichenen Oktave: a 2 (3, zweite Hälfte des ersten Viertels T. 21) - e 2 (7, eine Vertretung für g 2 /2, zweites Viertel T. 21) bis zum endgültigen Schluss. In dieser zweiten Fassung wird der Ton as 2 (zweites Sechzehntel T. 20) stärker betont als der Ton f 2 (erstes Sechzehntel desselben Taktes; verglichen mit Beispiel 17.20.1 (⊙ Klangbeispiel 21) geschieht also beinahe das Gegenteil). Des Weiteren ist es bemerkenswert, dass diese Interpretation mehr oder weniger mit Schenkers eigener Analyse (in Das Meisterwerk I) übereinstimmt (⊙ Klangbeispiel 22). c) In Beispiel 17.20.3 dagegen wird die Höherlegung weggelassen; der lokale Zug verläuft allein im Mittelregister (in der eingestrichenen Oktave) über as 1 (!3, drittes Viertel T. 20) nach a 1 (3, T. 21, erstes Viertel) und weiter fallend nach g 1 (2, zweites Viertel) und f 1 (1I ). Dem Mittelregister gilt das Hauptaugenmerk dieser Fassung; dies umso mehr, als ein wirkliches Hervorheben der Hauptlinie g 1-as1-a1-g 1-f 1 – gelinde gesagt – nicht sehr einfach ist, zumal der Ton h 1 (viertes Viertel T. 20) dieser Linie gewissermaßen im Wege steht. Dennoch besteht der Gewinn dieser – von uns bevorzugten - Interpretation darin, dass sie den Hörer trotz der genannten Schwierigkeit unmittelbar erleben lässt, dass in der eingestrichenen Oktave ein wichtiger Vorgang stattfindet (⊙ Klangbeispiel 23).
Zum Schluss Die Analyse nach Schenker strebt nicht nach der einen ›korrekten‹ Interpretation; wir meinen auch nicht, eine Aufführung sei dann ›richtig‹, wenn sie die Urlinie hervorhebt.34 Im Hinblick auf musikalische Interpretation besteht die wichtigste Aufgabe 34 Auch Schenker war nicht der Meinung, die Urlinie müsse bei der Aufführung betont werden: »Dem Vortragenden ist die Urlinie zunächst eine Richtung, etwa das, was dem Bergsteiger eine Wegkarte ist, und so wenig diese dem Bergsteiger erspart, alle Stege, Steine, Moraste unter die Füsse zu nehmen, ebensowenig erspart die Urlinie dem Vortragenden alle Diminutionen des Vordergrundes zu begehen. Es ist daher nicht gestattet, im Vortrag eigens der Urlinie nachzulaufen und sie aus der Diminution herauszuklauben, nur um sie dem Zuhörer zu vermitteln. Auch dem Vortragenden muß die Diminution dasselbe bedeuten wie dem Komponisten: so groß die Vorteile
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Paul Scheepers und Johannes Leertouwer
von Analyse darin, dem Spieler neue Wege und Alternativen zu zeigen. Mit den Worten Johannes Leertouwers: »Auch wenn ich eine Interpretation gefunden habe, die mir vollkommen gefällt, versuche ich doch am nächsten Tag wieder eine neue zu ent decken – und bei dieser Suche hat sich die Analyse nach Schenker als ein wertvolles Instrument erwiesen.«
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——— (1925), Das Meisterwerk in der Musik. Ein Jahrbuch 1, München: Drei Masken, Reprint Hildesheim u. a.: Olms 1974.
——— (1926), Das Meisterwerk in der Musik. Ein Jahrbuch 2, München: Drei Masken, Reprint Hildesheim u. a.: Olms 1974. sind, die der Komponist aus den Verwandlungen der Urlinie zieht, genau so groß sind sie dem Vortragenden, wenn er nur Kenntnis davon hat.« (Schenker 1925, 195–96)
Schenker und Bach
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18 Schenker in Böhmen. Ein Beitrag zur Rezeption von Schenkers Musiktheorie LU BOM I R SP U R N Y
Schenkers Theorie ist seit mehr als einem halben Jahrhundert Gegenstand von Auseinandersetzungen und gegensätzlichen Interpretationen. Die Diskussionen wurden teilweise mit einer solchen Intensität geführt, dass der Eindruck entstehen könnte, die Theorie verdanke ihre Attraktivität hauptsächlich kritischen Meinungen. Die Deutungen der Schenker’schen Theorie haben innerhalb des erwähnten Zeitraums eine Reihe von Veränderungen durchgemacht. Manche Resultate dieser Entwicklung können als selbständige analytische Methoden angesehen werden. Umgekehrt lassen sich solche Prozesse auch als positiver Hinweis darauf verstehen, dass es zum Wesen der Theorie Schenkers gehört, dass sie sich gegen Eindeutigkeiten wehrt, verschiedene Lesearten annimmt und abweichenden Vermutungen einen gewissen Spielraum lässt. Eine Auseinandersetzung mit Schenkers Vermächtnis hat – anders als in den USA und zahlreichen anderen Ländern – in der tschechischen Musiktheorie fast gar nicht stattgefunden. Das mag unter anderem mit der Tatsache zu tun haben, dass Heinrich Schenker Böhmen nie besucht hat. Allerdings hat sich Schenker sehr wohl für böhmische Komponisten und deren Musik interessiert und über sie geäußert. So schrieb er 1893 mit Begeisterung über Friedrich Smetanas Verkaufte Braut: »Seit Mozart gab es aber auch auf dem Gebiet der Buffo-Oper keinen Komponisten, der die Mysterien des Motivs, der Thematik, insbesondere die Trag- und Fortpflanzungsfähigkeit eines Motivs, so gekannt hätte wie eben Smetana.«1 Über die Moldau notierte er, dass »Smetanas Stück [...] eine gewisse kleinliche Technik [zeigt]. Das Programm ist hier noch nicht ganz in Musik aufgelöst, […], sondern nur staffagemäßig sitzen gleichsam an den Ufern der Moldau Hörner, die eine ›Jagd‹ vorstellen, Volkslieder [...] also eine Se1 Zit. nach Federhofer 1985, 252.
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rie von Bildern statt des Wesens des Urbildes.«2 Dvořáks 9. Symphonie Aus der neuen Welt »missbraucht« für Schenker »die Sonatenform zu Potpourri-Zwecken«.3 Dvořáks Schüler Josef Suk und Vítězslav Novák werden von Schenker mit einer einzigen Anmerkung abgelehnt. Trotz einiger Sympathie wenigstens für Smetanas Musik hat es Schenker sozusagen ›nie bis Böhmen geschafft‹. Zwar hat er Smetanas Witwe 1894 in Raab besucht, unweit der Grenze zu Böhmen, »wo Smetana,s eine Tochter, an den Schlossverwalter G. Heyducek verheiratet, ständig wohnt.«4 Überschritten aber hat er die Grenze wohl nie, und das, obwohl Jeanette Schenker, geb. Schiff, 1874 in Aussig geboren worden ist. (Im Januar 1945 ist sie unweit von dort im KZ Theresienstadt gestorben.) Ein weiteres indirektes Zeugnis für das Fehlen der Verbindung zwischen der tschechischen Musiktheorie und der Analysemethode Schenkers stellt ein Brief von Hedwig Salzer dar, der Frau Felix Salzers. Anlässlich der Ausstellung Schenker in Wien, die im März 1996 von Wien nach Olmütz umzog, schrieb sie: 5 »Ich kannte diese sehr schöne Stadt gut! Ich habe sogar eine Zeitlang dort gelebt. Es ist ja eine wichtige Stadt im letzten Jahrhundert und überhaupt gewesen... Erzbischöflich! usw. Ich habe auch gestern den Ausstellungskatalog in tschechischer Sprache erhalten. Ich werde es mir von einer jungen Studentin, die aus Prag stammt, übersetzen lassen. […] Ich hoffe, dass die Ausstellung Erfolg hatte. Es würde mich aber SEHR interessieren, wieso diese Ausstellung gerade in Olmütz stattfindet??? Wieso hat sich gerade DIESE Stadt dafür interessiert? Wo ist da der Zusammenhang?« Hedwig Salzer hat selbst versucht, eine Antwort zu finden: »Der Onkel meines Mannes der Philosoph Ludwig Wittgenstein erwähnte diese Stadt (den Namen seines Freundes) in seinen Briefen [...].«6 Im Grunde aber stimmt, was Hedwig Salzer argwöhnt: Es gibt keine Verbindung Schenkers zu Böhmen oder zu Olmütz. Ähnlich wie hinsichtlich der Biographie ist die Situation hinsichtlich der Rezeption von Schenkers Lehre, die in Böhmen so gut wie nicht stattgefunden hat. Eine seltene Ausnahme bildet der tschechische Dirigent Václav Talich, der in seinen Erinnerungen auf die Bedeutung von Schenkers Analysen für die Aufführungspraxis aufmerksam gemacht hat.7 Innerhalb der tschechischen Musiktheorie wird das kleine Mosaik der Schenker-Rezeption durch zwei Personen ergänzt: durch mich und meine 2 3 4 5
Ebd., 253. Ebd., 228. Schenker 1990, 109. Der Brief wurde einem chinesischen Studenten geschickt, der Teilnehmer des Lehrganges ›Tonsatz nach Heinrich Schenker‹ gewesen war. 6 Die Ausstellung »Schenker in Wien. Lebensumstände, Freunde und Schüler des österreichischen Musiktheoretikers Heinrich Schenker« wurde unter der Leitung Martin Eybls in Wien im Januar und in Olomouc im April 1996 veranstaltet. 7 Siehe dazu Talich 1967.
Schenker in Böhmen
Arbeit Heinrich Schenker – dávný neznámý 8 und durch Jaroslav Jiránek, der sich schon Anfang der 90er Jahre in seiner Arbeit Úvod do historie hudební analýzy a teorie sémantické hudební analýzy um eine sachlich angemessene Zusammenfassung der Theorie Schenkers bemühte.9 Wahrscheinlich aus Gründen der Übersichtlichkeit und des vorhandenen Platzes beschränkte sich Jiránek auf die Darstellung des späten Entwicklungsstadiums der Schichtenlehre. Keine Erwähnung hingegen fand ihre Entstehung. Ohne Blick auf diese entwicklungsgeschichtliche Dimension erscheint die Darstellung allerdings einseitig und der Sache nicht gänzlich angemessen. So kann der Leser nicht ermessen, dass Schenkers analytische Methoden zuletzt ein Ergebnis starker Beschränkung gewesen sind. Noch zur Zeit der ersten Ausgabe von Der Tonwille versteht Schenker unter der ›Urlinie‹ verschiedene lineare Bildungen von unterschiedlicher Reichweite. Seit dem Erscheinen des zweiten Bandes von Das Meisterwerk in der Musik (1926) aber ist das Repertoire auf drei Formen beschränkt. Aus der zunehmenden Strenge in Schenkers späten Schriften, die ohne den Vergleich mit den früheren Werken gar nicht deutlich wird, haben Kritiker ein ganzes Arsenal von Einwänden abgeleitet. So bestimme in der Endphase der Schenker’schen Theorie nicht mehr das Werk die Mittel der Analyse, sondern die Analyse das Werk, das einzig durch eine fallende ›Urlinie‹ erklärt werden dürfe. Darüber hinaus nahm Schenker unter die ›Meisterwerke‹ fast ausnahmslos Werke deutscher Komponisten auf. Das angeblich objektive Analyseverfahren, das Komponisten Genie attestieren kann, sei in Wirklichkeit deutsch-nationalistisch motiviert gewesen. In Jiráneks Texten bewirkt zudem die Art der Übersetzung eine Beschönigung der Schenker’schen Theorie. Manche Ausdrücke Schenkers erscheinen im Tschechischen bzw. in der tschechischen Musiktheorie weniger spezifisch, als sie bei Schenker gemeint waren, und suggerieren eine warmherzige Naivität, die Schenker nie besessen hat. Der Name Schenker fällt einmal im Vorwort zur tschechischen Übersetzung von Boris Assafjews Arbeit Hudební forma jako proces (1930).10 Dort warnt Ivan Vojtěch vor einem zu einfachen Verständnis der Intonationstheorie Boris Assafjews. In diesem Zusammenhang erinnert er an die ›Urlinie‹ und die von Schenker geforderte Fähigkeit des Fernhörens, die auch bei Assafjew eine Rolle spiele und in vulgären Interpretationen seiner Theorie oft vernachlässigt werde. Das Werk solle nämlich kausale Zusammenhänge schaffen, die vom Zuhörer als logische und verständliche Form wahrgenommen würden. Die Analyse aber bilde unsere Rezeptionsweise grafisch ab. Das Begreifen des Werks als einheitliches Ganzes führe über die Zusammensetzung aus kleinen, im Gedächtnis gespeicherten Teilmomenten hinaus. Wie deutlich und inten8 Spurný 2000. 9 Jiránek 1991. 10 Vojtěch 1965.
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siv die Verbindungen erlebt würden, hänge vom Zuhörer und seiner Bereitschaft ab, sich auf ein werkorientiertes Hören einzulassen. Eine letzte Anmerkung zu Schenkers Theorie stammt vom Anfang der 1960er Jahre. In der Arbeit Novodobé harmonické systémy z hlediska vědecké filosofie 11 des Musikwissenschaftlers Jaroslav Volek erscheint Schenkers Name in der tschechischen (tschechoslowakischen) Theorie zum ersten und für lange Zeit auch zum letzten Mal. Voleks Verhältnis zu Schenker ist durch offene Polemik geprägt. Schenkers Theorie wird als Beispiel für eine »wissenschaftlich unwahre Lehre« angeführt.12 Volek greift Schenkers mystisches Verständnis der Zahl Fünf auf, um an ihm den ›Notcharakter‹ der Schichtenlehre insgesamt zu erweisen. Dabei ist Voleks fragwürdiges Verständnis nicht einmal originell, sondern bezieht sich offensichtlich auf einen Abschnitt aus Schönbergs Harmonielehre, der selbst wiederum von der zeitgenössischen Schenker-Kritik beeinflusst gewesen ist: »Wie groß auch seine Verdienste sein mögen: Ohnmächtig erweist er sich besonders dort, wo er sich bemüht, positiv eine deutliche Abgrenzung zu schaffen. Gerade dort wird er nebelhaft. So wenn er von der ›geheimnisvollen Fünfzahl‹ spricht, über die wir (wenn ich mich recht erinnere) nicht hinauskönnen sollen. […] Aber außerdem: die Fünfzahl soll deshalb merkwürdig sein, weil sie sich überall in der Musik als eine Art Grenze zeige.«13 Schönbergs Aussage wird von Volek – ohne Nennung der Quelle – zur unangemessenen Gegenüberstellung einer »wissenschaftlich begründeten Theorie« mit einer angeblich »unwissenschaftlichen Theorie« benutzt. Voleks Auffassung von »wissenschaftlicher Richtigkeit« und deren Veränderung in der Geschichte orientiert sich dabei an derjenigen der Naturwissenschaften. Bereits das Denken in Gegensatzpaaren wie z. B. ›rational‹ (das Wissenschaftliche oder das Wahre) und ›irrational‹ oder die simple Vorstellung, jede neue ›rationale‹ Konzeption erkläre jede vorherige zu einer ›irrationalen‹, gehört in den naturwissenschaftlichen Bereich und ist in Geisteswissenschaften alles andere als selbstverständlich. Mit den erwähnten Zeugnissen ist das Thema der Schenker-Rezeption in der tschechischen Musiktheorie erschöpft. Wir können uns nun fragen, warum eine Fach11 Volek 1961. 12 In seinem Buch schreibt Volek: »Ich habe [...] darauf aufmerksam gemacht, dass z. B. der ›Naturakkord‹ mit dem siebten Ton beginnend ›Schwierigkeiten‹ bereitet. Diesen ›Naturakkord‹ auf die ersten fünf Töne zu begrenzen, ist vom akustischen Gesichtspunkt kaum möglich. Schenker schreibt jedoch der ›geheimnisvollen‹ Zahl Fünf [...] eine mystische Kraft zu, die diesen Prozess zu rechtfertigen vermag und die ihn in zwei Teile – den nützlichen und unnützlichen – teilen kann. Einen Ausdruck der ›geheimnisvollen Bedeutung‹ der Zahl Fünf in der Musik sieht Schenker auch in der seltsamen Bedeutung der Quinte. Die Zahl Fünf sollte überhaupt eine gewisse Art der Grenze in der Musik repräsentieren [...] und andere Seltsamkeiten diese Zahl betreffend.« (1961, 30f.). 13 Schönberg 1922, 384f.
Schenker in Böhmen
wissenschaft, die geographisch so nahe an Schenkers Wirkungsstätte Wien liegt und mit dieser zudem kulturell stark verflochten war, die Schenker-Analyse kaum einmal erwähnt hat. Abgesehen von politischen und ethischen Gründen sowie von der Tatsache, dass Schenkers Texte ein breiteres Publikum wenig ansprechen, dürfte die Antwort auf diese Frage in der Geschichte des Fachs zu finden sein. In der tschechischen Musiktheorie haben sich nämlich primär Riemanns Vorstellungen durchgesetzt. Im Vergleich zur österreichischen Musiktheorie mit ihrem (schon früh erkennbaren) Zug zum ›Linearen‹ erschienen Riemanns Funktionstheorie und motivisch-thematische Analyse wissenschaftlich exakt und zudem didaktisch geeignet, weil sie flexibel genug waren, um auf verschiedenen Niveaus (d. h. auch in verschiedenen Schultypen) unterrichtet werden zu können. Die Vernetzung einzelner Werkteile durch Wiederholung von Themen und Motiven leuchtete allgemein mehr ein als die Differenzierung nach Schichten. Als erster hat Otakar Šín Riemanns Funktionstheorie durch seine Arbeit Nauka o harmonii na základě melodie a rytmu (1922) in den tschechischen Sprachraum eingeführt.14 In der zweiten, überarbeiteten Ausgabe seines Buches (1933) hob er die Bedeutung der ›Funktionen‹ Riemanns hervor.15 Zudem betonte Šín, erst mit der Einführung eines Paares nichttonischer Funktionen, des »phrygischen« und des »lydischen« Akkordes16, würden alle Möglichkeiten der chromatischen Skala ausgereizt. Obwohl Hugo Riemann selbst diese Akkorde erwähnt hat, werden sie erst bei Šín in größerem Umfang angewendet. In dieser modifizierten Gestalt wurde die Funktionstheorie Riemanns ein wichtiger Ausgangspunkt für die nächste Generationen tschechischer Musiktheoretiker. Einige von ihnen (Karel Janeček und Emil Hradecký) haben die erwähnten Akkorde als selbstständige phrygische und lydische Funktionen bezeichnet. Gemeinsam mit T, S, D bildeten sie ein fünfgliedriges Funktions-System. Diese Sichtweise wirkt aus heutiger Sicht allerdings unnötig kompliziert und ist zudem aus historischem Blickwinkel problematisch, insofern es angemessenere Erklärungen dieser Akkorde gibt.17 Ein weiterer Grund für die fehlende Rezeption der Schenker’schen Theorie dürfte der Einfluss tschechischer Musiktheoretiker sein, die eine unorthodoxe Lehre vertraten. Zu den bekanntesten gehört František Skuherský, der in seiner Schrift Nauka o harmonii na vědeckém základě (Harmonielehre auf wissenschaftlicher Grundlage, 1885 auch deutsch) ein harmonisches System entwickelte, das den Rekurs auf traditionelle Akkordstrukturen umging. Statt auf Dreiklängen gründete sein Harmoniesystem auf Intervallen, verunklarte dadurch die Grenze zwischen Haupt- und Nebenstufen, konstruierte Akkorde aus willkürlichen Intervallgruppen und klassifizierte sie nach der 14 15 16 17
Šín 1922. Siehe Šín 1933. Ein Dur- oder Molldreiklang auf der erniedrigten II. bzw. VII. Stufe. Siehe z. B. Hradecký 1960; Janeček 1965.
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Zahl der im Akkord enthaltenen Dissonanzen. Viele von Skuherskýs Ideen wurden bei Janáček oder in Hábas Neue Harmonielehre (1927) wieder aufgegriffen. In der Zeit zwischen den Weltkriegen setzte auch in der tschechischen Musiktheorie eine Diskussion um die Problematik der Musikanalyse ein. Die Auseinandersetzung geschah jedoch hauptsächlich mit Blick auf die kompositorische Produktion im eigenen Land. Bevorzugte Gegenstände der einschlägigen Texte waren Kompositionen von Smetana, Dvořák, Suk, Novák und Leoš Janáček. Besonders interessant erscheinen heutzutage Analysen von Václav Štěpán, die von 1911 an in Zeitschriften erschienen und im Sammelband Novák a Suk (1945) zusammengefasst wurden.18 Von der Harmonik der Werke Nováks und Suks wurde auch Otakar Šín angeregt. Von großer Bedeutung war Otakar Zich, der in seiner Schrift Symfonické básně Smetanovy nach dem Vorbild der Prager Strukturalisten ein graphisches Schema des Werkverlaufs entwickelte.19 (Mit Schenkers Rekonstruktion struktureller Satzgerüste hat dieses Verfahren allerdings nichts zu tun.) Heinrich Schenker hat von der Entwicklung der tschechischen Musik kaum Notiz genommen. Bis auf die wenigen angeführten Ausnahmen zeigte er für die Kompositionen weder Bewunderung noch Ablehnung. Seine Haltung war vielmehr indifferent. Tschechische Werke dienten ihm nicht einmal als Exempel für die schöpferische Unfähigkeit ihrer Komponisten. Es versteht sich, dass ein Autor mit einer solchen Einstellung im tschechischen Sprachraum keine breitere Diskussion auslösen konnte. Hingegen hat in den 60er und 70er Jahren eine Variante der Musiksemiotik Verbreitung erfahren, die bis zu einem gewissen Grad an die Tradition des tschechischen Strukturalismus der Zwischenkriegszeit anknüpft. Seitdem stellt die semiotische und strukturalistische Analyse in den Augen zahlreicher Autoren eine Methode dar, die die offensichtliche Dichotomie zwischen dem Inhalt des erklingenden Werkes, der als subjektiv, und der Struktur der Komposition, die als objektiv erfahren wird, erfolgreich überbrückt.20 Man bemüht sich um eine Werkinterpretation als sog. ›Inhaltsform‹. Der Zeichencharakter des Kunstwerks kann dabei weder mit dem Bewusstsein seines Komponisten noch mit dem irgendeines anderen Subjekts identifiziert werden. Infolgedessen muss der semiotischen Interpretation eine syntaktische (ggf. eine materielle) Analyse vorausgehen, also eine Darlegung der hierarchischen Organisation eines Musikwerks. An dieser Stelle hätte die Gelegenheit bestanden, die Analyse Schenkers produktiv in das analytische Verfahren aufzunehmen. Doch dazu ist es nicht gekommen. Dabei hätte die Schichtenlehre Schenkers helfen können, einige 18 Siehe Štěpán 1945. 19 Zich 1924. 20 Zur Problematik der semantischen Analyse der Musik in Tschechien (bzw. der Tschechoslowakei) vergleiche z. B.: Čejka/Fukač 1976/77; Doubravová 1984; Fukač 1985, 1994. Jiránek 1980; Volek 1965.
