Sarmatien – Germania Slavica – Mitteleuropa. Sarmatia – Germania Slavica – Central Europe: Vom Grenzland im Osten über Johannes Bobrowskis Utopie zur Ästhetik des Grenzraums. From the Borderland in the East and Johannes Bobrowski’s Utopia to a Border Aesthetics [1 ed.] 9783737011938, 9783847111931


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German Pages [473] Year 2020

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Sarmatien – Germania Slavica – Mitteleuropa. Sarmatia – Germania Slavica – Central Europe: Vom Grenzland im Osten über Johannes Bobrowskis Utopie zur Ästhetik des Grenzraums. From the Borderland in the East and Johannes Bobrowski’s Utopia to a Border Aesthetics [1 ed.]
 9783737011938, 9783847111931

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Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien

Band 25

Herausgegeben von Carsten Gansel und Stephan Pabst Reihe mitbegründet von Hermann Korte

Sabine Egger / Stefan Hajduk / Britta C. Jung (Hg.)

Sarmatien – Germania Slavica – Mitteleuropa. Sarmatia – Germania Slavica – Central Europe Vom Grenzland im Osten über Johannes Bobrowskis Utopie zur Ästhetik des Grenzraums. From the Borderland in the East and Johannes Bobrowski’s Utopia to a Border Aesthetics

Mit 2 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Irish Research Council und dem Mary Immaculate College, Limerick. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Courtesy, Renaissance Exploration Map Collection, David Rumsey Map Center, Stanford Libraries. URL: https://purl.stanford.edu/mx045xr2182. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6304 ISBN 978-3-7370-1193-8

Inhalt

Sabine Egger (Limerick) / Stefan Hajduk (Adelaide) / Britta C. Jung (Dublin) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sabine Egger (Limerick) / Stefan Hajduk (Adelaide) / Britta C. Jung (Dublin) Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stefan Hajduk (Adelaide) / Sabine Egger (Limerick) Raum, Grenze, Grenzräume. Eine theoretische Annäherung . . . . . . . .

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Teil I. Ostgrenzenlos? Bobrowskis sarmatische Utopie Andreas Degen (Potsdam) Grenzland und Sarmatien. Zur Geosemantisierung Ostpreußens im politischen Diskurs der Zwischenkriegszeit und in den Kriegs- und frühen Nachkriegsgedichten Johannes Bobrowskis . . . . . . . . . . . . .

53

Iulia-Karin Patrut (Flensburg) Celan, Bobrowski und die Neuverortung deutschsprachiger Lyrik nach 1945 in europäischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Kristin Rebien (San Diego) Sarmatien als politische Utopie im Zeitalter der Berliner Mauer . . . . . . 103 Innokentij Urupin (Konstanz) Zur Verbindung von Stimme und Scham in Erzählungen Johannes Bobrowskis. Mit Bezugnahme auf Isaak Babels skaz-Ästhetik . . . . . . . 119

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Inhalt

Joanna Jabłkowska (Łódz´) Varianten der Kresy-Literatur? Johannes Bobrowskis „Levins Mühle“ (1964) und Olga Tokarczuks „Ksiegi Jakubowe“ (2014) . . . . . . . . . . . 145 Florian Gassner (Vancouver) Wem gehört das Memelland? Johannes Bobrowskis „Litauische Claviere“ (1966) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Teil II. (Ost-)Mitteleuropa revisited Florian Krobb (Maynooth) Accomodating Silesia. Framing a Periphery in Fontane’s “Cécile” (1886) and Wackwitz’s “Ein unsichtbares Land” (2003) . . . . . . . . . . . . . . 181 Benoît Ellerbach (Istanbul) Heterotopic borderland spaces in Stefan Zweig’s “Episode am Genfer See” (1927) and in Joseph Roth’s “Die Büste des Kaisers” (1935) . . . . . . . . 199 Hannelore Roth (Leuven) Die Nation als Körper – der Körper als Nation. Zur Dynamik von territorialen und symbolischen Grenzen in Ernst von Salomons „Die Geächteten“ (1930) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Britta C. Jung (Dublin) Local Color Literature und Frontier Humor. Der Zerfall der ‚Germania Slavica‘ aus Sicht von Josef Holubs böhmischem Lausbuben . . . . . . . . 233 Withold Bonner (Tampere) „Geographie eines Verlustes“. Friedhöfe als Heterotopien in der deutsch-polnischen Grenzlandliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

Teil III. Topographische Polyvalenzen Svetlana Efimova (München / Munich) Grenzräume des liminalen Dichters Jakub Deml. Topographische, sprachliche und existenzielle Identitätssuche . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Olga Hinojosa Picón (Sevilla) Die Grenze als ambivalenter Raum im Werk Barbara Honigmanns . . . . 289

Inhalt

7

Garbiñe Iztueta (Vitoria-Gasteiz) Die Wassermetaphorik als Grenzraumgestaltung in Uwe Tellkamps „Der Turm“ (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Andrea Meixner (Stockholm) „[W]arum die Grenze nur eine vielschichtige, nüchterne Drohung ist“. Zum räumlichen Konstrukt Grenze in ausgewählten Werken der deutschsprachigen Migrationsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Brian Haman (Bukarest / Bucharest) Between Exile and Homeland. Kazakhstan as the Third Space in Herold Belger’s “Das Haus des Heimatlosen” (2003) . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Anne Sturm (Halle-Wittenberg) Border, Borderscape und Bordering Practices in den Erstlingswerken von Dimitré Dinev und Ilija Trojanow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

Teil IV. Poetische Räumlichkeit und Gattungsgrenzräume Stefan Hajduk (Adelaide) Grenzphänomene zwischen Imaginärem und Ironie. Erzählte Raumwerdung in Robert Musils „Törleß“ (1906) und „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1930–1943) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Edit Kovács (Budapest) Wandernde Narration. Emigration und Ethik der Erzählung bei W. G. Sebald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Jacqueline Gutjahr (Göttingen) „während ich unentwegt kreise“. Auf der Suche nach Sprache in Maja Haderlaps Gedichtband „langer transit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Joseph Twist (Dublin) “lippengrenzland”. Unstable Linguistic Boundaries, Minor Literature and “boden los” (2012) by Semier Insayif . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Tom Vanassche (Freiburg) Borderland Auschwitz. Lagerszpracha in Dieter Schlesak’s “Capesius, der Auschwitzapotheker” (2006) and its translations . . . . . . . . . . . . 445 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463

Sabine Egger (Limerick) / Stefan Hajduk (Adelaide) / Britta C. Jung (Dublin)

Einleitung

Mit Sarmatien hat Johannes Bobrowski (1917–1965) in seiner unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs in Mittel- und Osteuropa entstandenen Lyrik und Prosa in den 1950er und frühen 1960er Jahren einen europäischen Grenzraum geschaffen, der als literarisches Gebilde nicht nur im Kontext seiner Zeit auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs ästhetisch und kulturell innovativ war, sondern auch nationale, kulturelle und historische Grenzen in Frage stellte. Bei Bobrowski bezeichnet der Name Sarmatien nicht – und wenn, dann als zusätzliche Konnotation – das „Nationsbewußtsein“ des polnischen Adels im PolenLitauen des 16. bis 18. Jahrhunderts,1 sondern ein bis in die Antike zurückweisendes Gebilde zwischen Ostsee und Schwarzem Meer. Der Autor selbst schrieb zu seinem Gebrauch des heute nicht mehr geläufigen Toponyms: „Unter Sarmatien verstehe ich nach Ptolemäus das Gebiet zwischen Schwarzem Meer und Ostsee. Zwischen Weichsel und der Linie Don – Mittlere Wolga. Ein Gebiet, aus dem ich stamme und in dem ich herumgekommen bin.“2 Bereits bei Ptolemäus bezeichnet Sarmatien kein politisches Territorium, sondern eine landschaftlichgeographische Einheit, eine Tiefebene, konturiert – nicht begrenzt – von Strömen. Ohne feste Grenzen im europäischen Osten angesiedelt, gleichsam über der nationalstaatlichen Moderne schwebend, kann dieses pluri-ethnische Sarmatien in Bobrowskis Lyrik und Prosa als kultureller Grenzraum oder borderland des Abendlandes einschließlich letzterem als geistesgeschichtliches Gravitationsfeld verstanden werden. Mehr noch: Durch eine spezifische Ästhetik wird es zu einem Raum, der aufgrund ineinander verwobener, dynamisch interagierender auto1 Heynold, Anke: Die Bedeutung des Sarmatismus für das Nationsbewußtsein und die Kultur des polnischen Adels zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert. In: Kultursoziologie 7, 1998, H. 1, S. 6–57. 2 Notiz Bobrowskis für eine Lesung auf der Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1960 in Aschaffenburg, zitiert nach: Tgahrt, Reinhard: Johannes Bobrowski oder Landschaft mit Leuten. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. In Zusammenarbeit mit Ute Doster. Marbach/Neckar: Deutsche Schillergesellschaft, S. 121f. (Marbacher Kataloge; Bd. 46).

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biographischer, historischer und mythopoetischer Sinnebenen in seiner Komplexität über ein kulturelles Grenzgebiet hinausgeht und Grenzen zugleich hervorhebt, verschiebt und auflöst.3 Bobrowskis Sarmatien bietet damit einen nützlichen Orientierungspunkt für die Diskussion mittel-, mittelost- und osteuropäischer Grenzräume in der ästhetischen Darstellung vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, die wir in diesem Band erkunden wollen. Stehen Räume des 20. und 21. Jahrhunderts bewusst im Mittelpunkt, so ermöglicht dieser Orientierungspunkt auch den Bezug auf ältere Grenzräume und Narrative, wie der Beitrag zu Fontane zeigt. Richtet sich unser Blick in diesem und anderen Beiträgen des Bandes auf den Umgang mit OstWest-Dichotomien, so öffnet sich das Blickfeld ebenfalls in die Richtungen der Nord-Süd-Achse und in die Vertikalität, wo es um zeitliche bzw. imaginative Dimensionen der Grenzraumerfahrung geht. Der Band reflektiert dies in zweifacher Hinsicht: Erstens werden diese Blickachsen – auch in ihrem Verhältnis zueinander – mit unterschiedlicher Gewichtung in den Beiträgen berücksichtigt. Zweitens bezieht sich der erste Teil des Bandes ausdrücklich auf Bobrowskis Sarmatien, während sich die folgenden Teile mit den aufgeworfenen Fragen anhand von Texten anderer Autoren aus verschiedenen theoretischen und disziplinären Blickwinkeln beschäftigen. Bezug genommen wird hierbei auf Grenzräume wie (Ost-)Mitteleuropa4 bzw. Grenzlandvorstellungen wie die ‚Germania Slavica‘5. Der disziplinäre Fokus richtet sich zunächst darauf, wie solche Narrative und Kartierungen in literarischen Texten inszeniert, reflektiert oder dekonstruiert werden, und welche Rolle das innerhalb eines bestimmten Feldes, Kanons oder innerhalb kultureller und politischer Diskurse spielt. Wie gestalten sich Grenzräume und Grenzverschiebungen in literarischen und nicht-literarischen Texten? 3 Zum hier zugrundeliegenden Verständnis von borderland und Grenzraum, siehe Kapitel 2: „Raum, Grenze, Grenzräume. Eine theoretische Annäherung“. 4 Ein Spektrum von Perspektiven auf den Kulturraum Mitteleuropa eröffnen: Andruchowytsch, Juri/Stasiuk, Andrzej: Mein Europa Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa. Übers. v. Sofia Onufriv/Martin Pollack. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004; Chwin, Stephan: Grenzlandliteratur und das mitteleuropäische Dilemma. In: Transodra 17, 1997, S. 5–13; Konrád, György: Mein Traum von Europa. In: Kursbuch 81, September 1985, S. 175–193; Kundera, Milan: Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas. Übers. v. Cornelia Falter. In: Kommune. Forum für Politik und Ökonomie 2, 1984, H. 7, S. 43–52; Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2000; Miller, Aleksej: Die Erfindung der geographischen Konzepte Mittel- und Osteuropa. In: Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens 11 (Europa und die Grenzen im Kopf). Hrsg. v. Karl Kager et al. Klagenfurt: Wieser 2003, S. 139–164; Pelinka, Anton et.al.: Geschichtsbuch Mitteleuropa. Vom Fin de Siècle bis zur Gegenwart. Wien: New Academic Press 2017. Andere Publikationen richten den Blick auf maritime Georäume, so z. B. Neumann, Bernd/Albrecht, Dietmar/Talarczyk, Andrzej (Hrsg.): Literatur Grenzen Erinnerungsräume. Erkundungen des deutsch-polnischbaltischen Ostseeraums als einer Literaturlandschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 5 Siehe dazu den Beitrag von Britta C. Jung in diesem Band.

Einleitung

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Komparatistische und interdisziplinäre Perspektiven erweitern diesen Fokus, etwa durch den Vergleich von Bobrowskis Prosa mit Texten der polnischen Gegenwartsautorin Olga Tokarczuk, oder linguistische, philosophische und soziologische Analysen von Texten, die sich z. T. auch gattungspoetisch an der Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation bewegen. Eine transnationale Zusammenschau von literarischen (u. a. medialen) Grenzräumen sowie Perspektiven verschiedener Nationalphilologien auf die Ästhetik solcher Räume ist bisher ein Forschungsdesiderat einer post-nationalen Literaturwissenschaft (Chwin 2017; Gansel/Joch/Wolting 2015; Joachimsthaler 2011; Uffelmann 2017).6 Neben den von Dirk Uffelmann hervorgehobenen „agonalen“ Darstellungen des deutschpolnischen „Bevölkerungstransfers“ 1944 bis 19507 gilt das im Hinblick auf diesen Band auch für die Darstellung anderer Bevölkerungsbewegungen und Grenzverschiebungen, ebenso wie für Überlegungen zum „Eastern European Turn“, der die deutschsprachige Literatur in den letzten zwei Jahrzehnten merklich beeinflusst hat.8 Die europäische, insbesondere die mittel- und osteuropäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, war von Grenzverschiebungen, Vertreibung und Migration, der Verfolgung ethnischer Minderheiten bis hin zum Völkermord geprägt. Die Not vieler Menschen in der aktuellen Flüchtlings- und Migrationskrise ruft das wieder ins Gedächtnis. Dabei waren die Konstruktion und Bewegung nationaler und politischer Grenzen im Europa des 20. Jahrhunderts verbunden mit spezifischen politischen Ideologien, wie auch mit der Entwicklung des Nationalismus im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Seit 1989 schienen sowohl Grenzen innerhalb Europas wie auch Europa nach außen hin abschließende Grenzen einerseits stabiler, andererseits aber auch weniger sichtbar und trennend geworden zu sein 6 Chwin, Stephan: Die Bewertung des erzwungenen Bevölkerungstransfers 1939–1950. Eine Herausforderung für die Literatur. In: Germanoslavica 28, 2017, H. 1–2, S. 57–87; Gansel, Carsten/Joch, Markus/Wolting, Monika: Zwischen Erinnerung und Fremdheit. Zur Einführung. In: Zwischen Erinnerung und Fremdheit. Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989. Hrsg. v. ebd. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, S. 11–25, hier S. 25; Joachimsthaler, Jürgen: Text-Ränder. Die kulturelle Vielfalt in Mitteleuropa als Darstellungsproblem deutscher Literatur. 3 Bde. Heidelberg: Winter 2011; May-Chu, Karolina: Von Grenzlandliteratur zur Poetik der Grenze. Deutsch-polnische Transiträume und die kosmopolitische Imagination. In: ZiG. Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7, 2016, H. 2, S. 87–102; Uffelmann, Dirk: Umsiedlung, Vertreibung, Wiedergewinnung? Postkoloniale Perspektiven auf deutsche, polnische und tschechische Literatur über den erzwungenen Bevölkerungstransfer der Jahre 1944 bis 1950. Vorwort des Gastherausgebers. In: Germanoslavica 28, 2017, H. 1–2, S. 5–15. 7 Uffelmann, Dirk: Der deutsch-polnische Bevölkerungstransfer der Jahre 1944 bis 1950 als Gegenstand transnationaler Literaturwissenschaft. Desiderate einer postkolonialen Heuristik. In: Germanoslavica 28, 2017, H. 1–2, S. 39–53. 8 Damit beschäftigt sich u. a. die von Brigid Haines und Anca Luca Holden zum thematischen Schwerpunkt „The Eastern European Turn in Contemporary German Language Literature“ herausgegebene Ausgabe 68, 2015, H. 2 der Zeitschrift „German Life and Letters“.

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– zumindest war das der Eindruck bis zur russischen Besetzung der Krim oder den Diskussionen um die Rückkehr einer ‚harten‘ Grenze zwischen Irland und Nordirland im Zuge des Brexits. In den letzten Jahren lässt sich auch innerhalb des Schengen-Gebietes ein gewisses Erstarken nationaler Grenzen beobachten. Wo Grenzkontrollen zuvor nur situationsbedingt und für begrenzte Zeit durchgeführt wurden, haben einige Länder durch das Verlängern des Ausnahmezustands einen quasi-permanenten Zustand geschaffen. Grenzräume werden nach jahrzehntelanger Versunkenheit in die politische Latenz mit einem Mal wieder brisant; Grenzen erhalten in politischen Diskursen scharfe Konturen oder sogar bedrohliche Züge. Gleichzeitig sind Grenzräume, ihre Geschichten und die damit verbundene Bewegung von Menschen wieder zum Thema ästhetischer Darstellung in den deutschsprachigen Ländern und im europäischen Gesamtkontext geworden. Dabei reflektieren literarische Texte unterschiedliche Diskurse über nationale Grenzen. Sie schaffen aber auch offene transnationale, inter- oder transkulturelle Räume, wie die folgenden Beiträge zeigen. Das umfasst kosmopolitische Räume, in denen spezifische Grenzerfahrungen mit universellen Erfahrungen des Liminalen verbunden werden, wie auch solche, denen ein ‚spiritueller‘ Kosmopolitismus zugrunde liegt, der Universalität prinzipiell verneint.9 Grenzen haben die Funktion, unterscheidbare politische und kulturelle Räume voneinander zu trennen und sind, allgemein betrachtet, eine Notwendigkeit. Der Begriff der Grenze ist daher nicht nur von zentraler Bedeutung für Interkulturalität. Als liminales Phänomen beruht er auf dem Gedanken der Überschreitung wie auch der Reflexion und Aufhebung bestehender Grenzen, wie in der theoretischen Annäherung an den Begriff des Grenzraums im folgenden Kapitel weiter ausgeführt wird. Dieses Paradox kennzeichnet bereits seit Hegel die Grenze an sich, denn „[w]as abgrenzt, schließt aus. Was trennt, verbindet. Was sich berührt, ist immer auch Distanz“.10 In der aktuellen Forschung ist eine Infragestellung von Grenzen durch Begriffe wie Liminalität (Turner), dritter Raum (Bhabha), Globalisierung (Appadurai), Transdifferenz (Lösch) oder Ähnlichkeit (Bhatti) zu beobachten, die über die französische Theoriebildung der 1960er bis 1980er Jahre hinausgreift,11 sowie die Weiterentwicklung eines Raum-

9 Vgl. dazu Appiah, Kwame A.: Cosmopolitanism. Ethics in a World of Strangers. New York: Norton 2006. Außerdem Albrecht, Andrea: Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800. Berlin: de Gruyter 2005; Delanty, Gerard: The Cosmopolitan Imagination. The Renewal of Critical Social Theory. Cambridge: Cambridge UP 2009. 10 Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Frankfurt/Main: Fischer, 2006, S. 143. 11 Siehe dazu das folgende Kapitel dieses Bandes, „Raum, Grenze, Grenzräume. Eine theoretische Annäherung“.

Einleitung

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begriffs, der „real and imagined places“ verknüpft (Foucault; Lefebvre; Soja).12 Grenzräume als Kontaktzonen können sich innerhalb eines imperialen, nationalen oder eines europäischen Rahmens bewegen bzw. darüber hinausgehen. Die zumeist ästhetisch grundierte Reflexion des Grenzräumlichen beeinflusst historische Narrative, Konzepte von Identität, Ästhetiken, intermediale Grenzen wie auch theoretische Ansätze in verschiedenen Disziplinen.13 Ist der Strich als Grenzmarkierung – etwa auf einer Landkarte – eine inadäquate Darstellung der Komplexität sich vermischender Sprachen, wirtschaftlicher und politischer Relationen in Grenzräumen, so eröffnen literarische Texte andere Möglichkeiten, deren historische und kulturelle Komplexität darzustellen. Dies kann durch Formen der Reduzierung, der Konstruktion und der Ordnung geschehen und sich auf die Geschichtlichkeit persönlicher Erfahrungsräume oder die historiographische Festschreibung von Grenzen beziehen. Wo und wie in der deutschen Literatur der vergangenen 125 Jahre innerhalb eines weiter oder enger gefassten europäischen Kontexts eine Auseinandersetzung mit solchen Grenzen stattfindet, bildet den gemeinsamen Fragehorizont dieses Bandes. Der Bezug auf historisch-politische Grenzräume einerseits und anderseits das Ineinanderübergehen persönlicher Erfahrungsräume in liminale Erinnerungsräume sind für das Schreiben von Johannes Bobrowski kennzeichnend. Das verschwundene Osteuropa ist der zentrale Topos in seinem Gesamtwerk. Der 1917 in Ostpreußen geborene und 1965 in Ostberlin verstorbene Autor nannte es „so etwas wie eine Kriegsverletzung“14 und erklärte mehrfach, dass er während 12 Soja, Edward W.: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and other Real-and-Imagined Places. Oxford, Cambridge, MA: Blackwell 1996. Zu den genannten Ansätzen siehe Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis [u. a.]: Univ. of Minnesota Press 2010; Bhabha, Homi: The Location of Culture. London/New York: Routledge, 2004; Bhatti, Anil: Heterogeneities and Homogeneities. On Similarities and Diversities. In: Understanding Multiculturalism. The Habsburg Central European Experience. Hrsg. v. Johannes Feichtinger/Gary B. Cohen. New York/Oxford: Berghahn 2005, S. 17–46. Foucault, Michel: Von anderen Räumen. In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. v. Jörg Dünne /Stephan Günzel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 317–329; Lefebvre, Henri: La production de l’espace. In: L’Homme et la société 31–32, 1974, H. 1, S. 15–32; Lösch, Klaus: Begriff und Phänomen der Transdifferenz. Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte. In: Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Hrsg. v. Lars Allolio-Näcke/Britta Kalscheuer/Arne Manzeschke. Frankfurt/New York: Campus 2005, S. 26–49; Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Zum Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt/New York: Campus 1982. 13 Vgl. dazu u. a. Geulen, Eva/Kraft, Stephan: Vorwort. In: Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur, Sonderheft zur Zeitschrift für Deutsche Philologie 129, 2010, S. 1–4; Weyand, Jan/ Sebald, Gerd/Popp, Michael: Einleitung. Grenzen aus soziologischer Sicht. In: Grenzgänge – BorderCrossings. Kulturtheoretische Perspektiven. Hrsg. v. ebd. Münster: LIT Verlag 2006, S. 9–18. 14 Zitiert in Baldauf, Helmut: Lebensbilder Johannes Bobrowski. Texte, Fotos, Erinnerungen. Berlin: BasisDruck 2011, S. 55.

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des Krieges zum Schriftsteller geworden sei. So beschrieb Bobrowski 1964 in einem Interview mit dem „Deutschlandsender“ seine in den 1950er und frühen 1960er Jahren entstandene ‚sarmatische‘ Lyrik,15 die ihn auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze bekannt machte und für die er 1962 den Preis der Gruppe 47 erhielt, als Versuch, das „Verhältnis der Deutschen zu den östlichen Nachbarvölkern […], auch mit dem Mittel des Gedichts in etwa für mich zu klären.“16 Das bedeutet in erster Linie die Auseinandersetzung mit der eigenen Erfahrung im Kontext deutsch-osteuropäischer Geschichte wie auch die Suche nach einer angemessenen ästhetischen Form für dieses Eingedenken.17 Bobrowski verbrachte seine Kindheit in dem ab 1919 von den Alliierten verwalteten, 1923 von Litauen annektierten und 1939 vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Memelgebiet, einem Grenzraum, dessen Kultur von jüdischen, deutschen, polnischen und litauischen Einflüssen geprägt war. Als deutscher Soldat nahm er zumindest indirekt an der Vernichtung der nun als ‚Untermenschen‘ klassifizierten Bewohner dieses Grenzgebiets und anderer Regionen Osteuropas teil. In den aus dieser Erfahrung entstehenden literarischen Texten geht der Blick räumlich über konkrete Orte und zeitlich sowohl über den biographischen als auch den geschichtlichen Rahmen hinaus – eine Perspektive, die Bobrowski im Titel seines ersten Gedichtbandes, „Sarmatische Zeit“ (1961), mit Hilfe des spätantiken Begriffs Sarmatien umschreibt. Durch die Adaption mythischer Stoffe und Strukturen und den Bezug auf Geschichtliches und Biographisches, entsteht ein poetischer Gedächtnis- und Sehnsuchtsraum, der strukturelle Parallelen zu Ernst Cassirers mythischem Raum aufweist und in dem Begegnungen und Erfahrungen möglich sind, die im empirischen Raum nicht stattfinden könnten.18 Bleibt der Erinnerungsraum ‚Osten‘ von zentraler Bedeutung für Bobrowskis spätere Prosatexte, wie den in beiden Teilen Deutschlands gleichzeitig veröffentlichten und breit rezipierten Roman „Levins Mühle“ (1964), für den der Autor den Heinrich-Mann-Preis der Ostberliner Akademie 15 „Sarmatische Zeit“ (1961) und „Schattenland Ströme“ (1962), beide erschienen bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart. 16 Interview mit H. Baldauf. Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn. In: Bobrowski, Johannes: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. Eberhard Haufe/Holger Gehle. Stuttgart/Berlin 1987–1999, hier Bd. IV, S. 463–466, hier S. 463; Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden mit der Sigle GW, Band- und Seitenangabe nachgewiesen. 17 Vgl. dazu u. a. Egger, Sabine: Martin Buber und Johannes Bobrowski. Ethik und Erinnerung in der sarmatischen Lyrik. In: Literaturkritik.de 19, 2017, H. 4, (Zugriff am 05. 02. 2019); zuerst erschienen in Degen, Andreas/Taterka, Thomas: Zeit aus Schweigen. Johannes Bobrowski – Leben und Werk (Colloquia Baltica 15), München: Martin Meidenbauer 2009. 18 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde., 1923–1929. Bd. 2 (Das mythische Denken). Nachdruck: Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1964. Vgl. dazu Egger, Sabine: Dialog mit dem Fremden. Erinnerung an den ‚europäischen Osten‘ in der Lyrik Johannes Bobrowskis. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 44f.

Einleitung

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der Künste und den Internationalen Charles-Veillon-Preis (Zürich) erhält, so wird der in den Gedichten überwiegend nach innen gerichtete Dialog mit der Vergangenheit auch zu einem erzieherischen Dialog mit dem Leser. Im Gegensatz zur Raumästhetik seiner dunklen, von Hölderlin und der französischen Moderne beeinflussten Lyrik ist der sarmatische Raum in den Prosatexten konkreter, historisch sichtbarer verortet. Das ist auch im Kontext der DDR-Literaturlandschaft der frühen 1960er Jahre zu sehen, in der sich Bobrowski in seiner Zeit in Ostberlin findet – trotz seines Lavierens zwischen ost- und westdeutschen Verlagen und seiner besonderen Position im literarischen Feld DDR. Mit der antiken Bezeichnung Sarmatien als Name für den Geschichts- bzw. Erinnerungsraum, auf den er sich bezieht und den er neu erschließt, übernimmt Bobrowski einen halb wissenschaftlichen halb poetischen Phantasienamen aus der Antike. Das als Sarmatien bezeichnete Gebiet ist in der frühen Geschichte ein Ort von Völkerwanderungen und der Bewegung nomadischer Stämme. Im Laufe der Zeit siedeln sich Polen, Litauer, Letten, Österreicher, Böhmen, Russen, Juden, Sinti und Roma und andere dort an. Zudem kannte Bobrowski wahrscheinlich auch den Begriff des oben erwähnten polnischen Sarmatismus, ein verschiedene Ethnien und Konfessionen umfassendes Konzept, mit dessen Hilfe die Bewohner Polen-Litauens und Polens ihre kollektive Identität vor den Teilungen im 18. Jahrhundert in erster Linie räumlich statt ethnisch definierten.19 Auch in Bobrowskis Sarmatien werden nationale, ethnische, religiöse und politische Grenzen durch die dementsprechende Kenntlichmachung der Bewohner zunächst sichtbar gemacht, doch mit Hilfe einer archetypischen Raumstruktur, die sich auf die Bewohner des Raumes ausdehnt, und Verfahren der Polymythie wieder durchbrochen. Bobrowskis Sarmatien ist also kein zeitloser mythischer Raum, wie ihn die Texte diverser Autoren der Nachkriegsliteratur entwerfen, die sich der Auseinandersetzung mit dem Holocaust und Zweiten Weltkrieg mit Hilfe metaphysischer Raumentwürfe entziehen,20 sondern ein poetischer Raum, in dem nationale und Ost-West-Grenzen und deren Funktionen im Verlauf der Geschichte zugleich bewusst gemacht als auch transzendiert werden. Das in den Gedichten evozierte Sarmatien hat keine festen geographischen oder zeitlichen Grenzen. Es verweist auf die historische Dimension nationaler Grenzziehungen, schwebt aber durch seine antike bzw. mythische Offenheit zugleich über der nationalstaatlichen Moderne. Es ist ein pluri-ethnischer Raum, der im europäischen Osten 19 Vgl. Heynold 1998. 20 Hier wäre zum einen die Naturlyrik Wilhelm Lehmanns zu denken, zum anderen an metaphysische Epochendiagnosen in Prosatexten wie denen Elisabeth Langgässers. Vgl. Bertram, Matthias: Literarische Epochendiagnosen der Nachkriegszeit. In: Deutsche Erinnerung. Berliner Beitrage zur Prosa der Nachkriegsjahre (1945–1960). Hrsg. v. Ursula Heukenkamp. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1990, S. 11–100.

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verortet ist, die Grenzen vorhandener Europabilder – u. a. zu Asien – aber auf verschiedenen Ebenen verschiebt. Dass sich dieses Sarmatien damit auch als kultureller Grenzraum des Abendlandes präsentiert, verleiht ihm besondere Aktualität im Kontext der gegenwärtigen Diskussion zu Parallelen zwischen dem Nationalismus 1919 und 2019.

Teil I. Ostgrenzenlos? Bobrowskis sarmatische Utopie21 Andreas Degen (Potsdam) erinnert in seinem Beitrag an die enge historische Verknüpfung des deutschen Begriffs ‚Grenzland‘ mit dem nationalen Diskurs über die deutsche Ostgrenze und mit der ethnisch-kulturellen Diversität Osteuropas. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Transformation des Alteritätskonzepts slawischer Osten in den frühen Gedichten und in Briefen nachvollziehen, die Bobrowski während des Zweiten Weltkrieges und den 1950er Jahren verfasst hat.22 Das gilt ebenfalls für das nach dem Ersten Weltkrieg bis 1939 als deutsche Exklave und ‚Grenzland‘ aus deutscher Sicht politisch semantisierte Ostpreußen. Denn das als deutsche ‚frontier‘ konfrontativ gegen den ‚slawischen Osten‘ gesetzte Ostpreußen wird bei Bobrowski zum westlichen Ausläufer eines multi-ethnischen kulturhistorischen Identifikationsraumes Osteuropa, retrospektiv idealisiert und dem geteilten Nachkriegsdeutschland der Gegenwart gegenübergestellt. Bobrowskis frühe Gedichte der 1940er Jahre halten einerseits am Topos erhabener russischer Landschaften fest, doch findet Degen in den Ansätzen perzeptiv-ästhetischer Grenzüberschreitung dieser Lyrik auch Spuren traumatischer Kriegserfahrung. Der damit verbundene Heimatverlust wird anfangs noch auf eine erkennbare ostpreußische Landschaft als hochgradig emotionaler Bezugsort projiziert, zerfließt jedoch zunehmend in einen zeitlich und räumlich umfassenden europäischen Osten als Imaginations- und Identitätsraum des Sprechers.23 Iulia-Karin Patrut (Flensburg) diagnostiziert aus interkultureller Perspektive in Bobrowskis Lyrik eine Mythisierung des Fremden, die deutschsprachige jüdische Schriftsteller aus Ostmitteleuropa auf der anderen Seite des ‚deutschen 21 So der Titel des Vortrags von Andreas Degen. 22 Meyer, Jochen (Hrsg.): Johannes Bobrowski. Briefe 1937–1965. Göttingen: Wallstein 2017. 23 Gibt Bobrowski sein historisch-enzyklopädisches Projekt eines „sarmatischen Divans“ (in Anlehnung an Goethes west-östlichen Divan), das er im Oktober 1956 in seinem Brief an den Freund Hans Ricke formuliert, bald wieder auf, so schafft er eine sarmatische Ästhetik, die sich in der Spannung „zwischen Exil und Utopie“ und „zwischen Multikulturalität und deutscher Sprache“ konstituiert (Breysach, Barbara: Dichter im sarmatischen Exil. Bobrowskis Kurzprosa Mäusefest im Lichte der Auseinandersetzung mit Paul Celan. In: Zeit aus Schweigen. Johannes Bobrowski. Leben und Werk. Hrsg. v. Degen, Andreas/Taterka, Thomas (Colloquia Baltica 15). München: Meidenbauer 2009, S. 353–367, hier S. 358).

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Wir‘ positioniert. Diese Problematik entstehe aus einem Philosemitismus – vom Autor selbst in nicht-literarischen Äußerungen kritisch reflektiert –,24 der in der sarmatischen Lyrik nicht sprachlich dekonstruiert werde. Ein Hauptgrund dafür ist, wie Patrut aufzeigt, dass die Gedichtsprache Bobrowskis weiter an der sinnlichen Kraft des Wortes im Sinne Klopstocks festhält, trotz der Zäsur 1945, die der Sprache eine Neuformierung im Zeichen der Aufarbeitung (auch struktureller) Gewalt abverlangt. Dagegen reflektiert Paul Celans hermetische Lyrik eben diesen Bruch und damit auch das Gedächtnis der Opfer des Holocausts, ohne diese zu mythisieren. So nimmt Celan in seiner Lyrik auf konsequentere Weise als Bobrowski Vorstellungen sprachlicher, religiöser und kultureller Diversität Europas und des ‚Deutschen‘ vorweg. Trotz seiner vergleichsweise kurzen Schaffenszeit und dem sarmatischen Thema als Konstante in Bobrowskis Gesamtwerk ist darin eine Entwicklung auszumachen, die sich einerseits in einer zunehmend dunklen Lyrik, andererseits in seiner Wendung hin zu Prosatexten mit spezifischem historischen und geographischen Bezug in den 1960er Jahren zeigt. Allerdings experimentiert Bobrowski auch in seiner Prosa mit intertextuellen und diskursiven Grenzüberschreitungen, die Wahrnehmungsgrenzen bewusst machen und so eine komplexe Textästhetik konstituieren. Das verdeutlicht Innokentij Urupin (Konstanz) in seinem Beitrag, der anhand von Bobrowskis „Brief aus Amerika“ (1963) im Vergleich mit „Ein Brief“ („Письмо“, 1923) von Isaak Babel, zeigt, inwiefern das mündliche Erzählen in Bobrowskis Prosa von der skaz-Ästhetik der russischen Avantgarde beeinflusst ist.25 Parallelen bzw. Anknüpfungspunkte, im Hinblick auf Stimme und Schrift wie auch das Bildhaft-Photographische, werden anhand weiterer Prosatexte, wie „Rainfarn“ (1964) und „Sonnenbad“ (aus dem Nachlass, 1964), sichtbar. Bezeichnend für diesen Rezeptionsprozess sei die Transformation des futuristischen, „sadistischen“ (Smirnov) skaz-Ansatzes, wie er Babels „Reiterarmee“ („Конармия“, 1926) bestimmt, in eine – angesichts der ‚deutschen Schuld‘ auf die Vergangenheit gerichtete – „dialektisch“-masochistische (Deleuze) Stimme in Bobrowskis Texten. Auch die übrigen Beiträge im ersten Teil des Bandes lenken den Blick auf ästhetisch innovative transnationale und utopische Aspekte von Bobrowskis 24 „Die Beschäftigung der Literatur mit den Juden hat etwas hervorgebracht, das man als Philosemitismus bezeichnet./ Da wird also ein Idealtyp hergestellt, eine romantische Gestalt von abgeklärter Weisheit und unbegreiflicher Leidensfähigkeit, und damit ist es geschafft. Der betreffende Philosemit hat sich salviert: er hat seinen Juden bronciert und hinter Glas gesetzt“ (Bobrowski, Johannes: Selbstzeugnisse und neue Beiträge über sein Werk. Berlin: Union 1975, S. 17f.). 25 Das eröffnet interessante Perspektiven auf Bobrowskis Rezeption des russisch-jüdischen Autors Isaak Babel, mit der sich der Autor in einzelnen Gedichttexten u. a. in interkulturellem Sinne auseinandersetzt, auf sprachlicher Ebene.

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Sarmatien.26 Sowohl Kristin Rebien (San Diego) als auch Joanna Jabłkowska (Łódz´) beschäftigen sich mit Bobrowskis bekanntestem Roman, „Levins Mühle“ (1964) als einem Text, der die Kontingenz europäischer Grenzen und nationaler Identitäten vor dem historischen Hintergrund der deutschen Reichsgründung 1870 aufzeigt. Rebien verweist auf den Bau der Berliner Mauer 1961 – den sie als Fortsetzung und Tiefpunkt einer die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts bestimmenden Geopolitik nationaler Grenzziehung interpretiert – als Entstehungskontext für „Levins Mühle“. Im Roman ist das am Ostrand des neugegründeten deutschen Reiches liegende Culmerland der Ort für eine Erfolgsgeschichte eines bürgerlichen Nationalismus. Dieser triumphiert auf Romanebene über den ethnischen Nationalismus, der Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die europäische Geschichte dominiert. Jabłkowskas komparatistischer Beitrag schlägt indes eine Brücke zur polnischen Gegenwartsliteratur, indem sie Bobrowskis „Levins Mühle“ und Olga Tokarczuks „Ksiegi Jakubowe“ („Jakobs Bücher“, 2014) in der polnischen Grenzlandliteratur verortet. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich mit kresy in polnischen literarischen und nicht-literarischen Diskursen ein spezifischer Begriff für die Grenzland-Semantik entwickelt: Gemeint sind damit polnische Ostgebiete, die nach beiden Weltkriegen nur zum Teil wieder in den polnischen Staat eingegliedert wurden und einen wichtigen polnischen Erinnerungsort darstellen. Sowohl in „Levins Mühle“ als auch in „Ksiegi Jakubowe“ wird implizit oder explizit Bezug auf kresy genommen und dieser sowohl semantisch als auch geographisch verschoben. Die im kollektiven Gedächtnis polonisierte Kulturlandschaft wird in ihrer ethnischen, sprachlichen und kulturellen Mehrdimensionalität gezeigt und auf ganz Europa ausgedehnt. Florian Gassner (Vancouver) zeigt, wie Bobrowskis in seiner narrativen Form besonders anspruchsvoller letzter Roman, „Litauische Claviere“ (Ost-Berlin, 1966/West-Berlin 1967), sich kritisch mit dem nationalistischen und imperialistischen Gedankengut auseinandersetzt, das am Vorabend des Zweiten Weltkriegs die deutsch-litauische Grenzregion beherrscht. Nationalistische Diskurse und damit verbundene geopolitische Ambitionen werden im Text nicht aus postkolonialer Perspektive verkehrt, sondern grundsätzlich in Frage gestellt. Die Kulturgeschichte des Memelgebiets wird dabei in einer Oper als hochemotiver Kunstform verdichtet, d. h. einem ästhetischem Produkt, das nationale Differenzen durchdringt. So erkundet Bobrowski im Sinne Lyotards neue narrative Strukturen für eine nationale Erinnerungskultur, die weder in Chauvinismus oder einen romantisierenden Nationalismus zurückfalle noch zu einem nüch26 Die utopische Dimension bleibt besonders in der Prosa, aber auch der Lyrik Bobrowskis weiter präsent, wenn der Autor auch das Großprojekt seines eines „sarmatischen Divans“ bald wieder aufgibt.

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tern-pragmatischen ‚civic nationalism‘ als Lösung für emotional besetzte Diskurse greift. Mit seiner sarmatischen Poetik des Liminalen und Grenzüberschreitenden in ost-west-europäischer Perspektive war Bobrowski in verschiedener Hinsicht seiner Zeit voraus, was das wiedererwachte Interesse an seiner Lyrik und Prosa in den vergangenen zwei Dekaden mit erklären hilft. Es zeigt sich nicht nur an dem erneuten Blick nach ‚Osten‘ nach 1989, sondern wird auch an ästhetischen Strukturen literarischer Grenzräume in der Gegenwartsliteratur sichtbar.

Teil II. (Ost-)Mitteleuropa revisited Weder Okzident noch Orient, nicht mehr wirklich Europa und noch nicht Asien – so semantisch verschwommen und auch begrifflich salopp oszilliert Sarmatien zwischen geographisch-historischer Faktizität (geschichtlich Reales) einerseits, raumpoetisch-imaginativer Gemachtheit (künstlerische poeisis) andererseits. Diese ebenso begriffliche wie ontologische, kulturräumliche wie emotionale Polyvalenz Sarmatiens findet sich in unterschiedlicher Form und Ausprägung auch in den literarischen und nicht-literarischen Texten, mit denen sich die übrigen in diesem Band versammelten Beiträge z. T. aus (inter-)disziplinärer und interkultureller Sichtweise beschäftigen. Auch hier ermöglicht die Spannung zwischen historischer Faktizität und ästhetischer Offenheit des Grenzraums, der utopische sowie heterotope, körperliche wie auch geschlechtliche Formen annehmen kann, die Auseinandersetzung mit festen Grenzen. Die Beiträge in diesem Teil des Bandes befassen sich mit vom Ende des 19. bis Anfang des 21. Jahrhunderts entstandenen Prosatexten. Im Mittelpunkt steht dabei die Auseinandersetzung mit historischen Wahrnehmungsmustern von Regionen wie Schlesien oder Galizien als östlicher Peripherie bzw. Grenzfestung des habsburgischen bzw. deutschen Reiches. Verschiebt sich der geographische Fokus in diesem Teil in Richtung Mittel- oder „Zwischeneuropa“27, geht es auch hier um dem ‚Osten‘ zugerechnete oder sich durch die Abgrenzung von diesem Osten konstituierende Grenzregionen.

27 „Die begriffliche Ausdifferenzierung ‚Ostmitteleuropa‘ ist nach 1918 anzutreffen. Ausgangspunkt für die neue Begriffsbildung war das ‚Zwischeneuropa‘ des Geographen Albrecht Penck (1858–1945) aus dem Jahr 1915. Mit diesem Begriff bezeichnete er den Raum vom Weißen Meer bis zum Bosporus als potentielle deutsche Einflusssphäre, deren Dimension im Vergleich zu ‚Mitteleuropa‘ deutlich erweitert und dynamischer gefasst war. Nach Kriegsende verfestigte sich der Begriff ‚Zwischeneuropa‘ für „den langen Streifen zwischen Mittel- und Osteuropa von Finnland bis Griechenland“ (Zugriff am 21. 03. 2019).

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Florian Krobbs (Maynooth) Beitrag wirft ein Licht auf die hochkomplexe Verinnerlichung der preußisch-kolonialen Wahrnehmung Schlesiens anhand der Protagonistin in Theodor Fontanes „Cécile“ (1886) im Vergleich mit Stephan Wackwitz’ „Ein unsichtbares Land“ (2003), das aus postkolonialer Perspektive einen (familien-)geschichtlichen Überblick über solche Wahrnehmungsmuster schafft. In beiden Texten wird die Problematik des kolonialen Blicks in einen weiteren, globalen Kontext gerückt. Doch im Gegensatz zum männlich codierten und damit fest in einer maskulinen Geschichte verankerten Schlesien bei Wackwitz ist Fontanes Schlesien weiblich codiert und wird so zum Inbegriff einer verstörenden Fremdheit. Das scheinbar großstädtisch-protestantische Zentrum wird damit ebenso als Konstrukt entlarvt wie die Fremdheit der schlesischen Peripherie und der Verlust des protestantischen Selbstverständnisses dabei zugleich betrauert. Benoît Ellerbach (Istanbul) vergleicht die Auseinandersetzung mit der Neudefinition von Grenzen in Folge des Ersten Weltkriegs in Stefan Zweigs „Episode am Genfer See“ (1927) und Joseph Roths „Die Büste des Kaisers“ (1935). Beide Autoren setzen sich als entschiedene Gegner des Nationalismus in ihren Novellen mit der Auflösung der alten ost- bzw. mitteleuropäischen Monarchien im Kontext der Weltgeschichte auseinander und stellen diesem Auflösungsprozess des alten Europas die Schweiz bzw. Ostgalizien als heterotope Grenzräume gegenüber – lokalisierte Utopien als Orte der Flucht vor der Wirklichkeit, die den Protagonisten in beiden Novellen aber letztlich keine Zuflucht bieten können. Hannelore Roths (Leuven) Beitrag analysiert die Verwobenheit territorialer Grenzdiskurse und symbolischer, insbesondere geschlechtlicher Differenzkonstruktionen. Gegenstand der Untersuchung ist der autobiographische Roman „Die Geächteten“ (1930) von Ernst von Salomon, in dem der ehemalige Freikorpskämpfer über seine ‚Abenteuer‘ im baltischen Freikorps Bericht erstattet. Vor dem Hintergrund der Identitäts- und Sinnkrise der Nation und der damit einhergehenden Krise des männlichen Subjekts nach dem verlorenen Weltkrieg wird der Erzähler und das Freikorps als Ganzes von einer pathologischen Angst vor Grenzübergängen vorangetrieben, die sich sowohl auf territoriale, symbolische wie auch körperliche Grenzen bezieht. Deutschland wird damit nicht mehr innerhalb von Grenzen, sondern „an der Grenze“ gedacht, es gibt keine klare Frontlinie, sondern eine dynamische, ständig verschiebbare Kampfzone, mit der eine spezifische Form von Männlichkeit erzeugt wird. Hier lassen sich Parallelen zur Funktion des Ostens und des ‚slawischen Fremden‘ für die nationalsozialistische Inszenierung des ‚deutschen Volkskörpers‘ finden, mit der sich Joseph Holubs Jugendroman „Der rote Nepomuk“ (1993) auseinandersetzt. Britta C. Jung (Dublin) untersucht, wie Holubs Darstellung dieser Funktionalisierung und des damit einhergehenden Zerfalls der böhmischen ‚Germania Slavica‘ als Kulturlandschaft an amerikanische Local Color Literature bzw.

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Frontier Humor anknüpft. Das erklärt auch, warum Holubs bereits in den 1950er Jahren verfasster Roman erst 1993 veröffentlicht wurde, wobei letzteres auf die Bewegung der neueren Jugendliteratur insgesamt hin zu einem multidirektionalen Opfer-/Täterdiskurs und damit auch der Wiederentdeckung der Themen Heimat und Vertreibung in Verbindung mit (ost-)mitteleuropäischen Grenzräumen deutet. Withold Bonner (Tampere) beschäftigt sich mit Grenzräumen, in denen gerade Abwesenheit gegenwärtig gemacht wird. Es geht um Friedhöfe als Heterotopien in der deutsch-polnischen Grenzlandliteratur, übrigens auch ein Motiv in der Lyrik Bobrowskis. Anhand von Christa Wolfs „Kindheitsmuster“ (1976), Günter Grass’ „Unkenrufe“ (1992), Stefan Chwins „Hanemann“ (1995) und Sabrina Janeschs „Katzenberge“ (2010) erschließt sich, wie solche Friedhöfe mit ihren diversen kulturellen Schichtungen in verschiedenen Phasen nach 1945 einer monokulturalisierenden Politik auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenzen widersprechen. Ebenso werden die intertextuellen Bezüge und gegenseitige Rezeptionsspuren innerhalb dieser Grenzlandliteratur als weitere Ebene der Grenzüberschreitung sichtbar gemacht.

Teil III. Topographische Polyvalenzen Raumsemantische und topographische Polyvalenzen, wie wir sie an Bobrowskis Sarmatien gewissermaßen modellhaft erkannt haben, bilden ebenfalls eine gemeinsame Perspektive der Beiträge im dritten Teil. An den dort untersuchten Texten werden komplexe Bedeutungsschichten des literarischen Grenzraums sichtbar gemacht, in denen geographische, historische und politische Aspekte sich mit Erfahrungen des Schwellenhaften, des Sichentgleitens und Auflösens verbinden. Wie die Realität realer Räume von derjenigen imaginativer Räume überlagert wird – und umgekehrt – zeigt Svetlana Efimovas (München) Analyse des Werks von Jakub Deml. Hier – wie auch in Olga Hinojosa Picóns (Sevilla) Deutung von Barbara Honigmanns Werk – geht es um ein Zusammenfließen von Herkunftserinnerung und Weltbeziehung, von Schreiben und Selbstverstehen sowie von Grenzen und Bindungen. Dadurch kommt Liminalität immer wieder als ein schwankender Konstituierungsgrund von sprachlicher wie personaler Identität zum Tragen. Diese für Grenzräumlichkeit gleichsam konstitutive Fluidität wird unter anderen politischen und ins historische Kollektiv übersetzenden Vorzeichen von Garbiñe Iztueta (Vitoria-Gasteiz) an der Wassermetaphorik in Uwe Tellkamps „Der Turm“ (2008) aufgezeigt. Auch Andrea Meixners (Stockholm) Thematisierung der Darstellung und Funktion von Grenzen zielt auf einen mit diesen verbundenen, semantisch fluiden und polyvalenten Raumbegriff, der in deutschsprachiger Migrantenliteratur topographische mit sozialen Aspekten vereint.

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Den Ausgangspunkt für Brian Hamans (Bukarest) Lektüre von Herold Belger bildet dessen biographische Interkulturalität, die aus Kasachstan als einer Art südöstlich verschobenem Sarmatien stammt. Hierfür wird der Begriff eines ebenso sprachlich, kulturell sowie geographisch dimensionierten Dritten Raumes (Bhabhas third space) fruchtbar gemacht. Konkret verdeutlicht werden generative Momente von Pluralität und Hybridität, die über konfrontative und dialektische Kulturraumbeziehungen hinausgehen und topographische Perspektiven mit topologischen verschmelzen. Scheinbar stabile Verhältnisse wie die relativen Identitäten von Sprachen und Nationen geraten in dieser differentiellen Perspektive in die Schwebe einer Logik, nach der die Konstitution von Grenzen in deren Transgression übergeht. Solches Zusammengehen des ontologischen mit dem prozessualen Aspekt von Grenzräumen bildet schließlich bei Anne Sturm (Halle-Wittenberg) das dynamische Grundmuster ihrer Interpretation der Erstlingswerke von Dimetré Dinev und Ilija Trojanow, in denen vergleichbare autobiographische Migrationserfahrungen literarisch verarbeitet sind (bordercrossing narratives; emotional bordering). In diesem Anwendungs- und Reflexionsbezug wird die ästhetische Erweiterung des geographisch-politischen Konzepts von borderscape fruchtbar gemacht. So werden literarische Texte, die Grenzen und ihre Performativität thematisieren, selbst als bordering practice zur Erscheinung gebracht.

Teil IV. Poetische Räumlichkeit und Gattungsgrenzräume Die im dritten Teil durch Verbindungen von topographischen mit topologischen Perspektiven zur Geltung gebrachte Liminalität von Grenzräumen wird im vierten Teil fortgeführt und hier um die Akzentuierung ästhetischer und poetologischer Aspekte ihrer sprachlichen Präsentation ergänzt. Eingangs wird von Stefan Hajduk (Adelaide) am Beginn des beobachteten Raum-Zeit-Segments die ästhetische Erfahrungsqualität von Räumlichkeit und Körperlichkeit noch im Zusammenhang der literarischen Moderne um 1900 verortet. Denn von den in Robert Musils „Törleß“ (1906) epistemologisch reflektierten und erotisch assoziierten Synästhesien der Jahrhundertwende lässt sich die Auffächerung des dualen Raumschemas zu einer subliminalen Vielfalt von Grenzerfahrungen des menschlichen Im-Raum-Seins nachvollziehen. Das weitere Werk Musils antizipiert die (proto-)phänomenologische Revision des statischen Raumkonzepts des 20. Jahrhunderts und literarisiert ein psychodynamisches Zwischen auf der Suche nach der poetischen Sprache in Grenzräumen. Die raumästhetische Kategorie des Zwischen bildet dann den narratologischen Fluchtpunkt von Edit Kovács (Budapest) subtiler, ethische Implikationen im Umgang mit dem Anderen entfaltender Annäherung an W.G. Sebalds „Die

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Ausgewanderten“ (1992). Zugleich führt Kovács’ analytisches Nachvollziehen des polyfokalen und multiperspektivischen Erzählens an die Thematik des Emigrantischen mit ihren Spannungen zwischen existenzieller Deterritorialisierung und temporalisierter Verräumlichung heran. Dabei korrespondieren mit den traumatischen Biographiebrüchen – allgemein: den lebensräumlichen Veränderungen – die gattungsästhetischen Grenzgänge einer Sprache zwischen essayistischer Dokumentation und narrativer Fiktion. Die örtliche Rückgebundenheit jeder Sprache zusammen mit lebensgeschichtlichen Bedingtheiten durch ideologische, politische und soziale Räume bilden den topographischen Horizont, in und aus welchem heraus sich literarisches Scheiben motiviert und entwickelt. Dabei kommen in Jacqueline Gutjahrs (Göttingen) Blick auf Gedichte von Maja Haderlap („langer transit“, 2014) der experimentelle Umgang mit Sprachen, das Erleben von Sprache als Medium von Stimmungen und die imaginative Aufschließung von Grenzräumen als ein Ensemble von Bedingungen zur Erscheinung, die Übergänge wie den von Mangelgefühl in Sprachfluss oder von Verlusterfahrung in Erinnerungsräume ermöglichen. Die Erfahrung und Gestaltung von poetischer Sprache als einem Oszillieren zwischen semantischer Verdichtung und disseminativer Auflösung stehen im Zentrum von Joseph Twists (Dublin) Analyse der experimentellen Lyrik von Semier Insayif. Gewissermaßen setzt das analytische Aufzeigen sich dadurch seinerseits der dezentrischen Bewegung aus, von der die Referentialität von Wort und Ding, Signifikant und Signifikat im Band „boden los“ (2012) erfasst und gelockert wird. Dessen Gedichte materialisieren einen symbolischen Prozess, der sprachliche Grenzräumlichkeit temporalisiert. Die für Verstehen von Sinn konstitutiven Grenzen zwischen Zeichen und Bedeutung wie auch zwischen Texten und Welten erweisen sich als Schwellen ins Unbegreifbare, Abgründige oder eben ‚Bodenlose‘. Wie Sprache selbst als Grenzraum erfahren und zugleich diesseits poetischer Konkretion verortet werden kann, zeigt Tom Vanassches (Freiburg) Lektüre von Dieter Schlesaks „Capesius, der Auschwitzapotheker“ (2006); wiederum ein Text, der einem gattungspoetischen Grenzfall zwischen Fiktion und Dokumentation darstellt. In diesem abschließenden Beitrag wird die Thematik der Grenzräume noch einmal unter ganz verschiedenen und doch zusammenhängenden Aspekten beleuchtet: dem Pidgin-Deutsch der Lagerinsassen und dessen Übersetzungen (ins Englische und Niederländische), der Transkription vom bloß Oralen in die Schrift des Romans, sowie unter dem Aspekt des literarischen Verhältnisses von Form und Inhalt. Die topographische und sprachliche Vielfalt an Herkunftsländern ihrer Sprecher lässt die lagerszpracha selbst als einen hybriden Grenzraum erscheinen, aus dem etwas von den unsagbaren Grenzerfahrungen

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nachklingt, die Auschwitz zum Symbol des rassenideologischen Exterminismus im 20. Jahrhundert gemacht haben. Wir möchten uns an dieser Stelle bei folgenden Institutionen bedanken, deren Unterstützung dieses Projekt in seinen verschiedenen Phasen mit ermöglicht hat – angefangen mit der 2017 von Bill Niven mitorganisierten Tagung am Institute for Modern Languages Research (IMLR) der University of London bis hin zum vorliegenden Band: der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, dem IMLR, der Modern Humanities Research Association, dem Irish Research Council, Mary Immaculate College, Limerick, dem German Historical Institute und der Deutschen Botschaft, London. Unser besonderer Dank gilt Godela Weiss-Sussex (IMLR/Cambridge) und Bill Niven (Nottingham Trent).

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Introduction

With his Sarmatia German writer Johannes Bobrowski (1917–1965) created a poetic border-space in Eastern and Central Europe that was not only innovative in the 1950s and 1960s, but continues to challenge the established national, cultural and historical borders in the region to this day. Yet Bobrowski did not use the term in today’s perhaps more common denotation, i. e. as a reference to the “national consciousness” among Polish noblemen within the Polish-Lithuanian Commonwealth between the 16th and 18th centuries. This might only have added a further layer of meaning to Bobrowski’s Sarmatia.1 Instead, his Sarmatia refers back to late antiquity, describing an extensive territory stretching from the shores of the Baltic Sea to those of the Black Sea, as an accompanying note for a reading at the 1962 gathering of Gruppe 47 underlines: “Unter Sarmatien verstehe ich nach Ptolemäus das Gebiet zwischen Schwarzem Meer und Ostsee. Zwischen Weichsel und der Linie Don – Mittlere Wolga. Ein Gebiet, aus dem ich stamme und in dem ich herumgekommen bin.”2 [Following in the footsteps of Ptolemy, I understand Sarmatia as the area between the Black Sea and the Baltic Sea. Between the Vistula and the line from the Don to the Middle Volga. An area where I was born and which I know well.]3 Like in Ptolemy’s case, Bobrowski’s Sarmatia does not describe a political entity, but a scenic and geographic unit. A low plain, contoured – not confined – by streams. Located in the East of Europe, lacking hard borders and hovering above any nation-state-based notion of modernity, this pluri-ethnic unit can be understood both as a Grenzraum or ‘borderland space’, i. e., a complex space, potentially combining aspects of 1 Heynold, Anke: Die Bedeutung des Sarmatismus für das Nationsbewußtsein und die Kultur des polnischen Adels zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert. In: Kultursoziologie 7, 1998, vol. 1, p. 6–57. 2 Tgahrt, Reinhard: Johannes Bobrowski oder Landschaft mit Leuten. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. In Zusammenarbeit mit Ute Doster. Marbach/Neckar: Deutsche Schillergesellschaft, p. 121f. (Marbacher Kataloge; vol. 46). 3 If no other reference is given, all translations are by BCJ.

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openness and closure, sharing, and division, and as a cultural Grenzland, in the sense of a more divisive, culturally or historically more narrowly defined ‘border territory’, in this case between Orient and Occident, with the latter as its intellectual context. Nevertheless, thanks to its aesthetic complexity, Bobrowski’s Sarmatia transcends any conventional borderland concept, for its innumerable, tightly interwoven autobiographic, historic and mythopoetic layers simultaneously emphasise as well as shift and dissolve established borders.4 To this end, Sarmatia offers a useful starting point to discuss the various representations of Central-, Central Eastern- and Eastern European borderland spaces which are at the heart of the present volume. Although the volume pays particular attention to literary representations of the 20th and 21st century, the concept enables us also to look beyond these and include older narratives and poetic configurations. Furthermore, it allows us not only to explore the East-West dichotomies, but also to consider North-South and vertical axes, the latter referring primarily to the temporal and imaginative dimension of the border experience. This versatility is reflected in individual articles and sections, complementing each other. With Bobrowski’s work giving the impetus to the volume, the first section is dedicated specifically to the author and his Sarmatian borderland space. This introductory section raises questions and issues that echo throughout the remaining three sections, which examine literary texts by various authors from a variety of theoretical and disciplinary angles, both in terms of tangible border regions such as (East-)Central Europe5 as well as imagined Grenzländer such as the ‘Germania Slavica’.6

4 For an introduction to the underlying understanding of borderland space cfr. the subsequent contribution by Sabine Egger and Stefan Hajduk, “Raum, Grenze, Grenzräume. Eine theoretische Annäherung”. 5 For a wide range of perspectives concerning the cultural region Central Europe see: Andruchowytsch, Juri/Stasiuk, Andrzej: Mein Europa Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa. Transl. by Sofia Onufriv/Martin Pollack. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004; Chwin, Stephan: Grenzlandliteratur und das mitteleuropäische Dilemma. In: Transodra 17, 1997, p. 5– 13; Konrád, György: Mein Traum von Europa. In: Kursbuch 81, September 1985, p. 175–193; Kundera, Milan: Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas. Trans. by Cornelia Falter. In: Kommune. Forum für Politik und Ökonomie 2, 1984, vol. 7, p. 43–52; Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Vienna: Paul Zsolnay Verlag 2000; Miller, Aleksej: Die Erfindung der geographischen Konzepte Mittel- und Osteuropa. In: Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens 11 (Europa und die Grenzen im Kopf). Ed. by Karl Kager et al. Klagenfurt: Wieser 2003, p. 139–164; Pelinka, Anton et. al.: Geschichtsbuch Mitteleuropa. Vom Fin de Siècle bis zur Gegenwart. Vienna: New Academic Press 2017. Other publications focus on the maritime environment, cfr. e. g. Neumann, Bernd/ Albrecht, Dietmar/Talarczyk, Andrzej (Eds.): Literatur Grenzen Erinnerungsräume. Erkundungen des deutsch-polnisch-baltischen Ostseeraums als einer Literaturlandschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 6 Cfr. the contribution of Britta C. Jung in this volume.

Introduction

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The primary – disciplinary – focus of the volume lies in the way border spaces and shifting borders appear in literary and non-literary texts. In other words, how do authors choose to represent, reflect and/or deconstruct border narratives and configurations? To what extent does this affect a specific field or canon? And what role do these choices play within certain cultural or political discourses? However, this focus is expanded on by an inclusion of comparative and interdisciplinary perspectives, with the comparison between Bobrowski’s prose and the texts of contemporary Polish writer Olga Tokarczuk, or the linguistic, philosophical and sociological analysis of texts situated in the grey area between fiction and documentation as two examples illustrating the range of topics presented in this volume. To date, scant effort has been made in the post-national study of literature to address literary border spaces in an expressly transnational context and to include perspectives of different national literatures (Chwin 2017; Gansel/Joch/ Wolting 2015; Joachimsthaler 2011; Uffelmann 2017).7 Following in the footsteps of Dirk Uffelmann’s recent examination of the ‘agonal’ representations of the German-Polish “Bevölkerungstransfer” between 1944 and 1950,8 the present volume seeks to address the issue of literary border spaces in the context of other migratory movements and the continuous shifting of Europe’s borders. This effort seems even more relevant in light of the recent “Eastern European Turn” in German-language literature.9 Twentieth century European and (Central-)Eastern European history was dominated not only by various migratory movements and an unceasing shifting of borders but also – and more importantly – by forced displacement, persecution and genocide. Thus, one could argue that the hardship and desperation of 7 Chwin, Stephan: Die Bewertung des erzwungenen Bevölkerungstransfers 1939–1950. Eine Herausforderung für die Literatur. In: Germanoslavica 28, 2017, vol. 1–2, p. 57–87; Gansel, Carsten/Joch, Markus/Wolting, Monika: Zwischen Erinnerung und Fremdheit. Zur Einführung. In: Zwischen Erinnerung und Fremdheit. Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989. Ed. by Carsten Gansel/Markus Joch/Monika Wolting. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, p. 11–25, here p. 25; Joachimsthaler, Jürgen: Text-Ränder. Die kulturelle Vielfalt in Mitteleuropa als Darstellungsproblem deutscher Literatur. 3 vols. Heidelberg: Winter 2011; May-Chu, Karolina: Von Grenzlandliteratur zur Poetik der Grenze. Deutsch-polnische Transiträume und die kosmopolitische Imagination. In: ZiG. Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7, 2016, vol. 2, p. 87–102; Uffelmann, Dirk: Umsiedlung, Vertreibung, Wiedergewinnung? Postkoloniale Perspektiven auf deutsche, polnische und tschechische Literatur über den erzwungenen Bevölkerungstransfer der Jahre 1944 bis 1950. Vorwort des Gastherausgebers. In: Germanoslavica 28, 2017, vol. 1–2, p. 5–15. 8 Uffelmann, Dirk: Der deutsch-polnische Bevölkerungstransfer der Jahre 1944 bis 1950 als Gegenstand transnationaler Literaturwissenschaft. Desiderate einer postkolonialen Heuristik. In: Germanoslavica 28, 2017, vol. 1–2, p. 39–53. 9 This is also addressed in a thematic issue on “The Eastern European Turn in Contemporary Literature” of the journal “German Life and Letters” edited by Brigid Haines and Anca Luca Holden. Cfr. German Life and Letters 68, 2015, vol. 2.

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today’s refugees at Europe’s outer borders are a powerful (and timely) reminder of this tumultuous and violent past, even more so in the face of the current resurgence of nationalist and chauvinist sentiments. The construction and rearrangement of national borders in 20th-century Europe was connected to specific political ideologies and the rise of nationalism from the 19th century onwards. Following the fall of the Iron Curtain, those inner and outer European borders initially seemed more stable while becoming increasingly invisible – at least until we take the Russian annexation of Crimea in 2014 or the ongoing discussions surrounding the return of a ‘hard’ border between Ireland and Northern Ireland following the UK’s 2016 referendum on leaving the European Union into consideration. While these are without doubt the most visible events in public and media discourse, they are by no means the only indicators of the resurgence. After all, Europe has also witnessed a re-emergence of national borders within the Schengen area over the past few years. While border controls within the EU had previously been only temporary and situational measures, some member states have recently created a semi-permanent status by perpetually extending the state of emergency. Border spaces, after being a mere afterthought for decades, are suddenly subject to a new political susceptibility, with borders once again showing sharp outlines and even acquiring threatening qualities. Therefore, it hardly comes as a surprise that the (hi)stories of Europe’s borders and the migration of people related to them has resurfaced as a subject in literature. Both within the German-speaking countries and the wider European context, literary texts reflect on different national discourses on borders and relating political, social, and cultural boundaries, employing a specific aesthetics in doing so. As the contributions in this volume illustrate, literary texts tend to create open, transnational, inter- or transcultural spaces. This includes cosmopolitan spaces, in which specific experiences of borders are linked with more universal experiences of liminality, as well as spaces that rest on a ‘spiritual’ cosmopolitanism that negates any form of universality.10 Borders help to distinguish different political and cultural spaces. One might even say they are, generally speaking, a necessity. The term border is, therefore, not only a central aspect of interculturality as such but rests – as a liminal phenomenon – also on the idea of the continuous transgression, reflection and dissolution of existing borders. Although this paradox will be further explored on a theoretical level in the following chapter, it is important to note that Hegel already acknowledged this inherently paradoxical nature of borders when he observed “[w]as 10 Cfr. Appiah, Kwame A.: Cosmopolitanism. Ethics in a World of Strangers. New York: Norton 2006. As well as Albrecht, Andrea: Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800. Berlin: de Gruyter 2005; Delanty, Gerard: The Cosmopolitan Imagination. The Renewal of Critical Social Theory. Cambridge: Cambridge UP 2009.

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abgrenzt, schließt aus. Was trennt, verbindet. Was sich berührt, ist immer auch Distanz.”11 [What delineates, excludes. What separates, connects. What touches, is always distant too.] Recent scholarship has increasingly questioned borders by introducing terms such as liminality (Turner), third space (Bhabha), globalisation (Appadurai), transdifference (Lösch) or similarity (Bhatti), all of which surpass the theories that have evolved in France between the 1960s and 1980s and have shaped our thinking ever since.12 Others have further developed the spatial concept that connects “real and imagined places” (Foucault; Lefebvre; Soja).13 Border spaces as contact zones can relate either to an imperial, national or European dimension or they can move beyond this dimension. The aesthetic examination of border spaces affects historical narratives, concepts of identity, aesthetics, and intermedial boundaries, as well as the theoretical approaches in different disciplines.14 Where the lines of a map can only inadequately depict the linguistic, economic and political entanglement of border regions, literary texts possess different, more nuanced means to represent the historical and cultural complexity of such spaces. Firstly, they can reduce, construct, and order; secondly, they can relate to the historicity of personal experiences or the historiographical consolidation of borders. Where and how such an examination of borders has taken place within German-language literature in the past 125 years, either within a more broadly or narrowly defined European context, is the central theme in the present volume.

11 Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Frankfurt/Main: Fischer, 2006, p. 143. 12 Cfr. the subsequent chapter of the present volume, “Raum, Grenze, Grenzräum. Eine theoretische Annäherung”. 13 Soja, Edward W.: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and other Real-and-Imagined Places. Oxford, Cambridge, MA: Blackwell 1996. Regarding the mentioned approaches cfr. Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis et al.: Univ. of Minnesota Press 2010; Bhabha, Homi: The Location of Culture. London/New York: Routledge, 2004; Bhatti, Anil: Heterogeneities and Homogeneities. On Similarities and Diversities. In: Understanding Multiculturalism. The Habsburg Central European Experience. Ed. by Johannes Feichtinger/Gary B. Cohen. New York/Oxford: Berghahn 2005, p. 17–46. Foucault, Michel: Von anderen Räumen. In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Ed. by Jörg Dünne/Stephan Günzel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, p. 317–329; Lefebvre, Henri: La production de l’espace. In: L’Homme et la société 31–32, 1974, vol. 1, p. 15–32; Lösch, Klaus: Begriff und Phänomen der Transdifferenz. Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte. In: Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Ed. by Lars Allolio-Näcke/Britta Kalscheuer/Arne Manzeschke. Frankfurt/New York: Campus 2005, p. 26–49; Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Zum Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt/New York: Campus 1982. 14 Cfr. i.a. Geulen, Eva/Kraft, Stephan: Vorwort. In: Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur, Sonderheft zur Zeitschrift für Deutsche Philologie 129, 2010, p. 1–4; Weyand, Jan/Sebald, Gerd/Popp, Michael: Einleitung. Grenzen aus soziologischer Sicht. In: Grenzgänge – BorderCrossings. Kulturtheoretische Perspektiven. Ed. by Jan Weyand/Gerd Sebald/Michael Popp. Münster: LIT Verlag 2006, p. 9–18.

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With the literary topos of a ‘vanished Eastern Europe’ at its very heart, the reference to historico-political border spaces and the blending of personal experience with liminal memory spaces are a central feature of Bobrowski’s writing. Bobrowski, who was born in East Prussia in 1917 and died in East Berlin in 1965, described it as “so etwas wie eine Kriegsverletzung”15 [something like a war wound], and reiterated time and again that it was his wartime experience that had turned him into a writer. In a 1964 interview with the “Deutschlandsender”, Bobrowski characterised his Sarmatian poetry16, which brought him to prominence on both sides of the Inner German border and for which he was awarded the Literature Prize of Gruppe 47 in 1962, as an attempt to clarify for himself the “Verhältnis der Deutschen zu den östlichen Nachbarvölkern […], auch mit dem Mittel des Gedichts in etwa […]”17 [the relationship of the Germans to their Eastern neighbours also by poetic means]. To Bobrowski, this meant first and foremost a critical engagement with his own experience within a broader German and Eastern European historical context, as well as the search for an adequate aesthetical expression for its remembrance.18 Bobrowski spent his childhood in the Klaipe˙da Region, i. e. the Memel Territory, which was administered by the Allies from 1919 onwards before being annexed by Lithuania in 1923 and then occupied by Nazi-Germany in 1939. It was a border region, shaped by Jewish, German, Polish and Lithuanian influences. As a German soldier, he found himself participating, at least indirectly, in the destruction of those inhabitants who were categorised as ‘Untermenschen’ or ‘sub-humans’ by the National Socialists here and in other parts of Eastern Europe. The literary texts borne out of this experience not only transcend the geographical locations they are set in spatially but also go beyond the scope of any pre-defined biographical and historical framework. This is underlined by his evocation of the ancient term Sarmatia in the title of his first volume of poems, “Sarmatische Zeit” (“The Land

15 Cited in Baldauf, Helmut: Lebensbilder Johannes Bobrowski. Texte, Fotos, Erinnerungen. Berlin: BasisDruck 2011, p. 55. 16 “Sarmatische Zeit” (1961) and “Schattenland Ströme” (1962), both published by Deutsche Verlagsanstalt in Stuttgart. 17 Interview with H. Baldauf. Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn. In: Bobrowski, Johannes. Gesammelte Werke in sechs Bänden. Ed. by Eberhard Haufe/Holger Gehle. Stuttgart/ Berlin 1987–1999, 6 vols., here vol. 4, p. 463–466, specifically p. 463; Quotes from this edition will be henceforth cited as GW, vol., and page. 18 Cfr. i.a. Egger, Sabine: Martin Buber und Johannes Bobrowski. Ethik und Erinnerung in der sarmatischen Lyrik. In: Literaturkritik.de 19, 2017, vol. 4, (accessed on 05. 02. 2019); first published in Degen, Andreas/Taterka, Thomas: Zeit aus Schweigen. Johannes Bobrowski. Leben und Werk (Colloquia Baltica 15), Munich: Martin Meidenbauer 2009.

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of Sarmatia”, 1961).19 Bobrowski’s adaptation of mythical themes and structures, while merging these with references to historical and biographical events, creates a poetic space of memory and longing which structurally echoes the mythic space described by Ernst Cassirer, the latter allowing for encounters and experiences that would be impossible in the empirical space.20 While the ‘East’ retains its importance as a memory space in Bobrowski’s later prose works, such as “Levins Mühle” (“Levin’s Mill”, 1964), for which he was awarded the Heinrich-MannPrize by the East German Academy of Arts and the International Charles Veillon Prize; in his poetry his oftentimes inward-looking dialogue with the past turns into an educative dialogue with the reader. In contrast to his poetry, which, influenced by Hölderlin and French Modernism, became increasingly opaque, his prose is situated in a more tangible, historically visible Sarmatia. This is partly due to the literary scene of the GDR in the early 1960s, as a context in which Bobrowski worked during his time in East Berlin, despite his dithering between East- and West-German publishing houses and his quite exceptional status within GDR literature. By referring to and tapping into the historical and memorial space that is associated with the term Sarmatia, Bobrowski adopted an academic, and at the same time poetic, fantasy name from the ancient world, in which Sarmatia was the scene of continuous migratory and nomadic movement. Over time it had become the home of Poles, Lithuanians, Latvians, Austrians, Bohemians, Russians, Jews, Sinti and Roma as well as others. Bobrowski was probably also familiar with the previously mentioned Polish Sarmatism of the early modern period, which included different ethnic and religious groups and served as a means of identity formation that was spatially rather than ethnically determined.21 Like Polish Sarmatism, Bobrowski made national, ethnic, religious and political borders and boundaries apparent by marking the individual populaces. However, unlike Polish Sarmatism, he repeatedly punctuated these borders by practices of polymythology and an archetypical spatial structure, which he also extended to his characters. Bobrowski’s Sarmatia fundamentally differs from the timeless mythical spaces of many post-war authors who sought to evade a critical engagement with WWII and the Holocaust.22 Instead, it is a poetic space which creates an awareness of 19 Where relevant the official English title of the works will be given together with the original date of publication. In the case of works that have been published in a language other than German, the German and English title will be provided. 20 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, 3 vols., 1923–1929. vol. 2 (Das mythische Denken). Reprint: Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1964. Cfr. Egger, Sabine: Dialog mit dem Fremden. Erinnerung an den ‘europäischen Osten’ in der Lyrik Johannes Bobrowskis. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, p. 44f. 21 Cfr. Heynold, Die Bedeutung des Sarmatismus. 1998. 22 Two examples are the nature poetry of Wilhelm Lehman and the metaphysical diagnosis of the era in prose texts by, e. g., Elisabeth Langgässer. Cfr. Bertram, Matthias: Literarische

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borders between nation states and between East and West, including their different functions within history, in order to transcend them. Bobrowski’s poetically evoked Sarmatia therefore has no hard, geographical borders or temporal boundaries. Firstly, it refers to the historical dimension of national demarcation, while simultaneously hovering above any nation-state-based notion of modernity thanks to its ancient and mythical openness. Secondly, it is a pluri-ethical space, located in the European East but continuously shifts Europe’s borders and boundaries on different levels, e. g. in relation to Asia. The fact that Sarmatia – in doing so – presents itself also as a cultural borderland between Orient and Occident lends the concept a particular topicality in the context of today’s discussions around possible parallels between the nationalism of 1919 and 2019.

Section I. Borderless East? Bobrowski’s Sarmatian Utopia23 In his contribution, Andreas Degen (Potsdam) reminds us of the historic connection between the German term Grenzland (borderland), the national discourse regarding the German border in the East, and the ethno-cultural diversity in Eastern Europe. This connection forms the backdrop of Brobrowski’s transformation of the notion of the Slavic East as the Other within dominant discourses in the poems and letters he wrote during WWII and in the 1950s.24 It also encompasses East Prussia, which was politically semanticised as a German enclave and Grenzland between WWI and 1939. Bobrowski contrasts the German ‘frontier’ with the Slavic East, thereby turning the former into a de facto Western extension of a multi-ethnic Eastern Europe – a historico-cultural identity-space which Bobrowski idealises retrospectively and juxtaposes with the divided postwar Germany. Although his early poems cling to the well-established topos of a sublime Russian landscape, Degen also senses traces of traumatic war experiences in their depiction of border transgressions. In the beginning, the loss of the homeland is projected onto the discernible, emotionally charged landscape of East Prussia. However, slowly but steadily, this loss dissolves as a space of imagination and identification into a temporally and spatially far more extensive European East for the poetic persona.25 Epochendiagnosen der Nachkriegszeit. In: Deutsche Erinnerung. Berliner Beitrage zur Prosa der Nachkriegsjahre (1945–1960). Ed. by Ursula Heukenkamp. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1990, p. 11–100. 23 Taken from the title of the talk by Andreas Degen. 24 Meyer, Jochen (Ed.): Johannes Bobrowski. Briefe 1937–1965. Göttingen: Wallstein 2017. 25 Although Bobrowski soon abandoned his historico-encyclopaedic project of a “Sarmatian Diwan” (in reference to Goethe’s “West-Eastern Diwan”), which he formulated in a letter to his friend Hans Ricke in October 1956, he creates a Sarmatian aesthetics that comes to exist in

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Iulia-Karin Patrut (Flensburg) observes – from an intercultural perspective – a mythification of the Other in Bobrowski’s poems, separating German-speaking Jewish writers from East Central Europe as Others from the ‘German we’. According to Patrut, this is the result of a Philo-Semitism which is not linguistically deconstructed in Bobrowski’s Sarmatian poetry – although the author has reflected critically on it in non-literary statements and letters.26 One of the main reasons for this lack of deconstruction is that Bobrowski’s lyrical language, despite its darkness, is essentially still a sensory language, in Klopstock’s sense. Bobrowski remained indebted to the idea that sensory words can evoke sight, sound, touch or taste, even after the caesura of 1945, which, according to Paul Celan or Theodor Adorno, demanded a restructuring of language in order to confront what had happened through language. Paul Celan’s dark poetry, on the other hand, reflects this structural change on a semantic level and thereby allows for a remembering of the Holocaust victims, without mythologizing them. Celan’s poems thus put ideas of the linguistic, religious and cultural diversity of Europe and what it means to be ‘German’ more radically into language than Bobrowski’s. Despite Bobrowski’s relatively short creative period and the strong Sarmatian focus of his work, his writing still underwent significant development. In his later years, the focus of his work shifted more and more towards narrative texts. In his fiction, Bobrowski generally provides a more discernible historical and geographical context than in his late poetry. Nevertheless, here too Bobrowski keeps experimenting with intertextual and discursive transgressions, exploring the boundaries of perception, thus creating a complex textual aesthetics. This exploration is more closely examined in the contribution by Innokentij Urupin (Konstanz). Urupin compares Bobrowski’s “Brief aus Amerika” (“Letter from America”, 1963) with Isaak Babel’s “Письмо” (“Ein Brief”; “A letter”, 1923), thereby illustrating to what extent the oral mode in Bobrowski’s prose was inthe tension “zwischen Exil und Utopie” [between exile and utopia] and “zwischen Multikulturalität und deutscher Sprache” [between multiculturality and German language]. Cfr. Breysach, Barbara: Dichter im sarmatischen Exil. Bobrowskis Kurzprosa Mäusefest im Lichte der Auseinandersetzung mit Paul Celan. In: Zeit aus Schweigen. Johannes Bobrowski. Leben und Werk. Ed. by Andreas Degen/Thomas Taterka (Colloquia Baltica 15). Munich: Meidenbauer 2009, p. 353–367, here p. 358. 26 “Die Beschäftigung der Literatur mit den Juden hat etwas hervorgebracht, das man als Philosemitismus bezeichnet./ Da wird also ein Idealtyp hergestellt, eine romantische Gestalt von abgeklärter Weisheit und unbegreiflicher Leidensfähigkeit, und damit ist es geschafft. Der betreffende Philosemit hat sich salviert: er hat seinen Juden bronciert und hinter Glas gesetzt” [The literary engagement with the Jews has produced something that one could describe as Philo-Semitism./ It creates an ideal, a romantic figure of worldly wisdom and an incomprehensible ability to suffer – and this is it. The Philo-Semite in question has cleansed himself: he has bronzed his Jew and put him behind glass]. Bobrowski, Johannes: Selbstzeugnisse und neue Beiträge über sein Werk. Berlin: Union 1975, p. 17f.

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fluenced by the skaz-aesthetics of the Russian avant-garde.27 A look at two of Bobrowski’s other prose texts, i. e. “Rainfarn” (“Tansy”, 1964) and “Sonnenbad”, written in 1964 published only after his death, further highlights parallels to the Russian avant-garde, especially in terms of Bobrowski’s instrumentalisation of voice and script as well as the embrace of the pictorial-photographical in his texts. According to Urupin, the reception process entails the transformation of the futuristic, “sadistic” (Smirnov) skaz-approach that characterises e. g. Babel’s “Конармия” (“Reiteramee”; “Red Cavalry”, 1926), into a “dialectic”-masochistic (Deleuze) voice, and moves the focus – in light of the ‘German guilt’ – onto the past rather than the present. In a similar vein, the first section’s remaining contributions focus on aesthetic and innovative aspects of the transnational and utopian within Bobrowski’s Sarmatia. Both Kristin Rebien (San Diego) and Joanna Jabłkowska (Łódz´) take a closer look at Bobrowski’s most famous novel, “Levins Mühle” (“Levin’s Mill”, 1964), which highlights the historical contingency of European borders and national identities against the backdrop of the Unification of Germany in 1870. Rebien analyses the relationship between the novel and the rise of the Berlin Wall in 1961, which she interprets not only as a 20th century continuation of a geopolitical manoeuvring fuelled by national demarcation, but also as its low point. In “Levins Mühle”, the Culmerland (which lies at the Eastern border of the then newly founded German Empire) constitutes a place in which the ethnic nationalism of the time is gradually overcome and replaced by a civic nationalism. Jabłkowska’s contribution, on the other hand, forges a link to contemporary Polish literature by placing both Bobrowski’s “Levins Mühle” and Olga Tokarczuk’s “Ksiegi Jakubowe” (“Jakobs Bücher”; “The Books of Jacob”, 2014) in the broader context of Polish borderland literature. In Polish literary and nonliterary discourse, borderland semantics have been associated with the term kresy from the second half of the 19th century onwards. However, this term refers specifically to the Eastern territories of Poland, which have been returned to the Polish State only partially after the First and Second World War. As a result, these territories have become an important lieux de mémoire (Nora) within Polish collective memory. Both novels, “Levins Mühle” and “Ksiegi Jakubowe”, refer implicitly and/or explicitly to krezy and shift it semantically and geographically. The Polonised cultural landscape is depicted in its ethnic, linguistic and cultural multidimensionality and extended to Europe as a whole. Florian Gassner (Vancouver) demonstrates how “Litauische Claviere” (“Lithuanian Pianos”, East Berlin 1966/West Berlin 1967), perhaps Bobrowski’s stylistically 27 This opens up some interesting perspectives on Bobrowski’s reception of the Russian-Jewish author Isaak Babel, with whom Bobrowski engages on the level of language, i.a. in intercultural terms, in individual poems.

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most experimental novel, critically re-examines the nationalist and imperialist mindset which dominated the German-Lithuanian border region on the eve of the Second World War. In the novel, nationalist discourses and geopolitical ambitions are not examined from a postcolonial perspective, but rather questioned as a matter of principle. The cultural history of the Memel region is solidified in the highly emotive art form of the opera, i. e. an aesthetic work or ‘product’ that transcends national differences. Following Jean-François Lyotard, this allows Bobrowski to explore new narrative structures with regard to a national memory culture, reverting neither to chauvinism or a romanticised nationalism nor to a more sombre ‘civic nationalism’ in order to resolve the emotionally charged discourses. Approaching the issue from a perspective tinged by Eastern, Western and European influences, the liminality and transnationality in Bobrowski’s Sarmatian writing was ahead of its time. This also explains the resurgence of interest in the author’s work in the past two decades, not only in terms of a perceptual shift to the ‘East’ after 1989 but also in terms of the aesthetic structures of contemporary literary texts.

Section II. (East-)Central Europe Revisited Neither Occident nor Orient, not really Europe anymore and not yet Asia – Sarmatia remains semantically ambiguous and oscillates between geographical and historical factuality (historical reality) and imaginative fabrication (aesthetic poiesis). This in equal terms terminological and ontological, cultural and emotional versatility finds expression in different forms and manifestations in the various literary and non-literary texts that are at the centre of the remaining contributions to the volume. These take partly (inter-)disciplinary and partly intercultural approaches. Like in the first section, the tension between the historical factuality and aesthetic openness of the border space, be it utopic or heterotopic, bodily or gender-based, allows for an examination of existing borders and boundaries. The contributions focus on prose texts from the late 19th to the early 21st century, paying special attention to the historic perception patterns of regions such as Silesia or Galicia as Eastern peripheries and their role as border demarcations of the Habsburg and German Empires respectively. Although the geographic focus of this section shifts more towards Central Europe or “Zwischeneuropa”28, its conceptual focus remains the same: a region that is either ascribed to the ‘East’ or serves to differentiate oneself from that ‘East’. 28 “Die begriffliche Ausdifferenzierung Ostmitteleuropa ist nach 1918 anzutreffen. Ausgangspunkt für die neue Begriffsbildung war das ‘Zwischeneuropa’ des Geographen Albrecht Penck (1858–1945) aus dem Jahr 1915. Mit diesem Begriff bezeichnete er den Raum vom

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Florian Krobb (Maynooth) sheds light on the internalisation of the Prussiancolonial perception of Silesia by comparing Theodor Fontane’s protagonist in “Cécile” (1886) and Stephan Wackwitz’s “Ein unsichtbares Land” (“An Invisible Country”, 2003), which gives a (familial-)historical overview of these perceptual patterns from a postcolonial perspective. Both texts transpose the colonial perspective into a broader, global context. However, in contrast to Wackwitz’s Silesia, which is coded as male and therefore rooted in a distinctively masculine history, Fontane’s Silesia is coded as female and becomes the epitome of a rather distressing Otherness. While exposing the urban-Protestant centre as a mere construct, “Cécile” mourns the otherness of the Silesian periphery and the loss of the Protestant self-conception. Benoît Ellerbach (Istanbul) compares the way Stefan Zweig and Joseph Roth, both resolute opponents of nationalism, address and represent the re-demarcation of Europe’s borders at the end of WWI. Zweig’s “Episode am Genfer See” (“The Banks of Lake Geneva”, 1927) and Roth’s “Die Büste des Kaisers” (“The Bust of the Emperor”, 1935) place the end of the old Eastern and Central European monarchies within wider world history. The novellas contrast the dissolution of the old European order with Switzerland and East Galicia respectively, both of which take the form of heterotopic border spaces in the texts, i. e. localised utopias that serve as a last refuge from reality. Ultimately, Switzerland and East Galicia too fail to shelter the protagonists from the dissolution of the old order. In her chapter, Hannelore Roth (Leuven) analyses the interconnectedness of territorial border discourses and symbolic constructions of Otherness, particularly in terms of gender. Subject of Roth’s examination is the autobiographical novel “Die Geächteten” (“The Outlaws”, 1930) by the former volunteer corps soldier Ernst von Salomon, which describes his ‘adventures’ in the Baltic region. Faced with a crisis of national identity and masculinity after losing the war, the narrator and his fellow soldiers give more and more into a pathological fear of a transgression of territorial borders as well as symbolic and bodily boundaries. Germany is not considered as something surrounded and demarcated by borWeißen Meer bis zum Bosporus als potentielle deutsche Einflusssphäre, deren Dimension im Vergleich zu Mitteleuropa deutlich erweitert und dynamischer gefasst war. Nach Kriegsende verfestigte sich der Begriff Zwischeneuropa für ‘den langen Streifen zwischen Mittel- und Osteuropa von Finnland bis Griechenland’” [The differentiated concept ‘East-Central Europe’ came into existence after 1918. Its origin lies in the ‘Zwischeneuropa’ [Intermediate Europe; In-between-Europe], a term coined by the geographer Albrecht Penck (1858–1945) in 1915. Penck’s term describes the territory from the White Sea to the Bosporus as a potential sphere of German influence. Compared to Central Europe, this ‘intermediate Europe’ is significantly extended and much more dynamic. After the war, the term Zwischeneuropa became synonymous for the ‘long strip between Central- and Eastern Europe, from Finland to Greece’]. Cfr. (accessed on 21. 03. 2019).

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ders, but as something “an der Grenze” (i. e. “at the frontier”). It becomes a dynamic, endlessly shifting combat zone that creates a specific form of masculinity. Here, parallels may be drawn to the way the ‘East’ and the ‘Slavic Other’ are used to support the National Socialists’ concept of the Volkskörper, which is at the heart of Josef Holub’s youth novel “Der rote Nepomuk”29 (1993). Britta C. Jung (Dublin) examines how Holub’s literary representation of this functionalisation of the ‘Slavic Other’ and the collapse of the Bohemian ‘Germania Slavica’ ties into the US-American tradition of Local Color Literature and Frontier Humor. This literary connection also explains why Holub’s novel, although written in the 1950s, was only published in 1993 when both the genre principles of youth literature as such as well as the memory discourse regarding the ‘Third Reich’ began to shift with the gradual passing of the eyewitnesses and the coming-of-age of the third generation. This shift allowed for a more nuanced, multidirectional representation of victimhood and perpetration (esp. in literature aimed at younger readers) and by extension the inclusion of topics such as Heimat and expulsion in the context of East-Central European borderland spaces. Withold Bonner’s (Tampere) contribution, on the other hand, is concerned with border spaces which are marked and defined by ‘absence’. Bonner takes a closer look at German-Polish borderland literature and the way graveyards act as heterotopias in individual texts – also a frequent motif in Bobrowski’s poetry. Looking at Christa Wolf ’s “Kindheitsmuster” (“Patterns of Childhood”, 1976), Günter Grass’ “Unkenrufe” (“The Call of the Toad”, 1992), Stefan Chwin’s “Hanemann” (“Death in Danzig”, 1995) and Sabrina Janesch’s “Katzenberge”30 (2010), Bonner illustrates to what extend graveyards reject any form of mono-cultural politicisation on both sides of the German-Polish border due to their cultural layering post 1945. Furthermore, the contribution highlights the various intertextual references and traces of mutual reception within this borderland literature as an additional transgression of borders and boundaries.

Section III. Topographic Polyvalences Polyvalences in spatial semantics and topography, like we see in Bobrowski’s Sarmatia, are a common denominator of the contributions in the third section. Here, the contributions uncover the underlying layers of meaning with regard to literary border spaces within the analysed texts. They merge geographical, historical, and political aspects with experiences of liminality, slipping-away and dissolution. Svetlana Efimova’s (Munich) analysis of Jakub Deml’s oeuvre sheds 29 Not transl. into English. 30 Not transl. into English.

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light on the way imaginative spaces can be superimposed on the reality of real spaces – and vice versa. Like Olga Hinojosa Picón (Sevilla) and her exploration of the work of Barbara Honigmann, Efimova illustrates with Deml’s autobiographical prose the coalescence of a ‘memory of descendancy’ and the way one relates to the world; of writing and understanding oneself, as well as of borders and shared bonds. As a result, liminality becomes visible as an ever-shifting foundation of linguistic and personal identity. The fluidity of border spatiality is examined by Garbiñe Iztueta (Vitoria-Gasteiz), who transposes it into the political and historical realm by investigating the water metaphors in Uwe Tellkamp’s “Der Turm” (“The Tower”, 2008). Andrea Meixner (Stockholm) in turn addresses the representation and instrumentalisation of borders and boundaries in terms of a semantically fluid and polyvalent spatial concept that has come to combine topographical and social aspects in German migrant literature. The point of departure of Brian Haman’s (Bucharest) understanding of Herold Belger is the author’s own intercultural background, with Kazakhstan serving as an alternative Sarmatia that has shifted to the South-East. In this context, the idea of a linguistically, culturally and geographically dimensioned third space (Bhabha) becomes relevant. Haman’s reading reveals certain generative moments of plurality and hybridity that surpass the confrontational and dialectic relationships of cultural spaces. Instead, topographical perspectives are merged with topological ones. Seemingly stable relationships such as the relative identities of languages and nations are scrutinised and submitted to a logic according to which borders are marked by continuous transgression. This nexus of the ontological and the procedural aspect of border spaces also informs the dynamic pattern in Anne Sturm’s (Halle-Wittenberg) examination of the debut novels of Dimetré Dinev and Ilija Trojanow. In the novels, both authors explore their own migration experience by literary means, employing similar strategies (border-crossing narratives; emotional bordering). In Dinev and Trojanow’s application and reflection of these strategies, the aesthetical extension of the geographic-political concept of borderscape comes to fruition. Literary texts thematising borders and their performativity thus become themselves perceptible as examples of a bordering practice.

Section IV. Poetic Spatiality and Boundaries of Genre The previously explored liminality of border spaces is continued in the fourth section and expanded on by introducing the aesthetic and poetic aspect of their linguistic representation. At the outset, Stefan Hajduk (Adelaide) places the experiential quality of spatiality and corporality in the context of the literary

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modernism of the early 1900s. The epistemologically reflected and erotically connotated synaesthesia of the turn of the century in Robert Musil’s “Törleß” (“The Confusions of Young Törless”, 1906) underlines, according to Hajduk, the broadening of the dualistic spatial pattern to a subliminal variety of border experiences that are rooted in ‘being-in-a-space’. Musil’s other works anticipate the (proto-)phenomenological revision of the static concept of space in the 20th century and – when searching for a poetic language in border spaces – transform a psycho-dynamic in-between into literature. The spatial-aesthetic category of the in-between establishes the narratological vanishing point of the subtle, ethical implications Edit Kovác (Budapest) identifies in her approach to the Other in W.G. Sebald’s “Die Ausgewanderten” (“The Emigrants”, 1992). Yet Kovác’s analytical reconstruction of Sebald’s polyfocal and multi-perspectival narration also opens up the topic of emigration, in particular the tension between existential deterritorialisation and temporal spatialization. The traumatic biographical ruptures caused by a change of the living environment coincide with a traversing of the genre boundaries of essayistic documentation and narrative fiction. The local recursiveness of each language combined with the biographical conditionality by means of ideological, political and social spaces establish the topographic horizon, in and through which literary writing is motivated and developed. Accordingly, Jacqueline Gutjahr (Göttingen) unearths Maja Haderlap’s experimental approach to language in “langer transit”31 (2014). Haderlap’s experimental approach to language, the experience of language as an atmospheric medium as well as the imaginative discovery of border spaces are the preconditions that allow us to experience a lack in language flow or the loss of memorial spaces. The experience and representation of poetic language as oscillating between semantic concentration and dissemantic dissolution are at the heart of Joseph Twist’s (Dublin) reading of Semir Insayif ’s experimental lyric poetry. To some extent, the analytical illustration too is subjected to the dicentric movement in the poet’s volume “boden los”32 (2012), which captures the referentiality of word and thing, signifier and signified. In Insayif ’s poems a symbolic process manifests itself, which temporalises border spatiality. The boundaries between sign and meaning as well as text and world, both of which are essential to make ‘sense’, prove themselves to be thresholds to the ungraspable, unfathomable or – in reference to Insayif – ‘zum Bodenlosen’ [bottomless]. Last but not least, Tom Vanassche’s (Freiburg) interpretation of Dieter Schlesak’s novel “Capesius, der Auschwitzapotheker” (“The Druggist of Auschwitz”, 31 Not transl. into English. 32 Not transl. into English.

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Sabine Egger / Stefan Hajduk / Britta C. Jung

2006) shows to what extent language itself can be experienced as a border space while simultaneously taking a concrete shape. Schlesak’s “Capesius” is yet another text that strikes a fine balance between fiction and documentation. This final contribution therefore once again sheds light on the subject of border spaces, both in continuation to the previous contributions as well as an extension to them: the Pidgin-German of the camp inmates and its translation (into English and Dutch); its transcription of the oral; and finally the literary relationship of form and content. The topographic and linguistic ethnic diversity of its users turns the lagerszpracha itself into a hybrid border space, in which a part of the unspeakable, liminal experiences lingers that have made Auschwitz the symbol of racial ideological extremism in the 20th century. We would like to take the opportunity to thank the following institutions that have supported and made this project possible, from the 2017 conference at the Institute for Modern Language Research (IMLR) of the University of London, which was co-organised by Bill Niven, to the present volume: the Federal Government Commissioner for Culture and the Media; the Federal Institute for Culture and History of the Germans in Eastern Europe; the IMLR; the Modern Humanities Research Association; the Irish Research Council; Mary Immaculate College, Limerick; the German Historical Institute; and the German Embassy, London. Special thanks go to Godela Weiss-Sussex (IMLR/Cambridge) and Bill Niven (Nottingham Trent).

Stefan Hajduk (Adelaide) / Sabine Egger (Limerick)

Raum, Grenze, Grenzräume. Eine theoretische Annäherung

Wenn wir über politisch und geographisch konkrete, historisch rekonstruierbare Grenzräume nachdenken und deren literarische Darstellung im Hinblick auf Mittel- und Osteuropa seit rund einhundert Jahren nachverfolgen, dann liegen dem implizite Ästhetiken des Raumes und der Grenze zugrunde. Der vorliegende Band nimmt die von den zwei Weltkriegen samt territorialer Neugliederungen im 20. Jahrhundert stark bestimmte Kulturgeschichte des Ostens und Westens Europas in den Blick. Dessen überwiegend deutschsprachige Mitte, sowohl ein großräumiges Grenzland wie auch ein Nationalkulturen verbindender Grenzraum, der sich geographisch recht weit nach Osten ausdehnt, bildet dabei den Fokus. Diese kulturell unscharf umgrenzte und national übergängige Mitte ist verortbar in Mitteleuropa, aber auch der Ukraine, Russland oder Kasachstan, dem Habsburgerreich, und in Deutschland, das in seinen Vorkriegsgrenzen bzw. mit der Berliner Mauer das Zentrum des Kalten Krieges markiert. Unsere historische Beobachtung und Thematisierung mittel-, ostmittel- und osteuropäischer Grenzräume erfolgt überwiegend unter Inanspruchnahme einer komplexen Begrifflichkeit des Räumlichen, in der semantische Extensionen durch wahrnehmungsästhetische Voraussetzungen grundiert bleiben. Entsprechend stützen oder aber beziehen sich viele der folgenden Beiträge auf ambivalente Raumbedeutungen, wie sie die Darstellung des Grenzphänomens als Trennendes oder aber Verbindendes, als Aus-, Ein- oder Umschließendes auszeichnen. Statt zu definieren, was Raum, Grenze und Grenzraum eigentlich bedeuten sollen, müssen wir mit ‚uneigentlichen‘ Bedeutungen derselben rechnen, die anstelle ontologisch grundlegender Aspekte funktional temporalisierende geltend machen. Denn wie in konkret wahrnehmbaren Grenzräumen außerhalb literarischer Texte Kulturen im ungeordneten Zusammenspiel von Traditionen, Aussparungen und Überlagerungen ineinanderfließen, so amalgamieren sich in den Grenzräumen der Literatur geopolitisch-begriffliche mit ästhetisch-figura-

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tiven Bedeutungsaspekten.1 Die Aufmerksamkeit bei der Konzeption des Bandes war also nicht auf eine einheitliche Bedeutung von ‚Grenzraum‘ in der Vielheit dargestellter Wirklichkeiten gerichtet. Hingegen sollte sie auf die historisch komplexe Bedeutung von Grenzräumen (im Plural) in der Heterogenität ihrer ästhetischen Formierungen gelenkt werden – als eine Annäherung an eine mögliche Definition auf diesem Wege. Auf diese Weise ergänzt unser Band den aktuellen Stand der Forschung. Angesichts der zunehmenden Beschäftigung mit ‚Grenzlandliteratur‘ in den Literatur- und Kulturwissenschaften der letzten zehn Jahre, u. a. im Kontext aktueller politischer Debatten, schien es uns sinnvoll, die ästhetische Form literarischer Annäherungen an geographisch verortbare Grenzräume innerhalb solcher Kontexte genauer zu betrachten. Zum einen mit Blick auf ihre historische Dimension, bis hin zu traumatischen Erfahrungen des Individuums; zum anderen mit Blick auf ihre utopische Dimension, wie sie sich auf sprachlichen Ebenen manifestiert. Dabei war von der über die Literatur und andere Kunstformen hinausreichenden Grundannahme auszugehen, dass Erfahrungen, Vorstellungen und Begriffen vom Raum zentrale, wo nicht explizit gemachte Bedeutung in der Entstehung, Entwicklung und Transformation von Kulturen zukommt. So ist seit der nicht nur georäumlich expansiven Neuzeit und insbesondere seit der Moderne nach 1900 in Europa eine allmähliche Ablösung von substanzlogischen, dreidimensionalen Vorstellungen vom Raum als physikalischer Entität zu beobachten. Die raumbegriffliche Umorientierung erfolgt seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Richtung relationaler, strukturaler und autopoetischer Auffassungen vom Räumlichen.2 Dazu hat vor allem die damalige Leitwissenschaft Physik mit der relativitätstheoretischen Konzeption von Raumzeit den Anstoß 1 Siehe zur Thematisierung von Grenzen in deutscher Literatur des 20. Jahrhunderts mit einer sowohl Übersicht gebenden wie für Grenztheorie sensibilisierenden Einführung Lamping, Dieter: Über Grenzen. Eine literarische Topographie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001; über das 20. zurück bis ins 18. Jahrhundert reichend und konzipiert mit einem Fokus auf den ursprünglich existenzphilosophischen (Jaspers) Begriff der Grenzsituation ist der Tagungsband Lauterbach, Dorothea/Spörl, Uwe/Wunderlich, Uli (Hrsg.): Grenzsituationen. Wahrnehmung, Bedeutung und Gestaltung in der neueren Literatur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. Historisch noch weiter zurückblickend, transnational und interkulturell kontextualisierend und interdisziplinär reflektiert ist schließlich der auf ein DFG-Symposium zurückgehende Sammelband Böhme, Hartmut (Hrsg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005. Siehe zu Grenzen auch im physischen Sinne, die als solche in der Literatur verarbeitet sind, Geulen, Eva/Kraft, Stephan (Hrsg.): Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur, Sonderhefte der Zeitschrift für Deutsche Philologie 129, Berlin: Erich Schmidt 2010; außerdem das Themenheft der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7.2 (2016) mit dem Schwerpunkt Transiträume. 2 Siehe dazu die konzisen Bemerkungen zu Uexküll, Mach, Heidegger, Einstein und Minkowski von Stephan Günzel in Günzel, Stephan/Dünne, Jörg (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 37–41.

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gegeben. Die von ebenso komplexen wie relativen, differenziellen wie flexiblen Beziehungsverhältnissen ausgehenden neuen Raumvorstellungen sind für die systematische und historische Arbeit am Raumbegriff in der topologischen Forschung von heute maßgeblich geworden. Ein Beispiel für die Ausbreitung eines topologischen Raumbegriffs über die Grenzen von Philosophie und Ästhetik hinaus, und umgekehrt, ist der Raumbegriff des amerikanischen Geographen Edward Sojas, der in den Sozialwissenschaften der letzten Jahrzehnte stark rezipiert wurde. Ein anderes Beispiel für die strukturale Transformation des Raumbegriffs bis ins Feld der kulturwissenschaftlichen Historiographie zeigt sich auch bei einem noch in der gegenwärtigen Diskussion zitierten Theoretiker wie Michel de Certeau, wenn dieser die dynamische Raumauffassung in dem Satz konstatiert: „Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen.“3 Die in den letzten drei Jahrzehnten noch einmal interdisziplinär verstärkte Grundlagenreflexion über Räumlichkeit hat dazu geführt, dass auch in der Literaturwissenschaft seit den 1990er Jahren ein spatial turn diagnostiziert wurde.4 Diese Grundlagenreflexion gründet sich zum einen auf die in die Literaturwissenschaft lancierten Theorieimpulse des Strukturalismus, die bis heute in Auseinandersetzung mit methodischen Ansätzen wie Lotmans Raumsemantik oder Bachtins Chronotopoi wirksam sind. Zum anderen haben sich im Zuge der Pluralisierung von theoretischen Wenden in den Kulturwissenschaften5 auch in der Literaturwissenschaft die theoretischen Raumbezüge vervielfältigt.6 Dies lässt sich insbesondere in komparatistischen, postkolonialen und interkulturellen Studienfeldern beobachten, aber auch in Verbindung mit Theorieaspekten der Wissensgeschichte, dem kulturellen Gedächtnis, der Übersetzungswissenschaft sowie der Theater-, Film- und Medienwissenschaften. Die dabei interdisziplinär zur Geltung kommenden Bedeutungsdimensionen des nicht mehr euklidisch restringierten Raumbegriffes gehören zu dem oben genannten Trend hin zu einem struktural-kinetischen Raumdenken, das aus wissenschaftsge3 Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Berlin: De Gruyter 1988, S. 218. 4 Siehe dazu ausführlich Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit (Hrsg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld: Transcript 2009. Über die Literaturwissenschaft hinaus siehe Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hrsg.): Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld: Transcript 2007. Eine Übersicht zur Raumthematik bietet Günzel, Stephan (Hrsg.): Raum: Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar: Metzler 2010. 5 Übersichtlich zur kulturwissenschaftlichen Methodenentwicklung und ihrem Metadiskurs siehe Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften. Reinbek/Hamburg: Rowohlt 2006. 6 Damit rückt die Literaturwissenschaft poetische Raumkonzepte auch theoretisch in den Vordergrund, die der Literatur als Kunst immer schon eingeschrieben waren, jedoch im Verbund mit Phänomenen der Zeitlichkeit vergleichsweise wenig Beachtung fanden. Siehe dazu mit Fokus auf die Moderne Mehigan, Tim/Corkhill, Alan (Hrsg.): Raumlektüren. Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne. Bielefeld: Transcript 2013.

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schichtlichen Transformationen des neuzeitlichen Entwicklungszusammenhanges resultiert.7 Demnach hat sich auf dem Feld der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung, speziell entlang von ästhetisch-konstruktiven, psychogenetischen und kulturanthropologischen Perspektiven, eine historische Bedeutungsvielfalt des Raums entfaltet, die den bislang gängigen Raumbegriff mit seiner physikalischen, geographischen und objektivistischen Extension erweitert. So erscheint im wissensgeschichtlichen Rückblick selbst die Raumbedeutung in der europäischen Antike noch einmal anders und wird als eine ontologische, kosmogonische und metaphysische Grundlagenreflexion in Verbindung mit wissenschaftlicher theoria und philosophischer atmosphaira historisch rekonstruierbar.8 Infolge der neuzeitlichen Abkehr von der traditionellen Metaphysik – somit auch von der tradierten Exzentrik des Blicks auf den menschlichen Raum, die sich erst wieder seit der Raumfahrttechnologie mit neometaphysischem Staunen einstellt9 – objektiviert sich seit der Aufklärung das Erkenntnisinteresse in anthropologischen und psychologischen, wissensgeschichtlichen und epistemologischen sowie geographischen und soziologischen Auffassungen des Raumphänomens. In einer subkulturellen Gegenströmung zur systemischen Entfaltung von Rationalität als Steuerungsinstanz der gesamtkulturellen Wissensproduktion erkunden Literatur und andere Künste seit der Moderne Raum und Räumlichkeit auch als wahrnehmungsbasierte Erfahrungen – einschließlich emotionaler und kognitiver Qualitäten. Im Anschluss an die Krisen der Wissenschaft, der Philosophie und der Sprache werden seit Beginn des 20. Jahrhunderts statische Konzepte vom Raum als objektivierende oder aber transzendentale Anschauungsform, als physikalischer ‚Container’ oder als geopolitisches Territorium nicht länger als verbindlich, sondern als ergänzungsbedürftig, wo nicht irreführend angesehen. In avancierter Kunst und Literatur werden diese lange Zeit als kulturelle Selbstverständlichkeit etablierten Raumbedeutungen an die – oft ideologisch befestigten – Grenzen ihrer epistemischen, positivistischen bzw. imperialen Logik geführt; und darüber hinaus an die Schwelle einer als unge-

7 Siehe hierzu das grundlegende Diskussionsmaterial in Teil 1 ‚Physik und Metaphysik des Raums‘ im Band von Jörg Dünne und Stephan Günzel. Dies. (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006. 8 Siehe etwa den spekulativen und kulturhistorisch weitreichenden Vorstoß von Sloterdijk, Peter: Globen, Sphären II. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999. 9 Siehe zur kulturhistorischen- und kulturanthropologischen Bedeutung der Raumfahrt Sloterdijk, Peter: Starke Beobachtung. Für eine Philosophie der Raumstation. In: Was geschah im 20. Jahrhundert? Frankfurt/Main: Suhrkamp 2016, S. 177–184.

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heuerlich empfundenen Offenheit herangeführt, deren horror vacui sich von älteren Ideen des Kosmos oder Universums unterscheidet.10 An die Stelle fester Raumvorstellungen treten Ästhetiken und Poetiken des Raums, die diesen als (protophänomenologische) Wahrnehmungsform, als (plastisch-prozessuale) Weltwerdung oder als (geschichtsphilosophische) Existenzmetapher unter konstitutiven, produktiven und dynamischen Bedeutungsaspekten auffassen. Insbesondere – und in mancher Hinsicht bis heute wegweisend – wird so in Werken der Literatur und Kunst das ästhetische Raumphänomen in zeitlich-relativen, mediologischen und kulturell transitorischen Bedeutungsperspektiven konstruiert. Dadurch wird der absolut stabile, substanzlogische Begriff vom etwas enthaltenden Raum aisthetisch relativiert und performativ verflüssigt. Im Anschluss an ihre zumeist deutschen Vordenker aus der Phänomenologie und Kulturphilosophie (Hegel, Brentano, Husserl, Heidegger, Simmel, Cassirer, Lewin) des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts konsolidiert sich die den ästhetischen Erkundungen und phänomenologischen Befunden entsprechende, zumeist französische Theoriebildung in den 1960er bis 1980er Jahren (Blanchot, Lacan, Bachelard, Merleau-Ponty, Leroi-Gourhan, Serres, Foucault, Lefebvre, de Certeau, Bourdieu). Das überwiegend deutschfranzösische Feld an Raumtheorien bildet bis heute den Referenzhintergrund raumpoetischer, topologischer und topographischer Ansätze in der Kultur- und Literaturwissenschaft. Innerhalb dieser Vielfalt raumtheoretischer Ansätze lässt sich der Ausgangspunkt unserer begrifflichen Engführung von Raum und Grenze verorten. Er liegt gleichsam diesseits herkömmlicher Behältervorstellungen vom Raum, indem wir dessen Genese in der prätranszendentalen Wahrnehmungsstruktur als konstitutiv für seinen ästhetischen und kulturellen Begriff betrachten. Mit diesem Raumbegriff wird die Grenze zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt in Richtung eines vor deren Trennung befindlichen Ursprungs hinterschritten. Mit der konzeptuellen Auflösung phänomenaler und epistemologischer Duale geraten auch die gewohnten Vorstellungen von Grenzen im dimensionalen, geographischen und politischen Sinn ins Wanken. An die Stelle fester, trennender Grenzen zwischen Nationalstaaten erscheinen liminale, verbindende Räume von Interkulturalität.11 Durchgängige Linien eines kartierten Territoriums lösen sich zu interagierenden Punkten in historischer Übergängigkeit auf. Die substanzielle Einheit einer natürlichen Grenze wird zur relativen 10 Siehe hierzu Koyré, Alexandre: Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980; ferner Genz, Henning: Nichts als das Nichts. Die Physik des Vakuums. Weinheim: VCH 2004. 11 Siehe zur Auffassung von Interkulturalität selbst als einem Phänomen liminaler Räumlichkeit: Heimböckel, Dieter/Weinberg, Manfred: Interkulturalität als Projekt. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5, H. 2, 2014, S. 119–144, hier S. 124.

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Einheit von Strukturelementen einer ästhetisch dargestellten Grenzlandschaft. Mit der Transformation des gewöhnlich als gegeben angeschauten, durch Blickachsen stabilisierten Raums in eine konstruktive Strukturbewegung weicht auch die Vorstellung von im Realen bestehenden Grenzen der Einsicht in deren transgressiven Konstitutionsgrund. Die ästhetische Erweiterung des Konzepts vom absoluten Raum zu relativistischer Räumlichkeit zieht eine semantische Umstellung des Grenzbegriffs nach sich, nach der dynamische die statischen Bedeutungsaspekte ergänzen, verschieben oder verflüssigen. Insofern ist es sinnvoll, ästhetische Qualitäten in den Vordergrund zu rücken, die in politisch, historisch oder auch urbanistisch zentrierten Diskursen über Interkulturalität, Transkulturalität und Architektur zumeist weitgehend im Hintergrund bleiben. Während hier Zwischen- und Grenzräume vor allem hinsichtlich ihrer Vermittlungsleistung zwischen Eigenem und Fremdem, Privatheit und Öffentlichkeit oder Interieurs und Exterieurs gesehen werden, können sie in Literatur als Kunst auch diesseits hermeneutischer Ansprüche, also in der ästhetischen Texterfahrung selbst entdeckt werden – etwa als narrative Schwellenphänomene, als fiktionale Existenzsphären oder als poetische ‚Weltinnenräume‘ (Rilke), wie der Beitrag Stefan Hajduks zeigt. Ausgehend von diesem Bedeutungswandel der Begriffe von Raum, Grenze und Grenzraum blicken wir auf die Kulturräume ‚Sarmatien‘, ‚Germania Slavica‘ und ‚Mitteleuropa‘ als Grenzräume, die entlang der historischen Achsen Mitteleuropas, zugleich aber auf der ästhetischen Schwelle zum Imaginären angesiedelt sind.12 In solcher Doppelperspektive verschmelzen die Begriffsextensionen von ‚Grenzland‘ und ‚Grenzraum‘ zu einem Beobachtungsfeld, auf dem sich die Spannungsverhältnisse zwischen geopolitischer Realität und literarischer Imagination abbilden. Auf der topographischen Ebene des Politischen ist eine großräumige Imperiendämmerung im 20. Jahrhundert zu verzeichnen, die mit neuen Nationalstaaten alte Grenzräume verschwinden und neue entstehen lässt.13 Zugleich kommen dabei im europäischen, aber auch globalen Kontext, nicht nur die in der Einleitung dieses Bandes erwähnten Ost-West- bzw. NordSüd-Dichotomien mit ins Spiel, sondern es wäre auch an geopolitisch-neoim12 Siehe dazu die Einleitung des vorliegenden Bandes. 13 Politische Verlustgefühle, die dadurch nach dem 1. und 2. Weltkrieg, aber auch nach der weitgehenden Dekolonialisierung bewirkt worden sind, werden seit Beginn des 21. Jahrhunderts in populistischen Neonationalismen (z. B. Großbritannien, USA und die Visegradstaaten), Neoimperialismen (z. B. Russland, China) und nostalgischen Autarkiephantasien ehemaliger Mittel- und Großmächte kompensiert. Zugleich finden sie in kulturmorphologischen Perspektiven auf Weltgeschichte Ausdruck, wie sie Oswald Spenglers v. a. nach dem 1. Weltkrieg breit rezipierten „Untergang des Abendlandes“ zugrunde liegen, aber sowohl nach 1945 als auch in aktuellen Diskursen der neuen Rechten aufgegriffen werden. Vgl. de Winde, Arne u. a. (Hrsg.): Tektonik der Systeme. Neulektüren von Oswald Spengler. Heidelberg: Synchron 2016.

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periale Bestrebungen zu denken, wie sie gegenwärtig nicht nur Putins Politik zu unterliegen scheinen. Demgegenüber sind auf der topologischen Ebene des Literarischen neue Formen des Darstellens der Erfahrung von Räumlichkeit und Grenzüberschreitung zu beobachten. Den oben angeführten Tendenzen der ästhetischen und literarischen, der wissenschaftlichen und philosophischen Moderne zur bedeutungsgeschichtlichen Transformation von Raum scheint die historische Großereignisfolge des 20. Jahrhunderts durchaus entgegen zu stehen. Zumindest insofern zwischen 1914 und 1945 von einem dreißigjährigen Weltkrieg14 um geopolitische Machträume und nationalstaatliche Grenzverschiebungen die Rede sein kann. Bekanntlich folgte dem Zerfall des Habsburgischen, Russischen, Osmanischen und Deutschen Reiches nach 1918 eine erst öffentlich anspruchsvolle (Wilsons Selbstbestimmungsrecht der Völker) wie dann offensichtlich machtpragmatische Neuaufteilung des politischen Raums in und um Europa samt seinen weltweiten Kolonien. Der vorliegende Band richtet seine Aufmerksamkeit auf jenen, nationalstaatliche sowie ethnische Grenzen überschreitenden Großraum Mittel- und Osteuropa, der nach dem ersten wie auch dem zweiten Weltkrieg zum Gegenstand literarischer Bearbeitung und Erinnerung geworden ist. Vor allem ehemalige deutsche und österreichische Ostgebiete, ihre als Heimat oder Fremde erfahrenen Landschaften, ihre Multikulturalität und Geschichte, rücken in der Nachkriegsliteratur in den Fokus einer doppelten Ästhetik der Schuldgefühlsreflexion und des Verlustgedenkens. Die mittel- und ostmitteleuropäische Weite des Raums wurde in Zeiten des Kalten Krieges zu einer Sphäre zwischen Machtblöcken und jenseits politischer Grenzen. In dieser grenzräumlichen Sphäre – und nicht nur in der Literatur über dieselbe – überlagern sich imaginäre und reale, ästhetische und ethische, naturpoetische und historische Bedeutungsschichten. Diesen entspricht ein geschichtlich emergentes und kulturell nuanciertes Spektrum an Affektivität, das in Literatur und anderen Künsten durch objektivierte Stimmungen und Atmosphären als ästhetische Verfugung von Emotion und Raum zur Darstellung kommt. Dadurch erreicht literarisches Darstellen immer wieder jene topologischen Dimensionen von Räumlichkeit und Grenzerfahrung, wie sie das phänomenologische Raumdenken produktiv umkreiste, die hingegen bei der Topographie politischer und sozialer Geschichtsschreibung weitestgehend ausgeblendet bleiben, obwohl gerade die af-

14 Siehe zu diesem Begriff und seiner Verwendungsgeschichte seit de Gaulle und Aron samt Vorgeschichte bei Engels und Moltke den Artikel von Wehler, Hans-Ulrich: Der zweite Dreißigjährige Krieg. Der Erste Weltkrieg als Auftakt und Vorbild für den Zweiten Weltkrieg. In: Spiegel special. 2004/1: Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, S. 138–143.

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fektive Ebene und deren komplexes Zusammenspiel mit anderen Bedeutungsebenen hier von besonderer Wichtigkeit sind. Während Literatur sich als Kunst lebendiger Vergegenwärtigung und zugleich kritischer Darstellung von natürlichen, politischen und kulturellen Räumen versucht, versäumte es herkömmliche Geschichtsschreibung zumeist, ihre raumbezogene Narrativität zusammen mit dem Anspruch auf objektivierbare Erkenntnis methodologisch zu reflektieren oder gar erkenntnistheoretisch in Einklang zu bringen.15 Daraus erwachsene Versuche einer Universalgeschichte, der Geschichtsphilosophie oder der Geistesgeschichte, das Ganze der Geschichte eines räumlich-zeitlichen Segments mit historiographischen Mitteln zu erfassen zu suchen, waren daher letztlich zum Scheitern verurteilt. Unser heutiges Geschichtsdenken rechnet von vornherein mit der Kontinuität von Diskontinuen, mit der Kontingenz von Sinnkohärenzen und mit der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem. Insofern geht es uns hier nicht um den Hinweis auf das Potenzial der beschriebenen Horizonterweiterung auf den Feldern der Episteme und Ästhetik für eine weltpolitische Ereignisgeschichte, die öffentliche wie auch disziplinäre Diskurse in einzelnen Fachbereichen nach wie vor bestimmt.16 Auch sehen wir in unserem Konzept von kontrafaktischen Überlegungen wie etwa derjenigen ab, was aus Mittel- und Osteuropa hätte werden können, wenn auf der Ebene des Politischen ein anderer Raumbegriff zum Zuge gekommen wäre; etwa Husserls historisch-epistemologischer, aber auch raumphänomenologisch einschlägiger (und alltagssprachlich vulgarisierter) Begriff der Lebenswelt17 anstelle des ideologisch aggressiv konnotierten (Imperialismus, Kolonialismus, Rassentheorie, Nationalsozialismus) Begriffes des Lebensraums. Hingegen schauen wir auf die literarische Verarbeitung, Beschreibung und Gestaltung mitteleuropäischer, ostmittel- bzw. osteuropäischer Borderlands seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, um die Aufmerksamkeit auf Erfahrungen der topologischen Grenzräumlichkeit zu lenken, die dem historischen Geschehen im geopolitischen Ausdehnungsraum zugrunde liegen und doch von dessen topographischer Dis15 Dies begann sich erst allmählich zu ändern, nachdem theoretische Interventionen wie die von Hayden White auf einer breiteren Diskursebene dafür sorgten, dass Narrativität und Poetizität für jede Geschichtsschreibung als konstitutiv angesehen werden. Siehe etwa White, Hayden: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore: The Johns Hopkins University Press 1973; ders.: Auch Klio dichtet, oder, Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart: Klett-Cotta 1986. 16 Das trifft ohnehin nicht auf für den ‚spatial turn‘ disziplinär und interdisziplinär wichtige Ansätze in der Geographie (Soja), Soziologie (Sassen) oder Geschichtswissenschaft (Schlögel) zu. 17 Siehe zu diesem Begriff im theoretischen Kontext Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936). Berlin: Springer 1993. Zur breit diskutierten Bedeutung von Husserls Lebensweltbegriff siehe etwa Ströker, Elisabeth (Hrsg.): Lebenswelt und Wissenschaft in der Philosophie Edmund Husserls. Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann 1979.

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kursschicht zumeist verdeckt werden. Dies gilt auch mit Blick auf aktuelle Diskussionen um Europa auf so unterschiedlichen Feldern wie der Geschichts- und Sprachenpolitik, der Erinnerungskultur oder der geopolitischen Allianz- und Konkurrenzsysteme. Da ‚Mitteleuropa‘, ‚Germania Slavica‘ oder auch ‚Sarmatien‘ sich ihrer geohistorisch und geopolitisch präzisen Definition weitgehend entziehen, können sie der Orientierung für die transkulturelle Verortung von Grenzräumen dienlich sein, die durch ein subliminales Erleben der Übergängigkeit zwischen Imaginärem und Materiellem, Symbolischem und Realem, Fiktivem und Faktualem bestimmt sind. Die verschwimmenden Ränder ihrer Begriffsextensionen verweisen auf eine mythopoetische Dekonstruktion der Architektur geopolitischer Räume samt der Statik ihrer Grenzen. Trotz ihres produktiven Mangels an geschichtlich geographischer Genauigkeit sind ‚Sarmatien‘, ‚Germania Slavica‘ und ‚Mitteleuropa‘ jedoch als Gebietsbezeichnungen hinreichend konkret, um die Beliebigkeit einer Drift ins Imaginäre übergeschichtlicher Raumerfahrung einzuhegen. Dies ist umso wichtiger, als dass fatalistische Überhöhungen des Zeitgeschichtlichen ins metaphysisch Schicksalhafte einen problematischen Grundzug der Epoche der beiden Weltkriege und ihrer mentalen Verarbeitung auf individueller wie kollektiver Ebene darstellen. Bei ‚Sarmatien‘ und ‚Mitteleuropa‘ halten sich die historische und geographische Konkretion einerseits und die mythischen und poetischen Anklänge andererseits dagegen eher die Waage. Diese konzeptuelle Balance zwischen der Geschichtlichkeit persönlicher Erfahrungsräume und der Liminalität poetischer Erinnerungsräume war auch ein Grund dafür, dass wir den hundertsten Geburtstag des 1917 geborenen deutschen Schriftstellers und Wehrmachtssoldaten Johannes Bobrowski zum Anlass nahmen, dessen ‚Sarmatien‘ zum Ausgangspunkt für unsere literarische Spurensuche im Ost-, Ostmittel- und Mitteleuropa des 20. und 21. Jahrhunderts zu wählen. Mit dem gegenwärtigen Ableben und Historischwerden der Kriegsteilnehmergeneration erhält Bobrowskis Bemerkung, dass sein Schreiben und zumal lyrisches Schreiben „so etwas wie eine Kriegsverletzung“18 sei, eine zusätzliche aktuelle Resonanz in der kollektiven Erinnerung. Deren Raum konkretisiert sich in der Imagination deutscher Literatur als das Kulturen in vielfältige Berührungen bringende Grenzland im Osten – samt damit verbundener Ideen wie der einer Germania Slavica, die in der subliminalen Übergängigkeit von geschichtlichem und ästhetischem Bewusstsein ihren Ort haben. Indes verweist die Entwicklung einer Poetik aus der Gewalt des Krieges, der im Osten für eine imperiale Großraumeroberung geführt wurde, sowohl auf existenzielle Erfahrungen von Grenzsituationen, die schockartig mit 18 Zitiert in Baldauf, Helmut: Lebensbilder Johannes Bobrowski. Texte, Fotos, Erinnerungen. Berlin: Basis Druck 2011, S. 55.

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Zeitlichkeit, Vergänglichkeit und Sterblichkeit konfrontieren, als auch auf Grenzüberschreitungen, die das Subjekt in einen „Schwindel an Freiheit“19 stürzen, es aber auch Selbstweitungen und Daseinsmöglichkeiten imaginieren lässt. Insofern hier physische und politische, kulturelle und ethische, historische und poetologische Perspektiven konvergieren, bildet solche Raumerfahrung, die zugleich Grenzerfahrung ist, den konzeptuellen Fluchtpunkt des vorliegenden Bandes.

19 Kierkegaard, Sören: Der Begriff Angst. Die Krankheit zum Tode. Wiesbaden: Maxi Verlag 2016; dazu unter grenzsituativen und raumpoetischen Stimmungsaspekten Hajduk, Stefan: Zwischen Schwindel der Freiheit und Grundbefindlichkeit des Daseins. Zum existenzphilosophischen Angstbegriff und seiner literaturwissenschaftlichen Relevanz. In: Limbus. Australian Yearbook of German Literary and Cultural Studies 8, 2017, S. 159–186.

Teil I. Ostgrenzenlos? Bobrowskis sarmatische Utopie

Andreas Degen (Potsdam)

Grenzland und Sarmatien. Zur Geosemantisierung Ostpreußens im politischen Diskurs der Zwischenkriegszeit und in den Kriegs- und frühen Nachkriegsgedichten Johannes Bobrowskis

Der deutsche Begriff Grenzland ist historisch eng mit dem nationalen Diskurs über die deutsche Ostgrenze und die ethnisch-kulturelle Diversität Osteuropas verbunden. Dies gilt insbesondere für die politische Semantisierung Ostpreußens, das nach dem Ersten Weltkrieg bis 1939 eine deutsche Exklave war. Diese Untersuchung rekonstruiert zunächst die Semantik Ostpreußens im politischen Diskurs Deutschlands während der Zwischenkriegszeit. In einem zweiten Schritt wird anhand von Gedichten und Briefen des aus Ostpreußen stammenden Autors Johannes Bobrowski (1917–1965) beschrieben, wie dieser während des Zweiten Weltkrieges und der 1950er Jahre das Alteritätskonzept ‚slavischer Osten‘ sukzessive in ein Identifikationskonzept transformiert. Das als deutsches ‚Grenzland‘ konfrontativ gegen den ‚slavischen Osten‘ gesetzte Ostpreußen wird bei Bobrowski so zum westlichen Ausläufer eines multiethnischen kulturhistorischen Identifikationsraumes ‚Osteuropa‘, der mit dem antiken Toponym Sarmatien bezeichnet wird. Dieser wird, retrospektiv idealisiert, dem geteilten Nachkriegsdeutschland der Gegenwart gegenübergestellt. Historically, the German term Grenzland (borderland) is closely linked to the national discourse on the eastern border of Germany and the ethnic and cultural diversity of Eastern Europe. This applies in particular to the political semantization of East Prussia, which was a German exclave after the First World War until 1939. Firstly, this investigation reconstructs the semantic of East Prussia in the German political discourse during the interwar period. In a second step, on the basis of poems and letters of the East Prussian author Johannes Bobrowski (1917–1965) I describe how he transformed the concept of alterity ‘Slavic East’ successively into a concept of identification during the Second World War and the 1950s. For Bobrowski, East Prussia, which was as a German ‘borderland’ confrontationally opposed to the ‘Slavic East’, becomes the western tail of a multi-ethnic cultural-historical identification area ‘Eastern Europe’, which is called by the antic toponym Sarmatia. This is, retrospectively idealized, compared with the divided post-war Germany of the present.

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Die tektonisch wenig strukturierte Großregion der Osteuropäischen Ebene, bis ins frühe 20. Jahrhundert oft als Sarmatische Tiefebene1 bezeichnet, war seit jeher ein Gebiet vielseitiger ethnischer und kultureller Kontakte in Form von Aggressions-, Austausch-, Assimilations- und Abgrenzungsprozessen. Aus deutscher Sicht lässt sich die mittelalterliche Eroberungs- und Kolonisierungsbewegung, die zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert beispielsweise im Staat des Deutschen Ritterordens politisch Gestalt gewann, als frontier beschreiben.2 Sie wurde als Christianisierungsanstrengung legitimiert und war mit einer kulturell exponierten Grenzideologie im Sinne einer Barbarengrenze ausgestattet.3 Ein zumindest bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts charakteristisches Merkmal des westlichen, heute oft als „Ostmitteleuropa“4 oder „Zwischeneuropa“ bezeichneten Teils dieser Region zwischen Ostsee und Schwarzem Meer ist, dass die im Verlauf der Geschichte vielfach veränderlichen staatlich-administrativen Grenzziehungen in keiner Weise die ethnisch-kulturelle Heterogenität ihrer Bevölkerung abbildete. Das ideologische Konzept der nationalen Identität entsprach im 19. und frühen 20. Jahrhundert deshalb kaum den hier nebeneinander existierenden kollektiven Identitäten und ihren sich vielfältig überlagernden politisch-herrschaftlichen, sprachlichen, ethnischen, sozialen und religiös-konfessionellen Bindungen. Das Nationen-Konzept war daher, vor allem wo es forciert eingesetzt oder mit geopolitischen Forderungen verbunden wurde, mit einem hohen Konflikt- und Aggressionspotential verbunden. Der deutsche Lyriker und Prosaautor Johannes Bobrowski (1917–1965) bezeichnete diese Großregion seit 1956 mit dem antiken, heute nicht mehr geläufigen Toponym Sarmatien: „Unter Sarmatien verstehe ich nach Ptolemäus das Gebiet zwischen Schwarzem Meer und Ostsee. Zwischen Weichsel und der Linie 1 Vgl. z. B. Locher, Franz: Neueste Erdbeschreibung für Gymnasien, Real- und Bürgerschulen. Historisch, ethnographisch und comparativ. Neue, gänzlich umgearbeitete Auflage. Regensburg: Fr. Pustet Verlag 1863, S. 59. Als Trennlinie zwischen den westlichen („germanischen“ und „französischen“) Ebenen in Europa und der östlichen („sarmatischen“) Ebene galt die Weichsel. 2 Im Anschluss an Frederick Jackson Turner definiert Jürgen Osterhammel die Frontier als eine „besondere Art von Kontaktsituation, in der zwei Kollektive unterschiedlicher Herkunft und kultureller Orientierung miteinander in Austauschprozesse treten, bei denen sich Konflikt und Kooperation in unterschiedlichen Verhältnissen mischen“. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. 5., durchgesehene Auflage. München: Beck 2010, S. 513. 3 Das heißt eine durch grundsätzliche kulturelle Differenz markierte Grenze, vgl. Osterhammel, Jürgen: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, S. 217. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 147). 4 Jörg Hackmann: Ostmitteleuropa. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2015. (Zugriff am 29. 05. 2015).

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Don – Mittlere Wolga. / Ein Gebiet, aus dem ich stamme und in dem ich herumgekommen bin.“5 Bobrowski wuchs im Norden Ostpreußens (Tilsit, Königsberg), also im Gebiet des mittelalterlichen Ordensstaates, auf. Das Territorium des Ordensstaates lag außerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation; erst mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 wurde Ostpreußen staatsrechtlich Teil des Reiches. Die Wiederherstellung eines souveränen polnischen Staates nach dem Ersten Weltkrieg führte dazu, dass Ostpreußen ab 1919 vom Deutschen Reich abgetrennt und zu einer Exklave wurde. Infolgedessen wurde im politischen Diskurs der Weimarer Republik allenthalben der „Grenzlandgeist“6 Ostpreußens beschworen.

I. Das Wort Grenzraum lässt sich im Deutschen in drei terminologische Beziehungen setzen: Das alte deutsche Wort Mark bezeichnet gemäß dem „Deutschen Wörterbuch“ der Grimms neben „grenze“ vor allem „die vorgeschobenen grenzländer [!] des reiches“7, während das aus dem Slavischen entlehnte Wort Grenze zunächst eine „gedachte linie, die zur scheidung von gebieten der erdoberfläche dient“8, meint. Das jüngere, erst im 19. Jahrhundert häufigere Kompositum Grenzland entspricht in seiner Bedeutung weithin Mark und wird, dies zeigen die Belegstellen des 9. Bandes (1935) des „Deutschen Wörterbuchs“, vor allem für die Bezeichnung von durch konkurrierende Kollektive beanspruchten Gebieten entlang historisch unfester oder umkämpfter Territorialgrenzen verwendet. Ein angeführter früher Beleg aus Schillers „Wallenstein“ (1799) bringt dies auf den Punkt: „helft den gemeinen feind mir niederhalten, / das schöne grenzland kann euch nicht entgehn“9. Das Wörterbuch zitiert außerdem aus Heinrich von Treitschkes Abhandlung „Das deutsche Ordensland Preußen“ (1862), die angebliche historische Entwicklungsgesetze, beispielsweise die ras-

5 Notiz Bobrowskis für eine Lesung auf der Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1960 in Aschaffenburg, zitiert nach: Tgahrt, Reinhard: Johannes Bobrowski oder Landschaft mit Leuten. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. In Zusammenarbeit mit Ute Doster. Marbach/Neckar: Deutsche Schillergesellschaft, S. 121f. (Marbacher Kataloge; Bd. 46). 6 Kossert, Andreas: Ostpreußen. Geschichte und Mythos. München: Pantheon 2007, S. 266. 7 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961, Bd. 12. Leipzig (Hirzel) 1885, Sp. 1633–1635. (Online-Version, Zugriff am 12. 2. 2018). 8 Deutsches Wörterbuch, Bd. 9. 1935, Sp. 127. (Online-Version, Zugriff am 12. 2. 2018). 9 Ebd., Sp. 167.

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sisch begründete Feindschaft zwischen Polen und Deutschen, nachweisen will.10 In der als Wortbeleg für Grenzland zitierten Passage der Abhandlung geht es um den Gegensatz zwischen Deutschem Ritterorden einer- und dem polnischen König und litauischen Großfürsten Władysław II. Jagiełło andererseits, unter dessen Einfluss die gesamte Großregion zwischen Neiße und der Stadt Kursk, zwischen Ostsee und Schwarzem Meer Anfang des 15. Jahrhunderts stand. In der geographischen Ausdehnung entspricht dies etwa Bobrowskis Sarmatien. Angesichts der Nichtexistenz eines souveränen Polens im Jahr 1862 und eines unter preußischer Führung erstarkenden deutschen Nationalstaates meint Treitschke das der Herrschaft Władysławs zugeordnete Attribut des „bunte[n] Völkergemisch[s]“ pejorativ: „Weit über die Grenzen der Christenheit hinaus schweiften Wladislaws herrschsüchtige Pläne; er schloß ein Bündnis mit den heidnischen Tataren und Walachen. Ein ruchloser Frevel nach den Begriffen der Deutschen, aber eine sehr begreifliche Politik für einen Polenkönig; denn ein buntes Völkergemisch von Ruthenen und Sarazenen, Armeniern und Tataren hauste in dem Südosten dieses Grenzlandes der Christenheit – ein Gewirr von Völkertrümmern, das die Nähe des Orients ankündigte. Seit den Tagen Kasimirs des Großen waren auch noch Massen der aus Deutschland vertriebenen Juden hinzugekommen, und in diesem Durcheinander von Christen und Heiden, Juden und Schismatikern konnte selbst der strengkatholische Wladislaw die Hilfe der Heiden nicht verschmähen.“11

10 Zur Darstellung des Deutschen Ordens bei Treitschke vgl. auch Egger, Sabine: Dialog mit dem Fremden. Erinnerung an den ‚europäischen Osten‘ in der Lyrik Johannes Bobrowskis. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 121. 11 Treitschke, Heinrich von: Das deutsche Ordensland Preußen. In: ders.: Aufsätze, Reden und Briefe. Hrsg. von K. M. Schiller. Meersburg: Hendel 1929. Bd. 2. Historisch-politische Aufsätze, S. 43–105, hier S. 83f. – In der jüngeren geschichts- und kulturwissenschaftlichen Forschung wird der Umstand des „bunte[n] Völkergemisch[s]“ mit dem Argument einer historisch größeren Angemessenheit in umgekehrter Wertung behandelt (die Gefahr einer retrospektiven Harmonisierung liegt dabei allerdings auf der Hand): „Was geschieht, wenn Grenzraum und Gemengelage nicht als Defekt, sondern als spezifischer Reichtum verstanden werden? Grenzräume, Grenzländer, die in einer ethnozentrierten Perspektive Abgrenzungs-, Selbstbehauptungs-, Selbstverteidigungs- und Ausfallräume werden, erscheinen in einer pluralen Perspektive, die der Gemengelage weit angemessener ist, als offene Räume, als Orte der Begegnung, der Vermischung, des Übergangs, der Produktion von Reichtum. Es ist der Ort der Vielsprachigkeit, der Multikulturalität und der Ausprägung von „pluralen Identitäten“ zu einem Zeitpunkt, da es das Wort dafür noch gar nicht gab. Es ist leicht auszumalen, was geschieht, wenn wir Autoren wie Johannes Bobrowski oder Hermann Sudermann, Franz Kafka oder Paul Celan unter solchen Gesichtspunkten lesen.“ Schlögel, Karl: Von der nationalen Ostforschung zur integrierenden Ostmitteleuropa-Forschung. Vortrag anlässlich des Symposiums „Gemeinsames Kulturerbe als Chance” am 20. September 2004 im Berliner Kronprinzenpalais. (Zugriff am 20. 1. 2018).

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Johannes Bobrowski erhielt diese Abhandlung Treitschkes zum Weihnachtsfest 1939 geschenkt, also unmittelbar nach der erneuten Aufteilung Polens durch Deutschland und die Sowjetunion, in deren Folge Ostpreußen wieder direkt mit dem Deutschen Reich verbunden war.12 Er befand sich, nach seiner Teilnahme an der Besetzung Polens, zu diesem Zeitpunkt als Gefreiter des Nachrichtenregiments 501 an der Mosel, um einige Monate später am Feldzug gegen Frankreich teilzunehmen. Seine Briefe aus den ersten Kriegsjahren lassen eine patriotische Haltung erkennen; er bedauerte, in Frankreich nicht mehr von den Kampfhandlungen mitzubekommen.13 1949 kehrte Bobrowski aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach Berlin zurück. Als er um 1960 als Autor bekannter zu werden begann, begründete er sein Schreiben wiederholt durch biographische und historische Erfahrungen. Diese beziehen sich, über seine Herkunft von der „früheren deutsch-litauischen Grenze“ hinaus, auf die von Treitschke angesprochene Großregion „im Osten“ und ihre „durcheinander und miteinander“ lebenden Völker: „Ich stamme aus einer Gegend, in der die Deutschen mit ihren Nachbarn durcheinander und miteinander gelebt haben, an der früheren deutsch-litauischen Grenze. […] Ich bin als Soldat der Wehrmacht in der Sowjetunion gewesen. Ich habe dort das noch vor Augen geführt bekommen, was ich historisch von der Auseinandersetzung des Deutschen Ritterordens mit den Völkern im Osten und von der preußischen Ostpolitik aus der Geschichte wußte.“14

Im Folgenden werde ich zunächst an einigen Beispielen die Funktion des Grenzland-Topos für die geopolitische Semantisierung Ostpreußens in der Zwischenkriegszeit (1919–1939) skizzieren. Damit wird zugleich der öffentliche Diskurs über Ostpreußen während der Kindheit und Jugend Bobrowskis charakterisiert. An12 Eberhard Haufe gibt an, Bobrowski habe 1939 Treitschkes Abhandlung „höchstwahrscheinlich“ von seinem früheren Gymnasium in Königsberg erhalten. Haufe, Eberhard: Bobrowski-Chronik. Daten zu Leben und Werk. Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, S. 18. – Das nach dem Ersten Weltkrieg alliiert verwaltete, später litauisch annektierte schmale Gebiet rechts der Memel war schon im März 1939 wieder zu Deutschland gekommen. 13 So heißt es, jeweils an die Mutter, am 13. 9. 1940 aus dem besetzten Polen: „Mir hat dieser Krieg sehr viel bedeutet, und ich habe in aller Zerstörung die Größe des menschlichen Herzens erleben können. Wir liegen weit in Polen, und was ich davon schreiben kann, ist nicht schön.“; am 14. 3. 1940 aus dem Gebiet der Voreifel, in Erwartung des Krieges gegen Frankreich: „Und was soll ich Dir nun zu Deinem Ehrentag anders schicken als die Versicherung, das, was ich jetzt tun soll, ganz zu tun und ganz zu sein: ein Soldat.“; am 24. 7. 1940 aus der Nähe von Verdun an die Mutter: „Dennoch, weil der Krieg wieder einschlief, wünschte ich wohl in Deutschland zu sein, aber solang der Krieg währt, möcht ich schon dabei sein.“ Bobrowski, Johannes: Briefe 1937–1965. Hrsg. von Jochen Meyer. Göttingen: Wallstein 2017. Bd. 1, S. 12; 14; 17. (Mainzer Reihe. Neue Folge, Bd. 16). 14 Bobrowski, Johannes: Ansichten und Absichten. Ein Interview des Berliner Rundfunks. In: ders. Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Eberhard Haufe. Berlin: Union Verlag 1987. Bd. 4, S. 469–473, hier S. 471 (Hervorhebungen – A.D.).

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schließend werde ich anhand von frühen Gedichten sowie von Briefen Bobrowskis die sich verändernde Geosemantisierung Ostpreußens in seinem Werk in der Zeit zwischen 1941 und 1956 beschreiben, d. h. für die Jahre seines Kriegs- und Gefangenschaftsaufenthaltes in der Sowjetunion und für die Jahre der konzeptionellen Ausrichtung seiner Dichtung in den Anfangsjahren der DDR. Im Zentrum der Studie steht die semantische Umwertung Ostpreußens als der Herkunftsregion Bobrowskis von einem deutschen „Grenzland“ und „Bollwerk“ gegen die Slaven im Osten zu einem Bestandteil des multiethnischen Sarmatiens. An die Stelle der Opposition Heimat vs. russisches Feindesland schiebt sich im Frühwerk Bobrowskis die – stärker zeitlich konnotierte – Opposition Nachkriegsdeutschland vs. untergegangenes Sarmatien. Während der 1920er und 30er Jahre stellte die Grenzland-Rhetorik nicht nur rechtskonservativer und völkischer Kreise die Grenzziehungen infolge des Ersten Weltkriegs in Frage. Der Begriff fand auch im Zuge der von nahezu allen politischen Richtungen der Weimarer Republik geteilten Revisionsbestrebungen gegenüber Polen Verwendung, vor allem um die Situation und Funktion der Exklave Ostpreußen zu charakterisieren.15 Mit Verweis auf außerhalb des Deutschen Reiches (also auch außerhalb Ostpreußens) lebende sogenannte ‚Volksdeutsche‘16 oder ‚Grenzlanddeutsche‘17 wurden die aktuellen Grenzverläufe durch ethnische und kulturhistorische Behauptungen und Argumentationen in Frage gestellt. In dieser Funktion wurden beispielsweise zwischen 1917 und 1927 in Stuttgart, München, Marburg, Münster, Leipzig und Berlin universitäre und private Forschungsstellen und Institute zur Erforschung des ‚Grenz- und Aus-

15 Winkler, Heinrich August: Hans Rothfels. Ein Lobredner Hitlers? Quellenkritische Bemerkungen zu Ingo Haars Buch „Historiker im Nationalsozialismus“. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 49, 2001, H. 4, S. 643–652, hier S. 643. 16 Im völkischen bzw. nationalsozialistischen Sprachgebrauch Menschen deutscher Rasse- und Volkszugehörigkeit, die die Staatsangehörigkeit eines anderen Landes besitzen und sich aktiv für den ‚Volkstumskampf‘ einsetzen oder zumindest ihr ‚Deutschtum‘ nachweislich bewahrt haben. Die 1936 gegründete Volksdeutsche Mittelstelle hatte die Aufgabe, diese ‚Volksdeutschen‘ finanziell zu unterstützen und ideologisch zu mobilisieren. Ab 1940 wurde in den besetzten Ostgebieten diese Bevölkerung in eine sogenannte „Deutsche Volksliste“ aufgenommen. Brackmann, Karl-Heinz; Birkenhauer, Renate: NS-Deutsch. ‚Selbstverständliche‘ Begriffe und Schlagwörter aus der Zeit des Nationalsozialismus. Straelen/Niederrhein: Straelener Manuskripte Verlag 1988, S. 194f.; Schmitz-Bering, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin/New York: de Gruyter 1998, S. 146f. 17 ‚Grenzlanddeutsche‘ hießen im völkischen bzw. nationalsozialistischen Sprachgebrauch „Bewohner deutscher Ansiedlungen in Nachbarländern des Reichs, sofern sie dort im nationalsozialistischen Sinne um den Fortbestand der Rasse kämpften“. Brackmann, KarlHeinz; Birkenhauer, Renate: NS-Deutsch. ‚Selbstverständliche‘ Begriffe und Schlagwörter aus der Zeit des Nationalsozialismus. Straelen/Niederrhein: Straelener Manuskripte Verlag 1988, S. 89.

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landsdeutschtums‘ gegründet.18 Einschlägig für die wissenschaftliche Popularisierung des Grenzland-Begriffs ist in diesem Kontext die Monographie des aus dem Baltikum kommenden Publizisten Max Hildebert Boehm „Die deutschen Grenzlande“ (1925). Im Vorwort wirbt Boehm für ein „Bewußtsein völkischer Gemeinschaft über die Staatsgrenzen hinaus“19, deren Grundlage nicht der Pass, sondern das Herz sei. Er lehnt ein sprach- oder rassebasiertes Nationalitätsverständnis ab und definiert „Grenzland“ als die Region zwischen historischen Territorialgrenzen, in der ethnisch-nationale Konflikte bestehen oder einmal bestanden haben. „Grenzland“ seien alle Gebiete, die einmal zu einem politischkulturellen Territorium gehört haben und dadurch diesem potenziell zugehörten: „Was zwischen den Linien, zwischen alten und neuen, frühesten und spätesten Grenzen liegt, das ist Grenzland. Und Grenzland will immer neu erstritten sein. […] Grenzvolk ist Rasse für sich, Rasse, die ihrer selbst immer wieder unsicher werden kann und die sich nur dann behauptet, wenn ein großer völkischer Rhythmus sie ergreift, in Wachstum und Bewegung hält und in heldischem Schicksal mitreißt. Wie wenig weiß die materialistisch-naturwissenschaftliche Form des Rassegedankens unserer Tage von diesen Dingen […].“20

Im Kapitel über den – räumlich weit ausgreifenden – Nordosten Deutschlands wird auf die historische Offenheit der Grenzziehung und ein uraltes Völkergemisch verwiesen und darüber reflektiert, „wieweit die Ausprägung preußischer Sonderart der Erfüllung der nordostdeutschen Grenzaufgaben günstig war“21. Die entgegengesetzten Regionen des Deutschen Reichs werden durch die konventionelle Topik westliche Starrheit/Begrenzung vs. östliche Bewegung/Entgrenzung schematisiert: „Westen ist Reife, Osten ist nicht Jugend, aber Verjüngungskraft. / Der deutsche Westen ist das Land der starrgewordenen, der Osten das

18 Eisler, Cornelia: Das ‚Grenz- und Auslandsdeutschtum‘ im östlichen Europa als Forschungsfeld. Aspekte zur wissenschaftlichen Konzeption eines modernen Minderheitenverständnisses in der Weimarer Republik. In: Kulturvergleichende Perspektiven auf das östliche Europa. Fragestellungen, Forschungsansätze und Methoden. Hrsg. von Daniel Drasˇcˇek. Münster: Waxmann 2017, S. 89–112, hier S. 92 (Regensburger Schriften zur Volkskunde/Vergleichenden Kulturwissenschaft, Bd. 29). 19 Boehm, Max Hildebert: Die deutschen Grenzlande. 2. vermehrte Auflage. Berlin: Hobbing 1930, S. 14 (Erstauflage 1925). Vgl. auch die zwischen 1925 und 1938 erscheinende österreichische Zeitschrift „Grenzland. Zeitschrift für deutsche Schutz- und Kulturarbeit“, die vor allem auf die ehemaligen habsburgischen Gebiete in Südosteuropa ausgerichtet war. Grundlegende Überblicke zum gesamten Grenzland-Diskurs und zu dessen institutioneller Verankerung bietet: Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme. Hrsg. von Michael Fahlbusch, Ingo Haar und Alexander Pinwinkler. 2. grundlegend erweiterte und überarbeitete Auflage. Berlin, Boston: de Gruyter 2017. 20 Boehm, Grenzlande. 1930, S. 17. 21 Ebd., S. 220.

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Gebiet der wandelbaren und verfließenden Grenzen. Der Westen ist der Bereich der frühen, der Osten der Boden später völkischer Mischungen.“22 Obgleich in Ostpreußen der Nationalitätenkampf traditionell weniger als in anderen Teilen Preußens verwurzelt war, fand in der zur Exklave gewordenen östlichsten Provinz des Reiches das Grenzland-Ideologem große Zustimmung.23 Die aus Berliner Sicht seit alters abgeschiedene, rückständige und kulturellethnisch irritierend inhomogene Provinz Ostpreußen hatte während des Kaiserreiches einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, begleitet von einer forcierten Germanisierungspolitik.24 Als einzige Region Deutschlands war Ostpreußen während des Ersten Weltkrieges in schwere Kampfhandlungen verwickelt worden. Dadurch, dass die Siegermächte Polen einen Zugang zur Ostsee ermöglichten, war der für die wirtschaftliche Existenz Ostpreußens elementare Export von Agrargütern nach Deutschland erschwert; dies galt – aufgrund der neuen baltischen Nationalstaaten – auch für den wichtigen Handel mit Russland. Noch vor Abschluss der Pariser Friedenskonferenz 1919 hatten Militärs und konservative Kreise in Königsberg erwogen, dem drohenden deutschen Gebietsverlust an Polen zuvorzukommen, sich von der ungeliebten neuen Demokratie zu lösen und einen souveränen „Oststaat“ zu bilden, der entweder als ein Staatenbündnis der baltischen Staaten, des deutschen Ostens und der Ukraine (August Winnig) oder als Pufferstaat, bestehend aus Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien (Georg Cleinow), entworfen wurde.25 Da diese Pläne nicht verwirklicht wurden, geriet Ostpreußen mit seiner Abtrennung vom Reich in den Brennpunkt nationaler Propaganda: „Ostpreußen gleicht einem Felsen im brandenden Meer und ist als Grenzland fast von allen Seiten von polnischer Begehrlichkeit, Beutegier und Raublust umlauert“26, heißt es 1921 in der Satzung des Bundes heimattreuer Ost- und Westpreußen e.V. Auch der zwischen 1920 und 1932 (mit nur wenigen Monaten Unterbrechung) den Freistaat Preußen regierende sozialdemokratische Ministerpräsident Otto Braun teilte die verbreitete Befürchtung, dass durch den sogenannten ‚Polnischen Korridor‘ die Kriegsgegner die strukturschwache Exklave Ostpreußen „verkümmern“ lassen und „im geeigneten Moment zur Beute der östlichen Nachbarn“27 machen

22 Ebd., S. 204. 23 Kossert, Ostpreußen. 2007, S. 232–273; Wippermann, Wolfgang: Der Ordensstaat als Ideologie. Das Bild des Deutschen Ordens in der deutschen Geschichtsschreibung und Publizistik. Mit einem Geleitwort von Klaus Zernack. Berlin: Colloquium-Verlag 1979. 24 Kossert, Ostpreußen. 2007, S. 177f. 25 Schulze, Hagen: Der Oststaat-Plan 1919. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 18, 1970, H. 2, S. 123–163, hier S. 163. 26 Zitiert nach Kossert, Ostpreußen. 2007, S. 242. 27 Ministerbesprechung beim Reichspräsidenten, 21. 12. 1927. In: Akten der Reichskanzlei, Marx IV, Nr. 383, S. 1187, zitiert nach: Pufendorf, Astrid von: Otto Klepper (1888–1957).

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wollten. Die geopolitische Situation führte in den 1920er Jahren in Ostpreußen zu einer ausgeprägt monarchistisch-deutschnationalen Stimmung, auch in Bobrowskis Elternhaus.28 Um 1930 gewann die NSDAP sprunghaft und stärker als im Reichsdurchschnitt an Zuspruch. Einen Einblick in die geosemantische Topik für Ostpreußen während der Zwischenkriegszeit, allen voran in die verschiedene funktionale und emotionale Perspektiven bedienende Metaphorik der Insel, des Bollwerks oder der Brücke29, erlaubt der Artikel „Die Insel Ostpreußen“ des Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen Ernst Siehr, veröffentlicht in dem vom deutschen Innenministerium herausgegebenen „Jahrbuch für das deutsche Volk“ von 1927. Siehr war Mitglied der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei. Sein Artikel wirbt, da das „Schlagwort von der ‚Insel Ostpreußen‘ leider nur zu richtig“30 sei, im gesamten Deutschen Reich um Verständnis für und Solidarität mit Ostpreußen. In territorialer Hinsicht spricht er von der Inselsituation, in kulturell-ethnischer Hinsicht von einer Vorposten- und in ökonomischer Hinsicht von einer Brückenfunktion Ostpreußens. So habe die östlichste Provinz des Reiches die „wichtige Aufgabe zu erfüllen, eine Wirtschaftsbrücke zwischen dem großen russischen Rohstoffgebiet und dem deutschen industriellen Westen zu bilden“31. Noch immer habe jedoch die „Abschnürung Ostpreußens von seinem russischen Hinterlande durch die Balkanisierung des Ostens“, d. h. durch die neuen Nationalstaaten Litauen, Lettland und Estland, den „russischen Transithandel Königbergs“ weithin zum Erliegen gebracht. Der ethnisch-kulturelle Charakter des traditionellen Einwanderungslandes, in dem neben deutsch-, polnisch- und litauischstämmiger Bevölkerung auch Gruppen russischer, französischer, niederländischer, jüdischer, tschechischer und schottischer Herkunft lebten, wird

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Deutscher Patriot und Weltbürger. München: Oldenbourg 1997, S. 41. (Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 54). Kossert, Ostpreußen. 2007, S. 211f.; Krumhaar-Bobrowski, Ursula: Interview. In: Neun autobiographische Gespräche. Hrsg. von Otto Fritz Hayner und Michael Peschke. Berlin: Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, S. 5–24, hier S. 7. Bobrowskis Vater, der während des Ersten Weltkrieges aus Glaubensgründen Pazifist gewesen war, trat aus Rücksicht auf seine Beamtenlaufbahn bei der Reichsbahn später der NSDAP bei. Ebd., S. 7. Er empfahl seinen Kindern, so Johannes Bobrowskis Schwester Ursula im Rückblick, 1935 bei der Vereidigung der Hitlerjugend den Schwur nicht mitzusprechen. Seit ca. 1934 hält sich die Familie zur Kirchlichen Arbeitsgemeinschaft Ostpreußens, aus der die Bekennende Kirche hervorging. Haufe, Chronik. 1994, S. 12f. Zu diesen und weiteren Metaphern vgl. Wippermann, Ordensstaat. 1979; Kossert, Ostpreußen. 2007; Traba, Robert: Ostpreußen – die Konstruktion einer deutschen Provinz. Eine Studie zur regionalen und nationalen Identität 1914–1933. Osnabrück: Fibre 2010, S. 213–231. Siehr, Ernst: Die Insel Ostpreußen. In: Deutschland. Jahrbuch für das deutsche Volk, 1927. Hrsg. von Dr. Külz. Leipzig: Helingsche Verlagsbuchhandlung 1927, S. 42–52, hier S. 44. Ebd., S. 48.

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bei Siehr zu einer „Vermischung“32 der eingewanderten „deutschen Stämme“ homogenisiert. Diese habe Menschen mit einem starken Charakter herausgebildet, der sich gegen die harten klimatischen und nationalen Bedingungen zu behaupten vermochte: „Dafür ist aber der Volksstamm, der hier aus der Vermischung fast aller deutschen Stämme erwuchs und der sein Land in schweren Kämpfen mit feindlichen Nachbarn behaupten, seinem Boden im Kampfe mit dem rauhen Klima mühsam den Ertrag abringen mußte, zäh und widerstandsfähig, stolz und treu, von heißer Liebe zu seiner freien Scholle beseelt.“33 Die besondere „Jugendfrische, Kraft und Urwüchsigkeit“ des „ostpreußische[n] Volkstum[s]“ versorge durch „Kinderreichtum in Verbindung mit dem ostpreußischen Wandertrieb nach dem Westen unsere deutschen Großstädte und den industriellen Westen immer wieder mit neuem gesundem Blute“.34 „Wenn Ostpreußen seine Kultur dem deutschen Westen verdankt, so ist es dem Mutterlande den Dank dafür nicht schuldig geblieben.“35 Siehr warnt vor den Folgen, würde diesem „äußersten Vorposten deutscher Kultur“36 Unverständnis oder Gleichgültigkeit entgegengebracht werden. Im Juni 1929 spricht Thomas Mann, der eben ein Ferienhaus auf der ihm bis dahin kaum bekannten Kurischen Nehrung erworben hatte, diese zunehmende Gleichgültigkeit des übrigen Deutschland gegenüber seiner entlegensten und rückständigsten Provinz direkt an. Sein Brief wurde mit dem Titel „Was mich nach Ostpreußen zieht“ in der „Allgemeinen Königsberger Zeitung“ abgedruckt: „Unter abendlicher geborenen Deutschen ist die Kenntnis Ihrer Provinz aus eigener Anschauung recht selten, wie mir scheint. […] Es besteht eine Neigung zu seelischer Fahrlässigkeit, zum Sichabwenden, zum kulturellen Fallenlassen. Ein abgeschnürtes Gebiet, in das die geistigen Säfte Deutschlands nur spärlich dringen, ein leider wohl langsam verödendes deutsches Land. Ein deutsches, versteht sich – politisch ist man auf seiner Hut. Seelisch jedoch, gefühlsmässig, hegt etwas in der Luft wie Unglaube, Gleichgültigkeit, Verzicht. Das ist nicht gut, das ist falsch. Man soll sich um Ostpreussen kümmern – nicht nur politisch und allenfalls wirtschaftlich, sondern mit den Sinnen, dem Herzen.“37

Im Vorwort seiner 1935 publizierten Aufsatzsammlung „Ostraum, Preussentum und Reichsgedanke“ beschrieb der an der Königsberger „Grenzland-Universi32 33 34 35 36 37

Ebd., S. 42. Ebd. Ebd. Ebd., S. 50. Ebd., S. 52. Thomas Mann: Was mich nach Ostpreußen zieht. In: Allgemeine Königsberger Zeitung, Sonderbeilage vom 16. 6. 1929, zitiert nach: Thomas Mann in Nidden. Litauisch/Deutsch. Bearb. von Thomas Sprecher. Litauisch von Antanas Gailius. 2., durchges. Aufl. Marbach/ Neckar: Deutsche Schillergesellschaft, Schiller-Nationalmuseum und Deutsches Literaturarchiv 2001, S. 39. (Marbacher Magazin; Bd. 89) (Hervorhebungen im Original).

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tät“38 lehrende Historiker Hans Rothfels, später Gründungsvater der modernen Zeitgeschichtsforschung in der BRD, die „Gegenwartslage des Ostens“39. Weniger eine wirtschaftliche als eine kulturell-völkische Brückenfunktion wird „Altpreußen“ zugewiesen, das „wieder bedrohtes Grenzland und zugleich Brücke über die Grenzen hin geworden ist: eben deshalb an einer Neuordnung der Beziehungen von Staat und Volk, draußen und drinnen, auf innerste beteiligt“40 sei. Rothfels betont die Kontinuität deutscher Siedlungstätigkeit jenseits der aktuellen Staatsgrenzen: „Der Osten ist die Summe aller deutschen Stämme, nur wenn ganz Deutschland an ihm teil nimmt, kann er in der steigenden Flut sich halten, nur hier ist zugleich – statt einer starren Grenze – Bewegung und wirkliche Front.“41 Aus der Verbindung von unfester Grenze, drohender ethnischer ‚Überflutung‘ und einer daraus abgeleiteten frontier-Situation wird – die Kolonisationsargumentation der Ober-Ost-Militärverwaltung im Ersten Weltkrieg fortsetzend – die Notwendigkeit einer „organisatorische[n] Neuordnung“42, im Anschluss an die Flut-Metaphorik auch „Eindeichung“ genannt, der Gebiete jenseits der deutschen Grenze abgeleitet. Dadurch soll Deutschland, legitimiert durch seine bisherige Führungsrolle im „Osten“, diesen „östlichen Raum“ vor dem aus sich selbst wie aus dem „weiteren Osten“ drohenden „Chaos“ schützen: „[…] nur eine organisatorische Neuordnung nach der Reife der Völker und nach dem Grad der Leistung kann den östlichen Raum vor dem drohenden Chaos bewahren, das in ihm selbst lauert und das aus dem weiteren Osten droht. Die Pflicht der verantwortlichen Arbeit für eine solche Befriedung und Eindeichung wird nicht allein, aber vor allem auf den Schultern desjenigen Volkes liegen müssen, das am innigsten und umfassendsten seit Jahrhunderten in den gesamten Lebensprozeß des Ostens verflochten ist.“43

War der Mythos des Ritterordens für die Sonderidentität Ostpreußens schon in den Zwanziger Jahre vielfach beschworen worden, wurde nach 1933 die populäre Analogie von Kreuzzug und Revision der deutsch-polnischen Grenze erheblich aggressiver. In der in Königsberg erscheinenden „Ostpreußischen Zeitung“, ein der Deutschnationalen Volkspartei (die viele Wähler an die NSDAP verloren hatte) nahestehendes Blatt, heißt es am 9. Juli 1933 unter dem Titel „Das Gesetz 38 Vgl. Tilitzki, Christian: Von der Grenzland-Universität zum Zentrum der nationalsozialistischen „Neuordnung des Ostraums”? Aspekte der Königsberger Universität im Dritten Reich. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 46, 2001, S. 233–269. 39 Rothfels, Hans: Ostraum, Preussentum, und Reichsgedanke. Historische Abhandlungen, Vorträge und Reden. Leipzig: Hinrichs 1935, S. IX. (Königsberger historische Forschungen; Bd. 7). Der Nationalkonservative jüdischer Herkunft Rothfels teilte die politischen Ansichten der Vertreter der Konservativen Revolution. Vgl. Winkler, Rothfels. 2001, S. 648f. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 14. 42 Ebd., S. 194. 43 Ebd.

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der Revolution. Dienst am Volk durch schöpferische Kraft. Der neue Deutschritter-Kreuzzug“ über die wiedererlangte Mission Ostpreußens als „Jungbrunnen deutscher Volkskraft“44: „Unsere Provinz, die abgetrennte Insel in der brodelnden Slawenflut, an die jahraus jahrein die Wellen spülen, um weiteres Land abzureißen, soll jetzt geistig und materiell eingedeicht – sie soll ein neues Bollwerk werden, Kraftzentrum eines neuen deutschen Lebensstroms. […] Ostpreußen ist heute wieder ein heiliges Land. […] Ostpreußen war von jeher Land der Entscheidung – historischer Boden, auf dem Weltgeschichte des Schwerts und des Geistes gemacht wurde. […] Dieses Ostpreußen, in dem sich die besten und wertvollsten Kräfte aller deutscher Stämme zu einem neuen Ganzen verschmolzen, soll jetzt abermals – ‚Ordensland‘ werden. […] Jetzt wird Ostpreußen aufs neue zu einem Fundament deutscher Volksmacht im Osten werden.“45

Was dies konkret bedeutete, lassen die 1941 mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion entstehenden Pläne zur Aufteilung des ostmittel- und osteuropäischen Raumes in die vier Reichskommissariate „Ostland“ (bestehend aus Estland, Lettland, Litauen und Weißruthenien), Russland, Ukraine und „Kaukasien“ erkennen.46

II. Bobrowskis Einheit wurde im April 1941 aus Frankreich nach Ostpreußen verlegt.47 Am 22. Juni überschritt sie in der Nähe von Eydtkuhnen/Eydtkau (Ostpreußen) die Grenze zu Litauen, das 1940 von der (mit Deutschland verbündeten) Sowjetunion annektiert worden war.48 Dieser Ort liegt ca. 70 Kilometer südöstlich jener Dörfer am rechten, zwischen 1919 und 1939 (und wieder seit 1945) zu Litauen (bzw. der Litauischen Sowjetrepublik) gehörenden Memelufer, in denen Bobrowski alljährlich seine Sommerferien bei Verwandten verbrachte und seine spätere Ehefrau kennen gelernt hatte. Bei diesen Verwandtenbesuchen hatte er die (zwischen 1919 und 1939 entlang der Memel verlaufende) ostpreußische bzw. deutsche Ostgrenze passieren müssen. Von den Memeldörfern aus war Bobrowski um 1930 zweimal in die damalige litauische Hauptstadt Kaunas 44 Das Gesetz der Revolution. Dienst am Volk durch schöpferische Kraft. Der neue Deutschritter-Kreuzzug. In: Ostpreußische Zeitung, 9. Juli 1933; zitiert nach Kossert, Ostpreußen. 2007, S. 274. 45 Ebd. 46 Elvert, Jürgen: Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918–1945). Stuttgart: Franz Steiner 1999, S. 359. (Historische Mitteilungen/Beiheft; 35). 47 Haufe, Chronik. 1994, S. 19. 48 Bobrowski, der als Gefreiter bzw. Obergefreiter einer Nachrichteneinheit relativ gut informiert war, deutet vorsichtig in einem Brief an die Mutter vom 19. 6. 1941 an, dass er einen deutschen Überfall auf die Sowjetunion befürchtet. Bobrowski, Briefe, Bd. 1. 2017, S. 29.

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gereist, wo ein Onkel lebte.49 Nun als deutscher Soldat wurde er in Kaunas am 28. Juni 1941 Augenzeuge pogromartiger Massaker an der jüdischen Bevölkerung.50 In den nur teilweise erhaltenen Briefen Bobrowskis aus dem Krieg finden sich zu diesen oder anderen, zumindest an Spuren erkennbaren Gräueltaten keine konkreten Hinweise, was für die unter Zensur stehende Feldpost kaum anders zu erwarten ist. Wenige, sich vor allem auf zerstörte Kirchen beziehende Andeutungen von Gewalt und Unrecht gibt es in den in Russland sowie in den in den fünfziger Jahren in Berlin entstehenden Gedichten.51 Die Themen, Motive und die Tonlage der Gedichte und der Briefe, die Bobrowski ab Sommer 1941 in Nordwestrussland und später, auf dem Rückzug in Kurland, schreibt, unterscheiden sich deutlich von den Nachrichten aus dem besetzten Polen und Frankreich. Der erste überlieferte Brief nach dem Einmarsch in die Sowjetunion, geschrieben am 3. September 1941 an die Eltern und die Schwester, geht auf den durch Sümpfe und die „hinterhältige[] Kriegsführung der Sowjets“52 unerwartet „mühsamen Kleinkrieg“ ein, der „weit größere Verluste fordert“; Bobrowski erwartet deshalb den deutschen Sieg erst im kommenden Sommer: „Es ist also kaum ein Krieg, jedenfalls keiner, wie wir ihn gewohnt sind.“ Er leide unter der „erbärmlichen Kälte“53 und unter „nicht recht wohnfähigen Hütten (nach europäischen Begriffen sind es kaum noch Hausüberreste)“. Er erwähnt die „Reste Nowgorods“, das „einmal eine bedeutende Stadt war. Der lärmende Tag, den wir dort verbrachten, belehrte uns darüber.“ In einem neun Tage später folgenden Brief zum 21. Geburtstag der Schwester spricht er an, „wie wichtig die Verbindung mit der Heimat“54 und das Wissen, „in den Blutstrom der Heimat eingeschaltet“55 zu sein, für ihn sei. Erstmals deutet er hier einen inneren Konflikt zwischen individuellen Bedürfnissen und dem Bewusstsein nationaler Größe an, den er im Sinne der heroischen Pflicht regulieren zu können meint: „wir lernen es schon, das Persönliche hintanzusetzen, weil wir unverrückbar an das geschichtlich Bedeutsame und an das Unvergeßliche unseres Einsatzes 49 Haufe, Chronik. 1994, S. 9. 50 Haufe, Chronik. 1994, S. 19; vgl. auch Bobrowskis Gedicht „Kaunas 1941“ von 1957/58. 51 Nach den Briefen und Gedichten aus dieser Zeit hatte Bobrowski die schockierendsten Erlebnisse offenbar in den ersten Wochen des Angriffs auf die Sowjetunion; ansonsten befand er sich, bis auf wenige Ausnahmen, weit hinter den Kampflinien. Vgl. Brief vom 5. 9. 1943 in Bobrowski, Briefe, Bd. 1. 2017, S. 66; allerdings hielt er sich wiederholt im völlig zerstörten Nowgorod auf. 52 Bobrowski, Briefe, Bd. 1. 2017, S. 31–32, hier S. 32. Aus der Zeit zwischen Juni und September 1941 sind keine Briefe erhalten. 53 Ebd., S. 31. 54 Brief vom 12. 9. 1941. Bobrowski, Briefe, Bd. 1. 2017, S. 35–36, hier S. 36. 55 Ebd. Bobrowski meint, in Absetzung von den besetzten Gebieten bzw. der Front, in dieser Zeit mit Heimat nicht speziell Ostpreußen, sondern das Deutsche Reich insgesamt; in einem Brief an die Front vom 8. 1. 1942 wird Berlin als „Heimat“ bezeichnet. Bobrowski, Briefe, Bd. 1. 2017, S. 37.

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glauben.“56 Im Verlauf des Briefes weicht, mit dem Wechsel von der Wir- zur IchForm, die innere Sicherheit dem Eingeständnis, von nicht näher bezeichneten Kriegserlebnissen, die in die Ausflucht erhabener „Unnennbarkeit“ gestellt werden, emotional schwer getroffen und überfordert zu sein: „Sehr gering freilich muß es erscheinen, was ich mit meinen dürren Worten Dir von hier aus zu sagen vermag, – weil zuweilen auch manche Härte des Gefühls und manche Unverläßlichkeit mich bezwungen haben mag vor der Unnennbarkeit der Kriegstage und mich wohl auch wieder einmal überwältigen wird. […] Es ist wohl des Bittern so groß geworden, daß das unbeschwerte Lachen vergangen ist, nicht daß ich darum trübsinnig wurde, aber es ist wohl noch in die Heiterkeit der Schmerz eingegangen wie ein Mal.“57

Die Passage lässt sich, trotz des weithin gelassenen Grundtons, als Beschreibung traumatisierender Erlebnisse auffassen. Diese den ethischen Maßstäben widersprechenden Erfahrungen fremden und eigenen Verhaltens und deren emotionale Spiegelung (Härte, Unnennbarkeit, Bitteres, Schmerz) dürfen jedoch nicht gleichgesetzt werden mit der Entgrenzung des Blicks in der weiten, kargen Landschaft, von der die in Russland entstehenden Gedichte vorzugsweise sprechen.58 Diese Landschaftserfahrung, die sich offensichtlich deutlich von der bisherigen Landschaftserfahrung in Ostpreußen unterscheidet, wird von Bobrowski im Modus des Erhabenen dargestellt; als ein bewegendes und gemischtes Gefühl, das das Erlebte und den empfundenen Schmerz durch eine feierliche Gestimmtheit ästhetisch zu kompensieren vermag. 1943 beschreibt Bobrowski dieses Landschaftserleben, das der Entgrenzungs- und Überwältigungs-Topik osteuropäischer Landschaft folgt, in einem Brief an die Autorin Ina Seidel59: „Das Erste, was wir her lernten, ist das Sehen. Die Landschaft, immer wieder abgesucht, kam uns mit nichts entgegen. Die Endlosigkeit der Ebene, die auch ein Fluß und der (zudem meist niedrige) Wald nicht unterbrechen konnten, wollte uns immer mit einem Gefühl der Verlorenheit betrügen, und so befand sich der Blick immer wieder bei der

56 Ebd., hier S. 35. 57 Ebd., hier S. 36. 58 Bobrowski erwähnt zuerst im Brief vom 3. 9. 1941 einen solchen durchaus „lohnenden“ Blick vom erkletterten Kirchturm einer zerstörten Dorfkirche am Ufer des Ilmensees. Bobrowski, Briefe, Bd. 1. 2017, S. 31. 59 Im September 1942 wandte sich der 25jährige Bobrowski aus Russland über die Deutsche Verlags-Anstalt an die 57jährige, im NS-Staat wie in der Nachkriegsbundesrepublik vielfach geehrte nationalkonservative Autorin, die in einem Verhältnis wechselseitiger Wertschätzung zu Adolf Hitler stand. Sie vermittelte 1944 die Publikation einiger im Krieg entstandener Russland-Gedichte Bobrowskis in der Zeitschrift „Das Inneres Reich“. Die zahlreichen, sehr persönlich gehaltenen Briefe Bobrowskis an Seidel bis 1945 bzw. Ende 1950 betreffen vor allem literarische Fragen und das Erlebnis russischer Landschaft.

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Fahrt der Wolken, den Farben des Abends und bei den Sternen. Aber da hielten die Worte nicht mit.“60

Frühstes literarisches Zeugnis seiner ungleichen Doppelerfahrung der moralischen und der perzeptiv-ästhetischen Grenzüberschreitungen an der Ostfront ist der in der zweiten Jahreshälfte 1941 entstandene sechsteilige Oden-Zyklus „Östliche Landschaft. 1941“. Diesem war ursprünglich nicht nur der Titel „Erde und Wind“ vorangestellt und eine Widmung an den Vater zum Weihnachtsfest 1941 beigefügt, sondern auch die präzisere, deutlich auf den deutschen Einmarsch in die Sowjetunion verweisende Zeitangabe „Juli 1941“.61 Erstmals verwendet Bobrowski in seiner Dichtung hier das Attribut Osten bzw. östlich. Er markiert damit, durchaus dem geosemantischen Diskurs der Zeit folgend, die Erfahrung Nordwestrusslands in Absetzung von allem bislang Erlebten, einschließlich des vertrauten Ostpreußens. Dies wird von ihm poetologisch bis hin zum Gattungswechsel zur Ode reflektiert. Wenn Bobrowski 1965 auf den Beginn seiner „Schreiberei […] im Kriege“62 und auf die Versuche, „die russische Landschaft […] wirklich in den Griff zu bekommen, außerhalb der einfachen Beschreibung“, zurückblickt und dabei von seiner Vertrautheit mit dieser Landschaft, „weil ich dort oben aufgewachsen bin“, spricht, trifft dies vielleicht für die topographische Gestalt als solche, aber nicht für ihre subjektive Wahrnehmung und die von den Erlebnisumständen geprägte Semantisierung der Landschaft zu.63 In den Briefen und Gedichten aus den 40er Jahren steht die Landschaft der „Heimat“ der russischen bzw. „östlichen“ kontrastiv gegenüber. Der Zyklus „Östliche Landschaft. 1941“ beginnt mit einer Als-Ob-Alterungserfahrung des Wir-Sprechers („wie alte Männer“), der klassische Motive und Emotionswerte des Erhabenen (Sonnenuntergang, Ferne, Blick in die Weite, „Schauer der Sinne“, Zerstörungs- und göttliche Rettungserfahrung) zugeordnet sind: „Da übertrifft die Weite den Blick, da ist / Verzauberung und Schauer der Sinne los. / Das brennt dich nieder.“64 Aus dieser emotionalen Erschütterung „hilft oftmals“ „uns“ nur 60 Brief vom 30. 3. 1943. Bobrowski, Briefe, Bd. 1. 2017, S. 57. 61 Diese Angaben haben sich in einer früheren Fassung des Zyklus erhalten, die sich in einigen Formulierungen und der noch fehlenden fünften Ode von der in den „Gesammelten Werken“ abgedruckten sechsteiligen Fassung unterscheidet. Bobrowski, Johannes: Erläuterungen der Gedichte und der Gedichte aus dem Nachlaß. Stuttgart: Deutsche VerlagsAnstalt 1998, S. 279; vgl. Bobrowski, Werke, Bd. 2. 1987, S. 18–21. Dieser Oden-Zyklus ist nicht mit dem später aufgelösten Zyklus „Östliche Landschaft 1943“ zu verwechseln. 62 Johannes Bobrowski: Meinen Landsleuten erzählen, was sie nicht wissen. Ein Interview von Irma Reblitz. In: Bobrowski, Werke, Bd. 4. 1987, S. 478–488, hier S. 480. 63 „Diese [russische – A.D.] Landschaft, die mir vertraut war, weil ich dort oben aufgewachsen bin, die mir aber damals – vor allem unter den Umständen, in denen ich damals wieder reingeführt wurde in den russischen Osten – doch neu und bestürzend vorkam, die wollte ich darstellen.“ Ebd. 64 Bobrowski, Werke, Bd. 2. 1987, S. 18.

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der „Gott der Welt“. Die dritte Ode des Zyklus’ wendet sich den Bewohnern dieser Landschaft im romantischen Bild eines am Brunnen singenden Mädchens zu: von „Tränen“, „dem unermess’nen Leben“, „Überstehen“ und „der Seele Länder“, die „ein Anderes“ sind als der trostlose Dorfalltag, ist die Rede. Die vierte Ode thematisiert Zerstörung, Grausamkeit und das eigene, den moralischen Maßstäben widersprechende angepasste Verhalten: „Die Spur des Krieges aber ist eingebrannt / den Herzen“65. Das – durch die Du-Anrede vom Sprecher des Gedichtes abgespaltene – schweigende Beobachten von Gewalt und Unrecht wird mit dem Vorwurf eigenen Versagens und eigener Schuld konfrontiert: „Da stehn entsetzt die Menschen und schrei’n empor. Du sahst sie, und erregte dir nicht tief durch ihre dürren Worte plötzlich mächtig das Leiden der Welt die Stimme!“

Das Beobachter-Du sprach jedoch nur „lautlos“ „Gebete“ und „Fluch“; die eigene Empörung und der Haß gegen das nicht näher bezeichnete „Zerstörte und Verlorne“66 blieben verborgen: „doch keine Regung erwies dein Antlitz“67. Das letzte Gedicht des Zyklus verbindet im Motiv der Abend- und Mondnachtlandschaft den Eindruck von dem beobachteten „Geschehn“ mit dem Rot des Abendhimmels und der „mächt’ge[n] Klag / der weiten Eb’nen“. Dieser Oden-Zyklus ist das frühste und zugleich die Kriegsgräuel am deutlichsten benennende literarische Zeugnis der direkten ‚Begegnung‘ Bobrowskis mit dem später als Sarmatien bezeichneten Osteuropa; erlebt im Modus des Eroberungs- und Vernichtungskrieges. Doch auch ohne direkten Bezug zum Krieg nimmt der Sprecher die Lebenswirklichkeit der Menschen, anders als die erhabene Landschaft, emotional distanziert wahr: „Das sind die Dörfer. // Doch sind der Seele Länder ein Anderes / als wüste Gärten, Dächer von faulem Stroh.“68 Das spätere Sarmatien erscheint dem deutschen Ge-

65 Ebd., S. 19. 66 Ebd. Jürgen Joachimsthaler bemerkt zu diesem Gedicht, dass hier im Gegensatz zwischen gewolltem und unterdrücktem Protest der Sprecher die eigene Handlungsunfähigkeit als Teil der historischen Schuld erkennt, die abzutragen Hauptmotiv der späteren Dichtung Bobrowskis wird. Joachimsthaler, Jürgen: Abschied von der „Innerlichkeit“. Zu Johannes Bobrowskis Lyrik während des Krieges. In: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen 1995, S. 49–64, hier S. 59. 67 Bobrowski, Werke, Bd. 2. 1987, S. 20. Bobrowski reflektiert hier die in der späteren Dichtung wiederholt als problematisch angesehene Frage des Sichanpassens; vgl. dazu eine Briefäußerung vom 18. 12. 1942 kurz nach der Rückkehr zu seiner Einheit gegenüber einem Kriegskameraden: „Die gleichen Gespräche […], die gleichen Schnauzen und all das, was ich in der ersten Minute, die ich aus dem Haufen herausbin, verloren habe und worin ich gleichwohl, kaum daß ich zurückgekehrt, wieder gehüllt werde wie in einen alten enggewordenen Mantel. Es wäre wohl Vielen zu befremdlich, mich ohne den zu sehen.“ Bobrowski, Werke, Bd. 1. 1987, S. 50. 68 Bobrowski, Werke, Bd. 2. 1987, S. 19.

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freiten als unkultiviert, abstoßend und als Inspirationsraum allenfalls einer gegenwirklichen Sehnsucht nach „Andere[m]“.69 Das Traumatische seiner Kriegserfahrungen in Russland, das Bobrowski 22 Jahre später als „so etwas wie eine Kriegsverletzung“70 bezeichnete, erscheint in den Gedichten der 40er Jahre nur angedeutet, als „Mal“ oder „Pfand“; so in „An sich selber“ von 1941/42, das mit dem, für das spätere Werk grundlegenden, Topos der fortgesetzten Wanderschaft die in „soviel Länder“ führenden Kriegsjahre emotional resümiert: „und das Herz trägt hundert Pfänder / mit von dem, das anders war.“71 Nach drei Kriegsjahren in Russland lässt sich eine Perspektivverschiebung im Verhältnis Bobrowskis zu Ostpreußen einerseits und zur Kriegserfahrung in Russland andererseits beobachten. In dem für Bobrowskis Selbstverständnis gegen Ende des Krieges wichtigen Oden-Zyklus „Wiederkehr (Lettland 1944)“72, geschrieben während des Rückzugs und der Einkesselung durch die Rote Armee in Kurland, wird ein anhaltendes emotionales Affiziertsein von den Kriegsjahren in Russland konstatiert. Der Krieg verstellt, hier noch in bloß emotionaler, nicht faktisch-geopolitischer Hinsicht, die lang ersehnte Rückkehr. Der Gang „nach Westen“, in die „Heimat“, wird durch das im Zurückwenden „bei uns“ seiende „weite Bild / Der Fremde“ abgelenkt: „Noch ist, wenn wir uns wenden, das weite Bild Der Fremde bei uns; Freunde, wer wendet nicht den Blick noch oftmals, wenn nach Jahren einer zurückgeht, nach Westen, wo ihm die Heimat bald begegnen muß. Denk, wie dort die Wälder anders, die Seen heller sind […].“73

Die mit „dort“ aus östlicher Perspektive distanziert bezeichnete „Heimat“ im „Westen“ ist durch charakteristische Landschaftstopoi als Ostpreußen ausge69 In dieser Lesart der dritten Ode des Zyklus „Östliche Landschaft. 1941“ ist die zitierte Passage als Selbstaussage dem Sprecher des Gedichtes zugeordnet. Möglich wäre es auch, diese von einer zweimaligen Erwähnung eines Liedes, das vom Brunnen herübertönt, umrahmte Passage als Charakterisierung des sehnsuchtsvollen Ausdrucks dieses Liedes aufzufassen, d. h. neben dem von der Wirkung des Liedes affizierten Sprecher auch dem singenden Mädchen zuzuordnen. 70 Bobrowski, Werke, Bd. 4. 1987, S. 471. 71 Abgedruckt in Haufe, Erläuterungen. 1998, S. 259; in der Fassung von 1943 steht statt „anders“ „fremd doch“. 72 Als Ergänzung zu den „Gesammelten Werken“ abgedruckt in Haufe, Erläuterungen. 1998, S. 259–261. Es würde sich lohnen, dieses Gedicht mit dem gleichnamigen Gedicht von 1963 zu vergleichen, das nicht am Kriegsende von Kurland aus, sondern fast zwanzig Jahre später von Berlin aus die Möglichkeit einer „Wiederkehr“ an den am stärksten als Heimat semantisierten Ort Bobrowskis, das Dorf Motzischken in der Nähe der Memel, thematisiert. 73 Haufe, Erläuterungen. 1998, S. 259–261, hier S. 259f.

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wiesen. Die fast zögerlich erwartete Wiederbegegnung des durch die Kriegserfahrung „Gewandelte[n]“74 mit der „Heimat“ ist mit Unsicherheit verbunden: „Wie aber wird es sein?“. Das einst Vertraute ist – wie es mit dreimaliger Wiederholung heißt – „anders“75 geworden, weil die zurückkehrenden Soldaten Andere geworden sind, denen das „Gewes’ne“ wie ein „Mal“ anhaftet und selbst noch im „Lächeln“ „ersichtlich“ bleibt: „Wir sind’s noch immer – aber Gewandelte“. Der Grund für diese Wandlung wird in vagen Symbolen („standen lang im Eis der Pole / und bei dem brennenden Dornbusch Gottes“76) eher verdeckt als bezeichnet. Hier, das heißt 1944 auf dem Rückzug und vermutlich in Erwartung der militärischen Niederlage in Kurland, jedoch – wie das Gedicht vermuten lässt – noch ohne Vorstellung von den sich bald vollziehenden geopolitischen Veränderungen, deutet sich bei Bobrowski erstmals ein Gefühl von Heimatverlust an.77 Dieses wird – mit veränderlicher konzeptioneller Einbindung – in der folgenden Lyrik bestimmend bleiben. Der in diesem Oden-Zyklus von 1944 vorgetragene Konflikt der Kriegsheimkehrer wird durch eine Übertragung der Heimkehr-Thematik auf eine religiöse Ebene zu einer glückhaften Jenseitserwartung des gläubigen Christen aufgelöst. „Jenseits des Todes erst kann das Leben sein“78. Das Gedicht schließt in einem feierlichen Bild der ersehnten, aber fernen Heimkehr der „Heere der Söhne“ zur mütterlichen „Heimat“. „O Heimat! Wenn sich einmal die Züge still und feierlich, die Heere der Söhne einst dir nähern – letztes Glück! […]“79 74 Ebd., S. 260. 75 „wie dort / die Wälder anders, heller die Seen sind und / die Frauen anders gehn […] // Wie anders aber wird uns das Meiste sein!“ Ebd. 76 Ebd. 77 In welchem Monat des Jahres 1944, das heißt auch mit welchem Wissen um eine mögliche Niederlage und um die Flucht der Bevölkerung aus dem Memelgebiet, das Gedicht „Wiederkehr (Lettland 1944)“ entstanden ist, lässt sich nicht rekonstruieren. Es wurde der Bobrowskis Frau übereigneten Sammlung „1943 / Ausgabe letzter Hand“ im Jahr 1944 angefügt, muss diese also vor Beginn ihrer langwierigen Flucht erreicht haben. Zu seiner Frau hatte Bobrowski mindestens bis Dezember 1944 brieflichen Kontakt, im März 1945 aber nicht mehr. Vgl. Briefe an Vater und Mutter in Bobrowski, Briefe, Bd. 1. 2017, S. 126; 128. Von der bevorstehenden Flucht der verschiedenen im nördlichen Ostpreußen lebenden Familienmitglieder vor der heranrückenden sowjetischen Armee ist erstmals in Briefen Bobrowskis im August 1944 die Rede. Bobrowski, Briefe, Bd. 1. 2017, S. 104. Am 23. 10. 1944 schreibt Bobrowski, ausgehend von der Lektüre der in Berlin erscheinenden „Deutschen Allgemeinen Zeitung“, von der im „Tonfall“ noch gewahrten „Atmosphäre, die nun bald überall Geschichte sein wird, die Welt verändert ihr Gesicht […]. […] Indessen: wir tun das, wozu wir hingestellt sind und wollen uns keiner Pflicht entziehen, wenn wir auch kaum mehr zu sehen hoffen, wohin alles laufen will.“ Bobrowski, Briefe, Bd. 1. 2017, S. 112. Diese Haltung lässt ihn später auch eine Ausreise aus der DDR ablehnen. 78 Haufe, Erläuterungen. 1998, S. 260. 79 Ebd., S. 261.

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Ob die zeitliche Ferne der Heimkehr, die durch das Attribut „letztes Glück“ ins Unwirkliche und Eschatologische gehoben ist, durch den eingangs erläuterten persönlich-emotionalen Heimatverlust oder durch die Zeit bis zu einer Rückkehr der „Söhne“ aus einer Kriegsgefangenschaft begründet ist, bleibt völlig unbestimmt: Das Adverb „still“ scheint jedenfalls eine Rückkehr aus der ‚östlichen Landschaft‘ als militärische Sieger nicht mehr in Aussicht zu stellen.

III. Mit der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 kam Bobrowski in sowjetische Gefangenschaft, die er bis Ende 1949 östlich des Schwarzen Meeres in der Umgebung von Rostow im Donezbecken verbrachte, unterbrochen von zwei Aufenthalten an Antifa-Schulen: 1947 in Rostow (3 Monate) und 1949 in der Nähe von Gorki (Nishni Nowgorod) an der Wolga (9 Monate).80 In deren Folge wurde er 1949 Mitglied des Lagerkomitees und verstand sich – bis etwa 1951 – als Kommunist.81 Durch die Kriegsgefangenschaft lernte Bobrowski einige der östlichen Regionen des früheren polnisch-litauischen Großreiches, dessen Gebiet er ab 1956 Sarmatien nennt, persönlich kennen. Die in der Kriegsgefangenschaft entstandenen, nach der Rückkehr nach Berlin unter dem Titel „Heimatlieder 1945–48“ zusammengestellten Gedichte behandeln in formal sehr unterschiedlicher Weise Themen wie Kunst, Musik, Heimat, Natur, Liebe. Diese in Teilen konventionell wirkende „klangmalerische[] Kompensationsdichtung“82 zeigt im Vergleich zum Oden-Zyklus „Wiederkehr“ von 1944 und den Gedichten der 50er Jahre einen mitunter erstaunlich ungebrochenen Zugriff auf die Heimat-Thematik, wohl nicht zuletzt deshalb, weil die Gedichte teilweise für die Öffentlichkeit des Gefangenenlagers bestimmt waren und der Erbauung und Ermutigung der Mitgefangenen, und auch seiner selbst, dienten. Manche kursierten von Hand zu Hand oder wurden zu Kulturabenden vorgetragen. Allerdings be80 Haufe, Chronik. 1994, S. 28. 81 In den ersten Briefen nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft teilt er etlichen Freunden aus der Kriegszeit seine nicht nur politisch veränderte Haltung mit, die offenbar bei seinen Eltern wenig Verständnis gefunden hat: „Du weißt, daß ich inzwischen Kommunist wurde, und ich muß Dich also auf einiges hinweisen. Auch auf dies, daß ich zu meiner früheren literarischen Produktion mehr ( jedenfalls in großen Teilen!) eine historische Einstellung habe.“ Er tauscht sich über die angebliche „Überwindung von Marx“ aus und verwahrt sich dagegen, den Verlust seiner früheren „Weltabgewandtheit und Todessehnsucht“ als eine „‚Erblindung‘“ aufzufassen. Ina Seidel gegenüber meint er jedoch Ende April/Anfang Mai 1950, dass er wünsche, „daß Sie mich für ziemlich unverändert halten möchten“. Bobrowski, Briefe, Bd. 1. 2017, S. 173; 190; 184; 196. 82 Leistner, Bernd: Erinnernde Sprachmagie. Zu Bobrowskis Gedichten. In: Johannes Bobrowski. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München: Edition Text + Kritik 2005, S. 53–66, hier S. 57. (Text + Kritik; Bd. 165).

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schreiben Gedichte wie „Heimatlied“, „Heimatlieder“ oder „Kurische Nehrung“ Ostpreußen als ein Land des persönlichen Glücks schon deutlich unter dem Vorzeichen des unwiederbringlich Vergangenen: „ Land, das ich geliebt wie anders nichts!“83 Bobrowskis Heimat-Begriff ist in dieser Zeit, wie schon während des Krieges, sowohl auf Deutschland und Deutsches allgemein als auch im engeren Sinne auf Ostpreußen bezogen; als Gegenwelt zur derzeitigen Situation.84 Erste Anzeichen einer konzeptionellen Veränderung in Hinblick auf die spätere Konzeption Sarmatiens als Imaginations- und Identifikationsraum des Sprechers der Gedichte lassen sich in dem vermutlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1947 entstandenen Gedicht „Rostow am Don 1947“ feststellen, das auf die Situation der ersten Antifa-Schulung anspielt. In der Wir-Form wird mit „die Vergeblichkeit der Jahre“ die schwere Lethargie und Sinnkrise angesprochen, die sich aus der militärischen Niederlage und ihren persönlichen und den nationalgeopolitischen Konsequenzen ergab. Diese in die Bildlichkeit von Grab und Ruinen gestellte Depression wird nun durch eine unerwartete Gemeinschaftsund Landschaftserfahrung überwunden, erlebt als ein „wilde[s] Glück[]“: „Wie hatte die Vergeblichkeit der Jahre uns kalt und leer gemacht und wie ein Grab! Da stiegen wir aus der Ruinen Starre dem weiten Hange nach zum Don hinab Und hielten bei der Hand uns, lachten, bebten vor wildem Glücke, riefen wolkenweit: weil immer noch die alten Ströme lebten und rauschten wie voreinst und alle Zeit.“85

Das in Bobrowskis Lyrik häufig vorkommende Motiv des Stromes wird nicht nur als Bild räumlicher, sondern auch zeitlicher Verbundenheit gebraucht.86 Die im

83 Bobrowski, Werke, Bd. 2. 1987, S. 77f. 84 Am 30. 7. 1948 schreibt er den Eltern, dass ihm nur diese „UND DIE HEIMAT, STÜNDLICH“ fehlten, am 24. 6. 1949, dass er sich künftig noch „KONSEQUENTER UND AUSSCHLIESSLICH MIT DEN BRENNENDEN PROBLEMEN DER MENSCHHEIT, UND DAMIT DER HEIMAT, BESCHÄFTIGEN“ und „FÜR DAS GLÜCK MEINER HEIMAT UND ALLER VÖLKER“ kämpfen wolle. Bobrowski, Briefe, Bd. 1. 2017, S. 145; 151. 85 GW II 114. 86 Zum Motiv des Stroms bzw. der Strömung in zeitlicher Konnotation bei Bobrowski vgl. Schütze, Oliver: Natur und Geschichte im Blick des Wanderers. Zur lyrischen Situation bei Bobrowski und Hölderlin. Würzburg: Königshausen & Neumann 1990, S. 208; Thüsen, Joachim von der: Flußmythen, Strombilder. Zur Lyrik Johannes Bobrowskis. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 92, 1998, H. 1, S. 47–67; Degen, Andreas: Dichten als Fischen. Zu einer zentralen Erinnerungsmetapher bei Johannes Bobrowski. In: Literatur, Grenze, Erinnerungsräume. Erkundungen des deutsch-polnisch-baltischen Ostseeraumes als einer Literaturlandschaft. Hrsg. von Bernd Neumann, Dietmar Albrecht, Andrzey Talarczyk. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 41–56.

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Erlebnis des ukrainischen Dons aktualisierte Landschaftserfahrung der ostmittel- und osteuropäischen Ströme überwindet das Gefühl des Zusammenbruchs, indem es zur sinnstiftenden Erfahrung fortlebender Vergangenheit – dies auch ein Ostpreußen-Topos – wird. Das „wilde[] Glück[]“ aufgrund dieser imaginierten transhistorischen wie auch der aktuellen realen Gemeinschaft tritt an die Stelle des aufgeschobenen „letzte[n] Glück[s]“ einer Rückkehr in die Heimat in „Wiederkehr“. Das kurze gereimte Rostow-Gedicht von 1947 lässt sich damit als Gründungszeugnis der späteren sarmatischen Konzeption verstehen, dargestellt im Landschaftsmotiv des Stroms. Dieses ist – eine Ausnahme – von der gegenwärtigen Redesituation her als Gemeinschafts- und Glückserfahrung ausgewiesen. Produktionsästhetisch gesprochen reflektiert es im Landschaftsbild des Stroms die persönliche und historische Neuorientierung und Sinnstiftung, die Bobrowski durch die Aufklärung über den Faschismus in den sowjet-marxistischen Seminaren der Antifa-Schule erfahren hat.

IV. Weihnachten 1949 kehrte Bobrowski aus der Kriegsgefangenschaft zu seiner Familie zurück, die seit 1937/38 in Berlin-Friedrichshagen, nun zur DDR gehörend, lebte. Seine in den frühen fünfziger Jahren neben der Tätigkeit in einem Ostberliner Buchverlag entstehenden Gedichte fallen formal und thematisch unterschiedlich aus. Der Verlust Ostpreußens wird häufig thematisiert. Das vermutlich Anfang der 1950er Jahre entstandene Gedicht „Der Heimat“87 imaginiert Ostpreußen als – motivisch an die Schlusspassage von „Wiederkehr“ (1944) anschließend – eine auf den Stock gestützte und in die „Nebelzeit“ starrende alte „Mutter“.88 Ihr – die so selbst in die Defizitär-Motivik von Wanderschaft gestellt ist – nähert sich im Sprechen das lyrische Ich an, um dann rasch – im Schlussbild unendlicher Sehnsucht nach dem ‚Untergegangenen‘ („durch die Adern zog das Blut / leiser als die Abendflut“89) – wieder „ungerufen fortzugehn“. Viele der späteren Gedichte Bobrowskis und auch einige der Prosatexte stellen ein solches Rede- und Imaginationsgeschehen im Textverlauf prozessual dar.

87 Bobrowski, Werke, Bd. 2. 1987, S. 222f. 88 Bobrowski greift wiederholt auf die konventionelle Personifikation von Heimat als Mutter zurück; vgl. auch die Überblendung von Mutter und Heimat im Brief Bobrowskis vom 6. 5. 1942 aus dem „Osten“ an seine Mutter, die sich in der ostpreußischen Elchniederung aufhält, anlässlich des Muttertages: „Es ist mir aber dabei, als schaltete ich mich für diesen Tag in besonderer Weise in das unendliche Fragen und Antworten zwischen den Soldaten und der Heimat ein.“ Bobrowski, Briefe, Bd. 1. 2017, S. 42. 89 Bobrowski, Werke, Bd. 2. 1987, S. 223.

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In dem kurzen gereimten Gedicht „Heimat“ von 1954 besteht die Landschaft Ostpreußens wie ehedem fort, aber ohne die spezifische Semantisierung als „Heimat“. Diese existiert, mit sprachlichen Anleihen aus Paul Celans „Todesfuge“, nur noch „in den Lüften“90, weil „wir dir alle davon[gingen]“. Dies hat zur Folge, dass – hier kommt die emotionale Wertung der russischen Kriegslandschaft mit der der Berliner Nachkriegszeit überein – der gegenwärtige, nicht näher gekennzeichnete Aufenthaltsort des Sprecher-Wir als „fremd[]“ charakterisiert wird. Eine motivisch-konzeptionelle Veränderung in Richtung auf die spätere Lyrik Bobrowskis zeigt das Gedicht „Jugendzeit“91 (1954), da hier die ostpreußische Herkunft aus dem räumlichen Paradigma Heimat in das politisch weniger problematische zeitliche Paradigma Jugend verschoben ist. Wie in „Heimat“ werden die historischen Umstände des Davongegangenseins nicht erläutert. Anders als im Oden-Zyklus „Wiederkehr“ von 1944 wird eine Wiederkehr explizit ausgeschlossen; die Gegenwartssituation ist durch „Stille“ und eine Metaphorik des Winters als defizitär charakterisiert. Das Gedicht „Heimaterde“ (1954), das die Thematik existentiell-religiös konnotiert („Leben und Sterben gilt so / und Hingehn und Wiederkehren“92), lässt alltägliche Wahrnehmungsmomente (der „Flügelschlag“ eines Vogels) für denjenigen, „der dir [der Heimat – A.D.] zugehört“93, zu zeichenhaften Assoziationsimpulsen für eine unwillkürliche Erinnerung an die Heimat werden; auch dies ein für die spätere Poetik wichtiges Verfahren. Anschließend an die im Gedicht „Rostow am Don 1947“ vorgenommene Semantisierung der Don-Landschaft als „Glücks“-Ort vollziehen sich in den frühen 50er Jahren zwei wesentliche Veränderungen in der geographischen Konzeption Bobrowskis. Zum einen wird Osteuropa – in Abgrenzung zum gegenwärtigen Wohnort in (dem geteilten) Berlin und Deutschland bzw. innerhalb der geopolitischen Ordnung der Nachkriegszeit – zu dem zentralen lyrischen Imaginations- und Identitätsraum des Sprechers. Zum anderen rückt damit das ganz in die Vergangenheit gerückte Ostpreußen als hochgradiger emotionaler Bezugsort aus dem geosemantischen Bereich Deutschlands in den des europäischen Ostens. Die infolge des Krieges verlorene östlichste Provinz Deutschlands wird Teil der osteuropäisch semantisierten Welt Sarmatiens, der sich der Sprecher zugehörig fühlt. Diese geosemantische Neukonzeption lässt sich beispielsweise im Gedicht „Osten“94 aus dem Jahr 1953 erkennen. Bei diesem Gedicht handelt es sich auch 90 91 92 93 94

Ebd., S. 237. Ebd., S. 238f. Ebd., S. 238. Ebd. Ebd., S. 227f. Auch in dem 1952 entstandenen Gedicht „Städte sah ich“, das von Eberhard Haufe (und seitdem unwidersprochen) als Anfang der eigenständigen Dichtungssprache Bobrowskis angesehen wird, findet eine Identifikation des zunächst als Fremder eingeführten Ichs mit den

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um ein poetologisches Programmgedicht, insofern es – rhetorik- und ästhetikgeschichtlich plausibel95 – die als polysemantisch ausgewiesene, auf sinnlichaffektive Wirkung ausgerichtete zeichenhafte Weltwahrnehmung bzw. Sprachlichkeit (mithin Lyrik) auf eine ‚östliche‘ Herkunft der Sprechenden zurückführt. Zehn Jahre nach dem Gedicht „Wiederkehr“ (1944), in der die Wiederbegegnung des aus Nordrussland kommenden deutschen Soldaten mit der ostpreußischen „Heimat“ im „Westen“96 antizipiert wird, lässt nun der im (mitteleuropäischen) Nachkriegsdeutschland lebende Autor seine Träume nach „Osten“ wandern, der nicht spezifisch als Ostpreußen, sondern vielmehr landschaftlich-motivisch generalisierend als Osteuropa erscheint.97 Das lyrische Ich ordnet sich in seiner Herkunft diesem archaischen „Osten“ zu: „Alle meine Träume gehn über Ebenen, ziehn unbetretenen Wäldern windhell entgegen, kalten einsamen Strömen […] Dort sind alle Gesänge ohne End, im geringsten Ding steht Gefahr, vieldeutig, – nicht zu halten mit dem und jenem Namen […] Worte gelten nicht. Aber ein Streicheln, Grüße, Blitz unterm dunklen Lid und in der Brust jenes Ziehn; noch als Umarmungen stärker.“98

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96 97 98

‚östlich‘ konnotierten Städten in der Ebene und an den Strömen statt: „Bis an die Ränder der Nacht / fuhr ich mit ihnen [den Städten – A.D.]“ auf den „breite[n] Ströme[n]“ hinab. Haufe, Eberhard: Zu Leben und Werk Johannes Bobrowskis. In: Bobrowski, Werke, Bd. 1. 1987, S. VII– LXXXV, hier S. XXXIX. Zitat: Bobrowski, Werke, Bd. 2. 1987, S. 221. Im Unterschied zur lateinischen Tradition galten im byzantinischen Kulturraum Stilformen der Obscuritas als literarisch legitim. Kustas, George L.: The function and evolution of byzantine rhetoric. In: Greek Literature, Bd. 9. Greek literature in the Byzantine period. Hrsg. von Gregory Nagy. New York, London: Routledge 2001, S. 55–73, hier S. 70f. – Nicht eingegangen werden kann an dieser Stelle auf die bislang nicht untersuchte Frage des Einflusses geistes- und stilgeschichtlicher sowie stammesgeschichtlicher Literatur- und Kulturschemata im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, etwa bei Oskar Walzel oder den führenden HamannEditoren und -Forschern Rudolf Unger und Josef Nadler, auf Bobrowski. In diesen Schematisierungen werden Irrationalismus, Wildheit, Dunkelheit, Mystisches, Romantisches etc. nicht selten ‚dem Osten‘ bzw. dem ‚deutschen Osten‘ zugeordnet. Haufe, Erläuterungen. 1998, S. 259–261, hier S. 259. Bobrowski, Werke, Bd. 2. 1987, S. 227f. Ebd., S. 227.

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Bemerkenswert ist, mit Blick auf die späteren Gedichtbände „Sarmatische Zeit“ (1961) und „Schattenland Ströme“ (1962), zweierlei: die Einordnung des WirSprechers in die ethnisch-kulturell oder religiös nicht spezifizierte oder differenzierte, insgesamt vormodern wirkende Bevölkerung des „Osten[s]“, der durch die in Pluralform genannten Landschaftselemente Ebene, Strom, Wald, Moor paradigmatisch beschrieben ist, sowie das mit dieser Bevölkerung verbundene kulturhistorische Merkmal der Sesshaftigkeit99, durch das sich der Sprecher von den „von weit“ kommenden „Händlern“, auch als „Fremde“ bezeichnet, unterscheidet. Deren Fremdheit wird unter anderem durch das Differenzmerkmal charakterisiert, dass sie „[u]nsicher“ „ziellosen Straßen“ nachgehen, immer „Fähren und Brücken [anhängen]“ und vergeblich „Gewisses“ suchen. Dagegen verortet sich der Wir-Sprecher des Gedichtes am Ende des Gedichtes – weniger räumlich als sprachlich und emotional – innerhalb der Gesprächsgemeinschaft jener, deren „Herz“ „ewig“ „im Erwarten“ „wohnt“. Der „Osten“ wird damit seiner topographischen Denotation enthoben und, durchaus topisch100, zum Synonym für eine Existenzform des fortgesetzten Sehnens und Erwartens: „Wir aber kennen uns leicht. Unsre Gespräche steigen alle aus gleichem Grunde. Und im Erwarten ewig wohnt uns das Herz.“101

Das Gedicht „Osten“ versucht, landschaftliche, kultur- und mentalitätsgeschichtliche sowie ästhetische Merkmale jener osteuropäischen Region zu erfassen und für die eigene Poetik zu markieren, die Treitschke 1862 als ein von einem „Gewirr von Völkertrümmern“ bewohntes „Grenzland der Christenheit“ bezeichnete. Die Verlorenheits- und Zerstörungsmotivik der Gedichte Bobrowskis aus dem Krieg bleibt hier ausgespart, der Ich-Sprecher teilt nicht die Per99 1963 notiert Bobrowski zu den Gesichtspunkten seines Schreibens: „Die im Neolithikum begonnene Sesshaftwerdung der Jäger, Fischer, Sammler, die Inbesitznahme des Bodens, die Bindung an ihn hat bis heute im Wesentlichen angedauert. Dieses Zeitalter geht zuende, mit ihm also Vorstellungen wie Heimat, Heimweh, politisch: Nationalstaaten, Nationalbewusstsein, die zu Provinzialismen werden. / Die Kontinente rücken zusammen, Technik ermöglicht ein Denken in Großräumen / Mit diesem Bewusstsein konzipiere ich eine Überschau des unwiderruflich Vergehenden für einen Raum, in dem diese Bindungen an den Lebensraum besonders tief verstanden worden sind: aber als ein Reisender, wenn Sie wollen, Wanderer, ein nicht mehr Dazugehöriger, als einer, der kommt und weggeht / noch einmal gültig darstellen, ehe es ganz vergangen ist.“ Bobrowski, Werke, Bd. 4. 1987, S. 336. Persönlich ist Bobrowskis Kindheit und Jugend jedoch durch etliche Umzüge innerhalb Ostpreußens bzw. später Königsbergs bis zum Umzug nach Berlin 1937/38 geprägt. 100 Vgl. den Überblick zu deutschen Osteuropa-Diskursen vor und nach 1945 bei Egger, Dialog. 2009, S. 116–128. 101 Bobrowski, Werke, Bd. 2. 1987, S. 228.

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spektive des deutschen Soldaten, sondern des autochthonen Osteuropäers. Offenbar wird das wenige Jahre später, etwa in Bobrowskis Briefwechsel mit dem Familienforscher Georg Bobrowski, wiederholt thematisierte genealogische Bewusstsein einer polnisch-masowischen Abstammung, für das es allerdings auch schon 1944 ein Zeugnis gibt, relevant.102 Obwohl der ab 1956 mehrfach in Briefen gewählte Toponym Sarmatien oder der davon abgeleitete literaturhistorisch ambitionierte Projekt-Name „Sarmatischer Divan“103 noch nicht verwendet werden, enthält das Gedicht „Osten“ wesentliche Elemente der bis hin zu den späteren Gedichtbänden nicht nur thematisch, sondern auch poetologisch reflektierten sarmatischen Konzeption. Bobrowskis „Sarmatischer Divan“ ist ein „West-östlicher Diwan“ europäischer Art, eigentlich ein deutsch–osteuropäischer Diwan.104 Bobrowskis Wahl der veralteten Bezeichnung Sarmatien, die auch lexikalisch bald den Heimat-Begriff ersetzt, hat ihren Grund auch darin, dass sie im Kontext der BRD wie der DDR ideologisch weniger instrumentalisierbar war. Ausführlich erläutert Bobrowski seine lyrische Sarmatien-Konzeption 1956 dem in der BRD lebenden Freund aus der Kriegsgefangenschaft Hans Ricke. Er wolle „einen unbegangenen Weg“105 gehen und „etwas tun mit meinen Versen, mühevoll und entsagungsvoll tun“, wozu er sich durch „Abstammung und Herkunft, durch Erziehung und Erfahrung“ legitimiert und verpflichtet hält. Er 102 1944 erläutert Bobrowski Ina Seidel die Herkunft seines Familiennamens: „Der Name ist alt, einer der beiden ersten bekannten masowischen Namen, die schon auftauchen als Konrad von Masowien den Deutschen Orden nach Preussen ruft.“ Bobrowski, Briefe, Bd. 1. 2017, S. 104. In der zweiten Hälfte der 50er Jahre nimmt in Bobrowskis Korrespondenz mit dem Familienforscher Georg Bobrowski die über viele Jahrhunderte zurück verfolgbare Geschichte des dem altpolnischen Adel entstammenden Sippenverbandes breiten Raum ein. So werden etwa sippenspezifische Kennzeichen wie „Jagdleidenschaft und Aversion gegen Nationalistisches und Politisches“ erwähnt oder die „sog. Darwin’sche Ohrspitze“. Brief vom 20. 9. 1955; Bobrowski, Briefe, Bd. 1. 2017, S. 379. 103 Erstmals erwähnt Bobrowski Peter Huchel gegenüber dieses Vorhaben: „Aber sonst möcht ich im Lauf der Jahre eine Art Sarmatischen Divans zusammenbringen, worin das Land zwischen Weichsel und Ural mit seinen Völkern, mit Historie und Landschaft ungefähre Gestalt bekommt. Und eben die Rolle meines Volkes darin.“ Brief vom 1. 6. 1956; Bobrowski, Briefe, Bd. 1. 2017, S. 417. 104 Bobrowski besaß eine Ausgabe von Goethes „West-östlichem Divan“ aus dem Jahr 1943, die er Anfang der 1960er Jahre Wilfried Fonrobert schenkte (heute im Besitz von Erika Stelldinger). Goethe, Johann Wolfgang: West-östlicher Divan. Unter Mitwirkung von Hans Heinrich Schaeder hrsg. u. erläutert von Ernst Beutler. Leipzig: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 1943. Auf Seite X der Einleitung Beutlers konnte er u. a. über Goethes Gedichtband lesen, dass ‚Divan‘ „Versammlung“ bedeutet, und Goethes Werk ein „Tagebuch in Versen“, ein „Reisetagebuch“ sei: „Es entsteht ein Gespräch über Länder und Kontinente hin. Die Jahrhunderte reden miteinander. […] So entsteht durch die Verschmelzung von Östlichem und Westlichem, Allgemeinem und Individuellem allerdings ein Spiel wiederholter Spiegelungen […]“. 105 Brief vom 9. u. 10. 10. 1956. Bobrowski, Briefe, Bd. 1. 2017, S. 439–441, hier und im Folgenden S. 440 (Hervorhebungen im Original).

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verweist auf die über ein Jahrtausend rückverfolgbare „wunderlich gemischt[e]“ polnisch-deutsche Abstammung seiner Familie, auf seinen früheren „ständigen Umgang mit Litauern, Juden“ und die Beschäftigung mit dem „untergegangenen Pruzzenvolk“ während seiner Jugend sowie auf die „russischen Erlebnisse“ im Krieg. Die durch polnisch-deutsche Abstammung, ostpreußische Herkunft, deutsche Erziehung und die Erfahrungen in den Memeldörfern und während des Krieges bzw. der Gefangenschaft erfolgte persönliche Involvierung versteht er als Autorisierung: „Ich kann also – ohne zu konstruieren – in meiner eigenen Existenz die Ostvölker […] mit den Deutschen konfrontieren […].“ Die persönliche Disposition wird zu einem historischen Auftrag verallgemeinert: eine „große tragische Konstellation in der Geschichte auf meine Schultern nehmen“, um so einen „vielleicht ganz nutzlosen“ „Beitrag“ zu leisten „zur Tilgung einer unübersehbaren historischen Schuld meines Volkes, begangen eben an den Völkern des Ostens“.106 Bobrowski gibt die damit verbundene, nicht unproblematisch ‚aneignende‘ Verlagerung der emotionalen Identifikationsperspektive Heimat aus dem ostpreußischen bzw. deutschen Kulturbereich auf die „Völker[] des Ostens“ genau an: „Ich liebe die Landschaft, die Geschichte, die Menschen meiner Heimat. Und ich liebe die Deutschen. Aus solchem Grundgefühl soll das weite Land zwischen Weichsel und Wolga/Don sichtbar werden in Gedichten. Gestalten anderer Kulturkreise werden angerufen sein, aber eben von dort, von der ‚sarmatischen Ebene’ her gesehen.“107

Bobrowskis Sarmatien ist eine auf Ostmittel- und Osteuropa übertragene Heimatprojektion, deren topographische Basis die einstige Exklave Ostpreußen in ihrer Semantisierung als Brücke darstellt. Die, wie gezeigt, punktuell schon im Krieg wie in der Gefangenschaft nachweisbare emotionale Selbstverortung in der ‚östlichen Landschaft‘ (vgl. oben die Mal- bzw. Pfänder- sowie die Glücks-Metaphorik), die also nicht allein durch retrospektive Schuldverdrängungs- oder Versöhnungsstrategien erklärbar ist, leistet eine die realhistorische Konfrontationsgeschichte überlagernde mythisierende Lesart der Gedichte Vorschub, die durch das dominante Stilmittel der Bildlichkeit verstärkt wird.108 Nach langen vergebli106 Ebd., S. 440f. Diese Intention ist der Grund, weshalb historische Konflikte oder Gewalt innerhalb der oder zwischen den „Ostvölkern“ kaum thematisiert werden; freilich mit Ausnahmen, wie etwa die Gedichte mit Bezug auf die zur Entstehungszeit offiziell diskreditierten russisch-sowjetischen Autoren Isaak Babel, Boris Pasternak oder der Prosatext „Litauische Geschichte“ zeigen. 107 Ebd., S. 441. 108 Ursula Heukenkamp macht zuerst darauf aufmerksam, dass sich in Bobrowskis Texten die Position des deutschen Soldaten „in der ‚sarmatischen Welt‘ am Rande, immer weit entfernt vom Autor“ befinde, der „aus einer anderen, der gewollten Lebensgeschichte Bobrowskis“ stamme. Heukenkamp, Ursula: „Neues hat nie begonnen“. Das Wandlungsthema im Gefangenschaftsbericht von Johannes Bobrowski. In: Unerwünschte Erfahrung. Kriegsliteratur und Zensur in der DDR. Hrsg. v. Ursula Heukenkamp. Berlin/Weimar: Aufbau 1990, S. 227–

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chen Bemühungen in beiden deutschen Staaten gelingt es Bobrowski, einen ersten Gedichtband Anfang 1961 unter dem Titel „Sarmatische Zeit“ in der Deutschen Verlag-Anstalt Stuttgart zu veröffentlichen. Die Verlagsankündigung stellt den wenig bekannten Autor aus „Ostberlin“109 literarisch in die „große Tradition der europäischen Lyrik und die Errungenschaften der Moderne“, thematisch (die Geschichts- und Schuldproblematik wie die ostpreußischen Bezüge verschweigend) in die „Landschaften, Mythen und Legenden des europäischen Ostens, der sarmatischen Welt“ an. Seitdem werden, bis heute, der Autor Bobrowski und der Toponym Sarmatien wechselseitig aufeinander verwiesen. Aus dem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die späten 1930er Jahre als ‚Grenzland‘ attribuierten Ostpreußen im entlegenen Nordosten des Deutschen Reiches ist bei Bobrowski, mit ersten Anzeichen in der Kriegsgefangenschaft, während der 1950er Jahre der Nordwesten eines geographisch und kulturhistorisch weit gespannten Identifikationsraumes Sarmatien geworden. Voraussetzung dafür ist Bobrowskis Erfahrung des Krieges im sowjetischen Russland, die sich in Bildern perzeptiv-ästhetischer Entgrenzung und – weniger stark – moralischer Grenzüberschreitungen sowie in der Bevorzugung einer adäquaten ästhetischen Form (Oden-Tradition, Modus des Erhabenen) kristallisieren. „Und still hinab verliert in die Weite sich ein Weg. Den halten Bäume dir rot im Blick lang noch, wenn schon ins Grenzenlose alles verwehte –, vom Wind getrieben.“110

Diese in den 40er Jahren oft als bedrückend, aber prägend konnotierte Erfahrung von Grenzenlosigkeit wird – zumal durch hinzutretende positive Momente einer sarmatischen Abstammung und „Glück[s]“-Erfahrung – Mitte der 50er Jahre als existentieller wie literarischer Ausgangspunkt zum poetologischen Programm erhoben, das ungeachtet eines sich erweiternden Themenkreises und eines sich modifizierenden Stils bis zum Tod Bobrowskis 1965 bestimmend bleibt:

260, hier S. 254. Allerdings wird dies im Prosatext „Rainfarn“ (1964) selbstkritisch reflektiert. Leonore Martin spricht von Sarmatien als „Konstrukt einer idealischen Landschaft“ nördlichen Charakters. Martin, Leonore: Landschaft und Erinnerung. Der „sarmatische Kosmos“ Johannes Bobrowskis. In: Nordost-Archiv, N. F., 8, 2001, S. 483–501, hier S. 493. Egger betont die nivellierende Darstellung der osteuropäischen Kulturen als „Opfer der Geschichte“. Egger, Dialog. 2009, S. 395f. 109 Die Ausfahrt. Hauszeitschrift der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart. Frühjahr 1961. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1960, S. 11. Das Frühjahrsprogramm 1961 enthält mehrere Bücher mit Bezug zu Osteuropa bzw. der Sowjetunion. Durch die Falschschreibung des Nachnamens „Bobrowskij“ in der Ankündigung wird dies unterstrichen. 110 Aus dem Gedicht „Der Friedhof“ im Oden-Zyklus „Nowgorod 1943“, publiziert 1944 in der Zeitschrift „Das Innere Reich“. Bobrowski, Werke, Bd. 1. 1987, S. 221.