Schenker in Böhmen
ungeklärte Fragen des Strukturalismus zu beantworten. Stattdessen gelangen statistische und logistische Verfahren, wie sie in der tschechischen Semiotik üblich sind, nicht selten zu trivialen oder leicht vorhersehbaren Ergebnissen. (Als Kunstwerk spielt die Komposition in dieser Analyse keine Rolle.) Schließlich sei noch erwähnt, dass die ungewöhnliche Terminologie Schenkers und seine eigenartigen Metaphern ein nicht unerhebliches Hindernis für die Verbreitung darstellen. (In meinem Buch habe ich mich bemüht, die zentralen Begriffe Schenkers weniger zu übersetzen, als durch akzeptable tschechische Äquivalente zu ersetzen und mit einem Kommentar zu versehen.) Abschließend stellt sich die Frage nach einer möglichen Perspektive von Schenkers Analyse in der tschechischen Musiktheorie. Ich persönlich bin einer wörtlichen Übertragung der Schenker’schen Lehre in die tschechische Musiktheorie gegenüber skeptisch (nicht zuletzt, weil die Sprache Schenkers kaum übertragbar ist). Auf der anderen Seite kann sich die tschechische Musiktheorie der Schenker-Analyse auf Dauer wahrscheinlich nicht verschließen. Schenker-Analyse wird dann aber, wenn sie in Zukunft Verbreitung erfahren sollte, als eine Reaktion auf die ›traditionelle Analyse‹ verstanden werden. Wie alle analytischen Methoden bietet auch die Schenker-Analyse nur einen bestimmten Zugang zur Komposition, nicht einen allgemein gültigen Schlüssel. Jedes Werk stellt seine eigenen Bedingungen an die Analyse, und zusätzlich entscheiden auch die Ziele und Erwartungen, mit denen wir eine Analyse beginnen, über die Methoden unseres Zugangs. Schenker ist nie nach Böhmen gekommen. Es bleibt also nichts anderes übrig, als dass die tschechische Musiktheorie zu Schenker kommt.
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19 Glossar BER N H A R D H A A S
Gegen Ende der meisten Artikel wird auf Passagen in Der freie Satz (Schenker 1956) verwiesen, in denen das jeweilige Phänomen erklärt wird, außerdem auf die von William Drabkin verfassten Schenker-Artikel in der zweiten Auflage des New Grove (2001). Ein knappes achtsprachiges Schenker-Wörterbuch (deutsch, englisch, französisch, italienisch, polnisch, tschechisch, russisch, chinesisch) findet sich bei McKay Ayotte 2004, 277–280. Anstieg Steigender Zug, der zum Kopfton der Urlinie führt (Bild 19.1). Vgl. Schenker 1956, § 120, 137, Fig. 37; New Grove 12, 385 s. v. ›Initial ascent‹.
Anstieg
19.1 A
5
4
3
2
1
Appoggiatur Kurzer Vorschlag, frei eintretender Ton, der stufenweise aufwärts oder abwärts einen ihm zugehörigen Hauptton erreicht. Appoggiaturen gibt es auf verschiedenen Schichten. Vgl. Schenker 1956, Fig. 149, 6; 134, 6 (T. 276), auch Fig. 12 (Nbn.-Harmonie = hintergründige Appoggiatur). Ausfaltung a) Ein Zweiklang wird ins Nacheinander gebracht, von einer Stimme ausgedrückt (Bild 19.2). Es kommt zuerst der untere, dann der obere und dann wieder der untere
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Ton dieses Zweiklangs oder umgekehrt (oben – unten – oben). Vgl. Schenker 1956, § 140, 1 und Fig. 43 a sowie Beispiel zu a. ohne Ausfaltung
19.2 B
Ausfaltung
b) Zwei oder drei Zweiklänge werden ins Nacheinander, in die Einstimmigkeit gebracht (Bild 19.3). Dabei muss die Reihenfolge der Töne jeder Stimme der unausgefalteten Folge gewahrt bleiben. ( Bild 19.4 zeigt keine Ausfaltung, weil d vor e kommt, anders als in der unausgefalteten Version.) Vgl. Schenker 1956, § 140–143, Fig. 43b–f, 44 sowie § 234 und Fig. 103; New Grove 26, 71 s. v. ›Unfolding‹. ohne Ausfaltung
19.3 C
Ausfaltung
19.4 D
Ausführung Die Komposition, so wie sie notiert ist. Die letzte der Schichten. Das Stück besteht aus allen Schichten zugleich; der Begriff ›Ausführung‹ bezeichnet nur die letzte der Schichten für sich genommen. Schenker verwendet dafür manchmal das Wort ›Vordergrund‹. (Denn für ihn sind die Begriffe Hintergrund, Mittelgrund, Vordergrund relativ. Insofern die ausgeführte Komposition die am reichsten entwickelte Schicht ist, ist sie für Schenker die ›vordergründigste‹, der Vordergrund überhaupt.) Den Ausdruck ›Ausführung‹ verwendet übrigens bereits C. Ph. E. Bach (1762, 340). ausgeworfener Grundton Basston, der unabhängig von der Logik des Bassverlaufs gesetzt wird, um einen Klang der Oberstimmen konsonant zu machen oder stabil zu stützen (Bild 19.5). Häufig wird auf den folgenden Schichten der ausgeworfene Grundton gleichwohl in den Bassverlauf integriert. Vgl. Schenker 1956, § 247, Fig. 112 sowie Fig. 102, 5 und 107.
Glossar ohne ausgeworfenen Grundton
19.5 F
ausgeworfener Grundton
Auskomponierung von Klängen Das Erfüllen eines Klanges (einer harmonischen Stufe) mit Inhalt, d. h. mit Stimmführung, Durchgängen, Klängen, Motiven so, dass eben dieser Klang stets hindurchschimmert. Vgl. Schenker 1906, § 115–157; New Grove 2, 189 f. s. v. ›Auskomponierung‹. Auch eine Folge mehrerer Klänge kann auskomponiert werden, indem der je nachfolgende Klang nicht unmittelbar dem je vorhergehenden folgt, sondern mittels eines Weges (= Zug, Brechung etc., Kombinationen verschiedener Mittel) erreicht wird. Die einfachere Folge aus wenigen Klängen wird durch die vielen Klänge auskomponiert; sie wirkt begründet, zusammenhängend. Die je vordere (ausführlichere) Schicht komponiert die je hintere aus. Die Klänge, die aus einer Auskomponierung resultieren, können ihrerseits weiter auskomponiert werden. Bassausfaltung Bassausfaltungen sind Ausfaltungen, an denen der Bass beteiligt ist. Ein oder mehrere Klänge werden von der Gleichzeitigkeit ins Nacheinander gebracht (Bild 19.6). In diesem Bild gehört f 0 zum Bass, c 1 und d 1 stammen aus der Mittelstimme (diese sind in unausgefaltetem Zustand in Form von c 2 [Alt] und d 2 [Sopran] im Satz vorhanden), g 0 gehört wieder zum Bass. Vgl. Schenker 1956, § 144 und 234 sowie Fig. 103, 5.
19.6 H
unausgefaltet
Bassausfaltung
Bassbrechung Der Weg I-V-I des Basses des Ursatzes (Bild 19.7). Auch die Bassfolge I-V-I im Detail, in der Grundtonart des Stücks oder in anderen, durch eben die Bassbrechung tonika-
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lisierten Tonarten. Vgl. Schenker 1956, § 15, 17–19, § 53–86, § 186–191; New Grove 2, 63 s. v. ›Arpeggiation‹ (ii). (›Bassbrechung‹ ist kein Unterbegriff zu ›Brechung‹.) 19.7I
I
V
I
Brechung Eine Akkordbrechung, ein Arpeggio; eine Brechung besteht aus mindestens drei Tönen (eines Akkordes), die nacheinander in einer Stimme gebracht werden, der Reihe nach vom höchsten zum tiefsten oder vom tiefsten zum höchsten Ton (Bild 19.8), vgl. Schenker 1956, § 125–128, Fig. 40, § 230, Fig. 100; New Grove 2, 63 s. v. ›Arpeggiation‹ (ii). Da eine Brechung ihrerseits weiter auskomponiert werden kann, können sich im Verlauf einer Brechung verschiedene Klänge ergeben, nicht nur der gebrochene Klang. ohne Brechung
19.8 J
Brechung
ohne Brechung
Brechung
Diminution Verzierung, Auszierung. Die meisten Variationen Mozarts diminuieren ihr Thema (z. B. mit Sechzehntelnoten in der Oberstimme, im Bass etc.); kolorierte Choralvorspiele Bachs diminuieren ihren jeweiligen Choral. Aber auch scheinbar undiminuierte Kompositionen können als Diminutionen einfacherer Tonfolgen aufgefasst werden, die ihrerseits Diminutionen noch einfacherer Tonfolgen sein können. Insofern diminuiert jede Schicht die ihr vorausgehende (einfachere). Unter Diminution stellt man sich melodische, horizontale Phänomene vor. Diese können sich auf melodische Folgen oder auch auf Harmonien beziehen. (Dagegen setzt der Begriff ›Auskomponierung‹ stets einen Akkord oder eine Folge von Akkorden voraus, die auskomponiert werden.) Vgl. Schenker 1956, § 251–261 und Fig. 116–125, sowie die in der Fußnote auf S.146 gegebenen Verweise auf Passagen, in denen auch von »Verwandlung«, »Verwandlungsschicht« die Rede ist. Durchgang Harmoniefremder Ton auf leichter Taktzeit, der schrittweise und in gleicher Richtung erreicht und verlassen wird. Durchgangstöne gibt es nicht nur in der ausgeführten Komposition, sondern in sämtlichen Schichten. (In den hinteren Schichten gibt es
Glossar
keinen Takt, daher sind dort Durchgangstöne nicht an bestimmte Taktzeiten gebunden.) Das heißt, dass, was in einer Schicht wie ein Durchgang klingt, in der nächsten mit einer Harmonie gestützt werden kann. Es ist jeweils anzugeben, im Verhältnis zu welchen Tönen sich der Durchgangscharakter ergibt. In letzter Konsequenz wäre der zweite Ton einer Terzzug-Urlinie als Durchgang anzusehen, im Verhältnis nämlich zum Anfangs- und zum Schlusston der Urlinie. Vgl. Schenker 1956, § 5. Hilfskadenz Unvollständige Form einer Bassbrechung, die dazu dient, eine neue Tonart einzuführen. Die Unvollständigkeit besteht im Fehlen der Anfangstonika im Hinblick auf die einzuführende Tonart (Bild 19.9). Vgl. Schenker 1956, § 244f., Fig. 110.
19.9 K V
I
IV
V
I
Hintergrund Die Terminologie ist hier nicht ganz einheitlich. In Der freie Satz spricht Schenker nur die verschiedenen Ursatzformen als Hintergrund an (§ 1–44). In früheren Schriften Schenkers werden die Begriffe ›Hintergrund‹ und ›Ursatz‹ – weniger spezifisch – allgemein auf die wenigen Töne und Klänge bezogen, die aus sich den Eindruck von Einheit, Ganzheit, Abgeschlossenheit einer Komposition erzeugen. Die 5-6-Auswechslung, die Schenker in seiner Analyse des Largo aus BWV 1005 (Schenker 1925) in den Takten 1–5 (Fig 1a1) feststellt, wäre gemäß Der freie Satz niemals als zum Ursatz oder Hintergrund gehörig zu betrachten, denn eine 5-6-Auswechslung ist nicht ein Erstes, sondern sie reagiert (behebt z. B. im vorliegenden Fall Quintparallelen). In jedem Fall sind die Begriffe Hinter-, Mittel- und Vordergrund aufeinander bezogen: Eine hintergründige Wirkung ergibt sich aus weiträumigen Zusammenhängen, bzw. sie strahlt in die Ferne aus (›Fernhören‹, wie Schenker sagt), eine vordergründige Wirkung ist in Relation dazu an einem Detail festzumachen, eine mittelgründige Wirkung steht zwischen beiden. Vgl. New Grove 2, 447 s. v. ›Background‹. Höherlegung Ein von einer hinteren Schicht gegebener Ton erscheint auf einer vorderen Schicht erst so, wie von der hinteren Schicht vorgegeben, und anschließend eine Oktave höher 1 Diese Figur bezeichnet Schenker als den Ursatz (63).
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(Bild 19.10). In vielen Fällen muss man bestimmen, durch welche Mittel die Höherlegung ausgeführt wird (z. B. durch Übergreifen, Brechung, Züge); es gibt aber auch Fälle unmittelbarer Höherlegung. Vgl. Schenker 1956, § 147–150, Fig. 47 sowie § 238 und Fig. 106; New Grove 21, 105f. s. v. ›Register transfer‹. Höherlegung
19.10 M
Kopfton der Urlinie Der erste Ton der Urlinie. Vgl. Schenker 1956, § 204. Koppelung Mehrere zusammengehörige Töne erscheinen nacheinander in verschiedenen Oktavlagen (Bild 19.11). Die Koppelung besteht demnach aus Höher- und Tieferlegungen. Es ist wichtig, die führende Lage festzustellen. Vgl. Schenker 1956, § 152–154, Fig. 49 sowie § 240f. und Fig. 108; New Grove 6, 601f. s. v. ›Coupling‹. ohne Koppelung
19.11 N
Koppelung
Mischung Abwechslung der im Stück bzw. an einer Stelle führenden Diatonik mit einer anderen Diatonik desselben Grundtons, z. B. g-Moll (Haupttonart) → G-Dur; a-Moll (Haupttonart) → a-Phrygisch. Vgl. Schenker 1956, § 102–105, Fig. 28–31 sowie § 193–195 und Fig. 73–75. Mittelgrund Die Schicht oder Schichten, die in der Mitte zwischen Hintergrund und Vordergrund, zwischen Ursatz und Ausführung stehen. Nebennote (Nbn) Die Note eine diatonische Sekunde vom Hauptton entfernt. Zur Nebennote gehört die nachfolgende Rückkehr zum Hauptton (Ausgangston). Nebennoten gibt es auf a llen
Glossar
Schichten. In der Oberstimme finden sich fast nur obere Nebennoten (Bild 19.12). Vgl. fast alle Beipiele für Nebennoten in Schenker 1956. Zur Nebennote im strengen Sinn gehört die Wiederkehr zur Harmonie vor der Nebennote (nicht nur zum Oberstimmen ton vor der Nebennote) (Bild 19.13) (vgl. Schenker 1956, § 106–111, Fig. 32). Das hat seine Ursache darin, dass die Nebennote im engeren Sinn eine melodische Diminution ist. Weniger als Höherlegung und Tieferlegung ist sie ableitbar; sie wird frei appliziert (vgl. Schenker 1956, § 112). 19.12 O
19.13P
Nbn
Nbn
Häufig ergeben sich Nebennoten (im weiteren Sinn) aus anderen als melodischen Gründen; diese werden eben von diesen von Fall zu Fall zu bestimmenden Gründen veranlasst, sie können z. B. dem Erreichen des letzten Klangs (unter dem wiedergekehrten Hauptton) dienen. Daher sind sie nicht zur Wiederaufnahme der Harmonie vor der Nebennote gezwungen. (Vgl. z. B. Schenker 1956, Fig. 76, 5: Chopin op. 17/1: kleine Nebennote f 2-g 2-f 2 in den Takten 1, 10, 12). In jedem Fall gehört die Rückkehr zum Ausgangston zum Begriff der Nebennote. Eine Sonderform der Nebennote, die vor allem dem Vorder- und Mittelgrund angehört, besteht darin, dass bei der Rückkehr der Hauptton chromatisch verändert wird (Bild 19.14). So wird der direkte chromatische Schritt vermieden. Vgl. Schenker 1956, § 249 und Fig. 114, 2. 19.14 Q
Nbn
Im Bass ist auch die untere Nebennote häufig (Bild 19.15). (Vgl. Schenker 1956, Fig. 62, 11 und 154, 5.)
19.15 R
Nbn
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Nicht zu verwechseln mit der Nebennote im strengen Sinn sind Diminutionen wie in Bild 19.16, die der Verbindung des ersten mit dem letzten dieser vier Töne dienen. Der begriffliche Unterschied liegt darin, dass die vier Töne dieser Diminution unmittelbar zusammengehören; es ist daher nicht zulässig, drei Töne herauszulösen, zu Hauptton, Nebennote und wiedergekehrtem Hauptton zu erklären und einen Rest von einem Ton zurückzubehalten (der dritte Ton ist im Übrigen meist nicht eigens gestützt; vgl. dazu Schenker 1956, § 196f. sowie Fig. 76, 1, erstes Beispiel und Fig. 49, 2). Bei Johann Gottfried Walther und Wolfgang Caspar Printz heißt diese viertönige Figur groppo bzw. ›Halbzirkel‹.2 Der viertönige Doppelschlag gehört in dieselbe Rubrik, ist also keine Nebennote. Alle diese Figuren gehören dem Vorder- und Mittelgrund an. 19.16S
In der amerikanischen Schenkerian Theory werden des Öfteren auch sogenannte unvollständige Nebennoten behauptet, d. h. Nebennoten, die nicht in ihren Ausgangston zurückkehren.3 Es ist sicher, dass in vielen Stücken in der Ausführung, d. h. im äußersten Vordergrund, solche Wirkungen festzustellen sind (vgl. etwa die Figur der Superjectio 4, z.B. in Bachs Passacaglia BWV 582 in den Takten 9ff.), jedoch ist zu fragen, ob Schenker, der die unvollständige Nebennote ausdrücklich ausschließt (Schenker 1956, § 108), nicht doch die besseren Gründe auf seiner Seite hat. obligate Lage Oktavlage der Urlinie. Die obligate Lage wird vor allem dann interessant, wenn sie verlassen wird (Bild 19.17). (Auf der Ebene des Hintergrundes wird die obligate Lage nicht verlassen.) Vgl. Schenker 1956, § 8, Schenkers Beispiele zu Höherlegung, Tieferlegung und Koppelung, z.B. Schenker 1956, Fig. 48f., sowie New Grove 18, 257 s.v. ›Obligatory register‹. obligate Lage
19.17T
über der obligaten Lage
2 Walther 1732, s. v. ›Circolo mezzo‹ und ›Groppo‹. 3 Siehe z.B. Salzer 1977, Bd. 1, 90 sowie Bd. 2, Beispiel 146f. Salzer hat den Begriff der unvollständigen Nebennote in die schenkerianische Theorie eingeführt. 4 Vgl. Bernhard 1999, 71f.
Glossar
Rückung Ein Ton von zwei gleichzeitigen Tönen einer Schicht wird in der nachfolgenden Schicht auf einen früheren oder späteren Zeitpunkt gerückt, so dass diese Töne nunmehr nicht gleichzeitig eintreten. Vgl. Schenker 1956, § 294, Fig. 145. Dieses Mittel wird auch ›Verschiebung‹ genannt (dies empfiehlt sich, zumal ›Rückung‹ in traditioneller Musiktheorie auch in anderer Bedeutung vorkommt). Der Ausdruck ›Rückung‹ findet sich bereits bei Mattheson 1731 (298, §2 und 413, §6). Schicht Zur Schenker’schen wie auch schenkerianischen Musiktheorie gehört die Vorstellung, dass Kompositionen in Schichten bestehen. Jede Schicht besteht aus zusammengehörigen Tönen. Die erste Schicht (Ursatz) besteht aus denjenigen Tönen der Komposition, die unmittelbar das Ganze des Werks sind. Es ist entscheidend zu beachten, dass alle Schenker’schen (und schenkerianischen) Bilder hinweisenden Charakter haben. Es wird jeweils auf bestimmte Töne des je analysierten Werks gewiesen. Ein Ursatzoder Hintergrundbild z. B. hat eine Bedeutung nur in Hinblick auf das jeweilige Werk (daher die beigefügten Taktangaben, die der Identifizierung der Töne im Original dienen), für sich ist ein solches Bild bedeutungslos. Die letzte Schicht (›Ausführung‹, ›ausgeführte Komposition‹) ist das Werk selbst. Insofern man die ausgeführte Komposition nur als letzte Schicht nimmt, sie also in Gegensatz stellt zu den anderen Schichten, betrachtet man nur diejenigen Besonderheiten der ausgeführten Komposition, die über die vorletzte Schicht hinausgehen; man betrachtet dann in der ausgeführten Komposition also nicht das ›Werk selbst‹. Insofern alle Schichten aus Tönen des ›Werkes selbst‹ bestehen, besteht das Werk seinerseits aus allen Schichten zusammen und zugleich. Die hinteren (früheren, einfacheren) Schichten bestehen aus weniger Tönen, in ihnen ist die (mindestens formelle) Einheit leichter zu hören; die vorderen (späteren, komplizierteren) Schichten bestehen aus mehr Tönen, in ihnen ist das Stück leichter zu erkennen, die Einzelheiten haben mehr Affekt/Charakter. Um ein Stück zu kennen, muss man sowohl den Weg vom komplizierten Original zum einfachen Ursatz zurücklegen als auch den gegenteiligen vom Ursatz zum Original. Zur Präzision und Aussagekraft der Analyse ist es entscheidend, bei jedem Detail der je vorderen Schicht anzugeben, welches Detail der je hinteren Schicht in ihm wie und eventuell warum verziert, verbessert, ausgearbeitet, geklärt wird. Die Schichten sind von Schenker und auch von den schenkerianischen Musiktheoretikern in keinem Fall schaffenspsychologisch vorgestellt; es geht um hierarchisch-logische Zusammenhänge innerhalb des Tonsatzes. Vgl. New Grove 14, 409f. s.v. ›Layer‹.