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„Ein eingefahrener Sandweg. Ohne Gräben. Wie breit ist er, kann man das sagen? Er geht über in die Wiese. Oder die Wiese hört auf. Oder geht über in einen Weg. Wie ist das genau? Es gibt keine Grenze. Der Weg ist nicht zuende. Und die Wiese fängt nicht an. Das ist nicht ausdrückbar. Und ist der Ort, wo wir leben.111

111 Aus dem autobiographischen Prosatext „Das Käuzchen“ von 1962/63. Bobrowski, Werke, Bd. 4. 1987, S. GW IV, S. 78.

Iulia-Karin Patrut (Flensburg)

Celan, Bobrowski und die Neuverortung deutschsprachiger Lyrik nach 1945 in europäischer Perspektive

Paul Celan und Johannes Bobrowski haben einiges gemeinsam: Die Dichter befragen in ihren Gedichten die Außengrenzen deutschsprachiger Literatur und Kultur und zielen auf die Inklusion von den Literaturen und Kulturen des europäischen Ostens in die imaginäre Genealogie der deutschsprachigen Literatur – auch und gerade nach der Zäsur 1945, das ihr eine Neuformierung im Zeichen der Aufarbeitung (auch struktureller) Gewalt abverlangte. Der Beitrag fokussiert vor allem die Poetiken Celans und Bobrowskis und mögliche Konzeptualisierungen des ‚Deutschen‘ nach 1945. Er untersucht Bobrowskis inkludierend gemeintes Konzept Sarmatiens und nimmt dabei Vorstellungen ethnisch und religiös homogener ‚Völker‘ in den Blick; er fragt nach Möglichkeiten und Grenzen der Transformation deutscher Lyrik nach der Shoah in der Poetik Celans, unter besonderer Berücksichtigung der Frage, ob jüdisch-osteuropäische deutschsprachige Schriftsteller und ihre imaginären Adressaten nicht länger auf der anderen Seite des mitgedachten ‚deutschen Wir‘ stehen. Nimmt Celan in seiner Lyrik Vorstellungen sprachlicher, religiöser und kultureller Diversität Europas und auch des ‚Deutschen‘ vorweg? Paul Celan and Johannes Bobrowski have in common that their poetry questions the outer borders of German Literature and Culture. Both of them aim at a broad inclusion of literatures and cultures of the European East into the imaginary genealogy of the German literature and culture in light of the legacy of National Socialism and the Shoah. This legacy necessitated a new concept of literature to overcome patterns of inherent structural violence. Against this background, the contribution focusses upon the poetics of Celan and Bobrowski, also pointing out the ways they conceptualize ‘Germanness’. Furthermore, the article analyses Bobrowski’s concept of Sarmatia, which was meant to be open and inclusive, by questioning whether it perpetuates ideas of ethnical and religious homogeneity as people (‘Volk’). It scrutinizes transformations of German poetry in Celan’s texts, in particular the question whether Jewish Eastern European German-language writers and their imagined recipients ceased to be positioned on the other side of the ‘German Us’. Is Celan one of the pioneers of lingual, religious and cultural diversity within Europe and Germany?

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Die deutschsprachige Lyrik hat nach 1945 schubweise, disparat, mit zeitlichen Verzögerungen und polygenetisch zwei große Transformationen vollzogen: Sie hat erstens die Idee vom Schönen als heilsames, wirklichkeitsentrücktes Reich der Dichtung verabschiedet und – damit verbunden – die Vorstellung, es reiche für gute Lyrik aus, ästhetisch ansprechende ‚schöne Bilder‘ zu entwerfen – seien es abstrakte Gedankenbilder oder sinnlich wahrnehmbare Formen. Angesichts der Shoah und der beiden Weltkriege war das Vertrauen in eine Kunstauffassung, die sich – in der Nachfolge der schillerschen „Briefe zur ästhetischen Erziehung der Menschheit“ – charakterliche, moralische und politische Veredelung von einer Kunst, die aus dem Idealen schöpft, verspricht, weitgehend erschüttert. Die zweite Transformation, die sich noch viel langsamer vollzog, bestand in der Verabschiedung eines ‚nationalen‘ Rahmens deutschsprachiger Dichtung. Auch diesbezüglich waren Shoah und Zweiter Weltkrieg entscheidend: Eine wie auch immer geartete und begründete identitätsstiftende Funktion der Dichtung für das ‚deutsche Volk‘ oder auch für die ‚deutsche Nation‘ in einem raumpolitisch aufgefassten Sinn war undenkbar geworden. In der Nachfolge der Kritischen Theorie setzte sich aus guten Gründen die Auffassung durch, jeglicher Konnex zwischen einem ethnizistisch oder kulturalistisch begründeten kollektiven Weltbezug und der Dichtung würde den künstlerischen Charakter der Dichtung zugunsten des Diskurses und der Ideologie aushebeln. Für diese beiden Transformationen der Lyrik steht, wie kein anderer, Paul Celan. Während der Name des Dichters mit dem Schreiben nach der Shoah bis zur Ununterscheidbarkeit verbunden ist, liegen – abgesehen von einigen Untersuchungen aus der außerdeutschen Germanistik – wesentlich weniger Forschungsarbeiten zur Bedeutung Paul Celans für die Neukonzeptualisierung räumlicher und raumpolitischer Implikationen des ‚Deutschen‘ vor. Dabei kann auch in dieser Hinsicht Paul Celans „Todesfuge“ als Initialmoment gelten: Die Frage, von welchem diskursiven Standpunkt und von welcher Verortung im (europäischen) Raum aus der berühmt gewordene Vers „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland [Hervorhebung – I.P]“ gesprochen wird, ist zumindest noch nicht hinlänglich geklärt. Dies gilt nicht allein angesichts der Tatsache, dass das Gedicht im Mai 1947 zuerst in rumänischer Sprache unter dem Titel „Todestango“ in der Bukarester Zeitschrift „Contemporanul“ erschien, in einem literarischen Umfeld, das vergleichsweise geringe Beachtung fand, sondern auch im Sinne einer neu entstehenden, Grenzziehungen markierenden und Grenzüberschreitungen vornehmenden Sprache der Dichtung. Dass Celan später die „Todesfuge“ wegen möglicher reduktionistischer Lesarten verwarf,1 lag möglicher1 „[…] keine Meister“, postuliert Celan in „Keine Sandkunst mehr“ aus dem Band „Atemwende“ programmatisch für sein zukünftiges Schreiben. Celan, Paul: Gesammelte Werke. Hrsg. von Beda Allemann/Stefan Reichert, u. Mitw. von Rudolf Büchner. Frankfurt a.M.:

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weise auch darin begründet, dass die Rezeption – aus der binnendeutschen damaligen Sicht betrachtet mit guten Gründen – auf die Arretierung des ‚Deutschen‘ auf der Täterseite bedacht war und mit den daraus resultierenden Implikationen für die Modifikation des Selbstverständnisses ‚deutscher‘ Dichtung in der ersten der beiden erwähnten Hinsichten befasst war. Dass indes die Raumbezüge in der „Todesfuge“ von geradezu überbordender Ambivalenz sind, dass die Verortungen des ‚Wir‘, des ‚Er‘ und des lyrischen Ichs allesamt gebrochene, d. h. Grenzüberschreitungen implizierende Verortungen aufweisen, liegt aus heutiger Sicht auf der Hand. Schließlich befindet sich der ‚Meister‘ augenscheinlich in der Fremde (er ‚schreibt‘ ‚nach Deutschland‘), die zum ‚Aufspielen‘ Gezwungenen sind die Fremden, die er zu töten gedenkt, und deren Musik und Tanz sind möglicherweise gerade die auch dem ‚Meister‘ vertrauten. Noch wichtiger ist aber, dass das ‚Wir‘ so gelesen werden kann, als lade es die Leserinnen und Leser mit ein, darüber nachzudenken, wovon sie sich distanzieren müssten, um nicht an der Gewalt des ‚Meisters‘ zu partizipieren; Goethe, Nietzsche und Wagner werden nicht verworfen, sondern in diesem Licht auf den Prüfstein gestellt und mit dem Hohelied Salomo und implizit der jüdischen Überlieferung in ein Spannungsverhältnis gebracht. Gerade kein Denken in statischen Oppositionen wird hier entworfen, sondern ein neuer, ins Offene strebender Standpunkt des lyrischen Ichs und des ‚Wir‘ nimmt hier seinen Anfang, was implizit zweierlei für die Dichtung fordert: Distanzierung von aller Gewalt, die Menschen anderen Menschen antun, und – damit verbunden – den Entwurf neuer, grenzüberschreitender Standpunkte, die die Absage an Gewalt gerade im Moment der Transgression erteilen. Schon hier deutet sich an, was später mit dem Begriff des ‚Meridians‘ erfasst wird: die Entwicklung gemeinsamen ‚An-Denkens‘, ausgehend von Gedichten – im Sinne eines Gesprächs über die Grenze der Abwesenheit hinweg und im Wissen um die stets unvollständige Referentialisierbarkeit eines jeglichen, erst recht dichterischen kommunikativen Aktes. Diese Grundzüge der Poetik Celans haben auch räumliche und kulturräumliche Implikationen, die Celan bereits in der Bremer Literaturpreisrede 1958 angesprochen hat. Dass Celan seinen Herkunftsraum so prominent erwähnt hat, wurde zeitgenössisch als Eingeständnis eines Makels aufgefasst, über den man hinwegsehen konnte – oder auch nicht. Für Letzteres entschieden sich Rezensenten wie Holthusen, Steinbrinker, Bleisch u. a., und Celan sah sich nicht nur antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt, sondern musste erleben, dass seine Herkunft aus der Bukowina – über 1.000 Suhrkamp 1983. Bd. 2, S. 39. Auch in seiner Korrespondenz finden sich unmissverständliche Absagen an die „Todesfuge“, zumeist verbunden mit der Sorge, sie könnte simplifizierende, gewertete Oppositionspaare evozieren. Das Wort ‚Meister‘, das für die zu verwerfende Ästhetik in der „Todesfuge“ steht, lässt sich nicht auf die deutschsprachige jüdische Literatur und Kunst aus Osteuropa beziehen, die Celan aber gerade nicht als radikal verschieden betrachtet.

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Kilometer Luftlinie in Richtung Südosten von Berlin aus entfernt – zum Abwertungsgrund wurde: Die Entfernung vom ‚Kerngebiet‘ der deutschen Sprache war so groß, dass eine geradezu ‚undeutsche‘ und daher unverständliche Bildlichkeit den Gedichten eigen sei. „Die vermeintliche Unverständlichkeit von Celans Lyrik führte man auf seine Herkunft zurück und signalisierte indirekt, dass er die ‚normale‘ deutsche Sprache nicht beherrsche, weil er vom ‚östlichen Rand des deutschen Sprachgebiets‘, der Bukowina, stamme und ein ‚Fremdling‘ sei.“2 Johannes Bobrowskis ‚Sarmatischer Divan‘ (wie er sein Osteuropa-bezogenes Konvolut nannte), gehört in den gleichen Themenkreis. Dabei ist eine diesbezügliche Einordnung Bobrowskis nicht ganz einfach. Die Tradition asymmetrischer Darstellung osteuropäischer und insbesondere jüdisch-osteuropäischer Literaturen und Kulturen reicht im deutschsprachigen Raum bis in die Frühe Neuzeit zurück,3 die Neuorientierung der Lyrik nach 1945 bot jedoch die Chance, dieses asymmetrische Blickregime, das den Osten zumeist als unkultivierten, schriftlosen Raum anonymer Stimmen konstruierte, zu revidieren. Auf den ersten Blick zielen die Gedichte Bobrowskis in diese Richtung. Seinem Selbstverständnis zufolge soll ein Dialog mit den zu wenig gehörten, nunmehr untergegangenen Stimmen aus dem Osten des Kontinents zustande kommen. Bobrowskis Dialog-Verständnis ist dabei durchaus nicht unreflektiert, davon zeugt seine Buber-Rezeption, die in der Forschung bereits aufgearbeitet und als Indiz für die Konvergenz von Ethik und Erinnerung in der Lyrik Bobrowski diskutiert wurde.4 Diese selbstgesetzte Aufgabe Bobrowskis bringt freilich die Schwierigkeit mit sich, die Stimme der ‚Anderen‘ angesichts der Machtasymmetrien überhaupt als solche auszumachen und gelten zu lassen – ein Problem, das in der postkolonialen Anerkennungsforschung oft diagnostiziert wurde, und das damit einhergeht, dass sich das Begehren der Unterworfenen notgedrungen auf Anerkennung nach den Maßstäben und in der Sprache der hegemonial Überlegenen richtet. Bobrowski versucht in seinen Gedichten der frühen 1960er Jahre imaginäre Kollektivsubjekte zu entwerfen, deren Perspektive er poetisch rekon2 Beljan, Daniela: Goll-Affäre. In: Lexikon der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ in Deutschland. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Hrsg. v. Matthias N. Lorenz/Torben Fischer. Bielefeld: Transcript 2014, S. 120–122, hier S. 121. 3 Vgl. dazu Patrut, Iulia-Karin: Wissen und Selbstentwurf. Das ‚unmarkierte Deutsche‘ im Europa des langen 19. Jahrhunderts. In: Postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahmen und theoretische Perspektiven. Hrsg. von Axel Dunker/Gabriele Dürbeck: Bielefeld: Aisthesis 2014, S. 223–270 (Postkoloniale Studien in der Germanistik Band 5). 4 Siehe dazu übergreifend Egger, Sabine: Martin Bubers Ethik und die Ästhetik der Erinnerung in der sarmatischen Lyrik. In: Zeit aus Schweigen. Johannes Bobrowski – Leben und Werk. Hrsg. von Andreas Degen/Thomas Taterka. München: Martin Meidenbauer 2009, S. 381–392. (Colloquia Baltica 15).

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struiert; die Gedichte evozieren Stimmen alter Völker, die es bereits seit Jahrhunderten nicht mehr gibt, und zielen darauf, diesen nachträglich zu Geltung und Anerkennung zu verhelfen. Dem Selbstverständnis Bobrowskis nach sollten die Bände „Sarmatische Zeit“ (1961) und „Schattenland Ströme“ (1962) eine kritische Selbstreflexion des ‚Deutschen‘ leisten, als eine Konsequenz aus dem Zweiten Weltkrieg die Schuld gegenüber dem ‚europäischen Osten‘ thematisieren und all dem, was dort zerstört und zum Schweigen gebracht wurde, eine Stimme verleihen. Die Gefahren dieses Programms – von der Kontrolle und ‚Zähmung‘ des ‚Anderen‘ über die Festschreibung der Grenzziehung bis hin zur Überschreibung derer, die versuchen, sich als (lebende) Subjekte der Anerkennung zu artikulieren, liegen auf der Hand.5 Der bei Walther Harich, einem 1888 in Mohrungen geborenen Germanisten und Schriftsteller, aufgegriffene Begriff Sarmatien – schon in der Antike der Name für das östliche Europa zwischen Ostsee und Schwarzem Meer – evoziert eine vorzivilisatorische Welt, die schon dem antiken Rom als barbarisch galt, eine Welt, die sich östlich der Weichsel bis nach Russland auf dem heutigen Gebiet Osteuropas erstreckt. Hier verläuft die Zeit angeblich nicht linear, sondern zyklisch, Begriffe besitzen scheinbar keine zuverlässige Bezeichnungsfunktion, und die Individuation hat noch nicht stattgefunden, kollektive Befindlichkeit steht anstelle personaler Identität. Es ist sicher richtig, dass Bobrowski mit seinen Bildern aus Sarmatien einem deutschen Lesepublikum seine eigenen Deformationen – auch als Symptome von (Über-) Zivilisation und Distinktion – vorführen wollte. Es ist aber das Lesepublikum der Bundesrepublik und der DDR, das hier das ‚deutsche Erbe‘ antreten soll, kein jüdisches und auch kein osteuropäisches. Bevor weiter unten solche Darstellungsweisen detaillierter diskutiert werden, sei hier auf Paul Celans Poetik der östlich-jüdischen Liminalität eingegangen, denn bereits die – aus Bobrowskis Sicht verständliche – Konstruktion des oben umrissenen imaginären Adressatenkreis stimmt nicht überein mit Celans Auffassung einer gesamteuropäischen und transreligiösen ‚deutschen‘ Leserschaft. Die Juden Osteuropas hatten angesichts der k.u.k.-Vergangenheit sowie des Gebrauchs des Deutschen und Jiddischen als Muttersprachen einiges Recht, sich ebenfalls als ‚Deutsche‘ zu betrachten; selbst der einer sefardischen Familie angehörende Publizist, Schriftsteller und Büchner-Entdecker Karl Emil Franzos betonte diese Zugehörigkeit. Das ‚Fremdmachen‘, die Überbetonung von Differenz, läuft Gefahr, einen gut 5 Franz Fanons „Schwarze Haut, weiße Masken“ aus dem Jahr 1952 theoretisiert diese Dynamik und ihre Fallstricke zuerst. Für die Literatur ist sie aber keineswegs Neuland, spätestens seit Novalis mit der Figur Zulimas in „Heinrich von Ofterdingen“ und Kleists Toni in „Die Verlobung von Santo Domingo“ entsteht eine regelrechte Tradition literarischer Versuche, den zu Anderen Gemachten eine Stimme zu verleihen oder offen zu legen, wie sie am Sprechen gehindert werden. – Es kann selbstverständlich nicht Ziel dieses Beitrags sein, eine Gesamtevaluation der Lyrik Bobrowskis in dieser Hinsicht vorzunehmen.

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gemeinten, ‚toleranten‘ Duktus nach sich zu ziehen, der die Angesprochenen erst recht befremden kann: „Kommt, Juden,/ slavische Völker, kommt,/ ihr anderen, kommt// […]“6. Als Nicht-Deutscher angesprochen zu werden, war für Celan – wie für viele Menschen mit jüdisch-osteuropäischer Biographie – schlicht inakzeptabel, gerade wenn sie sich selbst nach dem Nationalsozialismus noch zu ihrer Muttersprache bekannten. In seiner Büchner-Preisrede „Der Meridian“ (1960) sprach Celan davon, dass Dichtung nach 1945 als ‚Toposforschung im Lichte der U-Topie‘ aufzufassen sei, d. h., dass Dichtung, wenn sie ernst genommen werden möchte, nicht umhin käme, imaginäre Landkarten Europas zu dekonstruieren und dabei zu rekonstruieren, welche deutsch-jüdischen Genealogien, aber auch Gewaltmomente in sie eingelagert wurden und einen Beitrag dazu leisteten, dass ein Verbrechen wie jenes des Zweiten Weltkriegs möglich wurde. Die ‚Anonymisierung‘ jüdischer Kulturleistungen (wie sie Celan am Beispiel von Heinrich Heine beklagt) und die weitgehende ‚Anonymisierung‘ deutsch-jüdischer Stimmen aus der Bukowina, Galiziens und des restlichen Osteuropas trugen sicherlich dazu bei, dass die Menschen, die in diesen Gebieten lebten und schrieben, aus der imaginären Subjekt-Position Europas – und insbesondere des ‚Deutschen‘ – ausgeblendet wurden. Der mystische Anklang des Namens ‚Sarmatien‘, der auf realen Karten Osteuropas nicht zu finden ist, passt in dieses Bild: Sarmatien ist ein Refugium ‚deutscher‘ Phantasien, ein realen Zeit-Raum-Verhältnissen entrückter, exotisch-rückständiger Experimentierraum. Gegen derartige Vorstellungen schreibt Celan an, indem er immer wieder osteuropäische Personennamen erwähnt – etwa Moses Rosenkranz, Rose Ausländer und Alfred Margul-Sperber, oder allein in der „Meridian“-Rede Karl Emil Franzos sowie den führenden Theoretiker des Anarchismus, Peter Kropotkin. In einem Brief an Alfred Margul-Sperber beklagte Celan, dass aufgrund eines fehlenden Anerkennungswillens für die deutsch-jüdische Literatur (und für jene aus Osteuropa im Besonderen), alles, was diese Schriftstellerinnen und Schriftsteller verfassten, gleichsam zur ‚Wiederverwertung‘ freigegeben würde.7 Es geht ihm dabei darum, dass ein Dialog, 6 Zwar geht es im weiteren Gedichtverlauf darum, von diesen „Gequälten“ zu lernen – aber sie bleiben ‚Andere‘ und sind den ‚slawischen Völkern‘ gleichgesetzt. 7 Die hier und im Folgenden erwähnten Briefe sandte Celan von Frankreich aus nach Bukarest, der damals staatssozialistischen und unter sowjetischer Besatzung befindlichen Hauptstadt Rumäniens. Adressaten der Briefe sind Alfred Margul Sperber und Petre Solomon. Nach dem Tod Alfred Margul-Sperbers 1967 gelangten die an diesen bedeutenden Mäzen deutsch-jüdischer Literatur aus Osteuropa und persönlichen Förderer Celans gerichteten Schreiben in das Archiv des Museums für rumänische Literatur in Bukarest. Petre Solomon war ein rumänischjüdischer Schriftsteller und Freund Celans, mit dem Celan bis in die 1960er Jahre in Kontakt blieb, und der nach einem Palästina-Aufenthalt nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Bukarest lebte, wo auch Celan sich von 1945 bis 1947 aufhielt. Solomon gab die an ihn wie auch die an Margul-Sperber gerichteten Briefe Celans 1987 – noch während des Staatssozialismus heraus.

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ausgehend von konkreten Anhaltspunkten, zustande kommt – auch daher der Verweis auf Buber, der nicht nur mit seinen Bemühungen um die Bekanntmachung jüdischer Überlieferungen aus dem Osten, sondern auch als Philosoph des Dialogischen bekannt wurde. „[…] die Landschaft, aus der ich zu Ihnen komme, dürfte den meisten von Ihnen unbekannt sein. Es ist die Landschaft, in der ein nicht unbeträchtlicher Teil jener chassidischen Geschichten zu Hause war, die Martin Buber uns allen auf deutsch wiedererzählt hat.“8

Celan geht es in der Bremer Literaturpreisrede darum, ost-westeuropäische Transfers anzusprechen, die zu ‚Europa‘ gehören und es mitgeprägt haben: Die teils mündlichen chassidischen Überlieferungen des europäischen Ostens brachte Buber schon vor dem Zweiten Weltkrieg einer breiten Leserschaft im westlichen Europa nah – einer Leserschaft, die Celan nun in einer europäischen Perspektive denkt, nicht mehr durch die Ost-West-Zäsur getrennt, und für die selbst die Unterscheidung von jiddischem und nicht-jiddischem Kulturkreis keine grundsätzliche Bedeutung hat. Die Formulierung ‚uns allen‘ schließt offenbar alle, die des Deutschen mächtig sind, ein. Am folgenden Satz sind abermals die angezeigten Richtungen und Bezüge besonders markant: „Es war, wenn ich diese topographische Skizze noch um einiges ergänzen darf, das mir, von sehr weit her, jetzt vor Augen tritt, – es war eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten. Dort, in dieser nun der Geschichtslosigkeit anheimgefallenen ehemaligen Provinz der Habsburgermonarchie, kam zum erstenmal der Name Rudolf Alexander Schröders auf mich zu: beim Lesen von Rudolf Borchardts ‚Ode mit dem Granatapfel‘. Und dort gewann Bremen auch so Umriß für mich: in der Gestalt der Veröffentlichungen der ‚Bremer Presse‘.“9

Der Ausgewanderte, der Geflüchtete, erinnert unwillkürlich die ‚Menschen und Bücher‘ einer Landschaft, die für das gerade angesprochene inklusive ‚Wir‘ weit entfernt, ja entlegen sind, und macht abermals auf einen Transfer aufmerksam, nämlich auf die Präsenz Bremens und Rudolf Alexander Schröders, vermittelt über Rudolf Borchardts „Ode mit dem Granatapfel“ in der Bukowina – in dieser, wie es sicherlich nicht ohne ein Fünkchen Ironie heißt, „nun der Geschichtslosigkeit anheimgefallenen ehemaligen Provinz der Habsburgermonarchie“. Literatur- und Publikationsbetrieb – es folgt ein Hinweis auf die „Bremer Presse“ – Vgl. hier den Brief von Paul Celan an Alfred Margul-Sperber, Paris, 8. Februar 1962. In: Paul Celan. Dimensiunea româneasca. Hrsg. von Petre Solomon. Bukarest: Kriterion 1987, S. 261– 263, hier S. 262. 8 Celan, Paul: Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen. In: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Beda Allemann/Stefan Reichert. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983. Bd. 3, S. 185–186, hier S. 185. 9 Ebd.

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erreichen im 20. Jahrhundert längst eine deutschsprachige europäische Leserschaft, so kann man diese Zeilen auffassen, und zwar sowohl indem sie sich mit Darstellungen aus dem östlichen Europa an das Publikum im deutschen ‚Kernterritorium‘ wenden, als auch umgekehrt, indem etwa Leserinnen und Leser – wie Celan selbst – in Czernowitz unter anderem auch die „Bremer Presse“ lesen. Der ‚Geschichtslosigkeit‘ ist die Bukowina nur insofern anheimgefallen, als der Literatur- und Kulturbetrieb meint, von der Geschichte und Gegenwart dieser (wenn auch durch die damaligen politischen Verhältnisse erschwerten) produktiven Transfers absehen zu müssen, weil die Gebiete, die nicht einmal mehr unter die Hoheit der Habsburger Monarchie fallen, für die ‚deutsche‘ Kultur vermeintlich irrelevant geworden sind. Celan macht hier sehr früh aufmerksam auf die Gefahren, die aus einer Auffassung resultieren, die immer noch an der Vorstellung festhält, Dichtung in deutscher Sprache leiste einen Beitrag zur positivierbaren Identität eines Kollektivs, das sich im Gegensatz zu jenen definiert, die außerhalb der Grenzen des oder der deutschen bzw. österreichischen Staaten leben. So berechtigt die Skepsis gegenüber deutschem Imperialismus im europäischen Osten sein mag – die Neukonzeptualisierung der deutschsprachigen Literaturgeschichte im Lichte ost-west-europäischer Transfers, die Paul Celan hier bereits anvisiert, zielt geradezu in die Gegenrichtung. Kurzum: Der Umstand, dass Celan die in einem wichtigen Nachsatz erwähnten ‚Menschen und Bücher‘, die – im Imperfekt – in der Landschaft der Bukowina ‚lebten‘, anonym bleiben lässt, dürfte als Hinweis auf ihre Ausblendung zu verstehen sein. Sie werden aus dem Selbstverständnis des ‚deutschen‘ Literatur- und Kulturbetrieb exkludiert. Auch einige Gedichte Bobrowskis, insbesondere jene späteren Texte, die menschen- und geschichtslose Landschaften in eindrucksvoller Weise evozieren, streichen die oben angesprochene Exklusion östlicher Kulturleistungen aus dem durchschnittlichen europäischen Wahrnehmungshorizont heraus und können so gedeutet werden, dass sie diese in kritischem Impetus offen legen. Schließlich geht es in den sarmatischen Gedichten insgesamt um die Auseinandersetzung mit gewaltsamer Tilgung und Zwangsassimilation der früheren Einheimischen. Es bestehen aber drei wichtige Unterschiede zur Poetik Celans: Erstens werden Bobrowskis Gedichte von der Annahme getragen, ‚Volk‘ und Religion seien nach wie vor kollektive identitätsstiftende Kategorien, zweitens lässt die Entscheidung, verschwundene Völker als imaginäre Subjekte der Anerkennung zu wählen, den Schluss zu, dass in der Gegenwart gar keine möglichen Dialogpartner mehr existierten, und drittens führt genau dies zu einer ‚germanisch‘ anmutenden Hypostase des schuldbehafteten Zerstörers, der aus dieser Rolle keinen Ausweg mehr findet. Celans Zielrichtung – die Anerkennung der Menschen und Bücher aus dem Osten, einschließlich des Gedenkens der Toten – und seine ‚Eingangsdiagnose‘ – dass beides aus (diskurs-)historischen Gründen nicht ausreichend

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erfolgt ist – gleichen sogar jenen Bobrowskis oder ähneln ihnen zumindest. Die Poetiken der beiden Nachkriegslyriker unterscheiden sich aber erheblich, und hierfür können wiederum zwei zentrale Unterschiede benannt werden: Die Auffassung der Sprache und die Vorstellung von der Art, wie Gedichte Gesellschaft oder Einzelne transformieren können und sollen. Für Celan kann es keine ‚authentische‘ Dichtung mehr geben, die nach der Zäsur des Holocaust nicht auch die Sprache (und d. h. jedes Wort) anders auffasst, und zwar im Lichte jener Gewalt, die sie zuvor als sinnhaftes Gebilde kommunizieren konnte; erst durch diese ihr eingeschriebene Gewalt hindurch könnte die Sprache der Dichtung wieder Möglichkeitsräume entwerfen, Reflektionen der Vergangenheit leisten oder auch das Nicht-Verfügbare als solches markieren. Celan streicht diese Überzeugung auch in seiner „Meridian“-Preisrede heraus, indem er darauf hinweist, dass Kunst über die Sprache immer auch einen Anteil an techné besäße – das gesellschaftlich Gemachte und der Diskurs, der die Gewalt enthält, sind immer schon in der Kunst anwesend; und zudem darauf, dass just aus diesem Grund die Kunst Gefahr laufe, gerade wenn sie sich allzu mimetisch gibt, zum ‚Medusenhaupt‘ zu werden, also zu einem mortifizierenden Spiegel, der die vorhandene Gewalt in Stein meißelt. Deshalb bedürfe es der ‚Gegenworte‘ in der Kunst, nicht etwa im Sinne politischer Losungen, sondern im Sinne von Zeichen, Akzenten oder Signalen, welche die der Sprache eingeschriebenen Hypostasen von Gewalt durchbrechen und konterkarieren. Erst dadurch könne Dichtung ein Anderes werden und eigene Authentizität gewinnen. Diese Auffassung von der Sprache der Dichtung teilte Bobrowski nicht; vielmehr ging er davon aus, dass es eine sinnliche, Evokationskraft der Sprache gebe, die ihm fähig schien, heilsame Bilder zu entwerfen. ‚Heilsam‘ sind bei Bobrowski gerade jene Sprach-Bilder, die Landschaften entwerfen, so etwa in dem Gedicht „Sprache“, in dem die Sprache des Gedichts zunächst eine Kraftprobe besteht, indem sie eindrucksvoll zuerst einen Baum, dann Steine in einer majestätischen Umgebung zeichnet, um sie dann, im Kontrast zu der gerade vollbrachten Leistung bescheiden und bedrängt wirkend, einem ‚Du‘ (dem ‚Haus des Nachbarn‘) entgegen zu schicken. Das Zuhalten auf ein Gegenüber – und sogar die Erkenntnis, dass dies im Falle Nachkriegsdeutschlands in erster Linie im Osten des Kontinents zu suchen ist, ist beiden Dichtern gemeinsam. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie von einem transformatorischen Potential der Lyrik in Bezug auf Individuum und Gesellschaft ausgehen. Allerdings zielen Bobrowskis Gedichte in der Regel recht bescheiden auf selbstkritisches Schuldeingeständnis imaginärer Adressaten, die als ‚deutsche Christen‘ konstruiert werden ( jüdische Gestalten sind in den Gedichten als ‚Andere‘ markiert, so etwa in „Holunderblüte“, wo Isaak als Einzelner dem Kollektiv, den ‚Leuten‘, gegenübersteht, die wegen ihrer ‚Vergesslichkeit‘

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gerügt werden).10 In der Forschung wurde bereits zwischen anonym und persönlich adressierten Gedichten mit jüdischen Figuren unterschieden: Während „An den Chassid Barkan“, „Auf den jüdischen Händler A.S.“, „Die Spur im Sand“, oder „Die Daubas II“ und auch „Kaunas 1941“ nicht auf identifizierbare Personen anspielen, thematisieren „Die Heimat des Malers Chagall“ oder „Bericht“ jüdische Persönlichkeiten und wirken der Anonymisierungs-Tendenz entgegen.11 Positiv zeichnen sich insbesondere die Else Laser-Schüler und Gertrud Kolmar gewidmeten Gedichte ab. Celans Poetik steckt die Ziele lyrischtransformatorischer Kraft aber noch sehr viel höher: Gedichte sollen letztlich – vermittelt über die gemeinsame Ablehnung von Gewalt – Grenzziehungen hinterfragen und vor allem den Begriff des ‚Deutschen‘ dergestalt transformieren, dass er Jüdisches nicht mehr exkludiert. Genau diese Gleichsetzung des ‚Deutschen‘ mit dem ‚Christlichen‘ (und mit der ‚Täter‘-Seite) unterläuft Bobrowski aber selbst dort, wo er seine Diskursposition in Bezug auf Osteuropa und das Jüdische zu reflektieren versucht: „Wenn ichs nicht sage, ist wieder einer weniger, der es den Deutschen, also meinen Leuten, vor Augen stellt.“12 Zu ‚seinen Leuten‘, ‚den Deutschen‘, gehören ein Paul Celan oder eine Rose Ausländer nicht, und damit wird eine diskursive Gewalt und Exklusion generierende Grenzziehung reinstauriert, die zu revidieren in der Nachkriegszeit doch eigentlich das Gebot der Stunde war. Bobrowskis gute Absichten stehen sicher außer Frage, er will sich Zustimmung bei „den Betroffenen“ einholen – er reproduziert aber exkludierende Identitätsentwürfe des ‚Deutschen‘. Celan kommt auch auf ost-westeuropäische Machtasymmetrien zu sprechen – auf jene Form struktureller Gewalt, die mitbedingt, dass die angesprochenen Transfers ohne Weiteres ausgeblendet werden konnten; Machtasymmetrien sind auf Grenzziehungen angewiesen, an die sich Prozesse literarischer Produktion und Rezeption nicht halten müssen – das zeigen Celans Beispiele – aber eben halten können, darauf deuten die im Schatten der Anonymität belassenen 10 Andreas Degen diskutiert weitere Gedichte, in denen sich Bobrowskis lyrisches Ich mit einer ‚jüdischen‘ Position identifiziert und zeichnet eine Entwicklung bis hin zum Spätwerk nach, in dem jüdische Figuren in der dritten Person angesprochen werden. Vgl. Degen, Andreas: Bildgedächtnis. Zur poetischen Funktion der Sinneswahrnehmung im Werk Johannes Bobrowskis. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2004, insbesondere das Kapitel „Historisches Figurenschema von Täter und Opfer“, S. 361–373. Problematisch dürfte für Celan aber weniger die Annäherung an ‚Jüdisches‘ gewesen sein, als die Vorstellung von Differenz zwischen ‚Jüdischem‘ und ‚Deutschem‘, die bei Bobrowski mitschwingt, verbunden mit einem (natürlich wohlgemeinten) Angebot der ‚Toleranz‘ oder des ‚friedlichen Miteinanders‘, das auf eben diesen Differenzzuschreibungen basiert. 11 Wieczorek, John P.: „Ein Wunder aller Wunder“. Johannes Bobrowskis Sarmatian Poems to Jews. In: Jews in German Literature Since 1945: German-Jewish Literature? Hrsg. v. Pól Ó Dochartaigh. Amsterdam/Atlanta: Rodopi 2000, S. 367–378. 12 So Bobrowski in einem Brief an Christoph Meckel am 12. 8. 1960, hier zitiert nach Degen, Bildgedächtnis. 2004, S. 365.

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‚Menschen und Bücher‘. Indem Celan darauf hinweist, dass für ihn und die mit ihm verkehrenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Czernowitz Bremen als physischer Ort unerreichbar war (obwohl mediale Artefakte rege zirkulierten), während Wien als mit Mühe erreichbares Zentrum galt, ja – wiederum aussagekräftig – erreicht werden musste, markiert er ost-westliche Asymmetrien mehr als deutlich. Die normative Formulierung legt offen, dass Celan alles andere als naiv im Hinblick auf Machtverhältnisse war, vielmehr die Sogwirkung, die europäische Zentren wie Wien entfaltet hatten, sorgfältig registrierte. Dieses Diktat – Zentren wie Wien erreichen zu müssen – dürfte ihn mit dazu bewogen haben, bereits vor dem Zweiten Weltkrieg ein (bei Kriegsbeginn abgebrochenes) Studium in Paris anzutreten, nach der Befreiung aus dem Arbeitslager erst nach Bukarest, dann nach Wien und schließlich nach Paris zu gehen. Die Bewegung des Dichters im europäischen Raum, quer über Sprach- und Staatengrenzen und auch über die gesellschaftliche Systemgrenze (zwischen Staatssozialismus und demokratischem Kapitalismus) hinweg, ist einerseits konsequent vor dem Hintergrund der von Celan umrissenen Tradition freier ost-west-europäischer literarischer Transfers, andererseits wiederum insofern nicht ganz frei, als sie sich als Flucht vor einem zunehmend übergriffig werdenden Staat versteht, und gleichzeitig auch als ein Aufsuchen von Zentren, deren Sogwirkung Einzelne wenig entgegensetzen können. Diese Zentren befinden sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht im Osten, sondern im Westen des Kontinents. Aus diesen Gründen ist Celan so vorsichtig, aber auch so weitsichtig und präzise, wenn er in seiner ersten bedeutsamen Preisrede über ‚Topographien‘ spricht – über Raumwissen und Raumentwürfe, aber auch über Amnesien, Projektionen und blinde Flecken als symbolische Raumordnungsmerkmale, die insbesondere den Osten des Kontinents betreffen. Celan entwirft ein Bild vom Osten Europas als liminalem Raum – marginalisiert, aber zugleich den Grenz-Raum als einen innovationsaffinen Ort der Kommunikation und des Transfers. Ein Raum, von dem aus Zentren zu erreichen sind, erreicht werden müssen, und ein Raum, der davon bedroht ist, in den Kommunikationszentren im Westen des Kontinents dem Schweigen, dem Vergessen und damit der imaginären Geschichts- und Kulturlosigkeit anheim zu fallen. Stringent gedacht, spricht aus diesen Überlegungen bereits die Angst vor der symbolischen Auslöschung, die von der auf den osteuropäischen Raum bezogenen Amnesie auf den Dichter selbst übergreifen könnte. Dieser Gedankengang findet sich in späteren Briefen Celans – am prominentesten an Alfred Margul-Sperber, der Bukarester Mäzen der deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der Bukowina, der bereits vor dem Zweiten Weltkrieg mit der Zusammenstellung der

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Anthologie „Die Buche. Eine Anthologie deutschsprachiger Judendichtung aus der Bukowina“13 begonnen hatte, um genau dieser Gefahr entgegen zu wirken. „Aber Bremen, nähergebracht durch Bücher und die Namen derer, die Bücher schrieben und Bücher herausgaben, behielt den Klang des Unerreichbaren. Das Erreichbare, fern genug, das zu Erreichende hieß Wien. Sie wissen, wie es dann durch Jahre auch um diese Erreichbarkeit bestellt war. Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache. Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem.“14

‚Erreichbarkeit‘ zielt auf Bewegung – auf Reisen, Transfers, grenzüberschreitende Produktions- und Rezeptionsprozesse; und tatsächlich definiert Celan das, was die Sprache und Dichtung nach dem Hindurchgehen ‚durch die tausend Finsternisse todbringender Rede‘ leisten kann, als ‚Bewegung‘: „Es war, Sie sehen es, Ereignis, Bewegung, Unterwegssein, es war der Versuch, Richtung zu gewinnen“. Der Satz versteht sich als Explikation des eigenen Schreibens und der eigenen Persona. „Gedichte zu schreiben“, „um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen“15 – die Selbstaussage fasst das Schreiben auf als eine Folge von Bewegungen im Raum, als einen Prozess der Transmigration und der Grenzüberschreitung in Permanenz, in imaginären wie in realen Geographien, und schließlich als Transformationen der ‚Wirklichkeit‘ Europas, ausgehend von diesen Transgressionen. Auch die berühmt gewordene Formulierung von der ‚Toposforschung im Lichte der U-topie‘ als Funktionsmodus der Dichtung, die dann einen Meridian im Sinne einer neuen – stets transgressiven – Koordinate vergangener und zukünftiger literarischer Begegnungen (durch Rezeption und Intertextualität) entwerfen kann. Mit dieser Konzeption einer Poetik des Liminalen und des Grenzüberschreitenden in ost-west-europäischer Perspektive war Celan sicherlich in vielerlei Hinsicht seiner Zeit voraus. Briefe, die er von Paris und vom Ferienhaus in Moisville aus insbesondere an die Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der Bukowina und aus Bukarest schickte, zeugen von der häufig wiederholten Erfahrung, in wesentlichen Punkten missverstanden worden zu sein. Besonders eindrucksvoll ist der von schierer Verzweiflung zeugende Brief an Alfred MargulSperber vom 8. Februar 1962, in dem Celan Versatzstücke aus zeitgenössischen Rezensionen seiner Gedichte zitiert und so arrangiert, dass sie auf die Tilgung der Bukowina von der Landkarte Europas und die Auslöschung seiner Person zielen. Celan hegt zum einen die berechtigte Sorge, dass personelle Kontinuitäten seit 13 Aus dem Nachlass wurde die Anthologie unter ihrem ursprünglichen Titel erst 2009 von George Gutu, Peter Motzan und Stefan Sienerth herausgegeben. 14 Celan, Ansprache, 1983, S. 185. 15 Ebd., S. 186.

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dem Nationalsozialismus den Fortbestand antisemitischer künstlerischer Werturteile bewirken würden – oftmals unter der Tarnung des Philosemitismus: „Die Herren Goebbels-Mitarbeiter schreiben heute nicht mehr im „Reich“ – sie sitzen u. a. in der Kölner ‚Germania Judaica‘ (so Herr Prof. Dr. Heselhaus) [Hervorhebung im Original – I.P.].“16 Literaturkritiker wie H. E. Holthusen und Curt Hohoff, die bereits im Nationalsozialismus aktiv waren, prägten das Klima der Feuilletons so, dass gerade das Moment der neuen (und europäischen) Welt- und Wirklichkeitsentwürfe in den Gedichten Celans zugunsten einer (vermeintlichen) Suche nach Metaphysischem in seinen Gedichten weitgehend unbeachtet blieb. Darauf machte Celan selbst immer wieder aufmerksam. Doch neben der Tendenz, die Auseinandersetzung mit der Shoah und die Notwendigkeit der grundlegenden Transformation deutschsprachiger Lyrik zu leugnen, ist auffällig, wie wenig Beachtung die Bukowina erfuhr. Auch dies kommunizierte Celan ausführlich: Er sei für Teile des Literaturbetriebs ein „herkunftsloser Steppenwolf“,17 stamme aus einem „Niemandsland“ und dergleichen. In diesem Kontext ist Celans Versuch zu sehen, dieser Negation kultureller Relevanz seiner Heimat entgegenzuwirken, indem er seine Bremer Preisrede mit dem berühmt gewordenen Satz begann: „Die Landschaft, aus der ich […] zu ihnen komme, dürfte den meisten von ihnen unbekannt sein […] es war eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten“18, um dann auf die angebliche Geschichtslosigkeit einzugehen. Dass es Celan um Anerkennung ging, die einzelnen Schriftstellerinnen und Schriftstellern zuteilwerden sollte, daneben auch den deutsch- und mehrsprachigen Kulturen Osteuropas insgesamt, wird besonders deutlich, wenn man sich die empörten Zeilen Celans an Margul-Sperber vor Augen führt. Celan beklagt in einem Brief an seinen Freund und ehemaligen Förderer Invisibilisierungsmechanismen im bundesdeutschen Literaturbetrieb: „Ich bin ebenfalls – wörtlich, lieber Alfred Margul-Sperber! der, den es nicht gibt“19 – so, wie es auch die Menschen und Bücher aus dem Buchenland, der Bukowina, namentlich nicht gebe. Dieser Vorwurf richtet sich durchaus auch gegen Johannes Bobrowski, der gerade in frühen Gedichten den kulturellen Raum Sarmatiens besingt, ohne ihn als Kulturraum zu porträtieren, in dem ein dialogisches Verhältnis mit einem als gleichwertig imaginierten Gegenüber möglich wäre. In Bobrowskis frühen Gedichten ist Sarmatien Heimat einer imponierenden, allerdings unkultivierten Urbevölkerung, der Pruzzen, die als ‚Primitive‘ und ‚edle Wilde‘ von den kulturell überlegenen Germanen ausgelöscht und assimiliert werden oder aber eine be16 17 18 19

Celan, Brief vom 8. Februar 1962. 1987, S. 262. Ebd. Celan, Paul: Der Meridian und andere Prosa. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 37. Celan, Brief vom 8. Februar 1962. 1987, S. 262.

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eindruckende menschenleere Landschaft, die die eigene (deutsch-christlich gedachte) Heimatlosigkeit aufgreift und zur Selbstreflexion auffordert.20 Bobrowski entwirft Landschaftsbilder Sarmatiens wie das Folgende: „Dort sind alle Gesänge ohne End, im geringsten Ding steht Gefahr, vieldeutig, – nicht zu halten mit dem und jenem Namen: Gefilde, Moor, eine Schlucht; wie Verhängnis schlägt sie hinab, bleibt, gemieden, – dort um die niederen Hügel fliehn die Pfade davon. Worte gelten nicht. Aber ein Streicheln, Grüße, Blitz unterm dunkelnden Lid und in der Brust jenes Ziehn; noch als Umarmung stärker.“21

Dieses Gedicht aus dem Nachlass ist symptomatisch für all das, was sich für Bobrowski mit ‚Sarmatien‘ verbindet. Aus dieser Landschaft fehlen die Bücher; ihre Bewohner halten sich eher an ein mystisch aufgeladenes Gerechtigkeitsgefühl als an das gesprochene Wort; von Schriftlichkeit und Autorschaft ist gar keine Rede; die ‚Gesänge‘ Sarmatiens sind für Bobrowski per definitionem anonym. Statt einer geschichtlichen Zeit, in der historisches Versagen angesprochen werden könnte, instauriert Bobrowski im europäischen Osten eine zyklische, nicht messbare und als unendlich wahrgenommene Zeit. Die ‚Gefahr‘ ist weder menschengemacht, noch wird sie von den Bewohnern rational empfunden; vielmehr vermuten sie das Bedrohliche, offenbar in animistischem Glauben behaftet, überall. Dazu passt, dass Bobrowskis Sarmatier noch nicht einmal begriffliches Denken entwickelt haben, selbst Gefilde, Moor und Schlucht sind in ihren Augen vieldeutige Bilder, die von geheimnisvollen Kräften bewohnt und regiert werden. Die späteren Gedichte Bobrowskis verzichten auf die Darstellung der Einwohner Sarmatiens, allerdings kann auch hier gefragt werden, ob die menschenleeren, melancholischen Landschaften im Osten nicht der Selbstreflexion einer kollektiven Subjektposition dienen, die als christlich und westeuropäisch markiert ist. 20 Vgl. dazu die sehr einfühlsame Lektüre Joachimsthaler, Jürgen: „Litauische Lieder“. Bobrowskis lyrischer Verzicht auf die Welt seiner Lyrik. In: Zeit aus Schweigen. Johannes Bobrowski – Leben und Werk. Hrsg. von Andreas Degen/Thomas Taterka. München: Martin Meidenbauer 2009, S. 171–185 (Colloquia Baltica 15). 21 Bobrowski, Johannes: Im Windgesträuch. Gedichte aus dem Nachlass. Berlin: Union 1977, S. 31.

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Dass ein Paul Celan solche Bilder in jeder Hinsicht nur als deplatziert empfinden konnte, bedarf keiner weiteren Begründung. Peter Jokostras Versuche, ein (briefliches) Gespräch zwischen Bobrowski und Celan zu moderieren, vergrößerten die Gegensätze zwischen beiden lediglich, wobei sich Bobrowski zum Schluss um Annäherung bemühte;22 Bobrowskis acht Gedichte im Band „Tau im Drahtgeflecht. Philosemitische Lyrik nichtjüdischer Autoren“, die 1961 erschienen, verstärkten ihrerseits Celans Befürchtung, unter dem Deckmantel des Philosemitismus werde in Wahrheit eine alte-neue Diskurshoheit etabliert, in der Jüdisches und Osteuropäisches abermals einer eigenen Stimme beraubt werde. Deshalb beklagte Celan Margul-Sperber gegenüber auch, es gebe neuerdings überall ‚Philosemiten‘, aber schier nirgendwo ‚einen Menschen‘. Die Menschlichkeit hätte es in Celans Augen geboten, sich mit dem Gegenüber (sei es auch jüdisch bzw. osteuropäisch) auf Augenhöhe auszutauschen. Die Darstellung der Osteuropäer als begriffs- und reflexionsstutzige ‚Sarmatier‘ konnte er nur ablehnen. Bobrowskis Vorstellung reproduziert die koloniale Perspektive der Römer, die in den Sarmatiern Barbaren sahen, denen man in keinerlei Hinsicht Reziprozität schuldete. Dass Bobrowski die ‚Sarmatier‘ zugleich exotisiert und mystisch überhöht, macht die Sache kaum besser. Zu alldem passt, dass sich Bobrowski in einem Bewerbungsbrief an die „Akzente“ 1954, in dem er um Veröffentlichung einiger seiner Gedichte bittet, ohne jegliche Distanzierung auf seine früheren Publikationen im „Inneren Reich“ während des Zweiten Weltkriegs beruft; ebenso, dass Bobrowski 1959 über Paul Celan schreibt: „Noch einmal, Celan ist nichts, bestenfalls eine Parfümfabrik, die jetzt Juchten liefert und früher Veilchen.“23

Sicher ist diese Äußerung Bobrowskis gleichsam im Affekt formuliert, als Kritik an einem Vers Celans, der an das rührte, was Bobrowski am heiligsten war, die sinnlich-bildhafte Kraft der Sprache, ungetrübt von Geschichte und Gewalt. In diesem Vers aus „Nächtlich geschürzt“ im Band „Von Schwelle zu Schwelle“ setzt Celan ‚ein Wort‘ mit ‚eine Leiche‘ gleich und trübt damit die Sprache programmatisch ein: Die Gedichte können gerade nach 1945 nur dann in einer überzeugenden, ‚authentischen‘ Weise lebenszugewandt sein, wenn sie die historische Fracht, mit der die Sprache – die, wie das Individuum, nie aus der Gesellschaft austreten kann – befrachtet ist, mitreflektieren. An dieser Stelle ist Bobrowski anderer Auffassung, und dazu passt auch, dass beide Dichter sich intensiv mit 22 Die Beziehungsgeschichte kann hier nicht rekonstruiert werden, für einen ersten Überblick siehe den Artikel zu Johannes Bobrowski in: Paul Celan Handbuch. Hrsg. von Markus May/ Peter Goßens/Jürgen Lehmann. Stuttgart: Metzler 2008, S. 324–325. 23 Zitiert nach Reichert, Stefan: Das verschneite Wort. Untersuchungen zur Lyrik Johannes Bobrowskis. Bonn: Bouvier 1989, S. 39.

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Johann Georg Hamann auseinandergesetzt haben, jedoch zu unterschiedlichen Einschätzungen kamen. Celans Insistieren auf der Notwendigkeit der Auseinandersetzung deutschsprachiger Lyrik mit der Shoah – auch und gerade in Osteuropa – ist auch eine Konsequenz der Erfahrung, dass sich viele Schriftsteller mit aller Gewalt und um den Preis der Wiederholung von Abwertung und symbolischer Auslöschung an Schönfärberei versuchten. „Meine Hoffnung ist im OSTEN – dort ist sie, Petrica˘ [Hervorhebungen im Original – I.P.]“,24 schreibt Celan am 22. 03. 1962 an Petre Solomon. Celan entwickelt umgekehrt proportional zu der Erfahrung, dass ‚Östliches‘ in ‚Europa‘ dem ‚Nichts‘ gleichgesetzt wurde, eine Selbstidentifikation als ‚östlicher‘ Dichter. Auch Bobrowski ist durchaus fasziniert von Schriftstellern aus dem Osten Europas, aber sie sind eben nicht alle ‚seine Leute‘: Identifiziert er sich mit dem ‚rein deutschen‘ Christen Johann Georg Hamann25 fast ohne Einschränkungen, ist ihm ein Dostojewski ein Vertreter der russischen, und damit nicht seiner Literatur. Ebenso ist aus seiner Sicht Adam Mickiewicz Vertreter der polnischen Literatur, während Ossip Mandelstam als russisch-jüdischer Dichter für eine gleich zweifach von der seinen verschiedenen Literatur steht. Celans ‚karpatische Fixiertheit‘ meint dagegen eine Selbstverortung in einer interkulturell gedachten Literatur, die mehrsprachig und transreligiös ist. Celan meint jedenfalls einen konkreten literarischen Bezugshorizont, intertextuelle und zwischenmenschliche Begegnungen, mit denen er Offenheit, Mehrsprachigkeit, Experimentierfreude und Solidarität verbindet – alles Werte, die er dort in den Vorkriegsjahren und auch in seiner Bukarester Zeit erfahren haben mag, die jedoch sicherlich nicht ungetrübt vom Gegenteil waren und die vor allem in den 50er und 60er Jahren unter dem etablierten Staatssozialismus wohl kaum lebbar gewesen sein werden. Diese Positivzeichnung Osteuropas lässt sich nur aus der erfahrenen Wucht der ‚Nichtung‘ und ‚Anonymisierung‘ dieses Teils des Kontinents erklären. Es ist aber durchaus sehr beachtenswert, dass Celan sein zentrales poetologisches Konzept, den ‚Meridian‘ – ein Kartierungsinstrument für die Toposforschung im Lichte der U-topie – in seinen Briefen ebenfalls ‚karpatisch zentriert‘, d. h. genau die oben erwähnte Erfahrung zum Ausgangspunkt nimmt. So in der Briefstelle vom 8. 03. 1962 an Petre Solomon: „Ich schreibe […] auch Sperber; auch ihm sage ich–in dieser deutschen Sprache, die auf schmerzliche Weise die meine bleibt – dass ich mich mit meinem Meridian (der mit Deinem, Petrica˘, verwandt ist), genau dort befinde, von wo ich einst ausgegangen bin,

24 Celan, Paul: Brief von Paul Celan an Petre Solomon vom 22. März 1962. In: Paul Celan. Dimensiunea româneasca. Hrsg. von Petre Solomon. Bukarest: Kriterion 1987, S. 219. 25 Auch Hamanns Vorstellung von der (undankbaren) Nähe der Juden zu Gott hat Bobrowski aufgegriffen; sie kann bis ins Mittelalter zurückverfolgt werden und betont die Alterität der Juden.

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(avec, je peux le dire ici, mon vieux coeur de communiste)[Hervorhebung im Original – I.P.]“.26

Mit dem ‚Kommunistenherz‘ dürfte sich Celan vor allem auf die von ihm häufig erwähnten Werte der Solidarität und der Gerechtigkeit beziehen. Vielsagend ist in diesem Zusammenhang auch die Selbstauslegung seines Vornamens Paul, mit der er einen Brief an Margul-Sperber vom 09. 03. 1962 unterzeichnet: „Paul* / *Russkij poët in partibus nemetskich infidelium“.27

Darin ist mehrfach Ironie enthalten: Äquivokation, Nivellierung aller ‚östlicher‘ Identitäten als ‚irgendwie Russisch‘, Verweigerung der Aufarbeitung der Geschichte Osteuropas im 20. Jahrhundert auf deutscher Seite und schließlich der Umstand, dass Celan von Bukarest aus, das damals unter russischer Besatzung stand, nach Westeuropa just vor dem russischen Staatssozialismus und Stalinismus geflohen war. Das alles vermengt sich in der Aneignung der enteigneten Identität, die zugleich umgedeutet wird – im Sinne der Solidarisierung mit jenem Landstrich, dem ‚die untreuen Deutschen‘ die Anerkennung verweigern – trotz der dort weiterhin gepflegten Deutschsprachigkeit. Auf die Nicht-Anerkennung deutschsprachiger östlich-jüdischer Dichter antwortet Celan ebenfalls ironisch mit der fußnotenartigen Erläuterung des Vornamens in einem erfundenen Idiom, das an das ‚Husarenlatein‘ erinnert – ein ‚verdorbenes‘ Latein, das abfällig den Soldaten und niederen Beamten der k.u.k.-Monarchie zugeschrieben wurde. Der Verzicht auf Nennung seines Nachnamens spitzt die Erfahrung der Anonymisierung zu: Er unterzeichnet als ‚ein Dichter‘. Celan nimmt also – allerdings ganz anders als Bobrowski – auf osteuropäische Landschaften Bezug. So beschreibt er sich als einen Menschen und Schriftsteller, der „weit ins Transkarpatische hinausgeführt“28 worden sei, wenngleich er eine karpatische Fixierung empfinde. Die ‚karpatische‘ Conditio geht für Celan mit Deutschsprachigkeit einher: Auch in den teils auf Rumänisch, teils auf Französisch verfassten Briefen an Petre Solomon betont Celan, dass er sich nach wie vor, trotz allem und immer eindeutiger als deutschsprachiger Dichter auffasse. Diese ‚osteuropäische Deutschsprachigkeit‘ aus einem karpatisch-mehrsprachigen Umfeld heraus war auf den imaginären Landkarten vieler seiner Leserinnen und Lesern im Westen schlichtweg kaum zu verorten. Es fehlten grundlegende Kenntnisse über die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, deren Lektüre Celan

26 Celan, Brief 22. März 1962. 1987, S. 219. 27 Brief von Paul Celan an Alfred Margul-Sperber, vom 9. März 1962. In: Paul Celan. Dimensiunea româneasca. Hrsg. von Petre Solomon. Bukarest: Kriterion 1987, hier S. 222. 28 Brief von Paul Celan an Alfred Margul-Sperber vom 12. 09. 1962 In: Solomon, Petre: Paul Celan. Dimensiunea româneasca. Bukarest: Kriterion 1987, S. 271–272, hier S. 271.

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während seiner ersten siebenundzwanzig Lebensjahre und seiner ersten Schreibphasen geprägt hatte. Vor diesem Hintergrund mag es vielleicht etwas verständlicher erscheinen, weshalb Celan sich nach anfänglichem Interesse von Johannes Bobrowski abwandte. Der Dissens zwischen Celan und Bobrowski, die sich nie begegnet sind, allerdings brieflich in Kontakt standen, erfuhr bereits einige Beachtung in der Forschung zur Lyrik nach 1945. Bemerkenswert an diesem Dissens ist eine Reihe konträrer Auffassungen und Missverständnisse. Am gravierendsten ist vielleicht, dass es Bobrowski wahrscheinlich nicht bewusst gewesen ist, dass Celan – erstens – so sehr mit den literarischen Räumen Osteuropas verbunden war, und dass – zweitens – der Rekurs auf osteuropäische Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Rose Ausländer, Immanuel Weisglas, Alfred Margul-Sperber, Alfred Kittner und Petre Solomon so aufschlussreich für Celans Texte ist. Anstelle der konkreten Auseinandersetzung mit den literarischen Landschaften, in denen ‚Menschen und Bücher lebten‘ stehen bei Bobrowski – so mag es Celan aufgefasst haben – eine von Hamann inspirierte, etwas mystische Auffassung vom Osten des Kontinents und von längst verschollenen Völkerschaften, die den Lesern in ihrer Buntheit und Vielgestaltigkeit vor Augen geführt werden. Auf den ersten Blick scheint Celan und Bobrowski ein Interesse an dem Osten des Kontinents gemeinsam, allerdings schränken ungelöste Fragen nach der legitimen Repräsentation von Anfang an die Möglichkeit ein, dass es zu einer gemeinsamen Aufwertung von ‚Östlichem‘ und ‚Jüdischem‘ kommt. Bobrowski war zwar bewusst, dass er möglicherweise illegitim im Namen Anderer spricht, denn eine Briefstelle weist darauf hin, dass er es sich zum Ziel gesetzt hatte, den Osten des Kontinents aufzuwerten, sich selbst allerdings als ‚Deutschen‘ und im Gegensatz zum Osten auffasste. Hinzu kommt – noch gravierender – dass er die Juden dem europäischen Osten zurechnet und damit implizit deutsche, jüdische Dichtung negiert und Juden auf dem Gebiet Deutschlands als ‚Fremde‘ markiert. Zudem gibt es einige Äußerungen Bobrowskis zur eigenen Familie, die – abermals etwas mystifizierend – auf ein geheimnisvolles deutsch-polnisches Geflecht in seiner Ahnengalerie hinweisen, was ihn wiederum dazu ermächtigen würde, ‚Sarmatien‘ zu beschreiben. Zwischen Celan und Bobrowski überwiegen die Unterschiede, nicht allein hinsichtlich der Auffassung von Sprache – Bobrowski vertraut auf ihre sinnliche Wirkung, während für Celan (individuelle) Sinnlichkeit und (gesellschaftlich-historische) Reflexion jedem dichterischen Wort eingeschrieben sein müssen –, sondern auch hinsichtlich des Umgangs mit kultureller Differenz, kulturellem Erbe und Gedächtnis. In Anspielung auf die „Pruzzische Elegie“ bedauert Celan: „gelegentlich zaubert man sogar ,Pruzzisches‘ aus dem Boden“ und meint damit, dass deutsche Schriftsteller wie Bobrowski germanisch anmutende mythische Landschaften

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auf den Osten des Kontinents projizieren, statt sich mit den dortigen Menschen und ihrer (Literatur-)Geschichte auseinanderzusetzen. In Bobrowskis Gedicht, das die Unterwerfung und Christianisierung der Pruzzen durch den Deutschen Orden beklagt, musste Celan eine Verweigerung der Auseinandersetzung mit der Shoah sehen. Statt der gerade am jüdischen Volk begangenen Verbrechen zu gedenken, befasst sich das Gedicht mit einem weit zurückliegenden, mittelalterlichen Geschehen, zu dem es nur spärliche Quellen gibt: „Dir ein Lied zu singen, hell von zorniger Liebe – dunkel aber, von Klage bitter, wie Wiesenkräuter naß, wie am Küstenhang die kahlen Kiefern, ächzend unter dem falben Frühwind, brennend vor Abend – deinen nie besungnen Untergang, der uns ins Blut schlug […]“29

Dieses Klagelied nimmt nicht etwa auf die im Zweiten Weltkrieg zu Tode Gekommenen Bezug, nicht etwa um die in der Shoah Ermordeten geht es dem lyrischen Ich, sondern um die Pruzzen – ein Volk, das bis zum Mittelalter auf dem heutigen Gebiet der baltischen Staaten und Polens (früher Galiziens) lebte und von dem Deutschen Orden unterworfen und christianisiert wurde. Die heidnischen Pruzzen sollen ihrem Kriegsgott Patrimpe Menschenopfer dargebracht haben; bereits Tacitus erwähnt sie unter dem Namen Ästier in seiner „Germania“, bezeichnet sie als Barbaren und befindet, dass sie den Germanen ähnelten – etwa hinsichtlich ihrer Trägheit, der stumpfen Ausdauer beim Arbeiten und in ihrem Desinteresse an wissenschaftlichen Fragen (etwa bezüglich der Beschaffenheit des Bernsteins und der darin enthaltenen Fossilien). Auch noch bei Bobrowski scheint die Idee der Verwandtschaft zwischen den vorchristlichen Germanen und den Pruzzen auf; die Art, in der die kulturfernen Pruzzen als ‚unverdorbenes Naturvolk‘ porträtiert werden, erinnert jedenfalls an die Vorstellung von den Germanen als einem Stamm von naturgegebener Tugend und Ehrlichkeit; Bob-

29 Bobrowski, Johannes: Gesammelte Werke. Hrsg. von Eberhard Haufe. Berlin: Union 1987. Bd. 1, S. 33. Dem westdeutschen Lesepublikum wurde das Gedicht nach der Veröffentlichung in der Zeitschrift „Akzente“ zugänglich. Celan muss es gekannt habe, da er wenig später beklagt, manche Schriftsteller zauberten ‚Pruzzisches‘ hervor, um sich der Auseinandersetzung mit dem osteuropäischen und jüdischen Schrifttum und seiner Geschichte zu verweigern.

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rowski schreibt den Pruzzen magische Praktiken zu, ähnlich wie Tacitus von der allgemeinen Verbreitung von Magie und Prophetie bei den Germanen spricht. Die zerklüftete Landschaft mit Kiefern, die in Bobrowskis Gedicht evoziert wird und an der Ostsee, im Memelgebiet, in Litauen oder der Kurischen Nehrung, aber auch in Galizien liegen könnte, suggeriert ihrerseits eher Verwandtschaft mit ‚Germanischem‘, und die ‚Liebe‘ gilt eher der Imago des Selbst auf einer früheren, weniger schuldbehafteten Entwicklungsstufe – ein Selbst, das abgetötet bzw. zugunsten der Entwicklung abgeworfen wurde. Der ‚Zorn‘ gilt ebenfalls dem (deutschen) Selbst – er kommt einem Unbehagen an der Kultur gleich, die es erfordert, dass das als unbescholten und unverstellt imaginierte ‚Primitive‘ zurückgestellt und überwunden wird. Mit dem Vers „Untergang, der uns ins Blut schlug“ wird die Persistenz des Pruzzischen im Deutschen behauptet – als sei das Ursprungsnahe ins Unbewusste des ‚deutschen Volkskörpers‘ abgesunken; vordergründig betrachtet verweist der Vers auf die Assimilation der Pruzzen nach ihrer Unterwerfung durch den Deutschen Orden. Die Empörung des lyrischen Ichs richtet sich dagegen, dass gerade das Urtümlich-Primitive an dieser ‚Urbevölkerung‘ Ostpreußens (und großer Teile Osteuropas) nicht gewürdigt, ja niedergeschlagen wurde, ohne es zu beklagen. Problematisch an dieser Konstellation ist, dass die einzige ‚Urbevölkerung‘ Osteuropas gleichsam als frühere Spielart des Germanischen dargestellt wird. Die Existenz von Differenz wird damit schlichtweg negiert, als gebe es keine von den Deutschen verschiedenen Völker und Religionen im europäischen Osten, die es verdienten, anerkannt oder gegebenenfalls beklagt zu werden. Statt einer kritischen Auseinandersetzung mit den Übergriffen auf Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs findet hier eine erneute Vereinnahmung statt. Im gleichen Zug erfolgt eine Zurücksetzung des Ostens auf eine vergangene, primitive Entwicklungsstufe des ‚Eigenen‘. Die den germanischen nicht unähnlichen Götter der Pruzzen – Perkun, der Donner- und Gewittergott, Pikoll, der Gott des Totenreichs, und Patrimpe, der Kriegsgott – werden glorifiziert; Freude und Tod werden in einen mystischen Zusammenhang gebracht, der Geschichte und Sozietät entzogen ist. „Volk Perkuns und Pikolls, des ährenumkränzten Patrimpe! Volk, wie keines, der Freude! wie keines, keines! des Todes –“30

30 Ebd.

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In der Forschung wurde angemerkt, dass Celan die „Vergangenheitsbewältigung denen entwendet [sah], um die es eigentlich ging, den ermordeten Juden“.31 Dies mag angesichts der unberechtigten Plagiatsvorwürfe gegenüber Celan durchaus seine Richtigkeit haben, es wäre aber unzutreffend, anzunehmen, Celan postuliere Zurückhaltung der nicht-jüdischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der Shoah. Das Gegenteil trifft zu: Celan hat immer wieder betont, er wünsche sich Solidarität über die Grenzen von Ethnizität, Religion und Geschlecht hinweg – allerdings eine Solidarität angesichts von Differenz, die von Gleichwertigkeit ausgeht und nicht etwa unter exotistischen oder paternalistischen Vorzeichen steht. Nach einer solchen Art von Solidarität und Anerkennung sucht man bei Bobrowski vergebens. Es sind die Inhalte und Zwischentöne in dessen Gedichten, die Celan zutiefst irritierten – keineswegs der Umstand, dass Bobrowski nicht jüdischen Glaubens war. Aus den oben genannten Gründen empfand Celan Bobrowskis Umgang mit dem europäischen Osten und dem Zweiten Weltkrieg als ‚Weg-Schreibung‘, wie es im Gedicht „Hüttenfenster“ aus dem Band „Die Niemandsrose“ heißt: „Und sie, die ihn [den Schwarzhagel – I.P.] säten, sie/ schreiben ihn weg/ mit mimetischer Panzerfaustklaue“.32 Die vielzitierten Verse spielen auf den Einsatz Bobrowskis in der Wehrmacht an der Ostfront an, sie beziehen sich aber auch auf fehlende poetische, ästhetische und stilistische Distanzierung von einer problematischen Tradition in der deutschsprachigen Lyrik. Celan kritisiert hier die Persistenz der Vorstellung vom „Wander-Osten“, der von „Schwebenden“ bewohnt werde, von einem mystischen „Volk vom Gewölk“, zu dem – getrennt – „Menschen und Juden“, aber kein „Name“ und keine Bücher, kein „Aleph“ und „Beth“ gehörten.33 Dies trifft nicht auf alle Gedichte Bobrowskis zu – man denke insbesondere an die Gertrud Kolmar und Else Lasker Schüler gewidmeten.

31 May, Markus/Goßens, Peter/Lehmann, Jürgen (Hrsg.): Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar: Metzler 2012, S. 341. 32 Celan, Paul: Hüttenfenster. In: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Beda Allemann/ Stefan Reichert, u. Mitw. von Rolf Büchner. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983. Bd. 1, S 278. 33 Ebd.

Kristin Rebien (San Diego)

Sarmatien als politische Utopie im Zeitalter der Berliner Mauer

Als Bobrowski Anfang der 1960er Jahre an seinem Roman „Levins Mühle“ arbeitete, hatte sich das Konzept der ethnisch homogenen Nation in ganz Europa endgültig durchgesetzt. Die Berliner Mauer wurde auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs als großes Unrecht empfunden, weil sie im Gegensatz zu anderen europäischen Grenzen keine nationale Gemeinschaft eingrenzte, sondern in der Mitte zerschnitt. Die europäische Nation als homogene ethnische Gemeinschaft war in der Nachkriegszeit selbstverständlich geworden. Bobrowskis Roman stellt diese Selbstverständlichkeit in Frage. Aus der Perspektive der 1870er Jahre, in denen sich die deutsche Nation gerade erst zu formieren beginnt, beschreibt er neben dem erwachenden deutschen Nationalbewusstsein eine zweite Vorstellung von der Nation: der Nation als Rechtsgemeinschaft im Sinne des staatsbürgerlichen Nationalismus. In der poetischen Realität des Romans macht er eine ethnisch, religiös und kulturell vielfältige Nation denkbar, wie sie in der Realität der 1960er Jahre nahezu unvorstellbar ist. When Bobrowski was working on his novel “Levin’s Mill” in the early 1960s, the concept of the ethnically homogenous nation had become fully accepted throughout Europe. The Berlin Wall attracted fierce criticism on both sides of the Iron Curtain, because unlike other European borders, it did not surround a national community, but cut right through its middle. The European nation as ethnically homogenous community had somehow begun to appear natural and self-evident in the post-World War II era. Bobrowski’s novel calls this apparent self-evidence into question. From the vantage point of the 1870s, when the German nation was still in its nascent state, he portrays two alternate forms of nationalism side by side: a German ethnic nationalism on the one hand, and a more inclusive civic nationalism on the other. In the poetic reality of the novel, an ethnically, religiously, and culturally diverse German nation thus becomes thinkable and sheds new light on the rigid ethnic nationalism of the 1960s and beyond.

Als ‚Schlussstein‘ im Eisernen Vorhang wurde die Berliner Mauer zu einem der zentralen Symbole des Kalten Krieges. Ihre Errichtung besiegelte die bipolare Teilung Europas. Zuvor war eine Veränderung des Status quo zwar nicht greifbar, doch auch nicht undenkbar. Die Aufstände im tschechischen Pilsen und der DDR 1953 sowie im polnischen Posen und in Ungarn 1956 hatten jeweils für einen

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kurzen Moment die Zukunft des Ostblocks in Frage gestellt. Mit der gewaltsamen Niederschlagung dieser Aufstände erhielt der Eiserne Vorhang Kontur. Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre war Westberlin das letzte ernsthaft umstrittene Territorium an der Grenzlinie zwischen Ost und West. Ab 1958 unternahm die Sowjetunion in der zweiten Berlinkrise einen letzten Versuch, die Eingliederung Westberlins in die DDR zu erzwingen. Ein Krieg um Berlin schien noch einmal denkbar. Doch letztlich stimmte Chruschtschow dem von der DDR-Führung schon lange geforderten Bau einer Mauer zu. Die Mauer unterbrach den Strom der ‚Republikflüchtlinge‘ und verhinderte das Ausbluten und den Zusammenbruch der DDR. Die Westmächte griffen nicht ein, weil die alliierten Zugangsrechte nicht verletzt wurden. Die Grenze zwischen den Blöcken war endgültig gezogen. Die Bedeutung der Berliner Mauer als Nahtstelle zwischen den Einflusssphären zweier Supermächte verdeckt ein Stück weit den Blick auf eine zweite symbolische Bedeutungsebene der Mauer. Denn sie war nicht nur Trennlinie zwischen zwei Machtblöcken, sondern auch eine von zahlreichen neuen Staatsgrenzen nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch während andere Grenzen, beispielsweise die um 200 Kilometer nach Westen verschobene Grenze zwischen der Sowjetunion und Polen, gemessen an der Größenordnung der Grenzverschiebung vergleichsweise wenig Aufsehen erregten, wurde die Berliner Mauer – und mit ihr die gesamte innerdeutsche Grenze – für die Dauer ihrer Existenz als kolossales Unrecht empfunden. Aus der Singularität der Reaktion auf diese eine Grenze lässt sich die Tragweite einer Wahrnehmungsverschiebung in ganz Europa ablesen. Die Neuordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg orientierte sich an einer Vorstellung der Nation, die ihren Ursprung im späten 19. Jahrhundert hatte, sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfestigte und vielen Europäern heute als natürlich und selbstverständlich erscheint: die Nation als ethnische Gemeinschaft. Schon vor Kriegsende einigten sich die Alliierten auf eine künftige Übereinstimmung von ethnischen Grenzen und Staatsgrenzen. In einer Rede Ende 1944 kündigte Winston Churchill programmatisch an, es werde künftig keine konfliktträchtige Vermischung von Bevölkerungsgruppen mehr geben. Mit diesen Zuständen werde man ein für alle Mal aufräumen.1 Von den nachfolgenden Vertreibungen, ethnische Säuberungen und Bevölkerungstransfers waren 15 Millionen Mittel-, Ost- und Südeuropäer, darunter 12 Millionen Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten, betroffen.2 1 Churchill, Winston: Die Zukunft Polens. 15. Dezember 1944. Rede vor dem britischen Unterhaus. Zitiert in Ther, Philipp: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. ‚Ethnische Säuberungen‘ im modernen Europa. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, S. 19. 2 Ebd., S. 233f.

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Das Modell der ethnisch homogenen Nation wurde vielerorts quasi über Nacht zur gelebten und akzeptierten Normalität. Eine Alternative war auch im Abstrakten kaum noch vorstellbar, auch wenn die gesamte bisherige Geschichte Europas eine Geschichte des Wandels, der Grenzverschiebungen und der Durchmischung gewesen war. Die Empörung, die die Berliner Mauer im Gegensatz zu anderen neuen Grenzen in Mittel- und Osteuropa erregte, erklärt sich dabei aus ihrer Divergenz vom Grundmuster der „ethnoterritorialen Neuordnung“3 Europas. Die Berliner Mauer markierte keine Trennlinie zwischen ethnischen Gruppen, sondern einen Schnitt quer durch die Mitte eines modernen europäischen ‚Volkskörpers‘, von dem Ost wie West behaupteten, er bilde aus historischen Gründen eine Einheit. Selbst die Führung der SED, die aus machtstrategischen Gründen schon früh bestrebt war, die deutsche Teilung zu verfestigen, wagte nicht, die Einheit von Volk und Staatsgebiet öffentlich in Frage zu stellen. In offiziellen Äußerungen propagierte sie bis in die 1960er Jahre die überaus populäre Vorstellung von der „historische[n] Aufgabe, dem deutschen Volk nach der nationalen Katastrophe von 1945 den Weg zum Aufstieg als einheitliche, demokratische, friedliebende Nation zu bahnen.“4 Deutsches Volk und deutsche Nation fallen hier wie selbstverständlich zusammen. Das Hauptinteresse dieses Beitrags gilt dieser zweiten symbolischen Signifikanz der Berliner Mauer als vorübergehende Störgröße im europäischen Nachkriegsverständnis ethnisch definierter nationaler Gemeinschaften. Zwar entstand die Berliner Mauer im Zuge des Kalten Krieges, doch lenkt sie gleichzeitig ganz unabhängig vom Kalten Krieg den Blick auf die Formation eines modernen Nationenbegriffs, der auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs unangefochten galt. Seine Wurzeln reichen ins 19. Jahrhundert zurück, und seine Beständigkeit über das Ende des Kalten Krieges hinaus bestimmt noch heute eine Bandbreite zeitgenössischer politischer Entwicklungen, von der Skepsis gegenüber europäischer Vergemeinschaftung bis zur gegenwärtigen Konjunktur rechtsnationaler Parteien und Bewegungen. Der Mauerbau wirft ein Schlaglicht auf die Selbstverständlichkeit, mit der Volk und Staatsgebiet als Einheit gelten. Johannes Bobrowski erlebte den Bau der Berliner Mauer aus unmittelbarer Nähe. Von seinem Arbeitsplatz im Verlagsgebäude des Union-Verlags in der Zimmerstraße 79/80, Ecke Friedrichsstraße, wo er als Lektor für Belletristik arbeitete, hatte er einen direkten Blick auf die Absperrungen. Wie viele Berliner reagierte er mit großer Betroffenheit auf die gewaltsame Teilung der Stadt. Seine literarische Arbeit stagnierte. Nach Abschluss der ersten beiden Gedichtbände „Sarmatische Zeit“ und „Schattenland, Ströme“ hatte er gerade erst begonnen, an 3 Ebd., S. 19. 4 Rede Grotewohls (Regierungserklärung) vor der Volkskammer, 19. 11. 1954. Broschüre der Nationalen Front. Berlin 1954, S. 26.

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neuen Projekten zu arbeiten, brach diese Arbeit jedoch bald ab. Im Januar 1962 schrieb er an seinen Freund Max Hölzer: „Seit Monaten nichts geschrieben, in einer Dürre lebend […] – getrennt von den Freunden, auch den hiesigen.“5 Bobrowskis Schreibblockade hielt über ein Jahr an, bis er schließlich mit einer beispiellosen Dringlichkeit die Arbeit an einem Roman aufnahm, der sich in vielerlei Hinsicht als Reaktion auf den Mauerbau lesen lässt. Im Oktober 1962 erwähnte er das neue Vorhaben in einem Brief an Edith Klatt.6 Und schon im Sommer 1963 reichte er das Manuskript beim Verlag ein. Für „Sarmatische Zeit“ und „Schattenland, Ströme“ hatte er über zwanzig Jahre mühselig um die richtige Tonlage gerungen. „Levins Mühle“ entstand in weniger als einem Jahr. In seinen Figuren und seiner Thematik kreist der Roman um die Genese nationalistischer Impulse, die auch nach ihrer Entladung in zwei Weltkriegen in vielen europäischen Ländern präsent blieben oder sich teilweise noch verstärkten. Die deutsche Teilung machte Deutschland zu einem besonderen Fall, weil sie zu einer extremen Kurzsichtigkeit und Introvertiertheit führte. Der Schmerz über die Teilung verschleierte den Blick auf die konkreten Merkmale der wiedervereinigten Nation, die sich Ost- und Westdeutsche wünschten. Das Gewaltpotential bestimmter Nationalismuskonzepte wurde nicht mehr ausreichend kritisch überdacht. In „Levins Mühle“ greift Bobrowski die Frage nach der zerstörerischen Kraft bestimmter Nationalismusformen auf. Er selbst hatte Europa in seiner Kindheit noch als loses Nebeneinander von Nationen mit offenen und weitgehend instabilen Grenzen erlebt. Bis 1919 lebte seine Familie in Tilsit (heute Sowetsk) nahe der litauischen Grenze, zog dann nach Graudenz in Westpreußen (heute das polnische Grudzia˛dz), lebte von 1920 bis 1925 noch einmal in Tilsit, dann bis 1928 in Rastenburg (heute Ke˛trzyn in Polen) und schließlich bis zu seinem Abitur 1937 in Königsberg (heute das russische Kaliningrad). Seinen Dienst in der Wehrmacht leistete Bobrowski ab 1937 weitestgehend im Nordwesten Russlands und im Baltikum. Seine Fronturlaube verbrachte er, wie schon als Kind die Sommerferien, im litauischen Motzischken (heute Mocisˇkiai), dem Wohnort seiner Großeltern, wo er 1937 seine Frau Johanna Buddrus kennenlernte. Die Region um Motzischken beschrieb er als „einen Landstrich, wo Deutsche in engster Nachbarschaft mit Litauern, Polen, Russen lebten, in dem der jüdische Bevölkerungsteil sehr hoch war.“7 Aus der persönlichen Vertrautheit mit ethnisch, sprachlich und kulturell vielfältigen Grenzräumen und mit der Erfahrung ihres graduellen Verschwindens spürt Bobrowski in „Levins Mühle“ dem Hass und der 5 Zitiert in Haufe, Eberhard: Bobrowski-Chronik. Daten zu Leben und Werk. Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, S. 65. 6 Ebd., S. 69. 7 Zitiert in Rostin, Gerhard: Johannes Bobrowski. Selbstzeugnisse und neue Beiträge über sein Werk. Berlin: Union Verlag 1975, S. 14.

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Gewalt nach, die eng mit der Entwicklung des modernen europäischen Nationalstaats verknüpft sind.8 Nimmt man Bobrowskis Frage nach dem Ursprung ethnisch motivierter Gewalt ernst, dann stellt sich auch automatisch die Frage nach den Alternativen. Wie hätte Europa aussehen können, hätte die Geschichte nur hier und da einen minimal anderen Verlauf genommen? „Levins Mühle“ lässt sich auf ein derartig kontrafaktisches Denken ein. Mit der Rückverlegung der Handlung in die 1870er Jahre – in die Geburtsstunde des ersten deutschen Nationalstaates – schreitet der Roman einerseits grundlegende Wegweiser des modernen europäischen Nationalismus ab, behält sich jedoch andererseits im fiktionalen Raum die Freiheit der Richtungsänderung vor. So macht der Roman neben realen historischen Entwicklungslinien auch Wegscheiden und Abzweige sichtbar, die möglich gewesen wären, und stellt mit dieser Geste nicht zuletzt die scheinbare Selbstverständlichkeit der Nachkriegsordnung in Frage. Die genaue Zeit der Handlung, das Jahr 1874, war für Bobrowski als vermeintlich unscheinbarer Zwischenmoment zwischen größeren Ereignissen interessant: „Zeit der Handlung: ein paar Sommerwochen, nahezu in der Gegenwart, im Jahr 1874 nämlich, das kein besonderes Jahr war, keine Reichsgründung – nur deren Folgen, kein polnischer Aufstand – nur die Erinnerung daran –, keine Nationalitätengesetzgebung – nur deren Vorbereitung.“9 Aus diesem kurzen Augenblick, in dem die alte Ordnung nicht mehr besteht und die neue Ordnung noch nicht in klaren Konturen hervorgetreten ist, lässt der Roman eine alternative Geschichte entstehen, die, konsequent zu Ende gedacht, zu einem völlig anderen Europa hätte führen können. Auch der Ort der Handlung ist bewusst gewählt. „Levins Mühle“ spielt im Culmerland in Westpreußen, einer Region, die sich vor allen Dingen in der Zusammensetzung ihrer Bevölkerung deutlich vom Rest des Kaiserreiches unterschied. Laut Volkszählung 1880 waren die zahlenstärksten Bevölkerungsgruppen in der Region, Deutsche und Polen, wie auch die dominanten Religionsgruppen, Protestanten und Katholiken, jeweils etwa gleich groß. Dieses besondere Gleichgewicht war kennzeichnend für Westpreußen und existierte weder 8 Bobrowski ist nach seiner Ankunft in Berlin 1949 regelmäßig in Westeuropa gereist, doch nie in die Region seiner Kindheit und Jugend zurückgekehrt. 1957 schrieb er an Peter Huchel: „Im Mai war ich auf der Mainau mit Abstecher in die Schweiz, im Juni im Rheinland mit Abstecher nach Holland. Das sind für unsereins gewaltige Unternehmungen. Lieber wär ich an die untere Wolga, nach Galizien oder Finnland gefahren. Aber jetzt bekommen wir unser drittes Kind, und da hat es der Vater schwer.“ Brief vom 18. September 1957. Bobrowski, Johannes/Huchel, Peter: Briefwechsel. Hrsg. von Eberhard Haufe. Marbach/Neckar: Deutsches Literaturarchiv 1993, S. 15. 9 Bobrowski, Johannes: Zu meinem Buch „Levins Mühle, 34 Sätze über meinen Großvater“. In: Bobrowski, Johannes: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hrsg. Von Eberhard Haufe. München: DVA 1987, S. 337.

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im Kernland des Kaiserreichs noch in den anderen Ostgebieten. Ebenfalls typisch für die von Bobrowski gewählte Region war das Zusammentreffen vielfältiger religiöser Splittergruppen außerhalb der großen Kirchen, u. a. Baptisten, Mennoniten, Anabaptisten, Sektierer und Adventisten. Die Zahl der Bekennenden in diesen Gruppen war etwa fünfmal so hoch wie im Durchschnitt des Kaiserreichs. Zwei Prozent der Bevölkerung waren Juden, etwa doppelt so viel wie im nationalen Durchschnitt.10 Die ethnische, kulturelle, religiöse und sprachliche Vielfalt des Culmerlands subvertiert die Vorstellung von der Nation als historisch gewachsener, homogener Einheit. Mit der Wahl des Culmerlands als Handlungsort verweist Bobrowski auf die im Gegensatz dazu hohe geographische und ethnische Kontingenz moderner Nationalstaaten. Bobrowskis Erzähler, der aus der Gegenwart auf die eigentliche Romanhandlung zurückblickt, bemüht sich in den ersten Absätzen des Romans um eine Verortung der Handlung, die sich jedoch immer wieder an der nationalstaatlichen Begrifflichkeit der Nachkriegszeit stößt: „Die Drewenz ist ein Nebenfluss in Polen“. Doch er zieht diesen ersten Satz sofort als missverständlich zurück, weil er in den nationalstaatlichen Kategorien der Nachkriegszeit falsche Assoziationen erzeugt: „Und da höre ich gleich: Also war dein Großvater ein Pole. Und da sage ich: Nein, er war es nicht. […] Also einen neuen ersten Satz: Am Unterlauf der Weichsel, an einem ihrer kleinen Nebenflüsse, gab es in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein überwiegend von Deutschen bewohntes Dorf“.11 Aber auch diese Beschreibung ist problematisch: „Nun müsste man aber dazusetzen, dass es ein blühendes Dorf war mit großen Scheunen und festen Ställen und dass mancher Bauernhof dort, ich meine den eigentlichen Hof, den Platz zwischen Wohnhaus und Scheune, Kuhstall, Pferdestell und Keller und Speicher, so groß war, dass in anderen Gegenden ein halbes Dorf darauf hätte stehen können. Und ich müsste sagen, die dicksten Bauern waren Deutsche, die Polen im Dorf waren ärmer, wenn auch gewiss nicht ganz so arm wie in den polnischen Holzdörfern, die um das große Dorf herum lagen. Aber das sage ich nicht. Ich sage statt dessen: Die Deutschen hießen Kaminski, Tomaschewski und Kossakowski und die Polen Lebrecht und Germann.“ (S. 9f.)

Auch die Bevölkerung des Culmerlandes lässt sich, analog zur geografischen Lage, nicht in nationalen Nachkriegskategorien erfassen. Im ersten Teil der Passage spielt der Erzähler mit bekannten Stereotypen: die Deutschen sind wohlhabender als die Polen, und den Polen in der Nähe der Deutschen geht es besser als den Polen in rein polnischen Dörfern. Wohlstand und wirtschaftlicher 10 Statistik des Deutschen Reiches. Die Volkszählung im Deutschen Reich am 1. Dezember 1880. Bd. 57. Hrsg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt. Berlin 1883, S. 248–251. 11 Bobrowski, Johannes: Gesammelte Werke. Bd. 3. Hrsg. von Eberhard Haufe. München: DVA 1999, S. 9 (Seitenangaben fortlaufend im Text).

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Erfolg scheinen im Kern deutsche Wesenszüge zu sein, die den nicht-deutschen Bevölkerungsgruppen fehlen. Doch dann entkräftet der Erzähler die althergebrachten Vorurteile, indem er die Namen der Dorfbewohner nennt. Deutsche mit polnischen Familiennamen und Polen mit deutschen Familiennamen verdeutlichen, dass Nationalität kein ethnisch definiertes, essentialistisches Merkmal ist. Vielmehr waren Identifikationen mit der einen oder mit der anderen Bevölkerungsgruppe vormals eine Frage der persönlichen Präferenz, der Heirat oder der lokalen Umstände. Auch im weiteren Verlauf der Handlung greift der Erzähler das Phänomen der angenommenen deutschen Identität mehrfach auf. So merkt er zum Beispiel im 8. Kapitel an: „[E]s ist eine besondere Sache mit diesen Deutschen, zum Beispiel denen, die aus Lemberg her sind, und denen, die aus polnischem Adel stammen. Ihr Eifer für das Deutsche ist unverständlich, wie man sieht, und ihr Eifer für das Große ist deutsch, wie man sieht, kurz gesagt: groß-deutsch“ (S. 112). Der Begriff großdeutsch am Ende des Zitats erinnert einerseits an die nationalsozialistischen Bestrebungen, den deutschen Lebensraum durch Eroberungen und Dezimierung der einheimischen Bevölkerung in Osteuropa zu erweitern, d. h. großdeutsch im Sinne einer nationalsozialistischen Expansion. Gleichzeitig wird hier jedoch auch eine frühere Iteration des Begriffs mit gegenläufiger Stoßrichtung aufgerufen: nicht Vorstoß des Deutschen nach außen, sondern der Zusammenschluss der Deutschen nach innen, die Vereinigung der deutschen Staaten unter Einbeziehung Österreichs zu einer modernen Großnation. Diese ‚großdeutsche Lösung‘ scheiterte 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung. Die Idee von der angeblichen historischen Bestimmung aller Deutschen zur Einheit, wie sie als Reaktion auf die deutsche Teilung in der Nachkriegszeit vielfach beschworen wurde, war schon aus der Sicht des späteren 19. Jahrhunderts inkonsequent und widersinnig. Nach den Vorüberlegungen des Erzählers zum Handlungsort und Umfeld setzt die Handlung des Romans mit einem Ereignis ein, welches die Ressentiments und Feindseligkeiten innerhalb der deutschen Bevölkerung im Culmerland verdeutlicht. Der Baptistenprediger Alwin Feller besucht seinen Gemeindeältesten, Johann, um ihm den Besuch eines evangelischen Gottesdienstes auszureden. Ihm sind Gerüchte zu Ohren gekommen, Johann wolle zur Taufe eines neugeborenen Neffen in einen Nachbarort fahren. Als Johann keine Zugeständnisse macht, versucht ihm Feller wenigstens das Versprechen abzuringen, nicht am Abendmahl der evangelischen Gemeinde teilzunehmen. Feller begründet seine Forderung mit der Unantastbarkeit der eigenen Konventionen: „[E]s gibt Brüder, die machen das, aber wir machen es nicht. Offene Kommunion, wie das heißt, das ist bei uns nicht Sitt und Brauch, das wird auch nicht Sitt und Brauch werden, solange ich lebe“ (S. 20). Fellers große Sorge ist die Signalwirkung eines solchen Fehltritts auf die anderen Gemeindemitglieder. Im-

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merhin ist Johann nicht nur Ältester, sondern auch „der, der das meiste Geld hat. Auf den alle, die etwas haben im Dorf, hören“ (S. 21). Für Feller steht die Integrität der gesamten Gemeinde auf dem Spiel. Die Teilnahme an einer Kindstaufe ist besonders bedenklich, weil sie eine Kerndoktrin der baptistischen Glaubenspraxis, nämlich das ausdrückliche Verbot der Kindstaufe, in Frage stellt. Feller nennt die Taufe der Evangelischen eine „gottlose Prozedur“ und eine „Besprengung“ (S. 22), ein Wort, in dem neben dem Taufwasser (sprengen) auch die Gewalt einer Explosion (Sprengung) mitschwingt. Ein religiöser Konflikt als Ausgangspunkt der Handlung mag auf den ersten Blick überraschen, insbesondere weil „Levins Mühle“ entschieden kein Roman über Religion ist. Warum also mit einem Disput über die angemessene Form der Taufe beginnen? Liest man den Roman, wie hier vorschlagen, mit Blick auf die Entstehung des modernen europäischen Nationalismus, kommt dieser Eröffnungsszene eine besondere Bedeutung zu. Sie führt am Beispiel der konkurrierenden Religionsgruppen das Phänomen geschlossener Gemeinschaften als Schlüsselthema des Romans ein. Religiöse Gemeinschaften verkörpern modellhaft klar umrissene, undurchlässige soziale Formationen. Man ist entweder Baptist oder Lutheraner, Protestant oder Katholik, Christ oder Jude. Solchen Formen perfekter Ausschließlichkeit sind Feindschaften bereits eingeschrieben: die konstitutiven Ansichten und Praktiken einer Gruppe negieren zwangsläufig die Ansichten und Praktiken der anderen. In seinem Gespräch mit Johann verteidigt Feller die Ausschließlichkeit der Religionsgruppe, während für Johann die Glaubensgemeinschaft nur noch einen möglichen Referenzrahmen bildet, dessen Allgemeingültigkeit aus Johanns Sicht mit machtpolitischen Nachteilen behaftet ist und deshalb für ihn bereits seine Selbstverständlichkeit verloren hat. So bemerkt Johann beispielsweise: „[U]nd natürlich, man ist ein Mensch und hat Religion im Leib, bloß dass nun jeder seinen eigenen Topf kocht –“ (S. 47). Er sehnt sich nach einer größeren Gemeinschaft mit umfangreicheren Einflussmöglichkeiten. Der Splitterzustand der Religionen in der Region bietet keine adäquate Grundlage für seine Ambitionen. Johann erkennt als erste unter den Romanfiguren das Potential des deutschen Nationalismus und wird zum wichtigsten Fürsprecher einer neuen nationalen Identität. Die Taufe seines Neffen zwei Kapitel später nutzt er, um unter den Gästen für einen Zusammenschluss der Deutschen zu werben. Wie zu erwarten ist sein Vorstoß nicht ideologisch motiviert. Sein nationalistisches Bewusstsein ist weniger Ausdruck einer ehrlichen Überzeugung als vielmehr Mittel zum Zweck. Der Schulterschluss mit anderen Deutschen soll ihm Unterstützung in einem Rechtsstreit sichern, den er mit legalen Mitteln nicht zu gewinnen glaubt. Levin, ein Neuankömmling in der Gegend und sein einziger Konkurrent im Mühlengeschäft, hat ihn verklagt, nachdem eine Flutwelle seine Mühle zerstört hat. Die

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meisten Dorfbewohner vermuten, Johann habe flussaufwärts Wasser gestaut und in böser Absicht eines Nachts abgelassen. Levins neueröffnete Mühle hatte sein lokales Monopol bedroht, denn er hatte den Bauern fairere und nachhaltigere Konditionen beim Aufkauf ihres Getreides geboten. Einer von Johanns ersten Verbündeten ist der evangelische Pfarrer Glinski, ein Schulfreund des örtlichen Landrats. Johann gewinnt Glinski für seine Sache, indem er an dessen glühenden Patriotismus appelliert, der zunächst allerdings noch eng mit seiner religiösen Identität verflochten ist. Glinskis Patriotismus speist sich unter anderem aus der Genugtuung, dass der evangelisch-lutherische Glauben im neugegründeten Deutschen Reich unter Führung des evangelischen Kaisers Wilhelms I. de facto zur Staatsreligion erhoben wurde. Damit stellt Deutschland aus Glinskis Sicht endlich ein ernstzunehmendes Gegengewicht zum katholischen Österreich-Ungarn dar.12 Als Johann das Thema Nationalismus ins Gespräch bringt, springt zunächst Glinskis Frau auf das Stichwort an: „Jawohl, sagt die Frau Pfarrer, hebt die auffallend gerade Nase und fingert an dem goldenen Ührchen herum, das sie an einer langen Kette um den Hals hängen hat, er [Kaiser Wilhelm I. – K.R.] führt das Werk unseres Doktor Martin Luther zu einem strahlenden Ende“ (S. 48). In ihrer Verknüpfung von Luther und Kaiser schwingt die Hoffnung mit, dass der deutsche Kaiser die katholischen österreichischen Gebiete einnehmen möge und einen einheitlichen, evangelischen deutschen Staat errichte – die ‚großdeutsche Lösung‘ aus der Frankfurter Nationalversammlung, allerdings unter Führung der Deutschen, nicht der Österreicher, wie 1848 angedacht. Glinski unterstützt die Ansichten seiner Frau: „Aber meine Herren, sagt Glinski, das richtet sich doch gegen den Feind, den römischen Stuhl, und das heißt –“ (ebd.). Doch bevor er „Österreich-Ungarn“ sagen kann, fällt Johann ihm ins Wort: „Gegen die Polacken“ (ebd.), und Glinski antwortet: „Wenn Sie das so meinen, […] also da haben Sie recht. Eingeschlossen von einem uns zuinnerst fremden Volkstum –“ (ebd.). In dieser Passage inszeniert Bobrowski den Übergang von alten religiösen Ordnungen zum modernen Nationalbewusstsein. Es ist keine notwendige Entwicklung entlang einer klaren historischen Achse. Hier wird keine ‚historische Bestimmung‘ der Deutschen zur Nation sichtbar. Vielmehr speist sich die neue, ethnisch bestimmte nationale Identität aus Opportunismus, individueller Prinzipienlosigkeit und einem Gespür für das Potential neuer sozialer Konstellationen. In den Laborverhältnissen des Romans – den 1870er Jahren einerseits, in denen sich das nationale Selbstverständnis des Deutschen Reiches noch in einer Orientierungsphase befand, und der Vielfalt der Bevölkerung im Culmerland andererseits – lässt sich beobachten, wie jahrhundertealte religiöse Animositäten 12 Etwas später im Roman erfährt der Leser, dass Glinski und seine Frau aus Österreich-Ungarn stammen. Sie sind aus Lemberg nach Westpreußen gekommen.

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quasi nahtlos in nationalistische Feindseligkeiten gegen nicht-deutsche Bevölkerungsgruppen übergehen. Unter Bobrowskis Romanfiguren haben die religiös zersplitterten und zerstrittenen Deutschen die meiste Erfahrung im Errichten und Verteidigen von Demarkationslinien, und sie haben auch den größten potentiellen Nutzen aus der Überwindung dieses Zustands, denn als ethnische Gruppe stellen sie fast fünfzig Prozent der Bevölkerung. Die Neuausrichtung der bisher nach innen gerichteten Feindseligkeiten gibt den Deutschen die Möglichkeit, als mächtige Gemeinschaft aufzutreten. Unter Johanns Führung stoßen neben Glinski auch weitere Deutsche zur neuen deutsch-nationalen Bewegung. Ihre Ablehnung gegenüber angrenzenden deutschen Religionsgruppen wird neu kalibriert und äußert sich fortan ungleich stärker gegen neue ‚Andere‘, wie Polen, Russen, Litauer, Juden und ‚die Zigeuner‘. Sie instrumentalisieren die Gewohnheit, ein Wir-Gefühl aus der Abgrenzung von Andersdenkenden abzuleiten, Unterschiede zu betonen und Gemeinsamkeiten auszublenden, und schaffen damit eine neue Qualität der Verfeindung zwischen Deutschen, Polen und anderen Nicht-Deutschen – eine Verfeindung, in der sich plötzlich nicht mehr kleine religiöse Splittergruppen, sondern millionenstarke nationale Gemeinschaften gegenüberstehen. Religiöse Zerrissenheit, so scheint Bobrowski hier zu konstatieren, ist ein idealer Nährboden für säkularen nationalistischen Hass. Am Ende des Gesprächs zwischen Johann und Glinski auf der Tauffeier lässt sich Glinski überreden, den Landrat um eine Intervention zu Johanns Gunsten zu bitten. Die beiden Männer schmieden einen Komplott zur Rechtsbeugung. Glinski rechtfertigt seine Bereitschaft, das Gesetz zu umgehen, als Schutz der deutschen Gemeinschaft vor den Polen: „Ich verstehe, sagt Glinski […]. In unserem Abwehrkampf gegen die polnische Überfremdung, in unserer Position als Eckpfeiler unseres stolzen Reiches, ich will mal sagen: die Gesetze reichen hier einfach nicht aus“ (S. 52). In seiner Vorstellung wird Levin, der jüdische Kläger, der aus einem Schtetl auf russischem Territorium zugewandert ist, eins mit der großen Gruppe der katholischen Polen in Glinskis Gegend. Glinskis große Angst gilt der „polnischen Überfremdung“, unter die andere Minderheiten subsumiert werden. Levin ist verwirrt, als er von der Verschwörung erfährt. Aus seiner Sicht führt er eine Klage wegen Sachbeschädigung. Wie Glinski in diesen Fall involviert ist, versteht er nicht: „Aber wieso, fragt Levin und blickt auf, wieso der Glinski? Das werde ich dir erzählen, sagt Habedank, ganz genau, damit du das ganz genau weißt. Das sind nämlich Deutsche, das ist schlimmer als fromm. Nun erfährt also der Levin von der Union von Malken 1874, abgeschlossen an einem Sonntag, anlässlich einer Kindertaufe oder Besprengung, zwischen Leuten, die sich sonst nicht einig sind, zwischen verschiedenen Krähen sozusagen, Saatkrähe und Nebelkrähe, aber unter Krähen jedenfalls.“ (S. 70)

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Die Krähen-Referenz verweist auf das Sprichwort, eine Krähe hacke einer anderen kein Auge aus. Vertreter verschiedener Gattung konkurrieren, aber nicht bis zum Aussterben der Art. Bobrowski verknüpft hier Überlegungen zum ethnischen Nationalismus mit einer biologischen Taxonomie – der Klassifikation von Organismen in exklusive, objektiv unterscheidbare Kategorien. Der pseudowissenschaftliche Biologismus rassistischer Lehren bildet hier den Horizont. Im Verlauf der Handlung fühlen sich die deutschen Figuren zunehmend als ethnische Gemeinschaft. Levins Klage gegen Johann erscheint ihnen als „Racheakt […] gegen das Deutschtum überhaupt“ und als ein „Fall von nationaler Bedeutung“ (S. 142). Während die Konfliktlinien innerhalb der deutschen Gemeinschaft nach und nach verblassen, öffnet sich ein Graben zwischen Deutschen und anderen Bevölkerungsgruppen. Über die Zeit werden diejenigen außerhalb der deutschen Kerngruppe nicht mehr nur als die Anderen, sondern nunmehr als ‚Feinde‘ wahrgenommen: „katholische Polen und polnische Juden und jüdische Zigeuner […] und, wer wie, wen noch alles. […] Ich krieg euch noch alle,“ so Johanns Drohung (S. 156). Je mehr sich die deutschen Figuren als homogene Gruppe verstehen, desto stärker nimmt auch ihre Gewaltbereitschaft zu. Ethnischer Nationalismus, wie ihn der Roman gestaltet, wird zur massiven Bedrohung für Vielfalt innerhalb der Nation. Der Endpunkt dieser Entwicklung mag in den 1870er Jahren noch nicht offensichtlich gewesen sein. Aus dem Blickwinkel der Nachkriegszeit jedoch sind die Folgen von ethnischem Nationalismus für die gewaltsame Neuordnung Europas klar erkennbar. In der wissenschaftlichen Literatur zu „Levins Mühle“ wird generell die Konfliktlinie zwischen Johann und Levin, zwischen dem deutschen Mühlenbesitzer und dem jüdischen Zuwanderer, hervorgehoben. Der Roman wird oft vor dem Hintergrund der Shoah gelesen.13 Diese Lesart ist überzeugend mit Hinblick auf die deutschen Figuren. Sie ist indes weniger überzeugend, wenn man in Betracht zieht, dass sich im Verlauf des Romans eine zweite Gruppe formiert, die sich nicht auf Levins Judentum reduzieren lässt. Levin selbst ist in vielfacher Hinsicht eine Nebenfigur. Er ist meist passiv und an fast allen entscheidenden Wendepunkten der Handlung abwesend. Bobrowski lässt ihn erst am Ende des zweiten Kapitels auftreten und zeigt ihn dann ganz 13 Besonders hervorzuheben ist hier der sehr überzeugende Beitrag von Holger Gehle. Vgl. Gehle, Holger: Verständigung und Selbstverständigung. Zur Prosa Johannes Bobrowskis. In: In der Sprache der Täter. Neue Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Stephan Braese. Opladen: Westdeutscher Verlag 1998, S. 79–102. Zu den neueren Arbeiten gehören u. a. Fabritz, Christian: Johannes Bobrowskis Schreiben nach der Shoah. Der Roman Levins Mühle. In: Johannes Bobrowski. Hrsg. von Hugo Dittberner. München: text + kritik 2005, S. 74–79; und Gerigk, Anja: Avancierte Historiographie. Albert Drachs „Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum“, Johannes Bobrowskis „Levins Mühle“ und der Geschichtsroman nach 1945. In: Weimarer Beiträge 56, 2010, H. 4, S. 501–518.

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typisch für seine Rolle in einem Moment großer Unentschlossenheit. In einem Gespräch mit seiner Partnerin Marie erwägt er, seine neue Heimat Neumühl wieder zu verlassen und bei Verwandten im angrenzenden, russisch verwalteten Kongresspolen unterzukommen. Marie drängt ihn jedoch, an der Klage festzuhalten und vor Gericht sein Recht zu erkämpfen. Die Schlüsselfigur, die die Fäden im Widerstand gegen Johann und seine deutschen Unterstützer in der Hand hält, ist Maries Vater, der Musiker Habedank. Sein erster Mitstreiter im Kampf um Levins Recht ist Weiszmantel, ein Musikerkollege. Beide sind unbestimmter Herkunft und fallen in keine klare ethnische oder religiöse Gruppe. Habedank wird „der Zigeuner“ genannt, obwohl er einen altpreußischen Familiennamen trägt.14 Über Weiszmantel heißt es: „[J]eder kennt ihn, er gehört nirgends hin, er redet Deutsch und Polnisch durcheinander, da geht er, die Beine mit Lappen umwickelt und beschnürt, über Kreuz, wie ein Litauer“ (S. 68). Auch im Weiteren besteht unter Levins Unterstützern kein ethnischer, kultureller oder religiöser Zusammenhang. Trotzdem formieren auch sie sich im Verlauf des Romans zu einer Gruppe, die den deutschen Nationalisten auf Augenhöhe begegnet. Christian Fabritz beschreibt ihren Zusammenhalt als die „Solidarität der gesellschaftlich am Rande Stehenden“.15 Und in der Tat betont der Roman das sozioökonomische Gefälle zwischen den Deutschen, „die etwas aufzuweisen haben: Acker, Vieh und alle Güter“, und Levins Unterstützern: „nur Zigeuner, Polen, Halbkossäten, Häusler, ein weggejagter Lehrer, ein paar Altsitzer, Liederfreund Weiszmantel“ (S. 92). Jedoch ist sozioökonomische Marginalisierung nicht die Basis der Kohäsion. Vielmehr identifizieren sich Levins Unterstützer über ihre gemeinsame Bereitschaft, für geltendes Recht einzutreten und Rechtsbeugung zu verhindern. Ihre Gruppe formiert sich um den Glauben an bürgerliche Grundrechte und Freiheiten und an den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz. Die Opposition zwischen den Deutschen in „Levins Mühle“ und Levins Unterstützern ist also nicht primär eine Opposition zwischen Deutschen und Juden oder Deutschen und Nicht-Deutschen, sondern vielmehr, und das ist die zentrale These des Beitrags, eine Opposition zwischen ethnischem Nationalismus und inklusivem, staatsbürgerlichem (civic) Nationalismus. Mit der Gruppe von Levins Unterstützern schafft Bobrowski ein Gegenmodell zum bekannten Verlauf der Geschichte und verweist auf eine zweite mögliche Entwicklungsrichtung des Nationalismus im 19. Jahrhundert. Obwohl sich diese Richtung in Europa im 20. Jahrhundert nicht durchgesetzt hat, erscheint aus der Perspektive der 1870er Jahre und der östlichen Randgebiete des Kaiserreichs die 14 Mechow, Max: Deutsche Familiennamen prussischer Herkunft. Dieburg: Tolkemita 1987, S. 60. 15 Fabritz, Bobrowskis Schreiben. 2005, S. 76.

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Entstehung eines inklusiven, staatsbürgerlichen Nationalismus ebenso plausibel und möglich wie die tatsächliche historische Entwicklung zum ethnischen Nationalismus. Als die Gerichtsverhandlung gegen Johann im nahegelegenen städtischen Kreisgericht in Briesen tatsächlich beginnt, scheint es zunächst so, als hätten die Deutschen die Oberhand. Der Richter ist parteiisch und befangen. Er befragt die Zeugen mit dem erkennbaren Ziel, Johanns Schuld zu relativieren. Doch eine alte Dame unterbricht seine Feststellungen immer wieder mit Zwischenrufen und Einwänden. Als er sie schließlich nachdrücklich zur Ruhe auffordert, fordert sie die Integrität des Richters ein: „Zeugin Huse, was sollen diese Reden! Ich ersuche, die Würde des Gerichts zu achten. Na eben, sagt Tante Huse schlicht und wahr, sollten Sie tun, würde sich lohnen“ (S. 163). Für Tante Huse steht fest, dass Levin zu seinem Recht kommen wird, wenn nur der Richter seine Aufgabe mit Ernsthaftigkeit erfüllt. Und in der Tat haben Levins Unterstützer Johann schon vor Beginn der Verhandlung ein öffentliches Eingeständnis seiner Schuld entlockt. Als für die Vorstellung eines Wanderzirkus alle Dorfbewohner zusammenkommen, sichern sich Habedank und Weiszmantel die Unterstützung der Zirkusartisten und tragen ein Lied über zwei Mühlenbesitzer zum Programm bei. Obwohl im Lied keine Namen genannt werden, werden den Zuhörern die Zusammenhänge schnell klar. Sie beginnen einzustimmen und mitzutanzen. Zuerst ist es „ein richtiger Schreittanz, ganz etwas Altes und Polnisches und mit einem Gesang dazu, dass es einen von den Sitzen jagt“ (S. 90) Johann ruft „Schluss!“, wird aber nicht beachtet (ebd.). Dann beginnen immer mehr Dorfbewohner mitzutanzen und mitzusingen: „Jetzt kommen, von den hinteren Bänken, nämlich Korrinth und Nieswandt, kommen die Kinder, kommt Lebrecht, sogar Abdecker Froese, ein ganzer Heerzug bewegt sich da mit einmal über die Tenne […]“ (S. 90f.). Der „Schreittanz“ ist jetzt ein „Heerzug“. Johann und seine Unterstützer treten zu einem hilflosen Gegentanz an, eine letzte, defensive Geste, die jedoch schon nicht mehr ernst zu nehmen ist: „Und mein Großvater, mit einem Gesicht wie eine Beete, knallrot, federt ein bisschen, als wollte er einen Kniefall tun, und schnellt plötzlich vor und ist – und Kossakowski und Tomaschewski und Kaminski, Barkowski, Ragolski, Koschorrek, alles, was deutsch ist, mit ihm – schon drin im Rhythmus dieses Tanzes, der sich nun in zwei Gruppen über die Tenne bewegt, mit gleichmäßigen Schritten und plötzlichem Ausscheren nach beiden Seiten, wenn dieses Hei wieder dran ist. […] Es ist überhaupt nichts mehr aufzuhalten. Auch nicht mit diesem Gegentanz meines Großvaters, der sich da noch immer abmüht mit seinem Anhang und, wenn er nichts anderes mehr weiß, die Zunge ausstreckt gegen den Zigeunerhaufen, ihnen einen Vogel zeigt oder den Hintern, ungehörige Wörter schreit. Nichts mehr aufzuhalten.“ (S. 91)

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Diese Schlüsselszene in der Mitte des Romans markiert einen Wendepunkt im Kräfteverhältnis zwischen beiden Gruppen. Johann schafft es letztlich nicht, sich vor Gericht für unschuldig erklären zu lassen. Auch seine deutsche Allianz bricht am Ende des Romans auseinander. Zwar wird er nicht verurteilt, denn das Verfahren wird nicht abgeschlossen. Doch er verliert seine Stellung und sein Ansehen im Dorf. Schließlich verkauft er seine Mühle und zieht in die Stadt. Kurz zuvor begegnen sich die deutschen Nationalisten und die Verfechter des Rechtsstaats ein letztes Mal in der örtlichen Gastwirtschaft. Johann versucht seine Gegner aus der Wirtschaft zu zwingen: „Ich setz mich nicht mit Polen“ (S. 190). Als sie sich weigern zu gehen, zettelt er eine Schlägerei an, und der Erzähler kommentiert: „Da kann nun also der in der deutschen Geschichte bekannte Nationale Abwehrkampf beginnen, oder schöner gesagt: aufflammen“ (S. 193). Allerdings scheitert der „Nationale Abwehrkampf“ an der Schwäche seiner Kämpfer. Johann und seine Verbündeten unterliegen und werden einer nach dem anderen aus der Wirtschaft geworfen. Die Verfechter des Rechtsstaates triumphieren und bemerken ganz nebenbei, dass sie bei der Verteidigung ihrer Überzeugungen gegen die Übergriffe der deutschen Nationalisten kein bisschen Schaden in der Gastwirtschaft angerichtet haben: „Trümmer? Schauen wir uns um! Die Tische stehen, kein Stuhl entzwei, nicht einmal ein Glas“ (S. 195). Es ist ein Triumph ohne Zerstörung, eine berechtigte Hoffnung, ja ein Versprechen des inklusiven Rechtsstaats. Historisch betrachtet konnten sich der bürgerliche Nationalismus und das darin verankerte Primat der Gleichheit vor dem Gesetz nicht durchsetzen, u. a. weil das Kaiserreich die Gesetzgebung am Leitbild des ethnischen Nationalismus neu ausrichtete. Bobrowski deutet diese Entwicklung in „Levins Mühle“ an, ohne ihren Endpunkt auszuführen. Er lässt einen Regierungsrat den Fall der beiden Mühlenbesitzer kommentieren: „Ach was, […] Verordnung, Verfügung – Ansiedlungsgesetz brauchen wir. Aber dalli!“ und schließt die folgende Erklärung des Erzählers an: „Ja, das Ansiedlungsgesetz. Es wird in Berlin zubereitet und kann ja auf keinen Fall so geschwind kommen, wie es gebraucht wird. […] [D]a wird dann drinstehen, soviel ist schon bekannt geworden: Schluss, keine Polacken mehr in deutschen Dörfern, einfach Schluss mit diesen durcheinanderen Zuständen“ (S. 199). Der Wortlaut erinnert an Winston Churchills eingangs zitierte Rede. „There will be no mixture of populations to cause endless trouble“, heißt es dort im Original.16 Das im Roman erwähnte Ansiedlungsgesetz trat 1886 in Kraft und regelte den Kauf und Verkauf von Eigentum in den Ostprovinzen. 120.000 Deutsche aus dem Kerngebiet des Deutschen Reiches erhielten vergünstigte staatliche Darlehen, um Land von Polen und anderen ethnischen Minderheiten im Osten zu erwerben. Das Darlehen war an die Auflage gebunden, 16 Zitiert in Ther, ‚Ethnische Säuberungen‘. 2011, S. 19.

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das Land gegebenenfalls nur an Deutsche zu verkaufen.17 Mit dieser Gesetzgebung hatten tatsächlich nicht mehr alle Bürger, die innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches lebten, dasselbe Recht auf Eigentum. Deutsche wurden, anders als im Roman, gegenüber Nicht-Deutschen vom Gesetz privilegiert. Der Roman jedoch belässt es bei der Andeutung dieser Entwicklung. In seiner fiktionalen Welt unterliegen die deutsch-nationalen Bestrebungen. Der staatsbürgerliche Nationalismus, eine in ihrer Theorie perfekt inklusive politische Organisationsform, die Gemeinschaft über die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem Verfassungs- und Rechtsgebiet definiert, bleibt als reale und attraktive Möglichkeit für die weitere Entwicklung des Deutschen Reiches erhalten. Die Tatsache, dass Levins Unterstützer ihre Vorstellung von Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft erfolgreich verteidigen können, lässt sich als großer politischer Denkanstoß in einer Zeit lesen, in der Alternativen zum ethnisch homogenen Nationalstaat kaum vorstellbar waren. Bobrowski wurde in der DDR täglich mit der unreflektierten Selbstverständlichkeit der Nation als Volksgemeinschaft konfrontiert. Sie floss in Namensgebungen für Institutionen und Programme wie Neues Deutschland, Nationale Front, Freie Deutsche Jugend oder Nationale Volksarmee ein, und sie wurde regelmäßig in politischen Reden heraufbeschworen. So erklärte beispielsweise der Ministerpräsident der frühen DDR, Otto Grotewohl: „Es können noch so viel Besatzungsmächte in Deutschland sein, die historische Entwicklung der Deutschen zu einer Nation kann niemand aus der Welt wischen“.18 Bobrowski stellt in „Levins Mühle“ in Frage, dass die Entwicklung der Deutschen zu einer Nation in der Geschichte vorgezeichnet war. Grotewohl impliziert ein historisches Zusammenfallen von ethnischer Gemeinschaft, Sprache und Kultur mit einem begrenzten Territorium. Bobrowski wusste aus seiner persönlichen Lebenserfahrung, dass kein deutscher Staat so gewachsen war, sondern dass die ethnische Homogenität und die Illusion der historisch gewachsenen Nation der Deutschen in der Realität das Produkt von jahrhundertelanger Gewalt, Vertreibung, ethnischen Säuberungen und territorialer Neuordnung war. Wenn man dieser Logik folgt und akzeptiert, dass die deutsche Nation keine organisch gewachsene Einheit, sondern ein von Menschen erschaffenes soziales Konstrukt ist, dann ist auch eine grundsätzliche Neukonzeption des Nationalbegriffs denkbar. Wie die deutsche Nation aus ihrer Geschichte heraus neu zu denken ist, führt „Levins Mühle“ eindrucksvoll vor. Amir Eshel hat für diese Form des Schreibens den Begriff der Zukünftigkeit geprägt und beschreibt damit die Fähigkeit der 17 Conrad, Sebastian: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich. München: C.H. Beck 2006, S. 148–149. 18 Rede vor dem Kongress der deutschen Jugend am 20. März 1955. Zitiert in Lemke, Michael: Nationalismus und Patriotismus in den frühen Jahren der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 50, 2000, S. 13.

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Literatur, aus dem Blick in die Vergangenheit „das Offenen, Zukünftige, Mögliche“ poetisch zu erfassen.19 Bobrowskis Schreiben war ein Aufbegehren gegen ein Geschichtsverständnis, das Vergangenheit und Zukunft auf einer linearen Achse verortet und die Gegenwart darauf als unveränderliche Größe erscheinen lässt. Denn nur wenn man in der Lage ist, sich von der verfestigten Vorstellung der Nation als ethnische Gemeinschaft zu lösen und die Nation stattdessen als inklusives soziales Konstrukt zu denken, lässt sich auch Europa als Ganzes neu denken und gestalten. Die Vorstellung von Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft lässt sich ohne weiteres auf ein supranationales Konstrukt wie die Europäische Union übertragen, ohne die darin enthaltenen älteren Gemeinschaftsvorstellungen zu negieren. Zu Bobrowskis Zeit war ein europäisches Zusammenwachsen vom heutigen Ausmaß unvorstellbar, doch ist es in seiner poetischen Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit durchaus angelegt. Bobrowskis poetische Konstruktion des grenzenlosen Raums Sarmatien ist ein Akt der Bewahrung, der eine Geste der Hoffnung in sich birgt.

19 Eshel, Amir: Zukünfitigkeit. Die zeitgenössische Literatur und die Vergangenheit. Berlin: Jüdischer Verlag 2012, S. 15.

Innokentij Urupin (Konstanz)

Zur Verbindung von Stimme und Scham in Erzählungen Johannes Bobrowskis. Mit Bezugnahme auf Isaak Babels skaz-Ästhetik1

Im Beitrag wird die poetische Funktion der Mündlichkeit in ausgewählten Prosatexten Johannes Bobrowskis analysiert. Erstens wird eine mögliche Vorlage für das mündliche Erzählen bei Bobrowski in der skaz-Ästhetik der russischen Avantgarde aufgezeigt; dies wird anhand von Bobrowskis „Brief aus Amerika“ (1963) im Vergleich mit „Ein Brief“ („Письмо“, 1923) von Isaak Babel verdeutlicht. Zweitens wird anhand von Bobrowskis Erzählungen „Rainfarn“ (1964) und „Sonnenbad“ (aus dem Nachlass, 1964) gezeigt, wie im Stimmlichen bei Bobrowski durch eine mit Scham assoziierte Metaphorik des Beobachtens und Spähens ‚masochistische’ Mikropoetiken entwickelt werden, für die ein sich dem Bereich der Stimme entziehendes Referieren zu vertrauten Orten und Bezugspersonen konstitutiv ist; von Belang ist dabei, dass diese Orte mit einem deutschen Grenzlokus identisch sind. Der zukunftsorientierte, im Futurismus verankerte „sadistische“ (I. Smirnov) skaz-Anstoß in Babels „Reiterarmee“ (Конармия, 1926) wird so in den besprochenen Erzählungen Bobrowskis in eine zeitlich rückwärtsgewandte „dialektisch“-masochistische (G. Deleuze) Stimme umgewandelt. The following contribution deals with a poetic function of orality in selected prose texts of Johannes Bobrowski. Firstly, a possible template for Bobrowski’s oral narration can be found in the skaz-aesthetics of the Russian avant-garde. This is shown through a comparison of Bobrowski’s “Letter from America” (“Brief aus Amerika”, 1963) and “The Letter” (“Письмо”, 1923) by Isaak Babel. Secondly, on the basis of Bobrowski’s stories “Tansy” (“Rainfarn”, 1964) and “Sonnenbad” (from the estate, 1964) the article expounds the development of ‘masochistic’ micro-poetics within the skaz-voice, evoked by the shamerelated imagery of watching and spying. Essential for these micro-poetics are references to familiar places and family acquaintances which elude the domain of voice; these places merge with the locus of the German border. Observed intertextually, the future oriented, futurism anchored “sadistic” (I. Smirnov) skaz-impetus from Babel’s “Red Cavalry” transforms in Bobrowski’s stories into a temporally backward turned “dialectical” (G. Deleuze) masochistic voice.

1 Dieser Beitrag wurde durch ein „Marbach-Stipendium“ des Deutschen Literaturarchivs Marbach ermöglicht.

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Im Zentrum dieses Beitrags stehen Semantiken von skaz – als Simulation von Mündlichkeit im weiteren Sinne – in Johannes Bobrowskis Prosatexten. Es geht dabei erstens darum, eine mögliche Vorlage für das mündliche Erzählen bei Bobrowski in der skaz-Ästhetik der russischen Avantgarde aufzuzeigen, wodurch Hintergründe für seine poetische Arbeit mit Stimme, Schrift, aber auch dem Bildhaft-Photographischem sichtbar gemacht werden können. Dies wird zunächst anhand von Bobrowskis „Brief aus Amerika“ (1963) im Vergleich mit „Ein Brief“ („Письмо“, 1923) von Isaak Babel verdeutlicht. Zweitens geht es darum, anhand von Bobrowskis Erzählungen „Rainfarn“ (1964) und „Sonnenbad“ (aus dem Nachlass2) zu zeigen, wie im Stimmlichen bei Bobrowski durch eine – angesichts der ‚deutschen Schuld‘ – mit Scham assoziierte Metaphorik des Beobachtens und Spähens ‚masochistische‘ Mikropoetiken entwickelt werden, für die ein sich dem Bereich der Stimme entziehendes Referieren zu vertrauten Orten und Bezugspersonen konstitutiv ist. Aus intertextueller Perspektive wird so der zukunftsorientierte, im Futurismus verankerte „sadistische“ (Igor Smirnov) skaz-Anstoß in Babels „Reiterarmee“ (Конармия, 1926) in den besprochenen Erzählungen Bobrowskis in eine zeitlich rückwärtsgewandte „dialektisch“-masochistische (Gilles Deleuze) Stimme umgewandelt.

I.

Die Situation des skaz

Die Diskussion um skaz beginnt 1918 mit Boris E˙jchenbaums Aufsatz „Die Illusion des skaz“. E˙jchenbaum spricht darin von einer „Rückkehr zum lebendigen Wort“,3 die in der Orientierung an der mündlichen Rede „in syntaktischen Wendungen, in der Wortwahl und Wortstellung, […] in der Komposition […] offenbar wird“.4 Weitere Merkmale des skaz sind nach E˙jchenbaum „Spuren des lebendigen Wortes“, die „Illusion der freien Improvisation“, ein „Erzähler […] mit Mimik, Gesten und Grimassen“, der „spielt und deklamiert“, eine „wirkliche mündliche Erzählung bestimmter Personen“, wo der Erzählende zum Zuhören zwingt, durch „Stimme und Intonation“.5 Ein solcher Fokus auf Mündlichkeit ist unter anderem dem Interesse der russischen Formalisten an der so genannten 2 Die im Beitrag besprochenen Erzählungen Bobrowskis werden nach folgender Ausgabe zitiert: Bobrowski, Johannes: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Eberhard Haufe. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1987. Bd. 4. Die Erzählungen, vermischte Prosa und Selbstzeugnisse (Seitenangaben fortlaufend im Text). 3 E˙jchenbaum, Boris: Illjuzija skaza/Die Illusion des skaz. Übers. v. Helene Imendörffer. In: Texte der russischen Formalisten. Hrsg. v. Jurij Striedter. München: Fink 1969. Bd. 1, S. 160– 167, hier S. 167. 4 Ebd., S. 161. 5 Ebd., S. 165.

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deutschen „Ohrenphilologie“ (Eduard Sievers, Franz Saran)6 zu verdanken. Es wird aber nicht, wie z. B. bei Sievers, nach einer mündlichen Vorlage für jede sprachliche Äußerung gesucht;7 der Ansatz von E˙jchenbaum mit seiner Beschwörung des „lebendigen Wortes“ steht unter dem Zeichen der Verfremdung und der von Viktor Sˇklovskij 1914 bei den Futuristen entdeckten „Auferweckung des Wortes“:8 „neue lebendige Wörter“9 der Futuristen realisieren für Sˇklovskij die Forderung nach einem „Schaffen neuer Formen in der Kunst“, das „dem Menschen das Erleben der Welt zurückgewinnen, die Dinge auferwecken und den Pessimismus töten“10 könne. Die skaz-Auslegungen von E˙jchenbaum sind darüber hinaus insofern zukunftsorientiert, als sie sich nicht nur analytisch, sondern auch als eine Richtlinie für die aktuell schreibenden Autoren gestalten. Eine wichtige Reflexion der skaz-Problematik – gerade im Hinblick auf die Adaption des skaz bei Bobrowski – stellt zudem der Aufsatz von Walter Benjamin „Der Erzähler“ (1936) dar, in dem Nikolaj Leskov die zentrale Figur ist – ein Autor, dessen Texte auch E˙jchenbaum als Beispiele seiner skaz-Theorie verwendete. Die Analyse von Benjamin bezieht sich kaum auf die Zukunft, wirkt im Gegenteil retrospektiv, wenn behauptet wird, dass mit dem Aussterben des Handwerks auch die Kunst des mündlichen Erzählens ihr Ende findet. Aber die Konstruktion eines „Chronisten“,11 der nicht für die Ewigkeit aufschreibt, sondern für heute, für die Jetztzeit „die Ereignisse hererzählt“,12 verbindet die Position des mündlichen Erzählens mit der „schwachen“ Hoffnung auf Erlösung und insofern mit einer transhistorischen Vision. Auf die Literatur bezogen können wir hier ein Modell für das posthistorische Schreiben finden, wo man im Text durch eine Simulation des „Hererzählens“ der Historie entgehen kann.13 6 Vgl. dazu z. B. Hansen-Löve, Aage: Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1978, S. 105. 7 Vgl. z. B. Sievers, Eduard: Über ein neues Hilfsmittel philologischer Kritik. In: RhythmischMelodische Studien. Vorträge und Aufsätze. Hrsg. v. Eduard Sievers. Heidelberg: Carl Winter 1912, S. 78–111. 8 Vgl. Sˇklovskij, Viktor: Voskresˇenie slova/Die Auferweckung des Wortes. Übers. v. Inge Paulmann/Rolf Fieguth. In: Texte der russischen Formalisten. Hrsg. v. Wolf-Dieter Stempel. München: Fink 1972. Bd. 2, S. 2–17. 9 Ebd., S. 15. 10 Ebd., S. 13. 11 Benjamin, Walter: Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007, S. 115 („Der Erzähler“), S. 130 („Über den Begriff der Geschichte“). 12 Ebd., S. 130. 13 Das Bild des Handwerkers bezieht Benjamin vor allem auf das Bäuerliche und das Maritime; es wäre eine zusätzliche Frage, inwiefern die sprechenden Bauern von Babel und Bobrowski Vertreter einer handwerklichen Einstellung sind; eine Beziehung zum Dorf als das Zuhause oder als ‚kleine Heimat‘ ist aber in beiden „Briefen“ manifest und für viele weitere Texte von Babel und Bobrowski zutreffend.

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Befinden sich die skaz-Texte von Babel im Sinne ihrer poetischen Einstellung auf Erneuerung in der Nähe von E˙jchenbaums Verständnis von Mündlichkeit, so realisieren Bobrowskis verwickeltere Zeitstrukturen eher einen rückwärtsgerichteten Utopismus im Sinne Benjamins. Es geht dabei nicht bloß um unterschiedliche poetische Rückgriffe auf Mündlichkeit: Bobrowski hat Babels Prosa rezipiert und hochgeschätzt. So stellt Bobrowski in einem bekannten Brieffragment seine eigene Prosa ins Zentrum eines Dreiecks, an dessen obererem Eckpunkt Babel platziert ist (die übrigen Eckpunkte sind von Robert Walser und Hermann Sudermann belegt);14 es gibt auch Gedichte und Prosatexte, in denen auf Babel und seine Erzählungen explizit verwiesen wird.15 Es kann daher angenommen werden, dass die Struktur des „Briefs aus Amerika“ auf Babels „Brief“ (und andere ähnlich aufgebaute Texte aus der „Reiterarmee“) zurückzuführen ist. In beiden Fällen haben wir als Binnenerzählung Briefe in der Form jenes skaz vor uns, den E˙jchenbaum als den „erzählenden“ (повествующий) skaz bezeichnen würde (nicht den „reproduzierenden“ – воспроизводящий),16 d. h. ein durch die Figur des Erzählers, seinen geistigen Horizont motivierter, ihn charakterisierender skaz. Auch in den jeweiligen Rahmentexten, d. h. Umrahmungen der Briefe werden Sprachmasken verwendet, diese weisen aber nur bei Bobrowski durch den Einsatz der erlebten Rede deutliche Merkmale einer simulierten Oralität auf. Für die folgende Analyse hat die stilistische bzw. narratologische Ebene des skaz weniger Bedeutung, es geht mir vor allem um die Rekonstruktion des Verhältnisses von Stimme, Schrift und Sichtbarkeit auf poetologischer Ebene – und den daraus resultierenden Ethos. Die Problematik beschränkt sich dabei nicht auf wenige Einzeltexte: Aus einer literaturgeschichtlichen, auf den sozialistischen Realismus gerichteten Perspektive spricht etwa Evgenij Dobrenko davon, dass in der russischen Literatur der 1920er Jahre eine „Situation des skaz“ (ситуация сказа) entstanden ist. Die skaz-Rede ist für den frühsowjetischen Leser – im Gegensatz zum Leser von Gogol und Leskov im 19. Jahrhundert – nicht mehr die eines Anderen, denn die Leser fallen nun mit den sprechenden Figuren zusammen, „das Subjekt des skaz wurde auch zu seinem Verbraucher“17: „die

14 Vgl. Bobrowski, Johannes: Briefe 1937–1965. Hrsg. v. Jochen Meyer. Göttingen: Wallstein 2017. Bd. 3: 1961–1963, S. 350 (Brief an Christoph Meckel, 27. September 1962). 15 Zu nennen wären vor allem das Gedicht „Holunderblüte“ (1961) und der Prosatext „Ich will fortgehen“ (1964), in den auch der als ein Nachlassfragment gedruckte Text „Über Isaak Babel“ integriert wurde. 16 Vgl. E˙jchenbaum, Boris: Kak sdelana ‚Sˇinel‘ Gogolja/Wie Gogol’s „Mantel“ gemacht ist. Übers. v. Karl Eimermacher. In: Texte der russischen Formalisten. Hrsg. v. Jurij Striedter. München: Fink 1969. Bd. 1, S. 122–159, hier S. 122f. 17 Dobrenko, Evgenij: Russkaja literatura mezˇdu cˇitatelem i pisatelem. ot socrealizma do socarta. In: Reading in Russia. Practices of Reading and Literary Communication, 1760–1930.

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Leser der Literatur der 1920er Jahre waren Zosˇcˇenkos Sinebrjuchovs, Neverovs Mar’jas-Bolschewikinnen und Babels Reiterarmisten“18. Diese Bemerkung macht deutlich, dass skaz bei Babel das Jetztzeitliche oder das Ahistorische nicht lediglich als eine Verfremdung produzieren will, die sich doch auf die Geschichte des Schreibens beziehen würde, sondern darauf abzielt, gleichsam aus der primären Mündlichkeit heraus einen totalen Nullpunkt des Schreibens herzustellen, der mit der Lage eines Rezipienten ohne Geschichte des Lesens resoniert: für einen solchen Rezipienten stellt die Verschriftlichung der Sprache die eigentliche Verfremdung dar. Durch die Vermittlung von Babel wird auch für Bobrowski die Totalität dieser skaz-Situation zu einem wichtigen Hintergrund, wie im Folgenden ausgeführt wird.

II.

Zwei Briefe

Zu Beginn des „Briefes“ in Babels „Reiterarmee“ teilt der Sprecher der Rahmenerzählung mit, es sei „ein Brief in die Heimat, mir diktiert von dem Jungen aus unserer Expedition, Kurdjukov“;19 die Adressatin ist Kurdjukovs Mutter. Das Diktierte werde „wortwörtlich“ („дословно“) wiedergegeben; dabei tritt der Rahmenerzähler nicht als Zuhörer auf – das Gesagte ist nicht an ihn gerichtet –, sondern er personifiziert vor allem die Schrift, die Fähigkeit zu schreiben. Es handelt sich also um eine Instanz, die erlauben soll, die mündliche Rede eines Kindes direkt als eine neue Form des Schreibens zu etablieren. Die Schrift wird dabei entschlossen und respektlos in Angriff genommen: als Bauernjunge erlernt man sie nicht, man ordnet das Aufschreiben an. Dass die Eroberung von Schrift in dieser skaz-Situation einen avantgardistisch-rücksichtlosen Anspruch hat, wird auch motivisch durch ihre Nähe zur Vernichtung, zum Töten unterstützt:20 „[…] ich befinde mich in der roten Reiterarmee des Genossen Budёnnyj, auch hier befindet sich Euer Gevatter Nikon Vasiljevicˇ, der in der jetzigen Zeit ein roter Held ist. Er hat mich zu sich genommen, in die Expedition der Politabteilung, wo wir Literatur in die Stellungen bringen und Zeitungen – die Moskauer Izvestija des ZEK, die Moskauer Hrsg. v. Damiano Rebecchini/Raffaella Vassena. Mailand: Ledizioni 2014, S. 249–261, hier S. 250. 18 Ebd., S. 251. 19 Babel, Isaak: Die Reiterarmee. Übers. v. Peter Urban. Berlin: Friedenauer Presse 1994, S. 14. Originaltext: „письмо на родину, продиктованное мне мальчиком нашей экспедиции Курдюковым“. Babel’, Isaak. Sobranie socˇinenij: v 4 t. Sost. Igor’ Suchich. T. 2. Moskau: Vremja 2006, S. 48. 20 In seiner Analyse der Oralität in der „Reiterarmee“ bemerkt Val Vinokur die strukturelle Analogie zwischen skaz und Gewalt bei Babel, lässt aber den Akt der Verschriftlichung außen vor. Vgl. Vinocur, Val: Morality and Orality in Isaac Babel’s „Red Cavalry“. In: The Massachusetts Review 45, 2004/2005, H. 4, S. 674–695, insb. S. 689f.

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Pravda und unsere liebe schonungslose Zeitung Roter Kavallerist, die jeder Kämpfer in vorderster Linie begierig ist zu lesen, weil er danach mit Heldengeist die heimtückische Schlachta niedermetzelt […]“.21

Diese Freude am Vernichten lässt auch an die eingangs erwähnte „sadistische“ Einstellung der futuristischen Avantgarde denken, die Igor Smirnov in seiner „Psychogeschichte der russischen Literatur“ analysiert: „Die Aufgabe der futuristischen Epatage bestand darin, bei den Lesern und Betrachtern aggressive (situativ sadistische) Reaktionen hervorzurufen, sie in Zorn zu bringen, Rezipienten-Sadisten zu erziehen. Aggressivität und Destruktivität fanden ihren Ort nicht nur in der Welt des Sinnes oder in der Pragmatik, sondern auch in der Stilistik der beginnenden avantgardistischen Literatur, die vor der derben und lästerlichen Lexik keinen Halt machte, die fehlerhafte Rede wiedergab (Krucˇёnych, später Babel, Zosˇcˇenko) […], sich für die Erschaffung von „zaum’“ der „entzweigehauene[n] Wörter, Halbwörter und deren verwunderliche[n] listige[n] Verbindungen“ bediente, wie Chlebnikov und Krucˇёnych in ihrer Verlautbarung „Das Wort als solches“ schrieben.“22

In der Logik Smirnovs gehört der gesamte avantgardistische skaz in das Paradigma des Sadismus. Die Entstehung des Sadismus in der oralen Phase der psychischen Entwicklung des Kindes wird bei Smirnov, gestützt vor allem auf Melanie Klein, mit der Brustentwöhnung verbunden; die nicht mehr stillende Brust wird vom Kind als ein mangelhaftes bzw. leidendes Objekt begriffen; dadurch wird die Mangelhaftigkeit bzw. das Leiden zum Inhalt der Idee des Objekts schlechthin. „Für das Subjekt bedeutet das eigene Wiedergewinnen des Objektes, das unbrauchbar geworden ist, ihm ein Leid, einen Schmerz zuzufügen, d. h. eine aktive Beteiligung des Subjektes am Prozess der Deformierung der Außenwelt“.23 21 Babel, Die Reiterarmee. 1994, S. 14. Vgl.: „[…] я нахожусь в красной Конной армии товарища Буденного, а также тут находится ваш кум Никон Васильич, который есть в настоящее время красный герой. Они взяли меня к себе, в экспедицию Политотдела, где мы развозим на позиции литературу и газеты – Московские Известия Цик, Московская Правда и родную беспощадную газету Красный кавалерист, которую всякий боец на передовой позиции желает прочитать, и опосля этого он с геройским духом рубает подлую шляхту […]“. Babel’, t. 2. 2006, S. 49. 22 Smirnov, Igor’: Psichodiachronologika. psichoistorija russkoj literatury ot romantizma do nasˇich dnej. Moskau: Novoe Literaturnoe Obozrenie 1994, S. 185. Chlebnikov/Krucˇёnych zitiert nach: Chlebnikov, Velemir: Werke 2. Prosa, Schriften, Briefe. Übers. v. Peter Urban/ Rosemarie Ziegler. Reinbek: Rowohlt 1972, S. 113; in dem Satz geht es außerdem um die Verwendung von „Körperteilen“ durch die „Maler Budetljane“ (d. h. „Zukünftler“, eine Selbstbezeichnung der russischen Futuristen). Die Beschwörung des „auferweckten Wortes“ wird auch bei Sˇklovskij sadistisch konnotiert: „wir ballen die Wörter […] zusammen und zerbrechen sie, damit sie das Ohr verletzen, damit man sie sieht, statt sie wiederzuerkennen“. Sˇklovskij, Voskresˇenie/Die Auferweckung. 1972, S. 13. 23 Smirnov, Psichodiachronologika. 1994, S. 193. Für weitere Aspekte des sadistischen Paradigmas und seiner Funktionsweise in der Literatur vgl. ebd., S. 179–229.

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Die semiotische Manifestierung dieser „oralen Aggressivität“ bestehe nun darin, dass die Avantgarde in der Sprechtätigkeit ein Mittel sehe, „die Welt der Referenten zu besiegen und zu beseitigen“, bzw. zwischen dem „faktischem Universum“ und dem „sprachlichen Universum“ nicht unterscheide.24 Das offensichtlichste Beispiel einer solchen Negierung der Referenten bei der ästhetischen Sinnherstellung ist die auf Neuschöpfungen aufbauende zaum’Sprache der russischen Futuristen. In dem Maße wie skaz – als aggressive Oralität – die Sprache selbst zum Objekt der Darstellung macht oder die Welt (wie im Text von Babel) als eine Bühne für die Konfrontation zwischen Sprachmedien benutzt, produziert er gleichermaßen eine sadistische Semiotik. Diese Konfrontation induziert ihrerseits eine eigenständige mediale Ebene des Sadismus bei Babel, wenn die Eroberung der Schrift durch die Stimme in eine metonymische Verbindung mit dem Töten gebracht wird. Es gibt eine russische Idiomatik, in der mit dem Schreiben Semantiken des Hauens assoziiert werden („заруби себе на носу“; „что написано пером, не вырубишь топором“25); bei Babel entfaltet sich die Verschriftlichung gleichsam im Hauen, dauernd geht es um „рубать“ (niederhauen bzw. niedermetzeln); auch die manuelle Prozessualität, das Langsam-Taktile des Tötens mag einer handschriftlichen Tätigkeit verwandt erscheinen, hier etwa im gegenseitigen Durchdringen von Sprechen, Totschlagen, Schreiben: „In den zweiten Zeilen dieses Briefes beeile ich mich, euch von Papasˇa zu schreiben, daß er Bruder Fёdor Timofeicˇ Kurdjukov niedergemetzelt hat vor einem Jahr war das. […] Fёdor Timofeicˇ kam Papa unter die Augen. Da ging Papa mit dem Sa¨ bel auf Fedja los und sprach – Drecksack, roter Hund, Hurensohn und lauter so Zeug und schlug auf ihn ein bis zur Dunkelheit, bis Bruder Fedja fertig war. Damals habe ich euch einen Brief geschrieben, wie Euer Fedja dalag, ohne Kreuz und alles. Aber Papa erwischte mich mit dem Brief […]“26

Die „fehlerhafte Rede“ kommt in dem Fall als Sprache eines neben „entzweigehauenen“ Körpern diktierenden Kindes zustande. Dass das Töten des Vaters nicht im Einzelnen geschildert werden kann, der Vater also zuletzt zu einer Lücke in der Erzählung wird, unterstützt die ahistorische Ausrichtung dieses skaz-

24 Ebd., S. 206. 25 Buchstäblich: sich auf die Nase einhauen (was sich ungefähr mit „sich hinter die Ohren schreiben“ übersetzen ließe); was mit der Feder geschrieben ist, kann mit keiner Axt zerhauen werden. 26 Babel, Die Reiterarmee. 1994, S. 15f. Vgl. „Во-вторых строках сего письма спешу вам описать за папашу, что они порубали брата Федора Тимофеича Курдюкова тому назад с год времени. […] И папаша начали Федю резать, говоря – шкура, красная собака, сукин сын и разно, и резали до темноты, пока брат Федор Тимофеич не кончился. Я написал тогда до вас письмо, как ваш Федя лежит без креста. Но папаша пымали меня с письмом […]“. Babel’, t. 2. 2006, S. 50.

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Textes, wobei auch unter diesem Winkel das Ahistorisch-Jetztzeitliche futuristisch konnotiert wird, weil auf die Vergangenheit nicht einmal während ihrer metonymischen Vernichtung geblickt wird: „[…] und Semёn Timofeicˇ schickte mich vom Hof, so daß ich Ihnen, liebe Frau Mama Evdokija Fёdorovna, nicht beschreiben kann, wie sie Papa fertiggemacht haben, weil mich hatten sie vom Hof geschickt“.27 Die poetologische, medial konnotierte Position, die Babels Text bestimmt, ist also die (sadistische) Eroberung der Schrift durch die Stimme eines vaterlosen Bauernjungen. Auf den Literaturprozess projiziert (und im Sinne von Dobrenko): Wollen wir schreiben wie die Bauernkinder reden! In Bobrowskis „Brief aus Amerika“ haben wir ebenfalls einen charakterisierenden Bauern-skaz als Binnenerzählung vor uns: „Brenn mich, brenn mich, brenn mich, singt die alte Frau und dreht sich dabei […] Im Haus auf dem Tisch liegt ein Brief. Aus Amerika. Da steht zu lesen: Meine liebe Mutter. Teile dir mit, daß wir nicht zu dir reisen werden. Es sind nur ein paar Tage, sag ich zu meiner Frau, dann sind wir dort, und es sind ein paar Tage, sage ich, Alice, dann sind wir wieder zurück. Und es heißt: ehre Vater und Mutter, und wenn der Vater auch gestorben ist, das Grab ist da, und die Mutter ist alt, sage ich, und wenn wir jetzt nicht fahren, fahren wir niemals.“ (S. 24)

Der Brief bleibt hier dabei nur eine Version der Bauernsprache; die ohne Interpunktion gegebenen Passagen aus der Perspektive der singenden Protagonistin, die sich mit der Rede des Erzählers verschmelzen, bilden einen ebenfalls mündlichen Hintergrund, vor dem das schriftlich-materielle des Briefes an Profil gewinnt. Bei Babel war der Brief eine Verstümmelung der Schrift durch Stimme, das gebildet-schriftliche befand sich im Rahmentext; bei Bobrowski wird der Rahmen so aufgebaut, dass das „äußere“ Singen gegenüber dem skaz des Briefes als noch mündlicher dargestellt ist – die Mündlichkeit will sich (wieder) vor der Schrift wissen, der skaz des Sohnes wird dem skaz der Mutter unterordnet. Darin lässt sich nun, zunächst auf der Figurenebene, eine masochistische Semantik im Sinne von Gilles Deleuze ausmachen. Auch bei Babel geht es zwar um einen Brief an die Mutter, nur bei Bobrowski ist aber die Mutter als eine mit Stimme ausgestattete Leserin des Briefes präsent; dabei ist der Vater schon unbestimmt lange tot. Diese Verschiebung trägt der Entstehung der masochistischen Konfiguration bei: man findet im „Brief aus Amerika“ eine symbolische Dominanz der Mutter, die durch den verneinenden Charakter des Briefes keineswegs in Frage gestellt wird: wie Deleuze 1967 formuliert, ist „im Masochismus eine doppelte Verneinung am Werk, nämlich eine positive, ideale und magnifizierende der Mutter (die 27 Babel, Die Reiterarmee. 1994, S. 18. Vgl. „[…] и Семен Тимофеич услали меня со двора, так что я не могу, любезная мама Евдокия Федоровна, описать вам за то, как кончали папашу, потому я был усланный со двора“. Babel’, t. 2. 2006, S. 52f.

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mit dem Gesetz identifiziert wird), und eine annullierende des Vaters (der aus der symbolischen Ordnung vertrieben wird)“.28 Der Brief enthält eine Absage an die Mutter, die aber die gesetzgebende bzw. urteilberechtigte Instanz des Textes bleibt (gleichsam eine stärkere Stimme hat). Diese – „das zeitlos Gültige“29 ausdrückende, daher mythologisch, chtonisch-archaisch konnotierte – mütterliche symbolische Ordnung ist auch für die Erzählungen „Rainfarn“ und „Sonnenbad“ wirksam, die weiter unten analysiert werden. Es wird aber im Folgenden darüber hinaus deutlich, dass die mütterliche phonozentrische Symbolik, die sich als ‚skaz-haftigkeit‘ entfaltet, von der den skaz transzendierenden lokalgeographischen visuellen Indexikalität ‚gestochen‘ wird, wobei eine weitere, poetologisch induzierbare und von Figuren abgelöste masochistische Ebene generiert wird. Wie gerade gezeigt, wird der skaz im „Brief aus Amerika“ keiner einzelnen Erzählinstanz vorbehalten. Eine solche das gesamte Erzählen umfassende Mündlichkeit bei Bobrowski wurde in der Forschung schon früh registriert. Auf die skaz-Merkmale seiner Prosa hat Bernd Leistner aufmerksam gemacht,30 über die „erzählte Mündlichkeit“ schreibt auch Ernst Ribbat, der unter anderem auf ein Missverhältnis zwischen der „exotischen Idylle“, die die Erzählweise suggeriert, und dem Thema der Verbrechen und Gewalttaten des Zweiten Weltkriegs hinweist.31 Auf die transhistorischen Implikationen einer in der Mündlichkeit verankerten Erzählweise geht schließlich Günther Butzer ausführlich ein, dem es vor allem um den Roman „Levins Mühle“ geht – hier „verwendet Bobrowski durchgehend das Präsens als Erzähltempus und erzeugt so eine narratologische Paradoxie: Denn einerseits wird durch das Hervortreten des selbst nicht an der Handlung beteiligten Erzählers die Vermitteltheit der Geschichte betont, andererseits bewirkt die konsequente Benutzung des Präsens einen szenischen Effekt, der

28 Deleuze, Gilles: Sacher-Masoch und der Masochismus. Übers. v. Gertrud Müller. In: SacherMasoch, Leopold von. Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze. Frankfurt/Main: Insel 1980, S. 163–281, hier S. 220. Der Text erschien 1967 unter dem Titel Présentation de Sacher-Masoch. Le froid et le cruel. Vgl. auch bes. das gesamte Kapitel „Vater und Mutter“ (S. 208ff.); eine der mutterhaften Frauengestalten ist bei Masoch bemerkenswerterweise „die sarmatische Bäuerin“ (S. 200). 29 Ebd., S. 215. 30 Vgl. Leistner, Bernd: Der Erzähler. In: Johannes Bobrowski. Selbstzeugnisse und neue Beiträge über sein Werk. Hrsg. v. Gerhard Rostin/Eberhard Haufe/Bernd Leistner. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1975, S. 323–339. 31 Ribbat, Ernst: Erzählte Mündlichkeit. Aspekte der Sprache im Prosawerk Johannes Bobrowskis. In: Sarmatische Zeit. Erinnerung und Zukunft. Johannes Bobrowski Colloquium 1989 in der Akademie Sankelmark. Hrsg. v. Alfred Kelletat. Sankelmark: Akademie Sankelmark 1990, S. 43–56, hier S. 52.

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den Erzähler (und mit ihm den Hörer/Leser) so nahe wie irgend möglich an das Geschehen heranführt.“32

Als Resultat entsteht bei Bobrowski für Butzer „ein präsentischer Erzählraum, der alle Sprecher, den Erzähler eingeschlossen, in der Mündlichkeit zusammenführt. […] Der Erzähler erinnert das Vergangene nicht, sondern es steht vor ihm in totaler Präsenz, ja es umfasst ihn selbst, da er sich durch keine historische Differenz von ihm abzugrenzen vermag“.33 Die mehrere Erzählebenen übergreifende skaz-Stimmlichkeit wirkt also szenisch-präsentisch. Die „historische Differenz“ wäre jedoch möglicherweise – wie das Grab des Vaters – auf der Ebene des Lokus zu suchen, dort vor allem, wo Ortsverweise visuelle Paradigmatik bzw. Objektivierbarkeit einschalten. Dadurch, dass die Temporalität der Vergangenheit aber nicht in das Erzählen aufgenommen wird, fällt die (stimmliche) Benennung des Lokus mit seiner (‚objektiven‘) Negierung zusammen: Wir sind damit in einem Ostpreußen, das bekanntlich ‚nicht da‘ ist. Der stimmliche, ‚subjektive‘ „Erzählraum“ verweist durch seine Berührung mit der Toponymik bzw. Geographie fortwährend auf den (abwesenden) ‚objektiven‘ Raum der lokalen Sichtbarkeit. Damit lässt sich auch die temporale Kluft zwischen dem Schreiben in der deutschen Sprache – das auf die Arbeit des realen Autors Bobrowski bezogen werden kann – und der Bewegung der gesprochenen deutschen Sprache in ostpreußischer Vergangenheit ‚lokal‘ auffassen: das temporal konnotierte Merkmal ‚nicht überwindbar‘ im Hinblick auf den Umgang mit dem schuldhaften Erinnern verwandelt sich in ein geographisches ‚fern‘, ‚nicht erreichbar. Eine Schrift, die dem Status des ostpreußischen Lokus getreu ist, kommt „aus Amerika“. In seinen Ausführungen zur Funktion der Sprache bei de Sade und Masoch bemerkt Deleuze, dass während für de Sade der Gehörsinn (d. h. die Stimme) entscheidend ist, tritt für Masoch – im Leben wie im Werk – der schriftliche Vertrag in den Vordergrund, unter anderem in Form eines Briefes.34 Das entspricht poetologisch der Einseitigkeit des Stimmlichen bei Babel – und einem dialektischen Verhältnis von skaz (Stimme) einerseits und, andererseits, dem Sehen (Schrift und Lokus) bei Bobrowski. Insgesamt ist der „dialektische“ – „umkehrende“ und „verdoppelnde“– Modus für Deleuze eines der Schlüsselin32 Butzer, Günter: Oralität und Utopie. Überlegungen zur Funktion simulierter Mündlichkeit im modernen Erzählen, mit Beispielen von Johannes Bobrowski, Jurek Becker, Helga Schütz und Walter Kempowski. In: Peter Weiss Jahrbuch 10, 2001, S. 103–119, hier S. 108. Vgl. auch das Kapitel „Erzählung. Johannes Bobrowski, Levins Mühle“ in der Monografie: Fehlende Trauer. Verfahren epischen Erinnerns in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München: Fink 1998, S. 63–97. 33 Butzer, Oralität und Utopie. 2001, S. 109. 34 Vgl. Deleuze, Sacher-Masoch. 1980, S. 173f. In dieser Ausgabe sind auch zwei Unterwerfungsverträge von Sacher-Masoch abgedruckt (S. 139ff.).

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dizien der masochistischen Sprache.35 Igor Smirnov knüpft in diesem Aspekt an Deleuze an: „Der Einstellung auf die Selbstnegation entspricht […] eine elementare Dialektizität des Masochisten, für welchen der Unterschied zwischen Negation und Affirmation als aufgehoben auftritt“.36 Daraus lassen sich für Smirnov unter anderem folgende Merkmale des masochistischen literarischen Diskurses ableiten: „Indem er seine Identität im Prozess der „ich“-Zerstörung gewinnt, stellt der Masochist einen solchen Kontakt mit der Welt der Objekte her, dass die Nicht-Gegenwart einer Erscheinung in der äußeren Wirklichkeit von ihm als Gegenwart gedeutet wird“37 (vgl. den abwesend-sichtbaren Status des ostpreußischen Lokus bei Bobrowski). „Diejenigen, die hier und jetzt abwesend sind, finden sich trotzdem im aktuell wahrnehmbaren Milieu, das den Helden umgibt“;38 „Vom Erlebten geht nichts in die Vergangenheit über, wird nichts zum Bestandteil der Geschichte“.39 (Damit zeigt sich ein masochistischer Hintergrund für den paradoxen „präsentischen Erzählraum“ in Bobrowskis Texten.) Die Dialektik von skaz und Lokus bestimmt nun den „Brief aus Amerika“ in seinen semantischen Mikrodynamiken. Das Grab des Vaters wird bei einer ‚amerikanischen‘ Lokalisierung der Schrift auch metonymisch nach „Amerika“ verschoben, von diesem Grab berichtet nämlich nur der Binnentext des Briefes „aus Amerika“. Damit entsteht ein komplex aufgebautes poetisches Sehen (man sieht auf die Schrift des Briefes, in welchem gezeigt wird, wie man in Amerika das ostpreußische Vatergrab erblickt) als Szene innerhalb einer ebenfalls komplexen Poetik der Mündlichkeit (ein skaz umrahmt einen Brief, der im skaz verfasst ist) – einer Mündlichkeit, der gleichsam das Sichtbare immer wieder über den Mund fährt, was aber ihre schmerzhafte Widersetzung den Dispositiven des Sehens nicht aufhalten kann. Die Protagonistin will von der (hier mit Blindheit assoziierbaren) Sonne verbrannt werden („Brenn mich“), das stimmliche, subjektive Ich beschwört im Singen das Auslöschen des sichtbaren, objektiven Ich. Zu verbrennen sind auch der amerikanische Brief und die Gesichter der Familienmitglieder: „Die alte Frau nimmt den Brief vom Tisch, faltet ihn zusammen und trägt ihn in die Küche auf den Herd. Sie geht wieder zurück in die Stube. Zwischen den beiden Fenstern hängt der Spiegel, da steckt in der unteren Ecke links, zwischen Rahmen und Glas, ein

35 Ebd., S. 178f. Bemerkenswert sind in dem Zusammenhang die Formulierungen des empörten Budёnnyj nach der Veröffentlichung der „Reiterarmee“: Anstatt „Dialektiker zu sein“ (быть диалектиком) sei Babel ein „kranker Sadist“ („больной садист“); verurteilt wird „das Prisma seines Sadismus“ („призма его садизма“). – Budёnnyj, Semën. Babizm Babelja iz „Krasnoj novi“. In: Oktjabr’, 1924, Nr. 3, S. 196–197. 36 Smirnov, Psichodiachronologika. 1994, S. 238. 37 Ebd., S. 241. 38 Ebd., S. 242. 39 Ebd.

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Bild. Eine Photographie aus Amerika. Die alte Frau nimmt das Bild heraus, sie setzt sich an den Tisch und schreibt auf die Rückseite: Das ist mein Sohn Jons. Und das ist meine Tochter Alice. Und darunter schreibt sie: Erdmuthe Gauptate geborene Attalle. […] Als der Annus von Tauroggen gekommen ist, damals, und hiergeblieben ist, damals: es ist wegen der Arme, hat er gesagt, solche weißen Arme gab es nicht, da oben, wo er herkam, und hier nicht, wo er dann blieb. […] Sie legt das Bild auf den Herd, neben den zusammengefalteten Brief. Dann holt sie die Streichhölzer aus dem Schaff und legt sie dazu. Werden wir die Milch aufkochen, sagt sie und geht hin aus, Holz holen.“ (S. 25f.)

Es ist aus intertextueller Perspektive beachtenswert, dass im „Brief“ von Babel im abschließenden Rahmentext ebenfalls ein photographisches Familienbild ekphrastisch vorkommt: „Wenn du willst – hier ist unsere Familie… Er hielt mir eine zerknickte Photographie entgegen. Darauf abgebildet war Timofej Kurdjukov, ein breitschultriger Aufseher in Uniformmu¨ tze und mit gekämmtem Bart, starr, mit starken Jochbeinen und glitzerndem Blick aus farblosen und verständnislosen Augen. Neben ihm, in einem Korbsesselchen blinzelte eine winzig kleine Bauersfrau in einer Bluse, die über den Rock hing, mit kränklichen hellen und schüchternen Gesichtszügen. Und vor der Wand, vor diesem erbärmlichen Provinzateliershintergrund mit Blumen und Tauben, ragten zwei junge Kerle in die Höhe – ungeheuer riesig, stumpf, breitgesichtig, glotzäugig, stramm wie auf dem Exerzierplatz, die beiden Brüder Kurdjukov – Fёdor und Semёn.“40

Hier stellt eine ‚professionelle‘ Ekphrasis des als Kriegsreporter identifizierbaren Rahmenerzählers für einen ‚spontanen‘ skaz des Kindes bzw. das photographische Bild für die Bauernrede keine konkurrenzfähige Alternative dar, was durch den zerknickten Zustand des Bildes signalisiert wird – eine Spur der sadistischen Objektdemolierung bzw. -annullierung, die wie auch der skaz selber mit dem Agens Kind korreliert. Beim Foto als Bild darf es dabei sowohl um eine indexale Verbindung zu den abgebildeten Personen als auch um ein ikonisch semiotisiertes studium gehen (im Sinne von Roland Barthes;41 als Code etwa: ‚Bauernfamilie im Provinzatelier‘): Die Beschreibung einer „kaputtgemachten“ (сло-

40 Babel, Die Reiterarmee. 1994, S. 19. Vgl.: „Если желаешь – вот наша фамилия… Он протянул мне сломанную фотографию. На ней был изображен Тимофей Курдюков, плечистый стражник в форменном картузе и с расчесанной бородой, недвижный, скуластый, со сверкающим взглядом бесцветных и бессмысленных глаз. Рядом с ним, в бамбуковом креслице, сидела крохотная крестьянка в выпущенной кофте, с чахлыми светлыми и застенчивыми чертами лица. А у стены, у этого жалкого провинциального фотографического фона, с цветами и голубями, высились два парня – чудовищно огромные, тупые, широколицые, лупоглазые, застывшие, как на ученье, два брата Курдюковых – Федор и Семен“. Babel’, t. 2. 2006, S. 53. ¨ bers. v. Dietrich 41 Vgl. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. U Leube. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 35ff.

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манн[ой]) Photographie ist eine Art metapoetische Bestätigung, dass der skaz bei seiner (oben dargelegten) Nichtunterscheidung zwischen Fakten und Zeichen in der Tätigkeit des „Entzweihauens“ erfolgreich ist. Symptomatisch ist es außerdem, dass die Schilderung des Bildes beinahe den gesamten Text des Rahmenerzählers im „Brief“ ausmacht: Der photographische Diskurs induziert nämlich immer die Sprachkritik,42 die Sprache außerhalb des skaz zieht sich ‚hinter das Bild‘ zurück. Auch der Lokus der Reiterarmisten ist dynamisch und transitiv.43 Bei Bobrowski ist die „Landschaft“ für die Lebenswelt seiner „Leute“44 dagegen konstitutiv, die Stimmlichkeit als Erzählmodus ist daher letztendlich auf das Sehen angewiesen, weigert sich aber, das Sehen zu integrieren;45 der Moment dieser Weigerung wird zum dialektischen Dreh- und Angelpunkt des skaz. Die Protagonistin schreibt auf die Rückseite des Bildes von ihrem Sohn und seiner Frau: Das Schreiben wird so kurzzeitig subjektiv-taktil und bedeutet damit eine Annäherung an die Stimme; das Geschriebene sind aber objektivierende Namen, die eine jähe Entfernung von der Stimme in der semiotischen Verdopplung des photographischen Sehens konstituieren. Die Produktion der sichtbaren Namen geht nahtlos in ihre im Schluss des Textes angekündigte Verbrennung/Vernichtung über – einschließlich des eigenen, lokal-geologisch konnotierten Namens (Erdmuthe). Die Verbrennung richtet sich damit auf die verbrennende Protagonistin selbst – als Schreibende, als Mutter, als ihre eigene Handschrift;46 die Stimme übergibt sich gleichsam zuerst der Sonne, danach dem Feuer, was wieder die masochistische Dynamik unterstützt. So lässt sich eine masochistische Se42 Vgl. Amelunxen, Hubertus: Von der Theorie der Fotografie 1980–1995. In: Theorie der Fotografie IV. 1980–1995. Hrsg. v. Hubertus von Amelunxen. Mu¨ nchen: Schirmer/Mosel 2000, S. 11–22, hier S. 15f. Zu Figuren der mit Photographie verbundenen Sprachskepsis in der russischen Literatur vgl. auch Urupin, Innokentij: Fotografija v „Dare“ V. Nabokova. Ot vospominanija k jazykovomu skepsisu. In.: Die Welt der Slaven, LVII, 2012, S. 213–236. 43 Paradigmatisch ist der Titel der ersten Erzählung der „Reiterarmee“ – „Die Überschreitung des Zbrucˇ“ („Переход через Збруч“). 44 Vgl. Bobrowski, Johannes: Litauische Claviere. In: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Eberhard Haufe. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1987. Bd. 3. Die Romane, S. 225–332, hier S. 319. (Kap. VIII.) 45 Die skaz-Stimmlichkeit muss ‚durchsichtig‘ gemacht werden, damit die oft auf Bobrowski bezogene hamannsche Anwendung der Formel „Rede, dass ich dich sehe“ für die hier analysierten Texte wirksam wird; vgl. „Wenn im Anschluß an die bei Hamann gewonnene Vorstellung einer situativ-offenbarenden Handlungssprache die Darstellung der Erscheinungswahrnehmung in der Prosa Bobrowskis untersucht wird, so geschieht dies auf der Ebene der poetischen Wahrnehmungsbeschreibung. Es geht um die literarisch beschriebene Ausdrucksgestalt der Natur und nicht um die Sprachgestalt der Texte selbst.“ Degen, Andreas: Bildgedächtnis. Zur poetischen Funktion der Sinneswahrnehmung im Prosawerk Johannes Bobrowskis. Berlin: Erich Schmidt 2004, S. 61. 46 Dass die Mutter das zu verbrennende Bild „unterschreibt“, unterstützt aber auch den vertraglichen Charakter der Dialektik von Reden und Sehen.

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mantik in Bobrowskis poetischem Prinzip entdecken, bei dem die Stimme für ein inszeniertes Am-Leben-Halten memelländischer Dörfer privilegiert und eine objektivierbare Zeichenhaftigkeit immer wieder unterbunden wird.47 Der totale Anspruch des Stimmlichen und der fehlende Modus des Erinnerns,48 und damit eine selbstreferentielle/antisemiotische Tendenz, berechtigen die Vermutung, dass sich Bobrowskis skaz im Banne der skaz-Situation der russischen Avantgarde bewegt und vor allem eine utopische Einstellung realisiert, für die etwa ein ethnographischer ‚Naturalismus‘ (skaz als ‚lokaler Kolorit‘) nur eine untergeordnete Rolle besitzt.49 Die Amnesie der stimmlichen ‚Selbstvergessenheit‘ wird jedoch dadurch bestraft und gleichzeitig gebessert, dass das Lokal-Topographische mitten im skaz unterschwellig einen eigenen Beziehungsbereich bildet, wo es sich als das Erinnerte codiert. Ein Erinnertes wird aber von der Schrift/vom Sehen dominiert. Die (singende) Protagonistin des „Briefes“ ist vom Begehren hingerissen, sich zu verbrennen, unerkennbar zu machen. In der Erzählung „Rainfarn“, mit der sich der nächste Abschnitt auseinandersetzt, wird nun Unerkennbarkeit zum zentralen Thema. Die damit verbundene Frage nach Sichtbarkeit, nach dem Gesehen-Werden (als Objekt für Andere) schafft einen Anknüpfungspunkt für die – mit dem Masochismus verwandte – Problematik der Scham.

III.

Selbstgespräch als Spaziergang

„Rainfarn“50 gehört zu jenen skaz-Texten Bobrowskis, in denen das szenischpräsentische Erzählen „als Face-to-face-Kommunikation zwischen einem Sprecher-Ich und einem apostrophierten fiktiven Hörer gestaltet und durch deikti47 Als biographische Hypothetik könnte man mutmaßen, dass die Ehefrau des Bauernenkels Bobrowski (Johanna Buddrus), eine Bäuerin aus Motzischken an der Jura, diese amnestischasemiotische Illusion des skaz durch die eigene Stimme am Leben gehalten haben mag. 48 Dort, wo sich das Erinnern im Erzählen scheinbar andeutet, wird sofort eine neue Gleichzeitigkeit hergestellt, die Differenz verschiebt sich auf das Lokale – wie in den zitierten Passagen über Annus. 49 Im Gegensatz zu der in den 1960er ihre Blütezeit erlebenden russisch-sowjetischen ‚Dorfprosa‘; aber auch zum Duktus der Bauerngeschichten des für Bobrowski wichtigen Hermann Sudermanns. 50 Intertextuell lässt sich für die Erzählung ein Verhältnis zu dem gesamten „Dreieck“ Walser – Sudermann – Babel rekonstruieren. Der Satz „was nennt man nicht alles Wald“ (S. 113) ließe sich mit der ‚Studie‘ „Der Wald“ (1903) aus Walsers Sammelband „Fritz Kochers Aufsätze“ verbinden; dazu kämen weitere Texte Walsers mit der Überschrift „Der Wald“; vor allem ist aber der Spaziergang als Motiv und als Form der Narrativbewegung auf Walser zu beziehen. Die in „Rainfarn“ wiedergegebene Anekdote von der Deutschen Kirche in Tilsit („getreppter Turm, viergeschossig, mit kupfernem Helm und doppelter Galerie, sehr schön, der Napoleon hat ihn mitnehmen wollen“, S. 116) kommt auch in der – vorwiegend in Präsens gehaltenen –

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sche Mittel konkretisiert ist“.51 Die abwechselnde Verwendung von man-, wirund ich-Formen in „Rainfarn“ unterstützt die Entfaltung dieses „koinzidierenden Erzählverfahrens“, das dabei im Sinne einer Einstellung auf die „Aktualität des poetischen Sprechens“ nach Andreas Degen „die Erzählweise Bobrowskis insgesamt“ charakterisiert.52 Wie auch im „Brief aus Amerika“ entsteht in „Rainfarn“ aus der transhistorischen „Aktualität“ heraus eine masochistische Subpoetik, wenn sich der Präsentismus von skaz in einem erinnerten semiotisierten Lokus objektiviert. Noch extensiver als im „Brief“ wird hier durch seine zusätzliche Aktualisierung auf faktisch-indexaler Ebene der Kontext der Familie aufgerufen. Der semantische Komplex des Sehens wird ausdrücklich thematisiert – in den Dispositionen des Spähens und der ‚Tarnkappe‘. Die transhistorische Ebene des Erzählens äußert sich zu Beginn des Textes nicht nur als „präsentischer“ Effekt der simulierten Mündlichkeit: Die Temporalität der erzählten Welt zeichnet sich vor allem durch das Jahreszeitliche aus und erhält insofern natürlich-zyklische Merkmale. In der handschriftlichen Fassung des Textes finden sich Korrekturen des Autors (vgl. Abb. 1), die die Arbeit auf dieses ‚Ahistorische‘ hin gerade am Anfang des Textes verdeutlichen, womit auch einer der Aspekte der Umarbeitung der sujetverwandten Nachlasserzählung „Sonnenbad“ besteht. In diesem Sinne wäre auch der Wechsel des lokal-topographischen Titels „Sonnenbad“ (eine Gegend in Tilsit53) in den die

Erzählung „Die Reise nach Tilsit“ (1917) von Sudermann vor („In Tilsit ist ein Kirchturm […] der ruht auf acht Kugeln, und darum hat ihn der Napoleon immer nach Frankreich mitnehmen wollen“. Sudermann, Hermann: Die Reise nach Tilsit. Prosa und Dramen. München: Langen Müller 1971, S. 390f.). Auf Babels Spur könnte man schließlich kommen, wenn man die Erwähnung des Holunders (S. 113, 220) bei der Floraschilderung als eine Anspielung auf Bobrowskis eigene Gedicht „Holunderblüte“ (1960) wahrnimmt, das auf das Schicksal von Babel und an seine Erzählung „Die Geschichte meines Taubenschlags“ („История моей голубятни“, 1925) verweist (vgl. dazu Haufe, Eberhard.: Erläuterungen der Gedichte und der Gedichte aus dem Nachlass. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1998, S. 95f. = Bobrowski, Johannes. Gesammelte Werke. Bd. 5); die Pogromdarstellung bei Babel resoniert mit der Flucht der Juden in „Rainfarn“. 51 Butzer, Oralität und Utopie. 2001, S. 108. Das Deiktische wäre – im Gegensatz zum LokalTopographischen – als eine stimmimmanente ‚Topologie‘ zu erachten. 52 Degen, Bildgedächtnis. 2004, S. 352. 53 Unter der Bezeichnung „Sonnenbad“ wären ein Lichtluftbad und eine Gartenwirtschaft im bewaldeten Stadtteil Putschine (nach 1933 Fichtenhain) zu belegen (vgl. z. B. die Bilder 15015, 18003 sowie etliche Stadtpläne von Tilsit unter www.bildarchiv-ostpreussen.de). Eine gewisse der Gegend innewohnende Sittenfreiheit – allerdings ohne FKK-Zusammenhang – ist dem anonymen Mundartgedicht „De Putschin“ zu entnehmen: „[…] Auch ladet das Licht-, Luftund Sonnenbad ein,/ so kann de Putschin einen jeden erfrein./ Daß inne Putschin auch mal einer poussiert, /der sich wo anders zu sowas geniert,/ kann einer nich leignen, doch das dessentwegen/ sich alte Schateken zermartern den Bräjen/ und schabbern von Keischheit, Tugend, Moral,/ das is e Jemeinheit, das is e Schkandal./ Is schlimm denn e Butschche in freier Natur?/ In eire Salons schlagt ihr mehr ihre Schnur!“ (Tilsiter Rundbrief [4], 1974/75, S. 56).

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Natur einführenden Titel „Rainfarn“ zu lesen. Symptomatisch ist z. B. die Korrektur in der Zeile 12, die in der Beschreibung der Varianten im Kommentarband von Holger Gehle nicht vermerkt ist: „schon frühzeitig“ wird zu „schon immer frühzeitig“.54 Es handelt sich hier um die Vermeidung des Bezuges auf ein bestimmtes Jahr und damit die historische Zeit. Stattdessen verweisen die Merkmale einer Pflanze auf sich wiederholende Abläufe im Rahmen eines jeden Jahreszyklus. Es geht aber noch weiter als nur ‚zyklisch‘ vonstatten, denn die Stimme versucht gleichsam „schon immer“ für jedes mögliche Jetzt eigene Gültigkeit zu behaupten: Im dritten Absatz der im Präsens gehaltenen Erzählung steht die Wendung „jetzt im Winter“ (S. 113), im darauf folgenden Satz: „Jetzt im Juni“ (S. 114), in der mit „Sonnenbad“ betitelten Variante aus dem Nachlass heißt es: „Ende August“ (S. 221). Aber auch bereits in diesen am meisten ‚naturbezogenen‘ Anfangspassagen entfaltet auch der Lokus seine Eigendynamik. Neben der Erwähnung der „Gärtnerei König“55 wären z. B. folgende, auch von Gehle nicht berücksichtigten, Korrekturen auch wegen ihrer Ambivalenz von Belang: „in der Gegend vorkommt“ zu „in der Gegend überall vorkommt“ (Zeile 8); „anders als Wäldchen, allgemeiner“ zu „anders als Wäldchen, viel allgemeiner“ (Zeile 19). Es geht hier einerseits um eine Deiktik, die sich auch auf eine ‚subjektive‘ Demarkation des Stimmlichen beschränken könnte. Der ‚objektive‘ Lokus tritt aber ebenfalls zutage. Im Falle der ersten Ergänzung wird die Vertrautheit des Erzählers mit der Gegend hervorgehoben, die bereits durch die Nennung der Gärtnerei König einer extratextuellen Kartographie zugeordnet ist. Auch die zweite Korrektur unterstützt indirekt die topographische Präzision, der Gang der Aussage entspricht einem Abgleich mit der objektiven topographischen Realität und einer entsprechenden Anpassung der Formulierungen („Wäldchen“ passt nicht, „Wald“ würde mit Vorbehalt passen). Ähnlich ambivalent ist die Verwendung von Personennamen, die an sich durch ihre (auch für Ortsnamen gültigen) mythologischen Implikationen56 oder aber in einer in skaz enthaltenen Pragmatik des Rufens ahistorisch wirken könnten. Da aber, wie Bernd Leistner bemerkt, die Figuren in „Rainfarn“ (Frau Schnetzkat, Arne Eisermann, Pfarrer Connor) den tatsächlichen Bekannten der Familie Bobrowski entsprechen,57 tritt der indexale Charakter der Eigennamen in

54 55 56 57

Die „Siedlung“ (S. 114, 222) ist dabei, zumindest für die 1930er Jahre, als Wohngebiet Sperlingslust zu identifizieren. In der gedruckten Fassung: „immer schon frühzeitig“ (S. 113). Gartenbaubetrieb Otto König in der Grünwalder Str. 78. Für den Hinweis danke ich Hans Dzieran. Vgl. auch z. B.: Einwohnerbuch der Stadt Tilsit 1933, 39. Jahrgang. Tilsit: J. Reylaender & Sohn 1933. S. 105, 685. Vgl. dazu z. B. Lotman, Jurij; Uspenskij, Boris: Mif–imja – kul’tura. In.: Lotman, Jurij. Semiosfera. St. Petersburg: Iskusstvo-SPB 2000, S. 525–543. Vgl. Leistner, Bernd: Der Epiker Johannes Bobrowski. Leipzig 1971. (Maschinenschriftl. Diss. an der Universität Leipzig), S. 71–72.

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Abb. 1: „Rainfarn“-Manuskript, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Blatt 1. Rainfarn Der Berg ist aus Sand. Er trägt einen dünnen Kiefernwald, vielleicht zweihundert Stämme. Wäldchen kann man darauf nicht sagen, dafür ist alles – Bäume, Unterholz, Kraut – zu schäbig und kahl. Es fehlen die Himbeerbüsche und eine herabgekommene Sorte ungenießbarer Johannisbeeren, [8] die sonst in der Gegend überall vorkommt, sogar die Tollkirsche, die besseren Boden braucht. Nur am Osthang, zur Straße hinunter und nach der Gärtnerei König zu, gibt es verwilderten, kleinblütigen [12] Flieder, der schon immer frühzeitig krausgezogene, braunfleckige Blätter zeigt, und ein bißchen Holunder. Und der Abhang auf der anderen Seite, nach der Bahnstrecke hin, hat ein Robiniendickicht, das sogar die Hunde meiden, nur die Vögel nicht. Wald dürfte man aber wohl auch nicht sagen, Wald ist das ja gewiß nicht. Doch Wald, das ist schon anders als [19] Wäldchen, viel allgemeiner, was nennt man nicht alles Wald.

den Vordergrund.58 So lassen sich in skaz Spuren realer Personen finden, die – wie auch die Ortsnamen – dem Bereich des Faktisch-Objektivierbaren zugehören. Die Namen werden dem Lokus von Tilsit buchstäblich untergeschoben: 58 Vgl. z. B. Peirce, Charles Sanders: The essential Peirce. Selected philosophical writings. Hrsg. v. Peirce Edition Project. Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1998. Bd. 2, S. 221, 282, 286, 307.

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beispielhaft drängt sich in die handschriftliche Fassung von „Rainfarn“, wahrscheinlich bezogen auf die „rotweiße Katze“, der Name Krauledat, der wieder gestrichen wird (vgl. Abb. 2; die Stelle wird im Kommentar von Gehle nicht berücksichtigt) – es handelt sich um einen Tilsiter Sportlehrer.59 In „Rainfarn“ bleiben diese Namen deutlich in auf das Sehen bezogenen semantischen Zusammenhängen, sie werden weder gerufen noch erhalten sie eigene Stimmen, indizieren aber Objekte des Spähens (der Zusammenhang des Spähens wird unten ausführlich besprochen).

Abb. 2: „Rainfarn“-Manuskript, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Blatt 2. Jetzt im Juni und jetzt am Tag, an einem Sonnabend, genau: zu Johanni, streift eine rotweiße Katze durch das Beerenkraut auf die Krüppelkiefern am Bahndamm zu. , Krauledats alte

Die zentrale Metapher ist in „Rainfarn“ die der Unsichtbarkeit: Der Erzähler wird durch die magische Kraft der Rainfarnblüte unsichtbar.60 Strukturell könnte das die Position des Stimmlichen verstärken. Der Erzähler besteht dank der Unsichtbarkeit gleichsam nur aus Stimme, worin eine Entsprechung der phänomenologisch reduzierten Stimme im Sinne der ‚grammatologischen‘ Analyse Jacques Derridas aus dem Jahr 1967 auffällt. Die Rede und Selbstanrede des Erzählers in „Rainfarn“ lässt sich nämlich als Selbstgespräch betrachten, in dem Derrida den Effekt der Selbstaffizierung hervorhebt: „Als reine Selbst-Affektion scheint die Operation des Sich-sprechen-Hörens bis auf die Innenseite der Oberfläche des eigenen Körpers reduziert zu sein“; dies führe zu einer „absoluten Reduktion des Raums selbst“.61 Die Stimme tritt als „Element“ auf, „dessen 59 Der Name kommt auch in „Litauischen Clavieren“ und „Lobellerwäldchen“ vor. Im Zusammenhang mit „Litauischen Clavieren“ kommentiert Bernd Leistner: „[…] sind […] Krauledat und Kankelat Porträts von Personen, die de facto existierten; und wie im Falle der eigenen Tante verzichtet Bobrowski auch hier auf eine Modifizierung der Namen: Den tatsächlichen Tilsiter Sportlehrer Krauledat kannte Bobrowski durch seine häufige Besuche in Motzischken (Krauledat war der Schwiegersohn des Motzischker Gastwirtes Brenneisen, der wiederum in die Erzählung „Begebenheit“ hineinmontiert wurde) […]“. Leistner, Der Epiker. 1971, S. 205. 60 Holger Gehle verweist darauf, dass diese Eigenschaft von Rainfarn eine märkische Quelle hat. Vgl. Gehle, Holger: Erläuterungen der Romane und Erzählungen, der vermischten Prosa und der Selbstzeugnisse. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S. 381f. (Bobrowski, Johannes. Gesammelte Werke. Bd. 6.). 61 Derrida, Jacques: Die Stimme und das Phänomen. Übers. v. Jochen Hörisch. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979, S. 136.

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Phänomenalität nicht die Form des Innerweltlichen hat“62, so dass „die Oberfläche meines Körpers als Bezugspunkt zum Außen“ sich nicht mehr der Welt zu exponieren hat.63 Beim ‚phonozentrischen‘ Bobrowski entsteht in „Rainfarn“ eine Dynamik, die diese dekonstruktivistischen Auslegungen, welche darauf hinauslaufen, dass sich die Stimme der Logik der Signifikation/der Differenz/der Schrift unterwirft,64 durchaus illustrieren könnte: Das Selbstgespräch wird in „Rainfarn“ gerade in seiner absoluten Raumreduktion und dem Entbehren der Körperoberfläche objektiviert. Mit einer Übertragung dieser phänomenologischen Konstruktion auf eine poetologische Ebene erhalten wir auf den ersten Blick gerade den von Butzer beschriebenen szenischen, am Geschehen „so nahe wie irgend möglich“ disponierten skaz-Erzähler, der also nah – aber nicht exponierbar bzw. raumlos ist. Für „Rainfarn“ wird hier aber zu einem Problem, dass der Erzähler eine ‚vollwertige‘ Figur darstellt/konturiert, die einen Spaziergang unternimmt. Dadurch wird sie räumlich durch eine ausdrückliche Unfreiheit gekennzeichnet: Die Stimme schreitet durch die Bezirke einer Stadt. Im Gegensatz zur ‚szenischen‘ Konfiguration ist die Unsichtbarkeit des Erzählers nicht nur narratologisch deduzierbar – sie ist innerweltlich, wodurch die skaz-Stimme auch an Objektivierbarkeit/ Objektheit gewinnt. Eine geschlossene Subjektheit (Stimme, Selbstgespräch) koinzidiert in ihrer räumlichen Lokalisierung (in der Stadt Tilsit) mit einer übersteigerten Objektheit (Selbstschmälerung bis hin zur Unsichtbarkeit). Als Figur ist der skaz-Erzähler mit keiner ‚vierten Wand‘ des szenischen Effektes mehr versehen, strukturell könnte er in der erzählten Welt als Teil dieser Welt gesehen werden. Die Unsichtbarkeit entfaltet sich weniger in Bezug auf den apostrophischen Rezipienten als im Verhältnis zum Lokus von Tilsit. Die Stimme bewegt sich hier also in der Topographie der historischen Stadt Tilsit, die ganz und gar eine Metonymie der erinnerten familiären Gemeinschaftlichkeit darstellt. Der ‚abwesende‘ Lokus ist hier nicht nur die ‚Landschaft‘ (wie in „Brief aus Amerika“), sondern auch Namen, Adressen und Wege der Bekannten, denen Faktizität anhaftet.

62 Ebd., S. 132. 63 Ebd., S. 136. Zur „Exponierung“ vgl. Derrida, Jacques: La voix et le phénomène. Paris: PUF 1993, S. 88. 64 Vgl. auch „Die Operation des ‚Sich-sprechen-Hörens‘ ist eine singuläre Selbst-Affektion schlechthin. Denn einerseits operiert sie im Medium der Universalität; die dort erscheinenden Signifikate müssen Idealitäten sein, die idealiter unendlich als dieselben müssen wiederholt oder weitergegeben werden können. Andererseits kann sich das Subjekt hören oder aussprechen, sich also vom selbstproduzierten Signifikanten affizieren lassen, ohne den Umweg über die Instanz des Außen, der Welt, des Fremden nehmen zu müssen“. Derrida, Die Stimme. 1979, S. 135.

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Tilsit ist nämlich die Heimatstadt von Bobrowski. Mit „Rainfarn“ bzw. „Sonnenbad“ haben wir beinahe den gesamten „Tilsiter Text“ von Bobrowskis Prosa. Dazu kommen noch die ersten Seiten im Roman „Litauische Claviere“, in dem auch einige Personennamen real sind65 und auffälligerweise die Stadt Tilsit von einem Autorenpaar (Gawehn und Voigt in einem skaz-haft übermittelten Dialog über eine entstehende Oper) fluchtartig verlassen wird. In „Litauischen Clavieren“ wird Tilsit an einem 23. Juni, in „Rainfarn“ an einem 24. Juni66 erlebt, also an einem Johannistag, was nicht nur die mythologisch-ahistorische, sondern auch familiärlokale Ebene zusätzlich verstärken mag – als onomastische Verknüpfung zur bereits angesprochenen Situation des memelländischen Redens zwischen dem Autor Johannes und seiner Gattin Johanna; auch Bobrowskis Mutter hieß Johanna. Die Heimatstadt samt ihren kommunal-familiären Zusammenhängen ist also nur flüchtig, am besten unter einem magischen Schutz zu betreten. Um nun die Tropik des Tarnrainfarns für diesen vertrauten Lokus genauer zu verstehen, erscheint es aufschlussreich, die Metapher der Unsichtbarkeit nicht eigenständig, sondern als Teil einer Metapher der Scham zu betrachten.

IV.

Tilsiter Scham, deutscher Stolz

Für einen Anschluss an die Schamproblematik liefert uns dabei die Erzählung auch einen expliziten Anlass. Wir haben nämlich die Situation eines Durchspähens durch ein Loch. „Es handelt sich also um Freikörperkultur, einen eingetragenen Verein, und um sein Reservat, das, wie es sich gehört, am äußersten Stadtrand liegt. Der lange Bretterzaun, zwei Meter zwanzig hoch, hat seine zweihundert Astlöcher, schlecht gerechnet, die oberen für Erwachsene, die unteren für die Jugend. […] da könnte man sich an den Zaun stellen, ungesehen. Die rosige Frau Schnetzkat, weich in den Formen. Oder Arne Eisermann […] Sowas gäbs hier zu sehen.“ (S. 114f.)

Nach der bekannten Analyse von Jean-Paul Sartre können wir einen auf uns gerichteten Blick nie phänomenologisch erfassen, es gebe kein „Blick-Objekt in der Welt“, zu erlangen wäre nur ein Bewusstsein, „erblickt zu werden“.67 Unsere Auseinandersetzung mit diesem Bewusstsein, vor dem Blick des Anderen nicht 65 Vgl. Leistner, Der Epiker. 1971, S. 205, 208f. 66 Der Johannistag an einem Sonnabend (vgl. S. 114) könnte in Verbindung mit in das Memelland fliehenden Juden wohl nur das Jahr 1933 betreffen; in „Litauischen Clavieren“ wird aber (vgl. Bobrowski, Litauische Claviere. 1987, S. 273) der 24. Juni 1936 zu einem Sonntag erklärt; die Jetztzeit des skazes ist also kalendarisch flexibel; ein Samstag wäre dann vor allem (ahistorisch) mit Sabbat zu assoziieren. 67 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Übers. v. Hans Schöneberg. Reinbek: Rowohlt 1985 [1943], S. 345.

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geschützt werden zu können, objektiviert sich in der Empfindung der Scham. Die Szene, die bei Sartre die Entstehung von Scham illustriert, ist das Erwischtwerden beim Spähen durch ein Schlüsselloch.68 Man ist zunächst ein unreflektiertes Bewusstsein dessen, was man hinter dem Loch wahrnimmt – und man wird, indem man sich im fremden Blick erlebt, in das eigene Sein als Objekt hinabgeworfen. Das Ich (Subjekt) erlebt die Objektheit seines Seins: Die Scham ist „Scham über sich selbst, sie ist Anerkennung des Tatbestandes, das ich wirklich jenes Objekt bin, das der Andere ansieht und aburteilt. Ich kann mich nur über meine Freiheit schämen, insofern sie mir entgeht und ein gegebenes Objekt wird“. Wie skaz ist dabei auch die Scham „gegenwärtig“,69 stellt das Ahistorische in der Paradigmatik des Sehens dar. Sartre spricht dabei direkt über „die masochistische Haltung“, die sich durch das „Objekt-Sein im Scham-Gefühl“ realisiert.70 Im Text „Sonnenbad“ wird diese Struktur auf der Ebene der Handlung entfaltet: Der am Loch beobachtende Junge wird von seiner Mutter erwischt und körperlich bestraft. Es findet also eine musterhafte Entsubjektivierung der Figur statt, die ertappt und geschlagen wird. Nach diesem mütterlichen Bestrafen kommt die Erzählung „Sonnenbad“ zum Zyklischen zurück, wobei die Mythologisierung des Lokalen regelrecht beschworen wird: „Es wird Sonntag, jetzt, an diesem Sonntag, und die Siedlung heißt weiter Sonnenbad, heute, morgen, nächste Woche, auch Ende September noch, wenn es still wird hinter den Bretterzäunen, und sogar noch im Winter, wenn die Rodelbahnen wieder Leben um den Berg herum machen, Schulklassenlärm und Halbwüchsigenpfiffe.“ (S. 225)

Eine Disziplinierung wird in den Kontext einer gewollten ewigen sonnenerfüllten Wiederkehr gestellt, das schmerzhafte Belehrt-Werden erhält den Status einer genussvollen Wunschvorstellung. Diese wird auf der Ebene der skaz-Stimme erlebt, die die Objektheit des Erwischt- und Geschlagen-Werdens mit der Objektheit der Tilsiter Topographie synchronisiert. Hier ist es schön, entsubjektiviert zu werden, durch den Lokus. Dass die ‚lokale‘ Strafe in „Sonnenbad“ dabei die Mutter vollzieht, resoniert auch deutlich mit dem deleuzschen MasochismusKommentar: Wie schon im Zusammenhang mit „Brief aus Amerika“ dargelegt, ist eine mütterliche symbolische Ordnung „das Ausdrucksmedium des Masochismus“;71 es ist die mythologisch konnotierte Mutter, der die disziplinierende Rolle vorbehalten ist. In „Rainfarn“ wird nun die schamhaft-masochistische Konstellation keineswegs aufgehoben, wenn auch die Motivationen auf der Ebene der Handlung kaschiert werden und das Tropische – die Figur der Tarnung – in den Vorder68 69 70 71

Vgl. ebd., S. 345ff. Ebd., S. 348. Ebd., S. 484. Deleuze, Sacher-Masoch. 1980, S. 215.

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grund tritt. Zu der Möglichkeit einer Tarnung äußert sich Sartre: „…meine Scham ist ein Geständnis. Später könnte ich die Unwahrhaftigkeit dazu benutzen, mich zu verkleiden, aber auch die Unwahrhaftigkeit ist ein Geständnis, denn sie ist ein Bemühen, dem Sein zu entfliehen, das ich bin“.72 Der unsichtbar machende Tarnkappeneffekt maximiert dieses Bemühen. Illustrativ könnte auch die in vielen Sprachen vorhandene auf Scham bezogene Phraseologie mit der Semantik des Verschwindens wirken wie „vor Scham vergehen“.73 Es ist also eine tropische Verstärkung, dass das beschämte Subjekt vollständig verschwindet; die entsubjektivierende Struktur der Scham/des Masochismus wird dadurch nur deutlicher. Der FKK-Kontext, der die Scham-Semantik explizit aufruft, lenkt sie dabei auch gleichsam von allem Übrigen auf sich um: Die nackten Körper sind eine naheliegende Realisierung der Scham, „Objekte-für-Andere“74 schlechthin. Ein unsichtbares Subjekt wäre vor diesem Hintergrund die höchste Stufe einer Schamunanfälligkeit – für Andreas Degen hat auch in „Rainfarn“ die Unsichtbarkeit des Erzählers eine „Entlastungsfunktion“.75 Wie aber Emmanuel Levinas in seiner frühen Scham-Analyse zeigt, ist die konventionalisierte Nacktheit keineswegs mit Scham verbunden;76 mit Scham ist die Nacktheit von uns verbunden, von der wir fliehen wollen77 und die auch synonym zu der bloßen Tatsache ist, „einen Körper zu haben“.78 Die Nacktheit zieht hier nur das Belauern an, das für die Scham des Spähers konstitutiv ist. Die objektivierende Mutter aus „Sonnenbad“ behält dabei auch in „Rainfarn“ ihren Einfluss, sie wird nur einerseits ‚entintimisiert‘ und zu einem Bestandteil der Tilsiter Topographie gemacht – dem Denkmal der Königin Luise, „der großfüßigen Landesmutter“ (S. 115).79 Andererseits wird der gesamte mit dem Lokus indexal verbundene Bekanntenkreis der Familie Bobrowski zum Agens der Beschämung, die Namen der FKKBesucher verweisen auf die Gültigkeit dieses intim-familiären Zusammenhangs. Die Unsichtbarkeit, die phänomenologisch (und magisch) vielleicht vor der Scham schützen könnte, wirkt metaphorisch als Zeichen einer unmäßigen 72 Sartre, Das Sein und das Nichts. 1985, S. 348. 73 Idiomatik in der Art „I wish the ground would swallow me up“, „хотеть провалиться от стыда“ etc. 74 Ebd., S. 347. 75 Degen, Bildgedächtnis. 2004, S. 90. 76 Vgl. in „Sonnenbad“: „Schamlos ist er auch, aber das sind alle hier hinter dem Zaun, das gehört sich hier so […]“ (S. 221). 77 Levinas, Emmanuel: Ausweg aus dem Sein/De l’évasion. Übers. v. Alexander Chucholowski. Hamburg: Felix Meiner 2005 [1935], S. 41f. 78 Ebd., S. 51. 79 Im Nachlassgedicht „Die Vaterstadt“, entstanden 1946 während der Gefangenschaft in Novosˇachtinsk, ist es noch „das Mal der schmerzbeengten geliebten Königin“. Bobrowski, Johannes: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Eberhard Haufe. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1987. Bd. 2. Gedichte aus dem Nachlaß, S. 82.

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Schamintensität – vor den möglichen Blicken der Bekannten der Eltern. Die Heimatstadt ist voller Bekannter, vor denen man sich mit dem Rainfarn schützen soll. Diejenigen dagegen, vor denen im Abschluss des Textes die Tarnung aufgegeben wird, sind anonym, können sogar als Funktionen bezeichnet werden. An „den salutierenden deutschen und den grüßenden litauischen Zollbeamten“ gehen „ein paar Familien“ vorbei – jüdische80 Familien, die „erst wieder stehn bleiben und atmen“ können, „wo Deutschland zuende ist“ (S. 116). Der Erzähler, der gerade noch in Manier eines einheimischen Fremdenführers in und von der Stadttopographie geredet hat, wird zu einem Beobachter in der Heterotopie einer Staatsgrenze. Der Kontext seiner Familie und privaten Bekanntschaften wird aufgehoben, es geht um Beamte und Flüchtlinge bzw. um eine staatliche oder nationale Attribuierung. Vor dem Hintergrund braucht sich der Erzähler nicht mehr zu fürchten, persönlich erkannt zu werden. Degen vermutet, dass die Szene mit den fliehenden Juden auf der KöniginLuise-Brücke auf ein photographisches Bild aus einem im Besitz von Bobrowski befindlichen Band zurückgeführt werden kann, auf dem die Stadt Memel verlassende Juden festgehalten werden.81 Die Frage wäre offen, ob hier für Bobrowski eher ein (asemiotisches) Punktum oder lediglich ein Studium (Code: „fliehende Juden“) rekonstruierbar wäre. Die Version mit dem Foto würde aber auch auf der Seite der Juden („ein paar Familien“) das Familiär-Gemeinschaftliche relativieren; die Juden wären vom Foto (dem toten Bild), das auch noch in Memel, nicht in Tilsit, gemacht wäre. Die Konfiguration hätte dann an keiner Stelle mehr etwas Privates – was aber auch ohne photographische Vermutung im Wesentlichen stimmen würde, namenlose jüdische „Familien“ haben für den skaz-Erzähler nichts Familiäres. Die Möglichkeit der Gemeinschaftlichkeit wird zwar als Redemodus angedeutet („Bleibt gesund“, S. 116), begrenzt sich aber auf diesen nicht ausgesprochenen Abschied ohne Kennenlernen. Eine Struktur, die alternativ zur Scham die Sichtbarkeit durch den Anderen realisiert, ist nach Sartre der Stolz oder die Eitelkeit. Das ist aber „eine erste Reaktion auf die Scham, und er ist schon eine Reaktion des Fliehens und der Unwahrhaftigkeit, denn ich versuche mich als einen zu erfassen, der den Anderen mit seiner Objektheit affiziert, ohne dabei aufzuhören, den Anderen für ein Subjekt zu halten“ (S. 383). Aus dieser Perspektive wäre der Verzicht des Protagonisten auf Rainfarn und sein Sichtbarwerden ebendiese Verwandlung der Scham in den Stolz. Ein Umschalten von ‚unsichtbar‘ zu ‚sichtbar‘ wäre in der Pragmatik, wo auch ‚unsichtbar‘ ein Effekt der Verkleidung ist, keine Opposition, 80 Argumente gegen die in der Forschung auch vorkommende Vermutung, es handle sich um Litauer, vgl. z. B. Degen, Bildgedächtnis. 2004, S. 85. 81 Ebd., S. 86.

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es geht lediglich um eine Entradikalisierung der immer noch vorhandenen Tarnung, um eine weniger radikale Form der Objektheit – steuerbar, nicht mehr in Scham aufgelöst. Und eine solche Objektheit am Grenzübergang macht aus einem Erzähler, der sich vor Bekannten schämt, einen Erzähler, der, hier an der Zollkontrolle, „wo Deutschland zuende ist“ (S. 116), vor allem deutsch ist. So ist zwar der gesamte Spaziergang der Stimme eine Bewegung zum deutschen Abschied von den Juden, ohne aber auch nur im Geringsten eine aktive Position im Zusammenhang mit der familiär konnotierten Kommunalität der Stadt zu sein. Tilsit bleibt auch 1964 eine „ohne Maßen geliebte Stadt“,82 und eine virtuelle Rückkehr in diese Stadt wird für einen Autor, der die Schuld der Deutschen zu seinem „Generalthema“ (S. 471, 47483) erklärt, zur Erfüllung eines poetischen ‚Vertrags‘ (man denke wieder an Sacher-Masochs Unterwerfungsverträge), bei dem der Abschied von den Juden auf der Memelbrücke oder auch das Studieren eines Fotos mit fliehenden Juden an die Stelle des stolzen Empfangs der mütterlichen Strafe eingeschoben wird – die Phase der Umwandlung der Scham in den Stolz ist auch in „Sonnenbad“ anzutreffen, nachdem das Kind beim Spähen ertappt wird: „Nun gibt arschvoll, sagt Helmut Bleßmann, komm, wir hauen ab. Aber Bodo steigt brav hinunter, geht auf die erhobene Mutterhand zu, Ella drischt rechts und links, die Schürze zwischen die Knie geklemmt, und jetzt fort von hier, ehe noch einer etwas sieht“ (S. 223). Im Tilsiter Sonnenbad (am Rande der Stadt) ist aber der augenblickliche Stolz eine Einladung zu einer sofortigen, als mythologisch bzw. zeitlos konnotierten mütterlichen Disziplinierung; an der Staatsgrenze (am Rande Deutschlands) wird dagegen die Bereitschaft, sich stolz den Blicken zu stellen, zu einer deklarativen ‚retrohistorischen‘ Bewegungssuspension. Für den gesamten „Rainfarn“-Text lässt sich daraus eine sekundäre masochistische Perspektive rekonstruieren – im Rahmen einer ‚stolzen‘, ‚deutschen‘, also weniger radikalen Objektheit, die sich in der Peripherie der hypertrophen familiär-kommunalen Scham-Objektheit entfaltet. Die Grenzheterotopie der Schlussszene ist auf diese gesamte Perspektive des ‚Stolzes‘ übertragbar, in der die Mutterstadt als „die Grenzstadt im deutschen Osten“84 umzukodieren wäre. Das wäre auch eine Fortsetzung der masochistischen Dialektik mit ihren diskursiven „Übertragungen und Verschiebungen, vermöge derer ein und dieselbe Szene immer auf mehreren Ebenen zugleich spielt, entsprechend der jeweils umgekehrt oder doppelt verteilten Rollen und ihrer Sprache“.85 In der „Grenz82 So im Gedicht „Die Vaterstadt“. Bobrowski, Bd. 2. 1987, S. 83. 83 In einem Fall ist es ein Radiogespräch, dem im Programm die Aufnahme der Lesung von „Rainfarn“ folgte, vgl. Gehle, Erläuterungen. 1999, S. 561. 84 Vgl. die Dissertation des Tilsiter Schullehrers Herbert Kirrinnis. Kirrinnis, Herbert: Tilsit, die Grenzstadt im deutschen Osten. Tilsit: Sturm-Verl. 1935. 85 Deleuze, Sacher-Masoch. 1980, S. 178.

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stadt“ ist die anfängliche Schau der nackten Deutschen zunächst als eine Enthüllung von denen zu lesen, die bei der Verfolgung der Juden weggeschaut haben. Die Assoziationen, die die Nacktheit im NS- und Schoah-Zusammenhang freilegt, implizieren dabei keine eindeutigen Zuordnungen. Die Verbindung von Entkleidung und Judenvernichtung ist nicht zu umgehen – und so kommt man auf ein Umkippen: ‚Deutsche entkleiden‘; vielleicht sogar: ‚Deutsche (mit Sonne) verbrennen‘.86 Nicht auszuschließen bleibt aber auch ein ‚realistischer‘ Modus, bei dem eine deutsche FKK-Anlage mit der Semantik der ‚Rassenreinheit‘ konnotiert wäre.87 Innerhalb der ‚deutschen‘ Perspektive wäre es auch kontextkonform, die tarnende – gelbe – Rainfarnblüte mit gelbem Judenstern zu verbinden. Dann käme es zu einer Inszenierung etwa folgender Phantasmatik: Bei den nackten Körpern im „peinlichen Reservat“ (S. 114, 222) bleibt es in aller Harmlosigkeit – und Freiwilligkeit – bei FKK-Ariern, der besternte Jude ist unsichtbar und außer Gefahr: Ich mache den Judenstern an; ich als Deutscher verbiete mir zwar, mich mit den jüdischen Opfern zu identifizieren;88 es ist aber der eine Stern, der unsichtbar macht und Rettung gibt, man ist damit als Jude gerettet; also darf ich mich doch als Jude markieren, der in diesem skaz kein Opfer mehr ist. Das wäre ein Szenario, das im skaz-Präsentismus mit einer manifesteren und weniger parabolischen, aber genauso utopischen Vision koinzidiert, in der Juden zwar keine Rettung erfahren, der mitfühlende Deutsche dafür aber nicht wegsieht („Es ist nichts: Beobachter sein“ – S. 116). Der Text belässt es dabei nicht: „Aber wir haben das ja nicht getan“ (S. 117). Nach der misslungenen ‚Stolz‘-Episode kommt die Stimme zur Position, wo auch die Unsichtbarkeit übersteigert werden müsste – nämlich zum Wunsch, das Stimme-Sein aufzugeben und vollständig mit dem Lokus zusammenzufallen: „Der Strom ist nicht so. Er ha¨ tte schon noch ein bißchen gewartet“. Im letzten Satz der Erzählung beschwört damit die selbstnegierende Stimme wieder die kartographisch belegbare Heimatlandschaft.89 86 Der Kindervers „Liebe Sonne scheine, […] Liebe Sonne brenne“ kommt nicht nur in „Brief aus Amerika“, sondern auch in „Sonnenbad“ (S. 222) vor, wo er in den Mund des unvermögenden Vaters gelegt wird; vgl. Gehle, Erläuterungen. 1999, S. 277, 455. 87 Vgl. in dem Zusammenhang Surén, Hans: Mensch und Sonne. Arisch-olympischer Geist. Berlin: Scherl 1936; Wedemeyer-Kolwe, Bernd: Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, bes. S. 389–422. 88 Auf Bobrowskis „Zurückname“ des „anfänglichen Einschreibens in die jüdische Opferperspektive“ seit 1962 weist Degen hin (Bildgedächtnis. 2004, S. 367). Es ist natürlich der Deutsche, der in beiden Entkleidungsfällen das Nackt-Sein kontrolliert (Subjekt ist); der nackte Arier ist; der nackte Jude wird nur nackt gemacht, damit er nicht ist; auch in dieser Perspektive könnte man auf den Status des skaz-Erzählers blicken, der in der Nähe der Nacktheit gelb besternt ist und direkt dadurch nicht ist. 89 Für Andreas Degen ist „Rainfarn“ ein „idealtypisches“ Beispiel einer für Bobrowski charakteristischen „dreiphasigen Erzählstruktur des Gehens bzw. Einholens der Vergangenheit“ (ebd., S. 46): perzeptive Annäherung an die Vergangenheit, erinnerte Erfahrung in der Ver-

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Die präsentische skaz-Stimme folgt also in „Rainfarn“ dem Vertrag mit dem realen Autor, die deutsche Schuld wachzurufen (‚Stolz‘) – und stößt im Lokus auf die Heimat, auf die Mutter, die gleichsam einen Vertrag höherer Kraft vorweist (Scham). Abseits dieser Selbstnegierung in der Scham oder im ‚Stolz‘ stellt sich für die Stimme in ihrem Spaziergang durch Tilsit noch der Modus eines publikumsfreundlichen ‚anekdotischen‘ skaz zur Verfügung, der das Publikum tatsächlich zum Lachen bringt.90 Die ewige Wiederkehr am Ende von „Sonnenbad“ wird durch das Singen der „Heilsarmisten“ hinter dem Denkmal der Königin Luise eingeleitet; die Mitte der Memel unter der Königin-Luise-Brücke an einem 24. Juni ist kaum von der Ikonographie des Tilsiter Friedenvertrags zu trennen mit den Verhandlungen auf Pantonbooten, die am 25. Juni 1807 angefangen hatten. Allerdings werden auch in diesem skaz, in dem vom Floß berichtet (S. 116) und die „großfüßige preußische Luise“ (S. 222) immer wieder verspottet wird, im komischen Register die masochistischen Kennzeichen wieder aktualisiert: der Tilsiter Frieden als ein bekannter deutscher Unterwerfungsvertrag, die mütterliche symbolische Ordnung in Gestalt der „Landesmutter“ Königin Luise. Zusammenfassend ließe sich feststellen, dass in Bobrowskis skaz-Texten die poetische Einstellung auf ‚retrohistorische‘ Mündlichkeit die Stellen eigener Unterlegenheit gegenüber der Paradigmatik des Sehens demonstriert, vor allem in Verbindung mit den Semantiken der geliebten Heimatorte und der Familie. Darin könnte man aber unabhängig vom Themenrepertoire den Fall einer Unvermeidlichkeit für die Postavantgarde erkennen: Das Aufheben der futuristischen Einstellung macht es dem skaz unmöglich, die eigene schriftliche Objektheit zu ignorieren; ein solcher skaz ist nicht mehr die Beherrschung der Schrift, sondern ein Vertrag mit ihr.

gangenheit, kurze Reflexion dieser Erinnerung, ethisch als Schuld markiert, wobei der Fluss als „temporales Verschmelzungsmedium“ fungiert. In der masochistisch konnotierten skazPerspektive würden die drei Phasen aussehen wie: 1) sich präsentisch-gegenwärtig anreden und anhören; 2) sich als Stimme im Sichtbaren/Lokalen objektiv in Scham/Stolz erleben; 3) Strom als Verschmelzung von Stimme und Lokus im ‚Selbstmord‘ des Stimmlichen (‚Sprung‘ von der Brücke). 90 Vgl. die Aufnahme der Lesung vom 15. Oktober 1964 – Deutsches Literaturarchiv Marbach, TTS:BX 93.

Joanna Jabłkowska (Łódz´)

Varianten der Kresy-Literatur? Johannes Bobrowskis „Levins Mühle“ (1964) und Olga Tokarczuks „Ksiegi Jakubowe“ (2014)

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist der Begriff Kresy als Beschreibung des Grenzlandes in der polnischen Kultur verankert. Dabei beschreibt der Begriff jedoch keineswegs jedes an einer Grenze gelegene Territorium, sondern bezieht sich ausdrücklich auf den östlichen Teil der ehemaligen polnisch-litauischen Doppelmonarchie. Die These des folgenden Beitrags lautet, dass der Begriff Kresy in der polnischen Nachkriegsliteratur kultiviert wurde, wenn auch mit einer anderen semantischen und geographischen Bedeutung und Funktion. Auf den ersten Blick scheint es daher paradox, dass sich Johannes Bobrowski in die Tradition des Kresy stellt. Genau hierin liegt jedoch der eigentliche multikulturelle Charakter dieses Phänomens begründet. Mithilfe von Bobrowskis „Levins Mühle“ und dem jüngsten Werk der polnischen Autorin Olga Tokarczuk, „Ksie˛gi Jakubowe“ („Jakobs Bücher“), soll die Art und Weise aufgezeigt werden, wie das literarische Erbe der Kresy eine neue, universalistischere Bedeutung erhält und sich auf andere nationale Gruppen überträgt. Der vormals polonisierte europäische Osten wird nunmehr als ethnisch, linguistisch und kulturell divers dargestellt und auf Europa insgesamt übertragen. Sowohl Bobrowski als auch Tokarczuk verhandeln dieses Phänomen innerhalb der Grenzen ihrer eigenen Poetik. From the second half of the 19th century, a specific term for the description of a borderland territory – kresy – embedded itself in Polish culture. However, the term does not denote every kind of ‚borderland‘, albeit it can be translated as such. Kresy possesses a narrower meaning: it refers to the lands situated in the eastern part of the former Polish-Lithuanian Commonwealth. This contribution argues that the term kresy is referred to in Polish literature after WWII but has changed its meaning and function both semantically and geographically. The fact that Johannes Bobrowski also refers to the tradition of kresy may seem paradoxical at first glance, yet this is perhaps precisely where the multicultural character of this phenomenon lies. Using examples of his novel “Levins Mühle” and the most recent work by Polish author Olga Tokarczuk, “Ksie˛gi Jakubowe” [The Books of Jacob], the contribution shows how the literary heritage of kresy gains a new, more universal meaning and is transferred to different national groups. The formerly polonized culture of the European East is presented in the novels as ethnically, linguistically and culturally diverse and transferred onto the whole of Europe. Both Bobrowski and Tokarczuk discuss this phenomenon within the boundaries of their own, distinct poetics.