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Bernhard Haas
Stimmtausch Eine Stimme übernimmt den Ton einer anderen Stimme, gleichzeitig übernimmt die andere Stimme den Ton der zuerst genannten Stimme (Bild 19.18). Zugleich ist vorausgesetzt, dass die beiden Stimmen sich in verschiedenen Oktavlagen befinden. Durch den Stimmtausch erscheinen zwei Ausgangstöne jeweils in einer anderen Stimme und in anderer Oktavlage: der tiefere Ton in höherer, der höhere in tieferer Lage. Vgl. Schenker 1956, § 236f., Fig. 105. ohne Stimmtausch
19.18 U
Stimmtausch
Stufe Nur drei Bassstufen sind irreduzibel, d. h. bloß vom Bass her, ohne lineare Fügungen anderer Stimmen zu verstehen. Diese sind I, V und I, wobei die I des Schlusses insofern ungleich der Anfangs-I ist, als die eine Anfang, die andere Schluss ist. Sie sind demnach in ihrer Funktion verschieden. Fig. 104, 1 aus Der freie Satz (Beethoven, Sonate op. 31/2, 3. Satz) zeigt in T. 12 einen d-Moll-Klang, dem gleichwohl nicht die Bedeutung einer I. Stufe zugeschrieben wird, denn dieser Klang ergibt sich aus mancherlei Stimmführungsereignissen. Insofern dieser Klang hier nicht ursächlich I. Stufe in d-Moll ist, ist ihm bei Schenker keine Stufenbedeutung zugeschrieben. Das hindert nicht, dass eine Untersuchung nur des Taktes 12 ohne seinen Zusammenhang einen d-Moll-Klang dort vorfinden wird. Es ist festzustellen, auf welcher Ebene (Schicht) eine Stufe besteht. Ob ein Klang als Stufe wirkt, ist eine Frage der Ausarbeitung und des Zusammenhangs. Das heißt: Ein Klang, der auf einer Schicht als reines Stimmführungsereignis erscheint, kann gleichwohl auf einer ausführlicheren Schicht Stufenbedeutung haben. Vgl. z. B. Schenker 1956, Fig. 56, 2 e: Die verdurte III. Stufe der Takte 5 und 6 der Polonaise A-Dur (Chopin, op. 40/1) gehört nicht zum ›hintergründigen‹ Stufengang des ersten Achttakters als Ganzem; gleichwohl muss eine Betrachtung des Zusammenhangs nur der Takte 5 und 6 die Wirkung einer Kadenz, die eben jene verdurte III. Stufe erreicht, notieren. Demnach ist gemäß der detaillierteren (mehr vordergründigen) Betrachtung jene III. Stufe allemal zu berücksichtigen. Vgl. auch Schenker 1956, § 277–283 und Fig. 130–135; New Grove 24, 624f. s. v. ›Stufe‹. Teiler (Tl., Quintteiler) Dominantklang (V. Stufe), der sich nicht in die Tonika auflöst. Die Stimmführung nach dem Teiler ist abgeriegelt. Dies wird durch zwei senkrechte Striche rechts vom
Glossar
Teiler angedeutet (Bild 19.19). Meist folgt auf den Teiler ein Zurückspringen in die Tonika des Anfangs (vgl. Schenker 1956, Fig 109, e3, T. 4f.), aber es können auch andere Klänge folgen (vgl. Schenker 1956, Fig. 130, 2 und 85 [in beiden Beispielen folgt dem Teiler eine IV. Stufe; diese IV. Stufe führt jeweils die I. Stufe des Anfangs fort, sie hat keinen Kontakt zum Teilerklang]). Lediglich die Auflösung der Dominante in ihre zugehörige Schlusstonika ist ausgeschlossen, denn dies würde Fortführung der Stimmen bedeuten. Vgl. Schenker 1956, § 279, Fig. 130; New Grove 7, 396f. s. v. ›Divider‹.
19.19 V
I
V
Zuweilen fungiert ein Klang der III. Stufe in ähnlicher Weise (›Terzteiler‹, vgl. Bach, Invention 6 BWV 777, T. 42 = Terzteiler, T. 43 = Zurückspringen in die I. Stufe), vgl. Schenker 1956, § 279 Ende (176), Fig. 131. Tieferlegung Ein gegebener Ton erscheint anschließend eine Oktave tiefer (Bild 19.20). Vgl. Artikel »Höherlegung«; Schenker 1956, § 151, Fig. 48 sowie § 239 und Fig. 107; New Grove 21, 105f. s. v. ›Register transfer‹. W 19.20
Tieferlegung
Tonikalisierung Ein Dreiklang, der nicht Tonika ist (eine andere Stufe als die erste), wird wie eine Tonika behandelt, d. h., er bekommt eine eigene Dominante mit Leitton, eine eigene Bassbrechung oder eine Hilfskadenz etc. Vgl. Schenker 1906, § 136ff. (337ff.); Schenker 1956, Fig. 155, 1 (Beethoven, op. 13/2), dort wird auf T. 23 hin Es-Dur tonikalisiert; New Grove 25, 602f. s. v. ›Tonicization‹. Übergreifen Ein nicht aus der Oberstimme stammender Ton (der frei eintreten kann) übersteigt die Oberstimme, die mit einem fallenden Schritt nachgibt; anschließend fällt der neue, höhere Ton selbst um eine Sekunde, wieder legt sich eine Stimme über ihn,
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die anschließend ihrerseits fällt etc. (Bild 19.21). Es ergibt sich eine Folge fallender Sekundschritte, wobei jeweils der folgende höher als der vorige liegt. Diese können auch nacheinander stattfinden (Bild 19.22). Stets wird die höhere Lage mittels einer anderen Stimme eingeführt, die jeweils stufenweise fällt. Aus dem Zusammenhang ist zu entscheiden, ob der erste oder der zweite Ton einer solchen zweitönigen Gruppe führt. Durch ein Übergreifen wird eine Lage festgehalten oder eine höhere erreicht. Vgl. Schenker 1956, § 129–134, Fig. 41, § 231f., Fig. 101; New Grove 20, 892f. s. v. ›Reaching over‹. X 19.21 Y 19.22
Übergreifzug Ein Übergreifen, das aus mindestens drei Tönen besteht. Übergreifzüge fallen stets; im Gegensatz zu sonstigen Zügen ist ihr Anfang frei, d. h., es gibt kein emphatisches (harmonisches) Verhältnis vom ersten zum letzten Ton. Vgl. Schenker 1956, § 232, Fig. 101 sowie Fig. 102, 7 (dort sind die kleinen Züge aus Noten ohne Hals Übergreifzüge). Übertragung der Ursatzformen auf Einzelklänge Mittels der verschiedenen Formen des Ursatzes (siehe die Beispiele im Artikel »Ursatz«) kann auch eine Passage oder eine lokale Tonart in einer Komposition auskomponiert werden. Die dort bestehende Ursatzform dient dann dieser lokalen Tonart, ist demnach nicht der Ursatz des Ganzen ( fungiert nicht als Ursatz). Vgl. Schenker 1956, Fig. 7b, T. 1–28. Vgl. auch Schenker 1956, § 242f. und Fig. 109. Unterbrechung Von Unterbrechung spricht man, wenn die Urlinie von der 3 oder der 5 bis zur 2 vorschreitet und anschließend in die Anfangsposition (3 oder 5) zurückspringt, anstatt in die 1 und damit in ihr Ende zu gehen. Von dem nun erreichten Anfangston aus (3 bzw. 5) wird in einem zweiten Anlauf die 1 des Schlusses erreicht (Bild 19.23). Bei der Position V2 handelt es sich folglich um einen Teiler. Diese Position der Unterbrechung kann daher als Sonderform (eventuell als Urform) des Teilers gelten. Vgl. Schenker 1956, § 87–101, Fig. 21–27; New Grove 12, 499 s. v. ›Interruption‹.
Glossar ohne...... ohne
33
22
19.23 ZZ
V
I
I
V
Unterbrechung mitmit Unterbrechung
3 3 2 2 3 32 I V I V
11
I
I
I
V
1 2
I
I
V
1
I
Eine Unterbrechung kann auch in einem untergeordneten Terz- oder Quintzug stattfinden, es ist jedoch stets die Stufenfolge I-( )-V || I-( )-V-I vorausgesetzt. Untergreifen Ein steigender Zug, der – in der Lage einer Mittelstimme beginnend – am Ende auf die in den vorigen Schichten definierte Oberstimme trifft. Im Gegensatz zum Übergreifen besteht ein Untergreifen aus mindestens drei Tönen. Insofern ist das Untergreifen streng genommen eher das Gegenstück zum Übergreifzug als zum Übergreifen. Vgl. Schenker 1956, § 135f., Fig. 42, § 233, Fig. 102; New Grove 17, 228 s. v. ›Motion from an inner voice‹. Urlinie Die Oberstimme des Ursatzes (Bild 19.24). Die Urlinie ist stets ein fallender Zug, der mit dem Grundton der Tonika endet. Als Urlinie kommen nur Terz-, Quint- und Oktavzug vor. In all diesen Formen ist der Terzzug enthalten, der demnach als die einfachste, zugrundeliegende Gestalt gelten darf. Die Zahlen mit Zirkumflex (5, 4, 3, 2, 1 etc.) stehen nur über Urlinietönen. Man kann sich den Urliniezug über einer liegenden I. Stufe des Basses vorstellen, dann kommt das Bewegliche des Urliniezuges unmittelbar zur Geltung. (Die V. Stufe in der Mitte der Bassbrechung kann als nachträgliche konsonante Stützung der 2 der Urlinie aufgefasst werden.) Durch die Urlinie wird der Begriff der Stimme fundiert. Vgl. Schenker 1956, § 4–14, Fig. 5 und auch New Grove 26, 157 s. v. ›Urlinie‹. BB 19.24
3
2
Terzzug
1
5
4
Quintzug
3
2
1
Immer wieder wird über denkbare steigende Urlinien diskutiert. Zu einer Klärung dieser Frage werden ausgiebige historische Studien notwendig sein. Insbesondere im Zusammenhang mit Werken von Komponisten des 19. Jahrhunderts, bei denen es
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schwierig sein mag, die fallende Urlinie zu finden, ist zu fragen, inwieweit diese Komponisten überhaupt in schenkerianischen Kategorien denken und hören. Ursatz Der Ursatz, bestehend aus Urlinie und Bassbrechung, ist – für sich genommen – der unausgeführte Begriff des Ganzen einer Komposition (Bild 19.25). Die tatsächliche Komposition führt den Begriff aus. Trotz seiner Dürftigkeit enthält er Kategorien, die für die Komposition wesentlich sind, z. B. Tonhöhe überhaupt, Oktave ( 1I ), Quinte (I– V–I, auch V2 ), Terz ( 3I ), Diatonik, Dreiklang, Unterschied tiefer und hoher Töne, Stimme (im Sinn von Stimmführung). Der Ursatz ist eine historisch begrenzte Fundierung musikalischer Grundbegriffe, die in jedem Stück dieser Epoche aufs Neue geleistet wird. Im Gegensatz dazu sah Schenker im Ursatz eine allgemein-menschliche, von Gott oder der Natur gegebene Struktur, deren Nichtvorhandensein in älterer oder neuerer Musik ihm als Indiz für deren Misslingen galt (vgl. z. B. Schenker 1921, 22–26 sowie Schenker 1956, 29 oben).
3 19.25 CC
2
I
V
5
I
I
1
4
3
2
1
V
I
Zu den besonderen Formen des Ursatzes und zur Abstimmung der erweiterten Bassbrechung mit verschiedenen Ursatzformen vgl. Schenker 1956, § 1–3, 20–44, 53–86, Fig. 9–11, 14–19; vgl. auch New Grove 26, 160f. s.v. ›Ursatz‹. Verbindungszug Zwei gleichzeitige Töne einer hinteren Schicht werden in der Schicht davor durch einen steigenden oder fallenden Zug miteinander verbunden (Bild 19.26). Es kann auch, wenn in der hinteren Schicht eine Stimme fortschreitet, in der vorderen Schicht der zweite Ton der genannten Stimme von einem Zug erreicht werden, der von einer anderen Stimme ausgeht (Bild 19.27). Es ist jeweils der Ort des Verbindungszuges auf der ihm voraufgehenden Schicht anzugeben (was verbindet er womit?). Schenker spricht in dem Zusammenhang auch vom »Gang [der Oberstimme] in eine Mittelstimme« oder umgekehrt vom Erreichen der Oberstimme von einer Mittelstimme aus (vgl. Untergreifen). Vgl. Schenker 1956, § 113–124, besonders § 122, § 203; vgl. auch New Grove 17, 228 s. v. ›Motion from an inner voice‹ sowie New Grove 27, 878 s.v. ›Zug‹.
Glossar ohne ...
19.26 DD
ohne ...
19.27 EE
mit Verbindungszug
mit Verbindungszug
Vermeidung von Chromatik, Dissonanzen, Parallelen, Querständen Dies sind Beweggründe, die die Entwicklung von Schicht zu Schicht beeinflussen und steuern. Zur Vermeidung von Chromatik und Querständen vgl. Schenker 1956, § 249 sowie Fig. 114; zur Vermeidung von Dissonanzen vgl. Schenker 1956, Fig. 50, 1 (übrigens kann schon die V2 des Ursatzes als Ergebnis einer Dissonanzvermeidung gelten, im Gegensatz zur Folge 3, 2, 1 über liegender I. Stufe); zur Vermeidung von Parallelen vgl. Schenker 1956, § 163f. sowie Fig. 53f.; vgl. weiterhin Schenker 1910, 176–198, 267–275; Brahms 1933. Vordergrund Bei Schenker wird dieser Terminus in verschiedener Weise gebraucht. In Der freie Satz stehen im Abschnitt, der ›Vordergrund‹ überschrieben ist, auch Züge, Brechungen etc., die sehr weite Strecken umfassen und insofern hintergründig oder wenigstens mittelgründig genannt werden können (z. B. Fig. 100, 5). – Andererseits wird auch die Schicht, in der Rhythmus, Figuren und Thematisches der Komposition sich herausschälen, Vordergrund genannt. Diese Schicht nennt Schenker auch ›Urlinie-Tafel‹. Vgl. New Grove 9, 87 s. v. ›Foreground‹. Zug Folge zusammengehöriger Töne in Form einer fallenden oder steigenden Tonleiter. Züge werden benannt nach dem Intervall vom ersten zum letzten Ton, demnach Terz‑,Quart-, Quint-, Sext-, Oktavzug. Der erste und der letzte Ton sind jeweils mehr befestigt als die anderen, die Durchgänge heißen. Es gibt ein emphatisches Verhältnis vom ersten zum letzten Ton eines Zuges. Der Zug ist die Grundform zielgerichteter Bewegung. Die Urlinie ist ein Spezialfall (der grundlegende) des Zuges. Vgl. Schenker 1956, § 203–229, Fig. 81–99; New Grove 27, 878 s. v. Zug. – Bei Quint-, Sext-, Oktavzügen gibt es manchmal Zwischenstationen (vgl. Schenker 1956, in den Fig. 88, 2; 89, 3; 92, 1b lauter untergliederte Züge).
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Septzüge erkennt Schenker deshalb nicht als eigenständige Züge an, weil der letzte Ton einen Tonschritt (plus Oktave) vom ersten entfernt ist, somit nicht in einem harmonischen Verhältnis zu ihm steht. Insofern spricht Schenker von »scheinbaren Zügen« (vgl. Schenker 1956, § 205–207, Fig. 82, 83).
Literatur Bach, Carl Philipp Emanuel (1762), Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, zweyter Theil, Berlin: George Ludewig Winter, Reprint Kassel: Bärenreiter 1994.
Bernhard, Christoph (1999), »Tractatus compositionis augmentatus«, in: Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers Christoph Bernhard, hg. von Josef Müller-Blattau, 3. Aufl., Kassel: Bärenreiter, 40–131. Brahms, Johannes (1933), Oktaven und Quinten u. A., hg. von Heinrich Schenker, Wien: Universal Edition.
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McKay Ayotte, Benjamin (2004), Heinrich Schenker. A Guide to Research, London: Routledge.
Salzer, Felix (2004), Strukturelles Hören. Der tonale Zusammenhang in der Musik (Taschenbücher zur Musikwissenschaft 10 und 11), 2 Bde., 4. Aufl., Wilhelmshaven: Noetzel.
Schenker, Heinrich (1906), Harmonielehre (Neue musikalische Theorien und Phantasien 1), Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger, Reprint Wien: Universal Edition 1978.
——— (1910), Kontrapunkt. Erster Halbband: Cantus firmus und zweistimmiger S atz (Neue musikalische Theorien und Phantasien 2 ), Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger.
——— (1921), »Die Urlinie, eine Vorbemerkung«, Der Tonwille. Flugblätter zum Zeugnis unwandelbarer Gesetze der Tonkunst einer neuen Jugend dargebracht 1, Reprint Hildesheim u. a.: Olms 1990, 22–26.
Glossar
——— (1925), »Joh. S. Bach, Sechs Sonaten für Violine. Sonata III Largo«, in: Das Meisterwerk in der Musik. Ein Jahrbuch 1, München: Drei Masken Verlag, Reprint Hildesheim u. a.: Olms 1974, 61–73.
——— (1956), Der freie Satz (Neue musikalische Theorien und Phantasien 3) [1935], 2. Aufl. hg. und bearbeitet von Oswald Jonas, Wien: Universal Edition.
Walther, Johann Gottfried (1732), Musicalisches Lexicon oder Musicalische Bibliotec, Leipzig: Wolffgang Deer, Reprint Kassel: Bärenreiter 1993.
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SACH R EGIS T ER DEU T SCH 5-6-Auswechslung (5-6-Kette, 5-6-Konsekutive): 72, 185, 190, 214, 301 Accento: 269 Actio: 261 Addition (als kompositorisches Verfahren): 256f. Als, apophantisches: 114, 117 Ästhetik: 5, 65, 103, 113f., 124f. – Gattungsästhetik: 61 – Musikästhetik: 188 – Ästhetizismus: 166 Affekt: 17, 305 Aktualität/Potentialität: 201 Alteration: 68, 83ff. – Alterationschromatik: 52 – Alterationsform: 108 Amerikanisierung: 164f. Analyse – funktionale (Beschreibungen, funktionale): 113, 122ff., 146, 196f., 204, 206f. – funktional-deiktische: 124 – motivisch-thematische: 11, 144, 291 – wissenschaftliche: 9f., 14f., 17, 122,163f., 169, 292f. Anhalten (als Terminus technicus): 95 Anstieg (als Schenker’scher Terminus technicus): 4, 93, 122, 193ff., 209f., 276f., 297 Appoggiatur: 93, 297 Arbeit, motivisch-thematische: 137 Arie: 149 – Da-capo-Arie: 63
– Opern…: 258 Arpeggio: 53, 212, 300 Artikulation: 59, 122f., 131, 147, 149f. – formale: 4, 8 Asymmetrie: 69, 82, 87 – Asymmetrisierung: 202, 206 Atonalität: 51, 264, 266 – Musik, atonale: 51, 104, 257, 265ff. Aufführung: 2ff., 9, 12f., 114–118, 120f., 123, 166 – Aufführungspraxis: 226, 255, 273f., 280, 285, 290 – Aufführungslehre: 256, 263 Augmentation: 60f. Ausdruck (als ästhetische Kategorie): 17, 160, 199 – Ausdrucksphänomen: 131 Ausfaltung: 4, 6, 11, 94, 140, 212, 297ff. Ausführung (als Schenker’scher Terminus): 94, 100, 298, 302, 304f. Auskomponierung: 90, 108, 190, 195, 206, 209f., 214, 216, 237, 299f. Aussage (im Kontext Theoriebildung): 14, 198, 203, 217 – Einzelaussage: 174 – Elementaraussage: 123f. – Aussageform: 202 – Aussagemenge: 172 – gesetzesartige: 170 Ausstreuung: 97f., 100 Autograph: 75f., 80, 85f.
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Sachregister Deutsch Axiomatisierung: 6, 177 Barock: 15, 130 – Kompositionen/Musik, barocke: 138, 148, 150, 151f., 154, 158, 160f., 275 Bassausfaltung: 94, 299 Bassbrechung: 91, 107, 119, 122f., 132, 140, 206, 212, 214f., 235, 245, 299ff., 307, 309f. Beobachtung (im Kontext Wissenschaftstheorie): 9, 14f., 123f., 168, 196f., 199–203, 205f., 208 Bewandtnis (als Terminus technicus): 125, 132 Brechung: 4, 6, 70, 95–98, 105, 108, 140, 143, 189, 194, 268, 299f., 302, 311 – Akkordbrechung: 159, 300 Chromatik: 81, 83f., 87, 186, 311 Coda: 57, 63, 284 Continuo: 237, 242 Contrappunto: 241–244, 248ff., 253f. Da-capo-Arie: 63 Decoratio: 261f. Deixis: 15f., 114, 119, 128 Dekontextualisierung: 170 Design – motivisches: 215 – von Theorie: 195, 197, 199, 202, 206f., 210, 213 Diagramm: 3f., 7ff., 9, 11f., 16, 140–144, 150, 152ff., 157, 159 Dichtmachung: 5, 98, 100 Diminution: 11, 97, 116, 118, 152, 185, 187, 195, 206, 218, 257–260, 262, 267, 285, 300, 303f. – Diminutionsmotiv: 187 Direktinterpretation: 172 Disambiguierung: 167, 176 Diskurs: 15, 121f., 163, 167, 169, 177 Dispositio: 261 – Disposizione: 239, 242, 248f., 251 Dissonanz (-bildung, -gehalt): 54, 77, 109, 167, 208, 211f., 214, 258, 262, 264ff., 267, 294, 311
– emanzipierte: 264ff. – harmonieeigene, harmoniefremde/akkordfremde: 8, 255, 263f. – Akkorddissonanz: 263f. – Dissonanzbehandlung (-auffassung, -verwendung, -gebrauch): 208, 215, 260, 262, 265 – Dissonanzketten: 72 Dominante: 55ff., 59ff., 67, 70, 77f., 80, 95, 106, 108, 152, 155f., 216, 219, 265, 274, 280–284, 306f. – Dominante, Prolongation der: 160, 280 – Dominante, strukturelle: 107, 280, 283f. – Dominantfunktion: 55 – Dominantklang: 54, 156, 306 – Dominant-Orgelpunkt: 281f. – Dominantregion: 59 – Dominant-Sekundakkord: 57 – Dominantseptakkord (Dominantseptklang): 53ff. 57, 75, 82, 92, 267 – Dominantseptnonenakkord: 82 – Doppeldominante: 84 – Moll-Dominante: 63 – Wechseldominante: 72, 75 – Zwischendominante: 57, 62, 71 Drama: 53 Dramaturgie: 53, 107 Dreiklang: 6f., 10, 54–57, 61, 63, 72ff., 77, 82ff., 97, 105–108, 193, 209f., 218f., 258, 264, 293, 307, 310 – übermäßiger: 103, 105–109, 127, 129–133 – verminderter: 71 Duole (als Schenker’scher Terminus): 95ff. Durchgang (Durchgangsdissonanz, Durchgangsgebilde, Durchgangsnote, Durchgangston): 6ff., 10, 13, 72, 75, 78, 82, 90, 92, 100, 119, 132, 158, 190, 208–212, 214ff., 218ff., 260, 263–268, 299ff., 311 Durchgangsakkord (-klang): 93, 265f. Durchgangsphänomen: 108 Durchgangsquartsextakkkord: 79ff. Dynamik: 3, 109, 160f., 204, 267
Sachregister Deutsch Eigenschaften, dispositionelle: 12f. Einfügung: 257ff., 262f., 267 Einheit, musikalische: 4–8, 13, 17f., 62, 70, 86, 121, 128, 141, 143, 147, 154, 160, 201, 206, 210, 212, 220, 265, 268f., 284, 291, 301, 305 Einstimmigkeit: 258, 298 Elementaraussage: 123f. Elaboratio: 261 Elocutio: 261 Emergenz: 212 Empirie: 113, 205 Endigungsformel: 17 Energie: 57, 62 – Energieschwung: 53 Entscheidung (als Terminus technicus): 92–94 Entwicklungsgenetik: 188, 191 Epistemologie: 195, 201 Erfahrung, ästhetische: 52, 119, 207 Exordium: 53f. Explikation: 171f. – Begriffsexplikation: 174 Exposition: 60, 138, 145, 150–156, 158f., 276, 278 Expressionismus: 51 Falsifizierbarkeit: 203 Feier (als Terminus technicus): 92–95, 125 Figuren: 261f. Form (-begriff, -bildung, -gebung, Großform): 5, 15, 52f., 55f., 61–64, 67, 83, 107, 136ff., 146, 148f., 154, 157, 160, 176, 190, 212, 216f., 291 – Formabschnitt, Formteil: 5, 17, 70f., 76ff., 84f., 137, 139, 144, 149, 154f., 211, 216, 258 – Formfunktion: 11, 283 – Formtypus: 135f. 148 – Formwirkung: 216 Form (im Sinne Spencer-Browns bzw. Luhmanns): 197, 201f., 205f. Formalisierung: 121f., 164, 174, 177 Fortpflanzungsfähigkeit: 289
Fortpflanzungstrieb: 184 Funktion (im Sinne Simons): 219f. Funktions-Typ: 145f. Funktionsbegriff: 196 Funktionalität: 8, 10, 15ff., 124ff., 130, 132, 135, 137–140, 146, 148ff., 152f., 157–161, 199, 205f., 220 – barocke (Ursatz-): 148–151 Ganzes: 5, 9, 16, 58, 89f., 95, 121, 123, 141, 144, 146f., 151, 183, 187, 188, 196, 197, 204, 220, 224, 282f., 291, 305f., 308, 310 – konkretes: 117ff., 123, 128, 197 – Relationsganzes: 213 – Satzganzes: 152, 157 Gegenbewegung: 59, 60, 76f., 79f., 82 Gegenstand, abstrakter: 3, 12, 137, 139 Geheimnis gelingender Tonkunst: 62 Generalbasszeitalter: 261f. Genie: 187f., 236, 291 Gesang, fließender: 184 Gewicht, metrisches: 152ff. Gliederung: 97, 135–138, 146, 148f. 154f. – dynamische: 154f. – metrische: 59, 92 – motivische: 268 Graph, analytischer/Schenker’scher: 2, 87, 150, 205, 208 Gregorianischer Choral: 258 Grundton, ausgeworfener: 298f. Halbzirkel: 97, 304 Harmonielehre (ohne Schenkers gleichnamige Publikation): 72, 74f., 79, 83f., 120, 144, 263ff., 267, 292ff. Hauptstimme: 274, 284f. Hemiole: 153 Heptaton: 220 Hexaton: 219f. Hierarchie: 90f., 257 Hintergrund (als Schenker’scher Terminus technicus): 5–8, 13, 92ff., 105, 108, 116,
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Sachregister Deutsch 120f., 141, 145, 147, 150, 152f., 157ff., 161, 206, 215, 276, 279, 298, 301f., 304f. Hineinhören: 141 Höherlegung: 4, 95, 125, 140, 277ff., 280, 285, 301–304 Hörer: 2f., 8, 12f., 15, 105, 108f., 137ff., 141ff., 151f., 159ff., 199ff., 205, 265, 274, 285, 291, 292 Horizontale: 120, 258 Horizontalisierung: 6f. Ideenassoziation: 183 Ideologie: 1f. – Ideologiekritik: 165f. Imitation: 76, 154 Incipit: 189ff. Information (als systemtheoretischer Terminus): 200 Interpret, Interpretation: 2ff., 8f, 11f., 14f., 52, 67, 109, 157, 159, 166, 172f., 185, 187, 217, 255f., 268f., 273, 277, 279, 281, 283–286, 289, 291, 294 Insertion (als kompositorisches Verfahren): 257f. Instantiierung: 137 Inszenierung: 105, 156, 160f. Interpretativität: 164 Intervallkonstellation: 188, 190f. Inventio: 261 Kadenz, 54, 57, 59, 61–64, 85, 95, 107, 114, 116, 120, 144, 151, 156, 158f., 190, 208, 210f., 218f., 258, 280f., 301, 306 – Hilfskadenz: 301, 307 – tenorisierende: 210f. Kategorien, dialektische: 129 Keim: 188, 195 – Keimzelle: 256f., 268, 278 Kernintervall: 53, 56, 191 Klang – Klangeigenschaft: 138, 140–146, 148ff., 152–157, 160f. – Klangwirkung: 7–13, 17, 53, 167
Klassizismus: 58 Klausel: 151 Klavierstück, lyrisches: 63f. Knoten: 97f., 100 Kognition: 165 – Kognitionswissenschaft: 203 Komplexität: 5, 13, 141, 168f., 174, 198f., 201, 206f., 212f., 216f. – Komplexitätsreduktion: 201, 207 – Komplexitätszuwachs (Komplexitätszunahme): 201, 204, 206f., 213 Kompositionstechnik: 103, 137, 188, 191 Konditionierung: 14, 202 Kontrapunkt (ohne Schenkers gleichnamige Publikation): 6, 60, 90, 176, 212, 256, 259f. Konsistenzgebot: 175f. Konsonantmachung (Konsonant-Machung): 6ff., 212, 214f., 281 Konstrukt (im Sinne Simons): 218ff. Kontingenz, doppelte: 199f. Konzertsatz: 149 Kopfton: 10, 36, 38, 43, 107, 119, 132, 152ff., 160, 193ff., 209, 212, 216, 218, 274, 276f., 279, 297, 302 Koppelung (Kopplung) – (im Sinne Schenkers): 4, 11, 94, 140, 302, 304 – (im Sinne Luhmanns): 202, 205 Kunstcharakter: 16, 64 Lage, obligate: 91, 193, 212, 279, 304 Logik – horizontale: 82f. – musikalische: 51f., 54, 58, 62, 64f., 99, 266f., 298 – der (Schichten-)Analyse: 121, 124, 159 – Kadenzlogik: 107 Lust (als Terminus technicus): 117, 119, 204 Manieren: 259, 262f. Material: 59, 63, 124, 281 – kompositorisches: 103
Sachregister Deutsch – künstlerisches: 115 – musikalisches: 51, 64, 124 – thematisches: 189 – Klangmaterial: 53 – Materialordnung: 105, 109 – Materialstand: 107f. Mediantbeziehung: 78, 83 Meisterwerk: 188, 291 Mehrstimmigkeit: 208, 258f. – latente: 283 Melodie: 58f., 69, 71, 73, 75, 80f., 84, 159, 265, 268 – unendliche: 61, 63 – Melodiebildung: 161, 258 – Melodielinie: 55 – Melodiestimme: 61, 78f., 85 – Melodiestruktur: 60 – Oberstimmenmelodie: 56, 58, 73 Memoria: 261 Messsatz: 149 Methode – empirische: 164, 169 – formalwissenschaftliche: 164, 169 Metrik: 16, 81, 139, 147f., 150, 153f., 160f., 174, 199 Mischung: 191, 302 Mittelgrund (als Schenker’scher Terminus technicus): vi, 5, 9, 13, 93ff., 116, 120f., 145, 150, 152ff., 158, 189, 211, 274, 276, 279, 298, 302ff. Modell – formales: 64 – [harmonisches]: 59, 72f., 81f. – heuristisches: 136 – satztechnisches: 17 – [strukturelles]: 67, 276 – Eintaktmodell: 78, 84f. – Rhythmus-Tonhöhen-Modell: 72 – Satzmodell: 211 – Schichtenmodell: 104, 206 – Sequenzmodell: 71, 73, 84 – Strukturmodell: 255f.
Modulation: 15, 283f. – chromatische: 83, 85 – diatonische: 83 – enharmonische: 83 – Modulationsgang: 56 – Modulationsprozess: 64 – Modulationsvorgang: 70 – Modulationsweg: 282 – Rückmodulation: 83f. Motiv: 11, 68, 70, 76, 91, 96–100, 138, 183– 187, 189f., 268, 278f., 283, 289, 293, 299 – verborgenes: 185 – Motivik: 161, 282 – Urlinie-Motiv: 184, 187 Musikgeschichte: 136 Musikhochschule: 1 Musiksemiotik: 294 Musiktheorie: 1f., 62f., 168f., 185, 216, 258, 261f., 289–295, 305 Musikwissenschaft: if., iv, 1, 15, 125, 136, 165, 170 Nachsatz: 59 Nebennote: 7, 22, 93, 105–108, 184, 187, 260, 263, 267, 268f., 277, 302ff. Nebenstimme: 274, 284 Neo-Riemannian Theory: 18 Notation: 3, 86, 105, 120 Obertonreihe: 208, 213 Oktavidentität: 213 Organismusmodell: 184 – Kunstorganismus: 207 – Ton-Organismus: 188 Ornament: 53, 257–263 Ornamentale, das: 56, 258ff., 263 Ornamentierung: 56 Ornamentik: 55, 60f., 255, 261ff. Ornatus: 261 Parallelen: 78, 258, 311 – Oktavparallelen: 90, 92f.
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Sachregister Deutsch – Quintparallelen: 75, 90, 92, 93f., 215, 301 – Sextparallelen: 56, 189 Parkplatz (als Terminus technicus): 125 Parte di canto: 247 Partialanalyse: vi, 53f., 58 Partimento: 238–241, 243f., 247, 250 Partitur: 2–5, 9–13, 89, 114–116, 120f., 140, 161 Penultima: 211 Periode: 54, 59f., 149 – Häkelperiode: 61 Pertinenz: 9, 11f., 117 Perzeption: 165, 167 Pitch-Class Set Theory: 104 Phase (als Terminus technicus): 145, 151–157 Phrasierung: 59, 274, 282, 284 Philosophie: 62, 171, 196 Pluralität: 176 Polemik: iii, 263, 265, 292 Prämisse: 53, 151, 164, 166f., 172ff., 176f., 264 Präzisierung: 167, 174, 176 Pragmatismus: 166 Prinzipialakkord: 130ff. Prolongation: 105–108, 148, 155, 160, 167, 173f., 211, 280ff. – dissonante: 108, 173 – Prolongationsformen: 108, 185f. Pronuntiatio: 261 Qualia: 13 Quartsextakkord: 60f., 82, 105, 144 – Auffassungsquartsextakkord: 216 – Durchgangsquartsextakkord: 79ff. – Vorhaltsquartsextakkord: 75, 80, 85 – kadenzierender Quartsextakkord: 57, 153 Quintsextakkord: 73f. 77 – übermäßiger: 15, 60 Rahmenintervall: 268 Rationalität: 10, 173, 175 – Rationalitätskriterien: 177
– Rationalitätsstandard: 172f., 177 Realität, kognitive: 164 Reduktion: 87, 116f., 144, 153, 218, 278 – Reduktionsprozess: 107 – Reduktionstechnik: 118 Re-entry: 204, 206 Reflexion: 120, 168f., 175, 177, 198 Register: 278, 280, 285 Rekonstruktion: 294 – Historische: 166, 195 – Rationale: 163, 169–177 Relation: 4, 54, 58, 90, 115, 120, 141ff., 164, 169, 195ff., 201, 206, 212f., 218, 301 – Großsekundrelation: 76 – Relationalität: 91, 143 Reprise: 56, 60f., 64, 85, 185, 193, 215, 217–220 – Repriseneffekt: 63 – Reprisenkomplex: 64 – Reprisenteil: 78, 85 Rezeption 14, 64, 119, 163, 165ff., 175, 177, 289f., 292f. Rhetorik: 59, 261 Rhythmik: 16, 52, 95, 174, 267 Rhythmus: 78, 96f., 183, 311 – harmonischer: 58, 281 – Bewegungsrhythmus: 59 Rückung: 305 Schicht (als Schenker’scher Terminus technicus): vii, 2, 4–9, 90–94, 96, 98, 116, 122, 125, 141ff., 145, 147, 150, 158f., 161, 183, 186f, 193, 195, 206, 209, 211, 214ff., 267, 293, 297, 298–303, 305f., 309ff. – Schichtenanalyse: 10f., 16f., 139, 141ff., 147, 150, 153, 159, 161 Schichtenlehre: i–v, viii, 103f., 163–171, 173, 175ff., 184f., 188, 291f., 294 Schönheit: 17 Sekundschritt: 72, 75, 78f., 86, 184, 190, 279, 308 Selbstreferenz: 200
Sachregister Deutsch Semantik: 191, 262 semper idem: 186 Sequenz: 59ff., 71, 73ff., 84ff., 152, 268, 280f. – Sequenzierung: 60, 70f., 74, 76, 81, 84ff. – Quintfallsequenz: 73f., 76, 152 – Sequenzmodell: 71, 73, 84 Sextakkord: 72f., 80f., 94f., 105, 107, 215, 219 Signifikat: 121 Signifikant: 121f. Singularität: 9f., 16ff., 118f., 137f., 145 Sinn (im Sinne Luhmanns): 201f. Skalenausschnitt: 268 Solfeggio: 239f. Solokonzert: 258 Sonaten – Sonatenform: vii, 16, 135–140, 145–149, 157, 160f., 185, 216, 288 – Sonatenhauptsatz: 148ff. – Sonatenmittelsatz: 149 – Sonatenschlusssatz: 149 Spannung (als ästhetische Kategorie): 17, 51, 55, 109, 207, 264, 267, 269 – Bogenspannung: 61 – Klangspannung: 54 – Spannungsakkord: 60 – Spannungsbogen: 281–284 – Spannungslösung: 77 – Spannungsverhältnisse: 57 – syntaktische: 62 Standardisierung: 14f. Stelle (als Terminus technicus): 93ff., 97, 99, 125 Stil: 16, 52, 136ff., 146, 148 – Personalstil: 15 – Prosastil: 61 – Stilkritik: 206 – Zeitstil: 15 Stimmführung: 15, 54, 76, 82, 95, 100, 105ff., 148, 167f., 184ff., 188, 194, 203, 216, 218, 220, 274, 299, 306, 310 – Stimmführungsbild: 89f. – Stimmführungskunst: 218
– Stimmführungsverwandlung: 120 – Stimmführungszwang: 214 Stimmkreuzung: 99 Stimmtausch: 15, 91, 93, 184, 306 Struktur – hierarchische: 257f. – ornamentale: 255ff., 264, 265, 267ff. – serielle: 255ff., 264f., 267 Struktur-Typ: vi, 4–7, 140f., 146 Stufe: 7, 11, 34, 38, 54f., 57, 59f., 62f., 67–77, 82f., 91, 94f., 106f., 109, 144, 149, 152, 155, 184, 189f., 210ff., 214–220, 235, 238, 279–284, 293, 299, 306f., 309, 311 – Stufengang: 55, 206, 209, 214, 306 Substanzbegriff: 196 Suitensatz: 147, 152, 160 Symmetrie: 59, 62f., 87 Syntax: 59, 61, 139, 155, 161 Systematisierung: 167, 172, 176 System – psychisches: 198f., 201f. – soziales: 196, 198f., 202, 206 – System/Umwelt: 201, 204 Systemtheorie: 195, 197–201, 204–207, 209, 212, 217 Taktgruppe: 97, 106, 139, 147, 149, 151f., 154f., 219 Tanzsatz: 149 Tetraton: 219 Teiler (Quintteiler): 123, 155, 215, 306ff. Theorienkonzept, strukturalistisches: 172, 174f. Tiefenpsychologie: 52, 62 Tieferlegung: 93, 95, 98, 140, 278ff., 302ff., 307 Ton – harmonieeigner: 6 – harmoniefremder: 6, 72, 263, 265, 300 – implizierter: 89 Tonalität: vii, 16, 70, 104f., 108, 124, 126, 139, 150, 153f., 167, 170f., 199, 217f., 264, 266f.