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Für das Selbstverständnis der polnischen Kultur hat das Wort Kresy eine wichtige symbolische Bedeutung. Ins Deutsche lässt sich dieses als ‚Randgebiet‘ bzw. ‚Raum an der Grenze‘ übersetzen. Gemeint war damit ursprünglich die Kulturlandschaft, die man heute mit der Westukraine und Südost-Ostpolen verbindet. Schnell übertrug sich der Terminus auf den ganzen polnischen Osten: die litauisch- weißrussisch- und ukrainisch-polnischen Gebiete.1 Auch die polnischostpreußische Grenze wird in der Gegenwart mit Kresy bezeichnet, der deutschpolnische Grenzraum im Westen dagegen nur selten. Der Begriff Kresy wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von dem polnischen Schriftsteller Wincenty Pol (1807–1872) geprägt2 und begann sich nach dem Ersten Weltkrieg in der polnischen Literaturwissenschaft durchzusetzen. Man versuchte ihn dabei auch unter Berufung auf deutsche Forscher – u. a. auf Josef Nadler – zu definieren, was dazu führte, dass Kresy als Kategorie in der Folgezeit aus moralischen und ideologischen Gründen umstritten war. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und nach der Entstehung der Volksrepublik Polen, wurde der Begriff daher lange Zeit gar nicht verwendet. Erst in den 1970er und 1980er Jahren kam es zur Wiederbelebung der Kresy-Forschung in den Geisteswissenschaften. In der Literaturwissenschaft konzentrierte man sich dabei vor allem auf die polnische Literatur,3 obwohl die transkulturelle Dimension dieses Terminus sowohl historisch als auch im aktuellen polnischen Diskurs besondere Relevanz hat. Die historische und historiographische, soziologische sowie politologische Bedeutung des Begriffs Kresy ist vielschichtig: Mittlerweile stehen einschlägige Studien zum Thema zur Verfügung.4 In einem kurzen Beitrag wie diesem lässt 1 Zur Einführung in den Begriff Kresy in der deutschen Sprache empfiehlt sich der Artikel: Kleßmann, Christoph/Traba, Robert: Kresy und Deutscher Osten. Vom Glauben an die historische Mission – oder wo liegt Arkadien? In: Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Hrsg. von Hans Henning Hahn/Robert Traba. Paderborn: Schöningh 2012. Bd. 3 Parallelen, S. 37–70; vgl. auch den ausführlichen Lexikonartikel: Gall, Alfred: Kresy w polskiej literaturze. In: Interakcje. Leksykon komunikowania polsko-niemieckiego. Hrsg. von Alfred Gall/Jacek Gre˛bowiec/Justyna Kalicin´ska/Kornelia Kon´czal/Izabela Surynt. Wrocław: ATUT 2015, S. 327–337. 2 Vgl. Kleßmann/Traba, Kresy und Deutscher Osten. 2012, S. 41; Gall, Kresy w polskiej literaturze. 2015, S. 327. Im Roman „Mohort“ (1855) benutzte Wincenty Pol den Begriff Kresy, der ursprünglich die militärisch geschützte Südostgrenze zwischen dem Königreich Polen und den tatarischen, später türkischen Gebieten bedeutete, in einem weiteren Sinn als Bezeichnung für das ganze polnische Territorium im Osten. 3 Vgl. Czaplejewicz, Eugeniusz: Czym jest literatura kresowa? In: Kresy w Literaturze. Twórcy dwudziestowieczni. Hrsg. von Eugeniusz Czaplejewicz/Edward Kasperski. Warszawa: Wiedza Powszechna 1996, S. 7–73, hier S. 8ff. 4 Zu den jüngsten Studien zur Kresy-Problematik gehören u. a.: Głowacka-Grajper, Małgorzata: Transmisja pamie˛ci. Działacze „sfery pamie˛ci“ i przekaz o Kresach Wschodnich we współczesnej Polsce. Warszawa: WUW 2016. Głowacka-Grajper fragt nach dem kollektiven KresyGedächtnis in Polen nach 1990. Die theoretische Grundlage der Studie sind u. a. die von Jan und Aleida Assmann entwickelten Erinnerungskonzepte. Aufgrund von Umfragen und em-

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sich der Umfang des Begriffs jedoch allenfalls in Bezug auf literarische Topoi andeuten. Diese Topoi haben jenseits der gesellschaftlichen Wirklichkeit zur Entstehung eines wichtigen polnischen Erinnerungsortes (im Sinne von Pierre Nora) beigetragen,5 der auch Jahrzehnte nach dem Zerfall des polnischen Königreichs bestehen blieb. In der Belletristik haben sich unterschiedliche Bilder, Heldentypen, schließlich auch Ideologeme entwickelt.6 Denn zur Kresy-Literatur gehören nicht nur Werke, die man mit den regionalen Kulturen im polnischlitauischen-weißrussischen oder polnisch-ukrainischen Gebiet verbindet, sondern auch Teile des Schaffens bekannter Dichter, die zum polnischen Kanon gehören und in den meisten Fällen biographisch mit Kresy verbunden waren, wie etwa Mikołaj Rej (1505–1569), Maciej Stryjkowski (1547–1586/93), Mikołaj Se˛pSarzyn´ski (1550–1581), Adam Mickiewicz (1798–1855), Józef Ignacy Kraszewski (1812–1887), Eliza Orzeszkowa (1841–1910), Henryk Sienkiewicz (1846–1916), Maria Rodziewiczówna (1864–1944), Stanisław Vincenz (1888–1971), Zofia Kossak (1889–1968), Melchior Wan´kowicz (1892–1974), Jerzy Stempowski (1893– 1969), Jaroslaw Iwaszkiewicz (1894–1980), Józef Wittlin (1896–1976), Józef Mackiewicz (1902–1985), Andrzej Kus´niewicz (1904–1993), Leopold Buczkowski (1905–1989), Julian Stryjkowski (1905–1996), Czesław Miłosz (1911–2004), Tadeusz Konwicki (1926–2015), Włodzimierz Odojewski (1930–2016),7 um nur einige wichtige Repräsentanten verschiedener Epochen zu nennen. Bereits der erste Blick auf eine solche Liste lässt vermuten, dass es sich hier um eine literarische Vielfalt handelt, die eine klare Definition eher ausschließt, denn zulässt. pirischen Recherchen kommt die Autorin zum Schluss, dass die Kresy-Erinnerung in der Volksrepublik Polen aus dem offiziellen historischen Gedächtnis verdrängt wurde und nur im Familiengedächtnis lebendig war, nach 1990 einen Boom erlebte und gegenwärtig zwar einerseits im kollektiven Gedächtnis abwesend scheint, andererseits aber von verschiedenen sozialen Gruppen auch mythologisiert wird. Interessant ist der Sammelband: Mie˛dzy mitem a rzeczywistos´cia˛. Kresy Wschodnie w XIX i XX wieku. Hrsg. von Adriana Dawid/Joanna Lusek. Bytom/Opole: Wydawnictwo i Drukarnia Sw. Krzyz˙a 2017. Der Band greift einige wichtige Probleme auf: den Kresy-Mythos in der Literatur, den Mythos antemurale christianitatis, Wilnus (Wilno) und Nord-Kresy, die Beziehungen zwischen den Nord- und Süd-Kresy. Das Standardwerk zum Thema für die Literaturwissenschaft ist: Hadaczek, Bolesław: Historia literatury kresowej. Kraków: Universitas 2011 (zuerst erschienen in Szczecin: PoNaD 2008). 5 In diesem Sinn interpretieren den Begriff Kresy und parallel zu ihm den Mythos der deutschen Ostgebiete Kleßmann/Traba, Kresy und Deutscher Osten. 2012. 6 Vgl. Czaplejewicz, Czym jest literatura kresowa. 1996, bes. S. 64ff. Eine interessante Perspektive deutet Gall an, der die metaphorische und erinnerungsträchtige, nostalgische Dimension von Kresy, die sich vor allem in der polnischen Exilliteratur des 19. Jahrhunderts entwickelte, mit der Ostpreußen-Semantik vergleicht. Beide verbinde die Ausgrenzung des Anderen, Belagerungsmentalität, Kampf um die Bewahrung der nationalen Identität, in dem das Grenzland die Rolle eines Bollwerkes spielt. Vgl. Gall, Kresy w polskiej literaturze. 2015, S. 334–336. Auf eine ähnliche Funktion von Erinnerungsorten Kresy und der deutschen Ostgebiete weisen Kleßman und Traba hin: Kleßmann/Traba, Kresy und Deutscher Osten. 2012. 7 Vgl. Czaplejewicz, Czym jest literatura kresowa. 1996, S. 53.

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Joanna Jabłkowska

Trotzdem gibt es in der polnischen Literaturwissenschaft Versuche einer poetologischen Kresy-Deutung.8

I.

Kresy als literarischer Topos

Robert Traba benennt vier Motive, die den „Archetypus des Kresy-Bildes“ konstituieren: „Heldenhafte Verteidigung der Festung des Polentums vor den Horden von Andersgläubigen und Feinden der Rzeczpospolita (Mythos antemurale christianitatis); Verklärung der Landschaft und des idyllischen Lebens (Mythos von Arkadien und dem sarmatischen Leben); Exotik des fernen, geheimnisvollen Landes; der Typus des mutigen, wohlmeinenden, ein wenig sentimentalen, ‚Gott und Vaterland ergebenen‘ Helden.“9

Bolesław Hadaczek seinerseits beschreibt ebenfalls die Merkmale der KresyLiteratur, die die Werke verschiedener Autoren miteinander verbinden. Hieraus hat sich mit der Zeit eine ‚Mythologie‘ entwickelt, in der über eine Welt erzählt wird, die zwar nicht zum Zentrum des polnischen Raumes gehört, aber dennoch das Zentrum der polnischen Kultur ausmacht; die nicht homogen ist, sondern sich aus diversen Sprachen, Konfessionen und Ethnien zusammensetzt und dabei doch die Quintessenz des Polnischen darstellt. Zu den Topoi, aus denen sich die Vorstellung von Kresy herleitet, gehören eine üppige Naturlandschaft, ein charakteristischer Menschentypus (ritterlich, abenteuerlustig, mutig, sentimental, temperamentvoll, oft gemischter Abstammung10), Vielsprachigkeit, in der jedoch besondere Formen des Polnischen dominieren,11 das Zusammenleben verschiedener Religionen und Konfessionen, unter denen in der Literatur aber

8 Empfehlenswert sind die Publikationen von Bolesław Hadaczek, besonders seine Historia literatury kresowej. 2011. Siehe auch Hadaczek, Bolesław: Kresy w literaturze polskiej XX wieku. Szkice. Szczecin: Ottonianum 1993; sowie Kresy w literaturze polskiej. Studia i szkice. Gorzów Wlkp.: Wojewódzki Os´rodek Metodyczny 1999. 9 Kleßmann/Traba, Kresy und Deutscher Osten. 2012, S. 44. 10 Vgl. Czaplejewicz, Czym jest literatura kresowa. 1996, S. 41ff. Hadaczek unterscheidet den südlichen, ukrainisch-geprägten Kresy-Helden und den nördlichen, litauisch-geprägten, die verschiedene Züge tragen. Vgl. Hadaczek, Bolesław: Polska literatura kresowa, jej dominanty i mitologia. In: Kresy w literaturze polskiej. Hrsg. von Bolesław Hadaczek. Szczecin: Ottonianum 1993, S. 9–40, hier S. 19ff., auch S. 34. 11 Vgl. Hadaczek, Bolesław: O wyznacznikach w literaturze kresowej. In: Kresy w literaturze polskiej. Hrsg. von Bolesław Hadaczek. Szczecin: Ottonianum 1993, S. 51f. Zu den östlichen, nicht einheitlichen ‚Dialekten‘ oder Mundarten des Polnischen, vgl. Nagórko, Alicja: Legendy Kreisów. Wieloje˛zycznos´c´ jako wartos´c´ kulturowa. In: Czaplejewicz/Kasperski, Kresy w literaturze. 1996, S. 91–121.

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der Katholizismus deutlich bevorzugt wird.12 Im Zentrum der arkadischen Vorstellung von Kresy steht der polnische Landadel, dessen Bild idealisiert wird. Das dominierende Landschaftsbild ist das eines kleinen Landhauses inmitten der bereits erwähnten schönen Natur.13 Die Natur, das Haus, die Menschen werden gebündelt zu einer Vorstellung von Heimat.14 In der Nähe des Landhauses kann eine kleine Stadt liegen, wobei insbesondere ein Gasthaus (karczma) in vielen Werken ein wichtiges Requisit darstellt. Die ukrainische (oder litauische bzw. weißrussische) Bevölkerung, die Juden, die ‚Kosaken‘ etc., Vertreter anderer Sprachen, Kulturen, Religionen, sind meistens Randfiguren, Fremde oder Feinde – wie bei Henryk Sienkiewicz die aufständischen Ukrainer. Es gibt jedoch durchaus Ausnahmen, d. h. nicht-polnische Helden, die zu Hauptfiguren erhoben werden. Die wohl berühmteste Ausnahme ist der Jude Jankiel in Adam Mickiewiczs „Pan Tadeusz“ (1834). Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert stehen in einzelnen Werken die jüdischen Figuren überhaupt, wenn auch selten, im Mittelpunkt der Handlung. Eliza Orzeszkowas Roman „Meir Ezofowicz“ (1879) erzählt die Geschichte einer jüdischen Familie in einer fiktiven polnischen Kleinstadt, die offensichtlich Züge eines östlichen Shtetl trägt. Der Titelheld kämpft um Emanzipation: nicht von Polen, sondern von der eigenen jüdischen Gemeinde.15 Im 20. Jahrhundert wird schließlich auch das Schaffen von Autoren jüdischer Herkunft mit Kresy in Zusammenhang gebracht. So wurde Bruno Schulz (1892–1942) weltbekannt nachdem er der Shoah zum Opfer gefallen war, während Józef Wittlin, Freund Joseph Roths, mehr im polnischen und auch deutschsprachigen Galizien als in der jüdischen Tradition verankert war. Die Texte des nur einige Jahre jüngeren Julian Stryjkowski richten den Blick vor allem auf das Schicksal der jüdischen Bevölkerung Galiziens. Berühmt wurde sein Roman „Austeria“ (1966, dt. 1968: bei Suhrkamp und in der 12 Vgl. dazu Uliasz, Stanisław: O literaturze Kresów i pograniczu kultur. Rzeszów: WURz 2001, S. 10–27; zu diesem kulturellen ‚Föderalismus‘ oder der Verbindung vom Eigenen und Fremden vgl. Uliasz, Stanisław: Literatura Kresów. Kresy literatury. Rzeszów: WSP 1994, bes. die zwei ersten Kapitel, S. 13–74. 13 Vgl. Hadaczek, Polska literatura kresowa, jej dominanty i mitologia. 1993, S. 33f. 14 Wörtlich aus dem Polnischen übersetzt: ‚Heimatboden‘, was mit dem deutschen Blut und Boden nicht unbedingt verwandt sein muss. Vgl. Hadaczek, O wyznacznikach w literaturze kresowej. 1993, S. 41f.; ders.: Polska literatura kresowa, jej dominanty i mitologia. 1993, S. 33. 15 Hadaczek bespricht viele Werke der polnischen Literatur, die die jüdische Bevölkerung thematisieren und ihr unterschiedliche Eigenschaften und Funktionen zuschreiben. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts vertritt hierin nicht nur Orzeszkowa, sondern auch der weniger bekannte Jan Lam (1838–1886); aus der Zeit der Jahrhundertwende nennt Hadaczek das Schaffen von Rodziewiczówna, in dem Juden aus dem nördlichen Kresy-Gebiet viel Aufmerksamkeit zuteil wird. Über die Literatur nach 1939 schreibt er, dass man sie sich schlecht ohne jüdische Helden vorstellen könnte. Er erwähnt Werke von Vincenz, Kus´niewicz, Buczkowski und insbesondere Stryjkowski. Vgl. Hadaczek, Historia literatury kresowej. 2011, das Kapitel „Literatura kresowa po 1939 roku“: 3. „Małe ojczyzny kresowe“, S. 331–351.

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DDR bei Volk und Welt als „Osteria“ 1969 erschienen), verfilmt unter demselben Titel von Jerzy Kawalerowicz (1982). „Austeria“ ist Teil der galizischen Tetralogie, die den Juden im südlichen Teil der Kresy gewidmet wurde.16 Bereits der Erste Weltkrieg stellte jedoch einen erheblichen Einschnitt dar, der einerseits zur Wiedergeburt des polnischen Staates beitrug, andererseits mit ungewöhnlicher Brutalität die östlichen Gebiete Europas heimsuchte. Die zweite polnische Republik bekam nach 1918 nur einen Teil ihrer östlichen Gebiete zurück. So war das Kresy-Gebiet in der Zwischenkriegszeit geteilt: in die Kresy innerhalb der polnischen Grenzen und die ‚äußeren‘ Kresy, die Teil der Sowjetunion oder auch Litauens und Ostpreußens, also Deutschlands wurden. Dies führte sowohl zu Ressentiments als auch zu Nostalgie, denn große Teile der polnischen Bevölkerung siedelten in den polnischen Staat um. Allerdings zeigt das literarische Bild der Kresy bereits vor dem 20. Jahrhundert, dass die in den Texten evozierte Idylle immer wieder von Kriegen oder Rebellionen gestört wurde. Kriegsbilder gehören zu den wichtigsten Merkmalen der Kresy-Literatur17 und Chaos ist ein wichtiger Bestandteil des Kresy-Topos.18 Was half, das Chaos und das Leiden im Krieg zu überwinden, war die Vorstellung vom christlichen Antemurale,19 dessen Rolle der polnische Osten symbolisch übernahm. Die zwei Topoi, die im Widerspruch zueinander standen: das arkadische Bild vom Zusammenleben der Völker und das Bild von leidenden und verfolgten Polen,20 die ihre Heimat und zugleich das (polnische) Christentum verteidigten,21 konkurrierten nicht miteinander, sondern verbanden sich zu einem elegisch-sentimentalen Gestus, aus dem eine poetologische Idealisierung resultierte.22

II.

Zur Verschiebung von Kresy im 20. und 21. Jahrhundert

Im 20. und 21. Jahrhundert wurde Kresy zum Teil neu gedeutet und verschoben. Bolesław Hadaczek, obwohl im gewissen Sinn ein Apologet des Kresy-Phänomens, berichtet von Versuchen, Kresy in der Literatur des 20. Jahrhunderts zu

16 Einige wichtige Werke von Stryjkowski wurden – vor allem in den 1980er und 90er Jahren – ins Deutsche übersetzt. Vgl. https://portal.dnb.de/opac.htm?method=showPreviousResultSite&cur rentResultId=%22118799215%22%26any¤tPosition=10 (Zugriff am 29. 01. 2018). 17 Vgl. Hadaczek, Polska literatura kresowa, jej dominanty i mitologia. 1993, S. 16ff. 18 Vgl. Czaplejewicz, Czym jest literatura kresowa. 1996, S. 62f. 19 Vgl. Hadaczek, Polska literatura kresowa, jej dominanty i mitologia. 1993, S. 28–34. 20 Dazu mehr: Uliasz, Literatura Kresow. Kresy literatury. 1994, Kapitel 3 und 4, S. 75–130. 21 Vgl. Uliasz, O literaturze Kresów i pograniczu kultur. 2001, S. 34. 22 Vgl. Hadaczek, O wyznacznikach w literaturze kresowej. 1993.

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entmythologisieren.23 Das Anliegen dieses Beitrags gilt dieser Dimension, die in der polnischen Literaturwissenschaft allenfalls angedeutet wird. Bei alledem soll das Schaffen Johannes Bobrowskis eine neue Perspektive auf den Erinnerungsraum und Erinnerungsort Kresy eröffnen. Die Forschungsliteratur weist gelegentlich darauf hin, dass sich polnische und deutsche Werke in einem symbolischen Raum treffen, der – paradoxerweise trotz historisch eindeutiger Zuordnung zur Opfer- bzw. Täter-Gruppe – die beiden Kulturen verbindet. Dieser Raum kann als weit gefasster Kresy-Raum verstanden werden. So nennt Leszek Szaruga im Zuge seiner Überlegungen zur literarischen Thematisierung der ehemaligen polnischen Ostgebiete Bobrowskis „Levins Mühle“ (1964), die er gerne zusammen mit Melchior Wan´kowiczs „Na tropach Sme˛tka“ (Auf den Spuren des Teufels – J.J.; 1936) lesen würde, während Grass’ „Die Blechtrommel“ dem „Tal der Issa“ („Dolina Issy“ 1955, dt. 2002) von Czesław Miłosz eine neue Bedeutung verleihen könnte. Szaruga sieht Parallelen zwischen der ‚Vertriebenenliteratur‘ im deutschsprachigen Raum nach 1945 und der polnischen KresyLiteratur.24 Treffend ist seine Bemerkung, dass sowohl die DDR-Literatur als auch die polnische Literatur vor 1990 Strategien entwickeln musste, die im indirekten Erzählen den Heimatverlust verdeckten. Ein markantes Beispiel dafür, sei das Werk Tadeusz Konwickis, insbesondere sein Roman „Modernes Traumbuch“ („Sennik współczesny“ 1963, dt. 1964),25 wobei Konwicki Bobrowski nicht nur vom Alter her viel näher als Wan´kowicz stand, sondern sein Roman auch zeitgleich mit „Levins Mühle“ entstand. Ein Vergleich ist dementsprechend naheliegend, zumal beide Autoren ihre östliche Heimat geographisch nach Westen ‚verschieben‘. Dabei zeugen einige charakteristische Züge der ‚östlichen‘ Kultur von einer Nostalgie, die exemplarisch für einen deutschen wie auch einen polnischen Erinnerungsort ist: Ostpreußen und Kresy, liegen in fast demselben geographischen Raum – im polnisch-litauischen Grenzland. Obwohl dieses Grenzland nach 1945 sowohl seine polnische als auch seine deutsche Prägung verlor, fanden die Topoi der polnischen Kresy-Literatur hier bald eine neue Verwendung. Auch in Deutschland – politisch noch stärker belastet als in der Volksrepublik Polen – entstanden Werke, die sich im noraschen Sinne auf den Erinnerungsort Ostpreußen konzentrierten. Die politische Tabuisierung dieser Gebiete, die nach dem Zweiten Weltkrieg teils der Sowjetunion, teils der Volksrepublik Polen zufielen, soll hier jedoch nicht zur Debatte stehen. Die zentrale These ist vielmehr, dass der Kresy-Mythos universalisiert und zum Modell eines besonderen Grenzlandes wurde, dass sich der Topos einer ideali23 Vgl. Hadaczek, Polska literatura kresowa, jej dominanty i mitologia. 1993, S. 34–40; Hadaczek, Historia literatury kresowej. 2011, S. 389f. 24 Vgl. Szaruga, Leszek: We˛zeł kresowy. Cze˛stochowa: Wydawnictwo WSP 2001, S. 61f. 25 Vgl. Ebd., S. 76.

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sierten polnischen Kresy-Kultur bedient, ohne politische Ansprüche zu stellen. Um die genannte Universalität zu veranschaulichen, wird für den Vergleich mit „Levins Mühle“ bewusst kein Text von Wan´kowicz, Konwicki oder einem anderen aus dem polnischen Osten stammenden Autor gewählt – denn auch Miłoszs „Das Tal der Issa“ käme als Pendant zu Bobrowskis Roman in Frage. Als Vergleichstext soll stattdessen Olga Tokarczuks (geb. 1962) „Ksiegi Jakubowe“ (Jakobs Bücher – J.J.; 2014) dienen. Der Vergleich mit Bobrowskis Werk mag angesichts von Tokarczuks Alter, Geburts- oder Heimatort zunächst einmal wenig naheliegend erscheinen. Tokarczuk ist im Norden von Niederschlesien geboren, wohnte dann in der Nähe von Racibórz, studierte in Warszawa, arbeitete in Wałbrzych als Psychotherapeutin und wohnt heute teils in Wrocław und teils in einem Dorf an der tschechischen Grenze. In biographischer Hinsicht ist sie also eher mit dem westlichen polnischen Grenzland verbunden als mit Kresy. Dies ist aber just der Grund, warum der Vergleich von „Levins Mühle“ mit „Ksie˛gi Jakubowe“ besonders interessant ist. Denn in beiden Fällen wird das KresyModell adaptiert und bekommt eine neue Funktion, die im Widerspruch zur traditionellen Kresy-Literatur steht: Das Grenzgebiet wird nicht als Raum des Zusammenlebens und der gegenseitigen Assimilierung (die in Wirklichkeit nie funktionierte) idealisiert. Betont werden vielmehr Brüche und Risse, die nicht zwangsläufig zu offenen Kriegen führen, d. h. klein, nicht geschichtsträchtig und für die polnische Identität eher hinderlich als hilfreich sind. Und trotzdem sind sie für den Alltag ganzer Generationen bedeutend. Zudem werden Bevölkerungsgruppen thematisiert, welche die polnische Literatur im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts marginalisierte. Vor allem scheint sich jedoch die geographische Zugehörigkeit zu bewegen, zu verschieben oder zu zerstreuen, ohne dabei die charakteristischen Merkmale der Kresy zu verlieren. Das Grenzland Kresy wird aus seinem konkreten geografischen Kontext herausgelöst und als Denkfigur für Situationen gebraucht, in denen mehrere Kulturen aufund gegeneinanderstoßen. Ein hybrider oder dritter Raum im Sinne Homi Bhabhas versucht sich auf der Oberfläche zu stabilisieren, will aber dennoch keine neue Einheit bilden. Der dritte Raum ist fragil, Unterschiede bleiben bestehen. Dies trägt dazu bei, dass sich der zentrale Wert, der mit Kresy verbunden wird, das Heimatgefühl als Gefühl der Geborgenheit in einer vertrauten Umgebung,26 relativiert. Gleichzeitig wird Heimat dort wie ein Zelt aufgestellt, wo man gerade ansässig geworden ist. Das Antemurale bekommt hiermit einen neuen Sinn. 26 Zum Begriff der Heimat und ihrer literarischen Thematisierung vgl. z. B. Bastian, Andrea: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache. Tübingen: Niemeyer 1995; Mecklenburg, Norbert: Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes. München: Iudicium 1986.

Varianten der Kresy-Literatur?

III.

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Der Grenzraum als fragiler Kontaktraum bei Olga Tokarczuk

Tokarczuks historischer Roman erzählt die Geschichte des religiösen Führers Jakub Frank und seiner Gefolgsleute. Frank wurde 1726 als Sohn jüdischer Eltern in einem Dorf auf dem Gebiet von Podolien (heutige Westukraine) geboren. Der Verbannung der Familie aus dem Königreich Polen in den Kinderjahren Franks folgte eine spätere Rückkehr nach Polen, wo er mit seinen jüdischen Anhängern zum Katholizismus übertrat. Die von ihm entwickelten religiösen Rituale erinnerten dabei an Glaubenspraktiken einer Sekte. Der Anfang von Tokarczuks Roman spielt in Rohatyn, einer Kleinstadt südöstlich von Lwów, wo eine große jüdische Gemeinde lebte. Tokarczuk beschreibt hierbei (unter anderem) die Ankunft einer polnischen Aristokratin, deren Hofdame die Stadtbewohner fragt: „Spricht hier jemand polnisch?“27 Denn es war keineswegs selbstverständlich, dass im damaligen Polen polnisch gesprochen wurde. Was Tokarczuk allerdings verschweigt, um die Unterschiede zu betonen, ist die sprachliche und kulturelle Nähe der Bewohner: Denn sprach man dort zwar auch nicht polnisch, so konnte man sich doch sehr gut in einer Mischsprache verständigen, die allen vertraut war. Das Gebiet, von dem die Geschichte der Frankisten (wie man die von Frank gegründete Religionsgemeinschaft nannte) ausgeht, ist das Zentrum des ursprünglichen Kresy-Gebiets. Auch für Henryk Sienkiewiczs „Trilogie“28 liegt dort der Ausgangspunkt für die Abenteuer seiner Helden, wobei Przemysław Czaplin´ski in „Ksie˛gi Jakubowe“ das Gegenstück zu Sienkiewiczs Erfolgsromanen sieht, deren Handlung allerdings hundert Jahre früher spielt – in der Zeit, als jene politischen Prozesse begannen, die schlussendlich zum Fall des einst mächtigen polnischen Königreiches führten.29 Anders als Sienkiewicz beschreibt Tokarczuk die litauisch-polnische Doppelrepublik am Vorabend der Teilungen.30 Die Handlung des Romans beginnt 1752 und endet mehrere Jahre nach dem Tod des 27 „Czy ktos´ tu mówi po polsku?!“ Tokarczuk, Olga: Ksie˛gi Jakubowe. Kraków: Wydawnictwo Literackie 2014, S. 883.882. 28 Gemeint sind drei Romane von Henryk Sienkiewicz, die zum Teil dieselben Helden haben und die über den Aufstand der Ukrainer gegen Polen (1648–1654) unter Bohdan Chmielnicki, über den polnisch-schwedischen Krieg (1655–1660) und die Türkenkriege (1668–1673) erzählen: „Ogniem i mieczem“ („Mit Feuer und Schwert“, 1884), „Potop“ („Sintflut“, 1886), „Pan Wołodyjowski“ („Pan Wolodyjowski, der kleine Ritter“, 1888). Die heutige Vorstellung der polnischen Doppelmonarchie im 17. Jahrhundert, die – für heute ein Paradoxon – auf dem Kresy-Gebiet ihr Zentrum hatte, prägten Sienkiewicz’ Romane mit ihrer historischen Nachlässigkeit und spannenden Handlung. 29 Vgl. Przemysław Czaplin´ski: ‚Ksie˛gi Jakubowe‘, czyli dwies´cie lat samotnos´ci. Recenzja nowej ksia˛z˙ki Olgi Tokarczuk. In: Gazeta Wyborcza v. 21. 10. 2014. Tokarczuks Roman ließe sich auch mit Kraszewskis historischen Romanen aus dem 19. Jahrhundert vergleichen. 30 Die Teilungen Polens unter Russland, Preußen und Österreich erfolgten in drei Etappen: 1772, 1793 und 1795.

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Titelhelden (Frank starb 1791), da auch die Schicksale seiner Nachkommen und der Nachkommen anderer Frankisten zusammenfassend erzählt werden. Polnischen Adeligen und Geistlichen – den eigentlichen Akteuren in den Werken vieler Kresy-Autoren und (seltener) -Autorinnen, auch so bekannter wie Mickiewicz,31 Orzeszkowa32 oder Sienkiewicz33 – wird von Tokarczuk ebenfalls eine wichtige Funktion zugedacht. Sie sind diejenigen, die eine einheitliche Staatsund Kulturdoktrin durchzusetzen versuchen, die sich polnisch nennt und mit dem Katholizismus identifiziert. Allerdings scheint diese Doktrin in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als Polen zerfällt, noch sehr unsicher zu sein. Ihre Vertreter suchen nach Verbündeten und finden sie paradoxerweise in zur Konversion bereiten Juden, deren Sprache(n) nicht polnisch ist (sind) und deren Sitten sich von denen der Katholiken in vielem unterscheiden. Die Juden – als Bevölkerungsgruppe eher heterogen – fühlen sich in den kleinen Städtchen am Rande des polnischen Imperiums, und damit an der Grenze zum osmanischen Reich, gefährdet und suchen nach sozialer Rückendeckung. Tokarczuks Roman weist auf eine Dimension des polnischen Grenzlandes hin, die bisher nicht thematisiert wurde: Stärker als Konflikte und Unterschiede zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen im polnischen Osten scheinen gemeinsame Interessen zu sein. Sie führen zu Kontakten und schließlich – trotz älterer Feindschaften – auch zur Aufhebung von Gegensätzen. Zugleich beginnt Kresy mit den Helden des Romans zu wandern. Wo sich die Frankisten ansiedeln, dort wird die Grenze zwischen dem Eigenen und Fremden, dem Vertrauten und Neuen sichtbar: Im Zentrum Polens, in Cze˛stochowa, wo Frank mehrere Jahre im Hausarrest lebte, im böhmischen Brünn und schließlich in Offenbach am Main. Tokarczuk zeigt, dass die konvertierten Juden mit ihren neuen polnischen Namen, ihr kulturelles Erbe jedoch keineswegs aufgebend, die polnische Geschichte mitprägen. Das ironische Fazit des Romans richtet den Blick auf die irritierende Ungewissheit, wer zu ‚echten‘ und wer zu ‚falschen‘ Polen zählt und stellt auf diese Weise das polnisch-katholische Selbstverständnis in Frage. 31 Adam Mickiewicz (1798–1855): Hauptvertreter der polnischen Romantik. Sein Epos „Pan Tadeusz“ (1834) beginnt mit den Worten „Litwo, ojczyzno moja“: „Litauen, du meine Heimat“. 32 Eliza Orzeszkowa (1841–1910): eine der wichtigsten Vertreterinnen des polnischen Positivismus (Realismus). Ihr Hauptwerk trägt den Titel „Nad Niemnem“ („An der Memel“, 1888). 33 Über Heldentypen in der Kresy-Literatur schreibt Hadaczek ausführlich in Historia literatury kresowej. 2011. Nach Hadaczek sind in der Literatur alle Schichten vertreten: sowohl Adelige (szlachta), Aristokraten (magnateria) wie auch die Bauern und Vertreter aller Sprachen, Religionen und ethnischen Gruppen, die im Osten des polnischen Königreiches lebten: Polen, Ukrainer, darunter Huzulen, Weißrussen, manchmal auch Ruthenen – Rusini genannt –, unter ihnen verschiedene Söldner, meist Kosaken, und im Norden des Kresy die Litauer. Auch Armenier, Türken, Tataren und Juden gehören zu diesem Spektrum. Vgl. v. a. das Kapitel „Kresoromantyzm“: 4: „Typologia bohaterów“, S. 144–155.

Varianten der Kresy-Literatur?

IV.

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Kresy in Johannes Bobrowskis „Levins Mühle“

Johannes Bobrowski wuchs dort auf, wo man Anfang des 20. Jahrhunderts das deutsche östliche Grenzland verortete. Davon, dass sich dieses Gebiet bis zur Wiedereingliederung in die Grenzen des polnischen Staates, die 1920 erfolgte, nicht national definieren kann, zeugen Gedichte Bobrowskis, die sich der polnischen Kultur im nördlichen Kresy widmen. Elz˙bieta Dzikowskas Analyse intertextueller Bezüge in Bobrowskis Mickiewicz-Gedicht zeigt seine Vertrautheit mit der polnischen Literatur auf.34 Insgesamt lässt sich feststellen, dass Bobrowskis Werke mit den Topoi der „Kresy“-Literatur spielen und ein Netz intertextueller Bezüge zur Ikonographie der polnischen Literatur konstruieren. In vielen Gedichten knüpft er, wie die Forschungsliteratur zeigt, an konkrete Orte, Landschaften oder Personen an, die bis heute mit „Kresy“ assoziiert werden. Das verbindet Bobrowski mit den polnischen Kresy-Autoren, wobei der von ihm benutzte Begriff Sarmatien sehr viel unbestimmter als Kresy ist und sich auf einen Urmythos statt auf einen historischen Ort oder Raum bezieht. Zugleich ist jedoch Dzikowska zuzustimmen, wenn sie den in der westlichen Forschung verwendeten Begriff des Sarmatismus richtig stellt und ihn auf das Selbstverständnis des Adels in der polnischen Res Publica zurückführt.35 Somit hat Sarmatien zwar eine breitere Bedeutung als Kresy, doch ist die Affinität der beiden Denkbilder zueinander offensichtlich. Die Werke Bobrowskis und Tokarczuks bilden jedoch keine selbstverständliche literarische Allianz. Die Verwandtschaft von „Levins Mühle“ und „Ksie˛gi Jakubowe“ liegt nicht in der direkten Anknüpfung an denselben geographischen Raum, da Tokarczuks Opus Magnum zwar in verschiedenen Teilen Europas spielt, doch die nördlichen Kresy-Gebiete nicht thematisiert. Vielmehr verortet sie den Ausgangspunkt sowie die diversen Handlungsstränge im Südosten des damaligen Doppelkönigreiches. Im Verlaufe der Handlung verschiebt sich der Handlungsraum jedoch zunehmend nach Westen und nimmt neben Tschenstochau (Cze˛stochowa) und Warschau (Warszawa) auch Brünn (Brno, heutiges Tschechien) und Offenbach am Main in den Blick. Auch Bobrowski scheint in „Levins Mühle“ seine Heimat, die im polnischen nördlichen Kresy-Gebiet liegt, nach Westen zu verschieben. 34 Vgl. Dzikowska, Elz˙bieta: Gedächtnisraum Polen in der DDR-Literatur. Fallstudien über verdrängte Themen. Wrocław: WUWr 1998, S. 107–111. 35 Vgl. Dzikowska, Elz˙bieta: Erinnertes Sarmatien, verlorenes Europa. Johannes Bobrowskis „Levins Mühle“ und der polnische Sarmatismus. In: Convivium 1999, S. 51–63; vgl. auch Kreßmann/Traba, Kresy und Deutscher Osten. 2012, S. 45f. Zum Sarmatismus im Zusammenhang mit dem Kresy-Begriff vgl. auch Hadaczek, Historia literatury kresowej. 2011, die Kapitel „Kresy staropolskie“: 5: „Narodziny mitów kresowych“, S. 59–64; „Os´wiecenie“: 2: „Ostoja sarmatyzmu i sentymentalizmu“, S. 76–84.

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Bobrowski siedelt die Handlung des Romans an der Drewenz (Drwe˛ca), einem Nebenfluss der Weichsel an, der aus polnischer Perspektive der letzten hundert Jahre in Mittelpolen liegt. Dagegen bildet der Fluss Drewenz auf deutschen Landkarten zur Zeit der Handlung von „Levins Mühle“ die Grenze zum von Russland regierten Königreich Polen. In diesem deutschen Grenzland situiert Bobrowski charakteristische Symbole und Leitbilder der polnischen Kresy-Literatur: das Landhaus, in dem die patriarchalische Familie wohnt, das Gasthaus, in dem sich die Einwohner des Dorfes treffen, die idyllische Landschaft mit Fluss, Wald und Landstraße in der Nähe des Kreisstädtchens. Am bedeutsamsten ist allerdings die Zusammensetzung der Bevölkerung, die der Kresy-Bevölkerung ähnlich ist: Es sind Deutsche, Polen, Juden, ‚Zigeuner‘, die verschiedene Konfessionen vertreten – Katholiken, Baptisten, Adventisten, Protestanten. Vielzitiert ist Bobrowskis Charakterisierung der nationalen Zugehörigkeit seiner Helden, die zunächst paradox anmutet, jedoch der historischen Wirklichkeit entspricht: „Die Deutschen hießen Kaminski, Tomaschewski und Kossakowski und die Polen Lebrecht und Germann.“36 In der Forschungsliteratur wird darauf verwiesen, dass Bobrowski eine überlieferte Familiengeschichte aus dem Kulmerland verwendete, das er selbst nie bereiste und lediglich aus den Erzählungen des Vaters kannte, dabei die Geschichte in seinem Roman aber so veränderte, dass sie nicht ‚autobiographisch‘, sondern als Parabel gelesen werden soll. Bernd Leistner37 und später Andreas Degen interpretieren – unter Berufung auf die einschlägige Forschungsliteratur – sehr detailliert die Funktion der Geistererscheinungen, die historisch-politische Kontexte des Romans erhellen, indem sie in der Sippe des Großvaters „eine übergreifende, auch die Gegenwart betreffende Matrix und einen genealogischen Habitus erkennen“38 lassen. Der Großvater, der an seiner deutschen und religiösen Identität nicht zweifelt, scheint ein typischer Mensch des Grenzlands zu sein: „Die Namen der Vorfahren sind, bis auf den des Vaters, polnisch, die religiösen bzw. konfessionellen Zugehörigkeiten sind vielfältig: ein eine Heidin liebender Christ, ein Katholik, ein protestantischer Eiferer, der eigene Vater mit dem Gesicht eines Juden.“39 Nicht nur diese Vielfalt, die den Nationalismus des Großvaters hinterfragt und sogar lächerlich macht (die vierte 36 Bobrowski, Johannes: Levins Mühle: 34 Sätze über meinen Großvater. Berlin: Wagenbach 2015, S. 6. 37 Vgl. Leistner, Bernd: Polnische und deutsche Gespenster. Zu den Geistererscheinungen in „Levins Mühle“. In: ders.: Johannes Bobrowski. Studien und Interpretationen. Berlin: Rütten & Loening 1981, S. 123–133. 38 Degen, Andreas: Bildgedächtnis. Zur poetischen Funktion der Sinneswahrnehmung im Prosawerk Johannes Bobrowskis. Berlin: Erich Schmidt 2004, S. 242. Zu der Interpretation der fünf Geistererscheinungen, die den Großvater – ohne dass dieser dies versteht, geschweige denn eine ‚Lehre‘ daraus zieht – heimsuchen, siehe S. 229–247. 39 Ebd., S. 241f.

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Geistererscheinung ist eine Heimsuchung auf dem Abort), scheint in „Levins Mühle“ relevant zu sein, sondern auch die geographische Unzuverlässigkeit einer solchen ‚Multiethnizität‘ und ‚Multikulturalität‘. Der erzählende Enkel, der die Familiengeschichte narrativ keinesfalls im Griff hat, befindet sich „einige hundert Kilometer Luftlinie westlich“40 und betont gleichzeitig, dass er die erzählte Geschichte auch „weiter nördlich oder noch besser viel weiter nordöstlich spielen […] lassen“ könnte; also dort, wo auch das polnische nördliche Kresy-Gebiet lag, „schon im Litauischen, wo ich alles noch kenne, als hier in dieser Gegend, in der ich nie gewesen bin, an diesem Fluß Drewenz, am Neumühler Fließ, an dem Flüsschen Struga, von denen ich nur gehört habe“.41 Über die narrative Unsicherheit und Mehrdeutigkeit der Erzählung sowie ihre Funktion für die Dimension von „Levins Mühle“, die man als Gedächtnisebene definieren kann, schreiben ausführlich u. a. Bernd Leistner42 und Günter Butzer.43 Aufschlussreich sind Butzers Überlegungen zum Verhältnis zwischen discours und histoire in Bobrowskis Roman: „Der discours spricht von einem transhistorischen Ort aus, auf den sich die histoire als ein Ideal zubewegt, ohne es schon erreicht zu haben; sie bleibt damit im Raum der Geschichte eingeschlossen, den der discours bereits hinter sich gelassen hat. Setzt dieser den Standpunkt reiner Aktualität voraus, so ist jene befangen in der historischen Bewegung von Wiederholung und Neuheit […].“44

So ist die Identität der Figuren desto unbestimmter, je sicherer sie sich der discours-Ebene bedienen. Gleich in den ersten Sätzen heißt es dementsprechend: „Also war dein Großvater ein Pole. Und so sage ich: Nein, er war es nicht. Da sind, wie man sieht schon Mißverständnisse möglich, und das ist nicht gut für den Anfang.“45 Trotz Bemühungen des Erzählers, auf der Ebene des discours Missverständnisse zu beseitigen, werden sie kontinuierlich multipliziert. Sie sind umso auffallender, wenn man die Bezüge zur polnischen Literatur berücksichtigt, die – ob intentional eingesetzt, bleibt m. E. offen – in „Levins Mühle“ mitgedacht werden. Es gibt Bezüge zu Mickiewicz, Orzeszkowa und Miłosz, sowie zu dem bereits erwähnten Konwicki und vielen anderen polnischen Autoren.46

40 Bobrowski, Levins Mühle. 2015, S. 6. Vgl. Degen, Bildgedächtnis. 2004, S. 246. 41 Ebd., S. 219. 42 Vgl. Leistner, Bernd: Der Einsatz des Geschichtenerzählers. Zur Erzählweise des Romans „Levins Mühle“. In: ders., Johannes Bobrowski. 1981, S. 109–122. 43 Butzer, Günter: Fehlende Trauer. Verfahren epischen Erinnerns in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München: Fink, 1998, zu Bobrowski S. 63–97. 44 Ebd., S. 95. 45 Bobrowski, Levins Mühle. 2015, S. 5. 46 Dzikowska vermutet in „Levins Mühle“ eine bewusste Anspielung auf Orzeszkowa – und zwar in dem von Weiszmantel gesungenen Lied. (Vgl. Dzikowska, Erinnertes Sarmatien. 1999, S. 61).

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Die Anknüpfungspunkte zur polnischen Literatur werden noch deutlicher, wenn man Bobrowskis Roman als Antwort auf Günter Grass’ Danziger Texte liest.47 „Levins Mühle“ sei, so Dzikowska, ein „sarmatischer Gegenentwurf zur urban-(klein)bürgerlichen ‚Danziger Trilogie‘. […D]ie ‚volkstümliche Überlieferung‘ ist [Bobrowskis – J.J.] Quelle, Rosinkes Gastwirtschaft ein wichtiger Gedächtnisort, Gespräche, Sagen und Erzählungen sind das Medium der Erinnerung. Die Ländlichkeit als ein […] Gedächtnisraum wird dem Kulturgedächtnis der Stadt […] gegenübergestellt.“48

Auf die Anspielung der Geistererscheinungen auf Stanisław Wyspian´skis „Wesele“ („Hochzeit“, 1901) weist bereits Degen hin.49 Auch in anderen Dramen von Wyspian´ski wird die polnische Geschichte in einer Mischung aus fantastischen und realistischen Bildern kommentiert: Visionen und Geister sind Allegorien von wichtigen politischen Ereignissen; „Wyzwolenie“ (Befreiung – J.J.; 1903) oder „Noc listopadowa“ (Novembernacht – J.J.; 1904) korrespondieren in diesem Zusammenhang mit „Wesele“. Ob Bobrowski diese Tradition bekannt war, sei dahingestellt. Er war jedoch mit der polnischen Romantik vertraut. So beginnt Mickiewicz’ Nationaldrama „Dziady“ („Totenfeier“, 1823/1832) mit einer Geisterbeschwörung und auch Juliusz Słowackis Drama „Kordian“ (1834) wird von einem Treffen von Hexen und Teufeln eingeleitet. Was Degen in seiner sonst exzellenten und detaillierten Interpretation vernachlässigt, ist jedoch Bobrowskis deutliche Distanz zu dieser Tradition, deren Absurdität, falsches Pathos und vergeblicher Heroismus bereits bei Wyspian´ski explizit thematisiert werden. Bobrowski scheint nach einer Identität zu suchen, die er weder in der polnischen Romantik noch im deutschen Nationalismus findet. So wird der Grundkonflikt in „Levins Mühle“ so konstruiert, dass er auf der einen Seite einem alten Modell der Weltliteratur entspricht und die – im Rückgriff auf Gottfried Keller – Universalität der ‚Dialektik der Kulturbewegung‘ widerspiegelt. Auf der anderen Seite gibt es Parallelen zur polnischen Literatur: In diesem Fall handelt es sich um einen lokalen, auf kleinlichem Neid aufbauenden Konflikt, der dem Ursprungskonflikt in Mickiewiczs „Pan Tadeusz“ ähnelt. Streit und Fehde um Besitz, aber auch um nationale Werte, sind wiederkehrende Motive der polnischen Literatur, die oft mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Versöhnung ausklingen; einer Versöhnung, die tatsächlich selten gelingt. In diesem Sinn schreibt sich „Levins Mühle“ geradezu vorbildlich in die polnische Tradition ein, insbesondere in der Szene der Rauferei in Rosinkes Gasthaus.

47 Vgl. Hartung, Günter: Bobrowski und Grass. In: Weimarer Beiträge 8, 1970, S. 203–224; Dzikowska, Erinnertes Samartien. 1999. 48 Dzikowska, Erinnertes Samartien. 1999, S. 57. 49 Vgl. Degen, Bildgedächtnis. 2004, S. 215f.

Varianten der Kresy-Literatur?

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Wenn man bedenkt, dass die Geschichte der polnischen Aufstände in Bobrowskis Roman im Hintergrund der Haupthandlung diskutiert wird und für die kulturell und konfessionell heterogene Gruppe der Levin-Anhänger, mit dem Zigeuner Habedank als Hauptfigur, ein wichtiger Kristallisationspunkt ihrer Identität ist, so lässt sich „Levins Mühle“ als Kresy-Werk lesen, das die typische Bildlichkeit umkehrt: Der Gutsbesitzer ist zwar ein konservativer Patriarch, doch kein katholischer Pole, sondern ein nationalistischer deutscher Baptist, der gleichwohl polnischer Abstammung ist, die sich aber wohlgemerkt nicht unbedingt als eine katholische verorten lässt. Der Großvater ist darüber hinaus eine eher negative Figur, während sein positiver Widersacher ein unternehmungslustiger, aus dem Kresy-Osten zugewanderter Jude ist. Diejenigen, die sich in die Tradition des polnischen Freiheitskampfes einschreiben, sind überwiegend Vertreter der ethnisch unbestimmten Wanderbevölkerung: Polen verschiedener Provenienz, Deutsche, Zigeuner, „Bauern und Kossäten und Halbkossäten, Häusler und Altenteiler“.50 Es sind unzuverlässige Leute, auf deren Seite aber dennoch die Sympathie des Lesers liegt. Dzikowska konstatiert dabei allerdings, dass Habedank nicht irgendein Name sei, sondern „zu den ältesten Wappen des polnischen Adels“ gehört.51 Auf diese Weise werden nicht nur vorherrschende Bilder deutscher, sondern auch polnischer Identität hinterfragt.

V.

Zum Schluss

Johannes Bobrowski und Olga Tokarczuk bedienen sich in ihren Romanen polnischer Topoi, die dem Genre der Kresy-Literatur entstammen. Die unterschiedlichen Herangehensweisen, narrativen Strukturen und Heldenkonstellationen weisen dabei – trotz des zeitlichen Abstands von fast einem halben Jahrhundert und des unterschiedlichen kulturellen und nationalen Hintergrunds Bobrowskis und Tokarczuks – auffallende Gemeinsamkeiten auf. Ob sie sich zu einer sichtbaren ‚Tendenz‘ in der Nachkriegsliteratur entwickeln oder bereits entwickelt haben, bleibt noch zu prüfen. Zu den Gemeinsamkeiten gehören u. a. eine Verschiebung typischer Züge des polnischen östlichen Grenzlandes in Richtung anderer geographischer Räume sowie Helden, die zu den in der polnischen Literatur bisher marginalisierten Bevölkerungsgruppen gehören. Insgesamt entfalten Bobrowski und Tokarczuk ein heterogenes Figurenensemble, doch wählen beide Juden als Protagonisten und Titelhelden. In Bobrowskis Roman stehen zudem auch die Deutschen zur Debatte. Es ist eine Bevölke-

50 Bobrowski, Levins Mühle. 2015, S. 77. 51 Dzikowska, Erinnertes Sarmatien. 1999, S. 59 und weitere Erklärungen S. 59f.

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Joanna Jabłkowska

rungsgruppe, die in der polnischen Kresy-Literatur noch seltener im Vordergrund steht als die Juden. Es handelt sich bei „Levins Mühle“ aber nicht oder zumindest nicht nur um den Versuch einer Kompensation für die Shoah, also einer literarischen Wiedergutmachung, in der die jüdische Bevölkerung eine Aufwertung erfährt.52 Es geht vielmehr in beiden Romanen um eine Polemik gegen einen polnischen – und im Falle von „Levins Mühle“ auch einen deutschen – Kresy-Mythos im Kontext einer weiter zurückreichenden und umfassenderen Geschichte. Die im kollektiven Gedächtnis polonisierte Kulturlandschaft des europäischen Ostens wird in einer ethnischen, sprachlichen und kulturellen Mehrdimensionalität präsentiert, die nicht verloren gegangen ist, sondern sich auf ganz Europa erstreckt. Das Antemurale verliert dabei seinen Sinn, denn Kresy ist überall. Das Nationale wird – ganz anders als in der polnischen Kresy-Literatur – als eine labile und jeweils instrumentalisierte Zugehörigkeit präsentiert. Die Juden werden damit als Kulturträger, als Multiplikatoren kultureller (sprachlicher, religiöser, materieller) Artefakte der Kresy-Literatur gewählt, weil sie aufgrund ihrer Beweglichkeit und Exodusbereitschaft diejenigen sind, die – um Heinrich Heine zu paraphrasieren – ihre Grenzlandheimat an den Schuhsohlen mitnehmen und weitertragen. Sowohl Bobrowski als auch Tokarczuk zeigen dies – jeweils innerhalb der eigenen Poetologie.

52 Dies legt die Forschungsliteratur nahe. Vgl. z. B. Butzer, Fehlende Trauer. 1998, S. 74.

Florian Gassner (Vancouver)

Wem gehört das Memelland? Johannes Bobrowskis „Litauische Claviere“ (1966)

Die Rezeptionsgeschichte von Johannes Bobrowskis „Litauische Claviere“ legt nahe, den Roman als Kritik des deutschen Nationalismus der 1930er Jahre zu lesen, zugleich aber als Lobgesang auf den unterdrückten Volksgeist der Litauer. Tatsächlich aber inszeniert Bobrowski die Begegnung der beiden Völker im Memelland der Zwischenkriegszeit auf eine Weise, welche die nationalen Strömungen in beiden Lagern der Lächerlichkeit preisgibt. Nichtsdestotrotz ergreift der Text schlussendlich doch Partei und spricht den Litauern ein natürliches Recht auf das Gebiet zu. Inhaltlich bleibt dieser Widerspruch ungelöst. Stattdessen bemüht sich der Roman darum, mit formalen Innovationen eine urwüchsige Bindung zwischen den Menschen und ihrer Kulturlandschaft zu beschwören. The reception history of Johannes Bobrowski’s “Litauische Claviere” suggests reading the novel as a critique of German nationalism in the 1930s as well as a celebration of the oppressed spirit of the Lithuanian people. In fact, however, Bobrowski stages the encounter of these two peoples in the Memel Territory during the interwar period in a manner that exposes the nationalist currents in both camps to ridicule. Nevertheless, the text ultimately takes sides and attributes a natural right to the territory to the Lithuanians. This contradiction remains unresolved on the plot level. Instead, it is through formal innovations that the novel strives to evoke a primordial bond between the people and the landscape.

Johannes Bobrowskis „Litauische Claviere“ (1966) setzt sich mit dem nationalchauvinistischen Gedankengut auseinander, das am Vorabend des zweiten Weltkriegs im Memelland um sich greift. Dabei kommt es zu einer Bloßstellung romantisch-nationalistischer Vorstellungen, und zwar nicht nur auf deutscher Seite, wie von der Forschung bisher angenommen. Auch die gemeinschaftsbildenden Rituale der litauischen Bevölkerung werden kritisch hinterfragt. Dennoch bricht der Text nicht vollständig mit den Glaubensgrundsätzen des romantischen Nationalismus, insbesondere nicht mit der Idee einer urwüchsigen Verbindung zwischen einer Kultur und einem geographischen Gebiet.1 Aus 1 Zum Begriff des romantischen Nationalismus siehe Nipperdey, Thomas: Auf der Suche nach der Identität. Romantischer Nationalismus. In: Nachdenken über die deutsche Geschichte. München: C.H. Beck 1986, S. 110–125.

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dieser Aporie heraus ergibt sich die besondere Spannung des Textes, die auch an die Zerrissenheit der deutschen Nachkriegsidentität erinnert. Als Memelland bezeichnete man in der Zwischenkriegszeit einen besonders umstrittenen Grenzraum, in dem deutsche und litauische Identitätsentwürfe miteinander konkurrierten. Der Vertrag von Versailles hatte 1919 die Abtrennung dieses ehemals ostpreußischen Landstrichs zwischen Memel und ehemaliger Reichsgrenze beschlossen, „unter Berufung auf das ethnografische Prinzip, aber ohne die Einholung eines Votums der Bevölkerung.“2 Verwaltet wurde das Gebiet zunächst durch einen französischen Oberkommissar, 1923 erfolgte jedoch die Besetzung und Annexion durch Litauen. Die Alliierten ließen die Litauer gewähren, jedoch unter der Bedingung, dass die Minderheitenrechte gewahrt blieben und ein unabhängiger Landtag eingerichtet würde. Bei der ersten Wahl 1924 gingen dann 27 der 29 Sitze an deutsche Parteien: „Aus historischen und konfessionellen Gründen standen viele Litauer im Memelgebiet ihren deutschen Nachbarn näher als ihren Landsleuten in Litauen.“3 Mit diesem weitgehenden Konsens war der Konflikt jedoch nicht entschärft, vielmehr wurde er von zwei Seiten weiter angefacht: Von Osten her durch den Versuch, das Memelland dem litauischen Staat endgültig einzugliedern, und von Westen her durch das Bestehen auf eine Revision der Versailler Verträge, insbesondere nach Hitlers Machtergreifung. Die Handlung von „Litauische Claviere“ setzt am 23. Juni 1936 ein, nach einer besonders kritischen Phase in den deutsch-litauischen Beziehungen, die im Jahr zuvor mit der Verhaftung der deutschnationalen Parteiführer im Memelland ihren Höhepunkt erreicht hatte. Zwei Deutsche, der Konzertmeister Gawehn und der Gymnasialprofessor Voigt, reisen am Vorabend des Festes zu St. Johannis gemeinsam aus ihrer Heimatstadt Tilsit ins nahe gelegene Dorf Willkischken (heute: von Sowjetsk im russischen Oblast Kaliningrad nach Vilkysˇkiai in Litauen). Sie verlassen also ostpreußisches Gebiet und besuchen jenseits der Memel jenen Landstrich, der nach dem Ende des ersten Weltkriegs an die Alliierten abgetreten und 1923 von Litauen annektiert wurde. Ihr Besuch gilt dem litauischen Schulmeister Potschka, den sie für ein gemeinsames Projekt zu gewinnen hoffen: Die Komposition einer Oper über Christian Donelaitis (lit.: Kristijonas Donelaitis), einen litauischen Pfarrer, Dichter und Erfinder, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Großraum Königsberg tätig war. Donelaitis hatte maßgeblich zur Entwicklung der litauischen Literatursprache beigetragen, und damit auch langfristig zur Konsolidierung eines litauischen Nationalbewusst2 Stossun, Harry: Litauen vom Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. In: Deutsche Geschichte im Osten Europas. Land der großen Ströme. Von Polen nach Litauen. Hrsg. von Joachim Rogall. Berlin: Siedler 1996, S. 462–492, hier S. 468. 3 Ebd.

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seins. Dieser „Sänger seines Volkes“ (S. 229)4 – so der Titel der geplanten Oper – war zugleich jedoch „ein deutsch gebildeter Mann“ (S. 287), er verkörpert also idealtypisch das Memelland als kulturellen Zwischenraum. Mit ihrer Oper möchten Gawehn und Voigt einen Beitrag zur Verständigung der Nationen im deutsch-litauischen Grenzgebiet leisten. Die Begleitumstände ihrer Reise scheinen jedoch das Scheitern dieses naiven Traums vorwegzunehmen. Noch in Tilsit werden die beiden Zeugen, wie Deutschnationale einen litauischen Musiker verprügeln, weil er zu einer weit verbreiteten Melodie nicht den deutschen, sondern den litauischen Text singt. Später in Willkischken wird die Arbeit an der Oper begleitet von dem Krawall nationalsozialistischer Agitatoren, die im Saal unter Potschkas Wohnung ein Fest für den kommenden Tag vorbereiten und dabei den Mord an einem Abweichler in Auftrag geben. Der Schulmeister Potschka selbst wird unterdessen aufgrund seiner Beziehung zu einer Deutschen ins Visier genommen. Die Situation heizt sich am Johannistag im Nachbarort Bittehnen (heute: Bite˙nai) weiter an, obgleich sich die Parteien zunächst trennen. Professor Voigt, nun ohne Gawehn, besucht zuerst seine deutschen Landsleute, die im Tal das Fest zu Ehren der Königin Luise von Preußen (1776–1810) begehen, anschließend besteigt er den heiligen Berg Rombinus, um die Litauer bei ihrem Sonnwendfest zu beobachten. Nach Einbruch der Dunkelheit kommt es jedoch zur Konfrontation, bei der ein Litauer in Notwehr einen Deutschen erschlägt und sich damit der deutschen Lynchjustiz ausliefert. An dieser Stelle bricht die lineare Handlung von „Litauische Claviere“ plötzlich ab und es folgen drei Schlusskapitel, deren Struktur zwar in früheren Episoden vorweggenommen wurde, die sich in ihrer radikalen Auflösung von Zeit und Raum, von Kausalität und Kongruenz jedoch deutlich von der Darstellungsweise in den vorangegangenen Kapiteln absetzen. Der Konflikt der Nationen tritt in den Hintergrund, als der Schulmeister Potschka einen trigonometrischen Punkt besteigt und sich in der Betrachtung der Landschaft verliert. Ohne dem Leser eine Möglichkeit zu geben, zwischen den Ebenen zu trennen, überlagern sich Potschkas Gedanken mit denen genannter und ungenannter Dritter, verschmilzt seine gegenwärtige Umgebung mit derjenigen vergangener Epochen. Vollkommen offen bleibt der Schluss: Gut möglich, dass Potschka von den Deutschnationalen von seinem Turm herunter und in den Tod gestürzt wird, doch scheint es ebenso plausibel, dass er vor seiner Geliebten aus seinen Visionen erweckt wird. Der uneindeutige Schluss, aber auch die insgesamt schwer durchdringbare Struktur von „Litauische Claviere“ ist in der Sekundärliteratur kontrovers diskutiert worden. Eine Interpretation legt nahe, die Ursache hierfür im Entste4 Der Roman wird im Text unter Angabe der Seitenzahl nach der folgenden Ausgabe zitiert Bobrowski, Johannes: Litauische Claviere. In: Gesammelte Werke. Bd. 3. Die Romane. Hrsg. von Eberhard Haufe. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1987, S. 225–333.

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hungskontext des Werkes zu suchen. Bobrowski litt während der Abfassung an starken Schmerzen, und er wurde zwei Tage nach Abschluss des Manuskripts ins Krankenhaus eingeliefert, welches er lebendig nicht mehr verlassen sollte. Die dichte Prosa des Romans ließe sich in dieser Lesart also auf den geistigen und körperlichen Verfall des Autors zurückführen, unter Umständen müsste man sogar von einem Romanfragment sprechen. In der Forschung überwiegen jedoch diejenigen Stimmen, die in der Tat von einem abgeschlossenen Text ausgehen, dessen Undurchdringlichkeit in seiner ‚poetischen‘ oder ‚musikalischen‘ Struktur begründet liege.5 Angespielt wird damit auf den Unsagbarkeitstopos, der mit diesen Kategorien untrennbar verbunden ist. Insbesondere der Musik wird seit der Romantik nachgesagt, Außersprachliches zum Ausdruck zu bringen6 – dieser Gedanke steht auch bei Adorno noch im Zentrum der musikkritischen Schriften.7 Und es war ebenso die Romantik, die mit dem Aphorismus eine poetische Gattung begründen wollte, in der ein Text über die Grenzen des sprachlich Vermittelbaren hinausweist.8 In Kauf genommen wird mit diesen ‚poetischen‘ und ‚musikalischen‘ Strategien ein Misslingen des Rezeptionsprozesses in erster Instanz: „Das Verstehen scheitert gelegentlich“ in der literarischen Kommunikation und „es kommt zu Aporien des Verstehens. Auch diese lassen sich jedoch als Aporien dem Verständnis erschließen“. In der Metareflexion kann also auch das Nichtverstehen Sinn produzieren.9 Das Außersprachliche, das „Litauische Claviere“ zum Ausdruck bringen möchte, ergibt sich aus dem oben entwickelten Gegensatz: Es gilt, den modernen Nationalismus zu desavouieren, doch ohne sich kategorisch von dessen Grundannahme loszusagen: dem Glauben an eine naturgegebene Verbindung zwischen einer einzigartigen Gemeinschaft und einem geographischen Raum. Dieser Widerspruch wird im Lauf des Romans vorbereitet und in den Schlusskapiteln, dem 5 Siehe beispielsweise Campanile, Anna: Verstimmte Claviere. Der Dichter Kristijonas Donelaitis und die Künstlerproblematik im Roman „Litauische Claviere“ von Johannes Bobrowski. In: Das Baltikum im Spiegel der deutschen Literatur. Carl Gustav Jochmann und Garlieb Merkel. Beiträge des Internationalen Symposions in Riga vom 18. bis 21. September 1996 zu den kulturellen Beziehungen zwischen Balten und Deutschen. Hrsg. von Michael Schwidtal/ Armands Gu¯tmanis. Heidelberg: Winter 2001, S. 375–386, hier S. 378. 6 Siehe Bonds, Mark Evan: Absolute Music. The History of an Idea. New York: Oxford University Press 2014, S. 113–116. 7 Siehe Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1958. 8 Siehe Ostermann, Eberhard: Fragment/Aphorismus. In: Romantik-Handbuch. Hrsg. von Helmut Schanze. Stuttgart: Kröner 2013, S. 284–288. Siehe auch Oesterreich, Peter L.: Ironie. In: Romantik-Handbuch. Hrsg. von Helmut Schanze. Stuttgart: Kröner 2013, besonders S. 354– 359. 9 Betten, Anne/Fix, Ulla/Wanning, Berbeli: Sprache in der Literatur. In: Handbuch Sprache und Wissen. Hrsg. von Ekkehard Felder/Andreas Gardt. Berlin: DeGruyter 2014, S. 455–474, hier S. 468.

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besonders ‚poetischen‘ oder ‚musikalischen‘ Abschnitt der Erzählung, ausgespielt. Der Roman erweist sich dadurch gleich doppelt als Produkt der deutschen Nachkriegsepoche. Zum einen dokumentiert er die Zerrissenheit einer Generation, die die Schädlichkeit des Nationalgedankens erlebt und erkannt hat und dennoch nicht auf diese Art der Identitätsstiftung verzichten kann. Andererseits lässt sich „Litauische Claviere“ mit seinem Versuch, die Struktur der nationalistischen Metaerzählung zu zersetzen, in die Tradition der postmodernen Kulturkritik einordnen.

I.

Deutsche Gesellschaft und litauische Gemeinschaft

Auf den ersten Blick scheint „Litauische Claviere“ darauf ausgerichtet, Lesererwartungen an eine selbstreflexive und selbstkritische Form der Kolonialerzählung zu aktivieren. Gemeint ist damit eine Geschichte, die in einem ersten Schritt die Kolonisierung eines naiven Naturvolks durch eine technologisch weiter entwickelte und kulturell weiter verfeinerte Gesellschaft erzählt.10 Sinnbild dieses Verhältnisses ist im Roman die Kleinbahn von Tilsit nach Schmalleningken (heute: Smalininkai), die zur Jahrhundertwende unter preußischer Leitung zur Erleichterung des Personen- und Güterverkehrs eröffnet wurde.11 Ausführlich schildert der Erzähler die Bahnfahrt von Voigt und Gawehn ins nun litauische Willkischken, wie auch die Gespräche ihrer missgestimmten, deutschstämmigen Mitfahrer. Diese ereifern sich lautstark über die wirtschaftlichen und kulturellen Zumutungen, die sie seit der Annexion des Memellandes seitens der litauischen Bevölkerung ertragen müssen. Im Lauf der Erzählung wird die Logik des Kulturgefälles jedoch umgekehrt: Die Verfeinerung der scheinbar überlegenen Kultur führt zu Dekadenz, moralischer Regression und dem folgerichtigen Zusammenbruch der kolonialen Herrschaft. Mit einem entsprechend sardonischen Ton vergegenwärtigt der Erzähler in „Litauische Claviere“ die deutschnationalen Aktivitäten in Willkischken und Bittehnen. Als beispielsweise die große politische Kundgebung im Wirtshaus ihren Anfang nimmt, lässt er einen echten ‚Mann des Volkes‘ zu Wort kommen. Der Bauer bietet Professor Voigt einen Platz im Saal an, und als jener fragt, „und Sie, wollen Sie nicht“, antwortet dieser: „Das lange Gered, […] morgens Kirche und jetzt schon wieder. Aber nachher gibt es Theater“ (S. 295). Der Eindruck einer allein auf Vergnügen und Konsum fixierten Bevölkerung 10 Gustav Freytags „Soll und Haben“ ist im Deutschland der Jahrhundertwende das paradigmatische und vielgelesene Beispiel für eine nicht-reflexive Form dieser Gattung. 11 Bufe, Siegfried: Straßenbahnen in Ost- und Westpreußen. 2. Auflage. Egglham/München: Bufe Fachbuch-Verlag 1987.

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wird umgehend verstärkt, als der aus dem Reich entsandte Chefagitator Neumann durch Zurufe aus seinem Redekonzept geworfen wird: „Also weiter Herr Neumann“, schaltet sich der Erzähler ein, „aber es wird nicht mehr viel. Unterbrochen ist unterbrochen, der Faden ist ab. Und die Zuhörer haben Zeit gefunden […] ihre Bedürfnisse festzustellen: Theater und, vorher noch, Bier“ (S. 296). Beim Theaterstück handelt es sich im Übrigen um eine Apotheose der Königin Luise, „die man“, wie der Erzähler ironisch hinzufügt, „nach ihrem Tode so sehr geliebt hat“ (S. 246), und deren Erinnerung sich in Willkischken ein eigener Luisenverein gewidmet hat. Süffisant werden so Schritt für Schritt die vielfältigen Vaterlandsvereine der Epoche bloßgestellt. In diesem Sinne urteilt auch die Bobrowski-Kennerin Kristina Brazaitis über die Art und Weise, wie der Roman mit den Deutschtümlern umgeht: „Symbole dieses [deutschen] Nationalismus sind der Luisenbund, der die historische Begegnung der preußischen Königin [mit Napoleon] in einem tränenreichen Festspiel feiert, und Gottschalks deutscher Kulturverein, die beide der Lächerlichkeit preisgegeben werden.“12 Ganz im Gegensatz dazu sieht Brazaitis die Darstellung der litauischen Bewohner des Memellandes. „Local traditions, language, customs and people are presented in ‚Litauische Claviere‘ in a positive, often romantic light, reminiscent of the enthusiasm of German romantics for all things Lithuanian in the 19th century“.13 Dieselbe Dichotomie entwickelt Anna Campanile in ihrer Besprechung des Romans: Gegen die Zumutungen des deutschen Nationalismus „setzt Bobrowski die ‚ethische Substanz des Litauertums‘“.14 Und auch Brazaitis folgert: „The merciless depiction of the Germans is followed by a curiously benevolent description of the Lithuanians. Even though Bobrowski was wary of presenting an over-idealized picture of Lithuania, the Lithuanians are here presented as peaceful, happy, gentle-natured and melancholy“.15 Wohl auch aus dieser Quelle speist sich bis heute die große Wertschätzung des Autors und seines letzten Romans in Litauen. Bezeichnenderweise war es die Stadt Vilkysˇkiai, die Bobrowski in der jüngsten Vergangenheit zweifach geehrt hat: Zunächst im Jahr 2013 mit der Einrichtung einer Dau12 Brazaitis, Kristina: Von Lituania infelix bis zur Aufklärung und danach. Die ‚Veroperung‘ von Bobrowskis „Litauische Claviere“ durch Gerhard Wolf und Rainer Kunad. In: Litauisches Kulturinstitut. Jahrestagung 2002. Deutsche und litauische Literatur. Eine Begegnung. Hrsg. vom Litauischen Kulturinstitut. Lampertheim: Litauisches Kulturinstitut 2003, S. 29–52, hier S. 41. 13 Brazaitis, Kristina: Donelaitis viewed through rose-tinted glasses. Did Johannes Bobrowski misread the Lithuanian bard? In: Journal of Baltic Studies 35, 2004, H. 1, S. 50–62, hier S. 53. 14 Campanile, Verstimmte Claviere. 2001, S. 379. Das Zitat im Zitat ist von Campanile nicht nachgewiesen. 15 Brazaitis, Kristina: Kristijonas Donelaitis in Johannes Bobrowski’s „Litauische Claviere“ (Lithuanian Pianos). German variations on a Lithuanian theme. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 38, 1988, S. 185–195, hier S. 189.

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erausstellung im Gemeindehaus der evangelisch-lutherischen Kirche, im Jahr darauf mit der Umbenennung der örtlichen Mittelschule, die seitdem JohannesBobrowski-Schule heißt. Die Dauerausstellung konserviert unter anderem die Einrichtung von Bobrowskis Berliner Arbeitszimmer, sowie eine Reihe von persönlichen Gegenständen aus dem Besitz des Autors, darunter an prominenter Stelle die Schreibmaschine, auf der „Litauische Claviere“ verfasst wurde.16 Bobrowskis Roman evoziert also vordergründig den topischen Gegensatz einer dekadenten, überfeinerten Gesellschaft auf der einen und einer gesunden und naturverbundenen Volksgemeinschaft auf der anderen Seite. Wiederholt kommt es sogar zu einer direkten Gegenüberstellung der beiden Lager, so auch als Voigt, Gawehn und Potschka in der Wohnung des letzteren an der völkervereinenden Donelaitis-Oper arbeiten während im darunterliegenden Festsaal die Deutschnationalen ihre Propaganda und sogar einen Mord planen: „Es geht voran mit der Oper, gewiß, gewiß, und unten in der Gaststube auch“ (S. 249). Am eindrücklichsten gelingt der Kontrast aber, als Deutsche und Litauer am Johannistag zeitgleich ausziehen, um ihre jeweiligen Feierlichkeiten zu begehen. „Draußen haben die vaterländischen Frauen mit ihren Luisenkindern die Kaffeetafel aufgebaut. Draußen hat die Musik Platz genommen, auf einem Hubbel, um einen Kasten Flaschenbier herum. Draußen versammeln sich Kaffeedurstige und Zuschauer, Bittehner und Bittehner Kinder. Aber da zieht sich ja auch allerhand nach dem Berg hinüber. Alles, was bunt ist, Trachten, weiße Blusen, bestickte Jäckchen, Tücher und Hauben. Voigt möchte am liebsten gleich hinterher.“ (S. 280)

Trocken und mit ironischen Untertönen werden in einem halbherzigen Trikolon die deutschen Festgäste mit ihren prosaischen Bedürfnissen beschrieben: Kaffee, Musik und natürlich Bier. Viel poetischer hingegen nimmt sich die Beschreibung des echt volkstümlichen Treibens der Litauer aus, und man möchte hinter der jambisch-daktylischen Passage beinahe einige Verse des Autors vermuten: „Alles, was bunt ist, Trachten, weiße Blusen, bestickte Jäckchen, Tücher und Hauben.“

Die anschließende Bemerkung – „Voigt möchte am liebsten gleich hinterher“ – wirft jedoch die Frage auf, ob es sich bei der Beschreibung der Litauer um einen Erzählerkommentar handelt, oder ob wir den Zug zum Rombinus aus der Innenperspektive der Figur erleben. Im letzteren Fall müsste bei der Bewertung 16 Eindrücke von der Dauerausstellung wie auch von den Feierlichkeiten zur Umbenennung der Schule wurden in dem folgenden Video festgehalten: https://www.youtube.com/watch?v=cIezC YlWHhg (Zugriff am 1. 02.2018).

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dieses Abschnitts sowohl Voigts Liebe zur litauischen Kultur wie auch sein naiver Optimismus – man denke an das Opernprojekt – mitbedacht werden. Und in der Tat zeigt sich, dass Voigt noch einiges über die Realität im litauischen Lager zu lernen hat. Die Litauer werden nämlich nicht nur als naturwüchsige Volksgemeinschaft beschrieben, immer wieder fällt auch die Bezeichnung ‚Tautyninkai‘. Gemeint sind damit Vertreter oder Sympathisanten des rechtskonservativen Bundes der litauischen Nationalisten (Lietuviu˛ tautininku˛ sa˛junga), der sich im Jahr 1926 an die Macht geputscht hatte. Brazaitis räumt in ihrer frühesten Studie zu „Litauische Claviere“ zwar ein, dass „the ‚patriotic‘ Lithuaninas are referred to as ‚Tautyninkai‘“, doch meint sie: „The description is made to sound neutral when compared to the depiction of the National Socialists“.17 Und auch bei Andreas Degen findet sich dieser Gedanke wieder: „Neumanns Agitation forciert [eine] Spaltung der Bevölkerung in Gesinnungsdeutsche und Gesinnungslitauer. Demgegenüber wird das Nationalbewußtsein der preußischen Litauer als tolerant dargestellt“.18 Diesen Eindruck mag der Text zwar zu Beginn erwecken, nicht zuletzt deshalb, weil der Leser die Handlung oftmals durch die Perspektive des Professors Voigt nachvollzieht. Doch geht die Integrität dieser Dichotomie mit dem Fortschritt der Handlung verloren. Schon bei der Ankunft in Willkischken schaltet sich der Erzähler mit einem ironischen Kommentar zum scheinbaren Gegensatz zwischen Deutschnationalen und Tautyninkai ein: „Morgen“, so berichtet er, „hat der Vaterländische Frauenverein sein Jahresfest: in Bittehnen, und morgen feiern die Litauer ihren Vytautas: auf dem Rombinus. Das sind zwei grundverschiedene Dinge, und es liegen ja auch zweihundert Meter Wiese dazwischen“ (S. 244). Diese zweihundert Meter überquert Voigt am Abend des Johannisfestes, um den Festlichkeiten im Angedenken an Vytautas den Großen (gest. 1430), den Mitbegründer PolenLitauens und Sieger über den Deutschen Orden in der Schlacht bei Tannenberg (1410), beizuwohnen. Auf dem Weg dahin trifft er auf Potschka, auf dessen „schon da, Herr Professor?“ Voigt abwinkend erwidert: „Habe Vaterländisches bereits hinter mir: Kaffee und Besoffene und eine Ansprache. Jetzt wollte ich auf den Berg“. Potschkas Reaktion auf diese Ansage: „Es ist ziemlich schlimm da oben“. Voigt ist überrascht, schließlich war er doch selbst Zeuge des belebenden, volkstümlichen Treibens. „Aber Potschka, ich hab vorhin die jungen Leute den Berg hinaufziehen sehen, ein wunderschönes Bild, die Farben.“ Daraufhin eröffnet ihm Potschka den ganzen Abgrund der litauischen Nationalphantasien:

17 Brazaitis, Kristijonas Donelaitis. 1988, S. 189. 18 Degen, Andreas: Bildgedächtnis. Zur poetischen Funktion der Sinneswahrnehmung im Prosawerk Johannes Bobrowskis. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2004, S. 275.

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„Ach Herr Professor. Ein Festspiel, aber ein Schauerdrama: Vytautas Didysis. Der Großfürst. Der Didkunigaiksˇtis [Großfürst], immer herumtrampelnd auf dem Stein, das tut man doch nicht, und die Laimen und Ullaimen in weißen Hemden um ihn herum. Und die Laumen blau. Und Perkunos verspricht ihm Preußen und Polen und Nowgorod, und Kiew auch gleich, und Bangputys das Baltische und das Schwarze Meer…“ (S. 283)

Ein wenig ernüchtert zieht Voigt weiter den Berg hinauf, wo er zunächst die Feierlichkeiten beobachtet und dann, nach einer Weile, mit dem Verfasser des „Schauerdramas“ ins Gespräch kommt, seinem litauischen Doppelgänger Storost: Dieser ist ebenfalls Professor, Amateurdichter und Volkskundler aus Neigung. „Habe mit dem größten Interesse gelauscht“, erklärt Voigt, „ihr neues Werk, ich vermute doch richtig?“ Storost, der sich ebenso wie Voigt eher zum Ethnographen als zum politischen Vordenker berufen fühlt, antwortet verhalten und ein wenig beschämt: „Wie man es nimmt […]. Stark gekürzt und etwas frei bearbeitet, ich hatte mehr an ein Schicksalsdrama gedacht als an ein Weihespiel“ (S. 285). Der Begriff des Weihespiels verstärkt den Eindruck, der sich bereits zuvor aus Potschkas Zusammenfassung ergeben hat: Hier werden großlitauische Herrschaftsphantasien zur Schau getragen und religiös überhöht, und zwar im Widerspruch zur ursprünglichen Absicht des Verfassers. Storost stellt dann auch umgehend den Autor der „Bühnenfassung“ vor, den Herrn „Redakteur Saluga“ (ebd.). Dieser gibt im anschließenden Gespräch zu erkennen, dass er die ethnographischen Leistungen der Herren Professoren zwar zu schätzen wisse, dass es ihm als Schriftsteller jedoch um mehr gehe, als „eine Art Volkskundemuseum“ (S. 286) aufzubauen. „Dieser Staat, so wie er ist“, erklärt Saluga, „wird unsere Hoffnungen nicht erfüllen“ (S. 287). Ihm steht also – ganz wie den Deutschen auf der anderen Seite der Wiese – der Sinn nach nationaler Erweckung und Erneuerung im großen, revolutionären Stil. Resigniert geht Voigt in sich und überdenkt noch einmal die Bedingungen für das Projekt, das ihn an diesen Ort gebracht hat: „Diese Oper. Wer wird sie aufführen wollen? Oder können, jetzt, in Deutschland? Und in Litauen, wie stünde es damit? Das sieht doch alles, hüben wie drüben, sehr ähnlich aus […]. Da wird ein Anspruch nach dem anderen aufgerechnet“ (S. 288f.). Der Gegensatz zwischen deutscher Gesellschaft und litauischer Gemeinschaft hat sich zum Ende der Haupthandlung aufgelöst. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass auch für die Litauer erst mit der Verteilung von Honigschnaps und Monopolsprit das Fest richtig beginnt (S. 289). ‚Hüben wie drüben‘ haben sich die Nationalisten durchgesetzt und einen dauerhaften Ausgleich unmöglich gemacht. Dabei werden beide Lager – und nicht nur die Deutschen, wie Brazaitis meint – schrittweise der Lächerlichkeit preisgegeben.19 Nicht nur der Luisenbund und der örtliche 19 Siehe oben, S. 5.

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deutsche Kulturverein, auch das Weihespiel vom litauischen „Didkunigaiksˇtis, immer herumtrampelnd auf dem Stein“, vor einem zunehmend betrunkenem Publikum, werden im Lauf des Romans in ihrer Absurdität bloßgestellt. Großdeutsche und großlitauische Ambitionen werden gleichermaßen ironisch gebrochen und als kulturpolitische Initiativen disqualifiziert.

II.

Der Anspruch auf das Memelland

Geistesgeschichtlich ist der Roman damit in der Nachkriegsgegenwart des Autors angekommen. Der romantische Nationalismus, der die Geschichte Europas im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf furchtbare Weise geprägt hatte, wird auf der Handlungsebene von „Litauische Claviere“ als schlecht inszeniertes Theater entlarvt. Das trifft insbesondere die Vorstellung einer urwüchsigen Verbindung zwischen Land und Leuten, sowie die davon abgeleiteten territorialen Besitzansprüche. Die Frage, die hintergründig alle Aspekte der Handlung motiviert – wem gehört das Memelland? – erfährt damit auf den ersten Blick eine sehr prosaische Antwort: Die Idee einer unmittelbaren Verbindung zwischen einer Bevölkerungsgruppe und einem geographischen Gebiet ist das Produkt kultureller Aneignungs- und Zuweisungsprozesse, ist also historisch kontingent. Mehr noch: Jeder Versuch einer solchen Zuordnung ist in sich lächerlich, da er die Tatsache der Kontingenz hinter einem abgeschmackten Populärmythos verstecken muss, sei es hinter einem trampelnden Vytautas oder einer singenden Luise. Auf der Zeichenebene spricht der Text jedoch eine andere Sprache, wenn es um die ‚natürlichen‘ Besitzansprüche auf das Memelland geht, und zwar von Anfang an. Bereits am Ende des ersten Kapitels, als Gawehn und Voigt Willkischken erreichen, erfolgt eine in dieser Hinsicht vielsagende Beobachtung. Gawehn bleibt stehen und „läßt den Blick über das Dorf wandern, über die verschwimmenden Umrisse der Hügel dahinter, über die Felder zur Linken, über die Sonnabendfarben: dunkles Grün, helles Gelb, rötliche Töne, ein langsam tiefer werdendes Blau“ (S. 243). Es sind dies die letzten Worte des ersten Kapitels, und das zweite eröffnet mit einer bemerkenswerten Reprise, bzw. Variation: „Die Tassen sind grün, die Kaffeekanne ist blau, die Milchkanne weiß, der Teller mit dem Fladen gelb und rot“ (S. 244). Gelb, grün und rot ist seit 1918 die Flagge des unabhängigen litauischen Staats, das litauische Wappen andererseits kombiniert blaue, weiße, gelbe und rote Farben. Gewiss: Mit dieser Palette ließen sich auch dutzende andere Nationalflaggen herstellen, auffallend ist jedoch die Abwesenheit der Farbe schwarz: Ohne diese ist es nämlich nicht möglich auch nur eine der um 1930 gängigen offiziellen oder inoffiziellen deutschen Flaggen nachzuzeichnen. Gleichzeitig ist es natürlich ein ungewöhnlicher Zufall – man sollte

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vielleicht auch von einem ungewöhnlichen Geschmack sprechen –, der grüne Tassen mit gelbroten Tellern kombiniert. Es sei denn, der Besitzer möchte damit eine Aussage über seine kulturelle Zugehörigkeit machen. Ein derartiges patriotisches Service wäre in der Regel bestenfalls eine flüchtige Beobachtung wert, würden diese Kulturgüter nicht vielsagend mit der natürlichen Umgebung verknüpft. Oder umgekehrt: Wahrscheinlich würde man Gawehns Eindrücke von der grüngelbroten Landschaft überlesen, würden sie nicht an derart exponierter Stelle, an der Grenze zwischen erstem und zweitem Kapitel, gedoppelt. So aber evoziert der Text die Vorstellung einer genuin litauischen Kulturlandschaft, wobei es der Raum selbst ist, der über seine Zugehörigkeit Auskunft gibt. In diesem Zusammenhang fällt auf, wie oft Räume an sich, also menschenleere Räume, in das Blickfeld des Erzählers geraten. Eingeführt wird dieses eigentümliche Motiv bereits im ersten Kapitel: Voigt und Gawehn haben sich eben auf den Weg nach Willkischken gemacht, aber der Geist der Erzählung verweilt noch ein wenig, bevor er den Herren auf die Straße folgt: „Ein Raum ist verlassen worden. Eben waren noch Leute darin, gingen zwar nicht viel umher, maßen ihn also nicht aus, saßen aber doch da, auf ordentlichen Stühlen, mit ihren Reden und ihren Überlegungen […]. Eine Wohnung ist verlassen worden. Vorhänge vor dem Fenster zugezogen. Abgeschlossen. Aber es ist ja noch alles da. Die Bücher. Der Tisch […].“ (S. 234)

Es folgen einige Absätze, in denen der Leser mehr über die Biographie des Bewohners erfährt, bevor der Erzähler seinen Kehrreim wiederholt: „Ein Raum ist verlassen worden, er ist leer. Und die ihn verlassen haben, Voigt und sein Gast Gawehn, stehen auf einem Platz“ (S. 235). Dieses Spiel wiederholt sich zum Ende des zweiten Kapitels, als Voigt, Gawehn und Potschka aus der Wohnung des letzteren hinaustreten: „Oben, über dem Saal, ist es still. Das Fenster geschlossen. Ein verlassener Raum. Vorhin waren Leute hier gewesen, hatten dagesessen, waren kaum einmal aufgestanden, für ein paar Schritte, hatten ihn also nicht ausgemessen, aber doch dagesessen, auf festen, litauisch geschnitzten Stühlen. Dann waren sie gegangen, der Raum war verlassen worden.“ (S. 255)

Es folgen wiederum Absätze, in denen der Erzähler die Einrichtung, die Bilder an der Wand und die Bewegungen des Lichts vergegenwärtigt. Der Exkurs endet jedoch mit demselben Mantra, das ihn eröffnet hat: „Ein verlassener Raum bleibt zurück“ (S. 257). Es scheint nicht so, als würde der Text diese rätselhaften Passagen jemals vollständig auflösen. Doch wird das Phänomen in den ebenso rätselhaften Schlusskapiteln auf bemerkenswerte Weise umgekehrt. Potschka steht schon seit geraumer Zeit auf dem trigonometrischen Punkt und blickt hinaus „in eine Landschaft. In eine Dunkelheit“, als sich eine Stimme zur Ausmessung des

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Raumes einschaltet. Sie setzt an mit topographischen Hilfsmitteln – „Carl Flemings Generalkarte Nr. 3“ und „des Magisters Lombardi Erdbeschreibung der Preußischen Monarchie, die 1791 in Halle gedruckt worden ist“ – geht über zu einer Beschreibung der geographischen Gegebenheiten und nähert sich dann aus der Vogelperspektive der von Menschen geschaffenen Infrastruktur. In diesem Fall geht es also nicht um einen physischen Raum, der verlassen wurde, sondern um eine Abstraktion, die nach und nach mit Leben gefüllt wird. Ein vielsagender Absatz schließt sich an: „Aber damit etwas gewonnen würde, mit der Beschreibung, die in dieser Form einfach für nichts steht, werden wir sie bevölkern, weil die schönste Landschaft ohne Leute eine entsetzliche Öde ist, schlimmer als die Hölle, mit Leuten, versteht sich, die sich in dieser Umgebung zu bewegen wissen, nicht solchen, die jeder verkehrt hingestellten Harke gleich auf die Zinken treten, daß ihnen der Stiel ins Gesicht schlägt: also mit Selmyke und Magusze, Aste, Pimme, Urte, Lyne, Anorte, Tuze, lauter Frauen und Mädchen, und mit Lauras, Martynas, Enskys, Justinas…“ (S. 319, Hervorhebung – F.G.)

Ein leerer Raum dringt darauf, bevölkert zu werden, und zwar von einer ganz bestimmten Bevölkerungsgruppe, deren Vornamen allesamt auf litauische Wurzeln schließen lassen. Spräche an dieser Stelle eine autoritäre Erzählerfigur, dann könnte man wiederum auf einen fantasielosen Nationalismus schließen. Doch ist der bestimmende Eindruck der letzten drei Kapitel eben der, dass man nicht mehr weiß, wer aus welcher Position heraus erzählt. „Letztlich“, argumentiert auch Ka¯rlis Cı¯rulis, „ist der narrative Raum, in dem sich Potschka im letzten Kapitel befindet, nicht mehr festsetzbar“.20 Und dennoch lohnt es sich, die Überlagerung der Stimmen und Epochen in diesem Abschnitt genauer zu untersuchen.

III.

Unsagbares und Erhabenes

Bei aller handlungslogischen und erzählperspektivischen Verwirrung, die die Schlusskapitel stiften, steht doch eines fest: Im Mittelpunkt steht nun der Schulmeister Potschka, der bereits zuvor als ein eigentümlicher Charakter aufgefallen war. Zunächst einmal ist er die einzige Hauptfigur litauischer Abstammung, und es ist ja auch sein ethnologisches Wissen, um das sich die Besucher aus Tilsit bemühen. Außerdem scheint er als einziger – in seiner Beziehung zur deutschstämmigen Tuta Gendrolis – die Verbindung der Völker im Memelland 20 Cı¯rulis, Ka¯rlis: Erzähltes Erzählen. Literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu Johannes Bobrowskis ‚Litauische Claviere‘. In: Zeit aus Schweigen. Johannes Bobrowski. Leben und Werk. Hrsg. von Andreas Degen/Thomas Taterka. München: Meidenbauer 2009, S. 423–435, hier S. 431.

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tatsächlich vorzuleben. Dem entspricht auch, dass Potschka wenig Begeisterung für die nationalkonservative Vytautas-Verehrung seiner Landsleute empfindet. Viel näher steht ihm die Figur des Donelaitis, jenes Universalgelehrten, dem es mühelos gelang, die deutsche und litauische Kultur in seiner Person zu vereinigen. So bleibt Potschka auch dem Treiben der Tautyninkai auf dem Rombinus fern und verweilt lieber an seinem privaten Lagerfeuer, „mehr mit seinem lebendigen Donelaitis als mit einem toten Vytautas“ (S. 301). Beim ‚lebendigen Donelaitis‘ handelt es sich vordergründig um figürliche Rede, die Potschkas subjektives Empfinden zum Ausdruck bringt. Doch ist es eben die Achse Potschka-Donelaitis, an der sich der ontologische Rahmen der Erzählung destabilisiert. Mehrfach hebt der Roman die zeitliche und persönliche Grenze zwischen Potschka und Donelaitis auf, wodurch letzterer in der Tat ‚lebendig wird‘. Und dieser Prozess scheint sich nicht nur in Potschkas Vorstellung abzuspielen, sodass bis zuletzt offenbleibt, ob man es mit den Phantasien eines Wahnsinnigen zu tun hat, oder aber mit einem Ausgleiten in phantastische Erzählmuster. Das erste bedeutende Ereignis dieser Art findet am Vorabend des Johannisfestes statt, den Potschka mit seiner Geliebten unter freiem Himmel verbringt. Der Schulmeister erzählt von seiner Kindheit und Jugend, doch spätestens als er seine Tuta mit ‚Anna Regina‘ anspricht wird klar, dass er nicht seine Lebensgeschichte, sondern die von Christian Donelaitis und seiner Frau erzählt, und zwar aus der Ich-Perspektive. „Es findet hier bei der Figur Potschkas ein Stimmentausch statt, bei dem er zu einer Art Medium für die Stimme von Donelaitis wird“.21 Bemerkenswerterweise scheint Tuta in ebendieselbe Trance zu verfallen, da sie ihren Geliebten wiederum unvermittelt mit Donelaitis’ Vornamen anspricht. Dann aber kommen die beiden zu sich: „Potschka fährt auf. Anna Regina, sagt er, aber schon wie ohne Stimme, und dreht sich wie erkennend zu der neben ihm Liegenden. Und das Mädchen wendet sein Gesicht her, gegen das seine. Herr im Himmel, was hast du mir alles erzählt! Wo komm ich jetzt her? Ich bin hier, ich weiß es, wo war ich? Und wie hast du mich angeredet eben, sagtest du Christian? Ich weiß nicht, du sagtest Anna Regina.“ (S. 265)

Kurz darauf kommt es ein weiteres Mal zu einer Überlagerung historisch getrennter Abläufe. Potschka und Tuta liegen nach wie vor im Freien und beobachten zunächst Litauer aus dem nördlich gelegenen Dorf Krakischken (heute: Kriokisˇkiai), die zum Fest auf den Rombinus ziehen. Auf einmal erscheinen „französische Geister“ am Waldrand, „die da herumstehen, in diesem Hohlweg, an dieser Straße, dieser Heerstraße von damals. Wo der Napoleon vorbeigezogen 21 Cı¯rulis, Erzähltes Erzählen. 2009, S. 429.

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ist, weiß und blau, klein und mit schneller Rede, der Imperator auf seinem Weg nach Borodino“ (S. 269). Der Wechsel vom Präsens zum Perfekt lässt zwar offen, ob diese Soldaten des Russlandfeldzugs von 1812 tatsächlich gegenwärtig sind, und doch erscheinen die zeitlichen Grenzen erneut durchlässig. Bezeichnenderweise ist es eine Meditation über die Zeit, mit der im ersten der drei Schlusskapitel Potschkas Versenkung in die Landschaft beginnt. „Hier ist Potschka“, hebt die Passage an, wiederum ohne deutlich zu machen, von wem diese Rede ausgeht. „Hier ist er. Und von hier blickt man hinaus. Wo hinaus? In eine Zeit, wenn man das weiß: was das ist, Zeit. Die Gegenwärtige? Das schon immer, indem es bemerkt wurde, abgeschlossen ist, vergangen, Vergangenheit geworden. Das Zukünftige? Das immer herankommt, ganz nah heran, und nie eingetreten ist? Immer draußen geblieben? Die Vergangenheit? Abgeschlossen, abgetan, nicht mehr zu rufen, weil ohne Gehör. Erkennbar vielleicht in leblosen Gegenständen, Gestorbenes, in einem Augenblick unkenntlich geworden. Aber man blickt darauf. Und worauf sonst? Als auf etwas, das man zu haben meint.“ (S. 311f.)

Es ist das Paradox des Augenblicks, der doch verweilen soll: Auf der Ebene der Verstandesbegriffe – um an Kants Terminologie anzuschließen – ist die Umwelt des empfindenden Subjekts als Gegenwart nicht darstellbar. Der Begriff schafft niemals Präsenz, sondern leistet immer nur Repräsentation. Die Zeitachse erlaubt es dem Menschen, allein Zukünftiges und Vergangenes geistig zu erfassen. Doch selbst dann sind die Dinge nur ‚vielleicht erkennbar‘. Intellektuelle Fassungskraft ist nicht gleichbedeutend mit einem wirklichen Zugriff auf die zukünftigen und vergangenen Gegenstände, die „nie eingetreten“, bzw. „in einem Augenblick unkenntlich geworden“ sind. Mit diesen Überlegungen gelingt dem Roman die größtmögliche Zuspitzung seiner zentralen Aporie. Es ist dem Menschen nicht möglich, einen zuverlässigen Blick auf die Vergangenheit oder die Zukunft zu werfen, um dadurch die Gegenwart entweder mythologisch oder eschatologisch zu ordnen. Vytautas oder Luise scheiden als Deutungsmodelle ebenso aus wie der rechtskonservative Traum einer Nation, die den Weg zu sich selbst findet. Und doch kann der Mensch nicht anders: Er muss seine Existenz aus dieser unzulänglichen Repräsentation der Außenwelt ableiten. Pragmatisch, fast schon resigniert wirkt daher die Fortführung der Überlegungen zum Phänomen ‚Zeit‘: „Aber man blickt darauf. Und worauf sonst?“ Diese beiden Sätze werfen beim Lesen Fragen auf. „Und worauf sonst“ könnte, je nach Betonung, zweierlei bedeuten: ‚und worauf noch‘, womit eine Aufzählung eingeleitet würde; oder aber ‚und worauf denn sonst‘, wobei das implizierte

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Modalpartikel ‚denn‘ die Resignation klar zum Ausdruck bringt. Im ersten Satz („Aber man blickt darauf“) ist wiederum das ‚darauf‘ nicht klar definiert: Bezieht sich dieses Präpositionaladverb auf alle drei vorangehenden Absätze, oder nur auf die Überlegungen zur Vergangenheit? Privilegiert man den Bezug auf die Vergangenheit, dann sticht ein interessanter Gegensatz ins Auge. Die Vergangenheit ist „nicht mehr zu rufen, weil ohne Gehör“, und so muss sich der Mensch damit begnügen, sie mit den Blicken zu vergegenwärtigen. Damit tritt der romantische Unsagbarkeitsopos in aller Deutlichkeit hervor. Die Vergangenheit (also die gewesene Gegenwart) wird vom Text – wohl im metaphorischen Sinn – als akustisches Phänomen begriffen. Als solches entzieht sie sich dem Zugriff des Individuums, das die Vergangenheit eben nicht hören, sondern nur sehen kann. Und dennoch muss man den Blick, trotz des Wissens um seine Unzulänglichkeit, immer wieder auf diese unerreichbare Vergangenheit richten – worauf denn sonst? Mit diesem Gedanken endet die Einleitung der rätselhaften Schlusskapitel, worauf konsequenterweise ein Blick in die Vergangenheit des Memellandes folgt. Im Mittelpunkt steht dabei wieder Donelaitis, seine Jugend, das Leben zur Zeit des Siebenjährigen Krieges, und schließlich eine Landhochzeit, die der Gelehrte zusammen mit seiner Ehefrau besucht. Die Erzählung oszilliert dabei derart nahtlos zwischen der erzählten Gegenwart und der Welt des späten 18. Jahrhunderts, dass es wiederum zu einer gefühlten Aufhebung historischer und persönlicher Grenzen kommt. Dies geschieht beispielsweise zum Ende des letzten Kapitels, als der in seine Betrachtungen versunkene Potschka scheinbar vom trigonometrischen Punkt heruntergestoßen wird. Die Angreifer sieht er nicht, ihre Stimmen lassen aber darauf schließen, dass er zum Opfer der deutschen Nationalisten geworden ist. „Flieg, sagt die fremde Stimme“, und es folgt diese Passage: „Sie [die Stimme] ist dort oben allein. Und wendet sich. Alles getan. Anna Regina. Ein Gesicht, kahl, weißes Schläfenhaar, zu frühe Weiße, ein blasser Mund. Ich hab geordnet, was zu ordnen war. Eine Stimme aus der Zimmerecke, wie ein Luftzug: Es wird besser, schlaf ein. Nur eine Stimme, keine Hand auf der weißen Stirn, kein Darüberhinfahren, leicht, – so gilt diese Stimme wohl nicht. Wenn ich noch Barometers machen könnte.“ (S. 329)

Als Barometermacher wurde zu Beginn des Romans Christian Donelaitis eingeführt. Mit dieser Information wird für den Leser also offensichtlich, dass die Geschichte aus der erzählten Gegenwart zurück in das 18. Jahrhundert geglitten ist. Der erzielte Effekt ist der Eindruck, dass die beiden Figuren – Potschka und Donelaitis – in einem zeitlosen Raum nebeneinander existieren.

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Betrachtet man, eingedenk dieser Überlegungen, den Roman „Litauische Claviere“ als Ganzes, dann fällt sofort ins Auge, dass Potschka genau das gelingt, wonach alle anderen Figuren streben. Außer Potschka machen sich jedoch alle lächerlich bei dem Versuch, eine unmittelbare Verbindung mit dem Land, seiner Kultur und seiner Geschichte herzustellen. Das gilt für Voigt und Gawehn mit ihrer Oper ebenso wie für die Deutschtümler mit ihrer Luise und für die litauischen Nationalisten mit ihrem trampelnden Vytautas. Von den Tautyninkai unterscheidet sich Potschka dadurch, dass er eben nicht den Staatsgründer, sondern den Kulturstifter verehrt. Und im Unterschied zu seinen deutschen Gästen nähert er sich seinem Idol nicht mit dem historischen Interesse des Ethnographen, sondern mit der tiefgründigen Inbrunst des Mystikers, der die Vereinigung „mit seinem lebendigen Donelaitis“ sucht. Es scheint so, als würde der Text folgenden Gedanken nahelegen: Eine urwüchsige Verbindung zwischen einem Menschen und dem Land, das er bewohnt, ist in der Tat erfahrbar, doch nicht über den Weg der Begriffe. Vielmehr gelangt Potschka über ein quasireligiöses Gefühl an den Punkt, an dem sich Kultur und Geschichte des Memellands unmittelbar erschließen. In einer unio mystica wäre es also doch wieder möglich, das Vergangene heraufzubeschwören und dadurch Identität zu stiften. Anstelle von Mystik mag man an dieser Stelle natürlich noch einen ganz anderen und doch verwandten Begriff anführen, und zwar den des Erhabenen, der in der postmodernen Kultur- und Literaturtheorie der sechziger Jahre wieder an Konjunktur gewonnen hatte. In Anlehnung an die kantsche Philosophie beschreibt Jean-François Lyotard in seiner „Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?“ das erhabene Gefühl folgendermaßen: „‚Das Erhabene‘ […] hat statt, wenn die Einbildungskraft nicht vermag, einen Gegenstand darzustellen, der mit einem Begriff, und sei es auch nur im Prinzip, zur Übereinstimmung gelangen könnte.“ Gegenstand des Erhabenen seien dabei immer Ideen, und zwar „Ideen, deren Darstellung nicht möglich ist; durch sie wird also nichts Wirkliches erkannt (was der Erfahrung angehörte) […]. Man kann sie undarstellbar nennen“.22 Diese Rückbesinnung auf das erhabene Gefühl als kompositorisches Mittel ist eng verbunden mit einem der zentralen Programmpunkte der postmodernen Kulturkritik, mit der Forderung nach einer Überwindung der sogenannten Metaerzählungen der Moderne. Die Metaerzählungen haben, Lyotard zufolge, „wie die Mythen das Ziel, Institutionen, soziale und politische Praktiken, Gesetzgebungen, Ethiken, Denkweisen zu legitimieren“. Sie blicken dabei jedoch in die Zukunft, auf die Einlösung „einer noch zu verwirklichenden Idee […] der 22 Lyotard, Jean-François: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? In: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Hrsg. von Peter Engelmann. Stuttgart: Reclam 1990, S. 33–48, hier S. 43.

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Freiheit, der ‚Aufklärung‘, des Sozialismus, usw.“.23 Lyotard zufolge haben diese modernen Teleologien, zu denen man auch den Nationalismus zählen muss, im zweiten Weltkrieg ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. „‚Auschwitz‘ kann als paradigmatischer Name für die tragische ‚Unvollendetheit‘ der Moderne genommen werden“.24 Der postmoderne Künstler will sich zwar nicht vom Streben nach Ideen verabschieden, doch gelingt dies nicht durch den plumpen Verweis auf griffige Abstraktionen, wie Freiheit oder Aufklärung, sondern durch das Mysterium des Erhabenen. „Die Postmoderne wäre also dasjenige, das im Modernen in der Darstellung selbst auf ein Nicht-Darstellbares anspielt; das sich dem Trost der guten Formen verweigert, dem Konsensus eines Geschmacks, der ermöglicht, die Sehnsucht nach dem Unmöglichen gemeinsam zu empfinden und zu teilen; das sich auf die Suche nach neuen Darstellungen begibt, jedoch nicht, um sich an deren Genuß zu verzehren, sondern um das Gefühl dafür zu schärfen, daß es ein Undarstellbares gibt.“25

Lyotards Überlegungen zur Kategorie des Erhabenen und zu den Metaerzählungen finden sich in der Poetik von „Litauische Claviere“ wieder. Zunächst liegt auf der Hand, dass Bobrowskis Werk, ebenso wie die Philosophie seines Zeitgenossen, im Schatten von Auschwitz entstanden ist. Dies wirkt sich jedoch nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Art der Darstellung aus. Möchte man, wie Bobrowski, von kulturellen Alleinstellungsmerkmalen und der Verbindung von Land und Leuten erzählen, so kann dies nicht länger im Duktus einer Moderne geschehen, die sich die Nationalsozialisten in grausamer Effektivität zu Eigen gemacht hatten. Eine Lösung für dieses Problem bietet das Erhabene, das sich einerseits „dem Trost der guten Formen verweigert“ und es dabei „ermöglicht, die Sehnsucht nach dem Unmöglichen gemeinsam zu empfinden und zu teilen.“ Diese Sehnsucht kann nun nicht mehr in einer klar umrissenen Begrifflichkeit aufgehen und kommuniziert werden. Vielmehr geht es darum, „die Sehnsucht nach dem Unmöglichen gemeinsam zu empfinden und zu teilen“. Damit geht der Text auch ein Risiko ein, hängt doch der Erfolg der literarischen Kommunikation nun davon ab, ob sich die Empfindung tatsächlich auf den jeweiligen Leser oder die jeweilige Leserin überträgt. Und hier scheinen die Hürden in der Tat zu hoch: „Die außerwissenschaftliche Rezeption vermerkt größtenteils Ratlosigkeit“.26 In dieser Beziehung mag man „Litauische Claviere“ mithin als misslungenes Experiment betrachten. Für die Wissenschaft bleibt der

23 Lyotard, Jean-François: Randbemerkung zu den Erzählungen. In: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Hrsg. von Peter Engelmann. Stuttgart: Reclam 1990, S. 49–53, hier S. 49. 24 Lyotard, Randbemerkung. 1990, S. 50. 25 Lyotard, Was ist postmodern? 1990, S. 47. 26 Degen, Bildgedächtnis. 2004, S. 266.

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Roman jedoch ein faszinierendes Stück Zeitgeschichte. Es ist der Versuch, nationale Identität auf neue Weise zu formulieren, und zwar in inhaltlicher wie auch in formaler Hinsicht.

Teil II. (Ost-)Mitteleuropa revisited

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Accomodating Silesia. Framing a Periphery in Fontane’s “Cécile” (1886) and Wackwitz’s “Ein unsichtbares Land” (2003)

Wie kann man eine Peripherie, eine delikate und liminale Region als widerspenstige, unruhestiftende Präsenz gestalten, als Erscheinung die verstörend zwischen Vertrautheit und Fremdheit oszilliert? Theodor Fontane kondensierte die Widersprüche dieser preußischen Provinz (z. B. konfessionelle Spaltung und moralische Fadenscheinigkeit) in seiner Figur Cécile aus dem Roman gleichen Namens (1886); Stefan Wackwitz dagegen verwendet in seinem Roman „Ein unsichtbares Land“ (2004) eine schmerzliche Rekonstruktion der Verschränkungen zwischen privater und offizieller Geschichte im Schatten von Auschwitz, um dasselbe zu erreichen: eine Region literarisch zu bewältigen, die über 250 Jahre hinweg eine Wunde im Fleisch homogenisierender nationaler Narrative geblieben ist. How can a periphery, a liminal and precarious region be framed as an unruly, destabilizing presence, an entity that veers uncomfortably between familiarity and elusiveness? Theodor Fontane condenses Silesian contradictions (e. g. the confessional schism and moral ambiguity) into his character Cécile in the novel of the same name (1886) whereas Stefan Wackwitz, in his novel “Invisible Land” (2004) uses a painstaking reconstruction of the entanglements between private and troubled official history in the shadow of Auschwitz to achieve just that: to get a handle on a region that, for 250 years, had remained a sore in homogenizing national narratives.

Silesia, viewed from the perspective of a united Germany and its capital, is a close neighbour. Yet proximity does not equal familiarity. From the 10th century until its abolition, Silesia was part of the Holy Roman Empire, or rather several of its constituent territories, and subsequently part of successive German states. To this day, Silesia is normally referred to as a single entity, which at best distinguishes between Upper and Lower Silesia, thereby adopting fairly recent administrative designations. Yet Silesia was in fact only an undivided political unit, a duchy ruled by the Piast dynasty, for little over a century in the early Middle Ages. After the province was partitioned amongst the descendants of Henry II (the Pious), the region of Silesia developed from the middle of the 13th century onward into a patchwork consisting of an ever-increasing number of small duchies, originally ruled by branches of the Piasts, then gradually passing into the ownership of

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other dynasties. Previous to this, the region was settled by a variety of peoples of different ethnic and linguistic origins, amongst them a branch of the Vandals called the Silings, from whom the name of the area is said to derive. It was only during the second half of the 14th century, when the Piast duchies successively subordinated themselves to the Bohemian crown so as to eventually become Habsburg fiefdoms, that a sense of Silesia as a unified entity took hold in the public consciousness.1 As a contested area, located on the fault line of European conflict and ambition, Silesia has commanded special attention in the context of historical events that defined the 20th century, and particularly in the context of German-Polish relationships. Yet, ever since Silesia became an entity on the stage of European history, the region’s status has been somewhat unusual – and often precarious. Geographically, Silesia lies at the heart of continental Europe, between a Slavonic east and a Germanic west, between spheres of Catholic and Protestant dominance that intersected in these parts. Similarly, it was northern enough to be subject to strategic considerations by the Scandinavian potentates who extended their influence south of the Baltic during the early modern period, and simultaneously southern enough to fall under the supremacy of the Habsburg empire for centuries. In the 19th century, Upper Silesia developed into one of the industrial powerhouses of Germany, second in importance only to the Ruhr valley. Yet, even though the political centre of a unified Germany established itself east of Germany’s geographical centre and hence somewhat close to the region, Silesia continued to be perceived as remote and peripheral from a metropolitan perspective, and was treated as unruly and awkward, as endemically fluid and unwieldy. One of the reasons for this might lie in a perception of lingering ‘otherness’ and unresolvedness, caused by the complexities in the composition of its population, and most significantly the non-alignment of many factors that can be considered as defining collective identity, such as religion, language, ethnicity and class. The border of 1742, the year of the Prussian annexation of the Silesian lands previously held by the Habsburg crown, “represented the battle line at the time of the ceasefire and thus corresponds to no natural boundaries or previous divisions”.2 In spite of strenuous efforts on Prussia’s part to homogenize and Germanize the acquired province, a multiplicity of internal regional specificities remained which rendered many of the districts quite distinct from one another – yet the name Silesia remained in place as shorthand for diversity and oddity. Particularly when wider historical conditions necessitated decisions, such as in 1 Concise information on the early history of the region is available in Irgang, Winfried/Bein, Werner/Neubach, Helmut: Schlesien. Geschichte, Kultur und Wirtschaft. Cologne: Wissenschaft & Politik, 1995, here esp. p. 12, 34. 2 Hannan, Kevin: Borders of Language and Identity in Teschen Silesia. New York: Lang, 1996, p. 38.

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the context of the plebiscite of 1921 when the population of a part of Silesia was asked to declare their political allegiance, the fluidity of alignments became manifest. T.K. Wilson notes the “absence of clear segregation”, the openness of “categories of identity” and the non-adherence to obvious patterns of affiliation.3 All of these factors designate Silesia, particularly Upper Silesia, as “a Prussian as well as German borderland”, and also as “something of a laboratory in the question of group identity”.4 But the problematics are rather more specific than that. From a Prusso-German vantage point, Silesia is more precisely a laboratory regarding the integration of the periphery into the larger political, social and cultural entity to which it nominally belonged from the first of the Silesian Wars until 1945, and hence a region in which Germanness, both in a specifically Prussian and in a more general sense, became concurrently asserted and contested.

I.