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Sachregister Deutsch Tonika: 53–61, 63f., 67, 70, 78f., 85, 92, 105ff., 144ff., 149, 151f., 155–160, 189, 191, 193, 209, 265, 306f., 309 – Anfangstonika: 149, 155, 157, 301 – Schlusstonika: 70, 146, 307 – Sextakkord, tonikaler: 215, 219 – Tonikalisierung: 92, 98, 100, 307 Tonfeld: 18, 109, 205, 217, 219f. Triebleben: 51f., 57, 62, 64, 264–267 Triton: 219 Tropus: 258 Übergreifen: 140, 158, 193, 282ff., 302, 307ff., – Übergreifmotiv: 283 – Übergreifzug: 6, 10, 185, 194, 216, 230, 232, 283, 308f. Übertragung der Ursatzformen: 186, 308 Ultima: 211 Umriss (als Terminus technicus): 95, 161 Umwelt: 196, 198f. Universität: ii, viii, 1 Unterbrechung (des Urlinie-Zuges): 147f., 193, 212, 216, 308f. Untergreifen: 140, 309f. – Untergreifzug: 97f., 195, 232 Urlinie: 28, 48, 58, 67, 90–94, 107, 119f., 123, 132, 140, 148, 151, 153, 155, 160, 184, 187, 193–196, 206–218, 220, 235, 274–277, 279f., 284f., 291, 297, 301f., 304, 308–311 Ursatz: 67, 89–92, 107f., 116, 118ff., 122, 125f., 131f., 147f., 150, 153, 164, 168, 186, 195, 197, 203, 206, 209f., 212–215, 217, 228, 235, 238, 245f., 251, 299, 301f., 305, 308–311 – Ursatzformen: 186, 203, 214, 301, 308, 310 Variation (Technik): 68, 72, 86, 278 Variation (formale Einheit): 59f., 149, 300 – Variationsatz: 149 – Variationsthema: 70 Vergrößerung (eines Motivs): 187, 189 Verkettung: 187, 189
Verkleinerung (eines Motivs): 187, 189 Verkürzung: 71f., 84, 86, 208, 211 – Verkürzungstechnik: 71f. Vernunft: 51f., 65, 115 Verwandlung (als Schenker’scher Terminus technicus): 5ff., 11, 90, 286, 300 Viertakter: 69f., 76, 84, 95, 219 Vordergrund (als Schenker’scher Terminus technicus): 9, 13, 17, 95–98, 107f., 118, 120f., 161, 185f., 195, 206, 215f., 285, 298, 301f., 304, 311 Vordersatz: 59 Vorhalt (Vorhaltsakkkord, Vorhaltsauflösung, Vorhaltsdissonanz): 54, 57, 72, 75ff., 100, 106, 108, 189, 208, 263, 268, 283 Vorhaltskette: 189 Vorhaltsquartsextakkord: 75, 80, 85 Vortragslehre: 255, 259 Weiterwirken (als Terminus technicus): 152f. Wert, epistemischer: 168 Wiederholung: 72f., 75f., 80, 97, 151, 183–186, 189, 257, 293 – variierte: 54, 56f., 77 – verborgene: 186 – Akkordwiederholung: 71 – Taktwiederholung: 77 – Tonwiederholung: 72, 75, 77, 79, 85f. Wien: ivf., viii, 263, 288, 293 Wissenschaft: 1, 16, 113, 117, 163f., 176, 203, 263 – empirische: 124f., 164, 203 – Geisteswissenschaft: 292 – Naturwissenschaft: 196, 292 – Wissenschaftlichkeit: 9, 14, 122, 163 – Wissenschaftstheorie: 166f., 170, 172, 177 Zirkumflex: 208, 309 Zug: 4, 11, 65. 92ff., 122f., 132, 140, 149, 185f., 193, 195, 209, 231, 267, 279, 285, 297, 299, 302, 308, 309–312 – Terzzug: 6f., 10, 58, 93, 97, 117, 120, 132,
Sachregister Deutsch 146ff., 154, 157f., 160, 185, 208f., 215, 274, 279, 301, 309 – Quartzug: 91, 94, 209 – Quintzug: 6, 10, 13, 25, 140ff., 147, 151, 156f., 190, 277, 309, 311 – Sextzug: 185, 311 – Septzug: 185, 312 – Oktavzug: 6, 15, 106, 274ff., 279f., 309, 311 – Dezimenzug: 274, 276, 279f. Zusammenhang (musikalischer): vif., 1–6, 8, 10–17, 54, 84, 100, 117–120, 137ff., 141ff., 145, 147, 149, 153, 155, 157, 167, 195, 197, 200, 205, 209, 216, 220, 265f., 301, 305, 306, 308 Zweistimmigkeit: 57, 97 – latente: 76 Zweitakter: 76f. Zwölftontechnik: 51, 256
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Sachregister Englisch
SACH R EGIS T ER ENGL ISCH 5-6 motion (5-6 model): 37, 247 accent – metric: 36 – expressive: 36 ambiguity: 36 appoggiatura: 245 archetype: 229 arpeggio: 34, 37 – arpeggiation: 185, 230, 300 – bass arpeggiation: 227f., 233, 245 ascent, initial: 297 autograph: 23 auxiliary cadence: 43, 45f. background: 232, 301 cadence: 24, 37, 38, 41, 43, 45f., 227f., 242f., 245, 247ff., 251f. – authentic: 25 – closing: 47f. – deceptive: 35 – final: 27 – formal: 227, 231 – half: 25, 34, 37 canon: 239, 241 clausula – altizans: 227–231 – bassizans: 227 – cantizans: 227–233 – formalis: 227, 230 – tenorizans: 227–233
coda: 42f., 48 – codetta: 37 composing-out: 22, 27f., 232, 245 conflict: 31, 43 conservative: 252 continuo: 237, 242 – imaginary: 28, 216 contrappunto: 241–244, 248ff. counterpoint: 227, 231, 235, 237ff., 241–252 coupling: 33f., 302 degree, harmonic: 227, 233, 235, 245, 249 design (vs. structure): 41–47 – motivic: 23 development [section]: 21ff., 37, 231 diminution: 230, 235–238, 245ff., 249–252 dissonance: 38, 208, 247 disposizione: 239, 242, 248f., 251 divider: 307 dominant: 22–25, 27f., 37f., 43–48, 232, 238, 245 – apparent: 44 – back-relating: 43f. – cadential: 45 – minor: 27 – missing: 23 – pedal: 22, 48 – pre-dominant: 43, 252 – preparatory: 27 – seventh: 33, 44, 230 – standing on the: 34, 38 – structural: 22, 232 drama: 32
Sachregister Englisch effects: 31ff., 35ff. elaboration: 34, 231, 238, 244f., 247 exposition: 21, 37f., 231 foreground: 26, 43–48, 311 form: 31, 41f., 235 – ABA: 28, 42 – large-scale: 42 – sonata: 22, 37 fugue: 29, 239, 241 gesture – cadential: 42ff., 46ff. – of excess: 36f. – opening: 28, 37 – tonicizing: 44 graph, analytical: iii, 44, 232 – graphic analysis: 23, 28 harmony: 22, 25, 27f., 28, 33f., 36ff., 42–47, 227f., 230, 232, 235–238, 242, 244, 249, 252 hermeneutics: 37 hierarchy: 44, 238 humanities: 163, 165 hypermeasure: 36, 44 imitation: 241, 243, 247f. implication-realization model: 165 information (vs. interpretation): 31ff., 35, 37 interpretation: 26, 31–32, 35–37, 46, 236 interruption: 34, 308 introduction (as a form-analytic term): 23–28 key: 21f., 25, 27ff., 37f., 41ff., 45f., 231, 237, 244, 248, 252 layer: 251, 305 line – fundamental: 38, 227–233 – structural: 36 listener: 22, 24f., 28f., 31, 42, 171
material: 44ff. – motivic: 41 – rhythmic: 41 – thematic: 41, 45 – transitional: 34 medial caesura: 138, 150, 155f. mediant: 23 melody: 26, 33, 36, 56, 58, 231, 235, 243f., 246ff. middleground: 26, 28, 34, 38, 43–47, 233 mixture (as a technical term): 38 modulation: 38, 43, 244, 246, 248 motion – from an inner voice: 309f. – to an inner voice: 43, 47, 230 motive: 24, 26f., 34 – high-level motive: 185 music cognition: 169 Neapolitan School: 238f., 248 neighbor (-note): 21f., 26f., 45, 229, 231ff. neighboring – chord: 37 – motion: 38, 231f. – six-four: 250 new musicology: 163 non-event: 21, 23f., 28f. norm (pre-compositional): 23, 31 notation: 28, 34, 230 note against note: 237, 247 octaves, parallel: 44 organicism: 22, 252 partimento: 238–241, 243f., 247, 250 performance: 28, 31ff., 35, 39, 236ff., 240, 250 – performer: 28, 31ff., 35f., 42 postlude: 23ff. progression: – bass: 22, 43f., 244, 247 – cadential: 45f., 219 – fifth: 38
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Sachregister Englisch – linear: 26, 185 – sequential: 44, 247f. – third: 43 – I–V–I: 237 – V-I: 42, 44, 46f. parte di canto: 247 passing – chord: 37 – effect: 34 – function: 26 – motion: 26f. – note: 229, 231 – tone: 44, 246 period (as a term of form theory): 41 pitch class: 47, 53, 104 phrase: 25, 33, 35, 37, 41–45 prolongation: 27, 43, 229, 235 – entities, prolongational: 41 – spans, prolongational: 42 reaching over: 308 recapitulation: 22, 45, 231 register: 29, 33f., 36f., 230, 232 – transfer: 34, 232, 302, 307 – obligatory: 304 relation (musical): 46, 228 – false relation: 231f. – relationship (musical): 170 reprise: 28, 34 research – cognitive: 31 – musicological: 239 ritornello: 27 science: 163f. sequence (as a technical term): 247 – sequential progression: 44, 247f. solfeggio: 239f. sonata – exposition: 38 – form: 22, 37
– forms: 149 – principle: 136 – style: 136, 146, 148, 160 – writing: 23 song: 21, 23–28, 36 space, tonal: 229, 231 species counterpoint: 235, 237, 245 stanza: 23ff., 27f. structure: 37, 41ff., 47, 229, 231, 233, 251 – basic: 238 – chordal: 246 – contrapuntal: 28, 238 – fundamental: 227ff., 230, 232f. – harmonic: 25, 47, 238, 244, 251 – harmonic-contrapuntal: 236 – middleground: 43, 47 – musical: 33, 235, – overall/overarching: 32, 231, 251 – rhythmic: 28 – tonal: 31, 238 – two-part: 229 – voice-leading: 38, 41, 45 style: 37, 241, 244, 248f. taxonomy: 31 texture: 25, 34, 41f., 244, 246f. theme: 22, 37f., 41, 230f., 248f. thoroughbass: 34, 228, 235, 237, 246, 250 tone, implied: 28f. tonic, apparent: 34 tonicization/tonicisation: 23, 27, 42, 232, 307 unfolding: 46ff., 228f., 231f., 298 variation: 229, 251 variations: 58 voice (line): 25–28, 36, 38, 41, 44f., 47, 216, 227f., 242, 244–249 – exchange: 38 – implied: 227, 244 – inner (voice, part, line): 36, 43, 47, 227–230, 232f., 244, 309f.
Sachregister Englisch – outer: 228, 244 – upper: 26, 36, 38, 227ff., 244–247 – voice-leading: 23, 36, 38, 41, 43ff., 227ff., 244, 248 – voice-leading transformations: 228f.
327
328 Personenregister
PER SON EN R EGIS T ER Adorno, Theodor W.: 1, 51f., 114, 266 Alfano, Franco: 250 D’Arienzo, Nicola: 250 Assafjew, Boris: 291 Ayotte, McKay: 297 Bach, Carl Philipp Emanuel: 58, 137, 235f., 298 Bach, Johann Christian: 156 Bach, Johann Sebastian: – BWV 29, Sinfonia: 282 – BWV 582: 304 – BWV 853: 184 – BWV 865: 276 – BWV 890: 29 – BWV 924: 208–211, 213, 232 – BWV 939: 89–101, 232 – BWV 940, No. 6: 275 – BWV 942, No. 12: 275f. – BWV 1005, Largo: 274f., 301 – BWV 1006, Preludio: 274f., 277–282 – BWV 1006a: 282 – BWV 1008, Courante: 276 – BWV 1009, Sarabande: 275 – BWV 1010, Bourrée: 35 – Choral No. 20 »Ein’ feste Burg ist unser Gott«: 276 – Choral No. 22 »Schmücke dich, O liebe Seele«: 276 – Choral No. 24 »Valet will ich dir geben«: 276 – Choral No. 44 »Mach’s mit mir, Gott, nach
deiner Güt«: 276 – Choral No. 46 »Vom Himmel hoch, da komm’ ich her’«: 276 – Choral No. 47 »Vater unser im Himmelreich«: 276 Baker, James M.: 104f. Banchieri, Adriano: 237 Barford, Philipp T.:136, 147 Bar-Hillel, Yehoshua: 168 Beach, David: 41, 276f. Beethoven, Ludwig van: iiif., viii, 12, 126, 137f., 148, 205, 213, 239, 269, 273 – op. 2/1, I: 187 – op. 10/1, I: 275 – op. 10/2, I: 21ff., 231 – op. 13/2, I: 307 – op. 31/2, I: 155 – op. 31/2, III: 306 – op. 31/3, I: 155 – op. 57, I: 142, 187 – op. 57, II: 70 – op. 101: 155 – op. 125: 155, 268 Bono, Paolo: 250 Bononcini, Giovanni Maria: 237 Boretz, Benjamin: 164 Brahms, Johannes: 21, 126, 137, 213 – op. 32/9: 275 – op. 96/4: 26ff. – op. 98, I.: 279 – op. 116/6: 82 – op. 118/3: 64
Personenregister Brown, Matthew: 167–171 Bühler, Axel: 172, 174f. Burkhart, Charles: 14 Cadwallader, Allen: 42, 183, 185 Cambouropoulos, Emilios: 168f. Carnap, Rudolf: 171, 174 Cassirer, Ernst: 196 Cennini, Cennino: 127 Chopin, Fryderyk – op. 7/5: 48 – op. 28: 67–87 – op. 41/1: 48 – op. 41/2: 48 – op. 52: 48 – op. 56/3: vi, 41–48 – op. 62: vi, 51ff., 65 – op. 62/1: 53–58 – op. 62/2: 54, 58–65 – op. 64/2: 188ff. Cohn, Richard: 52 Colbran, Isabella: 240 Cone, Edward T.: 136, 139, 147, 152 Conti, Claudio: 250 Dahlhaus, Carl: 11, 16, 59, 63, 136, 263 Darcy, Warren: 136, 155 DeBellis, Mark: 168 Diruta, Girolamo: 237 Doyle, Arthur Conan: 21 Drabkin, William: 7, 12, 231, 297 Durante, Francesco: 238, 243, 249 Dvořák, Antonin: 290, 294 Engel, Gerhard: 170 Erdmann, Eduard: 62 Eybl, Martin: v, viii, 11, 72, 207f., 210f., 290 Federhofer, Hellmut: i, 1 Fenaroli, Fedele: viii, 235, 238–252 Fink-Männel, Evelyn: v Fiodo, Vincenzo: 250
Florimo, Francesco: 240, 242 Forte, Allen: 104f., 109, 275f. Freud, Sigmund: 51f., 113 Frisius, Rudolf: i Froberger, Johann Jakob: 100 Fuchs, Peter: 199f. Fux, Johann Joseph: 235, 237, 242, 248f. Ganassi, Sylvestro: 237 Gargani, Giuseppe: 241f., 248 Gasparini, Francesco: 237, 250 Gilbert, Steven E.: 275f. Gjerdingen, Robert: 164 Goodman, Nelson: 2, 123 Greco, Gaetano: 239 Haas, Bernhard: 5, 91f., 122, 124f., 140, 144, 147, 152, 159, 161, 209f., 215, 217f. Haas, Bruno: 2, 4, 15, 140f., 144, 196f., 204ff. Haas, Robert: 236 Hába, Alois: 294 Händel, Georg Friedrich: 91, 147, 239 Halm, August: 155 Haydn, Joseph: 91, 137f. 156, 239, 252 – Hob. XVI:44: 185 – Hob. XVI: 52, II. Satz: 275 Heine, Heinrich: 26 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: 115, 140, 204 Hepokoski, James: 136, 155 Hoogstraten, Samuel van: 132 Hradecký, Emil: 293 Husserl, Edmund: 114 Jackendoff, Ray: 87, 164, 169 Jackson, Frank: 13 Janeček, Karel: 293 Janaček, Leoš: 294 Jiránek, Jaroslav: 291 Jonas, Oswald: ii Kalbeck, Max: 26, 28 Kallberg, Jeffrey: 52
329
330 Personenregister Kaufmann, Harald: i Kirnberger, Johann Philipp: 258 Keller, Wilhelm: i Kolneder, Walter: i Kurth, Ulrich: i Lakatos, Imre: 167 Larson, Steve: 207 Laufer, Edward: 230 Lavigna, Vincenzo: viii, 238–241, 244–246, 248–250 LeBrun, Charles: 128 Leo, Leonardo: 249 Lerdahl, Fred: 87, 164, 169, 203 Liszt, Franz: vii, 103–109, 126 – »Trübe Wolken«: 105ff. – »Trauervorspiel«: 107ff. Loos, Adolf: 263 Luhmann, Niklas: 15, 193, 195–199, 201–206, 209f., 212, 220 Mann, Alfred: 239 Marpurg, Friedrich Wilhelm: 258 Marquard, Odo: 62 Mattheson, Johann: 261f., 305 Mendelssohn Bartholdy, Felix: 100 – op. 19/6: 26 – op. 53/2: 36f. Messiaen, Olivier: 117 Meyer, Leonard B.: 164 Mozart, Wolfgang Amadeus: vii, 17, 91, 126, 135, 138, 144, 146f., 150ff., 159f., 199f., 239f., 289, 300 – KV 279, I: 149, 151, 154–157, 159 – KV 280 (189c), I: 144–146, 149–152, 154ff., 159 – KV 281, I: 149ff., 154ff., 159 – KV 282, I: 149ff.155, 157, 159 – KV 283 (189h), I: 149–154, 156, 159 – KV 284 (205b), I: 145, 149ff., 154–157, 159 – KV 310: 187 – KV 331, II: 275
– KV 331, III: 33 – KV 332, I: 155 – KV 458, III: 37f. – KV 504: 138, 217 – KV 527, 240 – KV 527, quartet »Non ti fidar«: 47 – KV 545: 230 – KV 550: 194 Muffat, Georg: 100 Narmour, Eugene: 164f. Neumeyer, David: 171, 213–218, 220, 276 Niedt, Friedrich Erhard: 237, 250 Nowak, Adolf: 52 Novák, Vítězslav: 290, 294 Oster, Ernst: ii, 167, 208, 276f. Pachelbel, Johann: 100 Paisiello, Giovanni: 240f. Pastille, William: 183, 185, 210f., 228f. Perahia, Murray: 273 Polth, Michael: 199ff., 216f. Popper, Karl Raimund: 167 Porpora, Nicola Antonio: 239, 252 Poussin, Nicolas: 126, 130 Priore, Irna: 230 Quantz, Joachim: 237 Rameau, Jean-Philippe: 236, 258 Reichenbach, Hans: 171 Riemann, Hugo: iii, viii, 120, 293 Riezler, Walter: iiif. Rognoni, Francesco: 237 Rosen, Charles: 42, 136, 148f. Rothstein, William: ii, 28, 33, 165, 216 Sala, Nicola: 249 Salzer, Felix: ii, vi, 41, 68, 104, 165, 207f., 274f. 290, 304 Salzer, Hedwig: 290
Personenregister Samson, Jim: 58, 60 Scarlatti, Domenico: 91, 236 Scarron, Paul: 126 Schachter, Carl: vf., 14f., 47, 174, 208, 238, 273 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: 52, 58 Schenker, Heinrich, Werke – »Die letzten fünf Sonaten von Beethoven« (Erläuterungsausgabe): iv, 273 – »Harmonielehre«: 164, 183f., 209 – »Kontrapunkt I«: 184, 211 – »Kontrapunkt II«: 26 – »Beethovens Neunte Symphonie«: iv – »Das Meisterwerk in der Musik«: 5, 22, 47, 185, 228, 263, 273, 275, 279, 285, 291 – »Neue musikalische Theorien und Phantasien«: iv – »Der freie Satz«: ii, 5, 89ff., 114, 116, 118, 120, 122, 124, 126, 140, 158, 183–186, 195, 208f., 212f., 235f., 275, 279, 297, 301, 306, 311 – »Free Composition«: 41, 47, 228ff. Schenker, Jeanette: 290 Schönberg, Arnold: viii, 51, 255, 258, 263–267, 292 – op. 17: 51 Schubert, Franz: – »Gefrorne Tränen«: 23ff. – »Letzte Hoffnung«: 24 – »Die Liebe hat gelogen«: 188ff. – »Der Neugierige«: 24 – »Die Krähe«: 275 – op. 94/4: 187 – op. 142/2: 33 – D 759: 44 – D 969/7: 215–219 Schumann, Robert: 12, 61, 63, 68f., 126, 211 – op. 9: 68 – op. 15, »Von fremden Ländern und Menschen«: 211 Schwab-Felisch, Oliver: 6, 72, 203 Sedlmayr, Hans: 127
Serrao, Paolo: 250 Simon, Albert: vii, 18, 124, 217, 219f. Šín, Otakar: 293f. Skuherský, František: 293f. Smetana, Friedrich: 289f., 294 Sneed, Joseph D.: 168, 172 Spencer-Brown, George: 197, 201 Speranza, Alessandro: 250 Spinelli, Nicola: 250 Stegmüller, Wolfgang: 168, 171–175 Štěpán, Václav: 294 Suk, Josef: 290, 294 Talich, Václav: 290 Tinctoris, Johannes: 260 Tobel, Rudolf von: 137 Tosi, Pier Francesco: 260 Tovey, Donald Francis: 23, 136 Tritto, Giacomo: 240, 250 Valente, Saverio: 240f. Verde, Saverio: 241ff., 245 Verdi, Giuseppe: 238, 240ff. Vojtěch, Ivan: 291 Volek, Jaroslav: 292 Wagner, Richard: 12, 51f., 63, 126, 240 Walther, Johann Gottfried: 97, 304 Weidner, Verena: 195 Weisse, Hans: 104 Wittgenstein, Ludwig: 120, 136, 147, 290 Zacconi, Ludovico: 237 Zarlino, Gioseffo: 237 Zich, Otakar: 294
331
Schenkerian Analysis Schenkerian Analysis Schenker Analyse nach Heinrich Analyse nach Heinrich Schenker
Oliver Schwab-Felisch / Michael Polth / Hartmut Fladt (Hg.) Oliver Schwab-Felisch / Michael Polth / Hartmut Fladt (Hg.)
OLMS OLMS OLMS OLMS
Schenkerian Analysis Analyse nach Heinrich Schenker II. Band Notenbeispiele und Diagramme
Studien und Materialien zur Musikwissenschaft Band 112.2
Schenkerian Analysis – Analyse nach Heinrich Schenker herausgegeben von Oliver Schwab-Felisch, Michael Polth und Hartmut Fladt
Georg Olms Verlag Hildesheim | Zürich | New York
2021
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. This work and all articles and pictures involved are protected by copyright. Application outside the strict limits of copyright law without consent having been obtained from the publishing firm is inadmissable. These regulations are meant especially for copies, translations, and micropublishings as well as for storing and editing in electronic systems. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier gemäß ISO 9706 Layout und Satz: Oliver Schwab-Felisch, Berlin Notensatz: Sofia Krastev, Ute Kleinschmidt, Notengrafik Berlin, Oliver Schwab-Felisch Umschlaggestaltung: Stefan Müssigbrodt, Berlin Korrektorat: Ulrike Böhmer, Hildesheim Herstellung: Hubert & Co.Herstellung: GmbH & Co. KG BuchPartner, Göttingen XXX Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany © Georg Olms Verlag AG, Hildesheim 2021 www.olms.de ISBN 978-3-487-14725-3
II. Band Notenbeispiele und Diagramme
Inhalt | Contents
Carl Schachter The Curious Incident of the Dog in the Night-Time: The Importance of Non-Events
1
Frank Samarotto Effects, Alternative Analytical Solutions, and Interpretation
15
Lauri Suurpää Structure and Design in Chopin’s Mazurka, Op. 56, No. 3: Voice Leading and Cadential Gestures
27
Hermann Danuser Triebleben oder Logik der Klänge? Über Chopins Nocturnes op. 62
41
Hartmuth Kinzler Das Präludium als Abriss der Harmonielehre – Eine Interpretation von Chopins Opus 28, Nr. 9
49
Bernhard Haas / Veronica Diederen Bach, Praeludium C-Dur BWV 939
53
Patrick Boenke Klangisolation und -projektion im späten Klavierwerk Franz Liszts
59
Michael Polth ›Sonatenform‹ als Funktionalität. Formbildung um 1775 aus post-Schenkerscher Perspektive
63
Bernd Redmann Zum Problem des Motivischen bei Schenker
73
Stefan Rohringer Schenker, Luhmann und das Problem der ›steigenden Urlinie‹
85
Nicolas Meeùs Fundamental Line(s)
89
Giorgio Sanguinetti Diminution and Harmonic Counterpoint in Late-Eighteenth-Century Naples: Vincenzo Lavigna’s Studies with Fedele Fenaroli
93
Martin Eybl Die ornamentale Struktur des Tonsatzes. Ornamentik als Grenzbereich zwischen Analyse und Vortragslehre
109
Paul Scheepers / Johannes Leertouwer Schenker und Bach – ein Zwiegespräch zwischen einem Interpreten und einem Musiktheoretiker
111
2
2
Carl Schachter
107 107 107
3 33
3 33
cresc. cresc. cresc.
3 33
3 33
f ff
113 113 113
sf sf
p p
121 121 121
130 130 130
decresc. decresc.
pp pp
pp pp
sf sf sf
p p
pp pp
ff ff ff
2.1 Ludwig van Beethoven, Piano Sonata in F major, Op. 10 No. 2, 1st mvt., mm. 107–140
3
30
I
The Curious Incident of the Dog in the Night-Time
2
55
V
69
77
91
99
(VI NN
107
IV NN
111
etc.
§IV7 ) V
ff decresc. p pp p
111
2.2 Beethoven, Op. 10 No. 2, 1st mvt., development recomposed to end on V
Nicht zu langsam
pp
2.3 Franz Schubert, Winterreise, D 911 / op. 89 No. 3, Gefrorne Tränen, original form of introduction
etc.
3
4
Carl Schachter Nicht zu langsam
pp
11
decresc.
fp
21
mei - ne
pp
Trä- nen,
und seid ihr gar so lau,
2.4 Schubert, Gefrorne Tränen
daß ihr er - starrt
ob es mir denn ent - gan - gen, dass ich ge - wei - net hab?
fp decresc.
Trä- nen
ab:
dass ich
Ge - fror - ne Trä- nen
pp
zu
Ei - se,
fal - len von
ge - wei - net hab?
wie küh - ler Mor - gen - tau?
mei - nen Wan- gen
decresc.
Ei
Und dringt doch aus der
The Curious Incident of the Dog in the Night-Time
31
Quel
le
39
-
der
(stark)
Eis,
des
als
Quel
-
le
der
Brust so
2.4 Schubert, Gefrorne Tränen (continued)
zer - schmel - zen des
p
fz
als
fz
Eis,
des
gan - zen Win -ters
woll - tet ihr
decresc.
fz
zer - schmel - zen des
cresc.
gan - zen Win - ters
f
glü-hend heiß,
gan - zen Win - ters Eis!
cresc.
woll - tet ihr
f fz
ihr dringt doch aus der
fz p
47
glü - hend heiß,
Eis,-
Brust so
gan - zen Win - ters
fz
fz
pp
5
6
Carl Schachter
e§ e§
4
(5) (5)
f
4
fb
eb
f: I I f: I I
5 5 (f:) III (Ab:) I (f:) III (Ab:) I
5
7
fb eb
f
5
7
III
IV
V,
I
III
IV
V,
I
35
6! 4
!
12
14 17 14 17
§6 5
§6 5
e§
5 39 5 - eb
e§ - eb
V? III§ V? III§
2.5 Schubert, Gefrorne Tränen, analytic sketch
III III Ab: III I III Ab: I
39
35
6 4
12
III III
4 4
IV IV
21
25
30
21
25
30
V? III§ V? III§
3 3
e§ - e b e§ - eb
V V 48 48
2 2 e§ e§
-
1 1 f f
V
I
V
I
5 5
(f:) III (Ab:) I (f:) III (Ab:) I
The Curious Incident of the Dog in the Night-Time Andante sostenuto
f
p
9
16
sa - ßen bei - sam -
men
trau
-
lich
im
-
leich
ten
2.6 Johannes Brahms, Four Songs, Op. 96 No. 4, Meerfahrt
p dim.
die
Nacht
war
Lieb
-
chen,
wir
still und wir schwammen auf
p
Mein
Kahn,
3
f
7
8
Carl Schachter
23
wei
30
-
ter
Was
38
Mon
-
-
glanz,
den
ser - bahn,
-
dort cresc. poco a poco ed animato sempre
2.6 Brahms, Meerfahrt (continued)
Die
Gei
p
-
gen
ster - in
-
klan
-
wei
allmählich immer lebhafter
auf
lie
ter,
-
die
- be Tö - ne und
sel,
wei - ter Was - ser - bahn.
-
ne,
f
schö
lag
wog - te der Ne - bel - tanz,
dämm' - rig
im
dort
The Curious Incident of the Dog in the Night-Time 45
klang
es
lieb
und lie - ber und wogt'
es hin
und
her.
53
-ü
ber,
wei
-
-
tem
f
Meer,
-
trost
Tempo I.
60
-
auf
2.6 Brahms, Meerfahrt (continued)
los
auf
wei
wei
p
-
-
tem,
-
wei
sf
Wir
dim.
a
-
ber
schwam - men
vor
tem
-
Meer,
tem Meer.
f
los
auf
-
-
trost
-
pp
wie zu Anfang
-
rit. poco a poco
sf sf
allmählich wieder langsamer
pp
9
10
Carl Schachter
a) a)
b) b)
(5) (5)
3 3
6 6
8 8
NB = 5
NB = 5
8
I8§ I§
# #
NN
(5)
NN 10 10
(5)
7 7
4
IV IV
4
3 3
13 13
6
V 46 V4
2( )
5
#
5
#
NB, The 5-4-3-2 motion into inner voice (see numbers between staves) is answered at the end of the song by the 5-4-3-2-1 descent of the Urlinie.
2.7 Brahms, Meerfahrt, analytic sketch of introduction
2( )
NN
?
PT
PT = = NN
?
The Curious Incident of the Dog in the Night-Time
a) a)
5 5
b) b)
( )
( )
( )
( )
15
17
19
22
23
25
27
29
32
15
17 5
19
22 5
23
25
27
29
32
5
5
( ) ( ) ( ) ( ) 6
#I 5
I (II
IV
V)
( = e:
(I
IV
V)
( = e:
2.8 Brahms, Meerfahrt, sketch of first stanza and interlude
66 #I 55 #IV 6 #IV 5
* 6
#5
6 II V4
#5
= II4 =
V
*
NB,
6 3
#3 #3
V V I) I)
chord substitutes for cadential
6 4
11
12
Carl Schachter
B - C#
a)
B - C#
a)
C#
34
b)
34
b)
a: V§
B - B - C#
= e: I a: V§
III,
= e:
III,
I
(E?)
-
D#
(E?)
41
37
D#
37
-
V#
41
(wir schwammen vorüber) F! (wir schwammen vorüber) F!
No,
No,
43
45
43
E: I V#
(V)
E: I
(V)
45
#5
(#VII #
48
48
5 5
53
53
#VII 7 )
III# #5 (#VII #
a: #VII77
III#
a: #VII
5 5
#VII ) 7
NB, The A!-major (really G#) chord of m. 44 represents the upper 3rd of Dominant harmony, as does the G# diminished 7th chord of mm. 48–52. Thus the entire passage composes out the V of a minor.
2.9 Brahms, Meerfahrt, sketch of second stanza and beginning of third.
I I I I
The Curious Incident of the Dog in the Night-Time
55
4 4
5 5
I I
2.10 Brahms, Meerfahrt, sketch of end
59
4
57
57
54
54
59 4
IV IV
3 3
2
2
1 1
3 3
62
2 2
64
62
6
V 46 V4
NN NN
NN NN
7 5 #7 5 #
1
64 1
6
I 46 I4
5 3 5 3
13
14
Carl Schachter
7
10
17
(5)
23
19
5
29
34
44
53
NN
( ) ( )
63
59
5 4 3 2 1
NN
NN
( )
I Intro
( )
I A
#5 (#VII #
V B
- 7 - §5 ) §
I A
IV
V
I
2.11 Brahms, Meerfahrt, middleground sketch of whole
a)
#VII
7
I
b)
s
#VII
w
7
s
etc.
I
s
w?
2.12 Brahms, Meerfahrt, sketch of bars 48–54
c)
#VII
7
w?
I
d)
s
w ? s
7
#VII
(anticip.)
I
3
16
Frank Samarotto
3.1.1 After Schenker, Free Composition, Fig. 35, 2: Mozart, Piano Sonata in A major, K. 331, 3rd mvt., mm. 1–24
3
p
3
2
3.1.2 Wolfgang Amadeus Mozart, Piano Sonata in A major, K. 331, 3rd mvt., mm. 1–6
Effects, Alternative Analytical Solutions, and Interpretation
#3
f
Either:
I6
Or:
I6
IV 56 V
IV 5 6 V
becomes
3.1.4 Mozart, K. 331, 3rd mvt., voice-leading schema for mm. 9–16
3.1.3 Mozart, K. 331, 3rd mvt., m. 25
becomes
Either:
VI VI
I6
I6
IV (5) 6
V
I
IV (5) 6
V
I
3.2.1 Johann Sebastian Bach, Cello Suite No. 4 in E flat major BWV 1010, Bourrée II, mm. 1–4, score with alternative harmonic analyses
I6
IV5
Or:
3
initial ascent
I6
IV 5
2
1
6
I6
V
VI
3
initial ascent
3rd prog
6
V
VI
IV (5) 6 V
3rd prog
2
I
1
I 6
IV (5) 6 V
I
3.2.2 Bach, BWV 1010, Bourrée II, mm. 1–4, alternative voice-leading analyses
17
18
Frank Samarotto
Allegro non troppo
sehr innig f
3
7
sfz
p
3
3
cresc.
f
13 p
sfz
sfz
f
19
cresc.
3.3.1 Felix Mendelssohn Bartholdy, Song without Words in E flat major, Op. 53 No. 2, mm. 1–21, score
sfz
3
Effects, Alternative Analytical Solutions, and Interpretation N. B.: sehr innig [!]
Either:
first goal
f
sfz
3
5
or:
second goal
second goal is the Kopfton as suspension
second goal is a superposition of an inner voice
3.3.2 Mendelssohn, Op. 53 No. 2, mm. 1–5, alternative melodic analyses
bass alone:
1
2
3
4
melody alone:
1
1
2
3
4
3.3.3 Mendelssohn, Op. 53 No. 2, mm. 1–5, alternative metric analyses
19
20
Frank Samarotto
Antecedent...
5
1
1
2
3
2
3
4
9
6
I ...overlaps with consequent
4
competing metric schemes:
II 7
8
9
V7
(cf. m. 1)
2
4
5
I
VI
8
1
4
6
7
8
2
3
4
6
4
II 5
V2
5
9
V7
17
(cf. m. 9)
(overlaps with next system)
15
VI
V2
IV
5
3
10
superposition of an inner voice
5
5
7th*
20
4
6
IV
7
8
6 II 5
I
6 V4
4 2
5 — 10
5 — 10
1 2
2
1
3
I6
becomes
4
V4
* This 7th is not a linear progression, but instead results from the inversion of the ascending 2nd G–A, thus:
8 6
II 6
3.3.4 Mendelssohn, Op. 53 No. 2, A section, mm. 1–21, voice-leading analysis
5 — 10
3
7 5 3
I
72
Effects, Alternative Analytical Solutions, and Interpretation
p
sfz
3.3.5 Mendelssohn, Op. 53 No. 2, mm. 72–end
3
3
3
21
22
Frank Samarotto
Adagio (p)
(p)
(p)
(p)
f sf p sf p
sf
p
p
f
6 p
f
p sf
cresc.
f
p
p
p
p
cresc.
cresc.
cresc.
p
sf
sf
sf
p
p
p
3 3
cresc.
sf
cresc.
cresc.
p
p
3.4.1 Wolfgang Amadeus Mozart, String Quartet in B flat major, K. 458, 3rd mvt., mm. 1–16, score
Effects, Alternative Analytical Solutions, and Interpretation
3 3 3 3
cresc.
f
cresc.
cresc.
f
cresc.
p
f
f
p
f
f
cresc.
f
p
p
f
12
p
p
p
cresc.
p
3.4.1 Mozart, K. 458, 3rd mvt., mm. 1–16, score (continued)
23
24
Frank Samarotto
3
3 3
3
3rd prog NN 3rd prog NN
4th prog 4th prog
NN NN
(I) (I)
VI VI
5th prog 5th prog
9 9 3rd prog 3rd prog PT PT NN NN
NN NN
3
(II77 ) ª
II 6 II 6
coupling coupling
V (II )cons. V PT ª cons. PT
5th prog
! !
3rd prog NN 3rd prog NN
B§-C B§-C
5— 5—
—6 —6
NN NN
VI VI
11 11
7 7
V7 I V7 I
5th prog
6 6
7 7
3
Cb-B b Cb-B b
I I
3
3
5 5 coupling coupling
6\ 6\
2
2
13 13
2
5 ¨6 ¨ 64 4
II5 II
3.4.2 Mozart, K. 458, 3rd mvt., mm. 1–16, voice-leading analysis, foreground
7 75 5
¨6 ¨ 64 4
7 (etc.) 7 (etc.)
5 5
2
7 7
V V
Effects, Alternative Analytical Solutions, and Interpretation
cf.
3
5th prog
PT
cons. PT
I
2
5th prog
6\
II
3.4.3 Mozart, K. 458, 3rd mvt., mm. 1–16, voice-leading analysis, middleground
3
I
2
PT
6\
II
V
3.4.4 Mozart, K. 458, 3rd mvt., mm. 1–16,
voice-leading analysis, deeper middleground
V
second theme
25
4
28
Lauri Suurpää
Moderato
mf
13
p
23
35
f
in tempo
f
p
4.1 Frédéric Chopin, Mazurka in C minor, Op. 56 No. 3
rallentando
Structure and Design in Chopin’s Mazurka, Op. 56, No. 3
dim. dim.
45 45 45
57 57 57
ff
dolce
67 67 67
ff
77 77 77
4.1 Chopin, Op. 56 No. 3 (continued)
ff
dolce
33 3
33 3
p
p
sempre sempre legato legato
29
Lauri Suurpää
3 f sostenuto
86
111
123
4.1 Chopin, Op. 56 No. 3 (continued)
p
p
f
98
30
p legato
Structure and Design in Chopin’s Mazurka, Op. 56, No. 3
132
142
fz p
f
p
rallentando
in tempo
153
164
4.1 Chopin, Op. 56 No. 3 (continued)
31
32
Lauri Suurpää
175
fz p 198 209 dim. 187
4.1 Chopin, Op. 56 No. 3 (continued)
Structure and Design in Chopin’s Mazurka, Op. 56, No. 3
66
a) a)
1
22
3
55
66
10 10
14 14
23 23
25 25
26 26
18 18
23 23
25 25
99
10 10
13 13
14 14
26 26
3
2
b) b)
(V) (V)
II 55
4.2 Chopin, Op. 56 No. 3, mm. 1–26, voice-leading sketch
6 6
5 II II 5
V V
33
(V) (V)
II
33
34
Lauri Suurpää
a) a) 1 a)
2 b)
8
8
8 8 8
8
53 53 53
8
7 C : V5
7 C : V 5 75 C : V
(26-48) (26-48) (26-48)
49 49 49
(8
(8
I (8 I I
8)
8)
10 8
10 8 8) 10 8
52 52 52
5
5
53 53 53
57 57 57
8
5 8
5
5
7? 7? 7?
4.3 Chopin, Op. 56 No. 3, mm. 49–75, voice-leading sketch
6 4 6 4 6 4
8
5
56 56 56
72 72 72
8 8
8
8 8
69 69 69
57 57 57
as if as if as if
b) b)
49 49 49
5 7 3 5 5 7 3 5 5 7 3 5
67 68 67 68 67 68
69 69 69
NO! 6
NO! 6 NO! 6
(=B : V (=B : V (=B : V
72 72 72
73 73 73
VII VII I)VII I)
I)
Structure and Design in Chopin’s Mazurka, Op. 56, No. 3
a)
1 a)
7
5 5
7
3
enharmonic reinterpretation 72)
3 b) 2
b)
(1
72)
121
124
121
I VII I
enharmonic reinterpretation
(1
124
127 127
129 129
VII
4.4 Chopin, Op. 56 No. 3, mm. 121–38, voice-leading sketch
132 132
134 134
10 10
V6 V6
8 136 8
7 7
138
138
N 3
N 3 10 10 10 10 10 10 10 10 whole steps 136
whole steps
V7
I
V7
I
35
36
Lauri Suurpää
172
172
173
173
176
I
176
V6
bII
V6
bII
I
4.5 Chopin, Op. 56 No. 3, mm. 172–89, chordal reduction
172 1 a) 172
a)
I I
175 187 188 175 187 188
bII bII 6 V bII bII 6 V
189 189
I I
172 176 188 172 176 188 2b)
b)
I I
V6 V7 V6 V7
189 189
I I
4.6 Chopin, Op. 56 No. 3, mm. 172–89, two implausible interpretations
181
180
180
6 6
181
Eb : V?
Eb : V?
186
NO!
NO!
186
4
187
187
6
VII 3 / bII bII 4
188
188
VII 3 / bII bII6
V
V
189
189
I I
Structure and Design in Chopin’s Mazurka, Op. 56, No. 3 1a)
V
I
2 b)
V
I
3 c)
V
I
4 d)
V
I
1
172
a)
a)
3
3
175 187
176 188
189
175
176 2 188
189
(b2) 187
2
I
6 II
V
I
II 6
V
(b2)
V
I
4.7 Some forms of unfolding
172
1
172
2
(b2) 187
I
6
3
I
I
1
I
b)
176 188
3
172
b)
175 187 175
(b2)
176 2188
2
bII
V
Db bII 6 F
B§ V G
Db F
B§ G
4.8 Chopin, Op. 56 No. 3, mm. 172–89, voice-leading sketch
189
189
1
1
172
3
c) c)
175
3
( 2)
3
( 2)
172
175
176
187
188
189
187
188
189
176
2
2
I§
I
bII
V6
I§
I
Db bII
B§ V6
Db
B§ unfolding unfolding
1
bII 6
1
V
I§
bII 6 F
V G
I§
F
G
37
38
Lauri Suurpää
4
d)
175
176
(1-171) 172
5
e)
2
3
175
I
/ 0
D
186
187
188
189
Cb
176
180
187
188
2
II
181
B§
180
V6 B
4.8 Chopin, Op. 56 No. 3, mm. 172–89, voice-leading sketch (continued)
II6 F
V G
189
1
I
Structure and Design in Chopin’s Mazurka, Op. 56, No. 3 23
26
57
69
72
105
121
138
N
3
3
136
I
bVII
V
A1
B
A2
4.9 Chopin, Op. 56 No. 3, middleground graph
I
159
162
175 187
189
2
1
II 6
V
( 2)
176 188
I
Coda
39
5
Hermann Danuser
11 11 11
3 33
3
3 3
3
5.1 Frédéric Chopin, Nocturne H-Dur op. 62 Nr. 1, T. 1–12
3 3
dolce legato dolce legato
dolce legato
7 7 7
f f f
Andante
Andante Andante
42
Triebleben oder Logik der Klänge? Über Chopins Nocturnes op. 62
pp
f
rall.
5.2 Chopin, op. 62 Nr. 1, T. 26–29
Â
36
sostenuto
5.3.1 Chopin, op. 62 Nr. 1, T. 36–38
fz p
[]
3
25
43
Hermann Danuser
66
poco più lento cresc.
44
dolce
dim.
5.3.2 Chopin, op. 62 Nr. 1, T. 66–69
74
6
5.4 Chopin, op. 62 Nr. 1, T. 74–77
pp
dim.
rallent.
tempo primo
Triebleben oder Logik der Klänge? Über Chopins Nocturnes op. 62
90
(calando)
(
)
5.5 Chopin, op. 62 Nr. 1, T. 90–94
Lento
sostenuto
5.6.1 Frédéric Chopin, Nocturne E-Dur op. 62 Nr. 2, T. 1–4 (Oberstimme)
3
8
6
dolce
5.6.2 Chopin, op. 62 Nr. 2, T. 8 (Auftakt)–12 (Oberstimme)
( )
45
46
Hermann Danuser
24
30
p
dim.
3
f
5.6.3 Chopin, op. 62 Nr. 2, T. 25–32 (Partitur)
ten.
p
pp
cresc.