“The interesting province of Silesia”: A Laboratory of Disruption and Assertion

In any analysis of literary treatments of the disruptive quality of Silesia and its precarious position within Prussian Germany, an awareness of historical specificity and the agenda of the texts in question have to inform the investigation. In his novel “Cécile”, Fontane alludes to very distinct and pronounced features of the Silesian social and political make-up to sketch his protagonist’s background and to explain her situation in the metropolitan society of the time. In his family romance (“Familienroman”) “Ein unsichtbares Land”, Stephan Wackwitz designs a Silesia which is the location for assertive Germanness in confrontation with its other. Thus, the family’s legacy is to be found in a combative superioricist sense of mission which, though rooted in an enlightened substrate of philanthropic perfectibility, deteriorates into a defensive and aggressive stance of selfassertion vis-à-vis any manifestation of otherness. Both authors’ choice of Silesia as epitome of anxieties and concerns is far from random. For Fontane, Silesia is emblematic of unresolved issues in contemporary metropolitan Prussian society; for Wackwitz, Silesian border regions are exemplary locations of distinctly German issues of legacy. Both novels investigate the interaction between an imagined elusive centre in a metaphorical sense of vantage point, point of origination and of normativity – represented in Fontane’s novel by 3 Wilson, Timothy K.: Frontiers of Violence. Conflict and Identity in Ulster and Upper Silesia, 1918–1922. Oxford: Oxford University Press, 2010, p. 191, 200. 4 Tooley, T. Hunt: National Identity and Weimar Germany. Upper Silesia and the Eastern Border, 1918–1922. Lincoln/NA: University of Nebraska Press, 1997, p. 5f.

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metropolitan Berlin society and in Wackwitz’s novel by the metropolis’s agents on Silesian ground – and features specific to the Silesian periphery. These features are framed as both reality and projection. In their investigation, both authors blend the peculiar with the very general, i. e. they pursue considerations of norm and deviation in concrete regional scenarios and simultaneously as abstract concepts. For Wackwitz, the significance of the location arises from the fact that after 1945 Silesia had turned into the quintessential European memory site, no longer just a geographical centre, crossroads, borderland or in-between space, but also the emblem of European trauma, the location, symbol and epitome of the perversions of demarcation, othering and exclusion – after all, Auschwitz had been the name of one of the Silesian duchies before it became synonymous with annihilation. His investigation also takes on the question of German design and desire, and particularly the question of what links ambitions for the adjacent to German designs and desires directed further afield, overseas for example, where colonial space offered a similar canvas and scope for impregnation and for the realization of the very ideals, the calcification and perversion of which may serve as an explanation for Auschwitz. Both Fontane and Wackwitz reflect processes of attempted accommodation or pacification of the unruly peripheral. But while Wackwitz’s perspective is essentially retrospective, and his narrative acknowledges the new European reality of fundamentally changed parameters after 1945, Fontane intervenes in very contemporary debates, and vivisects the social, cultural and mental collective sensitivities of his own time. By the 1880s, Silesia had been part of Prussia for close to one and a half centuries, and yet it remained usable as a cipher for division and disturbance. By the late 1990s, when Wackwitz began to investigate his Silesian family history, only small parts of the region had belonged to Germany, or rather to the eastern part of the divided country, for half a century. Nevertheless, it remained a pertinent reminder of unresolved issues, of a troubled past and – in this function, less obviously than in Fontane’s case – also a cipher. Wackwitz’s Silesia is overshadowed by the overwhelming presence of Auschwitz; the entanglements of his own family are understood as emblematic of German self-positioning on precarious sites and in confrontation with complexity and otherness. The then American ambassador to the Prussian court and later US president John Quincy Adams visited Silesia at the beginning of the 19th century; his comments highlight several of the lasting legacies that continued to define Silesia’s profile even when conditions had considerably changed decades later – they encapsulate the region’s uneasy suspendedness between familiarity and peculiarity. Several aspects noted by him also inform the problematics in Fontane’s and Wackwitz’s narratives. Firstly, Adams notices a unique constitutional framework primarily apparent in the special status of the nobility: “The privileges of these holders of the mediate principalities are those of not being bound to

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homage the king, otherwise than in person, and of having a sort of government and judicial courts of their own appointment, subject only to appeal to the highest tribunal of the monarchy, to which only they themselves are amenable”. The “free lordships” in the province enjoy similarly “peculiar” privileges, and even the ordinary nobility, “counts, barons, and nobles, old and new” divide “the high offices of state, ecclesiastical, civil, and military” “exclusively” amongst themselves.5 Though the constitutional position of the nobility with princely titles was unlike that of imperial vassals elsewhere in the Holy Roman Empire, their privileges and their social status indicate proximity to the status of sovereigns or imperial princes and an elevated position in ceremonial respects, and a considerable political autonomy within their territories. Secondly, Adams’ attention is drawn to a confessional division and imbalance when he notes that in 1742 Catholics owned two thousand churches but Protestants only six hundred; and “even now, although they are in number equal to the Catholics, they possess not more than a fourth part of the churches” (p. 356). He attributes this apparent incongruity to a “propensity to the House of Austria, which is yet far from being eradicated among the Catholics of Silesia” (p. 359). Religious persuasion and an apparently skewed distribution of cultural capital are but one instance where divided loyalties and a concomitant sense of anomaly become manifest. Thirdly, Adams comments indirectly on the interplay between centralization and particularism, for example in his frequent praise for the spirit of reform measures introduced by the conqueror himself, Frederick the Great. Here the Frederician system of universal schooling, and the insistence on teachers being trained to standards set by the state rather than by religious patrons, conveys this point: “The indolence of the Catholic clergy was averse to the new and troublesome duty imposed on them. Their zeal was alarmed at the danger arising from this dispersion of light to the stability of the church” (p. 369). Remarks such as these betray an attitude of suspicion directed at the unfamiliar conditions and they reveal a desire to ensure adherence to any norms emanating from a central authority. Adams could not yet have been aware of the onset of industrialization, which turned Silesia into an economic powerhouse. He also shows no sensitivity to latent ethnic, linguistic or national discord between members of German, Polish, Bohemian and Jewish communities, and specific groupings within these communities. Nevertheless, his impressions convey an idea of Silesia as quite a distinct and diverse region that is politically and economically integral to Prussian Germany, yet one which remains religiously, socially, constitutionally and, most significantly perhaps, culturally and mentally peripheral, torn between an alleged inside and an ill-defined outside. 5 Adams, John Quincy: Letters on Silesia, written during a tour through that country in the years 1800, 1801. London: J. Budd, 1804, p. 339f. Further references are provided in the main text.

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This account gives some indication of why the region could – in Adams’ words – justifiably be labelled “the interesting province of Silesia” (p. iii). Not only is it full of curiosities and contradictions internally; the image it presents to outsiders is also of particular intrigue, as is its precarious position in the wider contexts of Prussia, of a unified Germany and of central Europe. These contexts are evinced by a metropolitan view of the periphery (after all, without the assumption of a centre the region would not be a periphery, and without two or more centres to exert influence and pull, it would not be a borderland), i. e. the observer internalizes Berlin and Prussian possession as his vantage point. Fontane uses this premise to cast doubt on the validity of a norm-setting central authority by exposing the susceptibility to corruption of the elusive consensus that sustains the interaction between the metropolis and the periphery.

II.

“Was kümmert mich Serenissimus und sein Tee-Fräulein?”: Fontane

The relationship between Prussia and its eastern neighbour, and the juxtaposition of bourgeois German virtues with the apparent lawlessness and immorality of Polish lands, had been a topic in one of the founding documents of German Realist literature, Gustav Freytag’s “Soll und Haben” (1855). Here, the enforcement of order (against smugglers, insurgents and a decadent petty aristocracy) and the imposition of German efficiency and respectability was hailed as a civilizing mission, a bourgeois duty, a challenge that allowed the novel’s young protagonist to prove his mettle. The relationship between metropolis and periphery is framed in quintessentially colonialist terms, as a German man’s burden on his path to nationhood rooted in a post-feudalist, meritocratic middle-class consensus.6 While in “Soll und Haben” the Polish adventures of the Bildungsroman hero constitute only one, albeit important, stage in the plot, Fontane’s “Cécile” seems even less concerned with the eastern fringes of the Prussian states and, since 1871, the German Empire as a whole. The locations and characters advertise the text as a Berlin novel; and since it is mainly frequented by visitors from Berlin, even the Harz resort of Thale, where the first part is set, appears as an extension of the capital. And yet, the entire conflict that drives the story hinges on information which brings Silesia, and very specific conditions there, firmly into the frame. It could be argued that these Silesian revelations anchor the plot, that 6 Exemplary for this reading is Kopp, Kristin: “Ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern”. “Soll und Haben” als Kolonialroman. In: 150 Jahre “Soll und Haben”. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman. Ed. by Florian Krobb. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005, p. 225–237.

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they are the explanation for the conflicts that ensue, and in the end that they cause the catastrophes of the novel’s conclusion. Put differently: it is the inability of mainstream Prussian society to accommodate and accept, and to lay down its suspicion toward those aspects of otherness, disturbance and irritation personified in the title character and which are derived from, and attributed to, a legacy closely associated with her Silesian background. In contrast to the situation in “Soll und Haben”, where demarcations are uncontroversial since the ‘other’ remained externalized, in “Cécile” Silesia has moved into the heart of Prussian society and established itself as an internal ‘other’. This renders the annoyance with the potential to unhinge the equilibrium of Prussian society even more severe. Fontane creates pockets of friction and lingering conflict everywhere in his work, and very often the preoccupations and perspectives of the nobility provide the lens for this exemplification, from Leo Poggenpuhl’s impressions in his eastern garrison town to the assessment of the suitability of Catholic or recently ennobled marriage candidates from the Prussian Rhine provinces in “Der Stechlin”. In “Cécile”, this debate about compatibility and consonance is imbued with a sharp Silesian specificity. Bettina Plett has called Fontane’s main protagonist an imagological amalgamation of Catholicism, “femme fragile” and “Mätressentum”.7 Plett, and other commentators along with her, ignore the fact that this profile also entails a family background associated with the industrialization of the region and a lifestyle said to lack any adherence to principles of propriety, especially economic responsibility and respectability.8 This bundle of attributes is condensed in and explained by the character’s Silesian origin. The three interrelated and mutually enforcing elements that are identified as Silesian are (a) sexual transgression as a remnant of aristocratic, ancien régime mores, (b) Catholicism and (c) a frugal and concurrently profligate lifestyle that ignores the middle-class principles of moderation, prudence and provision.9 The information to this respect is contained in 7 Plett, Bettina: Rahmen ohne Spiegel. Das Problem des Betrachters bei einem “Mangel an Sehenswürdigkeiten” in Fontanes “Cécile”. In: “Weiber weiblich, Männer männlich?” Zum Geschlechterdiskurs in Th. Fontanes Romanen. Ed. by Sabina Becker/Sascha Kiefer. Tübingen: Narr, 2005, p. 159–178, here p. 164. 8 For Downes, Daragh: Cécile. Roman. In: Fontane-Handbuch. Ed. by Christian Grawe/Helmuth Nürnberger. Stuttgart: Kröner, 2000, p. 563–574, the dialectics “von alter duodezfürstlicher und neuer preußischer Zeit” (p. 573) remain politically and geographically unspecific, and the designation hence conveys erroneous information: the term Duodezfürstentum implies sovereignty, but the Silesian principalities were mediate ones. 9 Irrational spending and hollow pretences form a significant proportion of the information on Cécile’s family communicated by the informant. Cf. Fontane, Theodor: Cécile. In: Werke, Schriften und Briefe. Ed. by Walter Keitel/Helmut Nürnberger. Series I: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. 3rd edn. Munich: Hanser, 1990, vol. 2, p. 141–317, here p. 283f. Further references are provided in the main text. The discourse surrounding middleclass virtues of financial probity, and apparent aristocratic violations of such ideals, as a test

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Florian Krobb

two letters that Cécile’s suitor receives from his sister and another friend which explain the protagonist’s vulnerability, erratic behaviour and circumspection in society. In the shape of these letters, Silesian information flows to the metropolis and upsets the fragile equilibrium that had pertained there because the disturbing and transgressive substrate at the bottom of the multiple layers of signification had previously remained obscure.10 Cécile’s violation of sexual morality occurred when, as a young girl, she was taken into the household of a Silesian princely family, ostensibly as reader to the princess, but in reality, as the prince’s mistress. The information on her background reflects a situation of confusion and unruliness, defined by a lack of purpose and a troublesome conflagration of the old and the modern, the trivial and the exceptional, the common and the elevated. Obviously, the judgment conveyed by the form and content of the revelations – letters from informants who are detached from the actual case – betray an outsider’s perspective. They convey a sense of absent equilibrium, of an uneasy coexistence of unreconciled extremes. Of Cécile’s mother, the informant says: “Sie hatte ganz verschrobene Ideen und war abwechselnd unendlich hoch und unendlich niedrig. Sie sprach mit der Herzogin auf einem Gleichheitsfuß, am liebsten aber unterhielt sie sich mit einer alten Waschfrau, die in unserem Hause wohnte.” (p. 283)

In this remark, an elusive centre or middle ground is effectively squeezed from two sides, from above and from below. The reaction to the precariousness of status and ability is self-deception. Frau von Zacha’s late husband’s occupation as “Betriebsdirektor bei den Hohenlohes” (p. 282) evokes the process of industrialization (confirmed by echoes of ‘Zeche’ in the name) and the attendant capitalism and concomitant economic upheaval which resulted in a reversal of inherited social hierarchies and modalities of affirming community. His gambling habit, debt and unexplained early death can be read as symptoms of an unleashed economic modernity superimposed upon the inherited Silesian unruliness, evident in confessional splits, constitutional particularities and peripheral location, all of which exacerbate its symptoms. All of these influences converge in the girl: “An Erziehung war nicht zu denken” (p. 283). The family’s Catholicism (“damals noch katholisch”, p. 281) holds the aspects of social incongruity and moral-sexual failing together, since confession as a case for social cohesion, is illustrative of negotiations of a civil consensus in emerging egalitarian societies. For a slightly later Austrian example see Krobb, Florian: “Von uns aus betrachtet – eben verrückt”. Louise von Coburg, Profligacy and Felix Salten’s Campaign for a Civil Consensus. In: German Life & Letters 70.2, 2017, p. 174–191. 10 Blasberg, Cornelia: Das Rätsel Gordon oder: warum eine der “schönen Leichen” in Fontanes Erzählung “Cécile” männlich ist. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 120, 2001, Sonderheft: ‘Realismus’? Zur deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, p. 111–127, here p. 116.

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sacrament that promises certain forgiveness creates moral dispositions believed to favour such transgressions. The posthumous reversal of Cécile’s conversion to Protestantism is emblematic of the Prussian and all-German inability to accommodate, or absorb, the licentious Catholic Silesian ‘otherness’ that Cécile represents.11 Cryptic as Fontane’s allusions might be, and compressed as they are onto six or seven pages, they are still concrete and punchy, and they connect this theme to a number of other concerns, prominent amongst them that of the Kulturkampf,12 which marred the fledgling German Reich and its internal unity. One of the most revealing dimensions of meaning is contained in Fontane’s naming of the princely family that employ Cécile and also leave her a bequest which ensures her future independence. As indicated by John Quincy Adams, the rank, constitutional status and reputation of Silesian nobility signifies the unique and unconventional nature of the region as a whole. In spite of titles indicating direct vassalage of the Holy Roman Empire, the duchies of Silesia had been mediated since the successors of the Piast dukes had successively placed their fiefdoms under the supremacy of the Bohemian crown and thus the Habsburgs from the 14th century onwards. When most of the territory fell to Prussia after the First Silesian War in 1742, they became mediate to the Prussian crown and after the Prussian reforms their fiefdoms were converted into so-called Standesherrschaften. Over time, the dozens of individual duchies and many lordships with different titles changed ownership frequently and they were often renamed, partitioned or amalgamated with other principalities. Over the centuries, Silesian lands and titles became a resource for bestowing income and prestige on loyal servants of the respective overlords – Wallenstein’s investiture with the duchy of Sagan is probably the most notorious example – or a pawn for purchase and bartering by the nobility throughout Europe. Some of Europe’s most prominent dynasties held possessions in Silesia, the aforementioned Hohenlohes, the princes of Anhalt-Köthen and many others amongst them. After Wallenstein’s demise, Sagan for example fell to the dukes of Courland and the French Talleyrand family in turn. Because of the prestige bestowed by the attendant titles, because of considerable constitutional independence without the burden of sovereignty and because of their wealth, Silesian lordships became a playground for marriage politics, and a battleground for dynastic supremacy. The fictitious name and title of the prince whose mistress Cécile had been bespeaks just these conditions: 11 Aspects of the confessional problematics are discussed in Krobb, Florian: “Die Welt ist eine Welt der Gegensätze, draußen und drinnen”. Fontanes “Cécile” und die Unmöglichkeit von ‘Mut’. In: Fontane-Blätter 104, 2017, p. 28–45. 12 Cf. Sagarra, Eda: Vorurteil im Fontaneschen Erzählwerk. Zur Frage der falschen Optik in “Cécile”. In: Theodorus victor. Theodor Fontane, der Schriftsteller des 19. am Ende des 20. Jahrhunderts. Ed. by Roland Berbig. Frankfurt/Main: Lang, 1999, p. 121–136.

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“Als sie kaum siebzehn war, sah sie der alte Fürst von Welfen-Echingen und ernannte sie bald danach, und zwar nach wenig schwierigen Verhandlungen mit Frau von Zacha, zur Vorleserin seiner Gemahlin, der Fürstin.” (p. 280)

This snippet amounts to a microcosm of Silesian conditions and to a compressed characterization of the Prusso-Silesian relationship: The second component of the princely name, Echingen, might be read as an allusion to the famous Napoleonic Marshall Ney who bore the title of Duke of Elchingen, bestowed in recognition of his victory in the battle of the same name. This battle paved the way for the battle of Austerlitz which, in turn, sealed the new European order of Napoleon’s making. The political status of Silesia is thereby explained as a consequence of the Napoleonic redrafting of Europe’s political landscape – imposed rather than organically grown. At the same time, since the resurrection of Polish statehood in the short-lived guise of the Duchy of Warsaw is also inextricably linked to Napoleonic victories, this naming of the fictitious princely family is suggestive of alternative national alignments to those established after the First Silesian War and by the partitions of Poland, and hence reminds readers of the precariousness of the actual current political landscape. The first component of the princely name, Welfen, echoes that of the dynasty which, for centuries, had been rulers of the various principalities of Lower Saxony, including the duchies of Hanover and Brunswick-Lüneburg-Wolfenbüttel in their many incarnations. This, together with the clue contained in the name of the castle Cyrillenort in Fontane’s text, points to the duchy of Oels and one of its residences, Sybillenort, as possible inspiration for Fontane’s reference.13 The fact that this duchy was enfiefed to the Welfs of Brunswick-Lüneburg by Frederick II for military services introduces the issue of Prussification into the debate opened by the nomenclature. Yet, the identification of a real-life model does not narrow the meaning of this allusion. It serves to raise wider questions regarding belonging and identity; it points to a large degree of non-alignment as the Brunswick dukes, while they had been Protestant since the Reformation, became rulers of territories with Polish and Catholic populations and a mediatized political status unlike the one they enjoyed as sovereign princes (Reichsstände) in their inherited lands. In light of the context evoked by this name, conditions influencing Cécile’s career are explained as a remnant of a bygone feudal age when nobles enjoyed if not political sovereignty then a near-omnipotence inside their fiefdoms that facilitated their heteronomy. The ‘purchase’ of the girl – for that is what the term ‘negotiations’ is a euphemism for – could be seen as satirizing the relationship between the powerful forces represented by the militarily victorious towards their new subjects, an unsavoury transaction that 13 Thienel, Manfred: Personelle und örtliche Bezüge zu Fontanes “Cécile”. In: Fontane-Blätter 59, 1995, p. 123–125.

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contains the seeds of exploitation and oppression, conflict and destabilization which, after all, cause the death of three people in the novel. Silesia is thus allegorized as Prussia’s mistress and theirs as an illegitimate and ill-fated relationship. The disturbance emanating from the province is explained as having been caused by an external imposition, and in turn it spreads back to where it originated. The male focalizer’s question – “Was kümmert mich Serenissimus und sein Tee-Fräulein?” (p. 285) – carries its own answer. The dismissive tone and the speaker’s subsequent attempt to replicate the sexual exploitation of the morally and socially disadvantaged Silesian woman are both scathingly disqualified as vulgarly inappropriate methods of assuaging the sting of complexity and otherness that Silesia implants into Prussian society. The two characters, prince and mistress, and the nature of their relationship are the content of the novel behind the novel, the absent presence, the root of the disturbance that intrudes into metropolitan society. Rather than being belittled or exploited, they need to be acknowledged because their impact can be destructive. They are the catalyst for the identification of the inherent weaknesses of Prussian and German society so shortly after unification. The vehemence of mainstream society’s reaction to alleged transgressions and innuendo confirms this very weakness, the inability to acknowledge plurality, to tolerate difference, to accommodate the peripheral, to assimilate the liminal. Fontane’s novel offers an alternative, a vision of restoring the unruly and unfamiliar to its innate place. In her last will, entrusted to the preacher and confidant who had overseen her conversion to Protestantism, Cécile asks to be buried in the Catholic cemetery of her Silesian home – a commitment to her origins geographically, socially and religiously – and to the left of the princely family’s mausoleum, thus asserting that she considered her relationship with the prince as a morganatic marriage “zur linken Hand”, as it is known in German. Even leaving aside the confirmation of the sincerity of an illegitimate relationship, one could read this posthumous stipulation as an assertion of a distinctly Silesian identity, as an almost dissimilatory gesture in recognition of the denied opportunity of assimilation into mainstream metropolitan society; at the very least it is a plea for respect for different traditions and, viewed from a metropolitan and rigid perspective, for complex and confusing conditions of ‘otherness’.

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III.

Florian Krobb

“Ordnung schaffen”: Stephan Wackwitz

While Silesia was a living reality for Fontane, and his clandestine explication of Silesia as internal ‘other’ was geared towards illuminating issues of his time, Stephan Wackwitz’s interest is quintessentially historical. He notes that a decade after the collapse of the post-war political order “die geographische Unbestimmtheit, die um die östlichen Grenzen unseres Landes überhaupt herrschte”, had condensed “zu einem vollends nicht mehr durchschaubaren Nebel”.14 Yet, “in jenem gespenstischen Landstrich zwischen Weichsel und Sola, zwischen Karpaten und Sumpf, zwischen Kattowitz und Auschwitz” (p. 59) lie the clues to understanding not only the course of German history over the last two hundred years but, more than anything, to understanding metropolitan, dominant collective mentalities which effected the designation of this periphery as the battleground for cultural hegemony beyond the caesura of the First World War. In Wackwitz’s view, the mentalities and attitudes behind manifest historical events encapsulate the afflictions of German history more than manifest and familiar historical facts; it is these hidden facets that forcefully demand retrieval and explanation. Wackwitz’s elaboration of continuities and aberrations – which congeal in the phantom of Auschwitz – utilizes the author’s grandfather’s diary notations. These cover, amongst other periods, the latter’s youth before the First World War, his service as pastor to a Protestant parish just beyond the new border separating a restored Poland from German Silesia, and his stint as vicar to the German population of former German South-West Africa during the 1930s. These autobiographical writings testify to an impregnation of the borderland region with a supremacist and adversarial ethos and they reveal the attempts to salvage a German sense of mission that had sustained their claim to the region for generations against historical tides which changed the political affiliation of the area in question and its entire cultural balance. Wackwitz’s “Familienroman” has primarily been discussed in the context of multi-generational memory discourses, the wave of German and Austrian Väterand Großväterliteratur and the use of authentic biographical material in fiction.15 Historical commentary on the novel focuses mainly on the trauma caused by the experience of the World War, on collusion between colonialist and revanchist 14 Wackwitz, Stephan: Ein unsichtbares Land. Familienroman. Frankfurt/Main: Fischer, 2003, p. 148. Further references are provided in the main text. 15 Rutka, Anne: Erinnern als Dialog mit biographischen Texten. Zu aktuellen Familienromanen von Uwe Timm, Wibke Bruhns und Stephan Wackwitz. In: Das “Prinzip Erinnerung” in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Ed. by Carsten Gansel/Paweł Zimmak. Göttingen: V & R Unipress, 2010, p. 107–117; Reidy, Julian: “Die Geschichte einer Solidarität”. Problematische intergenerationelle Kontinuitäten in Stephan Wackwitz’ ‘Generationenroman’ “Ein unsichtbares Land”. In: Weimarer Beiträge 59.1, 2013, p. 93–113.

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attitudes and National Socialist thinking, and on the prevalence of notions of superiority and mission in adjacent and overseas spaces of desire across the subsequent caesuras of 1933, 1939, 1945 and 1949.16 Yet, his investigation delves much deeper into the past and examines why the radical changes caused by the Versailles settlement had such a devastating effect on the protagonists of German hegemony over Silesia. The grandfather Andreas Wackwitz, the anchor of the family history and key to these questions, holds up the ideal of the Prussian district governor (Landrat) as an agent of political, legal and cultural stability, and as an ideal fulfilment of an internalized ethos which his sense of mission has instilled. In turn, this ancestor’s father, as chief forester to one of the Standesherrschaften of the region, approximated in his view the lifestyle, power and reputation of the chief administrative officer in a Prussian district (“dass ein königlicher Oberförster kaum mit einem königlichen Landrat getauscht hätte”, p. 42). In the historical moment described by Wackwitz, the very symbol of muddled conditions and distorted alignment that Adams noted and Fontane evoked to great effect, namely the Silesian prince in his hybrid position between autonomy and dependency, serves as mentor to and facilitator of the Germanizing, politically unifying and pacifying drive. A ducal family of Anhalt-KöthenPleß enabled the establishment of the Protestant model colony led by philanthropic shepherds, the heir of which Andreas Wackwitz believes himself to be. These clerics worked alongside, and were animated by, the same spirit as the foresters on the ducal, royal or other aristocratic domains. As a German pastor, and as heir to these precursors, as son of a forester and incumbent of the same rectory, the narrator contemplates how he had become something similar to a Landrat (“dass er damit dann doch noch eigentlich so etwas wie ein preußischer Landrat gewesen ist”, p. 43). An excerpt from Andreas Wackwitz’s memoirs highlights the idea that lies at the core of the ethos embodied by the office of Landrat: “Wenn ich versuchen soll, meine Lebenserwartung, d. h. meine Gedanken von dem, was ich im Leben und mit meinem Leben bewirken wollte, auf einen ganz allgemeinen Ausdruck zu bringen, so möchte ich sagen: ich wollte dort, wo ich in der Welt stehen würde, Ordnung schaffen. Es sollte irgendwie besser werden, Abstieg verhindert werden, und ich wollte dabei das Meinige tun.” (ibid.)

The order Andreas Wackwitz wishes to represent and implement is the very order that has been upset in Fontane; it is the same order that Adams had praised as embodying the Prussian spirit of benevolence; it is the very motivation behind the 16 Göttsche, Dirk: Memory and Critique of Weimar Colonialism in Contemporary German Literature. In: Weimar Colonialism. Discourses and Legacies of Post-Imperialism in Germany after 1918. Ed. by Florian Krobb/Elaine Martin. Bielefeld: Aisthesis, 2014, p. 229–255, here esp. p. 232ff.

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disciplining interventions of pastors, foresters and Prussian officialdom. Part of this order, part of the defence against “Abstieg” (here probably indicating a possible loss of confessional integrity in the light of altered majorities), was the protection of his outpost flock against Catholicism and the new political realities that reflected the aspirations of the Polish element – something which, in the light of Fontane’s earlier assessment, must also be identified as a remnant of an unresolved in-betweenness or peripherality, i. e. as the defining Silesian legacy. As “ein evangelischer Pfarrer im polnischen Oberschlesien” after 1921, Andreas Wackwitz was in his grandson’s assessment “das eigentliche Haupt der Gemeinde, im ‘Volkstumskampf ’ der Gegenspieler der katholischen Obrigkeit, der verachteten polnischen Nachkriegsrepublik. Der evangelische Pfarrer von Anhalt war eine Art preußischer Landrat im Widerstand gegen die Versailler Nachkriegsordnung.” (p. 45)

In this respect, he stands in direct opposition to the forces evoked by Fontane, colluding in the contamination of society when the instable periphery invades the centre. He is defined, and apparently defined himself, as an agent of Prussianness, of middle-class virtue, and of a type of Protestantism that served as the arbiter of the ideals, many derived from the Enlightenment, which were believed to guarantee the very order that Fontane records as absent. In his reconstruction of the background and context to his grandfather’s concept of order, Wackwitz provides a glimpse of the contradictory and conflicting forces that shaped Silesia as a “laboratory” of world history, namely the various waves of colonization, whether invitees of medieval Piast dukes, as Catholics assisted by Habsburg’s counter-reformatory efforts, or as representatives of the “innere Kolonisierung” (p. 69) which started in the wake of the Prussian annexation and developed into benevolent and enlightened Protestantism. This force is represented in Wackwitz by Friedrich Schleiermacher’s father Johann Gottlieb Schleyermacher, the first occupant of the parsonage that Andreas Wackwitz was to inhabit after these parts of Silesia had been handed back to a restored Poland following the plebiscite of 1921. Yet, as historical circumstances change, so too does the meaning of tutelage and governance. The parson of the 18th century, operating on Prussian soil, is part of a project of ‘development’ in the spirit of the perfectibility of mankind and operates within the natural as well as social environment designed to extinguish the slippage between centre and periphery. The parson of the Weimar period, working across redrawn borders in a resurrected Poland, acts as champion of anachronistic ideals, preserving with an unsustainable historical claim a personal identity rooted in an obsolete ideological substrate and historical circumstance. If the Germanizing effect in the 18th century was intended as benevolent, the defence of Protestant Germanness in the 1920s had become radically chauvinist, supremacist and deliberately divisive.

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Wackwitz frames this region, be it incorporated into the Prusso-German state or recently ceded to an independent Poland, as a colonial space, and the attraction towards it is explained as essentially colonialist. Yet, he understands migration and seizure of land for settlement as an inevitable driving force of human history, the urge to spread and expand as a quintessentially human characteristic. In this respect, the colonization of Silesia follows patterns similar to the German Ostsiedlung of the Middle Ages, the allocation of land for cultivation to German farmers by eastern European potentates, the conquest of the American West, and several other such movements in world history. The new quality of this driving force of historical change in the 19th and 20th centuries lies in its ideologization along racialist lines, and in the legitimization of contemporary claims with historical precedent: “der Sog des auf Tat und Unterwerfung wartenden Ostlandes, dem die mitteralterlichen Vorfahren gefolgt waren” (p. 98), is evoked as still exerting its allure in the era of nationalisms and nation states where it leads to inevitable collision. Bringing about order and subjugating resistant forces then become one and the same thing. Dirk Göttsche’s reading sees in Wackwitz’s 18th-century Silesia and neighbouring Galicia a model of multicultural and post-national modernity.17 Yet, Göttsche underestimates Wackwitz’s acknowledgment that the originally wellintended enlightened educational German influence for which Schleyermacher senior stands provided the ideological foundation not only for the ‘development’ of adjacent areas and borderlands, but also for German overseas colonialism – and that the perversion of idealistic impulses is rooted in their inherent insistence on perfectibility and calculability.18 Johann Gottlieb Schleyermacher is explicitly associated with an inspired missionary zeal (p. 249) that can only become effective where the absence of what it has to offer is presumed, i. e. when its beneficiaries are conceived as subalterns and consequently ‘othered’ in the first place. His innovative measures, the architectural symmetry of the 18th century settlements (known then and still referred to as ‘colonies’) and the mindful plantation of a mixture of useful and decorative trees – all of this is, amongst other things, a precursor to and an explicit reference point and physical manifestation of the order that his successors, great-grandfather Wackwitz as Oberförster and grandfather Wackwitz as pastor, inherit and adopt as their legacy. The modern historical phenomenon of expansion and proliferation can also be read as an extension of the eastward movement of German settlers during the Middle Ages (Ostsiedlung) and of the improvement of their estates during the 17 Göttsche, Dirk: Remembering Africa. The Rediscovery of Colonialism in Contemporary German Literature. Rochester/New York: Camden House, 2013, p. 360–362. 18 With respect to German engagement in Africa discussed in Krobb, Florian: Vorkoloniale Afrika-Penetrationen. Diskursive Vorstöße ins ‘Herz des großen Continents’ in der deutschen Reiseliteratur ca. 1850–1890. Frankfurt/Main: Lang, 2017.

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early modern period, something in which ancestors of the Wackwitz family were also engaged. The emigration to and settlement of the American West and other overseas regions including Africa occurred in tandem with such European colonialism, both internal and adjacent. Silesia’s (and probably every colonial space’s) characteristic is that the residual disorderliness cannot be quelled, that it raises its head when circumstances are conducive – here for instance when the stipulations of Versailles handed parts of Prussian Silesia to the Polish Republic, and during insurrections such as the Korfanty uprising at the time of the Silesian plebiscite. For Wackwitz, Silesia holds a pivotal position not because of any regional chauvinism or even the echoes of Auschwitz, but because, for every individual, family or community, their unique position in time and space determines their understanding of history. Coincidence is meaningful – and so the proximity of Auschwitz and Andreas Wackwitz’s place of work bestows responsibility and prompts engagement. Anachronisms demand explanation. In Fontane, coincidence (the conflicting contemporaneity of Prussian propriety and Silesian impropriety) motivates and explains the tragedy that constitutes the essence of the novel; in Wackwitz anachronism motivates the reconstruction of a past which can only be exorcized by a passage of time that subsumes and assuages eruptive capacities. For him, the region in all its contradiction becomes the formative location, and the period of transition between the Empire and the Third Reich serves as a prism of Germany’s and indeed Europe’s tangled history. A thoroughfare and cosmopolitan melting pot, Silesia in the accounts of our two witnesses becomes problematic when confronted with essentializing tendencies, for example in the era of unified nation states with their implicit ideology of homogenous populations with shared values and outlooks. Its very borderline position renders Silesia a challenge to any form of centrality and essentiality – a space that is as elusive as it is emblematic. Fontane shows the impossibility of accommodating Silesia in Prussian society of the 19th century. Wackwitz is engaged in an attempt at accommodating Silesia in his own history, within his own sense of self and origin – so as to lay it to rest, to release it into someone else’s responsibility. In Fontane, Silesia is coded as feminine,19 a sore and a disturbing epitome of otherness. In Wackwitz, Silesia is coded as male: in his family’s history, women are very much obscured, and the narrative remains centred on the tropes of assertion, idealism and domination. However critical and searching, Wackwitz pursues a male engagement with a masculine history; he neither deconstructs, satirizes nor even recognizes this habitus of his. Fontane, on the other hand, manages to expose the mythology and 19 This was, of course, noted poignantly in feminist criticism, for example Blasberg: Das Rätsel Gordon.

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the mechanisms of assertion as constructs, evolved and staged in performative rituals of collective negotiation of proprium and propriety, consensus and individualism, normativity and deviation. Through his tragic juxtaposition of the incompatible, Fontane mourns an assumed metropolitan-Protestant bourgeois consensus as being of an equally artificially constructed character as the alleged otherness of the border region where the own fuses into the other. Wackwitz explains the very same forces as formative for historical developments and mentalities. He suggests continuities that reveal themselves in hindsight. For Fontane, in contrast, the internal other which manifests itself in the liminal was a living reality; yet its accommodation exceeded the possibilities of his contemporary narrative. The two authors stage complementary movements between metropolis and periphery respectively shaping each other and reinforcing incongruencies. In Fontane, the liminal invades the centre and exposes its shambolic equilibrium; in Wackwitz, the hegemonic power fails to maintain its sway and deteriorates into a deadly travesty. This travesty is explained and banished to the author’s retrospection; the disturbance experienced in Fontane, in contrast, remains unresolved.

Benoît Ellerbach (Istanbul)

Heterotopic borderland spaces in Stefan Zweig’s “Episode am Genfer See” (1927) and in Joseph Roth’s “Die Büste des Kaisers” (1935)

Als Stefan Zweig „Episode am Genfer See“ (1927) und Joseph Roth „Die Büste des Kaisers“ (1935) schrieben, war der Erste Weltkrieg schon längst vorbei, aber dessen Konsequenzen waren noch sehr spürbar. In diesen Novellen setzen sich die zwei österreichischen Schriftsteller, die beide entschiedene Gegner von Nationalismus waren, mit der Neudefinierung von Grenzen in der Nachkriegszeit auseinander, mit der Auflösung der alten ost- bzw. mitteleuropäischen Monarchien und mit dem, was Roth „die unnatürlichen Launen der Weltgeschichte“ nannte. Zweig und Roth haben sich besonders dafür interessiert, wie tief diese überwältigenden Änderungen das Leben von Individuen beeinträchtigte, ungeachtet deren sozialer Herkunft. Das Ziel dieses Beitrags ist es, den historischen und geographischen Kontext dieser zwei Novellen darzulegen und zu zeigen, inwieweit die von Roth und Zweig dargestellten Grenzgebiete – die Schweiz und Ostgalizien – mit Foucault als heterotopische Grenzräume verstanden werden können, d. h. als lokalisierte Utopien, die zum Zufluchtsort vor der Wirklichkeit dienen sollen, aber am Ende der Novellen unausweichlich ihr Ziel für die Protagonisten verfehlen. When Stefan Zweig and Joseph Roth wrote “Episode am Genfer See” (1927) and “Die Büste des Kaisers” (1935), respectively, the First World War had been over for some time, but its consequences were still very much present. In these novellas, the two Austrian authors, who were both adamantly opposed to nationalism, deal with the redefinition of borders, the dissolution of the old Central or Eastern European monarchies and with what Roth called “the unnatural moods of world history” in the aftermath of the war. Zweig and Roth were most interested in how deeply these overwhelming changes affected the lives of individuals from various social strata. The purpose of this contribution is to present the historical and geographical context of the two novellas and to show how the borderlands depicted in them by Zweig and Roth – Switzerland and Eastern Galicia – can be understood, through the lens of Michel Foucault as heterotopic borderland spaces, i. e. located utopias meant to provide a shelter from reality which at the end inevitably fail the protagonists of the novellas.

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Stefan Zweig and Joseph Roth – as their correspondence attests – maintained a literary friendship from the mid-1920s until Roth’s death in 1939.1 Both authors were convinced of the dangers of nationalism, especially after they saw its human, political, and social consequences during and after the First World War: the countless deaths on European soil, the radicalization and generalization of hateful nationalistic discourses, the dissolution of the old Central or Eastern European monarchies, and the emergence of a multitude of new nation states, which drastically redesigned Europe’s geopolitical landscape. With the rise of the National Socialist ideology in the 1920s and the Nazi seizure of power in 1933, their worst fears were confirmed. Zweig was a successful, bourgeois Austrian novelist born in Vienna in 1881 into a wealthy Jewish family. Roth, on the other hand, was a Jewish writer of humble origins who was born in 1894 in Brody in Eastern Galicia, at the easternmost periphery of the Austro-Hungarian Empire, and whose life was marked by a pronounced sense of ‘homelessness’. Both experienced, in their own ways, the decline of the last years of the Habsburg Monarchy and retained an idealistic vision of a peaceful and civilized Europe they looked back at with a certain melancholic nostalgia. While in Zweig’s case this found its expression in his autobiography entitled “Die Welt von Gestern”, a “sentimentalized transfiguration of the Habsburg Empire”,2 many of Roth’s novels, not least his family saga “Radetzkymarsch”, have been described as a “rückwärtsgewandte Utopie”.3 Zweig’s “Episode am Genfer See” (1927) and Roth’s “Die Büste des Kaisers” (1935)4 are novellas that depict – each in their own way – the dramatic changes 1 Roth, Joseph/Zweig, Stefan: Jede Freundschaft mit mir ist verderblich. Briefwechsel 1927–1938. Ed. by Madeleine Rietra/Rainer-Joachim Siegel. Zürich: Diogenes Taschenbuch 2014 [2011]. See also Le Rider, Jacques: Joseph Roth et Stefan Zweig: deux représentations de l’Europe sous le signe du mythe habsbourgeois. In: Cahier de l’Herne Joseph Roth. Ed. by Carole KsiazenicerMatheron/Stéphane Pesnel. Paris: L’Herne 2015, p. 93–99; Tunner, Erika: ‘Mon ami, mon frère’ – Joseph Roth et Stefan Zweig. In: Cahier de l’Herne Joseph Roth. Ed. by Carole KsiazenicerMatheron/Stéphane Pesnel. Paris: L’Herne 2015, p. 277–282; Hackert, Fritz: ‘[…] ce qu’une petite embarcation perdue en pleine mer pourrait ressentir en croisant un paquebot’. Stefan Zweig et Joseph Roth. In: Joseph Roth. L’exil à Paris. Ed. by Philippe Forget/Stéphane Pesnel. Mont-Saint-Aignant: Presses universitaires de Rouen et du Havre 2017, p. 179–194. 2 Wistrich, Robert S.: Stefan Zweig and the ‘World of Yesterday’. In: Stefan Zweig Reconsidered. New Perspectives on his Literary and Biographical Writings. Ed. by Mark H. Gelber. Tübingen: Max Niemeyer 2007, p. 59–77. 3 The first to use that expression was probably Marcel Reich-Ranicki. See Reich-Ranicki, Marcel: Kakanien als Wille und Vorstellung. In: Die Zeit 50, 07. 12. 1973, p. 26. Many scholars have since appropriated it. For further details, see Tonkin, Kati: Joseph Roth’s March into History. From the Early Novels to “Radetzkymarsch” and “Die Kapuzinergruft”. Rochester: Camden House 2008, p. 6f. 4 The following abbreviations are used in the body of the text to denote Zweig’s and Roth’s novellas: EGS = Zweig, Stefan: Episode am Genfer See. In: Ausgewählte Novellen. Stockholm: Bermann-Fischer 1946, p. 257–269; DBK = Roth, Joseph: Die Büste des Kaisers. In: Werke 5.

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caused by the First World War in Central and Eastern Europe and reflect both authors’ profound aversion to nationalism. While exposing the consequences of the First World War in borderland spaces, i. e. Switzerland and Eastern Galicia, these novellas shed light on a clash of different times and conflicting conceptions of Europe, ultimately leading to death or forced exile. At the heart of their novellas, Zweig and Roth place protagonists from the periphery of a multinational empire, Russia and Austria-Hungary respectively, whose destiny and life are deeply affected by what Zweig once called the “Tragödie der Zeit”5 and Roth “die unnatürlichen Launen [der] Weltgeschichte”.6 In each of these texts the literary geographies7 are crucial to the narrative, as they constitute Foucauldian heterotopias, i. e. physically located utopias.8 However, the heterotopic borderland spaces of Switzerland and Eastern Galicia fail to offer an inner peace to the protagonists, leading them to choose death (such as Zweig’s Russian deserter) or exile (such as Roth’s Galician Count). This failure indicates that both authors, with a resigned clear-sightedness, were fully aware of the non-sustainability of their transfiguration of the past.9 The following contribution will first take a closer look at the general representation of the historical and geographical context of both novellas in order to illustrate the way the First World War provided the conditions for the emergence of heterotopic spaces. Afterwards, it will define and analyze Zweig and Roth’s literary geographies as two distinct Foucauldian heterotopic borderland spaces, i. e. Switzerland as a heterotopic state per se in which there is no space for a

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Romane und Erzählungen 1930–1936. Ed. by Fritz Hackert. Cologne: Kiepenheuer & Witsch, 1989–1991, p. 655–676. Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 2001 [1944], p. 289. DBK, p. 655. See also p. 669: “die unbegreiflichen Launen der Weltgeschichte”. For the meaning of the setting of Zweig’s novellas, see, for example, Turner, David: The choice and function of setting in the novellen of Stefan Zweig. In: Neophilologus 66, 1982, vol. 4, p. 574–588. For the role of multicultural spaces in Roth’s works, see, for example, Pesnel, Stéphane: Une fragile recréation. Les espaces multiculturels dans l’œuvre romanesque de Joseph Roth. Études Germaniques 245, 2007, vol. 1, p. 89–106; Adam, Winfried: Von Grenzen und Peripherien – zu einigen Texten von Joseph Roth. In: Wo liegt die Ukraine? Standortbestimmung einer (mittel)europäischen Kultur. Ed. by Steffen Höhne/Justus Ulbricht. Cologne: Böhlau 2009, p. 137–147. Foucault, Michel: Of Other Spaces [1967]. Trans. by Jay Miskowiec. In: Diacritics 16, 1986, vol. 1, p. 22–27. This translation by Miskowiec is in crucial passages of the original text more accurate than Robert Hurley’s. Cf. Foucault, Michel: Different Spaces [1967]. In: Aesthetics, Method, and Epistemology. Essential Works of Foucault 1954–1984. Vol. 2. Ed. by James D. Faubion. Trans. by Robert Hurley. New York: The New Press 1998, p. 175–185. See for Roth and “Die Büste des Kaisers” Tonkin, Kati: Burying the Emperor: Nostalgia and Memorialization in Joseph Roth’s “Die Büste des Kaisers”. Limbus 1, 2008, p. 133–146, especially p. 134: “Rather than falling prey to the Habsburg Myth in this text, Roth exposes the mechanisms of memory and nostalgia that distort the perception of the past.” See also Tonkin, Joseph Roth’s March into History. 2008, p. 197f.

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Russian deserter of humble means (“Episode am Genfer See”) and the village of Lopatyny as a temporal heterotopia (“Die Büste des Kaisers”).

I.

The depiction of the dramatic changes caused by the First World War

In both novellas, the First World War is omnipresent, yet never directly depicted – as though Zweig and Roth wanted to highlight the extent of its indirect impact on the lives of ordinary people. In Zweig’s “Episode am Genfer See”, a naked man who does not speak any Western European language, is pulled from Lake Geneva in the summer of 1918 by a fisherman and brought to the Swiss border town of Villeneuve. The reality of war, which Boris and the other foreigners in the border town escaped from, provides the backdrop of the story. Unlike the wealthy refugees in Switzerland, the poor and naive Boris had experienced the war in all its arbitrariness and absurdity, since he was “ein Angehöriger jener russischen Division in Frankreich [war], die man über die halbe Erde, über Sibirien und Wladiwostok an die französische Front geschickt hatte” (EGS, p. 261). The unexpected arrival of this Russian deserter, whose only wish is to return to his home and family at the shores of Lake Baikal in Siberia, is first perceived as a source of entertainment in the monotony of Switzerland’s neutrality. However, Boris is soon faced with an unsolvable conundrum: Neither can he cope with the new realities, the fall of the Tsar and the introduction of borders, which make his return impossible; nor can he accept the only solution proposed to him, to remain indefinitely in Switzerland. Trapped in an existential cul-de-sac, Boris commits suicide by entering the lake naked by night, in the same way he arrived. Roth’s “Die Büste des Kaisers”, which is composed of seven short parts – three taking place before the First World War, four after it – opens with the portrayal of the life of Count Franz Xaver Morstin. An old-fashioned aristocrat, Morstin enjoys playing the role of the humanitarian patriarch of the East-Galician village Lopatyny, which – as part of the Austro-Hungarian Empire – is characterized by both continuity and diversity. When the emperor visits the provincial Lopatyny, the son of a local peasant carves a bust of the sovereign from sandstone and offers it to the count. The First World War is then deliberately kept out of the narrative.10 Upon the dissolution of the Austro-Hungarian Empire, Morstin returns from the 10 See Bittrich, Burkhard: Alt-Österreich als patria universalis: Joseph Roths Erzählung “Die Büste des Kaisers”. In: Jüdische Autoren Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert. Ed. by Hans Henning Hahn/Jens Stüben. Bern: Peter Lang 2000, p. 277–290, here p. 287: “Teil III schließt mit einem großen Zeitsprung. Er lässt den Leser wie im Fluge über die ausgesparten Schrecknisse des Ersten Weltkrieges hinweggleiten.”

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front to Lopatyny, which has now become part of the newly established Second Polish Republic. He is left without ‘his’ Heimat and without ‘his’ Kaiser. After an unsuccessful attempt to settle in Switzerland where he thought he would find an untouched, pre-war world, Morstin returns to Lopatyny and decides to live there as if nothing had changed. However, Morstin is soon forced to remove the emperor’s bust from his property’s entrance by the Polish authorities. Following a symbolic funeral of the bust, Morstin leaves the village and goes into exile at the French Riviera. Although neither novella depicts the First World War, the clash between the pre-war and the post-war world lies at the heart of the narrative. Moreover, both depict the end of an outworn feudal system, which – so far – has survived on the edges of the Russian and the Austro-Hungarian Empire. The uneducated deserter Boris, in “Episode am Genfer See” for instance, declares that he is the “serf of Prince Metschersky”: “[Boris’] Wissen um sich selbst [überschritt] kaum den eigenen Vornamen Boris […] und [er vermochte] von seinem Heimatdorf nur äußerst verworrene Darstellungen zu geben […], etwa, dass sie Leibeigene des Fürsten Metschersky seien (er sagte Leibeigene, obwohl doch seit einem Menschenalter diese Fron abgeschafft war) und dass er fünfzig Werst vom großen See entfernt mit seiner Frau und drei Kindern wohne.” (EGS, p. 262f.)

Morstin, on the other hand, is an old-fashioned aristocrat who, besides his inherent supranationalism, acts as a paternalistic facilitator11 and intermediary between the people of Lopatyny and the state administration, a role emphasized by Roth through the stylistic device of accumulation: “In seinem Dorf Lopatyny war der Graf mehr als jede amtliche Instanz, die die Bauern und die Juden kannten und fürchteten, mehr als der Richter im nächsten Kreisstädtchen, mehr als der Bezirkshauptmann dortselbst, mehr als einer der höheren Offiziere, die jedes Jahr bei den Manövern die Truppen befehligten, Hütten und Häuser zu Quartieren machten und überhaupt jene besondere kriegerische Macht des Manövers repräsentierten; die imposanter ist als die kriegerische Macht im wirklichen Krieg. Es schien den Leuten in Lopatyny, dass ein ‘Graf ’ nicht etwa nur ein Adelstitel sei, sondern auch ein ganz hoher Amtstitel. Die Wirklichkeit gab ihnen auch nicht unrecht. Denn der Graf Morstin konnte vermöge seines selbstverständlichen Ansehens Steuern ermäßi11 See Renner, Ursula: Ein Denkmal wird beerdigt. “Die Büste des Kaisers” von Joseph Roth. In: Verschwiegenes Ich. Vom Un-Ausdrücklichen in autobiographischen Texten. Ed. by Bärbel Götz/Ortrud Gutjahr/Irmgard Roebling. Pfaffenweiler: Centaurus 1993, 125–146, here p. 132: “[Morstin] hat nach patriarchalischer Struktur als Adliger in Dienern und Dorfbevölkerung ein Substitut für die Familie, also durchaus eine Vaterrolle – mit der signifikanten Variante allerding, dass die dazugehörende komplementäre Frauenfigur entfällt.”; Bittrich, Alt-Österreich. 2000, p. 284: “Eine Welt abseits von Beamten und Bureaukraten mit einem gütigen und gerechten gräflichen Herren als väterlichem Protektor im Zentrum: das alles weist auf zwar nicht arkadische, aber doch patriarchalische Zustände, idyllische Simplizität.”

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gen, die kränklichen Söhne mancher Juden vom Militärdienst befreien, Gnadengesuche befördern, unschuldig oder zu hart Verurteilten die Strafe erleichtern, Fahrpreisermäßigungen für Arme auf der Eisenbahn durchsetzen, Gendarmen, Polizisten und Beamte, die ihre Befugnisse überschritten, einer gerechten Strafe zuführen, Lehramtskandidaten, die auf eine Stellung warteten, zu Gymnasial-Supplenten machen, ausgediente Unteroffiziere zu Trafikanten, Geldbriefträgern und Telegraphisten, studierende Söhne armer Bauern und Juden zu „Stipendiaten“. Wie gerne erledigte er dies alles! Er war in der Tat eine vom Staat nicht vorgesehene Instanz, die gewiss mehr beschäftigt war als die meisten staatlichen Ämter, bei denen er vorzusprechen und zu vermitteln hatte.” (DBK, p. 657f.)

Before the war, Morstin had his protégés, not out of kindness, but because it was “eines jener ungeschriebenen Gesetze so mancher noblen Familien”, what he called “herrschaftliche Wohltätigkeit” (DBK, p. 658): “Misslang ihm aber eine Vermittlung für den und jenen seiner Schutzbefohlenen, so war sein Gewissen unruhig und sein Stolz verletzt. Und er gab nicht nach, und er appellierte an alle Instanzen, bis er seinen Willen, das heißt: den seiner Protektionskinder, durchgesetzt hatte. Deswegen liebte und verehrte ihn die Bevölkerung.” (Ibid.)

After the war, however, there is little left he can do for his people: “Ach! – seit langem nicht mehr konnte er ihnen helfen, wie er ihnen früher geholfen hatte! Zwar waren die kleinen Bauern immer noch ohnmächtig. Er aber, der Herr Graf, war kein Mächtiger mehr!” (DBK, p. 672) In other words, the end of the monarchy marks also the end of a feudal social system, which is characterized by a strong hierarchical structure that Zweig and Roth present as something embodied by both the upper and lower strata of the population: the identity of the peasant Boris as well as of the provincial aristocrat Morstin depended on this system, which was headed by a father figure in the person of the Tsar in Russia12 or the Emperor in Austria-Hungary.13 The First World War also had practical consequences on the lives of ordinary people such as the drawing of new borders and the introduction of passports and visas as both Boris and Morstin discover: “‘Eine Grenze?’ Er blickte stumpf. Das Wort war ihm fremd.” (EGS, p. 266) “In der trügerischen Hoffnung, außerhalb des Landes diesen Zustand vergessen zu können, beschloss der Graf, ehestens zu verreisen. Doch erfuhr er zu seinem Erstaunen, dass man eines Passes und einiger sogenannter Visen bedurfte, um in die Länder zu gelangen, die er zu seinen Reisezielen erwählt hatte. Schon war er alt genug, um Pass und

12 See EGS, p. 267: “‘Es gibt keinen Zaren mehr?’ Dumpf starrte er den anderen an. Ein letztes Licht erlosch in seinen Blicken, dann sagte er ganz müde: ‘Ich kann also nicht nach Hause?’” 13 See DBK, p. 659: “Der Glaube an die überlieferte Hierarchie war so sesshaft und stark in der Seele Franz Xavers, dass er den Kaiser nicht etwa wegen seiner menschlichen, sondern wegen seiner kaiserlichen Eigenschaften liebte.”

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Visen und all die Formalitäten, welche die ehernen Gesetze des Verkehrs zwischen Mensch und Mensch nach dem Kriege geworden waren, für phantastische und kindliche Träume zu halten.” (DBK, p. 663)

A mere glance at a map of Europe reveals that both novellas are set in borderland spaces. Villeneuve, and by extension Switzerland, as well as Lopatyny (Łopatyn, present day Ukraine)14 are located at or in the vicinity of borders and characterized by an ethnic and cultural diversity, which finds its expression in the ensemble of characters representing the population in each of the two novellas. While the small town of Villeneuve in “Episode am Genfer See” is populated not only by Swiss people, but also a Frenchman and a Dane, the inhabitants of Lopatyny in “Die Büste des Kaisers” represent the well-known mixed population of Eastern Galicia, consisting of Poles, Ruthenians, and Jews with their respective religious affiliations. Furthermore, both novellas’ literary geographies seem to play the role of “counter-sites”15, i. e. of real places where the rules of other real places do not apply: Europe is ravaged by war and death while Switzerland stays neutral, welcoming wealthy European refugees; Morstin’s Lopatyny becomes a place where time seems to have stopped before the outbreak of the war.16 The First World War and all the above-mentioned consequences can be understood as situations of crisis, a favourable condition for the emergence of what Foucault calls heterotopias.

II.

Situations of crisis and heterotopia

In 1967, Michel Foucault developed the concept of heterotopias as located utopias, places that are “absolutely different”: “[Heterotopias are] real places – places that do exist and that are formed in the very founding of society – which are something like counter-sites, a kind of effectively enacted utopia in which the real sites, all the other real sites that can be found within the culture, are simultaneously represented, contested, and inverted.”17

The First World War and its immediate aftermath represent situations of crisis that Zweig and Roth use as backdrop for their depiction of two different kinds of 14 In fact, Lopatyny is not an ‘imaginary village’ like Richard Millington thinks. See Millington, Richard: Dissent in the Nation of Nobles. The Polishness of Joseph Roth’s “The Bust of the Emperor”. In: New Zealand Slavonic Journal 42, 2008, p. 121–136, here p. 122. 15 Foucault, Of Other Spaces. 1986, p. 24. 16 See DBK, p. 668: “Und als er ankam, erwartete man ihn, wie immer, wie in früheren Zeiten, als hätte es keinen Krieg gegeben, keine Auflösung der Monarchie, keine neue polnische Republik.” 17 Foucault, Of Other Spaces. 1986, p. 24.

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heterotopias, each with a distinct function. Through these heterotopias and their ultimate failing, both authors find a way to subtly and indirectly criticize the political situation that led to such personal disasters. Due to its neutrality, Switzerland can be seen as a historical and political heterotopia – as well as an economic one. It is the place where wealthy and educated Europeans could find refuge in time of war. After all, Zweig himself spent time there during the war and wrote some dithyrambic lines on the particular status of Switzerland in “Die Welt von Gestern”: “Das Verbotene war hier, fünf Minuten weiter, erlaubt und drüben das Erlaubte verboten. All der Widersinn europäischer Kriege wurde mir durch das nahe Nebeneinander im Raum geradezu sinnlich offenbar; da drüben in dem kleinen Grenzstädtchen, dessen Schildertafeln man mit freiem Auge lesen konnte, wurden aus jedem Häuschen, jeder Hütte die Männer herausgeholt und nach der Ukraine und nach Albanien verladen, um dort zu morden und sich morden zu lassen – hier fünf Minuten weit saßen die Männer gleichen Alters geruhigt mit ihren Frauen vor den efeuumhangenen Türen und rauchten ihre Pfeifen: ich fragte mich unwillkürlich, ob nicht auch die Fische in diesem Grenzflüsschen auf der rechten Seite kriegführende Tiere wären und die zur linken neutral. […] Nie aber hatte ich den Sinn seines Daseins so sehr empfunden: die schweizerische Idee des Beisammenseins der Nationen im selben Räume ohne Feindlichkeit, diese weiseste Maxime durch wechselseitige Achtung und eine ehrlich durchlebte Demokratie sprachliche und volkliche Unterschiede zur Brüderlichkeit zu erheben – welch ein Beispiel dies für unser ganzes verwirrtes Europa! Refugium aller Verfolgten, seit Jahrhunderten Heimstatt des Friedens und der Freiheit, gastlich jeder Gesinnung bei treuester Bewahrung seiner besonderen Eigenart – wie wichtig erwies sich die Existenz dieses einzig übernationalen Staates für unsere Welt! Zu Recht schien mir dies Land mit Schönheit gesegnet, mit Reichtum bedacht. Nein, hier war man nicht fremd”.18

By looking more closely at the way Zweig depicts the community of Villeneuve in “Episode am Genfer See” and at the way it reacts to Boris’ arrival, it becomes clear that it is a “heterotopia of compensation” whose “role is to create a space that is other, another real space, as perfect, as meticulous, as well arranged as ours is messy, ill constructed, and jumbled”.19 Villeneuve is a peaceful and idyllic place, where everybody seems to be happy and wealthy and where the war is notably absent from everyday life; and although Switzerland and particularly the small town of Villeneuve do provide refuge to many, it is not – as Foucault notes – “freely accessible like a public place”.20 The arrival of the Russian deserter Boris reveals the “system of opening and closing”21 of this heterotopia: Switzerland is not genuinely open to deserters who, at most, can be tolerated. The false refuge of 18 19 20 21

Zweig, Die Welt. 2001, p. 299f. Foucault, Of Other Spaces. 1986, p. 27. Ibid., p. 26. Ibid.

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the Swiss heterotopia becomes the foundation of Zweig’s criticism of the injustice caused, both directly and indirectly, by the war, of the discrepancy between the experiences of privileged and ordinary people, and of the superficiality of the members of the Swiss heterotopia. By his presence, Boris reminds the community of the existence of the war on the other side of the border – of what the privileged Europeans escaped from and what they prefer not to see. Boris’ arrival is perceived as an “Episode”, albeit not – as one might think – of the war as such. Instead it constitutes a welcome interruption of the monotonous life in the heterotopic Switzerland: “Die Kunde von dem menschlichen Fischfang hatte sich inzwischen bis zu den nahen Hotels verbreitet, und einer ergötzlichen Episode in der Eintönigkeit des Tages froh, kamen einige Damen und Herren herüber, den wilden Menschen zu betrachten.” (EGS, p. 260)

In this perfect little world, there is no place for a nuisance like Boris who is ultimately nothing but a sore reminder of the mayhem on the other side of the border. This makes it almost impossible for the community to accept Boris as one of their own. In their eyes, Boris remains an uneducated stranger, a ‘noble savage’ who becomes the object of a morbid curiosity, as Zweig stresses throughout the story (“der nackte Mensch”; “der menschliche Fischfang”; “den wilden Menschen”; “wie ein Affe” (EGS, p. 260); “die für die Westländer gar nicht fassbare Unbildung dieses Menschen” (EGS, p. 262); “er [saß], seiner Fremdheit entsetzlich gewahr, taub und stumm inmitten einer allgemeinen Bewegtheit” (EGS, p. 265); etc.). Boris’ helplessness and powerlessness becomes soon all too obvious: he has no agency (“Nun began die Beratung über sein Schicksal” – EGS, p. 263); his case is being discussed, and agreed on by others (“eine unerwartete Lösung” – ibid.), i. e. the community will not warmly welcome, but merely tolerate the Russian deserter. However, the novella leaves no doubt that even though this town is an islet of peace, it cannot succeed in satisfying Boris’ naïve and simple wish: to go back to his Siberian home where his family live. To Boris, Lake Geneva constitutes a dystopian distortion of Lake Baikal.22 Reading between the lines, it becomes evident that Boris is unwilling to accept the pitiful looks and the condescending gestures. He fails to even understand the necessity of this heterotopia which was not made for people like him but for the privileged and educated. Consequently, suicide not only presents itself as a 22 See Birk, Matjazˇ: Stefan Zweigs historische Narrative: Gedächtniskulturelle Aspekte. In: Neophilologus 99, 2015, p. 605–615, here p. 608: “Die Sehnsucht des Protagonisten, in die Heimat, aus der er verschleppt wurde, zurückzukehren, entpuppt sich vor dem Hintergrund politischer Entwicklungen als fatale Illusion. Da die Heimkehr über Leben und Tod entscheidet, gibt es für den nun Heimatlosen keinen anderen Ausweg aus der Notsituation als den Tod.”

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solution to his conundrum, but also enables him to become one last time the master of his own destiny, allowing him to escape from this golden prison. Roth’s Morstin, on the other hand, travels to Switzerland just after the First World War has come to its end, expecting to find a place where time had stopped, and which remained unimpacted by the war and its consequences: “[Er] fuhr zuerst in die Schweiz, in das Land, von dem er glaubte, dass in ihm allein noch der alte Friede zu finden wäre, einfach weil es nicht den Krieg mitgemacht hatte.” (DBK, p. 663) This assumption, however, quickly proves itself a mere illusion when Morstin spends an evening in the “American Bar”, a heterotopia in its own right. The “American Bar” can be read as a heterotopia of modern times, of the New World23 where patrons drink “die Zaubertränke der neuen Zeit”, prepared by a “Barmädchen” or a “Barmann” (DBK, p. 667). However, the choice of words already indicates the artificiality of this ‘new world’, these ‘modern times’: “Zwar störten ihn die amerikanischen neumodischen, rötlichen Lämpchen, das hygienische Weiß des Barmixers, der an einen Operateur erinnerte, das künstliche Blondhaar der Mädchen, das die Assoziation an Apotheken unmittelbar wachrief.” (DBK, p. 664)

In Morstin’s eyes, the “American Bar” stands for the “Gemeinheit dieser Welt” (DBK, p. 667) and he experiences here the exact opposite of what he is and what he wants to be: “Auf dem Grabe der alten Welt und rings um die Wiegen der neugeborenen Nationen und Sezessionsstaaten tanzten die Gespenster der nächtlichen American Bar.” (DBK, p. 666) After a drunken brawl, Morstin gets thrown out of the bar, rejected by the modern world. Following his disappointing experiences in Switzerland, Morstin returns to Lopatyny where “die Trümmmer [s]einer alten Heimat” (DBK, p. 668) lie has the bust fetched from the cellar and put back in front of his mansion: “Und vom nächsten Tag an – als hätte es keinen Krieg gegeben – als gäbe es keine neue polnische Republik – als ruhte der alte Kaiser nicht längst schon in der Kapuzinergruft – als gehörte dieses Dorf Lopatyny noch zu dem Gebiet der alten Monarchie: zog jeder Bauer, der des Weges vorbeizog, den Hut vor der sandsteinernen Büste des alten Kaisers, und jeder Jude, der mit seinem Päckchen vorbeizog, murmelte das Gebet, das der fromme Jude zu sagen hat beim Anblick eines Kaisers.” (DBK, p. 670)

Due to the resurfacing of this little, objectively insignificant bust, time is not only reversed in Lopatyny, but the old Empire is also revived, with the village taking, as a pars pro toto, the character of an universalizing heterotopia – i. e. a heterotopia

23 See Bittrich, Alt-Österreich. 2000, p. 287.

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where, according to Foucault, “the smallest parcel of the world […] is the totality of the world”.24 In this instance, the heterotopia is not a “space of compensation” like Zweig’s Switzerland in “Episode am Genfer See”, but a “space of illusion that exposes every real space, all the sites inside of which human life is partitioned, as still more illusory”.25 Roth subtly suggests that the absurdity of Morstin and the villagers’ illusory revival of the old Empire mirrors the arbitrary nature of the changes brought about by the war. Yet unlike Morstin’s harmless escapism, which only aimed to bring back the comfort of familiarity to the village, the war had devastating effects, like the dissolution of the multinational Habsburg Empire described in the first part of the novella, the high death toll, and the outburst of a chauvinistic nationalism, which was still on the rise when Roth wrote the novella in 1934.26 And these are precisely the things from which Roth’s Morstin sought escape, into the heterotopic space briefly provided by the resurfacing of the bust. At the same time, in a similar vein to a museum or library, the heterotopia of Lopatyny aims to be a heterochrony inasmuch as it tries to “accumulate”27 the time of the dissolved Habsburg Empire. However, history and synchronicity, embodied first and foremost by the voivode of Lviv, are catching up, rendering this heterotopia with a temporal nature: it cannot maintain the status quo but rather has to be transitory – indicating the author’s clear-sightedness or, at least, disillusion in regard to the feasibility of Morstin’s escapist nostalgia:28

24 Foucault, Of Other Spaces. 1986, p. 26. See also Renner, Ein Denkmal. 1993, p. 132: “Was der Erzähler an der Monarchie rühmt, verkörpert das Dorf Lopatyny mit dem Grafen als oberster Instanz im Kleinen. Es ist der Topos des Dorfes als Welt, der hier anklingt.” 25 Foucault, Of Other Spaces. 1986, p. 27. 26 There are multiple references to Nazism in the novella and one directly mocking Adolf Hitler. See Hackert’s postface: Roth, Joseph: Die Büste des Kaisers. Ed. and postface by Fritz Hackert. Stuttgart: Reclam 1969, p. 77; Bittrich, Alt-Österreich. 2000, p. 286. 27 Foucault, Of Other Spaces. 1986, p. 26. 28 The temporal character of the heterotopia is supported by the general ironical tone of the novella which only few scholars recognize as a sign of Roth distancing himself from Morstin’s overwhelming nostalgia. See, for example, Pesnel, Stéphane: Totalité et fragmentarité dans l’œuvre de Joseph Roth. Bern: Peter Lang 2000, p. 148: “Dans “Die Büste des Kaisers”, le refus de l’histoire confine à la mascarade”; Pesnel, Stéphane: Une fragile recréation. Les espaces multiculturels dans l’œuvre romanesque de Joseph Roth. Études Germaniques 245, 2007, vol. 1, p. 95: “[…] le fait même que ce soit le point de vue du comte Morstin qui domine ici permet une possible distance ironique du narrateur par rapport au personnage”; Tonkin, Burying the Emperor. 2008, p. 133–146; Diemer, Christian: “Die Büste des Kaisers”. Joseph Roth und die k. u. k. Utopie. In: Wo liegt die Ukraine? Standortbestimmung einer (mittel)europäischen Kultur. Ed. by Steffen Höhne/Justus Ulbricht. Cologne: Böhlau 2009, p. 149–187, here p. 174: “Die konkurrierenden Stilebenen – märchenhaft-biblische Suggestivität vs. journalistische Ironie – sind hier funktional aufeinander bezogen.”

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“Zum erstenmal befand sich also der Graf im offenen Konflikt mit der neuen Macht, deren Dasein er bis jetzt kaum zur Kenntnis genommen hatte. Er sah ein, dass er zu schwach war, sich gegen sie aufzulehnen. Er erinnerte sich an die nächtliche Szene in der Züricher American Bar. Ach! Es hatte keinen Sinn mehr, die Augen vor der neuen Welt der neuen Republiken, der neuen Bankiers und Kronenträger, der neuen Damen und Herren, der neuen Herrscher der Welt zu schließen. Man musste die alte Welt begraben. Aber man musste sie würdig begraben.” (DBK, p. 673)

The ceremonious, yet tragicomic funeral for the bust is not surprizing. Through this act, Morstin transfers the bust and what it symbolises, i. e. the monarchy and, with it, the olden times, from one heterotopia to another: from the temporal heterotopia of Lopatyny to a timeless heterochrony in form of the cemetery.29 After the funeral, acknowledging that Lopatyny does not hold a place for a man like himself, Morstin goes into exile on the French Riviera.

III.

Conclusion

Zweig’s “Episode am Genfer See” and Roth’s “Die Büste des Kaisers” are novellas written by two authors who were both highly aware of the dangers of nationalism and war. Both novellas depict heterotopic borderland spaces in the wider context of the First World War, i. e. little islands of idealism, which cannot withstand their respective surrounding’s reality, and which consequently fail their protagonists. In other words, even heterotopias cannot offer an asylum indefinitely to anachronistic individuals like Zweig’s Russian deserter or Roth’s Galician count, with their heterotopic escapes proving to be a socially or temporally limited experience. Reinforced by the voices of their narrators, both novellas are very personal and can be seen as a condensation of the societal and political views of the authors. Zweig and Roth witnessed the dramatic end of a European ideal and culture, which was a far cry from the rising nationalism of the 1920s and 1930s. Unsurprisingly, Count Morstin’s concluding words in “Die Büste des Kaisers” are often quoted in relation to Roth’s own biography and his political convictions: “[…] Deshalb hasse ich Nationen und Nationalstaaten. Meine alte Heimat, die Monarchie, allein war ein großes Haus mit vielen Türen und vielen Zimmern, für viele Arten von Menschen. Man hat das Haus verteilt, gespalten, zertrümmert. Ich habe dort nichts mehr zu suchen. Ich bin gewohnt, in einem Haus zu leben, nicht in Kabinen.” (DBK, p. 675) 29 See Renner, Ein Denkmal. 1993, p. 131: “Zwar ist die Bestattung der Büste am Ende das resignierte Aufgeben des Widerstands gegen die Zeit, nicht aber der Abschied vom Mythos. Morstin verwandelt den Kaiser durch die Beerdigung seiner Büste in eine Art Märtyrer und setzt damit dessen fast sakrale – im Wortsinne – Unantastbarkeit geradezu demonstrativ in Szene.”

Heterotopic borderland spaces

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Or as Zweig states in “Die Welt von Gestern”: “Je europäischer ein Mensch in Europa gelebt, um so härter wurde er von der Faust gezüchtigt, die Europa zerschlug.”30

30 Zweig, Die Welt. 2001, p. 316.

Hannelore Roth (Leuven)

Die Nation als Körper – der Körper als Nation. Zur Dynamik von territorialen und symbolischen Grenzen in Ernst von Salomons „Die Geächteten“ (1930)

Dieser Beitrag adressiert die komplexe Verwobenheit territorialer Grenzen einerseits und symbolischer, insbesondere körperlicher Grenzen andererseits im Freikorpsroman „Die Geächteten“ (1930) des Nationalrevolutionären Ernst von Salomon. Der explosiv-vitalistische Grundzug des nationalrevolutionären Diskurses geht in „Die Geächteten“ – so die These – mit einem spezifischen Grenzverständnis einher, das sich an den geopolitischen Schriften Friedrich Ratzels und Karl Haushofers orientiert. Salomon lokalisiert die Nation demzufolge nicht mehr innerhalb juristisch-kartographisch festgelegter Staatsgrenzen, sondern „an der Grenze“, die nicht als klare ‚Linie‘, sondern als dynamische Kampfzone imaginiert wird. Diese kann wie die Haut des biologischen Einzelkörpers sowohl zusammenschrumpfen als auch sich endlos ausdehnen. Gemäß diesem anthropogeographischen Grenzgefühl fließen territoriale Grenzen und Körpergrenzen, nationales und individuelles Subjekt ineinander. Dieser Beitrag sucht zu ergründen, wie sie sich durch eine ambivalente Ökonomie von Grenzüberschreitung und Grenzziehung, Entgrenzung und (Re-)Stabilisierung definieren. This contribution addresses the complex relationship between territorial boundaries on the one hand and symbolic, particularly corporal boundaries on the other hand in the Freikorps novel “Die Geächteten” (1930) by the national revolutionary Ernst von Salomon. The vitalistic impetus of the national revolutionary discourse goes hand in hand with a specific conception of boundaries, which is closely linked to the geopolitical works by Friedrich Ratzel and Karl Haushofer. Consequently, Salomon localizes the nation not within juristic-cartographic state boundaries, but “at its frontier”; this frontier is not imagined as a clear ‘line’, but as a dynamic fighting zone. Like the skin of the biological body it can shrink or endlessly expand. In accordance with this anthropogeographical conception of boundaries, territorial and corporal boundaries, the national and individual subject merge into one another. This contribution examines how they are defined by an ambivalent economy of boundary crossing and re-stabilization.

Der Begriff der Grenze und die mit ihm gebildeten Komposita haben in den aktuellen Literatur- und Kulturwissenschaften seit einigen Jahren Konjunktur. Grenzziehungen und -Überschreitungen, Abgrenzungen und Grenzverwischungen, Grenzgänge und -Verletzungen sind geradezu ubiquitär und stellen

214

Hannelore Roth

ein äußerst reges, interdisziplinäres Forschungsfeld dar. Während die Kulturwissenschaft die Grenzen zwischen Mensch und Tier, Leben und Tod, Mensch und Maschine oder den Geschlechtern auslotet, tasten Literaturwissenschaftler die Grenzen zwischen unterschiedlichen Wissensbereichen, Diskursen, Textgattungen, Stilen und Epochen ab.1 Dabei scheint der Grenzbegriff selbst inzwischen oft metaphorisch entgrenzt zu sein: „Die Grenze ist […] zu einer universalen Metapher für all das geworden, was zuerst dichotomisch aufgespalten und anschließend auf die verschiedensten Arten und Weisen wieder miteinander verschränkt werden kann.“2 Seltener aber ist in den Literaturwissenschaften die Rede von konkreten, sichtbaren Grenzen und Grenzräumen, seien sie nun staatlich fixiert, juristisch festgeschrieben oder im Krieg umkämpft.3 Dabei sind die Texte, in denen diese reflektiert, semantisiert oder rhetorisch gestaltet werden, allerdings Legion: „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist, „Der Verschollene“ von Franz Kafka, Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ oder „Helden wie wir“ von Thomas Brussig sind nur einige wenige, sehr unterschiedliche Beispiele, in denen konkrete Grenzen auf verschiedenste Weise literarisch verhandelt und erlebt werden. Diese Rückführung des metaphorisch schillernden Grenzbegriffs auf seine wörtliche Bedeutung heißt aber nicht, dass symbolische und metaphorische Differenzkonstruktionen grundsätzlich vom Grenzbegriff getrennt werden müssen. Im Gegenteil sind „Symbolisches und Materiales“ schon von Beginn an „im Begriff der Grenze verschränkt.“4 So sind Staatsgrenzen nicht nur geographisch verortbare Linien, sondern auch Formen diskursiver Praxis5, die Bedeutungen generieren und Identität verheißen, indem sie nicht nur einschließen, was ‚dazu‘ gehört, sondern vor allem ausschließen, was nicht. Die Rückkopplung auf konkrete Grenzen bedeutet vielmehr, dass diese ‚unsichtbaren‘ Grenzen mit neuen Energien aufgeladen werden, indem sie gleichsam ‚erden‘.6 Diese komplexe Verwobenheit konkret im Raum verortbarer Grenzen einerseits und symbolischer, insbesondere körperlicher Grenzen andererseits bildet den Ausgangspunkt für die folgende Lektüre des 1930 veröffentlichten auto1 Geulen, Eva/Kraft, Stephan: Vorwort. In: Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur, Sonderheft zur Zeitschrift für Deutsche Philologie 129, 2010. Hrsg. Eva von Geulen/Stephan Kraft, S. 1–4, hier S. 1. 2 Ebd., S. 1. 3 Ebd., S. 1. 4 Weyand, Jan/Sebald, Gerd/Popp, Michael: Einleitung. Grenzen aus soziologischer Sicht. In: Grenzgänge – BorderCrossings. Kulturtheoretische Perspektiven. Hrsg. Jan von Weyand/Gerd Sebald/Michael Popp. Münster: LIT Verlag 2006, S. 9–18, hier S. 10. 5 Bruns, Claudia: Die Grenzen des ‚Volkskörpers‘. Interrelationen zwischen ‚Rasse‘, Raum und Geschlecht in NS-Geopolitik und Kunst. In: Feministische Studien 33, 2015, H. 2, S. 177–196, hier S. 178. 6 Geulen, Eva/Kraft, Stephan, Vorwort. 2010, S. 2.

Die Nation als Körper – der Körper als Nation

215

biographischen Romans „Die Geächteten“ des Schriftstellers und ehemaligen Freikorpskämpfers Ernst von Salomon. In diesem an der neuen Sachlichkeit geschulten Roman beschreibt Salomon retrospektiv, wie er sich nach Kriegsende als sechzehnjähriger Kadett zum „Grenzschutz im Osten“7 meldet und zwischen 1919 und 1921 als Freikorpssoldat im Baltikum und in Oberschlesien kämpft. Diese seit dem Versailler Vertrag strittige Grenzregion im Osten war auch 1930 noch ein nationales Reizthema. Besonders das Ressentiment über die vom Völkerbund 1921 beschlossene Teilung Oberschlesiens, bei der der überwiegende Teil des Industriegebiets Polen zufiel, wurde Ende der 1920er Jahre mit nicht nachlassendem Eifer in einer Vielzahl von Grenzlandromanen und -Dramen erneut angefacht, unter denen die Skandalromane „O.S.“ des expressionistischen Dramatikers Arnolt Bronnen und „Die Geächteten“ von Ernst von Salomon die bekanntesten Beispiele sind.8 Diese sogenannten ‚nationalrevolutionären‘ Intellektuellen zelebrieren in ihren Texten den Krieg als den „reinste[n] Ausdruck elementarer Lebensdynamik“9 und den Frontkämpfer als eine heroische und amoralische Gegengestalt zu den vermeintlichen Pappfiguren der bürgerlichen ‚Zivilisation‘. Dieser explosiv-vitalistische Grundzug geht in „Die Geächteten“ – so die These – mit einem veränderten Grenzverständnis einher, das sich an den geopolitischen Schriften von Friedrich Ratzel und Karl Haushofer orientiert. Im Anschluss an Ratzels Unterscheidung zwischen „abstrakten“, d. h. politisch verhandelten, und „wirklichen“10, d. h. aus der Wanderdynamik der Völker entstandenen Grenzen, lokalisiert Salomon Deutschland nicht mehr innerhalb juristisch-kartographisch festgelegter Staatsgrenzen, sondern „an der Grenze [Hervorhebung des Verfassers – H.R.]“ (S. 49), die nicht mehr als klare ‚Linie‘, sondern als dynamische, ständig verschiebbare Kampfzone gilt. „Der Krieg hebt die Grenzlinie auf“, schreibt Ratzel in seiner „Politischen Geographie“11; er führt die tote Linie auf ihren ursprünglichen d. h. lebendigen aber auch gewalttätigen Charakter als Grenzgebiet zurück12, das entsprechend der Haut des Individualkörpers sowohl zusammenschrumpfen und verletzt werden als auch wachsen und sich endlos ausdehnen kann. Territoriale 7 Von Salomon, Ernst: Die Geächteten. Hamburg: Rowohlt 1980 [1930], S. 29 (Seitenangaben fortlaufend im Text). 8 Vgl. Lamping, Dieter: Über Grenzen – Eine literarische Topographie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 54. 9 Herzinger, Richard: Ein extremistischer Zuschauer. Ernst von Salomon. Konservativrevolutionäre Literatur zwischen Tatrhetorik und Resignation. In: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 8, 1998, H. 1, S. 83–96, hier S. 85. 10 Ratzel, Friedrich: Politische Geographie. München: Oldenbourg 1897, S. 447. 11 Ebd., S. 386. 12 Kreienbrock, Jörg: Von Linien, Säumen und Räumen. Konzeptualisierungen der Grenze zwischen Jacob Grimm, Friedrich Ratzel und Carl Schmitt. In: Geulen, Eva/Kraft, Stephan, Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur. 2010, S. 33–48, hier S. 48.

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Hannelore Roth

Grenzen und Körpergrenzen, nationales und individuelles Subjekt fließen im Roman gemäß diesem anthropogeographischen Grenzgefühl nahtlos ineinander und definieren sich durch eine ambivalente Ökonomie von Grenzüberschreitung und Grenzziehung, Entgrenzung und (Re-)Stabilisierung. Mit dieser organ(olog)ischen Logik ziehen nicht nur Vorstellungen (bedrohter) nationaler Einheit und Ganzheit, sondern zieht vor allem die Kategorie des Geschlechts in den Diskurs des Politischen ein. Tatsächlich geistern weiblich codierte Vielfalt und Fragmentierung durch den Roman als wahre Schreckensbilder, die das am männlichen Körper verhandelte Ideal der Härte auf individueller und nationaler Ebene aufzulösen drohen. So gilt der Grenzkampf im Osten nicht nur als Kampf um die Nation, sondern zugleich als identitätsbildender Kampf um die männliche Existenz, die mit dem Ende des Ersten Weltkriegs brüchig geworden ist. Zugleich wird der östliche Grenzkampf als (geschlechtlich codierter) Generationenkonflikt diskursiviert: Der revolutionäre Aufbruch der Freikorpskämpfer ins Baltikum und nach Oberschlesien wird immer wieder als „Sache der Jugend“ (S. 114) dargestellt, die – ausdrücklich ohne konkretes Programm – darauf zielt, die ‚verkrusteten‘, sich an der Vorkriegszeit orientierenden patriarchalischen Strukturen der Weimarer Republik möglichst blutig aufzureißen. Die durch diesen symbolischen Vatermord entstandene emotionale Lücke, füllen die Freikorpskämpfer einerseits mit der Idee einer ‚neuen‘, bezeichnenderweise biologisch verstandenen Nation, andererseits mit der Hinwendung zu nur wenig älteren, selbst erwählten Führern. Die ideologische Lücke wird hingegen – programmatisch – offen gelassen: Im Gegensatz zur verhassten ‚Paragraphenlogik‘ der Weimarer Republik, so wird Salomon nicht müde zu betonen, ‚handeln‘ und ‚entscheiden sich‘ die geächteten Freikorpskämpfer ohne jegliche ideologische oder moralische Richtschnur. Das Grenzgebiet wird mithin zu einer Art gesetzlosem Raum, zur terra nullius, die von liminalen Figuren des Dazwischen bevölkert wird.

I.

Ernst von Salomon: Lebenslauf eines Geächteten

Nur wenige deutsche Autoren des 20. Jahrhunderts können eine derart spektakuläre Biographie vorweisen wie Ernst von Salomon, dessen Lebenslauf sich wie das Drehbuch eines Films voller unerwarteter Plotwendungen liest. Schon eine kurze Aufzählung seiner Lebensphasen macht dies deutlich: Erziehung in einer preußischen Kadettenanstalt, Teilnahme an den Freikorpskämpfen im Baltikum und in Oberschlesien, Mitglied der rechtsradikalen Organisation Consul, Beihilfe zum Mordanschlag auf den deutschen Außenminister Walther Rathenau, Verurteilung zu fünf Jahren Zuchthaus, Unterstützer der sogenannten Landvolkbewegung in Schleswig-Holstein, Beteiligung an einem Bombenanschlag auf den

Die Nation als Körper – der Körper als Nation

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Berliner Reichstag, Mitglied der Neuen Nationalisten um Ernst Jünger, nach 1933 innerer Emigrant, der seine damalige jüdische Lebensgefährtin durch das NSRegime zu bringen wusste, Verfasser relativ unpolitischer Filmdrehbücher bei der Ufa und dennoch von den Amerikanern verhaftet, Sympathisant des Kommunismus und der DDR, Sprecher auf linksgerichteten Friedenskonferenzen seit den 1960er Jahren und Bewunderer von Che Guevara und Fidel Castro. Trotz dieser Wandlungen zeigen seine Romane aber eine erstaunliche geistige Kontinuität, die sich als ein an Oswald Spengler orientierter ‚preußischer Sozialismus‘ beschreiben lässt.13 Salomon hat aus diesem Lebenslauf nie ein Geheimnis gemacht, sondern ihn vielmehr in seinen überwiegend autobiographischen Romanen literarisch verarbeitet. Die Zeit als Königlich Preußischer Kadett beschreibt er in „Die Kadetten“ (1933), die Jahre im Freikorps, der Anschlag auf Rathenau, die Haft im Zuchthaus und der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte sind Gegenstand von „Die Geächteten“ (1930). Der mehr als 700 Seiten umfassende Bestsellerroman „Der Fragebogen“ (1951) ist eine sarkastische Beantwortung jener 131 Fragen zählenden ‚Entnazifizierungs‘-Fragenbögen der alliierten Militärregierung, die Salomon zusammen mit etwa 1,4 Millionen Deutschen 1946 in der amerikanischen Besatzungszone ausfüllen musste, und löste eine der frühesten Literaturdebatten der frühen Bundesrepublik aus. Dennoch ist Ernst von Salomon für die Literatur- und Kulturwissenschaft ein Unbekannter geblieben. Diese geringe Aufmerksamkeit mag überraschen, denn nicht nur hat ihn Jost Hermand als „eine der ‚farbigsten‘ und auch gedanklich interessantesten Figuren“ der sogenannten Konservativen Revolution verzeichnet,14 auch Richard Herzinger umschrieb Salomons Texte als die „spezifische Literatur“ dieser Bewegung. Anders als Ernst Jünger, der seine politischen Botschaften „in metaphysische Spekulationen und in eine absichtsvoll verrätselnde Metaphorik ein[kleidet]“, sei Salomon laut Herzinger ein „jederzeit explizit formulierender Autor“ in der Tradition der Neuen Sachlichkeit, weshalb sein Frühwerk, und besonders sein Erstlingsroman „Die Geächteten“, „die Qualität eines zeitdokumentarischen Spiegels der untergehenden Weimarer Republik“ hat.15

13 Heyer, Ralf: „Verfolgte Zeugen der Wahrheit“. Das literarische Schaffen und das politische Wirken konservativer Autoren nach 1945 am Beispiel von Friedrich Georg Jünger, Ernst Jünger, Ernst von Salomon, Stefan Andres und Reinhold Schneider. Dresden: Thelem 2008, S. 137. 14 Hermand, Jost: Ernst von Salomon. Wandlungen eines Nationalrevolutionärs. Stuttgart/ Leipzig: Hirzel 2002, S. 4. 15 Herzinger, Ein extremistischer Zuschauer. 1998, S. 84; vgl. Roth, Hannelore: Die Suche nach dem besseren Vater. Zu einer neuen Konzeption von Männlichkeit in Ernst von Salomons „Die Kadetten“. In: Weimarer Beiträge 64, 2017, H. 4, S. 540–561.

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So wirft „Die Geächteten“ schon in der Frage nach dem Genre sowie nach dem Autorsubjekt Abgrenzungsprobleme auf. Das Buch ist ein Mischgebilde aus dokumentarisch-autobiographischem Kriegsbericht, romanhafter Erzählung und Gefängnisliteratur. Im einführenden Vorwort von 1961 macht Salomon den Lesern allerdings klar, dass das Buch „keine Rechtfertigung“ (S. 5) oder nachträgliche Beschönigung, sondern „eine Darstellung“ (ebd.) seiner Motive ist, die mit der damaligen „amoralische[n] Epoche“ (S. 6) im Einklang waren: „Die Motive zu diesem Mord konnten vor Gericht nicht geklärt werden, das Buch sollte sie klären. […] Ich muß mich zu diesem Buch bekennen, und ich tue es“ (S. 5). Damit erfüllt der Roman für Salomon genau jene subversive Funktion, die Michel Foucault der Literatur zugesprochen hat, als er sie in „Die Ordnung der Dinge“ als Gegendiskurs bezeichnete.16 Indem Diskurse Grenzen des Sagbaren herstellen, ist Literatur, mit ihrer Vorliebe für das Ausgeschlossene, zumindest für den frühen Foucault immer auch eine Form von Grenzüberschreitung.17 So scheint Salomon mit seinem Roman einen ästhetischen Widerstand gegen jene ‚Wahrheit‘ leisten zu wollen, die ihm vor Gericht auferlegt worden ist. Der Text präsentiert sich in seiner exzessiven Beschreibungswut als eine literarische Selbstbehauptung eines (stolzen) Verbrechers jenseits des Gesetzes, der im Medium der Literatur die Grenzen der Diskurse zu sprengen versucht. Dabei ist dieses autobiographische Schreiben immer auch eine Fiktionalisierung des Lebensentwurfs, die eine ‚literarische Wahrheit‘ darstellt. Darauf verweist Salomon im Vorwort selbst: Das in der Mitte des Buches aufgezeichnete Gespräch zwischen dem Ich-Erzähler und dem Marineoffizier Kern hat „in dieser Form […] niemals stattgefunden“, schreibt Salomon, aber ist doch „das entscheidende Kapitel“ (S. 5).

II.

Der Körper als nationale Grenze

Zu Beginn des Romans beschreibt der männliche Ich-Erzähler rückblickend, wie er sich als Königlich Preußischer Kadett in den Wirren der Novemberrevolution aufrechtzuerhalten versucht. Da der junge Offiziersanwärter bei Kriegsende erst sechzehn Jahre alt war, musste er ohnmächtig zusehen, wie der Krieg ohne ihn verloren wurde, die Revolution (vom Ich-Erzähler immer wieder abwertend „Revolte“ genannt) das alte Regime stürzte und die verhasste Republik installiert 16 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974. 17 Parr, Rolf: Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und Kulturwissenschaft. In: Schriftkultur und Schwellenkunde. Hrsg. Achim von Geisenhanslüke/ Georg Mein. Bielefeld: Transkript 2008, S. 11–63, hier S. 32.

Die Nation als Körper – der Körper als Nation

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wurde. Nachdem er „unsagbar verwirrt“ (S. 11) in der aufgeregten Stadt umhergeirrt ist, macht der Ich-Erzähler in seinem Zimmer Inventur: Die Feldbinde, den Husarensäbel, die Achselstücke,… alle Gegenstände, aus denen er während der Kriegsjahre seinen männlichen Stolz gezogen hat und die ihm „Sinn“ (S. 12) gewährten, stellt er auf dem Tisch aus, um ihm in „diesem verworrenen Augenblick“ (ebd.) den „Halt“ (S. 11) zu geben, bevor er diese Relikte aus einer alten Welt endgültig vom Tisch wischt. Diese erste Szene veranschaulicht, dass zusammen mit der in die Krise geratenen Nation – die über die Aufzählung von militärischen Objekten durchaus maskulin definiert wird – auch die männliche Existenz des Ich-Erzählers auf dem Spiel steht. Als unzertrennlicher „Teil“ der alten Nation, die „endgültig und unwiderruflich in den Staub sank und nie mehr, niemals wieder erstehen würde“ (S. 12), wird auch seine eigene Identität brüchig, gleichsam gespensterhaft. Demselben psychoanalytischen Szenario unterliegt der Marineoffizier Kern. Als ihn der Ich-Erzähler fragt, wie er als kaiserlicher Offizier den 9. November hat überstehen können, antwortet er, dass er „ihn nicht [überstand – H.R.]“, sondern dass er sich, „wie es die Ehre befahl, eine Kugel in den Kopf gejagt“ hat: „Ich bin tot; was an mir lebt, bin nicht ich. Ich kenne kein Ich mehr seit jenem Tage. […] Ich starb für die Nation, so lebt in mir alles nun einzig für die Nation.“ (S. 213) Dabei ist dieser ‚ehrenvolle‘ Freitod zugleich eine endgültige Verabschiedung von der alten Ordnung. Anstatt des archaischmännlichen Ehrenkodexes gilt dem im Grenzkampf wiedergeborenen Mann nur ein amoralisches Draufgängertum, das in den Texten der Nationalrevolutionären durch die Idee der neuen Nation quasi-metaphysisch überhöht wird. Schon im ersten Kapitel des Romans wird deutlich, wie sehr sich dieses Ineinanderfließen von nationalem und männlichem Subjekt am männlichen Körper und besonders an dessen Körpergrenzen manifestiert. Die Grenzen und Öffnungen des biologischen Körpers machen die Auflösung bzw. die (prekäre) Erstarkung der nationalen Ordnung diskursiv verfügbar und setzen dabei einen geschlechterspezifischen Prozess von In- und Exklusion in Gang. So wird das Chaos der Novemberrevolution ausdrücklich weiblich definiert, da es in der Vorstellung des Ich-Erzählers jedes Mal Frauen sind, die an der Spitze der Massendemonstrationen marschieren. Immer wieder wird diese ‚Masse‘ mit auf Unordnung, Auflösung und körperliche Flüssigkeiten zielenden Begriffen beschrieben: „[Die Gefahr – H.R.] trug ein gestaltloses Antlitz, das Gesicht der Masse, die sich breiig heranwälzt, bereit, alles in ihren seimigen Strudel aufzunehmen, was sich nicht widersetzt.“ (S. 13) So ist es nur folgerichtig, dass der IchErzähler die ständig herumspuckenden, keifenden Frauen als bedrohender als die sich prügelnden Männer erfährt. Die Verunreinigung durch den (unkontrollierten) Austritt von Flüssigkeiten wie Speichel (aber auch Blut, Eiter, Urin oder Exkrementen) aus dem Körper drückt dann die Angst vor der Öffnung und

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Hannelore Roth

dem Verlust nationaler Ordnung aus.18 In diesem Drama des Konturverlusts versucht der Ich-Erzähler „zu bestehen […], um jeden Preis zu bestehen, vor was es auch immer sein möge“ (S. 12). Damit er dem „Strudel“ nicht verfalle, „steift“ er seinen Körper (ebd.) oder klammert sich krampfhaft an die Uniform19, die ihn wie eine Art zweiter, besserer Haut umschließt. Konfrontiert mit der „zusammengeströmten“ (S. 13) Masse, beißt er bedeutsam die Zähne zusammen. Nur das performativ wiederholte Wort „‚Haltung!‘ und […] nochmals: ‚Haltung!‘“ (ebd.) darf seinem gepanzerten Körper noch entfahren, um die Abgrenzung zu vollziehen und zu bestätigen. Die Aufrichtung und Stabilisierung des männlichen Subjekts wird also durch eine puritanische Logik der Ordnung gesteuert, die aber durchaus prekär ist. Von einer pathologischen Angst vor Schwellenübergängen, von Auflösungs- und Zerstücklungsphantasien angetrieben, versucht der Ich-Erzähler immer wieder stabile Körpergrenzen aufzurichten, die aber der ständigen Re-Inszenierung bedürfen. Das Produktionsprinzip des soldatischen Mannes wird also von einer strukturellen Ambivalenz von Grenzziehung und Entgrenzung, Ordnung und Transgression bestimmt.20 Das Ideal des makellos-sauberen Körpers erscheint dann als Ausdruck einer instabilen, in sich zwiespältigen Ordnung. Im tatsächlichen Grenzkampf wiederholt sich dieses ambivalente Produktionsprinzip: Dem rauschhaften Blackout, der grenzüberschreitenden Ekstase des losstürmenden Freikorpskämpfers folgt immer die Re-Stabilisierung als kalte ‚Stahlgestalt‘. Diese ambivalente Dynamik wird besonders greifbar, als das Freikorps, das zu dem Zeitpunkt noch im Solde der Regierung steht, in einer Mietskaserne nach verborgenen Waffen der revolutionären Linke sucht. Die Bewohner dieser dunklen, schmutzigen, labyrinthisch wirkenden Mietskaserne – Arbeiter und Arbeiterinnen, invalide Veteranen, Prostituierte, kleine Kinder – werden ausdrücklich in ihrer schlichten, als degeneriert erscheinenden Körperlichkeit dargestellt und ekeln den Ich-Erzähler an. In dieser Gestalt bedrohen sie die als mechanisch-stabil imaginierten Körpergrenzen der Freikorpskämpfer. Ihre Haut scheint geradezu zu platzen: „Das drang uns in die Brustkästen, spritzte unerträgliche Spannung in die Adern, so daß sich das Blut mit kurzen und harten Stößen gegen die Haut drängte“ (S. 39). Es handelt sich aber nicht nur um eine externe Bedrohung. Die „brodelnde“ (S. 41), „summende“, „kochende“, „quellende“ (S. 38), „quäkende“ (S. 40) Atmosphäre und der Gestank, die die Freikorpskämpfer vollkommen desorientieren, die 18 Kohns, Oliver: Die Übertragung der Reinheit (Mary Douglas, Friedrich Nietzsche). In: Grenzräume der Schrift. Hrsg. Achim von Geisenhanslüke/Georg Mein. Bielefeld: Transcript 2008, S. 23–47, hier S. 25. 19 In dieser Hinsicht ist es nicht verwunderlich, dass gerade die Mutter die Achselklappen vom Mantel des Ich-Erzählers trennt. Vgl. Salomon, Die Geächteten. 1980, S. 12. 20 Vgl. Theweleit, Klaus, Männerphantasien. Männerkörper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors. München: dtv 1995. Bd. 2, S. 158.

Die Nation als Körper – der Körper als Nation

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schwächliche Körperlichkeit der Bewohner und die andauernd lachenden Frauen spiegeln vor allem die grundsätzliche Instabilität des eigenen Körpers wider. Dass die starrenden Augen der Bewohner ihnen während der Haussuchung „das Kreuz steiften“ (S. 42), ist symptomatisch für diesen prekären Charakter, denn das maskuline Ideal der Härte kann jeden Moment erschlaffen. Nur in der festen Abgeschlossenheit des Freikorps scheint der soldatische Mann kurzzeitig im Stande zu sein, seine Grenzen aufrechtzuerhalten: „Wir schienen uns gegen diesen Druck nicht anders wehren zu können, als indem wir bei aller inneren Benommenheit so fest wie möglich auftraten und mit barscher Sicherheit so lässig wie möglich handelten. Wenn uns aus kreischenden, verzerrten Mündern der Hass entgegenspie, dann fühlten wir für abgründige Sekunden das Nahen einer schrecklichen Entscheidung“ (ebd.).

III.

Die Nation als Körpergrenze

Nicht nur das männliche Subjekt, auch die Nation wird in „Die Geächteten“ von ihren umkämpften Grenzen her begriffen: „Deutschland war da, wo um es gerungen wurde, es zeigte sich, wo bewehrte Hände nach seinem Bestande griffen, es strahlte grell, wo die Besessenen seines Geistes um Deutschlands willen den letzten Einsatz wagten. Deutschland war an der Grenze. Die Artikel des Versailler Friedens sagten uns, wo Deutschland war“ (S. 48f.). Dass sich die Nation nicht innerhalb politisch festgeschriebener Staatsgrenzen situiert, sondern sich an der Peripherie behauptet, erkennt der Ich-Erzähler zum ersten Mal beim „gespenstische[n] Einmarsch“ (S. 29) geschlagener deutscher Fronttruppen in seine Heimatstadt. Während die aufgeregte Masse deren ‚Heimkehr‘ voller Sehnsucht entgegensieht, marschieren die „Besten der Nation“ (S. 23) „geschlossen“, „schnurrgerade“, mit „harten, wie aus Holz zurechtgehackten Gesichter[n]“ „fremd, unverbunden, feindlich“ an der „Menge“ vorbei (S. 26). Nicht das Deutschland, in das sie zurückkehren, ist für diese Krieger die Heimat. „Die Front war deren Heimat, war das Vaterland, die Nation. […] Was nun geschah, dieser Einmarsch, dies Hineinfügen in die friedliche, in die gefügte, in die bürgerliche Welt, das war eine Verpflanzung, eine Verfälschung, das konnte niemals gelingen“ (S. 29). Am Tag nach dem Einmarsch meldet sich der Ich-Erzähler denn auch zu den Freiwilligen-Formationen, die zum „Grenzschutz im Osten“ (ebd.) geworben werden. Dieser Grenzschutz ist zudem ein Versuch zur Selbstbewahrung: Die Beschreibung der zurückkehrenden Frontsoldaten als eines undurchdringbaren, streng geometrischen Kollektivkörpers verdeutlicht einmal mehr, dass die Grenzen der Nation und die des Körpers in der Imagination des Ich-Erzählers zusammenfallen. Die Idee, dass die Grenzen der Nation nicht unbedingt denen des Staates entsprechen, hat ihren Ursprung in den Schriften des Begründers der modernen

222

Hannelore Roth

politischen Geographie Friedrich Ratzel. In seiner „Politischen Geographie“ (1897) unterscheidet Ratzel zwischen politisch-„abstrakten“ Raumvorstellungen, die sich an linearen Grenzen orientieren, und „wirklichen“, in der Wanderdynamik der sich ausbreitenden oder zurückziehenden Völker verwurzelten Grenzen, die sich hingegen als Saum manifestieren.21 Der Grenzsaum gehe der Grenzlinie voraus, aber diese „organische Bewegung“22 sei „durch die künstlichen Mittel der Verträge zum Stillstand gebracht“23 worden. Es ist der Krieg, der diese artifizielle Linearität politischer Grenzen aufhebt und die Grenze auf ihren ursprünglichen, d. h. lebendigen, aber auch gewalttätigen Charakter als Grenzraum zurückführt. Das aggressiv-revisionistische Potenzial dieser Auffassung liegt auf der Hand: In der Zwischenkriegszeit lieferten sie den nationalistischen Denkern die nötige Munition für ihren Kreuzzug gegen den ‚Schandvertrag‘ von Versailles. Während man mit Blick auf den Westen vor allem die artifizielle Form der vertraglich festgelegten neuen Grenzen ins Visier fasste, wurde die Debatte um die Ostgrenze vor allem im Rekurs auf die mittelalterliche Expansion der deutschen Ordensritter geführt, deren Siedlungen in der ratzelschen Terminologie die ‚wirklichen‘ Grenzen Deutschlands anzeigten.24 Auf dieses historische Narrativ greift auch der Ich-Erzähler von „Die Geächteten“ zurück, um die Eroberungspolitik der deutschen Freikorps im Baltikum zu legitimieren und mythisch zu überhöhen: „Gerade das Gefühl, inmitten dieser lieblichen Landschaft eigentlich immer auf schwankendem Sumpfboden zu stehen, der unablässig seine Blasen warf, hatte doch dem Kriege hier oben den bewegten, ständig wechselnden Charakter gegeben, der vielleicht schon den deutschen Ordensrittern jene schweifende Unruhe vermittelte, die stets von neuem aus ihren festen Burgen zu kühnen Fahrten trieb“ (S. 83f.). Vor allem die überaus populären, für die Herausbildung der nationalsozialistischen Geopolitik maßgeblichen Schriften des Geographieprofessors Karl Haushofer aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre versahen Ratzels theoretische Überlegungen mit politischem Sprengstoff. Haushofer zufolge sei die Grenze nach den Erfahrungen der Explosionen und Dynamitsprengungen in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs keine klare Linie mehr, sondern eine dynamische „Kampfzone“,25 in der sich das wahre Wesen der Grenze manifes-

21 22 23 24

Ratzel, Politische Geographie. 1897, S. 447. Ratzel, Friedrich: Anthropogeographie. Stuttgart: Engelhorn 1899 [1882], S. 259. Ratzel, Politische Geographie. 1897, S. 448. Rutz, Andreas: Grenzen im Raum – Grenzen in der Geschichte. Probleme und Perspektiven. In: Geulen, Eva/Kraft, Stephan, Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur. 2010, S. 7–32, hier S. 20. 25 Haushofer, Karl: Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung. Berlin/Grunewald: Kurt Vowinckel 1927, S. 11.

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tiere.26 Auf dem Schlachtfeld zeigen sich Grenzen nicht mehr als deutlich abgesteckte Frontlinien, sondern als sich permanent verschiebende, elastische Zonen, die sich wie die Haut des biologischen Einzelkörpers immer weiter ausdehnen können. Damit schrieb Haushofer Ratzels organisches Grenzverständnis in eine biopolitisch (und rassisch) begründete Expansionspolitik um, der zufolge die wachsende Bevölkerung des Deutschen Reiches nur durch Gebietserweiterungen überleben könne. Anschließend an diese grundlegende Unterscheidung zwischen abstrakten und wirklichen Grenzen wird in „Die Geächteten“ die herbeigesehnte Nation konsequent vom Staat, die nationale Identität von der Staatsbürgerschaft getrennt. So werden die Balten als Männer eines „deutschen Stammes“ (S. 82), Oberschlesien als eine bedrohte deutsche Provinz beschrieben, die die Freikorpskämpfer – als vermeintliche Freiheitskämpfer – „aufs neue zu erstreiten“ (S. 169) versuchen. Als die deutsche Regierung die Baltikumtruppen auffordert, sofort nach Deutschland zurückzukehren und mit Verlust der Staatsangehörigkeit droht, können sie nur darüber lachen, denn diese Paragraphenlogik ist ihnen vollkommen „wurscht“ (S. 69). Daher nennen sie sich beim Kampf um Riga „lettische Staatsbürger“; sie seien „deutsche Soldaten, die nominell keine deutschen Soldaten sind, und schützen eine deutsche Stadt, die nominell keine deutsche Stadt ist“ (S. 68). Im Gegensatz zum starren Staatsgebilde ist die Nation der Freikorpskämpfer also eine im Wortsinn u-topische Größe, eine „gelebte Idee“, die gleichsam realer ist als die unvollkommene faktische Realität und „täglich im Blut und Feuer des Kampfes wiedergeboren werden muß“.27 Das Deutschland des Versailler Vertrags ist, um an die ratzelschen Terminologie anzuknüpfen, hingegen ein „Land, wie ein leerer Fleck auf der Landkarte, in den die Hand des Topographen zögern mußte Städte einzuzeichnen und Dörfer und Flüsse und Grenzen, ein plumpes, passives Land, ein Land ohne Wirklichkeit“ (S. 80). Somit handelt es sich beim Kampf um die Nation letztendlich nicht um einen Kampf um territorial-lineare Grenzen, sondern um einen identitätsbildenden Grenzkampf, der sich vor allem ex negativo, über die Kluft mit dem Staat offenbart: „‚Vormarsch‘: das hieß für uns nicht ein Marsch auf ein militärisches Ziel, um einen Punkt auf der Landkarte, eine Linie im Gelände zu erobern, das hieß vielmehr den Sinn einer harten Gemeinsamkeit erfahren, das hieß die Zeugung einer neuen Spannung, die den Krieger auf eine höhere Ebene stößt, das hieß die Lösung aller Bindungen an eine versinkende, verrottete Welt, mit der der echte Krieger keine Gemeinsamkeit mehr haben konnte.“ (S. 52)

26 Bruns, Die Grenzen des ‚Volkskörpers‘. 2015, S. 182. 27 Herzinger, Ein extremistischer Zuschauer. 1998, S. 86.

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In diesem identitätsbildenden Grenzkampf steht nicht nur die nationale Regeneration nach dem verlorenen Weltkrieg, sondern auch die männliche Identität des Freikorpskämpfers auf dem Spiel. So gilt der Aufbruch ins Baltikum als „die neue, die letzte Möglichkeit, für Deutschland und für uns“ (S. 50). Nationales und männliches Subjekt sind hier völlig austauschbar und legitimieren sich wechselseitig: „Wir zogen aus, die Grenze zu schützen, aber da war keine Grenze. Nun waren wir die Grenze, wir hielten die Wegen offen; wir waren Einsatz im Spiel, da wir die Chance witterten, und dieser Boden war das Feld, auf das wir gesetzt“ (ebd.). Die Freikorpskämpfer sind die Grenze, sind die Front, sie haben immer eine (Körper-)Grenze zu verteidigen, eine Grenze vorwärts zu schieben,28 die nicht mehr als tote Linie eines starren Rechtskonstrukts, sondern als dynamische Kampfzone eines lebendigen Kollektivkörpers gilt.29 Diese territoriale Entgrenzungslust scheint aber der Idee eines streng abgegrenzten Körpers bzw. Korps gerade zu widersprechen. Die Selbstbetrachtung als Grenze enthält zudem ein enormes Aggressionspotenzial, das – wie die Tropen des Schach- bzw. Kartenspiels im letzten Zitat veranschaulichen – mit Vabanquevorstellungen eines stolz „auf verlorenem Posten“ (S. 208) stehenden Geächteten einhergeht. Wie Klaus Theweleit in seiner Studie „Männerphantasien“ hervorhebt, ist „ihr Daseinszustand Krieg“.30 Der territoriale Grenzkampf im Osten erweist sich also zugleich als ein symbolischer ‚Kampf ums Dasein‘.31

IV.

Anthropogeographisches Grenzgefühl

Dieses Phantasma der totalen Verschmelzung des männlichen Einzelkörpers mit dem nationalen Kollektivkörper geht in „Die Geächteten“ mit einem Grenzverständnis einher, das sich an lebensphilosophischen Dualismen orientiert. So wird dem Staat als „tote[r] Formel“ – über die „Bewegung“ hat sich schon längst eine „Kruste“ gebildet – konsequent ein vitaler, durchbluteter Kollektivkörper entgegengesetzt (S. 157). Dementsprechend spüren die Freikorpskämpfer die territorialen Außengrenzen geradezu wie ihre eigene Haut, was einerseits eine autoimmunisierende Logik gegen ‚innere Feinde‘ (den Liberalismus, die Demokratie, die westliche ‚Zivilisation‘) ankurbelt, andererseits zur Folge hat, dass äußere Fremdkörper radikal abgestoßen werden müssen. Tatsächlich empfinden die Freikorpskämpfer die Durchlässigkeit territorialer Grenzen als ebenso bedrohlich wie die Durchlässigkeit der eigenen Körpergrenzen. Nach der Logik dieses ‚anthro28 29 30 31

Theweleit, Männerphantasien. 1995, S. 157. Bruns, Die Grenzen des ‚Volkskörpers‘. 2015, S. 182. Theweleit, Männerphantasien. 1995, S. 157. Bruns, Die Grenzen des ‚Volkskörpers‘. 2015, S. 182.

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pogeographischen‘32 Grenzgefühls wird der Boden beim Einmarsch französischer Soldaten „gemartert“ (S. 20), liegt das Reich nach 1918 wie eine „offne Wunde vor, an deren Ränder brutale Fäuste drückten, daß Blut und Eiter quoll“ (S. 77), zieht „ein gespenstischer Finger blutige Linien rund um das Reich“, als die „Fronten erstarrten“ (S. 75). Die im Versailler Vertrag festgelegten Grenzen werden als physische Zerstörungen des Landes, als eine sowohl für die Nation als für das männliche Subjekt klaffende narzisstische Wunde empfunden. Den am männlichen Körper verhandelten Auflösungs- und Zerstücklungsphantasien entsprechend werden die Gebietsverluste im Zuge des Ersten Weltkriegs vom Ich-Erzähler sogar als unbetäubte Amputationen imaginiert: „Noch waren die Grenzen flüssig, doch, wo begonnen wurde, sie sicher zu ziehen, da schrie das Land, und die neuen Linien waren wie Messerschnitte, die ihre blutigen Furchen zogen, und ganze Provinzen fielen, wie Glieder, die ein Betrunkener amputierte“ (S. 110). Diese emotionale Identifikation geschändeter territorialer Außengrenzen mit dem eigenen Körper hat die Funktion, territoriale Ansprüche zu naturalisieren und legitimieren. Sie erzeugt mithin eine grenzrevisionistische Haltung, die mit der Aufforderung zur Ermächtigung und Re-Stabilisierung der Nation einhergeht. Die Öffnung nach außen ginge nämlich mit einem Herrschafts- und Ehrverlust einher, die auch das innere Gefüge destabilisieren würde. Zwar wird dieses anthropogeographische Grenzverständnis nicht nur am männlichen Körper verhandelt, aber die gelegentliche Analogisierung der Außengrenzen mit den sexualisierten physischen Grenzen des weiblichen Körpers geht doch immer wieder mit dem Aufruf zur Vermännlichung der Nation einher, die äußere und innere Grenzen zugleich zu sichern verspricht. So hat die herkömmliche Vergewaltigungsmetaphorik in Bezug auf den Versailler Vertrag die Aufgabe, jeden Einzelnen emotional zu ergreifen und eine grenzrevisionistische Haltung des männerbündisch gedachten Kollektivs hervorzurufen33, während das traditionelle Bild der Frau als eines „umgebrochene[n]“, zu befruchtenden „Ackers“ (S. 189) an die eruptive Körperlichkeit der männlichen Reproduktionskraft erinnert und so eine explizit als männlich gedachte Nation erzeugt. Um diese männliche Wiedergeburt der Nation darzustellen, rekurriert der Ich-Erzähler auf eine äußerst plastische, gewalttätige Sprache, in der sich martialische und sexuelle Lust überlagern. Der Kriegsschauplatz wimmelt von phallischen Bildern, während von weiblichen Körpern hier nie die Rede ist. In einer der vielen Kriegs-/Masturbationsszenen heißt es wie folgt: „Das Gewehr bäumte sich und schnellte wie ein Fisch, ich hielt es fest und zärtlich in der Hand, ich klammerte seine zitternden Flanken zwischen meine Knie und jagte einen Gurt, den zweiten auch, hintereinander durch“ (S. 88). Schießen ist eine ejaku32 Vgl. Ratzel, Anthropogeographie. 1899. 33 Vgl. Bruns, Die Grenzen des ‚Volkskörpers‘. 2015, S. 182.

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latorische Erfahrung, die „satanische Lust“ (S. 73) erregt, in einer anderen Szene penetriert das Gewehr geradezu die „warme[n], lebendige[n] Menschenleiber“ und nachdem die Munition alle ist, liegt der Ich-Erzähler „erschöpft und fröstelnd“ am Boden (ebd.). Diese transgressive Gewalt ist produktiv sowie transformativ: In einer Art zweiter, exklusiv männlicher Geburt „formt“ (S. 48) der Grenzkampf harte, maschinenartige Männer, gleichsam ohne Körperöffnungen, die an Ernst Jüngers ‚Stahlgestalt‘ erinnern: „[W]ie, bin ich nicht eins mit dem Gewehr? Bin ich nicht Maschine – kaltes Metall?“ (S. 73) Diesem Phantasma der männlichen Selbsterzeugung entsprechend wird an der Grenze eine übergesellschaftliche, mann-männliche Gemeinschaft produziert, die ihr revolutionäres Selbstverständnis aus dem Aufbruch aus der ‚effiminierten‘ bürgerlichen Welt zieht.

V.

Symbolische Grenzziehung und territoriale Entgrenzungslust

Die Vorstellung der Grenze als äußerer Teil eines organischen Kollektivkörpers und das damit einhergehende anthropogeographische Grenzgefühl der Freikorpskämpfer haben aber nicht nur einen immunisierenden Reflex zur Folge. Wie die Haut des Einzelkörpers werden die Grenzen der Nation im Grenzkampf zugleich als unendlich dehnbar gedacht. Zwar ist die nationalsozialistische Idee des ‚Lebensraums‘, der zufolge die wachsende Bevölkerung nur durch Eroberungen und Expansionen überleben könne, im Roman nicht explizit anwesend, doch gilt die (Wieder-)Eroberung des östlichen Raums als die Voraussetzung für eine sogenannte „nationale Revolution“ (S. 135).34 So knüpft der Roman ungeachtet des verlorenen Weltkriegs an die faustische Logik der Vorkriegs- und Kriegszeit an. Die Selbstbehauptung, die „Erfüllung“ der Nation bedeutet letztlich nichts anderes als den „Sieg der Deutschheit über die Erde“ (S. 209), das Wunschbild einer grenzenlos gewordenen Welt, eines Imperiums sine fine. In dieser politisch fatalen Großmachtphantasie fungiert das Baltikum als das „östlichste Bollwerk deutschen Herrentumes“ (S. 54). Das Grenzverständnis in „Die Geächteten“ kennzeichnet sich also durch eine ambivalente Dynamik: Während zu schützende, mit Reinheit und Keuschheit verbundene, geschlechtlich codierte symbolische Grenzen nach innen errichtet werden, durchbrechen die Freikorpskämpfer die territorialen Grenzen selbst34 Die nationale Revolution stellt sich nicht einfach als die simple Negation der proletarischen Revolution dar, sondern als deren Überbietung. Diesen Überbietungsgestus kennzeichnet Richard Herzinger als die „ästhetische und politische Grundfigur“ der konservativen Revolution. Vgl. Herzinger, Richard: Die Überbietung als die ästhetische und politischen Grundfigur der „rechten Moderne“. In: Kunst – Macht – Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggressivität. Hrsg. Rolf von Grimminger. München: Wilhelm Fink 2000, S. 105–126.

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bewusst nach außen. Die oben formulierte Idee, dass territoriale Grenzen zu ihrer Legitimierung und Naturalisierung symbolischer Differenzkonstruktionen bedürfen, nimmt hier somit eine paradoxe Form an: Wie Claudia Bruns in Bezug auf den nationalsozialistischen Staatskörper hervorhebt, ist die symbolische Grenzziehung die Bedingung für eine radikale territoriale Flexibilisierung, und umgekehrt ruft diese territoriale Entgrenzungslust eine kompensatorische symbolische Grenzziehung im Innern hervor.35 Territoriale Expansion ohne die Gefahr nationaler Selbstauflösung scheint m.a.W. nur in einer klar abgesicherten, durch Differenz und Hierarchie strukturierten symbolischen Ordnung der Geschlechter möglich zu sein, was durch die geschlechterspezifische Vokabel „Herrentum“ einmal mehr verdeutlicht wird. Die anscheinend fixe Opposition zwischen fest und fließend, fixiert und gestaltlos, begrenzt und grenzenlos ist also selbst alles andere als fixiert und wird im Text ständig umgepolt. Symbolische und territoriale Grenzen stehen somit in einem äußerst engen, wechselseitig konstitutiven Spannungsverhältnis.

VI.

Terra nullius

Der Aufbruch ins Baltikum und nach Oberschlesien wird zudem als Generationenkonflikt inszeniert, der nicht nur mit der Idee einer Verjüngung, einer Re-Generation, sondern auch mit der einer Vermännlichung einhergeht: „Wir sagten ‚Nein‘ zum Reiche jener Tage, weil wir ein ‚Ja‘ zum kommenden schon auf der Zunge hatten. […] Mehr kann ein Mann nicht tun“ (S. 81). Als Vertreter des „ewige[n] Recht[s] der Jugend“, der „wache[n] Kraft der Jugend“ (S. 169f.) verkörpern die Freikorpskämpfer das regenerative Potenzial der Nation. Dabei spielt der Aufbruch in östliche Richtung eine wichtige Rolle: Sogenannte ‚konservativ-revolutionäre‘ Denker wie Arthur Moeller van den Bruck und Oswald Spengler beschrieben in ihren antiwestlich angelegten Schriften die Kräfte der östlichen Völker als jung und unverbraucht. Das symbolische ‚Nein‘ der Freikorpskämpfer drückt die Hoffnung aus, die immer wieder als ‚verkrustet‘ beschriebenen, sich an der wilhelminischen Vorkriegszeit orientierenden bürgerlich-patriarchalischen Strukturen der verhassten Weimarer Republik und deren ‚Erfüllungspolitik‘ endgültig sprengen zu können. Dieser symbolische Vatermord wird in den politischen Morden exponierter Personen dieser Demokratie, besonders im Mordanschlag auf den damaligen Außenminister Walther Rathenau konkret, dessen „Blut unversöhnlich trennen [soll – H.R.], was auf ewig getrennt werden muß“ (S. 216). 35 Bruns, Die Grenzen des ‚Volkskörpers‘. 2015, S. 183.

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Die emotionale Lücke, die durch diese Vaterdemontage entstand, füllen die Freikorpskämpfer auf einer abstrakten Ebene mit der Idee einer ‚neuen‘ Nation: „Wir konnten uns dem Vaterlande nicht verpflichtet fühlen, weil wir es nicht mehr achten zu können glaubten. Wir konnten das Vaterland nicht achten, weil wir die Nation liebten“ (S. 81). Auf einer konkreteren Ebene wird dieses Manko durch die männerbündische Struktur des Freikorps beseitigt: Durch die emotionale Hinwendung der Jugend zu sich selbst und zu nur wenig älteren Führern können sie diese stellvertretenden Väter nun wohl ‚achten‘: „Wir erkannten uns sofort, wir begrüßten uns, […] ohne voneinander zu wissen, ohne Marschbefehl und ohne ein bestimmteres Reiseziel, als einfach dies: Oberschlesien! Noch im Zuge, bildeten wir schon den Stamm einer Kompanie, ein Führer war nach wenigen Minuten des Gesprächs bald erkannt, sofort und selbstverständlich in seiner Autorität geachtet“ (S. 171). Bezeichnenderweise werden sowohl die Nation als auch das Freikorps als eine archaisch anmutende Abstammungsgemeinschaft dargestellt: Nicht die „Heiligkeit der Verträge“ (S. 169), sondern der „Anruf des Blutes“ (S. 77) treibt die Jugend zur Nation, während das Freikorps immer wieder als „Stamm der Frontsoldaten“ (S. 45) dargestellt wird, denn schon im Weltkrieg wurde „die Nation vom Vaterland [geschieden – H.R.]“ (S. 76). Die ideologische Lücke, die durch die symbolische Entthronung des Vaters entstand, wird hingegen ausdrücklich offengelassen: Im Gegensatz zu den „Parolen und Programmen“ (S. 77, 189) der Weimarer Regierung handeln die Freikorpskämpfer, so betont der Ich-Erzähler immer wieder, instinktiv, aber dennoch ‚entschlossen‘: „Was wir wollten, wußten wir nicht, und was wir wußten, wollten wir nicht. Krieg und Abenteuer, Aufruhr und Zerstörung und ein unbekannter, quälender, aus allen Winkeln unserer Herzen peitschender Drang! Aufstoßen ein Tor durch die umklammernde Mauer der Welt, […] siegen nach Osten […] – wollten wir das? Ich weiß nicht, ob wir es wollten, wir taten es. Und die Frage nach dem Warum verblaßte unter den Schatten immerwährender Gefechte.“ (S. 54f.)

Dabei wird jede ideologische oder moralische Richtschnur radikal durchtrennt: „[K]ein Symbol war uns gültig“ (S. 50). „Wir sahen rot, wir hatten nichts mehr von menschlichen Gefühlen im Herzen. […] Wir hatten einen Scheiterhaufen angezündet, da brannte mehr als totes Material, da brannten unsere Hoffnungen, unsere Sehnsüchte, da brannten die bürgerlichen Tafeln, die Gesetze und Werte der zivilisierten Welt, da brannte alles, was wir noch vom Wortschatz und vom Glauben an die Dinge und Ideen der Zeit, die uns entließ, wie verstaubtes Gerümpel mit uns geschleppt.“ (S. 104)

Was übrig bleibt, ist die Tat, um der Tat willen: „Nicht das war wichtig, daß was wir taten, sich als recht erwies, sondern daß in diesen ausgeschlossenen Tagen überhaupt gehandelt wurde“ (S. 77). Dabei ist dieser Tatendrang letztlich nichts

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anderes als der Wille zur totalen „Vernichtung“, „die erste Lust des Menschen“, die „nach ihren Rechten schrie“ (S. 55). So wird der Grenzraum im Roman zu einem quasi-gesetzlosen Gebiet, zur terra nullius, wo staatliche Gewalt nahezu abwesend ist. Dieses Land der Niemande ist aber nicht leer; als Schwellenlandschaft wird sie von Figuren des Dazwischen, von Außenseitern, Geächteten und Heimatlosen bevölkert.36 Friedrich Ratzel zufolge sind diese Grenzwesen allerdings keine bloßen Kriminellen. Bezug nehmend auf den Grenzkrieg zwischen dem Deutschen Orden und dem Großfürstentum Litauen zwischen 1303 und 1410 schreibt Ratzel diesen Figuren in seiner „Politischen Geographie“ vielmehr eine militärisch-politische Funktion zu.37 Mal im Sold des Ordens, mal auf eigene Rechnung führen sie einen Guerillakampf, einen paramilitärischen Partisanenkampf gegen die Litauer. Dabei entziehen sie sich jeder direkten politischen Zugehörigkeit. So werden im Raum des Partisanenkriegs die rein abstrakten, politisch-juridischen Grenzziehungen außer Kraft gesetzt.38 Auch im Roman kennzeichnen sich die geächteten Freikorpskämpfer durch wechselnde Loyalitäten; sie pendeln zwischen Angriff und Verteidigung und verzichten auf jede Form von Staatsangehörigkeit. Der Ich-Erzähler nennt sie selbstbewusst „Barbaren“ (S. 144), „Versprengte, Außgestoßne, heimatlose Geusen“ (S. 81). Genau wie die von Ratzel beschriebenen liminalen Figuren sind die Freikorpskämpfer aber nicht einfach nur Verbrecher, sondern erfüllen im Grenzkampf eine spezifische Funktion: Als „Statthalter für die noch ungeborene Nation“ (ebd.) ist es ihre Aufgabe, „den ersten Schritt zu tun, die Bresche zu schlagen. […] Unsere Aufgabe ist der Anstoß, nicht die Herrschaft“ (S. 216). Sie betrachten sich als Avantgarde in einer Zeit, die lediglich einen „Übergang“ (S. 61) darstellt. So hat die Grenze auch eine zeitliche Dimension; sie ist ein herausgehobener Raum zwischen „unwiederbringlich[er]“ (S. 37) Vergangenheit und unbestimmter Zukunft.

VII.

Grenzen des Sagbaren

Diese radikale Grenzziehung mit der bürgerlichen Welt und deren Paragraphenlogik bedeutet für den Schriftsteller Salomon aber auch eine fundamentale Aporie: Sie ruft die Frage auf, ob und wie es möglich ist, innerhalb sprachlicher Strukturen die Grenzen der Sprache zu überschreiten oder wenigstens aufzuweisen. Nicht nur betont der Ich-Erzähler, dass herkömmliche Leitvokabeln wie Volk, Vaterland, Heimat, Pflicht, Treue und Ehre nach dem verlorenen Krieg obsolet geworden sind, dass was sie „ausgesprochen hatten“, „ungültig“ (S. 27), 36 Kreienbrock, Von Linien, Säumen und Räumen. 2010, S. 45. 37 Ebd., S. 45. 38 Ebd., S. 47–48.

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„nicht echt“ (S. 29) mehr war. Auch Sprache an sich ist problematisch geworden. Die Frontsoldaten sowie die Freikorpskämpfer „tragen ein Wissen in sich, das sich sprachlicher Definition und Vermittlung entzieht“39, und nach dem sie wortlos handeln: „Das, was wir marktschreierisch in die Welt hinausprahlten, das hatte bei ihnen seinen geheimen Sinn erfahren, dem hatten sie gelebt, das hieß sie das zu tun, was wir wohlgefällig Pflicht nannten. […] Und niemals sprachen sie davon. Niemals glaubten sie an das Wort, sie glaubten an sich“ (ebd.). Eine Einszu-eins-Beziehung zwischen der intelligiblen Sphäre des Signifikats und sinnlichem Signifikanten kann es nach dem Weltkrieg nicht mehr geben. Die Krieger sind wie Eingeweihte in einer quasi-mystischen Gemeinschaft und stoßen immer wieder an die Grenzen des Sagbaren. Um diese Krise der Repräsentation aufzuzeigen, rekurriert Salomon auf die philosophische und literarische Tradition des Erhabenen. Als „Begriff der Krise“ ist das Erhabene immer auch ein Diskurs über Grenzen und deren Überschreitungen.40 Nicht nur strotzt der Text vor erhabenen Themen und Motiven wie heroischer Opfer- und Todesbereitschaft, rauschhaftem Kampferlebnis und überwältigenden Naturelementen wie Stürmen und Vulkanen; die grundsätzliche Un-Vorstellbarkeit dieser Erlebnisse für gewöhnliche Sterbliche wird zudem zu einer negativen Ästhetik des Unsagbaren und Unerträglichen umgeschrieben.41 Das Erhabene, so schreibt Jan Assmann, „ist das Unnennbare, Unaussprechliche, Sprach- und Begriffstranszendente.“42 Immer wieder werden die Erfahrungen der Freikorpskämpfer als „unsagbar“, als „unfassbar“ für die „unverstehenden Menschen“ (S. 229) beschrieben. So ist es nur folgerichtig, dass nicht einer der Papierfetzen, auf denen die Rathenau-Mörder Kern und Fischer ihre letzte Botschaft verzeichnet hatten und die sie mit Steinen beschwert vom Turm warfen, gefunden werden konnten, weil der Sturm zu heftig war. Demgegenüber kennzeichnet sich der Roman aber auch durch eine obsessive Beschreibungswut: So spickt der Autor seinen Text mit seitenlangen Beschreibungen der grässlichsten Brutalitäten und Verwundungen auf dem Kriegsschauplatz. Diese ästhetische Strategie scheint der immunisierenden Logik des rechtsradikalen männlichen Subjekts zu entsprechen. Wie der Verbrecher im

39 Herzinger, Ein extremistischer Zuschauer. 1998, S. 85. 40 Heininger, Jörg: Erhaben. In: Ästhetische Grundbegriffe 2. Hrsg. Karlheinz von Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/Burkhart Steinwachs/Friedrich Wolfzettel. Stuttgart: Metzler 2001, S. 275–338, hier: S. 276. 41 Vgl. Kohns, Oliver: An Aesthetics of the Unbearable. The Cult of Masculinity and the Sublime in Ernst Jünger’s „Der Kampf als inneres Erlebnis“ (Battle as an Inner Experience). In: Image [&] Narrative 14, 2013, H. 3, S. 141–150. 42 Assmann, Jan: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München: Hanser 1998, S. 192.

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Gefängnis schreibt, um seine Identität zu bewahren43, so versucht auch Salomon die Grenzen des Ich schriftlich nachzuzeichnen, ihnen sozusagen Kontur zu verleihen. Nicht nur das nationale und männliche Subjekt, sondern auch der Schreibmodus wird also letztendlich von der ambivalenten Dynamik von Entgrenzung und Grenzziehung, Grenzüberschreitung und Re-Stabilisierung gesteuert. Im Diskurs des Erhabenen werden die Grenzen des Sagbaren gesprengt, während sie anhand der zwanghaften Beschreibungswut wieder festgelegt werden.

43 Weigel, Sigrid: ‚Und selbst im Kerker frei…!‘ Schreiben im Gefängnis. Zu Theorie und Gattungsgeschichte der Gefängnisliteratur (1750–1933). Marburg/Lahn: Guttandin und Hoppe 1982, S. 8.

Britta C. Jung (Dublin)

Local Color Literature und Frontier Humor. Der Zerfall der ‚Germania Slavica‘ aus Sicht von Josef Holubs böhmischem Lausbuben

Die 1990er und 2000er Jahre standen im Zeichen eines grundlegenden ästhetischen und erinnerungskulturellen Wandels der zeitgeschichtlichen Jugendliteratur in Deutschland. Der Wandel der deutschen und europäischen Erinnerungskultur erlaubte es nun auch jenen Texten, die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus befassen, in eine jugendliterarische Moderne einzutreten. 1993 erschien denn auch der Auftakt zu Josef Holubs ‚Böhmischer Trilogie‘, „Der rote Nepomuk“. Ursprünglich in den 1950er Jahren verfasst, war Holubs Roman über den Zerfall der ‚Germania Slavica‘ erst jetzt als Text der Gattung Jugendliteratur erzählbar geworden. „Der rote Nepomuk“ steht spürbar in der Tradition von Mark Twains pikareskem Meisterwerk „The Adventures of Huckleberry Finn“ (1884) und weist wie sein literarisches Vorbild die zentralen Charakteristika der Local Color Fiction und des Frontier Humor auf. Erzählstrategien, die sich in den vorhergehenden Jahrzehnten nur schwer mit der eingeforderten ‚Gegenstandsangemessenheit‘ und prävalenten Erinnerungsdidaktik vereinbaren ließen. Im Anschluss an eine kurze Einführung in den Roman und die jugendliterarische Erinnerungskultur, wirft dieser Beitrag einen eingehenden Blick auf die Art und Weise wie Holubs „Roter Nepomuk“ die Germania Slavica des böhmischen Grenzlandes unter den Vorzeichen der amerikanischen Strömung der Local Color Fiction und des Frontier Humor als Raum kollektiver und individueller Liminalität verhandelt. The 1990s and 2000s saw a fundamental change in German youth literature dealing with the ‘Third Reich’, both in regard to aesthetic strategies as well as its place in collective memory. Changes in German and European memory culture allowed for modernist narratives in youth literature, even when the topic was National Socialism and the Holocaust. In 1993 Josef Holub published “Der rote Nepomuk” (The Red Nepomuk), the prelude to his semiautobiographical ‘Bohemian Trilogy’. Penned in the 1950s, it took Holub’s novel about the decline of the ‘Germania Slavica’ over forty years to be deemed acceptable for young readers. “Der rote Nepomuk” is rooted in the tradition of Mark Twain’s picaresque masterpiece “The Adventure of Huckleberry Finn” (1884) and employs – like its literary predecessor – the core principles of Local Color Fiction and Frontier Humor. Narrative strategies that can be hardly reconciled with the distinct notion of Gegenstandsangemessenheit (‘the appropriateness of content and form’) which had previously dominated German memory discourse, particularly in regard to the strong educational ethos of youth literature. Following a brief introduction of Holub’s “Der rote Nepomuk” and an overview

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Britta C. Jung

over the development of memory discourse in German youth literature, this contribution examines the way the novel negotiates the Germania Slavica of the Bohemian borderland by employing narrative strategies of American Local Color Fiction and Frontier Humor, focusing on Bohemia as a space of collective and individual liminality. „Böhmen ist ein schönes Land, mit vielen Städten und Flüssen und Bergen, und es wachsen Gurken, Paradeiser und wilde Stachelbeeren, und wenn es an der Zeit ist, riechen überall die Lindenbäume. Um Böhmen ist ein unsichtbarer Zaun gezogen, dass jeder weiß, wo es anfängt und wo es aufhört. Böhmen gehört den Tschechen, seit der Thomasch Garrigue Masaryk [Tomásˇ Garrigue Masaryk – B.J.] Präsident geworden ist. Vorher war es dem Kaiser Franz Josef sein Land, und der Kaiser war auch viel schöner als der Masaryk, sagt meine Großmutter. Und er wohnte nicht in Prag, sondern in Wien, im ersten Bezirk, sagt sie.“1

Mit diesen Worten beschreibt der zwölfjährige Ich-Erzähler in Josef Holubs 1993 erschienenem Jugendroman „Der rote Nepomuk“ die ländliche Idylle seiner böhmischen Heimat, die in den Einflusssphären der politischen Zentren Wien und Prag und – wie der Erzähler im Verlaufe der Handlung bezeugen wird – Berlin/München steht. Seit der Deutschen Ostsiedlung im Mittelalter prallen hier sprachliche, kulturelle und religiöse Traditionen auf- und ringen miteinander, befruchten sich gegenseitig und schaffen mit der so genannten ‚Germania Slavica‘2 eine einzigartige Wirtschafts- und Kulturlandschaft. Dass Holubs Debütroman und der Auftakt seiner autobiografisch gefärbten ‚Böhmischen Trilogie‘ zu Beginn der 1990er Jahre erschien, nimmt dabei kein Wunder. Zumal der Autor den Roman bereits in den 1950er Jahren verfasst hatte – einem Zeitpunkt also, als Europa durch den Eisernen Vorhang nicht nur territorial, sondern auch ideologisch gespalten und das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen im besten Sinne ‚nicht-existent‘ war.3 Die zeitliche Verzögerung begründet sich allerdings nicht nur (geo-)politisch, sondern – mit Blick auf die jugendliterarische Darstellung des ‚Dritten Reichs‘4 – auch erinnerungskulturell und literarästhetisch. Zum einen markieren die 1990er Jahre den Beginn eines grundlegenden Wandels der deutschen und europäischen Erinnerungskultur, in der nationale Täter- und Opfernarrative zusehends hinter1 Holub, Josef: Der rote Nepomuk. Mit einem Vorwort v. Peter Härtling. Weinheim/Basel: Gulliver 1997 [1993], S. 10 (Seitenangaben fortlaufend im Text). 2 Cfr. u. a. Lübke, Christian: Germania Slavica. Die Entstehung eines historiographischen Konzeptes in der deutschen Geschichtswissenschaft. In: The Reception of Medieval Europe in the Baltic Sea Region. Papers of the XIIth Visby Symposium Held at Gotland University. Hrsg. von Jörn Staecker. Visby: Gotland UP 2009, S. 381–396. 3 Payrhuber, Franz-Josef: Josef Holubs Kinder- und Jugendromane in der Sekundarstufe I. Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren 2006, S. 14. 4 Begriffe des nationalsozialistischen Jargons sind zu Distanzierungszwecken durchweg in einfache Anführungsstriche gesetzt.

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fragt werden und die Vergangenheit in eine zunehmend komplexer gedachten Lebenswirklichkeit eingebettet wird. Zum anderen hat sich mit den fortschreitenden Modernisierungsprozessen der Jugendliteratur, welche zunehmend die erzieherisch-antizipatorische Funktion zugunsten literarästhetischer Prinzipien zurücksetzen und diese in eine eigene, „dosierte Moderne“5 eintreten lassen, nunmehr ein narratologischer Rahmen eröffnet, in dem Holubs teils unbedarftnaiver, teils naseweiser Ich-Erzähler, der die Reflexion des Geschilderten weitgehend seinen Lesern überlässt, nicht nur erinnerungskulturell, sondern auch literarästhetisch überhaupt erst denkbar wird.6 Neben der Rückkehr der deutschen Bombenopfer, Flüchtlinge und Kriegsgefangene in den allgemeinen und jugendliterarischen Wahrnehmungshorizont7 ist dabei auch der Osten Europas wieder stärker ins Blickfeld gerückt. Mit seiner ereignisreichen Geschichte und seinen kontinuierlich wandernden Grenzen stellt er als multiethnische Kontaktzone wie kaum ein anderes Gebiet nationale Zugehörigkeiten und Rollenzuschreibungen in Frage und verhandelt diese im Kontext des unter der Parole ‚Heim ins Reich‘ eingeleiteten, nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungsprogrammes sowie der – der Niederlage Deutschlands folgenden – Flucht- und Vertreibungswellen der deutschsprachigen Bevölkerung aus den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Grenze neu. In jugendliterarischen Texten jüngeren Datums fungiert der ‚deutsche Osten‘ dabei teils als vager imaginativer Raum jenseits des ‚germanischen Stammlandes‘, teils als spezifischer geografischer und soziokultureller Lebensraum und teils – mit Blick auf die Thematisierung von Verfolgung, Flucht und Vertrei5 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen konzeptorientierten Unterricht, Berlin: Cornelsen, 1999, S. 6; sowie Gansel, Carsten: Pluralität und Grenzüberschreitung oder Von der (neuen) Lust am Erzählen in Kinder- und Jugendliteratur und Allgemeinliteratur. Anmerkungen zu Stand und Perspektiven. In: Kinder- und Jugendliteratur. Lesen – Verstehen – Vermitteln. Hrsg. von Gabriele Cromme/Günter Lange. Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren, 2001, S. 317–329, hier S. 320. 6 Cfr. Jung, Britta C.: Komplexe Lebenswelten – multidirektionale Erinnerungsdiskurse. Jugendliteratur zum Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg und Holocaust Im Spiegel des postmemorialen Wandels. Göttingen: V&R unipress 2018, S. 116ff.; Jung, Britta C.: Erinnerungskulturelle und jugendliterarische Modernisierungsprozesse. Die deutsche Jugendliteratur und das ‚Dritte Reich’ im Zeichen des postmemorialen Wandels. In: Germanistik in Ireland. Jahrbuch der German Studies Association of Ireland. Bd. 12. Hrsg. von Christiane Schönfeld/ Gillian Pye. Konstanz: Hartung-Gorre Verl. 2017, S. 67–84, hier S. 72ff.; sowie Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur 1999; Gansel, Pluralität und Grenzüberschreitung 2001; sowie Kümmerling-Meibauer, Bettina: Kinderliteratur, Kanonbildung und literarische Wertung. Stuttgart: Metzler 2003, S. 38. 7 Cfr. u. a. Niven, Bill: The Globalisation of Memory and the Rediscovery of German Suffering. In: German Literature in the Age of Globalisation. Hrsg. von Stuart Taberner. Birmingham: Birmingham UP 2004, S. 229–246; Niven, Bill: Germans as Victims. Remembering the Past in Contemporary Germany. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2006; sowie Jung, Komplexe Lebenswelten. 2015, S. 151f., 214ff.

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bung – als (sozial-)darwinistischer Überlebensraum. Nicht selten offenbart sich der Osten in diesem Zusammenhang als ein liminaler Raum, in dem bestehende Strukturen und Hierarchien implodieren und der Weg zu individuellem und kollektiven Wandel geebnet wird.8 Ziel des folgenden Beitrages ist es einen eingehenderen Blick auf den eingangs erwähnten Jugendroman Holubs, „Der rote Nepomuk“, zu werfen und zu untersuchen, wie die böhmische Germania Slavica darin sowohl in erinnerungskultureller als auch literarästhetischer Hinsicht verhandelt wird. Im Mittelpunkt soll dabei die Erfahrung Böhmens als Raum kollektiver und individueller Liminalität stehen.

I.

Der Zerfall der Germania Slavica á la Mark Twain

Holubs Debütroman spielt in der Zeit als sich die Erste Tschechoslowakische Republik (1918–1938) aufgrund der Sudetenkrise und des im September 1938 unterzeichneten ‚Münchner Abkommens‘ ihrem Ende zuneigt und sich die Grenzen des europäischen Ostens erneut verschieben. Schauplatz der Handlung ist der fiktionalisierte Geburtsort des Autors, Neuern (Nýrsko), sowie die nähere Umgebung, einschließlich des nahegelegenen Dorfes Putzeried (Pocinovice). Die erzählte Zeit erstreckt sich vom Frühjahr bis zum Spätherbst 1938, wobei sich der drohende Einmarsch Hitlers zunächst nur durch kleine, aber markante Veränderungen im kleinstädtischen Alltag Neuerns andeutet, dann aber immer offener in der sich stets weiter aufladenden Stimmung zutage tritt. Erster Brennpunkt des aus dem Gleichgewicht geratenen, bisher weitgehend friedlichen Verhältnisses zwischen Deutschen9 und Tschechen ist das durch tschechische Nationalisten auf der örtlichen Brücke aufgestellte, nach Chudiwa (Chudenín) und damit Richtung Bayern gerichtete Maschinengewehr. Die Männer, so ereifert sich der junge Erzähler, „dürfen auf der Brücke nicht mehr stehen bleiben. Das ist streng verboten und eine Gemeinheit, denn sie lehnen dort schon seit hundert Jahren oder mehr am Geländer“ – und reden dort „über alles, was es in der Stadt und der übrigen Welt Neues gibt“ (S. 11f.). Statt einträchtig sinnierender Männer ist die Stadt nun gespalten, zwischen Tschechen und Deutschen und – seit dem Aufkommen und Erstarken der Sudetendeutschen 8 Cfr. Thomassen, Bjørn: Liminality and the Modern. Living Through the In-Between. Farnham/ Burlington: Ashgate 2014, S. 1. 9 Der Terminologie von Holubs „Roter Nepomuk“ entsprechend wird an den Stellen, die sich explizit auf den Roman und dessen Inhalt beziehen, der Begriff ‚Deutscher/Deutsche‘ anstelle von ‚Sudentendeutscher/Sudetendeutsche‘ verwendet, gleichwohl es – wie auch der Erzähler nach Einmarsch der deutschen Truppen erfährt – durchaus Unterschiede zu den ‚Deutschen‘ aus dem ‚Altreich‘ gibt. Der Begriff ‚Böhmisch‘ steht in Holubs Roman indes synonym für ‚Tschechisch‘.

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Partei – zwischen Deutschnationalen und Sozialdemokraten/Sozialisten (cfr. u. a. S. 12, 84). Als das Maschinengewehr am helllichten Tage gestohlen wird, treten die Ressentiments der einzelnen Gruppen gegenüber den jeweils anderen immer offener zutage und entladen sich in zunehmend aggressiver Weise; und derweil der Dechant von der Kanzel aus vergeblich zur Versöhnung aufruft, verfällt der örtliche Ordnungshüter Pleskatschek aufgrund möglicher politischer Implikationen und Konsequenzen, die weit über die Stadtgrenze Neuerns hinausreichen, in machtlose Untätigkeit (S. 85f.). Den Höhe- und vorläufigen Schlusspunkt des Konflikts bildet der Einmarsch von Hitlers Truppen Anfang Oktober 1938, im Zuge dessen sich nunmehr auch die letzten ‚Sozis‘ dem Rausch und der zur Schau gestellten, nationalistischen Grandeur hingeben. „Die ganze Stadt brüllt, ob sie will oder nicht,“ resümiert der Erzähler, der sich ebenso wenig wie die übrigen Einwohner der Wirkmacht des Spektakels erwehren kann (S. 177). Die Tschechen bzw. die dort zwischenzeitlich stationierten tschechoslowakischen Soldaten sind zuvor „ganz schnell und mit allem, was sie haben“ aus der Stadt abgezogen; gleiches gilt für die drei stadtbekannten Kommunisten und die jüdischen Einwohner (S. 169, 172). Mit dem Abzug der Tschechen findet die böhmische Germania Slavica in ihrer traditionellen Form ihr Ende, zumal das NS-Regime sogleich beginnt, sowohl der neuen Grenze mit Waffengewalt Nachdruck zu verleihen als auch die historischen Spuren des deutsch-tschechischen Kulturkontaktes auszulöschen. Selbst die Geschichte fällt dem neuen Regime zum Opfer und wird Ideologie-konform neugeschrieben: „In den neuen Schulbüchern steht nichts mehr über die Libuscha [Libusˇe – B.J.] und den Prschemysl Ottokar [Ottokar II. Prˇemysl – B.J.] und dass man in Prag die Männer zum Fenster hinausgeworfen hat, und unten war ein Misthaufen. In ein paar Jahren wird niemand mehr wissen, wo es die Tatra gibt und dass der Jan Hus in Prachatitz [Prachatice – B.J.] in die Lateinschule gegangen ist. Das ist schade und auch die alten Germanen sind nicht mehr das, was sie einmal in den böhmischen Schulbüchern waren. […] Und wahrscheinlich gibt es den einäugigen Schischka von Trotznow [Jan Zˇizˇka von Trocnov – B.J.] deswegen nicht mehr, weil er den deutschen Sigismund samt einem großen Haufen Landsknechte verhaut hat.“ (182f.)

Im Lichte dieser Neuordnung müssen einige, die „am ersten Tag Heil geschrien haben“ und den Einmarsch der deutschen Truppen bejubelten, feststellen, dass auch sie aus Sicht der aus dem ‚Altreich‘ stammenden Deutschen nicht Teil des nationalsozialistischen ‚Volkskörpers‘ sind. Schweigend sehen die restlichen Einwohner der Kleinstadt zu, wie die ‚Artfremden‘ und ‚Unerwünschten‘ von „Männern in Ledermänteln“ weggebracht werden oder wie diese – um der drohenden Deportation zuvorzukommen – Selbstmord begehen (S. 179f.). Der sukzessive Zerfall dieses alten, deutsch-tschechischen Böhmens gewinnt mit dem um 1350 bei Pilsen (Plzenˇ) geborenen und gleichermaßen in Böhmen,

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Bayern und Österreich verehrten Brückenheiligen Johannes Nepomuk auch eine körperlich-symbolische Dimension, die den Roman auch eröffnet. So heißt es bereits im einleitenden Satz: „Fast in der ganzen Welt ist es bekannt, in Böhmen steht auf jeder Bruck ein Nepomuk“ (S. 10). Dies gilt auch für Neuern und seine Umgebung, wobei der schönste, so der Erzähler, mitten in der Stadt auf der Karwanbrücke stehe und seit mehr als hundert Jahren das geschäftige Treiben zwischen Tschechen und Deutschen im gegenübergelegenen Wirtshaus beobachte. Brücke und heiliger Nepomuk beschwören hierbei nicht nur die Vorstellung des ‚Verbindenden‘ und des ‚Brückenschlagens‘ innerhalb der Germania Slavica herauf,10 vielmehr kommt dem Heiligen als (hilflosem) Helfer der schuldlos Verdächtigten angesichts des eskalierenden Zwists und gegenseitigen Misstrauens im Verlauf des Romans noch eine weitere wichtige Symbolfunktion zu. Der leitmotivische Sturz des titelgebenden, flachen Blech-Nepomuks, der vom schiefen Steg nach Hadruwa (Hadrava) entwendet und von Mitgliedern der Sudetendeutschen Partei, in Anlehnung an Parteigründer Konrad Henlein (1898– 1945) schlicht ‚Henlein‘ genannt, zu Schießübungen missbraucht wird, spiegelt das aus dem Gleichgewicht und durch nationalistische Aggressoren unter Feuer geratene Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen wider. Obwohl es dem Erzähler und seinem tschechischen Freund Jirschi (Jirˇí) gelingt, diesen Nepomuk zunächst zu retten und notdürftig zu restaurieren, kann die Zeit nicht zurückgedreht und das beschädigte Verhältnis nicht wiederhergestellt werden. Der Brückenheilige landet beim Altmetallhändler, von wo er zum Einschmelzen ins ‚Altreich‘ geschickt wird (S. 187f.). Geschildert wird der Zerfall der Germania Slavica aus der Sicht des zwölfjährigen Ich-Erzählers, Josef Böhm, wobei nicht nur dessen Persönlichkeit an Mark Twains Lausbuben Tom Sawyer und Huckleberry Finn erinnert. Vielmehr ist er Bestandteil eines literarästhetischen Gesamtkonzeptes, das thematisch und narratologisch spürbar in der Tradition von Twains pikareskem Meisterwerk „The Adventures of Huckleberry Finn“ (1884) steht.11 Zwar verdankt sich die Erzählperspektive einerseits der intendierten Leserschaft des Romans und der anhaltenden Popularität von Twain unter Jugendlichen, doch erlaubt andererseits gerade der kindliche Blick auf die soziopolitischen Ereignisse und die lebhafte Umgangssprache und Mundart des Ich-Erzählers eine erzählerische Naivität und Leichtigkeit, die die Scheinheiligkeit der Erwachsenenwelt gnadenlos offenlegt: politische Überzeugungen und Gruppenzugehörigkeiten werden über Nacht gewechselt, stadtbekannte Taugenichtse werden plötzlich zu Anführern und als Helden verehrt und angesehene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie der Fachlehrer Großkopf schleichen nachts umher und sind in zweifelhafte 10 Cfr. Payrhuber, Josef Holubs Kinder- und Jugendromane. 2006, S. 26. 11 Twain, Mark: The Adventures of Huckleberry Finn. London: Chatto & Windus 1884.

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Machenschaften wie den Diebstahl des Maschinengewehrs und der titelgebenden Statue des Brückenheiligen verwickelt, um dann – wie der Erzähler erstaunt vermerkt – am Sonntag „wieder ganz vornehm in der Kirche“ zu sitzen und zu tun, „als ob er es nicht gewesen wäre“ (S. 111). Ähnlich wie „Huckleberry Finn“ dreht sich auch Holubs „Roter Nepomuk“ um Fragen von ‚Rasse‘ bzw. ‚Ethnie‘ und ‚Identität‘ und verknüpft deren Reflexion mit den unbekümmerten Abenteuern des Erzählers. So begegnet Josef beispielsweise der Vermutung sein Schulfreund Lutsch Charwat stamme aufgrund seines ‚dunklen‘ Typs „von Zigeunern“ ab mit kindlicher Akzeptanz, um dann in aller Nonchalance nachzuschieben, dass es schade sei, dass dieser nicht ebenso ‚nordisch-hässlich‘ ist wie der frisch aus dem ‚Altreich‘ eingetroffene Fachlehrer Friedrich und dass der „Führer“ es doch viel einfacherer habe, da er kein unbedeutender Niemand, sondern „der Höchste in ganz Deutschland“ sei (S. 184). Bei alledem ist Josef ein ebenso unzuverlässiger Erzähler wie sein literarischer Vorgänger und ein Gefangener seiner eigenen Vorurteile. Dies wird auch auf semantischer Ebene sichtbar, wenn er trotz der aufblühenden Freundschaft zu Jirschi diesen und andere Tschechen beiläufig immer wieder mit dem abfälligen Begriff ‚Böhmacken‘ bedenkt. Nicht zuletzt aus diesem Grund haben Holubs Roman und seine beiden Nachfolgebände – trotz diverser jugendliterarischer Preise und Auszeichnung – auch negative Stimmen hervorgebracht und spiegeln auch in diesem Sinne Twains „Huckleberry Finn“, dessen freizügige Verwendung von Ethnophaulismen in den letzten Jahrzehnten ebenfalls zunehmend auf Ablehnung stößt. Als schärfster Kritiker der holubschen Trilogie ist der deutschböhmische Journalist Kurt Nelhiebel/Conrad Taler zu nennen, der sich nicht nur gegen die leichtfertige Verwendung ebenjener Ethnophaulismen, sondern – mit Blick auf den jugendliterarischen ‚Bildungsauftrag‘ – auch gegen das einseitige „Geschichtsbild sudetendeutscher Volkstumskämpfer“ insgesamt verwehrt.12 In Verbindung mit der Landschafts- und Figurengestaltung tragen Umgangssprache und dialektale Begrifflichkeiten dazu bei, das Böhmen der späten 1930er Jahre literarästhetisch auszugestalten und rücken Holubs „Roten Nepomuk“ mithin in die Nähe ebenjener amerikanischen Local Color Literature, der auch Twains Werke zugerechnet werden. Charakteristisch für Texte dieser Couleur ist unter anderem, die Betonung der Natur, die – wie Donna M. 12 Cfr. u. a. Taler, Conrad: Holubs Welt. Über Böhmacken, Sozis und den bösen Herrn Masaryk. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 6, 2004, S. 752–758. Talers Kritik ist im Spannungsfeld systemtheoretischer Überlegungen zur Jugendliteratur im Allgemeinen und erinnerungskultureller und jugendliterarischer Modernisierungsprozesse der zeitgeschichtlichen Jugendliteratur im Besonderen keineswegs neu und knüpft im Wesentlichen an eine ältere Vorstellung darüber an, was Jugendliteratur über das ‚Dritte Reich‘ leisten soll und kann. Jung, Modernisierungsprozesse. 2017, S. 71f.; cfr. u. a. auch Gansel, Moderne kinderund Jugendliteratur. 1999, S. 6; Gansel, Pluralität und Grenzüberschreitung. 2001, S. 319.

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Campbell konstatiert – häufig abgelegen bzw. unzugänglich erscheine und zentral für die Geschichte sei. Zudem teilen, so Campbell weiter, viele Texte eine gewisse Antipathie gegenüber Veränderungen und zeichnen sich durch eine nostalgische Grundstimmung aus; etwaige Spannungen und Konflikte werden dabei von außen, oftmals einem städtischen Außen, herangetragen.13 Dies ist auch der Fall in Holubs Jugendroman. So ist nicht nur die periphere Lage der idyllisch gezeichneten, böhmischen (Kultur-)Landschaft fernab der städtischen Machtzentren Prag, Wien und Berlin/München von zentraler Bedeutung für die Stimmung und Handlung des Romans, sondern auch das Motiv vom Verlust des ‚Paradieses‘, welches an späterer Stelle noch weiter ausgeführt wird. Neben der Local Color Literature knüpft Holub mit dem so genannten Frontier Humor an eine weitere literarische Strömung an, die maßgeblich für Twains Werk und dessen bis heute anhaltende Popularität ist. Die Schilderungen des Erzählers sind durchdrungen von abenteuerlichen Geschichten, Ausschmückungen und Stereotypen. So versetzen beispielsweise der Erzähler und Jirschi – in der aufgeheizten Atmosphäre – mit einigen Knallkörpern die ganze Stadt in Aufruhr, inklusive der nunmehr aus Prag entsandten tschechischen Soldaten. Der Kriegsausbruch werde, so Josef, nur „noch einmal hinausgeschoben“, weil man „vor dem Heldentod noch in Ruhe zu Hause sein Beuschel essen [will], oder die Sauermilchsuppe“ (S. 156). Den Übertreibungen zum Trotz gelingt es Texten aus der Subgattung des Frontier Humor dennoch, ein zutreffendes Bild der sozialen und kulturellen Lebenswelt zu zeichnen.14 Als Literatur der Grenze bzw. des Grenzgebietes thematisieren sie dabei nicht selten ein Aufbegehren gegen Autoritätsfiguren und Repräsentanten ferner politischer Zentren, wobei die lokale Bevölkerung in ihrem Grenzalltag kulturelle und ethnisch-rassische Barrieren überwinden kann und teilweise muss15 – sei dies im amerikanischen Süd-Südwesten Twains oder, wie sich noch zeigen wird, im europäischen Osten Holubs.

13 Cfr. Campbell, Donna M.: Regionalism and Local Color Fiction, 1865–1895. (Zugriff am 16. 11. 2017). 14 Justus, James H.: Fetching the Old Southwest. Humorous Writing from Longstreet to Twain. Columbia: University of Missouri Press 2004, S. 3. 15 Cfr. u. a. Piacentino, Ed (Hrsg.): Southern Frontier Humor. New Approaches. Jackson: University Press of Mississippi 2013.

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II.

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Zwischen ‚fremden‘ Aggressoren: Von Kontaktzone zur Konfliktzone

In „Ethnic Bargaining“ (2007) illustriert Erin K. Jennes eindrücklich, dass der historische Zerfall des Verhältnisses zwischen Sudetendeutschen und Tschechen auf ein Zusammenspiel zweier wesentlicher Faktoren zurückzuführen war: Signale nationalistischer Absichten seitens der ‚eigenen‘ Prager Regierung und der erfolgreichen Lobbyarbeit eines ‚fremden‘ Aggressors, in diesem Falle Berlins.16 In der von Holub beschriebenen Grenzwelt erscheint jedoch nicht nur Berlin bzw. München, sondern ausdrücklich auch Prag als fremdes, destabilisierendes ‚Außen‘, das in den beschaulichen Alltag Neuerns eingreift und das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen aus dem Gleichgewicht bringt. Holubs „Roter Nepomuk“ greift damit gedanklich – und der Tradition der Local Color Literature und des Frontier Humor entsprechend – Jurij Lotman auf, der die semiotische Einigkeit von Zentrum und Peripherie/Grenzgebiet als eine bloße Illusion ausweist und die Grenze stattdessen als einen Raum beschreibt, in dem der regulierende Einfluss des Zentrums sinkt und der Unterschied zwischen den lokalen Gegebenheiten und den Standards und Normen des Zentrums besonders markant ist.17 Auf den ersten Blick präsentiert sich Neuern – ganz im Sinne der von Campbell mit Blick auf die Local Color Literature beschriebenen nostalgischen Grundstimmung – als Inbegriff einer scheinbar längst vergangenen, ländlichkleinstädtischen Idylle, wie sie auch die Städte entlang des Mississippi in Twains „Huckleberry Finn“ auszeichnet.18 Eine Welt, in der der osterliche Jahrmarkt und die alljährliche Fahnenweihe die Höhepunkte des sozialen Lebens sind, in der Aberglaube und christliche Frömmigkeit Hand in Hand gehen und Lausbuben wie der Erzähler nichts mehr fürchten wie die mütterliche Kernseife und Wurzelbürste und die sonntägliche Beichte. Hieran haben auch der Aufstieg und Fall verschiedener Dynastien in den diversen mittel- und osteuropäischen Machtzentren nichts ändern können. Im Gegenteil, die deutsche Mehrheit Neuerns und die tschechischen und jüdischen Minderheiten haben in ihren Traditionen und Gebräuchen weitgehend friedlich koexistiert und eine gemeinsame Lebenswelt erschaffen, die sich insbesondere auch in den sprachlichen und kulinarischen Eigenheiten der Region widerspiegelt. 16 Jenne, Erin K.: Ethnic Bargaining. The Paradox of Minority Empowerment. Ithaca/London: Cornell UP 2007, S. 54–90. 17 Cfr. Lotman, Yuri M.: Universe of the Mind. A Semiotic Theory of Culture. London/New York: I.B. Tauris Publishers 2001, 134. 18 So imaginiert Twain in „Tom Sawyer“ (1876) und „Huckleberry Finn“ (1884) mit dem ‚Old Southwest‘ eine Kulturlandschaft, die dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) vorgelagert ist und zum Zeitpunkt der Publikation der Werke in dieser Form nicht mehr bestand.

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Mit seiner so genannten ‚Tschechisierungspolitik‘19 hat das ferne Prag jedoch unlängst begonnen, in den friedlichen Alltag im böhmischen Grenzland einzudringen. Derweil die Kinder jetzt „nicht mehr Woistmeinheimmeinvaterland, sondern Kdedomovmuj [Kde domov mu˚j – B.J.]“ singen müssen, werden Hakenkreuzfahnen und Radios konsequent durch die jüngst aus Prag entsandten Soldaten beschlagnahmt und deren Besitzer verhaftet (S. 12, 24, 36f., 64).20 Die aggressive Sprachpolitik und der Eingriff ins politische Leben, hat spürbare Folgen im neuernschen Alltag und schürt unter den deutschen Einwohnern nicht nur Ressentiments gegenüber der tschechoslowakischen Regierung, sondern auch gegenüber den unmittelbaren, tschechischen Nachbarn. In diesem Sinne resümiert der Erzähler denn auch: „Die Stadt wartet auf den Hitler […]. Das kommt davon, weil der Masaryk [Tomásˇ Garrigue Masaryk – B.J.] die Deutschen in Böhmen überhaupt nicht mögen hat. Er und der Benesch [Edvard Benesˇ – B.J.] haben sich gesagt, aus denen machen wir ganz schnell Tschechen. So ist auf den Behörden nur noch Böhmisch [Tschechisch – B.J.] geredet worden, und wer dort etwas wollen hat wollen, der hat es auf Böhmisch sagen müssen. Sonst hat ihn niemand verstanden, sagt man. Dann haben sich der Masaryk und der Benesch gesagt, es ist das Beste, wenn die deutschen Kinder in der Schule gar nicht mehr Deutsch lernen. Aber das ist so leicht nicht gegangen. Da haben die beiden eine böhmische Schule in die Stadt gebaut. Die ist viel größer, schöner und moderner als die alte deutsche Schule und sie hat mehr Lehrer als Schüler, sagt man. Jeden Tag holt man mit einem Eisenbahnzug böhmische Kinder, dass die Schule nicht leer ist. Und zu den deutschen Kindern sagt man, wer in die böhmische Schule geht, braucht überhaupt nichts zahlen. Nichts kostet was, nicht die Bücher, das Schreibzeug, die Turnkleidung, und obendrein kriegt jeder zu Weihnachten noch einen Anzug und Bataschuhe und allerhand anderes, sagt man.“ (S. 169)

Das wiederholte ‚sagt man‘ unterstreicht dabei nicht nur, die kindliche Bereitwilligkeit des Erzählers das Gerede Erwachsener für bare Münze zu nehmen; es zeigt auch, wie aus der Wahrnehmung struktureller Benachteiligung ein allgemeines Gefühl sozialer Diskriminierung erwächst, welches dann in Form von Hörensagen oftmals konkret-benennbarer Beispiele entbehrt und/oder aufgebauscht wird. ˇ SR seien der 19 Zur Problematik des Begriffs und des Vorwurfs, „die Deutschen in der C ‚durchgängigen brutalen Unterdrückung‘ seitens eines rabiaten tschechischen Chauvinismus ausgesetzt gewesen“ sei hiermit auf die Studien Jaroslav Kucˇeras und Christoph Boyers aus einem Forschungsprojektes des Institutes für Zeitgeschichte verwiesen. Cfr. Kucˇera, Jaroslav: Minderheit im Nationalstaat. Die Sprachenfrage in den tschechisch-deutschen Beziehungen 1918–1938. München: Oldenbourg, 1999; sowie Boyer, Christoph: Nationale Kontrahenten oder Partner? Studien zu den Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen in der ˇ SR (1918–1938). München: Oldenbourg 1999. Wirtschaft der C 20 Das der Gründung der Sudetendeutschen Partei Henleins vorausgegangene Verbot der Deutschen Nationalpartei und der Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei wird nicht eigens thematisiert.

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Mit der Nennung Hitlers verweist das Zitat zudem auf den zweiten äußeren, destabilisierenden Einflussfaktor und identifiziert diesen als Hoffnungsträger und Erlöser jener Deutschen, die sich durch die Politik Prags benachteiligt bzw. unterdrückt fühlen. Im Verlauf des Romans thematisiert der Erzähler mithilfe der ‚Henlein‘ immer wieder die erfolgreiche Lobbyarbeit Hitlers („[d]em Hitler seine Henlein“, S. 37) und zeigt wie sich – teils aus eigenem Antrieb, teils unter sozialem Druck – die Loyalitäten der übrigen Einwohner Neuerns sukzessive beginnen zu verschieben. Vom ‚Verrat‘ seiner politischen Weggefährten völlig desillusioniert und auf der Arbeit strafversetzt, beugt sich schließlich sogar der standhaft sozialistische Vater des Erzählers dem Druck (S. 51ff.). Auch die moderne Technik treibt die Lobbyarbeit voran und bekräftigt das Gefühl struktureller Benachteiligung. Per Radiowelle dringt Hitler bereits vor dem ‚Münchner Abkommen‘ über die Staatsgrenze in die heimischen vier Wände der deutschen Einwohner Neuerns vor. Dieses destabilisierenden Einflusses ist sich auch Prag nur allzu bewusst, weswegen der Besitz von Radioempfängern seitens der Regierung unter Strafe gestellt wird. Als weiterer Nährboden – und in Voraussicht auf den Nachfolgeband „Lausige Zeiten“ (1997)21 ein Indoktrinationsinstrumentarium par excellence – offenbart sich die örtliche Schule, wobei der institutionelle, regulierende Bezug zum (tschechoslowakischen) Staat zunehmend entfällt: „Kaum jemand passt auf, wenn er [Fachlehrer Großkopf – B.J.] den Prschemysl Ottokar und die weibliche Libuscha falsch in die Geschichte einordnet, dass sie zu Räubern werden. Vor einem halben Jahr war es noch anders, da gehörten sie neben Jan Hus, Thomas Garrigue Masaryk und Eduard Benesch zu den wichtigsten Menschen. Wahrscheinlich will es der Hitler in Deutschland so, dass der Prschemysl Ottokar ein Räuber war. Daraus lässt sich ableiten, dass der Herr Fachlehrer Großkopf nicht mehr auf den Eduard Benesch, sondern auf den Hitler hört.“ (S. 35f.)

Der geschichtsrevisionistische Einfluss Großkopfs, einer der glühendsten Anhänger Hitlers und der Sudetendeutschen Partei, beschränkt sich dabei keineswegs auf das Klassenzimmer, denn im Spiegel der bürgerlichen Bildungsbegeisterung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nimmt Großkopf eine besondere Stellung innerhalb des sozialen Gefüges des kleinstädtischen Neuerns ein.22 Als Teil der 21 Holub, Josef: Lausige Zeiten. Weinheim: Beltz & Gelberg 1997. 22 Cfr. u. a. Führ, Christoph: Gelehrter Schulmann – Oberlehrer – Studienrat. Zum sozialen Aufstieg der Philologen. In: Bildungssystem und Professionalisierung im internationalen Vergleich. Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1. Hrsg. von Werner Conze/Jürgen Kocka. Stuttgart: Klett-Cotta 1985, S. 417–457; Nóvoa, António: The Teaching Profession in Europe. Historical and Sociological Analysis. In: Problems and Prospects in European Education. Hrsg. von Elizabeth Sherman Swing/Jürgen Schriewer/François Orivel. Westport: Proege Publishers 2000, S. 45–71, hier S. 49ff.; sowie Geuder-Hanslik, Felicia: „Die Männer der Ordnung und des festen Befehls“. Die Figur des Lehrers in Heinrich Manns

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‚Hotwolee‘ (Hautevolee) steht er über dem „gewöhnliche[n] Volk“, ist allseits hochgeachtet und innerhalb der Gemeinschaft bestens vernetzt (cfr. S. 111f.). Dass mit Großkopf gerade einem Lehrer eine zentrale Rolle in Holubs Darstellung des sozio-politischen Umbruchs im böhmischen Grenzland zukommt, erklärt sich nicht zuletzt vor der Folie der literarischen Lehrerfigur, die, so Felicia GeuderHanslik im Rückgriff auf den Literaturkritiker Ulrich Rüdenauer, in literarästhetischer Hinsicht oftmals das „erst[e] Opfer gesellschaftlicher Umbrüche“ und somit ein „Seismograph der Gesellschaft“ sei.23 Im vorliegenden Fall wird Großkopf dabei nicht nur zum sprichwörtlichen, sondern zum wortwörtlichen Opfer, wenn er in seinem Bestreben um die deutschnationale Bewegung schließlich sogar sein Leben verliert und seine Leiche bis zur Unkenntlichkeit verbrennt. Mit dem versehentlichen Unfalltod endet jedoch keineswegs Großkopfs umbrüchlerische Wirkmacht in Neuern. So wird der Tod des angesehenen Lehrers von den ‚Henlein‘ bald – auf Anregung eines geheimnisvollen „Fremden“, zweifelsohne von Berlin/ München entsandt – propagandistisch ausgenutzt, um die Deutschen im Grenzland zu mobilisieren und ein Eingreifen Hitlers zu rechtfertigen (S. 162ff.). Heizt sich die Stimmung durch den Einfluss von außen und Sprachrohren der deutschnationalen Bewegung wie Großkopf stetig weiter auf, wirkt er sich auf die örtliche Ordnungsmacht in Gestalt des Gendarm Pleskatschek geradezu lähmend aus wie die Szene im Wirtshaus eindrücklich vor Augen führt. Konfrontiert mit einer Gruppe betrunkener, randalierender ‚Henlein‘, tritt Pleskatschek wortlos den Rückzug an und überlässt den verzweifelten Wirt seinem Los. Pointiert legt der Erzähler das Dilemma des Ordnungshüters dar: „Ich denke, der Gendarm hat es nicht leicht. […] Geht der Pleskatschek hinein, wird er womöglich verhauen. Das darf er sich nicht gefallen lassen, weil er der Staat ist. Also muss er schießen und vielleicht ist dann einer tot und das ist nicht gut für ihn und die ganze Tschechei. Der Hitler hört das gleich am anderen Tag […] und er sagt, die Tschechen bringen meine Henlein um, und die ganze Welt glaubt ihm und nicht dem Pleskatschek.“ (S. 85f.)

Nur kurze Zeit später wiederholt sich die Szene, nunmehr jedoch aufgrund der mangelnden Aggression noch stärker im Kontext des Frontier Humor zu sehenden unbekümmert-humoristischen Art, Zentrum und Grenzland gegeneinander auszuspielen und die Autorität des Staates zu untergraben, wenn kindliche Unschuld und Neugier die Macht des tschechoslowakischen Militärs unterminieren und eher ein symbolischer als ein materieller Schaden entsteht. Hilflos „Professor Unrat“ und Jurek Beckers „Schlaflose Tage“. Bamberg: University of Bamberg Press 2015. 23 Geuder-Hanslik, Männer der Ordnung. 2015, S. 14ff.; cfr. auch Rüdenauer, Ulrich: Lehrer am Rande des Nervenzusammenbruchs. In: zeit online, 25. 04. 2012. (Zugriff am 29. 11. 2017).

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muss ein tschechischer Panzerfahrer mit ansehen, wie eine Horde örtlicher Lausbuben seinem Panzer, einem „etwas schief geratene[n] Blechkasten auf vier Rädern“ wie der Erzähler enttäuscht feststellt, zu Leibe rückt und in ihrer spielerischen Neugier schlussendlich lahmlegt (S. 105ff.). Auch hier ignoriert der Ordnungshüter das Geschehen und überlässt den hilflosen Soldaten seinem Los – und dem unausweichlichen Zorn seines Vorgesetzten.

III.

Krise des Grenzlands: Die Sudentenkrise als liminale Kollektiverfahrung

Wie eingangs erwähnt, offenbart sich der europäische Osten in der zeitgeschichtlichen Jugendliteratur jüngeren Datums oftmals als ein liminaler Raum, in dem individueller wie kollektiver Wandel literarästhetisch verhandelt wird. Im Mittelpunkt steht dabei vor allem die Frage, wie die Figuren mit den psychologischen, epistemologischen und ethisch-moralischen Unsicherheiten umgehen, die mit der Erfahrung des Liminalen verbunden sind. Im Anschluss an und in Weiterführung von Victor Turners berühmter Formulierung des ‚betwixt and between‘ identifiziert der dänische Anthropologe und Soziologe Bjørn Thomassen unterschiedliche Dimensionen liminaler Erfahrung, die sowohl subjekt- als auch raum- oder zeitbezogen sind und sich in der Intensität ihrer Erfahrungshaftigkeit deutlich voneinander unterscheiden können.24 Holubs „Roter Nepomuk“ verknüpft danach zwei unterschiedliche Erfahrungen von Liminalität, die in ihren abweichenden Subjekt-, Raum- und Zeitbezügen ineinandergreifen, sich ergänzen und gegenseitig perspektivieren. So thematisiert der Roman mit der Sudetenkrise auf einer kollektiven Ebene die sukzessive ideologische Annäherung der deutschsprachigen Einwohner Neuerns ans ‚Altreich‘, derweil er auf einer individuellen Ebene – der historischen Zeit und den topografischen Gegebenheiten weitgehend enthoben – den Abschied des Erzählers von seiner kindlichen Unschuld und dessen allmählichen Eintritt ins Jugendalter schildert. In seinen Ausführungen weist Thomassen dabei auf die inhärente Zwiespältigkeit liminaler Erfahrungen hin: Durch die Implosion der bestehenden Strukturen und Hierarchien und das Infragestellen traditioneller Normen sei das Liminale auf der einen Seite durch eine gewisse Orientierungslosigkeit geprägt, die 24 Cfr. Thomassen, Liminality and the Modern. 2014, S. 89ff.; Thomassen, Bjørn: Thinking with Liminality. To the Boundaries of an Anthropological Concept. In: Breaking Boundaries. Varieties of Liminality. Hrsg. von Agnes Horvath/Bjørn Thomassen/Harald Wydra. New York/Oxford: Berghahn 2015, S. 39–58, hier S. 48; Turner, Victor: ‚Betwixt and Between. The Liminal Period in Rites of Passage‘. In: The Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Ritual. Hrsg. von Victor Turner. Ithaca: Cornell UP, 1967, S. 93–111.

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teils verwirrender, teils zerstörerischer Natur sein kann.25 Die hilflose Ohnmacht der weltlichen und geistigen Autoritäten in Gestalt des Gendarms und Dechants sowie die steigende Gewaltbereitschaft der diversen, zunehmend chauvinistischorientierten Gruppierungen sowohl gegenüber dem Hab und Gut Anderer als auch gegenüber den jeweils ‚Anderen‘ selbst belegen dies eindrücklich (cfr. u. a. 24, 37ff., 131, 147). Auf der anderen Seite werden just durch die Implosion des Bestehenden Momente der Kreativität und imaginativen (Selbst-)Erneuerung freigesetzt, die identitätsstiftend wirken und in Erfahrungen höchsten Pathos gipfeln können, wie die frenetische Feier der eintreffenden deutschen Truppen illustriert. Auch der stadtbekannte Taugenichts Walter Steiner weiß diese Momente zu nutzen und erfindet sich im so entstandenen Freiraum neu: zunächst als Anführer der ‚Heinleinbuben‘, dann in der Rolle eines ‚ins Exil‘ gezwungenen Helden nach dem (Knallkörper-)Anschlag Josefs und Jirschis und schließlich – nach seiner Rückkehr mit den deutschen Truppen – eines hochdekorierten Stadtverwalters (cfr. u. a. S. 138, 157, 175, 182f.). Als „Seismograph der Gesellschaft“26 symbolisiert jedoch wohl nichts den zwiegespaltenen, dekonstruktivkonstruktive Charakter des Liminalen besser als der Wandel Großkopfs vom tschechoslowakischen Staatsdiener zum ideologischen Vasallen Hitlers und schlussendlichen ‚Märtyrer‘ der deutschnationalen Bewegung: Großkopfs versehentlicher Feuertod wird zum Fixpunkt identitätsstiftender Imagination.

IV.

Die letzte Bastion: Josefs und Jirschis ‚Paradies‘ als strukturstiftendes Prinzip und Raum individueller Liminalität

Liminalität ist ein zentrales Motive der Jugendliteratur, zumal im engeren Verständnis von Arnold van Genneps „Les Rites de Passage“ (1909).27 Insbesondere in den eng miteinander verwandten Gattungen des Adoleszenz-, Abenteuer- und Initiationsromans werden oftmals unter ihrem Vorzeichen der biologische und (sozial-)psychologische Eintritt der Protagonisten ins Jugend- bzw. Erwachsenenalter und die damit verbundenen Lebenswelten thematisiert. Anders als in Twains „Huckleberry Finn“ sind im Falle von Holubs „Rotem Nepomuk“ diese individuell-liminalen Erfahrungen des Erzählers eingebettet in die psychologischen, epistemologischen und ethisch-moralischen Unsicherheiten der Sudentenkrise. Der jugendliche Reifungsprozess erfolgt somit nicht wie bei Twain innerhalb einer stabilen Referenzwelt, sondern in einer Welt krisenhafter Liminalität. 25 Cfr. Thomassen, Liminality and the Modern. 2014, S. 1. 26 Geuder-Hanslik, Männer der Ordnung. 2015, S. 14ff. 27 Gennep, Arnold van: Les rites de passage. Paris: Émile Nourry 1909.

Local Color Literature und Frontier Humor

247

Dem krisenhaften Grenzland steht das so genannte ‚Paradies‘ des Erzählers und seines tschechischen Freundes gegenüber. Obwohl die Betonung der Natur charakteristisch für Texte der Local Color Literature ist und häufig eine zentrale Stellung in der Geschichte einnimmt, markiert das Paradies innerhalb des holubschen Romans und seiner Erzählhandlung nochmals einen besonderen Raum. Denn das Paradies ist gleichermaßen ein strukturstiftendendes Prinzip und die Fortschreibung der traditionellen Germania Slavica wie der Schauplatz von Josefs individuellem Reifungsprozess. „[Z]wischen der Stadt, dem einen und dem anderen Dorf, aber mehr bei dem einen als bei dem anderen [gelegen]“ und „aus einem Fluss, aus Wiesen, die keine mehr sind, dem Zigeunerwald, dem Jirschi und [dem Erzähler]“ bestehend (S. 75), verbinden sich im Paradies die Motive des hortus conclusus der mittelalterlichen, religiösen Kunst und des locus amoenus der antiken und deutschen Schäfer- und Landlebendichtung.28 Die entlegene, von Flussarmen und Wäldern eingegrenzte Ideallandschaft bietet den beiden Freunden einen sicheren Rückzugsraum und erlaubt ihnen Einkehr und neue Erfahrungen. Eine Insel im Herzen markiert dabei den eigentlichen hortus conclusus, der zur letzten Bastion gegen den Wandel der Zeit wird. Nur schwimmend zu erreichen und „rundherum […] mit Büschen und Gras und Brennnesseln“ zugewachsen, folgt das Inselleben – fernab des „ganze[n] Durcheinander[s] mit den Tschechen und den Deutschen“ – seinen eigenen Regeln und greift dabei sowohl die Werte, Normen und Lebensführung der Außenwelt auf als dass es auch Alternativen dazu offeriert (S. 75ff.). Der historischen Zeit und den topografischen Gegebenheiten enthoben streichen die Freunde als „Indianer“ durch die „Prärie“, gehen schwimmen und rösten Brot über dem Lagerfeuer (S. 76f., 81), wobei der Erzähler zugleich seine ersten amourös-sexuellen Erfahrungen durchlebt. Zwischen kindlicher Unschuld und jugendlichem Reifungsprozess changierend ist Jirschi ihm nicht nur bester Freund, sondern wird auch zum Objekt einer noch schwer einzuordnenden Begierde (cfr. u. a. S. 31f., 69f., 143.). Mit Blick auf die gleichgeschlechtliche Orientierung dieser Gefühle und deren zweifelsohne vorhandenen, gesellschaftlichen Stigmatisierung durch die Außenwelt gewinnt dieser sichere Rückzugsraum eine geradezu fundamentale Bedeutung. In der Begriffswelt Foucaults entspricht dieses idyllische Jungenparadies der ‚Krisenheterotopie‘ und stellt einen temporären, der Zeit enthobenen Raum dar, der gleichermaßen real wie irreal, isoliert wie offen ist und „im Gegensatz zur wirren Unordnung“ des Grenzlandes noch „eine vollkommene Ordnung auf-

28 Cfr. Stiepel, Anna: ‚Prison-Paradise‘? Das Internat als Entwicklungsraum in deutschsprachigen Romanen nach 1968. Marburg: Tectum 2016, S. 36ff.

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weist“.29 Im Zusammenhang mit der religiösen Konnotation des hortus conclusus ließe sich selbst von einer natürlichen, dem Sündenfall vorgelagerten Ordnung sprechen, was – neben dem wiederholten, expliziten Bezug auf die kirchlichen Lehren und den Garten Eden durch den Erzähler – nicht zuletzt auch durch die anhaltende Nacktheit der Jungen symbolisch unterstrichen wird (S. 79). Das Sich-Entledigen bzw. das Anlegen der Kleidung offenbart sich als Schwellenmoment zwischen Paradies und Außenwelt, zwischen einem Zustand natürlicher, kindlicher Unschuld und den Realitäten der korrumpierten Erwachsenenwelt. Der Versuch der Mutter die Scham des allmählich ins Jugendalter eintretenden Erzählers mithilfe einer Badehose zu wahren, beschämt ihn denn auch gegenüber Jirschi sobald er ins Paradies übertritt (S. 99). Rasch entledigt sich der Erzähler des Fremdkörpers und kehrt so (noch einmal) in den Zustand natürlichkindlicher Unschuld zurück. Trotz alledem kann sich aber auch Josefs und Jirschis Paradies nicht dauerhaft der krisenhaften Liminalität der Außenwelt erwehren. Immer wieder dringen die Realitäten des Konflikts und soziopolitischen Wandels ins Paradies ein, zunächst in Form des gestohlenen Maschinengewehrs, dann in Form einer vermeintlichen Leiche, die sich als der titelgebende Blechnepomuk entpuppt und als Symbol des deutsch-tschechischen Kulturkontakts von Josef und Jirschi zeitweilig ins Paradies gerettet wird, und schließlich in Form der Wehrmachtssoldaten, die das Paradies kurzerhand zur Todeszone erklären: „Nichts ist mehr, wie es war, und deswegen ist auch die Welt neu eingeteilt worden. Die alten Grenzsteine stehen umsonst im Wald, weil die Grenze jetzt nicht mehr am Rand von Bayern, sondern zwischen der Stadt und Putzeried geht. Mitten in unserem Paradiesfluss liegt sie im Wasser drin, sagt man. Kein Mensch darf dort hingehen, weil die Soldaten Patrouille machen und auf alles schießen, was sich bewegt.“ (S. 182)

Im Verlust des Paradieses und der nunmehr unüberwindbaren Grenze manifestiert sich nicht nur der endgültige Untergang der Germania Slavica und der Verlust der kindlichen Unschuld des Erzählers, sondern auch das Ende seiner Freundschaft/Liebe zu dem aus Putzeried stammenden, tschechischen Jirschi. Der Erzähler kann sich, wie der Nachfolgeband „Lausige Zeiten“ offenbart, dem Reifungsprozess nicht mehr entgegenstemmen. Er muss sich in den neuen Realitäten des ‚Großdeutschen Reiches‘ zurechtfinden.

29 Foucault, Michel: ,Andere Räume‘. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Hrsg. von Karlheinz Barck. Leipzig: Reclam 1992, S. 34–46, hier S. 40.

Local Color Literature und Frontier Humor

V.

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Zum Schluss: „Woistmeinheimmeinvaterland?“

Mit Blick auf die literarästhetische Darstellung des ‚Dritten Reiches‘ ist Holubs „Roter Nepomuk“ sowohl Teil eines allgemeinen erinnerungskulturellen Wandels als auch eines jugendliterarischen Modernisierungsprozesses, der sich nicht nur in der Aufnahme neuer Themen, Perspektiven und Fragestellungen, sondern auch in der Eröffnung neuer Erzählstrategien und -mittel widerspiegelt. Anknüpfend an die US-amerikanische Tradition der Local Color Literature und den Frontier Humor, die ihr Augenmerk auf die ländliche Peripherie bzw. das Grenzland richten und zu deren bekanntesten Vertretern hierzulande zweifelsohne Mark Twain zählt, schildert Holub den sukzessiven Zerfall der Germania Slavica aus Sicht des zwölfjährigen Ich-Erzählers Josef Böhm, dessen erzählerische Naivität und Leichtigkeit – ganz in der Tradition „Huckleberry Finns“ – die Scheinheiligkeit der Erwachsenenwelt gnadenlos offenlegt und die Reflexion rassischer, ethnischer und nationaler Identität mit den unbekümmerten Abenteuern des kindlichen Erzählers verknüpft. Von einer gewissen Nostalgie für die deutsch-tschechische Kulturlandschaft des böhmischen Grenzlands geprägt findet sich die idyllische Kleinstadt Neuern zunehmend in der Einflusssphäre zweier fremder, großstädtischer Aggressoren und politischer Zentren wieder: Prag und Berlin/München. Schritt für Schritt implodieren die bestehenden Strukturen und Hierarchien der kleinstädtischen Gemeinschaft und werden althergebrachte Werte, Normen und Traditionen in Frage gestellt. Die Orientierungslosigkeit und zerstörerische Wut gegenüber dem jeweils ‚Anderen‘ werden dabei von Momenten der Kreativität und (Selbst-)Erneuerung begleitet, wie sowohl die (deutsch-)nationale Identitätsfindung der Einwohner Neuerns als Ganzes als auch der soziale Aufstieg von Einzelfiguren wie Walter Steiner innerhalb der Gemeinschaft verdeutlichen. Gemeinsam mit seinem tschechischen Freund Jirschi setzt der Erzähler dieser Welt krisenhafter Liminalität mit dem ‚Paradies‘ eine heterotopische Gegenwelt entgegen, die als strukturstiftendes Prinzip fungiert und – der historischen Zeit und den topographischen Gegebenheiten enthoben – die althergebrachte Germania Slavica zunächst fortschreibt. Gleichzeitig eröffnet sie dem Erzähler den für die Jugendliteratur oftmals typischen Raum individueller, entwicklungspsychologischer Liminalität, die es ihm erlaubt zwischen kindlicher Unschuld und jugendlichem Reifungsprozess zu changieren und neue Erfahrungen zu machen. Durch die religiöse Konnotation dieser nostalgischen Gegenwelt gleichen das ‚Münchner Abkommen‘ und seine (geo-)politischen Folgen dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies. Der Einmarsch der Deutschen und die nunmehr hermetisch abgeriegelte und zur Todeszone erklärte Grenze markieren denn auch nicht nur den Verlust der böhmischen Natur- und Kulturlandschaft, sondern auch den Verlust der Unschuld: der Unschuld Josefs, der Einwohner Neuerns und des

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Britta C. Jung

deutsch-tschechischen Kulturkontaktes. Nach dem Zerfall der Germania Slavica wird den Ich-Erzähler die Frage, Woistmeinheimmeinvaterland, fortan nicht nur in sprachlicher bzw. sprachpolitischer, sondern vor allem auch in territorialer, (geo-)politischer, soziokultureller und ideeller Hinsicht begleiten.

Withold Bonner (Tampere)

„Geographie eines Verlustes“1. Friedhöfe als Heterotopien in der deutsch-polnischen Grenzlandliteratur

Ältere Friedhöfe in Polen, auf denen Deutsche bestattet sind, verweisen auf eine andere, teilweise aus dem kulturellen Gedächtnis verdrängte Geschichte in einer Region, in der nach 1945 ein fast vollständiger Bevölkerungsaustausch erfolgte. Daher stellen in literarischen Texten, die sich mit der Geschichte dieser Grenzregion befassen, Friedhöfe immer wieder einen wichtigen Topos dar. Die alten deutschen und neuen polnischen Friedhöfe werden in diesen Texten zu Heterotopien. Sie sind Gegenräume, in denen die realen Orte, die man in einer bestimmten Kultur vorfinden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und in ihr Gegenteil verkehrt werden (Foucault). Sie stellen an einem einzigen Ort Räume bzw. Schichten neben- bzw. übereinander, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind. Gleichzeitig stellen sie die behauptete vollständige Unverträglichkeit der unterschiedlichen Schichten infrage. Schließlich werden diese unsichtbaren, zerstörten und verlassenen Friedhöfe zu Gedenkorten, die zeitliche Brüche und Diskontinuität markieren. Ziel dieses Beitrags ist es, die Funktion derartiger Schilderungen von Friedhöfen anhand ausgewählter Beispiele der deutschen und polnischen neuen Grenzlandliteratur seit den 1970er Jahren zu untersuchen, und zwar in Texten von Christa Wolf, Günter Grass, Stefan Chwin und Sabrina Janesch. Older cemeteries in Poland, where Germans have been buried, point to another history of a region where, in the years after the end of WWII a nearly complete exchange of the resident population had taken place. This population exchange has since been eliminated at least partially from cultural memory. Graveyards, therefore, constitute an important topos in literary texts, dealing with the history of this border region. In these texts the old German and present Polish cemeteries turn into a heterotopia. They are counter-sites, in which the real sites that can be found within the given culture, are simultaneously represented, contested, and inverted (Foucault). They are capable of juxtaposing in a single real place several spaces that are in themselves incompatible. Simultaneously they challenge the assumed complete incompatibility of different spaces. Eventually the invisible, destroyed and abandoned cemeteries turn into memorial sites, indicating temporal fractures and

1 „Die Deutschen. Geographie eines Verlustes“. So lautet der Titel eines Romans von Jakuba Katalpa, der sich mit der Situation der Deutschen in der okkupierten Tschechoslowakei und deren Vertreibung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs befasst. Katalpa, Jakuba: Die Deutschen. Geographie eines Verlustes. Roman. Landsberg/Lech: Balaena 2015.

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Withold Bonner

discontinuities. This contribution aims at analysing selected portrayals of cemeteries in the new German-Polish borderland literature since the 1970s in texts by Christa Wolf, Günter Grass, Stefan Chwin and Sabrina Janesch.

In einer Szene aus dem Roman „Taghaus Nachthaus“ von Olga Tokarczuk fährt der Deutsche Peter Dieter nach Nowa Ruda im polnisch-tschechischen Grenzgebiet, um Neurode aufzusuchen, den Ort seiner Kindheit und Jugend, den er bei Kriegsende verlassen musste. Dort besteigt er einen Berg, über dessen Grat die Grenze beider Länder verläuft und wo ihn der Tod ereilt, das eine Bein in Tschechien, das andere in Polen. Der Leichnam wird daraufhin von den polnischen bzw. tschechischen Grenzposten jeweils auf die andere Seite der Grenze geschoben. „Und so blieb Peter Dieter sein Tod in Erinnerung, bevor seine Seele ganz verschwand – als mechanische Bewegung zur einen und zur anderen Seite, als ein Balanceakt auf einer Kante, das Verharren auf einer Brücke.“2 Während sich an der Textoberfläche eine Anekdote abspielt, in der die Grenzposten bürokratischen Aufwand zu vermeiden trachten, geht es auf einer tieferen Ebene um die verstörende Wirkung, die vom Körper des verstorbenen Deutschen ausgeht, der durch seine Gegenwart an eine auch deutsche Vergangenheit dieser tschechisch-polnischen Grenzregion erinnert. Die deutschen Toten und die Friedhöfe, auf denen diese bestattet sind, verweisen auf eine andere, teilweise aus dem kulturellen Gedächtnis verdrängte Geschichte in einer Region, in der nach 1945 ein fast vollständiger Bevölkerungsaustausch erfolgte und aus der bzw. in die u. a. annähernd acht Millionen Deutsche, eine Million Polen und 500 000 Ukrainer flohen bzw. vertrieben wurden.3 Es ist daher wenig verwunderlich, dass in literarischen Texten, die sich mit der Geschichte dieser Grenzregion, den mehrfach erfolgenden Flucht- und

2 Tokarczuk, Olga: Taghaus Nachthaus. Roman. Stuttgart/München: Deutsche Verlagsanstalt 2001, S. 109. 3 Vgl. Eigler, Friederike: Heimat, Space, Narrative. Toward a Transnational Approach to Flight and Expulsion. Rochester/New York: Camden House 2014, S. 1. Etwas abweichende und genauer aufgeschlüsselte Zahlen nennt demgegenüber Lutomski für die deutsche Seite. Ihm zufolge flohen in der ersten Phase bis April 1945 ca. 3,5 Mio. Deutsche vor der heranrückenden Roten Armee. In der zweiten Phase der ‚wilden Vertreibungen‘ zwischen Mai und August 1945 mussten 700.000–800.000 Deutsche Polen verlassen. In der dritten Phase wurden entsprechend den Festlegungen des Potsdamer Abkommens nahezu drei Millionen Deutsche vertrieben, wobei eine weitere Million zunächst von der polnischen Administration festgehalten wurde, da diese Deutschen für das Funktionieren der Wirtschaft unerlässlich waren. Siehe Lutomski, Pawel: Acknowledging Each Other as Victims: An Unmet Challenge in the Process of PolishGerman Reconciliation. In: Victims and Perpetrators 1933–1945. (Re)Presenting the Past in Post-Unification Culture. Hrsg. von Laurel Cohen-Pfister/Dagmar Wienroeder-Skinner. Berlin/ New York: de Gruyter 2006, S. 240–261, hier S. 43.

„Geographie eines Verlustes“

253

Vertreibungswellen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg befassen, Friedhöfe immer wieder einen wichtigen Topos darstellen.4 Ziel dieses Beitrags ist es, die Funktion derartiger Schilderungen von Friedhöfen anhand ausgewählter Texte der deutschen und polnischen neuen Grenzlandliteratur5 seit den 1970er Jahren zu untersuchen.6 Dieses Phänomen ließe sich auch in der deutsch-tschechischen Literatur verfolgen, doch macht der hier zur Verfügung stehende Raum eine Beschränkung auf die deutsche und polnische Literatur erforderlich, da sich in diesen Literaturen die in quantitativer und qualitativer Hinsicht relevantesten Texte zu eben diesem Thema finden.7

I.

Theoretische Überlegungen

Menschliche Siedlungen und damit auch die dort befindlichen Friedhöfe können als Palimpsest verstanden werden. Aleida Assmann zufolge ist der Palimpsest eine philologische Metapher, die Parallelen zur geologischen Metapher der Schichtung aufweist. In der Stadt als dreidimensionalem Palimpsest ist „Geschichte immer schon geschichtet als Resultat wiederholter Umformungen, 4 Die Verwendung des Begriffs der Vertreibung ist aus verschiedenen Gründen, die hier nicht genauer erörtert werden können, alles andere als unumstritten. Konkurrierende Begriffe, die je nach Position des jeweiligen Sprechers benutzt wurden und werden, sind z. B. Migration, Aussiedlung, Umsiedlung, Rückkehr, Exodus, Abzug, Emigration, Transfer oder Repatriierung. Vgl. Borodziej, Włodzimierz: Der Zweite Weltkrieg. In: Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik. 2. Auflage. Hrsg. von Andreas Lawaty/Hubert Orłowski. München: C.H. Beck 2006, S. 68–77, hier S. 90. Doch wird inzwischen auch von polnischer Seite verstärkt der Begriff der Vertreibung verwendet. So spricht z. B. Chwin angesichts der Vertreibung der früheren deutschen Bevölkerung und der Vertreibung der ihren Platz einnehmenden Polen aus ihren ursprünglichen Wohngebieten im Osten von Danzig als einem Ort der doppelten Vertreibung. Vgl. Chwin, Stefan: Stätten des Erinnerns. Dresdner Poetikvorlesungen. Dresden: Thelem 2005, S. 20. 5 Während in der deutschen Diskussion bis vor kurzem unter Grenzlandliteratur ausschließlich die völkische Literatur des Nationalsozialismus verstanden wurde, gehen polnische Wissenschaftler und auch Schriftsteller von einer neuen Grenzlandliteratur aus, wobei es sich laut Stefan Chwin bei Grenzland um ein Gebiet handelt, „das sich beide Seiten seit Jahrhunderten gegenseitig aus der Hand reißen“. Zit. nach May-Chu, Karolina: Von Grenzlandliteratur zur Poetik der Grenze. Deutsch-polnische Transiträume und die kosmopolitische Imagination. In: ZiG. Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7, 2016, H. 2, S. 87–101, hier S. 92. 6 Der Rolle von Friedhöfen in der deutschen und polnischen Danzigliteratur widmet auch Bednarska-Kociołek ein eigenes, wenn auch sehr kurzes Kapitel, allerdings ausschließlich bezogen auf die Texte von Stefan Chwin. Siehe Bednarska-Kociołek, Joanna: Danzig/Gdan´sk als Erinnerungsort. Auf der Suche nach der Identität im Werk von Günter Grass, Stefan Chwin und Paweł Huelle. Frankfurt/Main: Peter Lang 2016, hier S. 159–163. 7 Joachimsthaler, Jürgen: Bevölkerungstransfer als Bedeutungstransfer. Zur Rolle der Literatur bei der Gestaltung ostmitteleuropäischer Lebenswirklichkeit(en) seit 1945. In: Germanoslavica. Zeitschrift für germano-slawische Studien 28, 2017, H. 1–2, S. 89–105, hier S. 91.

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Withold Bonner

Überschreibungen, Sedimentierungen“.8 Die Formel von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gilt nicht nur für die gleichzeitig miteinander lebenden verschiedenen Generationen, sondern auch für die unterschiedlichen Schichten urbaner wie dörflicher Bausubstanz.9 Besondere Aktualität gewinnt diese Formel angesichts eines fast totalen Bevölkerungsaustauschs in der deutsch-polnischen Grenzregion, wo der deutsche Friedhof von einer Geschichte zeugt, die ansonsten durch Überschreibungen verschiedenster Art weitgehend verschwunden ist. In der Siedlung als Palimpsest bilden sich die historisch wechselnden Zugehörigkeiten zu unterschiedlichen staatlichen Gebilden als unterschiedliche, übereinander liegende und sich überschneidende Schichten ab. Doch dass im Stadtbild alles gleichzeitig anwesend ist, heißt keineswegs, „dass jeweils alle Schichten auch gleichzeitig wahrgenommen werden und im Bewusstsein präsent sind“.10 Eine weitere Dimension erfährt das Verständnis des Friedhofs als Palimpsest durch den in Warschau lebenden deutschen Schriftsteller und Theatermacher Peter Lachmann, der das heutige Warschau als Nekropolis, als einen großen Sarg versteht, in dem die ehemals schöne, zerstörte und zugleich unzerstörbare Hauptstadt zugleich aufbewahrt und versteckt bleibt. An diesem Bild der Totenstadt ändere auch die gewaltige Anstrengung des Wiederaufbaus, die Wiederbelebung der polnischen Hauptstadt nichts. Vor allem dort, wo die Altstadt wiederaufgebaut wurde, werde die Abwesenheit des alten Warschaus am schmerzlichsten empfunden.11 Vor allem in statischen Gesellschaften sind Friedhöfe Gedächtnisorte, die durch die Totenmemoria, die hartnäckig an diesen Orten haftet, in gewissem Sinne zu einem geheiligten Ort werden, „welcher durch die Präsenz der Toten geweiht ist“.12 Die Grabinschrift mit ihrem unveränderlichen ‚Hier ruht‘ scheint das Wahrzeichen räumlicher Unverrückbarkeit zu sein.13 Gleichzeitig handelt es sich um Generationenorte, an denen die Mitglieder einer Familie in einer ununterbrochenen Kette der Generationen geboren, begraben und betrauert werden.14 Diese fortwährende Abfolge von Generationen verbindet den Friedhof mit dem bachtinschen Chronotopos der Idylle. Wie dieser schreibt, ist das idyllische Leben mit seinen Ereignissen nicht zu trennen von dem konkreten Ort, wo die

8 Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München: C.H. Beck 2007, hier S. 111. 9 Ebd., S. 112. 10 Ebd. 11 Vgl. Kerski, Basil: Berlin – Warschau. In: Deutsche und Polen. Hrsg. von Lawaty/Orłowski. 2006, S. 243–254, hier S. 249. 12 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. Vierte, durchgesehene Auflage. München: C.H. Beck 2009, S. 325. 13 Ebd., S. 324. 14 Ebd., S. 301.

„Geographie eines Verlustes“

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Väter und Vorväter lebten und wo auch die Kinder und Enkel leben werden.15 Das Generationen Überspannende, das Friedhöfen als Generationenorten gemeinhin eignet, kommt bei Józef Tischner deutlich zum Ausdruck: „Einen Friedhof und ein Grabmal zu errichten heißt: Eine Erbschaft aufzunehmen. […] Wir stehen am Grab. Hier ruht ein Soldat, der im Kampf um die Heimat fiel. Hier ruht ein Vater einer großen Familie. Das ist ein Grab eines Lehrers – eines Erziehers vieler Generationen. Hier ein kleines vorzeitig gestorbenes Kind, das eine Hoffnung der Eltern war. Tote sprechen, sie stellen mehr oder weniger bestimmte Verpflichtungen dar. Das verbindet. Manchmal verpflichten Tote mehr als Lebende. Am Grab eines Toten wird es dem Menschen bewusst, dass er ein Erbe ist.“16

Doch wird die Einheit der Generationen und damit der für die Idylle charakteristische zyklische Zeitrhythmus im polnisch-deutschen Grenzland abrupt durchbrochen durch den nach 1945 erfolgenden Bevölkerungsaustausch, infolgedessen die Kinder und Enkel von den Gräbern ihrer Väter und Vorväter getrennt wurden. Dies gilt in gleicher Weise für die Deutschen, die ihre Geburtsorte im heutigen Polen um das Jahr 1945 verließen bzw. verlassen mussten wie auch für die Polen, die aus ihren angestammten Wohngebieten im vormaligen Osten Polens nach Westen vertrieben wurden. Die alten deutschen und neuen polnischen Friedhöfe in dieser Grenzregion werden so zu Heterotopien. Sie sind Gegenräume, in denen die realen Orte, die man in einer bestimmten Kultur vorfinden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und in ihr Gegenteil verkehrt werden,17 wodurch die Friedhöfe selbst zu Grenzräumen werden. Sie stellen an einem einzigen Ort Räume bzw. Schichten neben- bzw. übereinander, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind.18 Gleichzeitig stellen sie die behauptete vollständige Unverträglichkeit der unterschiedlichen Schichten infrage. Heterotopien stehen in enger Verbindung mit zeitlichen Brüchen, mit Heterochronien. Eine Heterotopie beginnt erst dann voll zu wirken, wenn die Menschen einen absoluten Bruch mit der traditionellen Zeit vollzogen haben.19 Gewöhnlich steht die merkwürdige Heterotopie des Friedhofs mit allen anderen Orten der jeweiligen Stadt in Verbindung, denn jede Familie hat dort Angehörige liegen.20 Es ist gerade diese Verbindung, die auf den alten

15 Vgl. Bachtin, Michail: Chronotopos. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 160. 16 Zit. nach Bednarska-Kociołek, Danzig/Gdan´sk. 2016, S. 164 in deren Übersetzung aus dem Polnischen. 17 Foucault, Michel: Von anderen Räumen. In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel in Zusammenarbeit mit Hermann Doetsch und Roger Lüdeke. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 317–329, hier S. 320. 18 Ebd., S. 324. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 322f.

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deutschen und neuen polnischen Friedhöfen nach 1945 aufgehoben ist und was deren heterotope Aufladung verstärkt. Eine Heterochronie, einen absoluten Bruch mit der traditionellen Zeit stellt der Grenzraum des Friedhofs schließlich insofern dar, dass er die Grenze von Leben und Tod markiert und somit zum Verhandlungsraum für Grenzen im übertragenen Sinne wie z. B. für die Grenze zwischen Leben und Tod wird.21

II.

Christa Wolf: „Kindheitsmuster“

Für die Generation der um 1930 geborenen DDR-Autoren wurde zunächst weniger die Tatsache, dass Millionen von Menschen, die dort wohnten und ursprünglich an Orten gelebt hatten, die sie bei Kriegsende verlassen mussten, als vielmehr die Trauer um den Heimatverlust zu einem nicht zuletzt selbst gesetzten Tabu. Einer der interessantesten Texte aus der DDR, der sich mit der Wiederbegegnung mit der verlorenen Heimat im deutsch-polnischen Grenzraum befasst, ist ohne Zweifel „Kindheitsmuster“ von Christa Wolf.22 In ihrem 1976 erschienenen autobiografischen Roman23 geht es der Autorin, geboren 1929 in Landsberg/Warthe, heute Gorzów Wielkopolski, in erster Linie um den Versuch der Wiederbegegnung der Erzählerin mit dem Kind Nelly, das sie einmal gewesen war, um die Auseinandersetzung mit dessen Obrigkeitshörigkeit und Bereitschaft zur Anpassung sowie den Folgen dieser Anpassungsbereitschaft bis in die Schreibgegenwart hinein. Diese Auseinandersetzung erfolgt parallel zu einer Reise an den Ort der Kindheit. Sie ist nicht zu trennen von der Wiederbegegnung mit der verlorenen Heimat, von dem höchst widersprüchlichen Versuch, sich Trauer um deren Verlust zu gestatten. Von den Polen, denen die Erzählerin während ihrer Reise an den Ort der Kindheit begegnet, wird entsprechend einem Trend in der DDR-Literatur dieser Jahre ein stereotyp positives Bild gezeichnet, motiviert von dem problematischen Bemühen, überlieferte antipolnische Klischees durch ihr Gegenteil zu ersetzen.24 Nur einmal gerät dieses Polenbild in 21 Vgl. May-Chu, Deutsch-polnische Transiträume. 2016, S. 88. 22 Wolf, Christa: Kindheitsmuster. Werke München: Luchterhand Literaturverlag, 2000. Bd. 5. (Seitenangaben fortlaufend im Text). 23 Wie Sonja Hilzinger in Anlehnung an Margarete Mitscherlich-Nielsen feststellt, wäre das Buch treffender zu beschreiben als Roman einer Autobiographie. Vgl. Hilzinger, Sonja: Nachwort. In: Wolf, Kindheitsmuster. 2000, S. 599–606, hier S. 599. 24 Vgl. hierzu Fox, Thomas C.: Imagining Eastern Europe in East German Literature. In: Germany and Eastern Europe: Cultural Identities and Cultural Differences. Yearbook of European Studies 13. Hrsg. von Keith Bullivant/Geoffrey Giles/Walter Pape. Amsterdam/Atlanta, GA: Rodopi 1999, S. 284–303, hier S. 285: „Determined to revise a negative image of Slavs, and especially Poles, that had become particularly virulent in Nazi discourse, East German writers inverted traditional stereotypes and, through the lens of philo-Slavism, created new, albeit

„Geographie eines Verlustes“

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Gefahr, als die Erzählerin auf dem alten deutschen Friedhof ihrer Heimatstadt feststellen muss, dass dieser verwüstet ist. „Alle die Grabsteine, auf denen ‚Ruhe in Frieden‘ oder in der Sprache der Lutherbibel ‚Glaube, Liebe Hoffnung, diese drei. Aber die Liebe ist die größte von ihnen‘ gestanden hat, in Sandstein gehauen oder in Marmor gemeißelt und mit Blattgold ausgelegt: sie alle, fast alle sind umgelegt. […] Die Grabhügel dem Erdboden gleichgemacht, zugewachsen.“ (S. 456)

Hier beobachtet die Erzählerin bei sich „einen Anflug von Bestürzung, auch Trauer“, dem sie nachgehen will (ebd.). Sie gelangt zu dem Ergebnis, dass dieser nicht den toten Deutschen, sondern den lebenden und überlebenden Polen gilt, deren Hass, ausgelöst von der deutschen Okkupation, „nicht vor Gräbern anzuhalten ist“: „Selten ist dir so wie in der halben Stunde auf dem alten deutschen Friedhof in L., heute G., die vollständige Umkehr deiner Gefühle bewußt geworden, die hervorzubringen eine schwere jahrelange Anstrengung gewesen sein muß […]: Gefühle, die sich jetzt frei und ungezwungen auf der Seite der einstmals ‚anderen‘ bewegen und um ihretwillen bestürzt sind, wenn sie sich Gewalt antun müssen.“ (S. 457f.)

Das Problem liegt zunächst in der vollständigen Umkehrung der Gefühle. Die Verwendung des Adjektivs „vollständig“ macht deutlich, dass sich diese Gefühle gerade nicht frei und ungezwungen auf der Seite der „einstmals anderen“ bewegen. Weiterhin bleibt unbeantwortet, warum diejenigen Polen, die die Grabsteine der deutschen Toten umstoßen, sich selbst und nicht diesen Gewalt antun. Schließlich werden die überlebenden bzw. nach Kriegsende geborenen Polen, die die Grabsteine umgestoßen haben, in einer merkwürdigen Bewegung eines subjektlosen Textes eingesetzt als die Vollstrecker der Rache für die ermordeten jüdischen Opfer des Holocaust, auf die der Text implizit verweist: „Zum Glück ist keine Gefahr, daß die Toten auferstehen. Du dachtest, daß du dann nicht das Amt haben möchtest, ihnen zu erklären, warum an den Toten eines Volkes gerächt wird, was die Lebenden einem anderen Volk angetan haben: Daß sie sie in Gaskammern getrieben und in Öfen verheizt und gezwungen haben, sich zu Tausenden vor selbstgegrabenen Massengräbern hinzuknien, so daß das Blut, wenn endlich zugeschaufelt wurde, aus der Erde quoll und der Boden, unter dem auch Halbtote lagen, sich stellenweise zu bewegen begann.“ (S. 457)

positive ones. Hence Poles were no longer lazy, but rather industrious; not slovenly, but clean and orderly.“ Bereits Anfang der 1980er Jahre hatte Tadeusz Namowicz Folgendes festgestellt: „Aus diesem Anliegen heraus entstand in der Literatur ein neuer Mythos, der Mythos von der uneingeschränkten Überlegenheit der Polen über die Deutschen.“ Namowicz, Tadeusz: Das Polenbild in der Literatur der DDR. In: Annäherung und Distanz. DDR-Literatur in der polnischen Literaturkritik. Hrsg. von Manfred Diersch/Hubert Orłowski. Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1983, S. 319–339, hier S. 325.

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An dieser Stelle kommt es zu einem typischen deutsch-polnischen Missverständnis. Im deutschen kulturellen Gedächtnis erfolgt eine Konzentration auf den Holocaust, während das Bewusstsein dessen, was die deutsche Okkupation in Polen darüber hinaus angerichtet hat, nach wie vor begrenzt ist.25 Auf der anderen Seite gab es in Polen in den 1960er und 1970er Jahren intensive Bemühungen, die Schrecken des Holocaust zu marginalisieren.26 Die über drei Millionen polnischer Juden, die diesem zum Opfer fielen, wurden im kommunistischen Polen in den offiziellen Statistiken unter den sechs Millionen polnischen Bürgern versteckt, die während des Krieges ums Leben gekommen waren.27 Dementsprechend missverstehen bei Christa Wolf Polen und Deutsche einander. Während der Hass der Polen, die die Grabsteine umgestürzt haben, sich wahrscheinlich auf die Verbrechen bezieht, die Deutsche zur Zeit der Okkupation an der polnischen Zivilbevölkerung verübt haben, schreibt die deutsche Besucherin auf dem alten deutschen Friedhof die Leiden während dieser Zeit ausschließlich den in den Konzentrationslagern ermordeten Juden zu. Dass es bereits im polnischen Widerstand während der Okkupation, aber auch im sozialistischen Polen insbesondere in den 1960er Jahren antisemitische Tendenzen gab, darf die Erzählerin nicht wissen. Nur durch das von ihr vorgenommene fragwürdige Austauschen von Motiven kann das Umstürzen der Grabsteine wenn auch nicht akzeptiert, so doch verstanden werden, ohne dass die Erzählerin ihr mühsam gewonnenes, auf andere Weise stereotypes Polenbild in Frage stellen müsste. Der Friedhof als Heterotopie, als Ort des Widerspruchs, der die realen Orte der polnischen Gesellschaft um 1970 repräsentiert und in Frage stellt, kann von der Autorin in „Kindheitsmuster“ nicht angenommen werden.28

25 So ist die gezielte Ermordung von etwa 40 Prozent der polnischen Intelligenz unter sowjetischer und deutscher Besatzung in Deutschland nach wie vor eine weitgehend unbekannte Tatsache. Vgl. Wóycicki, Kazimierz: Der Holocaust im Bewusstsein der Deutschen und der Polen. In: Deutsche und Polen. Hrsg. von Lawaty/Orłowski 2006, S. 78–88, hier S. 79f. 26 Vgl. Borodziej, Włodzimierz: Der Zweite Weltkrieg. In: Deutsche und Polen. Hrsg. von Lawaty/Orłowski. 2006, S. 68–77, hier S. 75. 27 Vgl. Wóycicki, Der Holocaust. 2006, S. 83. Das wohl bekannteste Beispiel für dieses deutschpolnische Missverständnis ist der Kniefall von Bundeskanzler Willy Brandt im Jahre 1970 vor dem Denkmal der Helden des Warschauer Ghetto-Aufstandes. Während in der Bundesrepublik der Kniefall zu einer Ikone des 20. Jahrhunderts wurde, war diese Geste im kommunistischen Polen nach den antisemitischen Säuberungsaktionen von 1968 höchst unerwünscht, weshalb das Bild damals in der polnischen Presse zensiert wurde. Vgl. Kerski, Berlin – Warschau. 2006, S. 249. 28 Im Gegensatz zu Schaal bin ich keinesfalls der Meinung, dass es der Erzählerin an dieser Stelle gelinge, der Komplexität historischer Prozesse Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem ihr Mitgefühl nicht nur den ‚anderen‘, sondern auch den ‚eigenen‘ deutschen Opfern der Geschichte Rechnung trage. Siehe Schaal, Björn: Jenseits von Oder und Lethe. Flucht, Vertreibung und Heimatverlust in Erzähltexten nach 1945 (Günter Grass – Siegfried Lenz – Christa Wolf). Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2006, S. 264.

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III.

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Günter Grass: „Unkenrufe“

Was bei Wolf nur Episode ist, steht beim fast gleichaltrigen Günter Grass, geboren 1927 in Danzig, im Mittelpunkt seiner Erzählung „Unkenrufe“29 aus dem Jahre 1992. Der satirische Züge tragende und in Danzig/Gdan´sk, dem deutsch-polnischen Grenzraum par excellence, spielende Text führt exemplarisch vor, wie das deutsch-polnische Protagonistenpaar Alexander Reschke aus Danzig und Alexandra Pia˛tkowska aus Gdan´sk mit der Realisierung ihres gemeinsamen Projekts scheitert. Dieses sah vor, dass einerseits ehemaligen deutschen Danzigern, andererseits aus den ehemaligen östlichen Regionen vertriebenen Polen im Rahmen der Polnisch-Deutsch-Litauischen Friedhofsgesellschaft eine letzte Ruhestätte in heimatlicher Erde ermöglicht werden sollte. Das Geschehen lässt der Autor von einem Erzähler-Chronisten vortragen und kommentieren, der als ehemaliger Klassenkamerad Reschkes in dessen Auftrag postum die Geschichte des deutsch-polnischen Friedhofprojekts rekonstruiert. Dabei konstatiert der Erzähler im Hinblick auf seinen Auftraggeber, dass zwei Seelen in dessen Brust wohnten, so dass dieser z. B. abwechselnd von Deutschen als „Vertriebenen“ und „Umsiedlern“ spricht (S. 88).30 Die Gespaltenheit Reschkes zeigt sich vor allem in der Geschichte des Projekts der Polnisch-DeutschLitauischen Friedhofsgesellschaft, das Reschke und Pia˛tkowska zunächst initiieren, um sich schließlich selbst davon zu distanzieren. Denn dieses Projekt führt wider den Willen seiner Initiatoren aufgrund der Eigendynamik der Kapitalakkumulation eine neue Ebene der Kolonisierung ein, nämlich die der Rekolonisierung der verlassenen Heimat durch die Toten.31 Konsequenterweise bezeichnet Reschke schließlich die geplante Umbettung bereits Verstorbener nach Danzig als Vertreibung (S. 165). Die zentrale Rolle, die dem Topos des Grenzraums Friedhofs zukommt, zeigt sich darin, dass Friedhofsszenen die Erzählung sowohl eröffnen als auch be29 Grass, Günter (2005): Unkenrufe. Eine Erzählung. 4. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2005 (Seitenangaben fortlaufend im Text). 30 Bereits zuvor hatte der fiktive Chronist festgestellt, dass Reschke Probleme mit den Begriffen hat: „Mein Mitschüler schwankt zwischen den Kategorien und sagt ‚Umsiedler‘, wenn er ‚Vertriebene‘ meint, oder er klittert, indem er unsere immer älter werdenden Landsleute als ‚umgesiedelte Flüchtlinge‘ in seinen Rubriken führt.“ (S. 81) 31 Vgl. Loew, Peter Oliver: Danzig oder Das verlorene Paradies. Vom Herauserzählen und vom Hineinerzählen. In: Germanoslavica. Zeitschrift für germano-slawische Studien. 28, 2017, H. 1–2, S. 109–122, hier S. 120. Die Eigendynamik der Kapitalakkumulation zeigt sich darin, dass im Anschluss an den ersten sogenannten Versöhnungsfriedhof in kurzer Zeit eine ganze Reihe weiterer Projekte in Angriff genommen wird. Es wird ein Seniorenheim für ehemalige Danziger gegründet, worauf eine Seniorenklinik, Hotels mit angeschlossenem Golfplatz für die zu Besuch kommenden Angehörigen, die Umbettung bereits in Deutschland beigesetzter Ex-Danziger und schließlich eine Entbindungsstation für hochschwangere Angehörige der Beizusetzenden folgen.