( )
Triebleben oder Logik der Klänge? Über Chopins Nocturnes op. 62
57
cresc.
in tempo
dim.
p
pp
5.7 Chopin, op. 62 Nr. 2, T. 57–61
31
3
f
ten.
5.8.1 Chopin, op. 62 Nr. 2, T. 31–32
3
68
p
3
f
( )
ritenuto
in tempo
3 3 3 p
5.8.2 Chopin, op. 62 Nr. 2, T. 68-70
47
6
Hartmuth Kinzler Largo
œ ? #### c œœœ œ œœ œœœ ™ œ œœœ œœœ œ œœ œœ œ œœ
{
? #### c
5
? ####
{
? ####
f 3
œœ œ œœ ™ œœ œœœ œœœ
œœœ œœ œœ ™ œœ œœ œœ œœœ œœ œ œ œœœ œœ
3
œ œ ° *°
œ *°
œ ™™ *
œ ˙ °
œ *°
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œ ™™
œ
œ * °
œœœ œœ œœ ™ œœ nœœ œ œœ ™ œœ nn œœ œ bn œœœ œœ œœœ œ œœ œœœ ™ œ œœœ nœ nœ œ œ œ œnœ œ œ œ œ œ
# œœœ
*
œ
Ÿ~~~ œ #œ œ œ ° *°
œ * ° °
nœ *°
œ ™™ œ * ° *°
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Ÿ~~ œ œ ‹œ œ œ # œ œ œ. œ. . . *° *
bœ nœ œœ b œœœ ™ œœœ bn œœœ nœ œœ œœ nœ œœ n b œœ b œœœ nœœœ ™ bb œœœ œœ ™ b œœ # nœœ ™ n œœ œ œ bœ œ œ # œ nœ œ ff
cresc.
œ
œœœ œœ #œœ ™ œœ nœœ œ œœ ™ œœ œ œ œ œ œœœ œ œ œ
œœ œ œœ ™ œœ œœœœ œœ
nœ ™™ nœ œ * °
nœ nœ *° * °
nœ ™™ b œ œ ™™ b œ *
œ œ °
n œ ™™ n œ ™™ *°
œ nœ bœ œ nœ bœ * ° *°
b˙ b˙ * °
decresc.
*
bœ °
U ™™ 9 œ œ˙ nœ ™ œ nœ œ ™™ œ œ # œ ™™ œ œ ™™ ? #### nœœœ œœ œœœ ™™ œœ œ œœœ œœ n œœœ nœ œœ nn œœœ nœ œœ nœœœ œ œœ œ œœœ œ œœ b œœ nœ œœ b n œœ nœ œœ #œœ œ œœ n œœ œ œœ œœ #œ œœ #œœ œ œœ œœ œ œœ ˙˙˙ œ œ œ
{
? ####
r i t e n u t o p
œ ™™ œ nœ œ œ ™™ nœ ° *° * ° *°
cresc.
œ nœ nœ œ nœ nœ * ° *°
6.1 Frédéric Chopin, Prélude E-Dur op. 28 Nr. 9
b œ ™™ œ b œ ™™ œ *° *°
œ nœ nœ œ nœ nœ * ° *°
ff
nœ ™™ œ œ n œ ™™ œ ˙ œ ˙ * ° *° * °
∏∏∏∏
50
œ
˙˙ ˙ u
nœ *°
*
Das Präludium als Abriss der Harmonielehre
&
2
bb w w w w w
1.T.t. 1. 6 6 3 1
ww w w
w bw w w
bw w w w
bw w w w
2. 2. T.t. 77
bb ww w w
6.2.1–3 Chopin, op. 28 Nr. 9, analytische Diagramme
w bb w w w
w bb w w w
3.T.t. 6/7 3. 6/7
w w w bw
w bw w bw
bw ww w
bb w ww w
51
7
54
Bernhard Haas und Veronica Diederen
Präludium Präludium Präludium Präludium
7.1 Johann Sebastian Bach, Präludium C-Dur BWV 939
BWV 939
BWV 939 BWV 939 BWV 939
T. 4 T. 1
11 9
I
I
V
8
12
3
I5
4
6
–
14
1
I
I
2
3
5 – 5 – IV – V –
4
I
9
7
I
8
–6
4
10
10 11
12
9
10 11
zug
12
5
13
6 4
II #3 V 3
14
15
zug
5–
Anstieg
1
I
2
3
4
5 –
7.2–15 Bach, BWV 939, analytische Diagramme
6– 5
5
G-Dur V
5– 8–
II 10
IV(Nbn) V
Quartzug
8
–5
9
16
11
V8
–
4 1
16
–7
t 6
8
5– 8–
I
4
6
7
9
4
5–
Quartzug
6
5–
6–
11
12
Quartzug
5
Terzzug
11
6
7
–
9
–5
II
V II#3
I V
10
11 zug g'-h°
12
13 Terz-
I(Dg)
14
1
Terzzug
Terzzug
9
5
7
8
8
5
5
16
12 13 15
2 2 h°-d'' zug T zugerz- Terzzug zug d''-f' Terz-
10
9
–5 –8
8
11
I
15
–5 –8 #3
I
3
15
6
bis
3 2
4 1
11
2 1 Terzzug 2 zug
13
9
7
g'
Terzzug
5 –8
8
Terzzug 3
1
6
2 1 Terz- zug
3 t
Terz-
9
–6–
5– 8–
1
8
4 1
11
-
-
7
Terz
6
10
6
Quartzug
-
4 1
9
5
I 9
4 1
16
t
11 9
4
Terz
V
3 2 1 4 1
16
I
3
rz-
3 2 1 2
Te
Bach, Praeludium C-Dur BWV 939
15
IV
V
h°
16
I
55
56
Bernhard Haas und Veronica Diederen
16
4
17
1
5
5
2
7 5 2
4
14
I (Dg)
IV
6
12
5
G-dur
1
7
13
1
9
7
8
– 6 I5 – 6 V5
II VI
V II#3
5
2
10
3
2
12
10
5
6 4
9
I3 V
7
11
6
Terzzug h'- d''
Terzzug c''- e'' (Anstieg)
22
8
7.16–22 Bach, BWV 939, analytische Diagramme
4
I
Quartzug e''- h'
18
6
V II#3
16
V
15
21
6
13
20
8 – 3
2
8 – 3
4
7 5 –
Quartzug e''- h'
– – 2
6 4
19
5 3
12
3
11
I
2
5
3
– – 2
8
Quartzug e''- h' 3 4 5
13
Bach, Praeludium C-Dur BWV 939
14
3
8
27 a)
4
b)
1
9
c) 6
e)
7
d)
8
9
28
10
1
24
16
2
4
25
13
12 *
6
4
5
6
7
30
d)
T. 14
7.23–33 Bach, BWV 939, analytische Diagramme
T. 14
13 *
13
6
14
13
33
8
32
3
5
14
26
29
2
31
11
14
13
3
3
1
3
2
5
15
Untgrzug
3
Untgrzug
23
16
2
1
1
2
14
7
15
T. 2
57
8
60
Patrick Boenke
Andante Andante
p p
25 25 25
34 34 34
p p p
13 13 13
sempre sempre legato legato
8.1 Franz Liszt, Trübe Wolken S 199
tremolando tremolando tremolando
Klangisolation und -projektion im späten Klavierwerk Franz Liszts
rallentando
8.1 Franz Liszt, Trübe Wolken S 199 (Fortsetzung)
1
5
21 21
2525
2929
9
11
5 9 11 5 9 11 3333
19
19 19
3737
4141
4747
8.2 Liszt, S 199, analytisches Diagramm
p
42
61
62
Patrick Boenke
Andante lugubre Andante lugubre
p p
10
10
p p
sempre
sempre
mp pesante
mp pesante
ff accentuato assai e doloroso ff accentuato assai e doloroso
8.3 Franz Liszt, Trauervorspiel S 206
3
5
Nbn.
Nbn.
8.4 Liszt, S 206, analytisches Diagramm
7
15
Nbn.
Nbn.
17
cresc. cresc.
marcato
marcato
f
f
10
64
Michael Polth
1 6.3 5 10.3
12
12.3
12.4 15
18
16
20
30
31
10.1.1 Wolfgang Amadeus Mozart, Klaviersonate C-Dur KV 279, I. Satz, T. 1–38, Hintergrund
1
6.3 10.3
5
12
12.3
12.4 15
15.3
15.4
16
18
20
21
25.3
30
31
10.1.2 Mozart, KV 279, I. Satz, T. 1–38, erste Schicht nach dem Hintergrund
1
5
6.3
(7) 8.3
10
10.3
12
12.3
12.4 15
15.3
15.4
16
10.1.3 Mozart, KV 279, I. Satz, T. 1–38, Mittelgrund
17 18
19
20
20.3 21
24.3
25
25.3
30
31 33
31.3
32 34
32.3
35 38
›Sonatenform‹ als Funktionalität
1 6
7 10
13 17
27
42.3
43 48
47 53
54
10.2.1 Wolfgang Amadeus Mozart, Klaviersonate
F-Dur KV 280, I. Satz, T. 1–56, Hintergrund
1 6
7 10
13
17
27
30.3 34.3 42.3
43 48
47 53
54
10.2.2 Mozart, KV 280, I. Satz, T. 1–56, erste Schicht nach
dem Hintergrund
1 6
7 10
8 11
9 12
13
15
17
23
26
27 28 30.3 34.3 40 41
10.2.3 Mozart, KV 280, I. Satz, T. 1–56, Mittelgrund
42
43 48
46 47.2 51 53.2
44 49
45 50
54
65
66
Michael Polth
1
4
7
8
12.2
(15) 16/17
18
33
34
10.3.1 Wolfgang Amadeus Mozart, Klaviersonate
B-Dur KV 281, I. Satz, T. 1–40, Hintergrund
1
4
7
8
10 12
12.2 13
14
(15) 16/17
18
20.2 21
Nbn.
22 26
30
31 33
34
10.3.2 Mozart, KV 281, I. Satz, T. 1–40, erste Schicht nach dem
Hintergrund
1
3.2
4
7
8
9 10 12.2 13 11 12
14
15
16
17
10.3.3 Mozart, KV 281, I. Satz, T. 1–40, Mittelgrund
18
Nbn.
19 20.2 21
22
26 27
30
31 33
34 36
35 37
38
›Sonatenform‹ als Funktionalität
1
3.4
4
9
8
12.4
13
14.4
15
10.4.1 Wolfgang Amadeus Mozart, Klaviersonate
Es-Dur KV 282, I. Satz, T. 1–15, Hintergrund
1
3.4
4
9
8
12.4
13
14.4
15
10.4.2 Mozart, KV 282, I. Satz, T. 1–15, erste Schicht nach dem
Hintergrund
3.4 1 2
4
4.3
5.3
6.3
10.4.3 Mozart, KV 282, I. Satz, T. 1–15, Mittelgrund
8
9
12
12.3
13
14
14.3
14.4
15
67
68
Michael Polth
1
9/10 15/16
22
23 27
26 30
31
50
51
10.5.1 Wolfgang Amadeus Mozart, Klaviersonate
G-Dur KV 283, I. Satz, T. 1–53, Hintergrund
1
8.3 14.3
9.2 15.2
10 16
22
23 27
26 30
31
37 42
43 45 48
47 50
51
10.5.2 Mozart, KV 283, I. Satz, T. 1–53, erste Schicht nach dem
Hintergrund
1
5 11
6 12
7 13
8 14
8.3 9.2 14.3 15.2
10 16
17
22
23 25 27 29
10.5.3 Mozart KV 283, I. Satz, T. 1–53, Mittelgrund
26 30
31
32 35 36 (38) 40 41
37 42
43 45
50
47
48
51
›Sonatenform‹ als Funktionalität
1
4
9
12.4
17
22
(34) 37
38 41
49
50
10.6.1 Wolfgang Amadeus Mozart, Klaviersonate
D-Dur KV 284, I. Satz, T. 1–51, Hintergrund
1
4
12.4
7
9
17
22
(34) 37
38 41
40.4 43.4
(44) 45.3
49
50
10.6.2 Mozart, KV 284, I. Satz, T. 1–51, erste Schicht nach dem Hintergrund
1
1.3
(3.4) 4
7
9
10.3
12.3
12.4
13
17
28
22 27
10.6.3 Mozart, KV 284, I. Satz, T. 1–51, Mittelgrund
29.4 (30) 34
35.4 37.4
38 41
39 42
40 43
40.4 43.4
(44) 45.3
49
50
69
70
Michael Polth
Ia
IIa
Ib
IIb
10.7 Terzbewegungen
10.8.1 Mozart, KV 279, I. Satz, T. 30–32
10.8.2 Mozart, KV 281, I. Satz, T. 38–40
›Sonatenform‹ als Funktionalität
10.8.3 Mozart, KV 282, I. Satz, T. 14–15.
10.8.4 Mozart, KV 284, I. Satz, T. 48–51.
10.8.5 Mozart, KV 280, I. Satz, T. 42–43.
10.8.6 Mozart, KV 283, I. Satz, T. 15–16.
71
12
74
Bernd Redmann
12.1 Heinrich Schenker, Fig. 1 zu »J. S. Bach: Präludium es-moll aus dem Wohltemperierten Klavier Band 1«, Der Tonwille 1 (1921), 38
Zum Problem des Motivischen bei Schenker
Sonata Sonata
Hob. XVI: 44 Hob. XVI: 44
Sextzug Terzzug Übergreifzüge Terzzug 3 Sextzug Übergreifzüge 3 3 3 3 3 3 3 3 3 Septzug 7 Septzug 7 13 Sextzug 13 Sextzug 3 3 3 3 5 - 6 Auswechslung 5 - 6 Auswechslung 17 17
Moderato Moderato
Diminutionswechsel Diminutionswechsel
12.2 Joseph Haydn, Sonate g-Moll Hob. XVI/44, I. Satz, T. 1–20 mit Einzeichnung der von Schenker im 2. Meisterwerk-Jahrbuch auf S. 48 beschriebenen Motive
75
76
Bernd Redmann
12.3.2 Heinrich Schenker, Der freie Satz, Fig. 119/20: Graph zu Beethoven, Sonate op. 57, I. Satz, T. 1–36 Allegro assai
12.3.1 Heinrich Schenker, Der Tonwille 7 (1924), 4, Fig. 2: Beethoven, Sonate op. 57, I. Satz, T. 1–36: »Ursatz und [...] nächste Prolongation«
pp
12.3.3 Ludwig van Beethoven, Klaviersonate f-Moll op. 57, I. Satz, T. 3/4
12.4.1 Schenker, Tonwille 10 (1924), 22, Fig. 1: Schubert, Impromptu f-Moll op. 94/3, T. 3/4. Darunter: Notentext des Impromptu, T. 3/4
12.4.2 Schenker, Tonwille 10 (1924), Anhang: ›Urlinie-Tafel‹ zu Schuberts Impromptu f-Moll op. 94/3
Zum Problem des Motivischen bei Schenker
Tempo giusto Tempo giusto Tempo giusto
mf mf mf
9 9
9
17 17 17
Diminutionsmotiv Diminutionsmotiv Diminutionsmotiv
Valse Valse Valse
Op. 64. No. 2 Op. 64. No. 2 Op. 64. No. 2
12.5 Frédéric Chopin, Valse cis-Moll op. 64/2, T. 1–96
77
78
Bernd Redmann
25 25 25
33 33 33
mosso Più mosso Più
41 41 41
Più mosso
12.5 Chopin, op. 64/2, T. 1–96 (Fortsetzung)
decresc. decresc. decresc.
mf mf mf
Zum Problem des Motivischen bei Schenker
49 49 49
pp pp pp
57 57 57
64 64 64
Più lento Più lento Più lento
mf
mf mf
12.5 Chopin, op. 64/2, T. 1–96 (Fortsetzung)
decresc. decresc. decresc.
79
80
Bernd Redmann
73 73 73
dolce dolce
81 81 81
89 89 89
12.5 Chopin, op. 64/2, T. 1–96 (Fortsetzung)
88 8
33 3
poco riten. poco riten.
Zum Problem des Motivischen bei Schenker
Langsam
Langsam Langsam Langsam p fp p fp pp fp fp
um al - lesmich - her! - her! al - les mich um al - les mich um - her! al les mich um - her! fp fp fp fp
6
6
Die Liebe hat gelogen DieLiebe Liebehat hatgelogen gelogen Die Die Liebe hat gelogen
ach! schwer, be -tro die Sor -behat ge- lo - gen, -gen, Lie -ge la - stet Die Lie - behat ge - lo - gen, die Sor - ge la - stet schwer, be - tro - gen, Die ach!
6 6
pp pp pp pp
Op. 23 No. 1
23 No. 1 Op.Op. 2323No.No.1 1 Op. hat be- tro -gen be - tro - gen hat
Die Lie - be hat ge - lo - gen, die Sor - ge la - stet schwer, be - tro - gen, ach! be - tro - gen hat Die Lie - be hat ge - lo - gen, die Sor - ge la - stet schwer, be - tro - gen, ach! be - tro - gen hat
pp pp
pp pp
fp fpfp fp
die Wan her - ab, flie Trop Es - ßen hei - ße - fen -ge stets flie - ßen - ge stets her - ab, heihei- -ßeße Trop - fen Es Trop - fen die Wan Es flie - ßen die Wan - ge stets her - ab, Es flie ßen hei ße Trop fen die Wan - ge stets her - ab, p p p p
12.6 Franz Schubert, Die Liebe hat gelogen D. 751 / op. 23 No. 1
81
82
10
Bernd Redmann
es
flie - ßen
hei - ße
Trop - fen
die Wan - ge
stets her - ab,
10
es
flie - ßen
hei - ße cresc.
Trop - fen
die Wan - ge
stets her - ab,
lass
ab,
mein Herz,
zu klop
-
fen, du
ar - mes Herz, lass
lass
ab, f
mein Herz, zu klop cresc.
-
fen, du
ar - mes Herz, lass ab! ff p
14
Lie - be hat
cresc.
ge - lo - gen, die
Sor - ge la - stet schwer,
Lie - be hat ge - lo - gen, die Sor - ge la - stet schwer, pp
f
be - tro - gen, ach!
14
be - tro - gen, ach!
be - tro - gen hat
cresc. be - tro - gen hat
Die Liebe 12.6 Schubert, hat gelogen (Schluss)
pp
cresc.
ab!
Die
cresc.
ff
pp
p
al - les ff
mich um - her!
mich um - her! p
ff p pp pp
pp
al - les
Die
Zum Problem des Motivischen bei Schenker T. 1-8
Außenstimmen: 10
8
T. 33-34
Nbn.
Brech.
Nbn.
T. 33-36
Brech.
(Vh)
(Vh)
(Vh)
(Vh)
12.7 Analyseskizzen zu Chopin, op. 64/2, Verkettungen des Anfangsmotivs
T. 1-2
Einkreisung der Terz
T. 8-11
Einkreisung des Grundtons Einkreisung der Quinte
Einkreisung der Quinte
T. 1
T. 5-6
T. 15
6 5
12.9 Analyseskizze zu Schubert, Die Liebe hat gelogen, T. 8–11
12.8 Analyseskizze zu Schubert, Die Liebe hat gelogen, T. 1–2
6 5
12.10 Analyseskizzen zur Reharmonisierung des Kernintervalls c-des
83
84
Bernd Redmann
Tieferlegung
Außen- 10 stimmen: Dg
5-6-Aus- 5 wechslung
6
10
5
6
6
usf.
10
Dg
Höherlegung
5
6
Quintzug
6
12.11 Analyseskizze zu Chopin, op. 64/2, T. 65–80: Dissoziation der Intervalle des Außenstimmensatzes
be -- tro tro -- gen, gen, ach! ach! be
be -- tro tro -- gen gen be
bb 11
hat hat
cc 11
bb 22
Laß Laß
al al
les mich mich um um -- her! her! -- les
aa 11
ab, mein mein Herz, Herz, zu zu klop klop -- fen, fen, du du ab, a a 22
ar -- mes mes Herz, Herz, laß laß ar
ab! ab!
cc 22
12.12 Analyseskizze zu Schubert, Die Liebe hat gelogen, T. 5b/6a, T. 11–13; Verschiebung der thematisch zentralen Intervalle
13
86
Stefan Rohringer
13.1.1 Heinrich Schenker, Der Tonwille 4 (1923), Urlinietafel zu BWV 924
13.1.2 Schenker, Tonwille, Schaubilder zu BWV 924
Takte:
3
8
7
6
7
13.1.3 Alternativer Graph zu BWV 924
10
8
17
18
13.1.4 Heinrich Schenker, Der freie Satz, Fig. 43 zu b)
a.
b.
c.
d.
Schenker, Luhmann und das Problem der ›steigenden Urlinie‹
a.
5 6 (8) 7 8
b.
5 6
(8) 7 8
c.
5 6 (8) 7 8
d.
5 6
7 (8 7)
8
e.
5 6
7 8
13.2 David Neumeyer, »Variants of the ascending Urlinie from 5« e.
5 6
ff
9
fz
7 8
fz
f.
17
5 6 (5) 7 8
fz
g.
5
6 7 8
h.
fz
5 6 7 8
13.3 Franz Schubert, Valse noble E-Dur D 969 Nr. 7
fz
fz
fz
f.
fz
5 6 (5) 7 8
fz
g.
5
6 7 8
h.
5 6 7 8
p
87
88
Stefan Rohringer
5 5
N N N N
E: I E: I
7 8 7 8
6 6
vi V vi V
I I
13.4.1 Neumeyer, Graph zu D 969 Nr. 7
13.5.1 Konstrukt c-g-e-h-gis
3
Takte:
2
1
7 8 9 16 17 18 21 22 23 24
13.4.2 Alternativer Graph zu D 969 Nr. 7
13.5.2 Überführung des
Hexatons e-h-fis-cisgis-dis in das Konstrukt c-g-e-h-gis-dis
13.5.3 Subdominante a-e-c-g-
ais-fis
13.5.4 Heptaton über a
14
90
Nicolas Meeùs
3
2
I
V
1
Tenorizans
Altizans Cantizans Bassizans
I
Cantizans I
=
14.2 The three upper lines of fig. 10.1 unfolded as a single descending line
3
2
Tenorizans n.n.
Tenorizans
Cantizans
14.1 A fully spelled out fundamental structure from 3
Altizans
Altizans
3
2
V
14.3 Wolfgang Amadeus Mozart, Sonata in C major, K. 545, Ist mvt., mm. 1–4
14.4 Mozart, K. 545, Ist mvt., mm. 1–12
Fundamental Line(s)
3
I
2
V
14.5 Ludwig van Beethoven, Sonata in F major, Op. 10 No. 2, 1st mvt., mm. 1 –66
3
3
C: I
4
3 Tenorizans
3
2
I
3
IV
V
3
14.9 Bach, BWV 924, mm. 1–18
3
3
7
6 4
6
5 3
4
I
V
1
2
I
14.8. Johann Sebastian Bach, Little Prelude in C major, BWV 924, mm. 1–18
1
Cantizans
3
I
3
14.7 Schenker 1923a, 3, Fig. 1 a
14.6 The false relation inherent in an ascending 5–8 line
V
3
3
(3)
3 -I5
4 -6
4 -7
3
3 8
I
14.10 Johann Sebastian Bach, Little Prelude in C major, BWV 939, mm. 1–4 (after the Urlinie-Tafel for Schenker 1923b, 7)
91
15
94
Giorgio Sanguinetti
I
1
1
2
6
III 1
2
II 1
7
2
3
15.1 Vincenzo Lavigna, Ms. Noseda Th. c. 117, book 1, Cadenze
4
3
4
9
5
6
4
5
8
4
3
2
3
5
10
Diminution and Harmonic Counterpoint
5
13
17
15.1 Lavigna, Cadenze (continued)
IV 1
20
12
16
19
22
15
18
21
8
11
14
7
10
9
6
95
96
Giorgio Sanguinetti 2 2 2 2
5 5 5 5
7 7 7 7
3 3 3 3
3 3 3 3
4 4 4 4
15.1 Lavigna, Cadenze (continued)
6 6 6 6
V1 V1 V1 V1
5 5 5 5
4 4 4 4
2 2 2 2
6 6 6 6
Diminution and Harmonic Counterpoint
15.2 Lavigna, Cadenze, first manuscript page
97
98
Giorgio Sanguinetti
1
6 3
3
6 3
3
2
3
4
15.3 Vincenzo Lavigna, Ms. Noseda Th.c.117, book 1, scales
#4
F
R
Diminution and Harmonic Counterpoint 5
6 3
6
5 3
6 3
15.3 Lavigna, scales (continued)
6 3
6 3
6 3
F
6 3
5 3
5 3
5 3
5 3
99
100
Giorgio Sanguinetti
7
15.3 Lavigna, scales (continued)
3
3
3
H
T
7
6
7
6
8
6
6
5
H
6
7
8
8
6
Diminution and Harmonic Counterpoint 9 9
10 10
15.3 Lavigna, scales (continued)
101
102
Giorgio Sanguinetti
11
12
15.3 Lavigna, scales (continued)
Diminution and Harmonic Counterpoint
[5
6
1
10
6
5
6
5
6
5
[5
10
6
10
8]
4
6
3
[10
6
10
5
etc.]
8]
[10
6
10
etc.]
etc.]
6
2
[10
5
15.4 Vincenzo Lavigna, Ms. Noseda Th.c.117, book 1, thirteen counterpoints on a bass descending by thirds and ascending by seconds
103
104
Giorgio Sanguinetti
6
[10
8
9
6
7
[10
6
[5
6
[5
6
10
etc.]
10
etc.]
5
etc.]
5
etc.]
15.4 Lavigna, thirteen counterpoints (continued)
Diminution and Harmonic Counterpoint 10
11
12
[5
6
[10
13
[10
6
[5
5
etc.]
10
etc.]
6
10 etc.]
6
15.4 Lavigna, thirteen counterpoints (continued)
5
etc.]
105
106
Giorgio Sanguinetti
Soprano Soprano Soprano Alto Alto Alto Bass Bass Bass
15.5 Vincenzo Lavigna, Ms. Noseda Th.c.117, book 4, Disposizione VI in three voices, with imitations
Diminution and Harmonic Counterpoint
15.5 Lavigna, Disposizione (continued)
107
108
Giorgio Sanguinetti
15.5 Lavigna, Disposizione (continued)
16
b)
a)
b)
b)
Martin Eybl
a)
16.1 Arnold Schönberg, Harmonielehre (1911), Fig. 231
a)
110
16.2 Ludwig van Beethoven, IX. Symphonie d-Moll op. 125, III. Satz, T. 3–6, Vl. 1, Analyse aus serieller Perspektive
4 2
6
6
6
76
NBsp. 3
16.3 Analysebild zu Beethoven, op. 125, III. Satz, T. 3–6
6 4
5 3
17
112
Paul Scheepers / Johannes Leertouwer
Adagio Adagio Adagio Adagio
3 3 3 3
6 6 6 6
9 9 9 9
SONATA SONATA 11 1 SONATA SONATA 1
17.1 Johann Sebastian Bach, Sonata für Violine solo g-Moll BWV 1001, Adagio, T. 1–10
BWV 1001 BWV 1001 BWV 1001 BWV 1001
Schenker und Bach 8
7
V
V
4
1
5
A: I
D: I
6
5
kons. - - - diss.
e: V7
I
(V)
d: V7
12
17
25
3
6
7
V8
8
I
4
5
6
5
31
32
I
37
V7
I
48
V
17.2 Wolfgang Amadeus Mozart, Klaviersonate A-Dur KV 331, II. Satz, Trio, analytisches Diagramm (Schenker)
7
8
6
5
(V 7
1
6
5)
V
7
8
2
V7
6
7
B: I
1
7
10
II
13
(V)
VI 9
g: I
I
5
1
51
5
3
4
1
I6
12
II
6 V5
13
2
I
V
14
Vª3
(V)
Vª3
7
1
15
17.3.4 Johann Sebastian Bach, Sonata für Violine solo g-Moll BWV 1001, S iciliano, analytisches Diagramm
2
1
kons. ------- diss.
kons. ---------- diss.
V7
IV
13
9
3
I
18
14
V
20
I
22
7
kons. - diss.
(V 7
4
6
6
16
5)
5
2
1
(V 7
V
17
3
4
kons. - diss.
6
5)
II
V
32
31
I
36
38
17.3.3 Johann Sebastian Bach, Partita B-Dur BWV 825 (ClavierÜbung 1. Teil), Präludium, analytisches Diagramm
kons. - diss.
B: I
18
4
17.3.1 Johann Sebastian Bach, Sonata für Violine solo g-Moll BWV 1001, Adagio, analytisches Diagramm
I
5
17
5
kons. ----- diss.
(g: I)
6
6
8
17.3.2 Johann Sebastian Bach, Sonata für Violine solo C-Dur BWV 1005, Largo, analytisches Diagramm 8
7
8
1
kons. ------- diss.
(C: I) F: I
3
4
kons. - diss.
kons. --- diss.
2 1
I
19
8
h: I 1
7
6 kons. -------------------------------------- diss.
6 (V 5 )
III 11
6 (V 5 )
IV 25
6
6
28
6 (V 5 )
5
Vª3 38
4
©3
3
2
1
I 45
V
17.3.5 Johann Sebastian Bach, Partita für Violine solo h-Moll BWV 1002, Tempo di Borea, analytisches Diagramm
I 54
113
114
Paul Scheepers / Johannes Leertouwer
6
( )7
8
v.5 ----- 3
e: I
a: I
=C: III
I
V7
Vª3
1
4
5
9
13
17.4.1 Johann Sebastian Bach, Präludium a-Moll BWV 865, T. 1–16, analytisches Diagramm
17.4.2 Bach, BWV 865, T. 1–16, analytisches Diagramm aus Beach 1988. 8
E: I
7
6
4
(V)
VI
3
5
6
(V 5)
IV
5
(V)
1
2
II
V
I
17.5 Johann Sebastian Bach, Partita für Violine solo E-Dur BWV 1006, Preludio, Schenkers Analyse zusammengefasst
6 V5
6 (V 5 )
I
III 16
Schenker und Bach Preludio
p
7
f
p
13
f
p
f
19
25
31
37
43
17.6 Bach, BWV 1006, Preludio
p
f
p
115
116
Paul Scheepers / Johannes Leertouwer
49
55
f
f
p
61
p
f
p
67
f
73
79
85
91
17.6 Bach, BWV 1006, Preludio (Fortsetzung)
Schenker und Bach
97
103
109
115
121
127
133
17.6 Bach, BWV 1006, Preludio (Fortsetzung)
117
118
Paul Scheepers / Johannes Leertouwer
8
3
3/10
3/10
3 3 2 4 1 7
3 4 3 2 1
('enorme' Vergrößerung und Erweiterung von 'x')
('x'Seq.)
('x')
('Motiv x')
IV 6
I E: I 1
3
1/8
('Motiv y')
I
E: I
3
(
I=cis: IV
V
I
(Kons. Dg.)
37
7
(
39
4
6
7 —6
7 — 6
VII 6
I
E:I
5
V 43
)
6
6
(Tieferlegung)
V
7—6
I 29
('y' Seq.)
33
6
7
3 2 I=cis: 4
7—6
1
I 17
b) diat. ↓ r.4 (fis - e - dis - cis)
fis: 7
fis: V
I 29
I 13
8
T. 29-51: 1. Entwicklung a) chrom. ↑ gr.2 (e - eis - fis)
1/8
(2/9)
)
I= 6 A: III(V5 ) I[E: VI] 51
(Übergrf.)
II
3 6 A: 4
V5
I
A: I[E: IV] 59
T.79-109: 2. Entwicklung a) chrom. ↑ gr.3 (a-ais-h-his-cis)
(Übergrf.) 6 5 ('x'Seq.) ('x'Seq.) ('x') (usw.) V II6 I V ('y') 7—6 7 — 6 7 — 6 7 —6 ('y'1.Seq.) 3
I
I
A: I[E:IV] 59
63
(
3
(Siehe T. 17-29) 4
IV 6
A: I ) 67
17.7 Bach, BWV 1006, Preludio, analytisches Diagramm
2
1
7 1
VII 6
I
I 79
h: 7
1
cis: 7
h: V
I
cis: V
83
1= fis: 5
fis: V
87
V
(fis:V) 90
Schenker und Bach
b) diat. ↓ r.5 (cis - h - a - gis - fis)
2
(E:) 3
3
2
2 (Tieferl.) (Höherl.) 5 4 3 2 (1. Terzzug) (2. Tz.) (3. Tz.) ( ) ('y' 2.Seq.) (fis:) 5
4
(Tieferl.)
IV
VI
7
fis: V
(fis: V 90
2
)
VII
3
(Höherl.)
I
5
4
6
I
I 130
(V 5) IV V
114
5 6 II 5
1
7
6 4
(E:) V 120
3 2 1 6 7 I
II
V
I
V
I
V)
I
109
1 1
4
V
V
1 1
2 4 3 2
5 3
V
7
1
6
N (Tieferl.)
4
I6
I [E: II]
I
(
102
b) diat. ↓ r.5 (h - a - gis - fis - e)
(Üb.) (Üb.) 6 6 6 I =E: II VII I (VII) V 2 I
109
fis: V
100
5
6 5
V
V
V
94
T.109-130(136): 3. Entwicklung a) diat.-chrom. ↑ r.4 (fis - gis - ais - h)
1 =E: 2
II
(Tieferl.)
I
2
(4., gedehnter Terzzug)
I
I 2. Kadenz, noch 'stärker' (3 - 2 - 1 136 jetzt in der höchsten Stimme)
17.7 Bach, BWV 1006, Preludio, analytisches Diagramm (Fortsetzung)
7
124
V
I 7
128
V
I
I 130
1. Kadenz (3 - 2 - 1 noch nicht in der höchsten Stimme)
119
120
Paul Scheepers / Johannes Leertouwer
10
9
8
7
3
E: I
(V)
I
5
6
VI
39
29
1
6
(V 5 )
51
4
IV 59
3
2
(V) 79
II
102
1
2
V V
109
120
1
I I
130
17.8 Bach, BWV 1006, Preludio, Zusammenfassung des Diagramms 17.7
3 10
(V 7)
g: I 1
9
kons. -diss.
9
8
III (VII 7 )
V 3
25
36
7
(V 52
5
6
7)
V 54
3
4
kons. ------------ diss.
(V - 7)
2
g: I - 6
IV 71
82
V7
I
87
95
2
120
1 1
V
I
134
136
17.9.1 Johann Sebastian Bach, Sonata für Violine solo g-Moll BWV 1001, Presto, analytisches Diagramm
Schenker und Bach
3 10
9
a: I
V
1
6
5
8
7
( )6
5
4
2
3
kons. - diss.
I
7
6 (V 5)
e: I
V
V
3
14
(V)
G: V I = C: V
I
V
6
3
6
19
33
(V 5)
36
38
2
1
1
I
III
VII6
44
49
I
V
I
53
17.9.2 Johann Sebastian Bach, Sonata für Violine solo a-Moll BWV 1003, Allegro, analytisches Diagramm
3 10
9
F: I
2
4
(V 7) 8
8
7
6
V
(II
6
6—5 V 4 — 3)
10
5
5
(Höh.)
V
12
7
15
19
26
30
I
4
2
2
3
1
1
II6
17.10 Johann Sebastian Bach, Zweistimmige Invention F-Dur BWV 779, analytisches Diagramm
6 — 5 — 3
V4 32
I
34
121
122
Paul Scheepers / Johannes Leertouwer
17.11 Bach, BWV 1006, Preludio, Schenkers Analyse der Takte 29–51
Schenker und Bach
8 E: 1
7=cis: 2
1=cis: 4
fis: 7
1
3 2
fis: V
7
I=cis: IV
V7
I (kons. Dg)
E: I 29
V
cis: V 33
(usw.)
37
8
7
7 3
39
6 4
7
8 4
7 3
43
I 51
17.12.1 Bach, BWV 1006, Preludio, analytisches Diagramm
8
E: 1
7=cis: 2
1=cis: 4
fis: 7
3 2
('antizipierend': erst in T.43 die 'richtige' 2)
(usw.) fis: V
7
I=cis: IV
V7
I (kons. Dg)
7
cis: V3 33
37
17.12.2 Bach, BWV 1006, Preludio, analytisches Diagramm
(Tieferl.; V in T.43 'stärker')
V
E: I 29
1
39
43
6 4
7
8 4
7 3
I 51
123
124
Paul Scheepers / Johannes Leertouwer
A: 1
cis: 7 = fis: 4
1
h: 7
fis: 5
5
6
5
1
4 3
1
(Tieferl.)
2
(2.) (3.) ter 3-Zug) (Höh.) 2 (3) 6 (1)
(Übergrf.)
(2)
h: V
I$
cis: V
I
(4., gedehn-
(1. 3-Zug)
II 6
B I fis:V5
6
V
V
A: I
V5 I
(Höh.)
I
V
N6
VII
I
6
(Tieferl.)
V
fis: V
79
83
87
V
90
94
100
102
I 109
17.13.1 Bach, BWV 1006, Preludio, analytisches Diagramm
A: 1
h: 7
= fis: 4
1
cis: 7
5
5
6
4 3
(1)
(2)
h: V
I
I$
cis: V
B I fis:V5
6
(1. 3-Zug)
II6
V
V
(2.)
(3.)
(4., gedehn-
(Höh.)
7
I
V
94
100
A: I 79
V
fis: V 83
87
90
17.13.2 Bach, BWV 1006, Preludio, analytisches Diagramm
(Tieferl.)
2
ter 3-Zug) (Höh.) (3) (Übergrf.)
1
fis: 2
102
2
(usw.
....
)
(Tieferl.)
I 109
Schenker und Bach
A: 1
cis: 7 = fis: 4
1
h: 7
5
5
6
1
fis: 2
4 3
(Tieferl.)
2
(3.) ter 3-Zug) (Höh.) (3) (1)
(Übergrf.)
(2)
h: V
II6
I$
cis: V
I
(1. 3-Zug)
V
B I fis:V5
6
2
(4., gedehn-
(2.)
(usw.
(Höh.)
7
V
I
V
A: I
....
)
(Tieferl.)
V
fis: V
79
83
87
90
94
I
100
102
109
17.13.3 Bach, BWV 1006, Preludio, analytisches Diagramm
A: 1
h: 7
= fis: 4
1
cis: 7
(Höherlegung cis'' -cis''')
5
5
fis: 3
6
4 3
(1)
(2)
h: V
I
I$
cis: V
B I fis:V5
6
II6
(1. 3-Zug)
V
V
(2.)
(3.)
(4., gedehnter 3-Zug)
(Höh.)
7
I
V
A: I 79
V
fis: V 83
87
90
94
17.13.4 Bach, BWV 1006, Preludio, analytisches Diagramm
100
(Tieferl.)
2
(Höh.) (3) (Übergrf.)
1
fis: 2
102
2
(usw.
....
)
1
(Tieferl.)
I 109
125
126
Paul Scheepers / Johannes Leertouwer
5
h: 5
4
3
2
fis: 5 (1. Übergrf.)
(usw.)
6 V5
I
V6
I=fis: IV
I
V
h: I
1
(Übergrf.)
(4.)
V
I
(Höherlegung cis''- cis''' mittels Übergreifen) (3.) (2.)
4 IV
V
9
2
1
h: 5
V 9
fis: V
8
3
10
8
7
I
V
I fis: I
11
12
17.14.1 Johann Sebastian Bach, Partita für Violine solo h-Moll BWV 1002, Allemande, T. 1–12, analytisches Diagramm
5
h: 5
I h: I
1
4
3
2
(fis:) 6
(2.)
(1. Übergrf.)
(usw.)
6 V5
V
I
(5.)
(4.)
(3.)
I=fis: IV
V6
I
V
8
6
(V 5) IV
9
10
17.14.2 Bach, BWV 1002, Allemande, T. 1–12, analytisches Diagramm
3
2
V
fis: V9
V
5 4
1
h: 5
11
8
7
I
V
I fis: I
12
Schenker und Bach Largo
6
11
15
19
17.15 Johann Sebastian Bach, Sonata für Violine solo C-Dur BWV 1005, Largo
127
128
Paul Scheepers / Johannes Leertouwer
(C:) 8 kons.
diss.(=g: 4)
(g:) 3
(Üb.)
(Üb.)
5
C: I
IV
C: I 8
6
g: V5
g:
10
6 V(5 )
6
7
6
7
I
6 (g:) VII
I
11
6
2
1
I
V
12
7
I 13
17.16.1 Bach, BWV 1005, Largo, T. 8–13, analytisches Diagramm
8 kons.
diss.(=g: 4)
C: I
(C:) I 8
(2.)
IV
5 6 7 6
g: V5
I
10
17.16.2 Bach, BWV 1005, Largo, T. 8–13, analytisches Diagramm
2
1
(3.)
(1.Üb.)
(g:) 3
11
6
7
6
(g:) VII6 12
I
7
V
I 13
Schenker und Bach
8 kons.
diss.
2
7=d: 3
(Üb.)
(usw.)
g: I
4
1
6
d: V 5
I
5
6
1
2
1
7
(d:) V
7
I
9
8
17.17.1 Johann Sebastian Bach, Sonata für Violine solo g-Moll BWV 1001, Adagio, T. 1–9, analytisches Diagramm
8 kons.
(usw.)
6
d: V 5
g: I
1
1
2
1
7
I 4
4
2
(2.Üb.)
(1.Übergr.)
7=d: 3
diss.
5
17.17.2 Bach, BWV 1001, Adagio, T. 1–9, analytisches Diagramm
6
d: V(3)
7
V 8
I
9
129
130
Paul Scheepers / Johannes Leertouwer
8
(F:) 8
G (1.Üb.)
(usw.)
6
F: I
(F:) I
1
IV
V
7
I
(C:) 2
1
(Ausf. 3-3)
5
(3.)
(2.)
7-6
III
3
7=C: 3
7 - 6
6
V =C: I
I
II 6
V7 7
V =C: I
6
(C:) V 3
6 4
(C:) 3
5 3
I
8
17.18.1 Bach, BWV 1005, Largo, T. 1–8, analytisches Diagramm
8 kons.
1
(Ausf. 3-3)
(Höherl. mittels 3-fachem Übergr.)
(usw.)
G 6
I
I 1
2
diss (=C: 4)
3
IV
V
7
I
I
III
7--6
7--6
6
V = C: I
II 6
C: V2-I6
V7 7
5
17.18.2 Bach, BWV 1005, Largo, T. 1–8, analytisches Diagramm
6
C: V 3
6 4
5 3
I 8
Schenker und Bach
5
( ................. ) g: V
7
I
3
2
2
1 1 (diss.)
F: I
17.19 Bach, BWV 1001, Adagio, T. 4, analytisches Diagramm
4
18
5
V
6
19
I
4
20
6
V4
3
5 3
18
5
19
I
4
20
V
6 4
3
3
18
19
I
20
2
6 4
5 3
I
21
1 3
6
3
2
V
I
1
5 3
2
F: I
5 3
6 4
6
2
V
21
2
F: I
7
V
6 4
5 3
3
2
6 4
5 3
17.20.1–3 Bach, BWV 1005, Largo, T. 18–21, drei analytische Diagramme
I
21
131