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schließen. Deutlichster Ausdruck der widersprüchlichen Position der Erzählung ist die Aufspaltung des Protagonisten in zwei Figuren, den Deutschen Alexander Reschke und die Polin Alexandra Pia˛tkowska. Analogien zwischen den Texten von Wolf und Grass verdeutlichen, dass bei beiden Autoren das Eingebundensein in ein gemeinsames Generationengedächtnis schwerer wiegt als ihre jeweils unterschiedliche Biografie in den beiden deutschen Teilstaaten. Als Reschke zu Beginn der Erzählung Pia˛tkowska gerade kennengelernt hat, begleitet er diese auf einen Friedhof zum Grab ihrer Eltern. Dass er am Rande des Friedhofs, der polnische Namen auf den Grabsteinen ab Ende der 1950er Jahre verzeichnet, nur noch einige wenige schiefstehende Grabsteine mit deutschsprachigen Inschriften aus den 1920er bis 1940er Jahren findet, veranlasst Pia˛tkowska zu folgendem Kommentar: „Schande für Polen ist das! Haben weggeräumt alles, wo bißchen stand deutsch drauf. Hier und überall. Auch auf Waldfriedhof. Haben Tote nicht ruhen lassen gewollt. Einfach platt gemacht alles. Bald nach Krieg schon und später. Schlimmer wie Russen noch. Und das nennen sie Politik, Verbrecher diese!“ (S. 21)

Wie der Chronist verzeichnet, wurden die Vereinigten Friedhöfe in Gdan´sk ab 1966 eingeebnet. Auf deren Grund wurden u. a. das Szpital Studenaki, neue Gebäude der Politechnika Gdan´ska sowie der „Park des 25. Jahrestages der Volksrepublik Polen“ errichtet (S. 56). Während die Polin frei von Rücksichtnahme ihre Kritik an den Maßnahmen der polnischen Behörden vorträgt, steht für den Deutschen das Wissen um die deutsche Täterschaft im Vordergrund. Als er im Frühjahr 1958 das Grab seiner Großeltern auf den einst Vereinigten Friedhöfen hatte besuchen wollen, hatte er zu seinem Schrecken einen wüsten, wie von Mutwillen heimgesuchten Ort vorgefunden, was wie schon bei Wolf erneut einen Anflug von Trauer auslöst: „[…] Mir allerdings war nur Trauer möglich, die sich durch mittlerweile geschichtlich gewordene Tatsachen relativiert hat. Schließlich ist diese Barbarei zuallererst von uns begangen worden. Ganz zu schweigen von all den anderen unsäglichen Untaten…“ (S. 22) Abgeschlossen wird die Erzählung durch den Tod von Alexander und Alexandra. Nach dem Rückzug aus der Friedhofsgesellschaft haben diese geheiratet. Auf ihrer Hochzeitsreise kommen beide in Italien bei einem Autounfall ums Leben und werden dort auf einem Dorffriedhof bestattet, wodurch das Sinnhafte einer Beerdigung in der ‚Heimaterde‘ eindeutig in Abrede gestellt wird. Der Chronist kommentiert das Grab in der ‚Fremde‘ mit folgenden Worten, gleichzeitig den letzten der Erzählung: „Dort liegen Alexander und Alexandra namenlos. Zwei Holzkreuze nur bezeichnen das Doppelgrab. Ich will nicht, daß sie umgebettet werden. Sie waren gegen Umbettung. Vom Dorffriedhof aus hat man einen weiten Blick übers Land. Ich glaubte, das Meer zu sehen. Sie liegen gut da. Laßt sie liegen.“ (S. 245f.)

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Die Aufspaltung des Protagonisten in einen Alexander und eine Alexandra ermöglicht es, über letztere ein Wissen in den Roman einzuführen, das bei Christa Wolf unterdrückt werden musste und das auch noch bei Grass der sich deutscher Täterschaft bewusste Reschke nicht zu artikulieren vermag. Die Polin darf mehr als der Deutsche über die Probleme Nachkriegspolens wissen und sich kritisch dazu äußern. Über sie, aber auch über Wróbel, einen polnischen Vertreter in der Friedhofsgesellschaft, kann das Wissen über den auch in Polen existierenden Antisemitismus eingebracht werden.32 Als dieser in Gdan´sk den alten jüdischen Friedhof entdeckt und ihn Reschke und Pia˛tkowska zeigt, nimmt Alexander an, die Grabsteine seien bereits von Deutschen umgestoßen worden. Doch was für diesen eine Schande ist, nennt Alexandra doppelte Schande: „Aber wir haben nicht aufgestellt und gutgemacht wieder.“ (S. 184) Die Friedhöfe als eine Schicht der Stadt als Palimpsest werden hier zu heterotopen Gegenräumen, in denen die realen Orte der polnischen Gesellschaft repräsentiert, in Frage gestellt und in deren Gegenteil verkehrt werden.

IV.

Stefan Chwin: „Hanemann“

1995 veröffentlichte der polnische Autor Stefan Chwin, geboren 1949 in Gdan´sk, seinen Roman „Hanemann“, in der deutschen Übersetzung „Tod in Danzig“.33 Geschildert werden darin die letzten Jahre und Tage der Stadt Danzig und die ersten von Gdan´sk, wobei Friedhöfen erneut eine wichtige Rolle zukommt. Wo Friedhöfe einen absoluten Bruch mit der traditionellen Zeit markieren, kann es nicht verwundern, dass dieser Grenz- und Übergangsraum zu Verhandlungen über die Grenze von Leben und Tod genutzt wird. So arbeitet der gleichnamige Protagonist bis zu seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten in der Anatomie. Weiterhin fühlt er sich für den Unfalltod seiner Geliebten verantwortlich. Ausführlich befasst sich der Roman mit dem Tod zweier Schriftsteller, dem des Polen Stanisław Witkiewicz und des Deutschen Heinrich von Kleist, die beide an der Stelle eines historischen Bruchs, einer Heterochronie, Selbstmord begehen, der eine in Polen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs beim Einmarsch von deutschen und sowjetischen Truppen, der andere in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Anhand des Schicksals beider Autoren und ihrer Lebens- bzw. 32 Joachimsthaler weist darauf hin, dass Grass in „Unkenrufe“ mit Wróbel einen für die Gdan´sker Schule typischen polnischen Schriftsteller auftreten lässt, der verschlüsselte Referenzen auf Paweł Huelle aufweist. Dieser ist u. a. Autor des Romans „Weiser Davidek“, in dem er sich u. a. mit dem Antisemitismus im Gdan´sk der 1950er Jahre befasst. Siehe Joachimsthaler, Bevölkerungstransfer als Bedeutungstransfer. 2017, S. 103. 33 Chwin, Stefan: Tod in Danzig. Roman. 3. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2005. (Seitenangaben fortlaufend im Text).

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Sterbensgefährtinnen geht der Roman dem Thema Selbstmord nach, der Versuchung des Todes, so wie die Gattungspoetik des Romans für Chwin immer eine Poetik der Versuchung ist.34 Jahre, bevor es Grass in seiner Novelle „Im Krebsgang“ tut, greift Chwin am Beispiel der Friedrich Bernhoff voller Empathie die Tragödie deutscher Flüchtlinge auf, deren Fluchtschiffe mittels Bomben und Torpedos versenkt wurden und für die der Meeresgrund zum Friedhof wurde. So heißt es über die Gymnasiastin Stella, die beim Untergang der Bernhoff den Tod findet: „Denn jetzt auf dem Meeresgrund bei Bornholm, wo – auf dem Weg von Danzig nach Hamburg – die große ‚Bernhoff‘ gesunken ist, in der Kälte, auf dem grauen Grund, da liegen jetzt die Knochen deiner Hand verstreut, unscheinbar wie die Knochen eines Vogels, und der kleine Fächer der Finger als Abdruck im Sand… Ach Stella, wie der Abdruck eines Blattes…“ (S. 178)

Zur zentralen Metapher in „Hanemann“ wird das Bild von Danzig als Palimpsest.35 Darin wird deutlich, wie eng dessen Geschichte mit verschiedenen, einander überlagernden kulturellen Schichtungen verbunden ist. Immer wieder werden die neuen Einwohner von Gdan´sk mit alten Texten in Fraktur bzw. gotischer Schrift konfrontiert: „Die Straße, durch die sie gingen, hieß ‚Kronprinzenallee‘ – an der Holzbaracke der Haltestelle standen drohend die gotischen Buchstaben der Emailletafel.“ (S. 81) Nach einigen Jahren sind diese Texte kaum noch unter den neuen, darüber geschriebenen zu erkennen. Kritisch beobachtet und beschreibt der Roman die Fortsetzung eines Prozesses der Monokulturalisierung und Homogenisierung einer transkulturellen Gesellschaft im Nachkriegspolen, wie er von den Nationalsozialisten auf weit gewalttätigere Weise eröffnet worden war.36 Wo die alten Namen noch zu erkennen sind, können sie vom polnischen Ich-Erzähler nicht verstanden werden, so als dieser an einem alten Ausflugsdampfer vorbei fährt, „[…] auf dessen weißer Bordwand unter der frischen Farbe, mit der man kürzlich den Schiffsrumpf gestrichen hatte, neben den Schriftzügen ‚Zielona Brama – Westerplatte –

34 Vgl. Chwin, Stätten des Erinnerns. 2005, S. 145f. 35 In seinen Poetikvorlesungen erklärt Chwin dieses Bild wie folgt: „Danzig als Palimpsest – dieses Bild hat sich mir seit meiner Kindheit eingeprägt. Noch lange nach Kriegsende kamen unter dem abfallenden Verputz von Mauern die Reste von Schriftzeichen zum Vorschein, und zwar in mindestens drei Sprachschichten: Die oberste Schicht trug die frischesten Aufschriften in Polnisch, darunter kam Russisch, und unter dieser Schicht lag Deutsch in schwarzer gotischer Schrift; dazu kamen die Inschriften in Hebräisch, die man gelegentlich in den Kirchen antreffen konnte.“ Ebd., S. 33f. 36 Wie Chwin schreibt, waren die Behörden „nicht nur durch antideutsche Ressentiments geleitet, sondern natürlich auch durch die Idee, einen national geeinten sozialistischen Staat zu gründen“. Ebd., S. 46.

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Sopot‘ schwach die Reste einiger schwarzer gotischer Buchstaben durchschimmerten. Doch keiner von uns konnte den alten Namen entziffern.“ (S. 277f.)

„Große ‚Vorkommen‘ gotischer Schrift gab es auf den deutschen Friedhöfen, die sich kilometerlang an der Adolf-Hitler-Straße, später ‚Sieges-Allee‘, erstreckten [.]“, wie Chwin an anderer Stelle vermerkt.37 Der Autor erinnert sich aus seiner Kindheit „noch an die einsamen älteren Frauen in dunkler Kleidung und mit zum Turban hochgebundenen Kopftüchern, sie besuchten die deutschen Friedhöfe […]“.38 Wenn die deutschen Friedhöfe eine Schicht im Palimpsest der Stadt darstellen, so markiert deren Einebnen gegen Ende des Romans das Auslöschen einer kulturellen Schicht.39 Zunächst werden die Grabplatten aus ihrer steinernen Untermauerung gehoben und aufrecht wie die großen Deckel alter Bücher gestellt. Als Buchdeckel schließen die Grabplatten eine Vielzahl von Blättern ein. Diese stehen für die vielen Lebensgeschichten und Schichten der Stadt, die vergessen werden sollten und auch vergessen wären, würden sie nicht in Büchern erzählt und aufgehoben. „Auf den Platten aus grauem oder schwarzem Marmor […] schimmerten undeutlich die Namen Friedrich, Johann, Aron durch den Staub. Der Friedhof starb langsam, unaufdringlich, im leisen Geräusch der umgegrabenen Erde, wie die untergehende Sonne, die bei Regen unmerklich im aschgrauen Dunst erlischt.“ (S. 276)40

37 Ebd., S. 33f. 38 Ebd., S. 26. 39 In einem weiteren, bisher nicht ins Deutsche übersetzten Text beschreibt Chwin das Schicksal der deutschen Friedhöfe im Gdan´sk der Nachkriegsjahre wie folgt: „Es war eigentlich eine Stadt der Friedhöfe, die sich über viele Kilometer lang beiderseits der Siegerallee vom Olivaer Tor bis zur Technischen Hochschule erstreckte. Übrigens war das eine sehr schöne Stadt. Tausende von Kreuzen, Steinplatten, Figuren. Die in schöner Gotik in schwarzen Marmor geschlagenen Aufschriften. Efeu. Heinbuchen. Eiben. Lange Alleen unter Kastanienbäumen. Eine Grabstätte umgeben mit Eisengittern. Dicke Ketten. Gusseisentafeln. Granitkugeln. Obelisken. Alles wurde zerstört. Heutzutage gibt es dort gemähte Wiesen und Parkpfade, über die bei gutem Wetter Jungs in T-Shirts skateboarden. Nicht einmal ein Grab wurde in Ruhe gelassen.“ Zit. nach Bednarska-Kociołek, Danzig/Gdan´sk, 2016, S. 159 in deren Übersetzung aus dem Polnischen. 40 Ein ähnliches Bild eines früheren deutschen Friedhofs zeichnet in Paweł Huelles „Weiser Dawidek“ der sich an seine Kindheit erinnernde Ich-Erzähler, dem das durch einen Bulldozer in die Erde gerissene Loch zum Symbol für die Entsorgung der deutschen Geschichte der Stadt wird. „Auf dem großen Platz gibt es keine Grabsteine mit gotischen Buchstaben. Die Bäume sind abgesägt. Ein Bulldozer schiebt, gleich neben der Backsteinkirche, Massen von Steinen und zertrümmerten Platten auf einen Haufen. Er gräbt ein Fundament für eine neue, viel größere Kirche. Das Loch ist einige Meter tief und hat die Ausmaße eines mittelgroßen Sportplatzes.“ Huelle, Paweł: Weiser Dawidek. Roman. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1995, S. 277.

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V.

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Günter Grass: „Im Krebsgang“

Dem Friedhof, zu dem der Meeresgrund für viele auf Schiffen von Danzig nach Westen Flüchtende wird, wendet sich auch Günter Grass in seiner 2002 erschienenen Novelle „Im Krebsgang“ zu,41 in der er nicht nur den Untergang der Wilhelm Gustloff im Winter 1945 behandelt, sondern auch den Umgang damit im deutschen kulturellen und Familiengedächtnis. In der deutschen Rezeption wurde diese Novelle z. T. als Tabubruch gefeiert in dem Sinne, dass die Deutschen jetzt endlich auch als Opfer des Krieges gesehen werden könnten.42 Häufig wird die Novelle in eine Reihe gestellt mit Texten wie „Der Brand“ (2002) von Jörg Friedrich oder das anonyme Tagebuch „Eine Frau in Berlin“ (2003).43 Doch besteht die Neuigkeit der Novelle bestenfalls in einem, dabei äußerst widersprüchlichen, Tabubruch in dem Sinne, dass der ältere Autor Günter Grass sich an den Bedenken des jüngeren abarbeitet, Deutsche auch als Opfer des Zweiten Weltkriegs zu sehen.44 Entsprechend beauftragt in der Rahmenhandlung der Novelle ein fiktiver älterer Autor, Verfasser der „Hundejahre“, dem „dergleichen nicht von der Hand“ gegangen sei (S. 77),45 mit der Schilderung des Endes der Gustloff den Ich-Erzähler, der von seiner Mutter, die als eine von wenigen den Untergang überlebt hatte, noch an demselben Tag zur Welt gebracht wurde. Es kommt auch in dieser Novelle zu keinem Bruch der Generationseinheit46 mit einer Autorin wie Christa Wolf, deren „Kindheitsmuster“ denn auch der Titel 41 Grass, Günter: Im Krebsgang. Eine Novelle. 5. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2009 (Seitenangaben fortlaufend im Text). 42 Vgl. Loew, Danzig oder Das verlorene Paradies. 2017, S. 121. 43 Vgl. Asssmann, Aleida: On the (In)Compatibility of Guilt and Suffering in German Memory. In: German Life and Letters 59, 2006, H. 2, S. 187–200, hier S. 195. 44 In „Die Blechtrommel“ (1959) hatte Grass die Vertreibung der Deutschen aus Danzig noch auf höchst lakonische Weise verzeichnet. Vgl. Loew, Danzig oder Das verlorene Paradies. 2017, S. 116. 45 An anderer Stelle charakterisiert der Ich-Erzähler dieses Versäumnis seines Auftraggebers wie folgt: „Das nagt an dem Alten. Eigentlich, sagt er, wäre es Aufgabe seiner Generation gewesen, dem Elend der ostpreußischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben: den winterlichen Trecks gen Westen, dem Tod in Schneewehen, dem Verrecken am Straßenrand und in Eislöchern, sobald das gefrorene Frische Haff nach Bombenabwürfen und unter der Last der Pferdewagen zu brechen begann, und trotzdem von Heiligenbeil aus immer mehr Menschen aus Furcht vor russischer Rache über endlose Schneeflächen … Flucht … Der weiße Tod … Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos…“ (S. 99). 46 Carl Mannheim zufolge unterscheiden sich Generationseinheiten vom allgemeineren Generationszusammenhang durch ein einheitliches Reagieren auf Ereignisse oder Lebensbedingungen. Vgl. Jureit, Ulrike: Generationenforschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 22.

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der Novelle entlehnt ist. So heißt es bei dieser wie folgt: „Frühere Entwürfe fingen anders an: mit der Flucht – als das Kind fast sechzehn war – oder mit dem Versuch, die Arbeit des Gedächtnisses zu beschreiben, als Krebsgang, als mühsam rückwärts gerichtete Bewegung, als Fallen in einen Zeitschacht […].“47 Auch wenn der Ich-Erzähler bei Grass dieses Bild übernimmt, versteht er es doch etwas anders, wenn er überlegt, ob er „der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen muß, etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen.“ (S. 8f.) Der schrägläufige Krebsgang, den der Ich-Erzähler Paul Pokriefke einschlägt, seine eigenen Schwierigkeiten, über den Untergang der Wilhelm Gustloff zu schreiben, manifestieren sich in der Geschichte seines Sohnes Konrad. Angesteckt durch die „besondere Nekrophilie“ seiner Großmutter, der Mutter des Ich-Erzählers, „die sich ihr ganzes Leben hindurch am Leichengift der ‚Gustloff‘-Katastrophe ‚labt‘“,48 konstruiert Konrad im Internet den Mythos des Verbrechens an der Wilhelm Gustloff, „der ‚Kreuzigung‘ der deutschen Unschuld an Deck eines weißen Dampfers durch einen arglistigen, im Schutze der Nacht operierenden sowjetischen Subalternen aus dem Osten“.49 Wie Chwin weiter ausführt und dabei den Grass unterstellten Tabubruch in Frage stellt, setze letzterer dem Opfer-Mythos eine rationalistische Ermittler-Erzählung entgegen. „Dies steht im Einklang mit Grass’ Überzeugung, dass jede Ideologie panische Angst vor Details habe. Die pedantische Aufhäufung von tausenden von Details des traumatischen Ereignisses sprengt die kohärente ideologische Version von der barbarischen ‚Kreuzigung‘ der Vertriebenen von innen heraus, indem sie Punkt für Punkt nachweist, dass die ‚Gustloff‘ bei weitem kein unschuldiges Opfer war, sondern ein bewaffnetes Schiff der Kriegsmarine mit Soldaten und Nazis an Bord, die schlussendlich auch gar keine Rettungsaktion durchführten […].“50

Die nekrophile Besessenheit des Konrad Pokriefke mit dem Untergang der Gustloff, sein Bestreben, einen ‚reinen‘ Opfer-Mythos zu konstruieren, führen schließlich dazu, dass er seinen Widersacher und Kritiker im Chatraum, der sich selbst fälschlicherweise als Jude ausgibt, bei deren einziger nicht-virtueller Begegnung erschießt. Einen Bausatz der Wilhelm Gustloff, den er von seiner Großmutter für die Zeit der Verbüßung seiner Haftstrafe erhalten hatte, zerschlägt und zertrampelt dieser schließlich bei einem Besuch seines Vaters im Gefängnis. Nach dieser Szene surft der Ich-Erzähler entsprechend der Aufforderung durch seinen Auftraggeber noch einmal im Netz. Er stößt dort auf eine 47 Wolf, Kindheitsmuster. 2000, S. 16. 48 Chwin, Stefan: Die Bewertung des erzwungenen Bevölkerungstransfers 1939–1950. Eine Herausforderung für die Literatur. In: Germanoslavica. Zeitschrift für germano-slawische Studien 28, 2017, H. 1–2, S. 57–87, hier S. 70. 49 Ebd., S. 67. 50 Ebd.

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neue Website, wodurch die mit der Nekrophilie der Vertriebenen verbundenen Gefahren ein weiteres Mal unterstrichen werden: „Unter besonderer Adresse stellte sich in deutscher und englischer Sprache eine Website vor, die als ‚www.kameradschaft-konradpokriefke.de‘ für jemanden warb, dessen Haltung und Gedankengut vorbildlich seien, den deshalb das verhaßte System eingekerkert habe. ‚Wir glauben an Dich, wir warten auf Dich, wir folgen Dir…‘ Undsoweiter undsoweiter. Das hört nicht auf. Nie hört das auf.“ (S. 216)

Diese Zeilen, auf die die Novelle endet, unterstreichen noch einmal, wie der Grenzraum des Friedhofs als Heterotopie an einem einzigen Ort verschiedene Räume nebeneinanderstellt, die untereinander nicht verträglich zu sein scheinen. Nach wie vor sind es die Räume, wo die Deutschen als Täter erscheinen, und die, wo sie als Opfer gesehen werden, was die Protagonisten auch in der Novelle des älteren Günter Grass nicht zusammen zu bringen vermögen.

VI.

Sabrina Janesch: „Katzenberge“

Wurden bisher Texte deutscher oder polnischer Autoren behandelt, die sich allerdings immer wieder aufeinander beziehen, soll abschließend eine deutschpolnische Autorin zu Wort kommen. 2010 veröffentlicht die 1985 geborene Sabrina Janesch ihren autobiographischen Roman „Katzenberge“.51 Der Anlass, dass die Ich-Erzählerin aus der Perspektive der dritten Generation die Lebensgeschichte ihres polnischen Großvaters ausbreitet, ist dessen Tod und Beerdigung, zu der aus Deutschland die Enkelin anreist, die ihre Ferien häufig bei den Großeltern verbracht hat.52 Wie viele Neu-Danziger waren auch die neuen Bewohner Schlesiens, darunter die Großeltern der Ich-Erzählerin, aus dem früheren Osten Polens vertrieben worden. Auf dem Friedhof, auf dem der Großvater beerdigt wird, finden sich keine deutschen Gräber mehr. Auch dieser Friedhof ist kein Generationenort: „Es ist kein besonders alter Friedhof, die ältesten Steinkreuze, halb verwittert, wurden 1946 aufgestellt. Als hätte es hier vorher keine Menschen, keine Sterblichen gegeben.“ (S. 14) Offensichtlich gibt es den deutschen Friedhof nicht mehr, den der Großvater noch bei seiner Ankunft nach Kriegsende vorgefunden hatte. 51 Janesch, Sabrina: Katzenberge. Roman. Berlin: Aufbau 2010 (Seitenangaben fortlaufend im Text). 52 Siehe zu „Katzenberge“ aus der Perspektive von Postmemory als indirekten Erinnerungen der zweiten bzw. dritten Generation ausführlich Egger, Sabine: Magical Realism and PolishGerman Postmemory. Reimagining Flight and Expulsion in Sabrina Janesch’s Katzenberge (2010). In: Interférences littéraires / Literaire interferenties. Multilingual e-Journal for Literary Studies 14, 2014, S. 65–78.

„Geographie eines Verlustes“

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Die Spuren der früheren deutschen Bewohner sind bald verwischt. Bei ihrer Ankunft am Bahnhof anlässlich der Beerdigung des Großvaters findet die IchErzählerin dort ein Schild mit folgendem Text vor: „Tu nam sie˛ podoba. Hier gefällt es uns, und darunter die Jahreszahlen 1405–2005.“ (S. 31)53 Der Roman erzählt den schwierigen und widersprüchlichen Prozess, in dem die aus dem Osten Vertriebenen eine neue Heimat in einer Gegend zu finden versuchen, aus der wiederum deren frühere Bewohner ausgewiesen wurden. Stehengeblieben zu sein scheint die Zeit in den Häusern im Dorf, das so als eine Nekropolis erscheint und dessen neue Einwohner nur begrenztes Vertrauen darin setzen, dass die angeblich neue Heimat tatsächlich die ihre werden könne. „Über den alten Höfen liegt die Zeit gefroren, als würden sich deren Bewohner noch immer weigern, in etwas zu investieren, etwas zu renovieren, das nicht zur Gänze ihnen selbst gehört.“ (S. 48) Nach seiner Ankunft im schlesischen Dorf hatte der Großvater auf dem Dachboden seines neuen Hauses den früheren Besitzer erhängt vorgefunden. In Chwins Roman lernen einige Polen bei Hanemann nicht deswegen Deutsch, weil sie die Sprache lieben, sondern weil sie auf die befürchtete Rückkehr der Deutschen vorbereitet sein wollen. Eben diese Angst und weniger die Achtung vor dem Toten ist es auch, aus der heraus der Großvater Herrn Dietrich in erster Linie bestattet und auf dem Grab ein riesiges hölzernes Kreuz errichtet, „das stark genug wäre, nicht nur Herrn Dietrich, sondern auch alle anderen Deutschen, lebendige wie tote, fernzuhalten.“ (S. 116)54 War das Errichten des Kreuzes einer der Versuche der Großeltern gewesen, die Geister der Vergangenheit zu bannen, so unternimmt die Enkelin einen letzten und scheinbar abschließenden Versuch dazu. Sie reist in das ukrainische Heimatdorf der Großeltern, u. a. um von dort heimatliche Erde mitzubringen und diese mit der auf dem Grab der Großeltern zu vermischen. Doch verliert die Enkelin unterwegs einen Großteil der Erde aus dem Tuch, in dem sie diese aufbewahrt hatte. Am Grab der Großeltern angekommen, findet sie von dieser 53 Allerdings verzeichnet der Roman später, dass sich inzwischen die Einstellung zur auch deutschen Geschichte Schlesiens geändert hat. In Analogie zu Chwins „Hanemann“ zeigt der Hausmeister des Schloss genannten ehemaligen Herrensitzes der Protagonistin an einer zu restaurierenden Wand Frakturschrift. Auf deren Einwand, normalerweise sei so gründlich wie möglich verdrängt worden, welche Vergangenheit die Gebäude hatten, in denen man lebte, entgegnet der Hausmeister: „Das ist ja das Moderne […]. In Wrocław macht man nichts anderes. In jeder Bar, jedem Kino sucht man nach diesen Zeichen. Das ist jetzt angesagt.“ (S. 133) 54 Die Ungewissheit, ob der neue Wohnort von Dauer wäre, zeigt sich auch in den Schwierigkeiten des Großvaters, ein passendes Haus und Grundstück auszuwählen: „Überhaupt sei es schwer gewesen auszuwählen: einen Ort, ein Stück Erde, das ihm zusagte, oder eines, das er nicht ausstehen konnte, das er verabscheuen würde für den Fall, dass die Deutschen wiederkämen. Um ihm das, was er aufgebaut haben würde, wieder wegzunehmen.“ (S. 43)

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Withold Bonner

Erde kaum noch etwas vor. Auch die letzten Krumen wird der Wind bald hinfort tragen. Wie soll der Leser dieses Ende verstehen? Mit Grass dergestalt, dass Heimatdiskurse spätestens für Tote ihren Sinn verlieren? Oder – und auch das wird bei Grass angedeutet –, dass die aus dem Osten Vertriebenen in Schlesien eine neue Heimat gefunden haben und des Trostes der Kindheitsorte nicht mehr bedürfen? Oder, wie spätestens die Generation der Enkelin weiß, die selbst einen deutschen Vater und eine polnische Mutter hat, dass die Vergangenheit nicht geund auch nicht verbannt gehört, sondern in der Gegenwart aufgehoben? Damit wäre allerdings die heterotope Eigenschaft der Friedhöfe insofern aufgehoben, dass sie nicht mehr Einspruch gegen eine monokulturalisierende Politik erheben müssen. Stattdessen wäre die gleichzeitige Existenz aller kulturellen Schichtungen des jeweiligen Ortes einschließlich seiner Friedhöfe als Palimpsest anerkannt.

VII.

Zum Schluss

Die unsichtbaren Friedhöfe auf dem Meeresgrund, die zerstörten in den ehemaligen deutschen Gebieten in Polen, die zurückgelassenen im ehemaligen Osten Polens werden schließlich in der Diktion Aleida Assmanns unter Bezug auf Pierre Nora zu Gedenkorten. Ein derartiger Ort ist das, „was übrigbleibt von dem, was nicht mehr besteht und gilt“.55 Damit dies dennoch fortbestehen könne, „muß eine Geschichte erzählt werden, die das verlorene Milieu supplementär ersetzt“.56 Es ist eben dies unabdingbare Erzählen einer verdrängten und schmerzhaften Geschichte, was – zunächst höchst zögerlich und widersprüchlich aus deutscher, weit direkter dagegen aus polnischer Perspektive – in den in diesem Beitrag vorgestellten Friedhofserzählungen geschieht. Die Notwendigkeit dieses Erzählens verdichtet sich im Bild der aus dem alten deutschen Friedhof gehobenen Grabplatten bei Stefan Chwin, die an die Deckel alter Bücher erinnern. Die unsichtbaren, zerstörten und verlassenen Friedhöfe als Gedenkorte, an denen sich kaum etwas bis gar nichts von dem erhalten hat, was nicht mehr ist, markieren zeitliche Brüche, Diskontinuität. Es sind Grenz- und Gegenräume in dem Sinne, dass sie die realen Orte, die man in einer Kultur vorfinden kann, zugleich repräsentieren, in Frage stellen und in ihr Gegenteil verkehren: „Hier ist noch etwas anwesend, aber dies verweist vor allem auf Abwesenheit; hier ist noch etwas gegenwärtig, aber es signalisiert in erster Linie dessen Vergangensein.“57

55 Assmann, Erinnerungsräume. 2009, S. 309. 56 Ebd. 57 Ebd.

Teil III. Topographische Polyvalenzen

Svetlana Efimova (München / Munich)

Grenzräume des liminalen Dichters Jakub Deml. Topographische, sprachliche und existenzielle Identitätssuche

Im vorliegenden Beitrag wird die Identitätsproblematik im Werk von Jakub Deml (1878– 1961) analysiert: Motive der Identitätssuche und der Sprachwahl, der Verbannung und der Flucht, der Heimat und der Heimlosigkeit. Dabei handelt es sich stets um Schwellenerfahrungen und Grenzgänge auf den Achsen zwischen Böhmen und Mähren, Deutsch und Tschechisch, Osten und Westen, Norden und Süden sowie zwischen Lyrik und Prosa, Autobiographie und Fiktion. Für Demls Schreiben und Identitätskonzept steht ein geographisches Symbol: sein Geburtsort Tasov. Das ist ein zugleich realer und imaginierter (Grenz-)Raum, ein Erinnerungsort, ein typographischer und fotografischer Werkraum. In der Erzählung „Hinter dem Baikalsee. Aus den Aufzeichnungen eines Unbekannten“ („V Zabajkalí. Ze zápisku˚ neznámého“, 1912) wird Tasov nicht nur zu einem imaginierten slawischen Grenzraum, sondern auch zu einer Weltverdichtung. Im Aufsatz wird herausgearbeitet, wie Demls Werk poetologische, topographische, sprachliche und existenzielle Grenzen im mitteleuropäischen kulturellen Kontext transzendiert. Dies ermöglicht, das Konzept der Liminalität für sein Werk fruchtbar zu machen und Jakub Deml einer liminalen Literatur zuzuordnen. This contribution investigates the depiction of identity in the works of Jakub Deml (1878– 1961), i. e. motifs regarding the search for identity, choice of language, banishment, flight, home and homelessness. All of these are liminal experiences and border transgressions along the axes between Bohemia and Moravia, German and Czech, East and West, North and South as well as between lyric and prose, autobiography and fiction. Deml’s birthplace Tasov is a geographical symbol of his writing and identity concept. It is a (border) area that is both real and imagined, a place of memory, his typographical and photographic workspace. In his story „Beyond Lake Baikal. From the notes of an unknown author“ („V Zabajkalí. Ze zápisku˚ neznámého“, 1912), Tasov appears not only as an imagined Slavic borderland, but also as a densification of the whole world. The contribution examines how Deml’s work transgresses poetological, topographical, linguistic and existential borders in the cultural context of Central Europe. Finally, it proposes to apply the concept of liminality to Deml’s work and to attribute Jakub Deml to the “liminal literature”.

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Svetlana Efimova

Jakub Deml (1878–1961) ist ein paradigmatischer Grenzgänger in der europäischen Literatur. Ein in Österreich-Ungarn geborener Tscheche mit deutschen Wurzeln, der Texte auf Tschechisch und Deutsch verfasste und ein suspendierter katholischer Priester, dessen Werke jegliche Gattungsgrenzen zwischen Lyrik und Prosa überschreiten. Seine neben den Gedichtzyklen verfasste und im Gesamtwerk dominierende Prosa ist autobiographisch geprägt, durch lyrische und essayistische Züge gekennzeichnet sowie mit einer Tagebuch-, Traum- und Erinnerungspoetik verbunden. Alexander Wöll verortet Demls Werk „im Spannungsfeld von Décadence, Neoromantik, Neobarock […], Symbolismus, Avantgarde und […] der Spätmoderne“1; Jindrˇich Chalupecký zählte Deml zu den tschechischen Expressionisten2, während der Dichter Víteˇzslav Nezval ihn als einen wichtigen Vorläufer des Surrealismus betrachtete.3 Wie ein roter Faden ziehen sich durch Demls vielfältige Œuvre die Motive der Identitätssuche und der Sprachwahl, der Verbannung und der Flucht, der Heimat und der Heimlosigkeit, der Transzendenz und des Todes. Gebunden werden all diese Motive an ein geographisches Symbol für Demls Schreiben und Identitätskonzept: an seinen Geburtsort Tasov (Tassau), der zugleich ein realer und imaginierter Raum sowie ein Erinnerungsort der Familiengeschichte ist. Demls Identitätsproblematik wird im Folgenden als Zusammenspiel der Sprache, der Topographie und des Heim-/Heimatkonzepts im mitteleuropäischen kulturellen Kontext analysiert.

I.

Großvater als „kleiner Flüchtling“ und Identifikationsfigur

Eine wiederkehrende biographische Legende über den Großvater als Identifikationsfigur steht in Demls Texten für die topographische und sprachliche Schwellenerfahrung sowie für das ambivalente Verhältnis zwischen Kontingenz und Dynamik der Identität. In Demls Erzählung „Schlagader“ („Tepna“, 1926) stellt sich der autobiographische Erzähler die folgende Frage: „Bin ich Mährer? ˇ eská Trˇebová geboren und Bin ich Böhme? Mein Großvater wurde in Opatov bei C war Deutscher, weil es in Abstdorf [Opatov – S.E.] nur Deutsche gibt“.4 Das 1 Wöll, Alexander: Jakub Deml. Leben und Werk (1878–1961). Eine Studie zur mitteleuropäischen Literatur. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2006 (Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte, Reihe A, Bd. 52), S. 2f. 2 Vgl. Chalupecký, Jindrˇich: Expresionisté. Richard Weiner, Jakub Deml, Ladislav Klíma, Podivný Hasˇek. Praha: Torst 1992, S. 81–134. 3 Vgl. Nezval, Víteˇzslav: Moderní básnické smeˇry. Praha: Deˇdictví Komenského 1937, S. 34f. 4 Deml, Jakub: Pilger des Tages und Pilger der Nacht. Prosa, Lyrik, Tagebuchtexte. München: Deutsche Verlagsanstalt 2005, S. 211 (Seitenangaben fortlaufend im Text). „Jsem já Moravan? ˇ ech? Mu˚j deˇdeˇcˇek narodil se v Opatoveˇ u C ˇ eské Trˇebové a byl Neˇmec, nebot’ v Jsem já C

Grenzräume des liminalen Dichters Jakub Deml

273

ostböhmische Dorf Opatov (Abstdorf) liegt an der Grenze zweier historischer Länder in der Tschechischen Republik, Böhmen und Mähren. Die Markgrafschaft Mähren und das Königreich Böhmen waren zwei Kronländer im Reich Österreich-Ungarn und behielten nach 1918 ihren Status als Länder auch innerhalb der neu gegründeten Tschechoslowakischen Republik. In einem aktuellen Handbuch wird der „vielfältige Raum der Böhmischen Länder“ (darunter auch Österreich-Schlesien) hervorgehoben, die sowohl unterschiedliche „Kulturräume“ als auch eine „übergeordnete[]“ „kulturelle[] Einheit“ bilden.5 Jakub Deml ist im mährischen Dorf Tasov aufgewachsen; sein Großvater wurde aber 1805 als Johann Demel in einer deutschsprachigen Ortschaft des multikulturellen Böhmens geboren. Die literarisch mythisierte Familiengeschichte Demls geht auf eine Verwandlung von Johann Demel zu Jan Deml zurück, deren Darstellung in „Schlagader“ der oben zitierten Selbstfrage („Bin ich Mährer? Bin ich Böhme?“) folgt. Als Waisenkind wuchs der Großvater im Haus seiner ältesten Schwester auf, die ihn wegen jeder Kleinigkeit prügelte. Einmal zerbrach das Kind einen Wasserkrug, wurde von panischer Angst ergriffen und lief aus dem Heimatdorf weg: „Er lief und lief, ohne sich darum zu kümmern, was später sein würde, denn die Angst ist mächtiger als ein Kinderherz“ (211).6 Nachdem er viele Stunden gelaufen war und keine Kraft mehr hatte, kletterte er heimlich auf einen vorbeifahrenden Wagen. Der Fuhrmann gab dem Knaben zu essen und brachte ihn von Böhmen nach Mähren; im mährischen Krˇeptov nahmen sich die barmherzigen Ochsenknechte des „kleinen Flüchtlings“7, wie es bei Deml heißt, an. Da „niemand nach ihm gesucht“ hatte, blieb das Kind in Mähren; in Demls Text folgt ein bemerkenswertes Detail: „Deutsch vergaß er vollkommen“ (212).8 Durch diese Geschichte des Großvaters als Grenzgänger

5 6 7 8

ˇ eskoslovenský Abstdorfeˇ jsou samí Neˇmci“. Deml, Jakub: Tepna. In: Ders.: Rodný kraj. Praha: C spisovatel 1967, S. 120–134, hier S. 129. Weinberg, Manfred/Wutsdorff, Irina: Konzepte des Raums. In: Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Hrsg. von Peter Becher/Steffen Höhne/Jörg Krappmann/Manfred Weinberg. Stuttgart: J. B. Metzler 2017, S. 39–45, hier S. 39. „Utíkal, utíkal, nestaraje se o to, co bude dál, nebot’ hru˚za je mocneˇjsˇí nezˇ deˇtské srdce“. Deml, Tepna. 1967, S. 129. Tschechisch „malý uprchlík“. Ebd. „Neˇmecky zapomneˇl docela“. Ebd., S. 130. Marek Nekula erkennt in der faktischen Grundlage dieser Geschichte ein Zeichen dafür, dass „der sog. tschechisch-deutsche Bilingualismus“ „[m]ikrosoziolinguistisch gesehen“ „im Laufe des 19. Jahrhunderts besonders bei den niedrigen sozialen Schichten auf dem Lande“ „immer unwahrscheinlicher“ ist. Nekula, Marek: Jakub Deml zwischen ‚Österreichisch‘, ‚Tschechisch‘, ‚Deutsch‘. Mit einem Anhang: Einige ungedruckte und/oder weniger bekannte deutsche Texte von Jakub Deml. In: brücken NF 6, 1998, S. 3–31, hier S. 4.

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wurde die Grenze zwischen Böhmen und Mähren als Raum des Übergangs und des (Sprach-)Wechsels dargestellt.9 In mehreren Werken, in denen Deml eine literarische Geschichte seiner Familie und des Geschlechts Demel/Deml schreibt, greift er diese Flucht auf. Zum ersten Mal taucht sie in einem Rahmennarrativ von einer fiktionalen Figur in Demls Erzählung „Hinter dem Baikalsee. Aus den Aufzeichnungen eines Unbekannten“ („V Zabajkalí. Ze zápisku˚ neznámého“, 1912) auf. Diese Herausgeberfiktion, in der tschechische und russische Realien verflochten sind, hat eine poetologische Grenze zwischen Fiktion und Autobiographie herausgestellt und überschritten. Lubosˇ Merhaut betont, dass Deml darin unter anderem Aufzeichnungen seines Vaters verarbeitete, und betrachtet „Hinter dem Baikalsee“ als einen Schritt auf Demls Weg zur tagebuchartigen Schreibweise.10 Während des russisch-japanischen Krieges (1904–1905) erzählt ein Soldat im Fernen Osten über seinen Vater, der 1805 in einem gewissen „Obstdorf“ (vgl. Abstdorf) geboren sei: Der topographische Name ist in Deutsch angegeben und dann als Erklärung wörtlich ins Tschechische übersetzt („Ovocná deˇdina“). In den Vordergrund wird das Motiv des Sprachwechsels gestellt: „Er [der Vater als Kind – S.E.] ging nicht zur Schule und hat nie eine Karte gesehen, er lief aber nach Süden los und sogar unter Leute, die eine fremde Sprache sprechen“, „Ein Wächter erbarmte sich seiner, nahm ihn in den Dienst und vertraute ihm eine Herde an, die jede Sprache verstand […]“, „Er war wie neu geboren: seine Muttersprache hat er völlig vergessen…“.11 Der Ausdruck „wie neu geboren“ („on se jaksi prˇerodil“) weist auf einen möglichen Identitätswechsel hin, der jedoch nicht zustande kommt, weil der Großvater in den meisten Werken Demls paradigmatisch ‚deutsch‘ ist. In der Erzählung „Schlagader“ (1926) wird eine besondere Verbindung des autobiographischen Erzählers mit dem Großvater hervorgehoben: „Großvater war meine Kinderfrau, er schaukelte mich in einer Wiege […]“ (212f.).12 Großvaters Kindheitsgeschichte wird als symbolisches Deplatzieren zur Grundlage 9 Vgl.: Grenze ist „nicht nur der Ort der Unterscheidung und der Abgrenzung, sondern auch der Ort des Übergangs, der Annäherung und der Mischung“. Lamping, Dieter: Über Grenzen. Eine literarische Topographie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 13. 10 Merhaut, Lubosˇ: Vydavatelské fikce a Demlova cesta k deníkovosti. In: Ders.: Cesty stylizace (Stylizace, „okraj“ a mystifikace v cˇeské literaturˇe prˇelomu devatenáctého a dvacátého stoˇ L AVC ˇ R 1994, S. 170–179, hier S. 170–173. letí). Praha: ÚC 11 Meine Übersetzung – S.E. „Do sˇkoly arci nechodil, mapy jakzˇiv nevideˇl – ale pustil se na jih, a dokonce mezi lidi cizího jazyka“, „Dráb se nad ním ustrnul, vzal ho do sluzˇby a sveˇˇril mu stádo, které rozumí kazˇdému jazyku […]“, „On se jaksi prˇerodil: materˇskou rˇecˇ úplneˇ zapomneˇl…“. Deml, Jakub: V Zabajkalí. Ze zápisku˚ neznámého. In: Ders.: Sebrané spisy. III. Moji prˇátelé a smrt, aneb, Texty prvního expresionismu. Hrsg. von Martin C. Putna/Závisˇ Sˇuman/Jakub Vanícˇek. Praha: Academia 2015, S. 9–52, hier S. 23f. 12 „Deˇdousˇek byl mou chu˚vou, kolébal mne na kolíbce […]“. Deml, Tepna. 1967, S. 130.

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einer metaphorischen Identifikation. Der Ich-Erzähler wendet sich an ihn in Gedanken: „Ich bin, wie Sie es waren, ein Verbannter, aber gern, wie Sie es waren, denn wir haben auf Erden keinen dauerhaften Platz und können uns nicht verlieren, nur dieser erste Weg ist ein bisschen traurig und schlimm, bevor man versteht und sich gewöhnt“ (215).13 Der 1902 zum Priester geweihte Deml befand sich stets in einem Konflikt mit der katholischen kirchlichen Bürokratie; er stand der reformatorischen ‚Modernismus‘-Bewegung nahe, wurde oft versetzt und somit ‚verbannt‘, dann 1907 beurlaubt und 1909 suspendiert.14 Auch sein weiterer Weg wurde durch den Streit mit der Kirche geprägt; das Leiden und Unverstandensein gehörten stets zu seiner literarischen Selbstinszenierung und befeuerten die Identitätsproblematik. In den 1920er Jahren suchte Deml nach seiner Identität in den Familienwurzeln. 1926 entstand neben „Schlagader“ auch die Erzählung „Der Grabhügel“ („Mohyla“), die später in Neufassungen erschien und 1948 den ersten Band einer geplanten und ab dem zweiten Band gescheiterten Gesamtausgabe seiner Werke eröffnete. „Der Grabhügel“ enthält eine Familienchronik in Tasov. An mehreren Stellen werden direkte Bezüge zur früheren Fiktionalisierung in „Hinter dem Baikalsee“ hergestellt: „Außer ,Hinter dem Baikalsee‘ habe ich noch die Aufzeichnungen meines Bruders Antonín vielleicht aus dem Jahr 1911, der Vater hat ihm sie in seiner Freizeit diktiert“, „Bereits in ,Hinter dem Baikalsee‘ denke ich darüber nach […]“.15 Großvaters Sprachwechsel wurde in „Der Grabhügel“ modifiziert: Zum letzten Mal habe er mit 25 Jahren Deutsch gesprochen, als er nach 16 Jahren Abwesenheit sein Heimatdorf besuchte und seine Schwester auf Deutsch um ein Nachtlager bat. Eine symbolische Rückkehr in die Vergangenheit vollzog auch der autobiographische Erzähler, der am 12. Mai 1926 zusammen mit seiner Lebensgefährtin Pavla Kytlicová und mit seinem Bruder Antonín nach Opatov fuhr, wo sein Großvater „vor hundertzwanzig Jahren“ geboren worden war.16 Diese Reise gewann dabei eine mystische Dimension: „[F]ür uns war das keine Reise, für uns war das eine Wallfahrt in die vergangenen Jahrhunderte zum Bethlehem des 13 Eine von mir modifizierte Übersetzung – S.E. „Jsem, jako vy ste byl, vyhnanec, ale já rád, jako vy ste byl, nebot’ na zemi stálého místa nemáme a ztratit se nemu˚zˇeme, jen ta první cesta je smutná poneˇkud a zlá, nezˇ cˇloveˇk pochopí a zvykne si“. Ebd., S. 131. 14 Vgl. dazu: Wöll, Jakub Deml. 2006, S. 53–70. Alexander Wöll schreibt über Demls „fünfundzwanzigjährige Odyssee durch die ‚Fremde‘“ von Anfang seines Studiums in Brünner Priesterseminar bis zur Rückkehr nach Tasov im Jahr 1923 sowie über Demls „Kampf“ „gegen die Amtskirche“ (S. 53, 63). 15 Meine Übersetzung – S.E. „Kromeˇ ‚Zabajkalí‘ mám tu jesˇteˇ zápisky svého bratra Antonína snad z roku 1911 otec mu je tehdy ve volných chvílích diktoval“, „Jizˇ v ‚Zabajkalí‘ uvazˇuji o tom […]“. Deml, Jakub: Mohyla. In: Ders.: Dílo Jakuba Demla. Svazek první. Mohyla. Praha: Vysˇehrad 1948, S. 13–162, hier S. 22f. 16 Ebd., S. 96.

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Deml-Geschlechts“.17 Zu einem wichtigen Schauplatz wird der Friedhof in Opatov, von dessen Grabsteinen der Erzähler und sein Bruder Namen und Lebensdaten ihrer vermutlichen Vorfahren mit dem Nachnamen Deml oder Demel abschreiben. Der Erzähler geht auch ins Pfarrarchiv und findet den folgenden Eintrag am Anfang des ältesten Personenstandsbuchs: „1628. Mathias, der Sohn des Ambrosius Demel und seiner Ehegattin Marie. Geboren am 23. Februar. Locus: Überdörfl“ (Deutsch im Original).18 Sowohl Tasov als auch Opatov werden somit zu Erinnerungsorten, die in ihren zeitlichen und räumlichen Dimensionen zur Entstehung eines Identitätsnarrativs beitragen.

II.

Muttersprache – Muttertod – Heimverlust

Zu den zentralen Themen in Demls Werk gehört der Tod, der mit sich auch die Problematik einer transzendenten Heimat bringt: „Die Burg des Todes“ („Hrad smrti“, 1912), „Totentanz“ („Tanec smrti“, 1914), „Mein Fegefeuer“ („Mu˚j ocˇistec“, 1929). Auch in „Schlagader“ ist Großvaters Sterbeszene als eine Todesbegegnung aus der Kindheit des Erzählers dargestellt. Der Großvater steht hier nicht nur für eine Überschreitung der topographischen Grenzen, sondern auch für einen Übergang zwischen Dies- und Jenseits: „O Großvater, warum muss man sterben!“, „O Großvater, woher sind wir gekommen, und wohin kehren wir zurück!“ (214f.).19 Eine andere zentrale Figur ist Demls tschechische Mutter, die 1890 im Alter von 33 Jahren starb; ihr Tod wird 1917 im ersten Heft der „Fußspuren“ („Sˇlépeˇje“) thematisiert. Deml verfasste zwischen 1917 und 1941 26 Hefte der „Fußspuren“; dort sind kürzere Texte eigener und fremder Autorschaft, Gedichte, Essays, Briefe, Rezensionen und tagebuchartige Aufzeichnungen vermischt. Im ersten Heft der „Fußspuren“ beschreibt der autobiographische Ich-Erzähler, wie er als Elfjähriger ein Jahr im österreichischen Wulzeshofen verbrachte, um Deutsch zu lernen. Dort wurde er wegen der tschechischen Sprache von anderen Kindern ausgelacht, begann sich des Tschechischen zu schämen und versuchte die Sprache völlig zu wechseln. Nach einem halben Jahr in Wulzeshofen wurde der Erzähler zur kranken Mutter gerufen: „Jetzt kann ich mich nicht gut erinnern, ob ich meiner sterbenden Mutter prahlend zeigen wollte, wie gut ich schon Deutsch kann, und deshalb deutsche Wörter in meine Rede einmischte, oder ob 17 Meine Übersetzung – S.E. „[P]ro nás to nebyla cesta, pro nás byla to pout’ do minulých staletí k Betlemu rodu Demlova“. Ebd., S. 97. 18 Ebd., S. 111. Hervorhebung im Original. 19 „Ó deˇdousˇku, zˇe musí cˇloveˇk umrˇít!“, „Ó deˇdousˇku, odkud jsme prˇisˇli a kam se to vracíme!“ Deml, Tepna. 1967, S. 131.

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ich mich wirklich schon zu Hause für meine Muttersprache schämte“.20 Seine Mutter, die gar kein Deutsch sprach, ärgerte sich und so gingen sie im Zwist auseinander. Als er nach Wulzeshofen zurückkehrte, erreichte ihn bald eine Todesnachricht, ein Telegramm, das im tschechischen Erzähltext auf Deutsch wiedergegeben wird: „Mutter gestorben“.21 Somit ist der Muttertod mit einem Schuldgefühl, mit einer sprachlichen und existenziellen Grenzerfahrung verbunden, die der Ich-Erzähler betonte: Ihr Tod sei eine „ewige Grenze“ in seinem „sichtbaren und unsichtbaren Leben“.22 In der Existenzphilosophie von Karl Jaspers gehören Tod und Schuld zum Phänomen der „Grenzsituationen“, die „mit dem endlichen Dasein unvermeidlich gegeben“ sind und „an den Grenzen unseres Daseins überall gefühlt, erfahren, gedacht werden“.23 In „Fußspuren“ weist Deml auf die frühere Fiktionalisierung des Muttertodes in „Hinter dem Baikalsee“ (1912) hin und vollzieht somit eine gewisse Entschlüsselung: „Darüber habe ich ein kleines Etwas in meinem ,Hinter dem Baikalsee‘ gesagt, aber ganz wenig“.24 Dort wurde die autobiographische Mutter-Sohn-Situation auf zwei Figuren übertragen, deren Namen aus dem Werk von Fëdor Dostoevskij stammen. Rudion Raskolnikov, ein Fähnrich der russischen Armee, erzählt dort darüber, wie er als Kind während eines Lernaufenthalts weit von zu Hause ein Telegramm über den Tod seiner Mutter Nastasije Filipovna erhielt.25 Rodion Raskolnikov („Schuld und Sühne“) und Nastasja Filipovna („Der Idiot“) sind zentrale Figuren aus Dostoevskijs Romanen, die durch die Existenzproblematiken gekennzeichnet sind. 1913 hat Deml auch ein Zitat aus „Schuld und Sühne“ in der autobiographischen Erzählung „Heim!“ („Domu˚“) aufgegriffen: „Das entpuppte Wesen des Lebens, ohne Heimat, Tracht, Sprache – der Verbannten mitleidvolles Land. Ich glaube, Marmeladow sagt in einem Buch von Dostojewski folgenden Satz: ‚Wissen Sie, was das heißt, junger Mann, wenn ein Mensch nirgendwo mehr hingehen kann?‘“

20 Meine Übersetzung – S.E. „Dnes nemohu si dobrˇe vzpomenout, zdali jsem chteˇl své umírající matce se chlubiti, jak uzˇ umím neˇmecky, nebot’ do své rˇecˇi míchal jsem neˇmecká slova, cˇi zdali jsem se opravdu uzˇ i doma stydeˇl za svu˚j rodný jazyk“. Deml, Jakub: Sˇlépeˇje I–III. Brno: Vetus Via 1998, S. 22. 21 Ebd., S. 23. 22 „Její smrt […] jest veˇcˇným rozhraním mého viditelného i neviditelného zˇivota“. Ebd. Marek Nekula gibt diese Geschichte anhand eines Briefes (1912) von Deml wieder und interpretiert sie so, dass der Muttertod Demls „Suche nach der Muttersprache“ auslöste und seine Entscheidung für das Tschechische verursachte. Nekula, Jakub Deml 1998, S. 5. 23 Jaspers, Karl: Psychologie der Weltanschauungen [1919]. Berlin, Heidelberg: Springer 1954, S. 229. 24 „Neˇco malounko rˇekl jsem o tom ve svém Zabajkalí, ale docela malounko“. Deml, Sˇlépeˇje I– III. 1998, S. 23. 25 Deml, V Zabajkalí, 2015, S. 24f.

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(15f.).26 Dieser Satz wird von Semёn Marmledov im zweiten Kapitel des Romans „Schuld und Sühne“ ausgerechnet in seinem Gespräch mit Rodion Raskolnikov formuliert. Somit lässt sich Demls Dostoevskij-Rezeption hinter einer travestierenden Verwendung der bekannten Figurennamen erkennen. In Demls Erzählung „Heim!“ wird die existentielle Obdachlosigkeit als Heimlosigkeit mit Bezug auf Dostoevskij beklagt. Für die problematisierte Identität stehen der metaphorische Verlust von Heimat, Tracht und Sprache sowie die fehlende Zugehörigkeit als Folge des Verlusts der eigenen Familie und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Im Zentrum der autobiographischen Handlung steht der Tod von Demls Schwester Matylka (1886–1910), die seit der Kindheit krank war und im April 1910 verstarb. Als Motto wird diesem Werk ein Tagebucheintrag vorausgeschickt, der von Deml mit einer Infragestellung des eigenen Selbstbilds eröffnet wird: „Der, den man den Priester Jakub Deml nennt, der aber seinen Namen nicht kennt“ (13).27 Die Suche nach einer Selbstdefinition führte ihn zu einer affirmativen Selbstzuschreibung, die von einer anthropologisch-existenziellen Abgrenzung zu einer ethnisch-kulturellen Selbstbestimmung übergeht: „Ich bin kein Tier, ich bin kein Holz, ich bin keine Inventarnummer einer Redaktion oder eines Ordinariats. Ich bin ein Mensch. Und ohne Zweifel bin ich ein Slawe“ (20).28 Im Zeitkontext der 1910er Jahre, die mit der Neuorientierung der slawischen Völker im Habsburger Reich vor der Gründung der Tschechoslowakei verbunden sind, ist Demls Selbstdefinition als „ein Slawe“ ein wichtiges ideengeschichtliches Zeichen. Dieselbe Ambiguität zwischen Metaphysik und Zeitgeist betrifft auch die metaphorische Identifikation des Erzählers mit der Erde. Einerseits entstehen aus der Todesherrschaft auf einer metaphysischen Ebene das symbolische Abkehren des Ich-Erzählers vom Menschenraum und seine Identifikation mit der Erde als Weltsubstanz: „Der Sommer starb, die Kastanien begannen zu trauern und ließen ihren Kopfschmuck auf die Erde fallen. Ich bin diese Erde, die in ihrem Inneren die Körper von Toten und Kristalle und schwermütige Wurzeln und die Quellen furchtsamer Gewässer birgt, denn auf der Oberfläche ist alles öd und leer, und der Frost war nicht stark genug, um die Nacktheit meiner Quellen und Flüsse zu bedecken, und jeder Blick eines Menschen schmerzt mich […]“ (15).29

26 „Podstata zˇivota vybavená, bez vlasti, kroje, jazyka, – vyhnancu˚ zemeˇ soucitná. Tusˇím Marmeladov v kterési knize Dostojevského praví tuto veˇtu: ‚Víte, co to jest, mladý muzˇi, nemá-li cˇloveˇk uzˇ kam jít?‘“. Jakub Deml: Domu˚. Brno: JOTA & ARCA JIMFA 1990, S. 19. 27 „Ten, kterému rˇíkají Jakub Deml kneˇz, ale který nezná svého jména“. Ebd., S. 5. 28 „Nejsem zvírˇe, nejsem drˇevo, nejsem cˇíslem redakcˇního neb ordinariatního inventárˇe. Jsem cˇloveˇk. A bezpochyby Slovan“. Ebd., S. 24. 29 „Léto umrˇelo, zatruchlily kasˇtany a ozdobu hlavy své spustily na zem. To já jsem ta zemeˇ, chovající ve svém nitru teˇla mrtvých a krystaly a korˇeny zádumcˇivé a zdroje vod bojácných,

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Andererseits kann dieses Motiv der Erde auch in Verbindung zu Demls Emphase des Slawentums gebracht werden. Demls bereits erwähnter Verweis auf Dostoevskij erinnert in diesem Kontext an Dostoevskijs Konzept der sogenannten „Bodenständigkeit“ (russ. pocˇvennicˇestvo), das eine slawophile Ausrichtung hatte und eine Alternative zur inneren Obdachlosigkeit bot.30

III.

Tasov als ein imaginierter slawischer Grenzraum

In Demls Erzählung „Hinter dem Baikalsee“ steht seine Emphase des Slawentums im Vordergrund. Dieses Werk bildet eine doppelte Herausgeberfiktion: Laut Text handelt es sich um ein russisches Tagebuch, das in Japan gefunden und zunächst ins Englische übersetzt worden sei. Der Engländer Vincent Aubrey Chaveley, der in Japan wohnte und unterrichtete sowie Russisch konnte, habe dieses Bündel Blätter von einem seiner Studenten erhalten, dessen Vater es am Schauplatz einer Schlacht zwischen Russland und Japan am Fluss Shaho gefunden hatte. Der Tagebuchautor war wohl in dieser Schlacht gefallen; die Blätter waren durcheinander und einige fehlten. Chaveley habe den Text ins Englische übersetzt und mit einem Vorwort versehen. Einzelne für ihn unverständliche Sätze habe er herausgelassen; rätselhaft war für ihn der im Manuskript erwähnte Ortsname „Morava“, der auf keiner russischen Karte gefunden wurde. Deml habe dann im nächsten Schritt diesen Text aus dem Englischen ins Tschechische übersetzt und auch sein eigenes Vorwort verfasst. Er erkannte gleich, dass „Morava“ der tschechische Name von Mähren ist, und vermutete im Tagebuchautor einen Landsmann, der nach Russland übergesiedelt war und in der russischen Armee gegen Japan kämpfte. Deml hat diese Aufzeichnungen unter den ‚kulturhistorischen Quellen‘ betrachtet und ihnen eine große Bedeutung sowohl für die ‚soziale Frage‘ als auch in einer ‚politisch-religiösen‘ Hinsicht zugesprochen, nämlich im Hinblick auf eine wünschenswerte Aussöhnung der Ost- und Westkirche.31 Das Tagebuch beginnt mit einer Beschreibung von Tasov, das hier kein tschechisches Dorf ist: „In Ostsibirien, irgendwo gegenüber der Insel Sachalin, liegt ganz neb pusto jest na povrchu a mráz nebyl tak silný, aby zakryl nahotu mých pramenu˚v a rˇek, a bolí mne kazˇdý pohled lidský […]“. Ebd., S. 19. 30 Vgl.: Tschizˇewskij, Dmitrij: Dostoevskij und die ‚Bodenständigkeit‘. In: Ders.: Rußland zwischen Ost und West. Russische Geistesgeschichte II. 18–20. Jahrhundert. Hamburg: Rowohlt 1961, S. 100–103. 31 Vgl.: „Poneˇvadzˇ pak kulturneˇ-historické prameny teˇsˇí se dnes ve veˇdeckých i lidových kruzích takovému zájmu, kojím se pevnou nadeˇjí, zˇe i tato moje publikace dojde nálezˇitého oceneˇní, ana obsahuje mnoho navýsost du˚lezˇitých problému˚ v rˇesˇení otázky sociální, nemluveˇ ani o stránce politicko-nábozˇenské, která zas bude zajímati ty, jimzˇ na srdci lezˇí kýzˇený smír obou Církví: Východní a Zapadní“. Deml, V Zabajkalí. 2015, S. 15. Hervorhebung im Original.

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am Meer die Stadt Tasov. Sie werden sie auf jeder größeren Karte des mandschurischen Kriegsschauplatzes finden. Ich denke also, dass Tasov ein russisches Wort ist – so oder so ist das ein slawischer Name […]“.32 Die Kriegserfahrung gehört hier zum Motivkomplex des Nomadenzugs durch topographische Räume. So erreichen die Soldaten Ostsibirien nach einer Reise quer durch Russland: „Von Novgorod sind wir nach Kazan’ gefahren, von Kazan’ nach Ufa, von Ufa durch das Uralgebirge nach Omsk, von Omsk nach Tomsk, von Tomsk nach Krasnojarsk, von Krasnojarsk nach Irkutsk“.33 Neben dieser Herausstellung der realen Topographie Russlands findet in der Erzählung im Gegenzug eine starke Mythisierung von Tasov statt. Erzählt wird über die Ureinwohner Tasovs, die ihre Stadt gegen den Überfall einer fremden Horde aus Ungarn oder Schwaben („z Uher nebo ze Sˇvábska“) schützen mussten. In der Urgeschichte Tasovs tauchen also Ungarn und Deutsche als Feinde im fernen Osten Russlands auf. Somit entsteht ein imaginierter slawischer Grenzraum zwischen Ost und West, ein Mittelraum, der sowohl an Japan als auch an Ungarn grenzt. Das slawische Selbstverständnis resultiert dabei aus der Begegnung mit dem Anderen und wird an einigen Stellen vom Tagebuchautor direkt thematisiert: „Ein Slawe oder ein Mährer, was dasselbe ist, hat einen viel tieferen Sinn für die Gerechtigkeit“, „Der Stil eines Mährers oder eines Russen ist keineswegs bündig: Das ist der Stil eines Pfluges, der die Erde pflügt, ein nachdenklicher Stil, ein religiöser Stil, daher ist er wirklich gelehrsam“.34 Der topographische Raum wird in dieser Erzählung Demls wiederum mit dem Sprachraum verbunden: Es wird betont, dass Tasov ein ‚slawischer‘ Name sei. Darauf folgt eine aufschlussreiche etymologische Ableitung vom tschechischen Verb tasiti (‚zücken‘): „Aber schon im Begriff tasiti / zücken ist kein dauerhafter Zustand impliziert, sondern etwas Ungeahntes, irgendwelche äußerste Gefahr, ein Übergang wie der Tod“.35 Somit steht Tasov nicht nur für eine affirmative Identifikation (‚slawisch‘), sondern vor allem für eine Schwellenerfahrung und für eine Grenzsituation wie der Tod. Diese Etymologie wird durch eine Reihe von Assoziationen aus diversen Sprachen vom Griechischen bis zum Arabischen ergänzt: „Protasius, Protas, Tas, 32 Hier und in den weiteren Zitaten aus „Hinter dem Baikalsee“ meine Übersetzung – S.E. „Ve východní Sibirˇi, tam neˇkde naproti ostrovu Sachalinu, lezˇí zcela u morˇe meˇsto Tasov. Najdete je na kazˇdé veˇtsˇí mapeˇ bojisˇteˇ mandzˇurského. Myslím tedy, zˇe Tasov jest slovo ruské – tak nebo tak, jest to název slovanský […]“. Ebd., S. 16. Hervorhebung im Original. 33 „Z Novgorodu jsme jeli do Kazaneˇ, z Kazaneˇ do Ufy, z Ufy prˇes Ural do Omska, z Omska do Tomska, z Tomska do Krasnojarska, z Krasnojarska do Irkutska“. Ebd., S. 18. 34 „Slovan nebo Moravan, cozˇ jest totézˇ, má mnohem hlubsˇí smysl pro spravedlnost“, „Styl Moravanu˚v anebo styl Rusu˚v není nijak strúcˇný: jest to styl pluhu, který ryje zemi, styl rozjímavý, styl nábozˇenský, a proto opravdu veˇdecký“. Ebd., S. 22. 35 „Ale uzˇ v samém pojmu tasiti není obsazˇen neˇjaký trvalý stav, nýbrzˇ neˇco nenadálého, neˇjaké krajní nebezpecˇí, neˇco prˇechodného jako smrt“. Ebd., S. 16. Hervorhebung im Original.

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taxa, tác, tis, Tasov, Tasso, Tasmánie, dotaz, syntaxe, kladba…“ (so im Original), „Arabisches Wort Tasije, Tazije, es bedeutet Trost, Beileid und bestimmte Passionsdramen“.36 Taziyeh ist ein persisches Wort; dieser Begriff bezeichnet religiöse Märtyrerdramen, die mit der Schia verbunden und im Iran verbreitet sind.37 In Demls Wortliste für die Etymologie von Tasov stehen außerdem die Namen des christlichen heiligen Märtyrers Protasius, des italienischen Dichters Torquato Tasso und der australischen Insel Tasmanien (‚Tasmánie‘). Durch den damit eröffneten sprachlichen Raum avanciert Tasov vom Symbol des Slawischen zu einer Art Weltverdichtung, zu einer Synthese aller möglichen Sprachen, Kulturen und Weltreligionen.

IV.

„Die Sprache unserer Liebe ist unsere Heimatgegend“

In Demls Selbstidentifikation sind sowohl eine slawische als auch eine deutsche Komponente verflochten; seine sprachliche Identitätsschwankung wurde Anfang der 1930er Jahre fortgesetzt. Demls erneute Hinwendung zur deutschen Sprache hatte keinen politischen, sondern einen privaten Grund: Er verliebte sich in Katharina Gräfin von Sweerts-Sporck (1895–1945), die einer alten deutschösterreichischen Adelsfamilie entstammte.38 Deml lernte sie 1931 kennen; 1933 widmete er ihr das deutschsprachige Gedicht „Die verzauberte Stadt“, das den Untertitel „Romanze“ trägt. Marek Nekula weist auf „die neuromantische Orientierung dieses Werkes“ hin; er macht auch darauf aufmerksam, dass Deml parallel Texte von Novalis und Rilke in die Hefte XIX und XX seiner „Fußspuren“ (1933, 1934) aufnahm.39 Bereits 1933 entstanden Missverständnisse zwischen den beiden; 1934 brach Katharina Sweerts-Sporck in einem nüchternen Brief die Annäherung ab. Die dadurch ausgelöste persönliche Krise fand unmittelbar Eingang in Demls Werk. Als eine Konstante seines Werks blieb das literarisch mehrfach verarbeitete Gefühl der privaten Einsamkeit und der gesellschaftlichen Verfolgung. Öffentlich sprach sich Deml in den 1930er Jahren hart und unkontrolliert für einen tschechischen Katholizismus gegenüber dem liberalen Pluralismus aus, was für Unverständnis sorgte. 36 „Arabské slovo Tasije, Tazie, znamená úteˇchu, soustrast’ a jisté pasˇijové hry“. Ebd., S. 17. 37 Vgl.: Chelkowski, Peter J. (Hrsg.): Taziyeh. Ritual and Drama in Iran. New York: New York University Press 1979. 38 So interpretiert Marek Nekula Demls Verwendung der deutschen Sprache in den 1930er Jahren nicht als „Zeichen der Kollaboration“, sondern als „eine sehr privat motivierte Entscheidung für das ‚Österreichische‘“ und als eine „Entscheidung für die Vatersprache“. Nekula, Jakub Deml. 1998, S. 10. 39 Ebd., S. 10f.

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Am Höhepunkt der Krise verfasste Deml 1934 die Erzählung „Das vergessene Licht“ („Zapomenuté sveˇtlo“), zu deren Kennzeichen das Einfügen der deutschen Passagen in den tschechischen Text gehört. Das vergessene Licht, eine am Tag nicht ausgeschaltete und ungenutzt leuchtende Lampe, steht metaphorisch für die Selbstreflexionen des Ich-Erzählers. Der erste Satz führt in die Erzählung ein und steht programmatisch für Demls autobiographische Poetik: „Aus einem Streit mit anderen produzieren wir schöne Reden, aber aus einem Streit mit uns selbst machen wir Gedichte“ (227).40 Durch den ständigen Wechsel zwischen dem Tschechischen und dem Deutschen entsteht ein bilingualer Bewusstseinsstrom mit freien Assoziationssprüngen und Sprachreflexionen. Im folgenden Zitat mit einem schnellen Übergang vom Theologischen ins Alltägliche ist derjenige Textteil kursiv markiert, der im Original Deutsch ist: „Gebe Gott, dass mir alle verzeihen. Ich verzeihe Ihnen, Herr B.M.P.41 vom Herzen, aber die Wunden sind zu tief und fürchterlich, auf dass ich vergessen kann. Heißt es nicht: als dass? Und Frau Nozˇicˇková musste ich auf dem Feld suchen, sie waren Kartoffeln klauben“ (237).42 Er erinnert sich an die heiligen Messen in Karlsbad und betet auf Deutsch: „Unter Deinen Schutz und Schirm fliehen wir, o heilige Gottesgebärerin! Zu Dir rufen wir elenden Kinder Evas! Zu Dir seufzen wir trauernd und weinend in diesem Tale der Zähren!“.43 Andererseits ist die Sprachwahl in dieser Erzählung mehrmals als eine Frage der Adressierung, als eine problematische Identifikation mit einer Sprachgemeinschaft reflektiert: „[…] aber ich fange einen Roman zu schreiben an, allerdings fange ich ihn deutsch zu schreiben an, weil das tschechische Volk absolut keinen Wert darauf legt“ (236).44 Hier handelt es sich noch um ein ‚Volk‘, um eine Gesellschaft; an einer anderen Stelle wird die Sprachwahl zu einem beinahe existenziellen Problem zugespitzt, ob der Einzelmensch verstanden werden kann und einen Gesprächspartner für sich findet: „Erst heute verstehe ich richtig und überaus schmerzlich das Wort Otokar Brˇezinas: „Unsere Seele sucht vergebens ihre Schwestern“. Für Ihre Gesundheit und für Ihr

40 Deml, Jakub: Zapomenuté sveˇtlo. Praha: Hynek 1998, S. 5. 41 Dieser „Herr B.M.P.“ wird in dieser Erzählung stets adressiert. Gemeint ist der Gymnasiallehrer und Dichter Bohumil Malina Ptacˇek (1906–1977), der Deml 1929 wegen seiner kritischen Äußerungen gegen den Präsidenten Tomásˇ G. Masaryk angezeigt hat. Als Folge begann ein Gerichtsverfahren, das 1930 vom Präsidenten selbst eingestellt wurde. 42 „Dej Bu˚h, aby mneˇ vsˇichni odpustili. Ich verzeihe Ihnen, Herr B.M.P., vom Herzen, aber die Wunden sind zu tief und fürchterlich, auf dass ich vergessen könnte. Nemá se rˇíci: als dass? A paní Nozˇicˇkovou jsem musel jít hledat na pole, vybírali brambory“. Ebd., S. 53f. 43 Ebd., S. 56. 44 „[..A]le já zacˇínám psáti román, zacˇínám jej psáti neˇmecky ovsˇem, protozˇe národ cˇeský oneˇj naprosto nestojí“. Ebd., S. 53.

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Wohlergehen bin ich ganz und gar nicht verantwortlich.45 Das ist eine deutsche Interpretation des Verses von Brˇezina, soweit ich deutsch überhaupt kann, und ich schreibe das deutsch, denn für wen es tschechisch schreiben? Und für wen es deutsch schreiben? Und für wen es lateinisch schreiben? Und warum überhaupt noch schreiben? Warum sprechen? Zu wem sprechen?“46

Der Ich-Erzähler kann sich mit keiner von seinen drei Sprachen (Tschechisch, Deutsch und Kirchenlatein) identifizieren; in der Frage, warum und zu wem sprechen, wird das Motiv der Einsamkeit zugespitzt. In „Das vergessene Licht“ wiederholt sich das Dostoevskij-Zitat aus der Erzählung „Heim!“ (1913), diesmal aber ohne Verweis auf Marmeladov. Der Ich-Erzähler wird von seinem Hund Bubácˇek begleitet: „Nichts, wohin man gehen kann. Nichts, wohin man gehen kann. Nichts, wohin man gehen kann. Und so kehrte ich mit Bubácˇek zu der sterbenden Bäuerin zurück… Und dann kamen wir gegen Mitternacht heim, und niemand streichelte, niemand lobte, niemand tröstete, niemand erwartete uns“ (248).47 Sogar der transzendente Trost im Gottesglauben wird bezweifelt: 1935 verfasste Deml einen Gedichtzyklus auf Deutsch unter dem Titel „Das Lied eines wahnsinnig gewordenen Soldaten“. Dieser Zyklus besitzt einige expressionistische Züge und inszeniert die traumatische Kriegserfahrung zum Anlass einer imaginierten Grenzüberschreitung zwischen Dies- und Jenseits. Das lyrische Ich bleibt noch am Leben, glaubt selbst jedoch tot zu sein und erinnert sich parallel angeblich an die himmlische Heimat vor der Geburt. Neben dieser Oszillation zwischen Geist und Mensch, Tod und Leben gibt es durch das Gefühl der Gottverlassenheit eine Schwankung zwischen dem Gottesglauben und dem Gottesfluch. Ausschlaggebend ist, dass in diesem deutschen Text autointertextuelle Motive aus Demls tschechischsprachigen Werken auftauchen. „Ich bin kein Tier, ich bin kein Holz“ (20)48 – hat er 1913 auf Tschechisch geschrieben, 1935 hieß es bei ihm auf Deutsch: „Will doch kein Unrecht / und verlange keine Barmherzigkeit, / bin

45 Dieser Satz steht im Original auf Deutsch und wird in der Erzählung als ein Leitmotiv mehrmals wiederholt. 46 Die Übersetzung zit. nach: Wöll, Jakub Deml. 2006, S.1. Meine Hervorhebung – S.E. „Teprve dnes nálezˇiteˇ, kruteˇ rozumím slovu Otokara Brˇeziny: „Nasˇe dusˇe marneˇ hledá své sestry“. Für Ihre Gesundheit und für Ihr Wohlergehen bin ich ganz und gar nicht verantwortlich. To je neˇmecká interpretace versˇe Brˇezinova, pokud já neˇmecky vu˚bec umím, a písˇu to neˇmecky, poneˇvadzˇ cˇesky – pro koho to psát? A neˇmecky: pro koho to psát? A latinsky: pro koho to psát? A procˇ vu˚bec jesˇteˇ past? Procˇ mluvit? Ke komu mluvit?“. Deml, Zapomenuté sveˇtlo. 1998, S. 14f. 47 „Není kam jít. Není kam jít. Není kam jít. A tak jsme se s Bubácˇkem vrátili k té umírající selce… A potom k pu˚lnoci vraceli jsme se domu˚ a nikdo nás nepohladil, nikdo nepochválil, nikdo nepoteˇsˇil, nikdo necˇekal“. Ebd., S. 63. 48 „Nejsem zvírˇe, nejsem drˇevo“. Deml, Domu˚. 1990, S. 24.

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kein entseelter Stein und kein Stück Holz“.49 In mehreren tschechischen Texten Demls wurde eine biographische Legende über seinen „deutschen“ Großvater erzählt, der als Kind einen Wasserkrug zerbrach und sich auf die Flucht begab. Im „Lied eines wahnsinnig gewordenen Soldaten“ kehrt das Motiv des zerbrochenen Krugs wieder. Dieser Autointertext kann als eine erneute Identifikation mit dem Großvater interpretiert werden, in dessen ersten Sprache Deml nun dichtete: „Ich sitze hier an der Ecke, sehe noch alles und denke nach. Ein beliebiger Mensch, ja selbst die Schnecke kann mich einholen. Mein Krug zerbrach.“50

Ein anderes wiederkehrendes Motiv aus der Großvater-Legende ist eine Flucht in Richtung Süden. In „Hinter dem Baikalsee“ (und später auch in „Der Grabhügel“) wurde betont, dass das Kind aus seinem Heimatdorf nach Süden lief. Diese Emphase des Südens, die an eine Metapher des Zugvogels angebunden wurde, diente in „Hinter dem Baikalsee“ als eine topographische Ergänzung der Achse zwischen Osten und Westen: „Er ist nach Süden aufgebrochen. Sagen Sie mir aber, warum ist er nicht nach Norden aufgebrochen? oder in eine andere Richtung? Stimmt, er hat wohl nicht viel darüber nachgedacht, er ist aber nach Süden aufgebrochen… […] Ich glaube nicht, dass er darüber nachgedacht hat, ihn hat aber wohl derselbe Instinkt wie bei einer Schwalbe geführt: nach Süden!“.51 Ein Echo des Süden-Motivs hallt in Demls Text „Die Reise nach Süden“ („Cesta k Jihu“, 1935). Zwischen 1932 und 1935 war er viermal an der kroatischen Küste im damaligen Königreich Jugoslawien (wörtlich ‚Südslawien‘) und suchte dort nach einem Ausweg aus der Krise. Martin C. Putna bezeichnet den Titel „Die Reise nach Süden“ als symbolisch im Sinne des Verlangens nach einer zweiten, besseren Heimat, die sowohl slawisch und katholisch ist, als auch im Süden mit seinen imaginären Paradies-Implikationen liegt.52 In den 1930er Jahren verfasste Deml den deutschsprachigen Gedichtzyklus „Solitudo“ (lat. Einsamkeit). Das Titelgedicht wurde 1933 im kroatischen Dubrovnik geschrieben und beginnt mit dem Gefühl, an einem Ort fremd zu sein:

49 Deml, Jakub: Zakletí slov II. Výbor z versˇu˚ a básní v próze. Praha: BB/art 2006, S. 41. 50 Ebd., S. 47. 51 Meine Übersetzung – S.E. „Pustil se na jih. Ale ˇrekneˇte mi, procˇ se nepustil na sever? anebo jinou stranou? Pravda, mnoho o tom asi neuvazˇoval, ale pustil se na jih… […] Ani já nemyslím, zˇe o tom uvazˇoval, ale vedl ho asi týzˇ pud jako vlasˇtovku: na Jih!“ Deml, V Zabajkalí. 2015, S. 23. ˇ eská katolická literatura v evropském kontextu 52 Martin C. Putna: Jakub Deml. In: Ders.: C 1848–1918. Praha: Torst 2012, S. 437–512, hier S. 479f.

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„In einer fremden Stadt, wenn man einem Menschen begegnet, wenn’s regnet – Gott sei Dank!“53

Im Süden entstand auch Demls Essay „Heimat“ („Rodný kraj“, 1936); gegen Schluss des tschechischen Texts stehen vier Verszeilen auf Deutsch, die das Selbstgefühl des Fremdseins in eine transzendente Dimension überführen: „Wahrscheinlich stamme ich nicht von hier, ich sehe es an diesem Sonnenuntergang; er kommt mir vor wie eine Tür in eine Zukunft, ewig lang…“54

Das autobiographisch geprägte und mythisierte Thema der topographischen und sprachlichen Schwelle avanciert in diesem Essay zur Frage nach der Stellung eines Einzelmenschen vor dem Hintergrund der Länder, Sprachen und Orte. Das Heimatkonzept wird hier sowohl räumlich als auch sprachlich definiert: „Unsere Sprache, die Sprache unserer Liebe ist unsere Heimatgegend“ (281).55 Topographisch ist die Heimat nicht als Land und nicht als Geburtsort, sondern als eine Gegend konzeptualisiert, die dem Einzelmenschen bestimmt ist. So schreibt Deml über die Tschechin Pavla Kytlicová: „Sie war eigentlich heimatlos, wie man sagen würde, denn sie wurde in Wien geboren und hatte auch über zwanzig Jahre lang dort gelebt, aber Heimat ist nicht die Gegend, wo wir geboren wurden und wo wir lebten, sondern die Gegend, in der wir leben und für die wir bestimmt sind“ (274).56 Hier entsteht eine Spannung zwischen zwei Heimatbegriffen: als etwas fest Vorgegebenes oder als Produkt einer Wahl und Reflexion. Ein solches „selbst-reflexive[s] Moment“ gehört zu den allgemeinen Charakteristiken „des modernen Heimatverständnisses“.57 Die Idee der Heimatlosigkeit und des Nomadentums wird im Verlauf des Essays außer Kraft gesetzt, indem die Verbundenheit jedes Lebewesens mit einer Gegend, mit einer Landschaft ins Zentrum gerückt und als ein „archimedischer Punkt“ und eine „Achillesferse“ zugleich metaphorisch bezeichnet wird (280).58 Wenn man seinen archimedischen Punkt der Identität nicht in einem Land, in Deml, Jakub: Zakletí slov I. Výbor z versˇu˚ a básní v próze. Praha: BB/art 2006, S. 147. Deml, Jakub: Rodný kraj. In: Ders.: Pozdrav Tasova. Brno: Host 2013, S. 461–475, hier S. 475. „Násˇ jazyk, jazyk nasˇí lásky je násˇ rodný kraj“. Ebd., S. 475. „Ona vlastneˇ byla bez domova, jak by se ˇreklo, nebot’ se narodila ve Vídni a také tam prˇes dvacet let zˇila, ale rodný kraj není ten, v neˇmzˇ jsme se narodili a ve kterém jsme zˇili, nýbrzˇ ten, ve kterém zˇijeme a pro který jsme urcˇeni“. Ebd., S. 470. 57 Vgl.: „Daher könnte man als drittes Kennzeichen des modernen Heimatverständnisses das selbst-reflexive Moment nennen: Heimat als Reflexionsbegriff“. Costadura, Edoardo/Ries, Klaus: Heimat. Ein Problemaufriss. In: Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven. Hrsg. von dens. Bielefeld: transcript 2016, S. 7–23, hier S. 11. 58 Tschechisch „Archimedový bod“, „Achillova pata“. Deml, Rodný kraj. 2013, S. 474.

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einer Sprache oder Gesellschaft verorten kann, dann findet man ihn vielleicht in einem Fleckchen Erde, einer Gegend oder einem Stück Landschaft. Für Deml ist das Tasov, und auf diese Landschaft mit ihren Linden und Felsblöcken führt er im Essay rhetorisch seine Blicke und Worte, seine Gesten und seinen Körper, seine Gefühle, Gedanken und Träume, seine Hoffnung und Verzweiflung zurück: „[…D]as alles, selbst wenn ich es nicht einmal weiß, legt meine Heimatlandschaft in alle meine Blicke, die gut waren, in alle meine Worte, deren Stimme demütig war, in jede Geste meiner Hände, in jedes Aufrichten und Beugen meines Körpers, in jeden Schlag meines Herzens, in jedes Gefühl, in jeden Gedanken, in jede Hoffnung, in jede Verzweiflung, in alles, o Gott sei gedankt, o weh: in alle meine Träume!“ (281)59

Tasov blieb Demls persönlicher Identitätsmythos und wurde auch zum Identitätszeichen vieler seiner Werke. 1922 ist der Schriftsteller nach dem Leben in unterschiedlichen Städten Böhmens, Mährens und der Slowakei nach Tasov zurückgekehrt, wo er mit kleinen Unterbrechungen bis zu seinem Tod lebte. Viele seiner Werke erschienen zuerst in einem kleinen Eigenverlag und hatten einen Vermerk auf dem Titelblatt: „In Tasov“.60 1948 hat Deml dem ersten Band („Der Grabhügel“) seiner geplanten Gesamtausgabe eine Widmung vorausgeschickt: „Ich habe angeblich ‚eine Reihe von Büchern‘ geschrieben. Sie, teurer Freund, wissen, dass ich nur ein einziges Buch schreibe. Und wenn es möglich wäre, würde ich es in ein einziges Wort geben. Tasov“ (183).61 In dieser Ausgabe wurden sogar einige Fotos abgebildet: Demls Vater und Großvater, sein eigenes Haus in Tasov, eine Landschaft am Fluss Oslava in Tsov. Somit wird Tasov bei Deml zu einem topographischen, typographischen und fotographischen Werkraum. Als Heimatgegend ist das ein zugleich realer und imaginierter Raum, ein mährischer, slawischer und letztendlich ein weltverdichtender existenzieller Raum wie in „Hinter dem Baikalsee“. Als Symbol für Demls literarisches Identitätskonzept ist das ein mythisierter archimedischer Punkt für einen Einzelmenschen, der sich als einsamer Grenzgänger zwischen Sprachen, Orten und schließlich zwischen Diesseits und Jenseits fühlt.

59 „[..T]oto vsˇe, i kdyzˇ ani nevím, dává mu˚j rodný kraj do vsˇech mých pohledu˚, které byly dobré, do vsˇech mých slov, jejichzˇ hlas byl pokorný, do kazˇdého posunˇku mých rukou, do kazˇdého vzprˇímení nebo sklesnutí mého tela, do kazˇdého tepu mého srdce, do kazˇdého pocitu, do kazˇdé mysˇlenky, do kazˇdé nadeˇje, do kazˇdého zoufalství, do vsˇech, ó díky Bohu, ó beˇda: do vsˇech mych snu˚!“. Ebd., S. 474. 60 Tschechisch „V Tasoveˇ“. 61 Eine von mir modifizierte Übersetzung – S.E. „Napsal prý jsem ‚rˇadu knih‘. Vy, drahý prˇíteli, jako málokdo jiný, víte, zˇe písˇi jen jednu knihu. A kdyby bylo mozˇno, dal bych ji do jednoho slova. Tasov”. Deml, Jakub: Dílo Jakuba Demla. Svazek první. Mohyla. Praha: Vysˇehrad 1948, S. 7.

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V.

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Demls Werk als liminale Literatur

Das Konzept der Liminalität als „Schwellenzustand“ wurde in den 1960er Jahren von Victor W. Turner in Anlehnung an Arnold van Genneps Begriff einer mittleren, liminalen Schwellenphase in Übergangsriten (1909) entwickelt. Unter rites de passage fasste van Gennep solche Riten, die „einen Orts-, Zustands-, Positionsoder Altersgruppenwechsel begleiten“.62 Victor W. Turner definierte die Liminalität als einen solchen Übergangszustand zwischen festen Positionen und Kategorien, der einen „Grenzgänger“ charakterisiert: „Die Eigenschaften des Schwellenzustands (der ‚Liminalität‘) oder von Schwellenpersonen (‚Grenzgängern‘) sind notwendigerweise unbestimmt, da dieser Zustand und diese Personen durch das Netz der Klassifikationen, die normalerweise Zustände und Positionen im kulturellen Raum fixieren, hindurchschlüpfen. Schwellenwesen sind weder hier noch da, sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen.“63

Im Vorwort zum Sammelband „Schriftkultur und Schwellenkunde“ (2008) haben Achim Geisenhanslüke und Georg Mein einen Doppelstatus der Liminalität hervorgehoben, die „sowohl eine fundamentale Ordnungskategorie als auch eine transitorische Zone des Übergangs markiert“ und somit „das Widerspiel von Grenze und Überschreitung“ fasst.64 Neben der Relevanz dieses Konzepts für unterschiedliche Aspekte der Literaturtheorie haben sie auf die Existenz einer „liminalen Literatur“ hingewiesen, zu deren prominenten Vertretern „im Kontext der Moderne“ „Grenzgänger wie Franz Kafka, Robert Musil, Elias Canetti und Paul Celan“ gehören.65 Auch Jakub Deml lässt sich einer liminalen Literatur als ein Dichter der Schwelle zuordnen. Es handelt sich dabei um eine Reihe der poetologischen, topographischen, sprachlichen, kulturellen und existenziellen Grenzen, die von ihm stets transzendiert werden. Demls Grenzgänge konstituieren sein Gesamtwerk und vollziehen sich auf den Achsen zwischen Böhmen und Mähren, Deutsch und Tschechisch, Osten und Westen, Norden und Süden sowie zwischen Lyrik und Prosa, Autobiographie und Fiktion.

62 Zit. nach: Turner, Victor W.: Liminalität und Communitas. In: Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Hrsg. von Andréa Belliger/David J. Krieger. Opladen, Wiesbaden: Westdt. Verl. 1998, S. 251–262, hier S. 251. 63 Ebd. 64 Geisenhanslüke, Achim/Mein, Georg: Einleitung. In: Schriftkultur und Schwellenkunde. Hrsg. von dens. Bielefeld: transcript 2008, S. 7–9, hier S. 8 (Literalität und Liminalität, Bd. 1). 65 Ebd., S. 8f.

Olga Hinojosa Picón (Sevilla)

Die Grenze als ambivalenter Raum im Werk Barbara Honigmanns

Identitätsbildung, Familiengeschichte und Erinnerung sind die Themen, um die sich das autobiographische Werk der deutschen Schriftstellerin Barbara Honigmann dreht. Die Autorin setzt sich intensiv mit ihnen auseinander, nachdem sie emigriert ist und sich 1984 im französischen Straßburg – nicht zufällig einer Grenzstadt – niedergelassen hat. Als Exilantin stellt sie ihre kulturelle Herkunft in Frage, blickt im Gedächtnis an ihr Geburtsland und ihre eigene Vergangenheit zurück und tritt in ihren Schriften den Rückweg dorthin an. Ziel dieses Beitrags ist es, auf Grundlage von Stephen Greenblatts Theorie der kulturellen Mobilität den Raum zu analysieren, den Honigmann in ihrem Werk anhand ihrer Erinnerung rekonstruiert. Dafür werden wir das Augenmerk auf die Bedeutung der Grenzen richten, die sie in der Fiktion beschreibt. Construction of identity, family story and memory are the main concerns of the German author Barbara Honigmann’s autobiographical novels. Working intensely on these matters after her, not by accident, 1984 emigration to the border town of Strasbourg, France, this self-exiled writer reflects and questions her own cultural background, examines her personal remembrances and journeys through her own past to her original birthplace. Then she returns to the present moment, bringing all these experiences and perspectives together in her writings. Based on Stephen Greenblatt’s theory of Cultural Mobility, the aim of this article is to analyse the space that Honigmann reconstructs in her work with the aid of her memories of place and family. By doing so, we will work to sharpen our focus on the meanings of the concept of border that she describes and reveals in her writings.

Die Debatte um das Konzept des Raumes als Bedeutungsträger und -gestalter kultureller Bezüge in literarischen Texten hat in den Geisteswissenschaften in den letzten Jahrzehnten so rasch an Bedeutung gewonnen, dass Literaturwissenschaftler wie Hartmut Böhme die Beschreibung des Raumes mit der der Kultur gleichsetzen.1 Und laut der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt ist der Begriff Kultur – insbesondere in einer globalisierten

1 Vgl. Böhme, Harmut: Raum – Bewegung – Topographie. In: Topographien der Literatur. Hrsg. von Hartmut Böhme. Stuttgart: Metzler 2005, S. XVIII.

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Welt – nur durch Bewegung denkbar,2 denn nur durch Bewegung, die inhärenter Bestandteil des Menschen sei, könne man Phänomene wie Emigration und Exil verstehen. Gleichwohl gilt, dass solche Phänomene die Heterogenität der Kulturen sichtbar machen und das Konzept der Grenzen destabilisieren.3 Diese Meinung vertritt auch Stephen Greenblatt, der behauptet, man könne menschliche Verhaltensmuster in der Literatur nur aus der Sicht der Kulturellen Mobilität4 analysieren. Dies erfordert eine gründliche Untersuchung der Bewegung im literarischen Text, um die Momente zu identifizieren und zu analysieren, in denen aus dem Kontakt zwischen verschiedenen nationalen Identitäten ein Transfer von Kulturgütern stattfindet. Solche Vorgänge ereignen sich in Kontaktzonen, die Pratt als jenen Raum definiert, in „which people geographically and historically separated come into contact with each other and establish ongoing relations, usually involving conditions of coercion, radical inequality, and intractable conflict“.5 Dieser Zwischenraum, der dynamisch an Grenzen entsteht, „where cultures meet, clash and grapple with each other, often in contexts of highly asymmetrical relations of power“,6 in dem Begriffe neue Bedeutungen gewinnen, ist das, was wir in diesem Beitrag analysieren werden. Mit diesem Ziel werden wir uns hauptsächlich auf den Erzählband „Das Gesicht wiederfinden“ beziehen, in dem Barbara Honigmann über das Schreiben und das Judentum reflektiert. Bestimmte Auszüge aus den Werken „Roman von einem Kinde“; „Damals, dann und danach“ und „Ein Kapitel aus meinem Leben“ werden auch dazu dienen, die Bedeutung der Grenze in ihren Romanen zu verdeutlichen.

2 Vgl. Pratt, Mary Louise: Ojos imperiales. Literatura de viajes y transculturación. México: Fondo de Cultura Económica 2010, S. 420. Dieser Meinung sind auch Hallet und Neumann, die behaupten, dass die transnationalen Migrationsprozesse in einer globalisierten Welt nur „durch eine systematische Korrelierung von Raum und Bewegung“ denkbar sind. Vgl. Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit: Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung. In: Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Hrsg. von Wolfgang Halle/Birgit Neumann. Bielefeld: transcript 2009, S. 11–32, hier S. 20. 3 Vgl. Böhme, Harmut: Die Grenzen und das Fremde. Einleitung. In: Topographien der Literatur. Hrsg. von Hartmut Böhme. Stuttgart: Metzler 2005, S. 598–599. 4 Vgl. Greenblatt, Stephen: Cultural Mobility. A Manifesto. New York: Cambridge University Press 2010, S. 251–253. 5 Arondekar, Anjali: Reading (Other) Wise. Transgressing the Rhetoric of Colonization. In: Symploke¯ 1, 1993, H. 2, S. 163–176, hier S. 163. 6 Pratt, Mary Louise: Arts of the Contact Zone. In: Profession. New York: MLA 1991, S. 33–40, hier S. 34; vgl. auch Lehmkuhl, Ursula/Lüsebrink, Hans-Jürgen/McFalls, Laurence: Spaces and Practices of Diversity. An Introduction. In: Of ‘Contac Zones’ and ‘Liminal Spaces’. Mapping the Everyday Life of Cultural Translation. Hrsg. von Ursula Lehmkuhl/Hans-Jürgen Lüsebrink/Laurence McFalls. Münster/New York: Waxmann 2015, S. 7–27.

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I. Aleida Assmann schreibt: „In den vielen kleinen privaten Geschichten spiegelt sich die große Geschichte“.7 Diese Aussage ist wie zugeschnitten auf Barbara Honigmanns Werk, die selbst der Meinung ist, dass es ausgerechnet die Bagatellen und Geschichten des Tages sind, die die große Geschichte ausmachen.8 Tatsächlich stellt die Autorin durch die kleinen Geschichten, die sie über ihre Biographie und die ihrer Vorfahren in ihrem Werk erzählt, eine sehr detaillierte Landkarte der jüngeren Geschichte Deutschlands dar. Aus diesem Grund gelten ihre Erzählungen vielen Literaturwissenschaftlern als Dokumente.9 Honigmann, die ihrerseits diese Einschätzung ihres Werkes nicht ablehnt, stellt aber trotzdem klar, dass für sie der fiktionale Bestandteil ihres Werkes Priorität vor dem historischen hat. Im Schreiben von Literatur, sagt sie, habe sie den passenden Raum gefunden, das reale Leben in eine gute Erzählung zu verwandeln (DG, S. 39). Diese Haltung drückt sich auch darin aus, dass sie ihre Schriften, in Anlehnung an und Abgrenzung zu Autobiografien, als Autofiktion bezeichnet (ebd.). Gleichzeitig wird Honigmanns Werk wegen ihrer gewissenhaften Suche nach Spuren der Vergangenheit als Topographie der Erinnerung eingestuft.10 Dabei bezeichnet sie selbst sowohl ihre eigenen Erinnerungen als auch die ihrer Vorfahren – auf die sie ihr Werk stützt und die unter dem Begriff Familiengedächtnis als Thema schlechthin gelten – als „unzuverlässige Zeugen“ (DG, S. 93). Demnach befindet sich Honigmann auf halbem Weg zwischen Realität und Fiktion – einen Zwiespalt, den die Autorin selbst so reflektiert: „Normalerweise bewegt man sich beim Schreiben irgendwo in der Mitte zwischen dem Wunsch zur Preisgabe und dem zur Zurückhaltung, zwischen dem Wunsch, sich zu entdecken, und dem, sich zu verbergen, zwischen Nähe und Abstand zu all den Dingen, die sich in mir angesammelt haben und darauf warten, aufgeräumt, manchmal auch weggeräumt zu werden. Beim Schreiben lebt man im Schmerz des Bloßlegens und der 7 Assmann, Aleida: Wem gehört die Geschichte? Fakten und Fiktionen in der neueren deutschen Erinnerungsliteratur. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 36, 2011, S. 213–225, hier S. 223. 8 Vgl. Honigmann, Barbara: Das Gesicht wiederfinden. Über Schreiben, Schriftsteller und Judentum. München: Carl Hanser 2006, S. 12. Auf diese Ausgabe beziehen sich die im Folgenden unmittelbar im Haupttext in Klammern nach der Abkürzung DG angegebenen Seitenzahlen. 9 Vgl. Weiss, Yfaat: Im Schreiben das Leben verändern. Barbara Honigmann als Chronistin des jüdischen Lebens in Deutschland. In: Kurz hinter der Wahrheit und dicht neben der Lüge. Zum Werk Barbara Honigmanns. Hrsg. von Amir Eshel/Yfaat Weiss. München: Wilhelm Fink 2013, S. 17–28. 10 Vgl. Klaedtke, Uta/Ölke, Martina: Erinnern und erfinden. DDR-Autorinnen und ‚jüdische Identität‘ (Hedda Zinner, Monika Maron, Barbara Honigmann). In: Jüdische Intellektuelle im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Ariane Huml/Monika Rappenecker. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 249–274, hier S. 261.

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Lust der Lüge und des Umdichtens, des Spiels mit der ungreifbaren Wahrheit, die der Lüge so oft zum Verwechseln ähnlich sieht“ (DG, S. 92).

Die Zwischenposition, die die Autorin in ihren Schriften bezieht, „kurz hinter der Wahrheit und dicht neben der Lüge“,11 kennzeichnet eine Prosa voller Widersprüche, die durch eine Vielfältigkeit von Bedeutungen geprägt ist, was wiederum charakteristisch für die Kontaktzone ist,12 in der sich die Autorin seit Anfang ihrer Exilzeit befindet, wie wir nun zeigen werden.

II. Geboren 1949 im damals sowjetischen Teil Berlins verlässt Barbara Honigmann, Tochter assimilierter jüdischer Kommunisten, 1984 die DDR und siedelt nach Frankreich über – eine Entscheidung, die sie mit den folgenden Worten zusammenfasst: „Hier bin ich gelandet vom dreifachen Todessprung ohne Netz: vom Osten in den Westen, von Deutschland nach Frankreich und aus der Assimilation mitten in das Thora-Judentum hinein.“13 Der Anlass für das Unternehmen dieser Reise vom Osten in den Westen bildet den Inhalt ihres Erstlings, „Roman von einem Kinde“ – der eigentlich, wie Honigmann selbst zugibt, kein Roman, sondern eine Sammlung von Prosatexten ist, dessen Titel „sich auf die Haltung, noch einmal ganz von vorne anzufangen, wie ein Kind eben“14 bezieht. Dieser Anfang beginnt für die Autorin mit dem Wunsch, sich von ihrem bisherigen Leben in Deutschland, wo ihr inzwischen „alles fremd geworden“ (RK, S. 16) ist, zu verabschieden, was sie im ersten Kapitel des Bandes mit der Einfachheit der Sprache eines Kindes formuliert: „von zu Hause losgehen und eine große Reise machen und nie mehr wiederkommen und 11 So lautet der Titel eines Bandes, der sich mit dem Werk Honigmanns beschäftigt. Vgl. Kurz hinter der Wahrheit und dicht neben der Lüge. Zum Werk Barbara Honigmanns. Hrsg. von Amir Eshel/Yfaat Weiss. München: Wilhelm Fink 2013. Aus dem autobiographischen Roman „Ein Kapitel aus meinem Leben“ entnommen, wie die Herausgeber selbst erklären, stellt dieser Titel das Credo Alice Kohlmanns, Barbara Honigmanns Mutter, die ihrer Tochter als Kind empfohlen hat, so nah wie möglich an der Wahrheit zu lügen. Honigmann, Barbara: Ein Kapitel aus meinem Leben. München: Carl Hanser 2007 [2004], S. 23. 12 Laut Pratt sind „Autoethnography, transculturation, critique, collaboration, bilingualism, mediation, parody, denunciation, imaginary dialogue, vernacular expression […] miscomprehension, incomprehension, dead letters, unread masterpieces, absolute heterogeneity of meanings“ Merkmale der Contact Zones. Pratt, Arts of the Contact Zone. 1991, S. 37. 13 Honigmann, Barbara: Roman von einem Kinde. Darmstadt/Neuwied: 2006 [1986], S. 111. Auf diese Ausgabe beziehen sich die im Folgenden unmittelbar im Haupttext in Klammern nach der Abkürzung RK angegebenen Seitenzahlen. 14 Honigmann, Barbara: Damals, dann und danach. München/Wien: Carl Hanser 1999, S. 51. Auf diese Ausgabe beziehen sich die im Folgenden unmittelbar im Haupttext in Klammern nach der Abkürzung DD angegebenen Seitenzahlen.

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in einem anderen Land bleiben und eine andere Sprache sprechen“ (RK, S. 38). Die Umsetzung dieses Gedankens in die Tat vollzieht sich in den folgenden Kapiteln, in denen Honigmann ihren Transit – und die dementsprechenden Stationen –, nach Frankreich beschreibt und dabei „die Grenzen zwischen Erlebtem und Erinnertem, Erwünschtem und Erträumtem zum Verschwinden“15 bringt. Ihre Ankunft an der Endstation, Straßburg, wird in der letzten Erzählung als „the end of a new beginning“16 beschrieben und dabei als Höhepunkt eines Projektes, für das es kein Zurück mehr gibt: „Ich will jetzt ununterbrochen hier bleiben, einfach hier sein, sozusagen meine Zeit absitzen, ohne immer wieder wegzufahren und zurückzukommen“ (RK, S. 115). Kurz nach ihrer Niederlassung in Straßburg, französisch-deutsche Grenzstadt und Sammelpunkt von jüdischen Exilanten und Migranten,17 findet sie die Gelegenheit „eine ‚richtige‘ Jüdin und […] eine ‚richtige‘ Schriftstellerin zu sein“ (DD, S. 169), nachdem sie feststellt, dass für sie „das Schreiben Getrenntsein heißt und dem Exil sehr ähnlich ist“ (DD, S. 47). Auf diese Weise beginnt ihre literarische Laufbahn, im Exil. Und der Grund ihres Umzuges nach Frankreich, wovon sie schon in „Roman von einem Kinde“ zu erzählen anfängt, wird zu dem Thema, um das sich ihr ganzes literarisches Werk drehen wird: nämlich die Suche nach der jüdischen Identität, die sie in der DDR nicht erleben konnte, da „die Deutschen und die Juden in Auschwitz ein Paar geworden sind“ (DD, S. 169). Die daraus entstandene Gleichsetzung von Judentum und Holocaust, die Honigmann im kollektiven Gedächtnis der DDR erkennt, sagt sie, habe sie nicht mehr aushalten können: „Es ist dieser Konflikt, diese Überspanntheit, wovor ich weggelaufen bin. Hier, in Frankreich, geht mich alles viel weniger an, ich bin nur ein Zuschauer, ein Gast, eine Fremde. Das hat mich von der unerträglichen Nähe zu Deutschland befreit“ (DD, S. 16f.). Eine Zuflucht von dieser „unerträgliche[n] Nähe zu Deutschland“ findet Honigmann paradoxerweise nur „drei Straßen hinter der Grenze“ (DD, S. 45.). So hält sie die Verbindung zu ihrem Geburtsland aufrecht, und trägt ihrer eigenen Erkenntnis Rechnung: „(K)ulturell gehöre ich doch zu Deutschland“ (DD, S. 17). Damit tritt sie in gewisser Weise ihre Rückkehr nach Deutschland an, kaum dass sie in Frankreich angekommen ist“ (DD, S. 46).

15 Braun, Michael: Barbara Honigmanns „Weg nach Hause in die Fremde“. In: Deutsch-deutsches Literaturexil. Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR in der Bundesrepublik. Hrsg. von Walter Schmitz/Jörg Bernig. Dresden: Eckhard Richter & Co. 2009, S. 623–639, hier S. 628. 16 Stern, Guy: Barbara Honigmann. A Preliminary Assessment. In: Insiders and Outsiders. Jewish and Gentile Culture in Germany and Austria. Hrsg. von Dagmar C.G. Lorenz/Gabriele Weinberger. Detroit: Wayne State University Press 1984, S. 329–346, hier S. 331. 17 Vgl. Fiero, Petra: Zwischen Enthüllen und Verstecken. Eine Analyse von Barbara Honigmanns Prosawerk. Tübingen: Max Niemeyer 2008, S. 109.

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In dem ersten Transitraum im Honigmanns Werk, auf den wir uns beziehen, relativiert die Autorin von Beginn an die Bedeutung der Begriffe Nähe und Distanz gegenüber Deutschland. Diesem geografischen und kulturellen Grenzgebiet heraus betrachtet, erhält die Grenze eine Doppelbedeutung: Sie stellt einerseits ihren Bruch mit Deutschland und das Ende einer Lebens-Etappe dar. Andererseits symbolisiert sie den Übergang zu ihrem künstlerischen Schaffen und damit zu einer neuen Beziehung zur deutschen Kultur und Sprache, denn sie schreibt weiterhin auf Deutsch und über Deutschland: „Als Jude bin ich aus Deutschland weggegangen, aber in meiner Arbeit, in einer sehr starken Bindung an die deutsche Sprache, kehre ich immer wieder zurück“ (DD, S. 18). Durch diese Nähe in der Entfernung, bekommt auch Honigmanns Exil eine positive Dimension. Zu der Perspektive des Verlustes gewinnt es ein neues Moment hinzu: das des Schaffens eines alternativen Raumes, in dem sie ihre neue Identität erleben kann. An diesem Ort, der für Honigmann sowohl Ankunft als auch Aufbruch darstellt, bekommen alte Begriffe neue Bedeutungen. So wandelt sich zum Beispiel der Begriff fremd, durch den sie sich in Ost-Berlin stigmatisiert fühlte, in etwas Positives („Nun weiß ich endlich, was es heißt, fremd zu sein”; RK, S. 114), denn ihr Status als Fremde in Straßburg ermöglicht ihr ihre „Muttersprache […] als poetische Sprache für sich neu zu erfinden“18 und Schriftstellerin zu werden. Von da an sitzt die Autorin in einem Zwischenraum, in dem die Brüche nicht mehr endgültig sind und sich ehemals entgegengesetzte Diskurse vereinen lassen. In ihrem Fall die Diskurse als Deutsche, Jüdin und Schriftstellerin: „Wer sich der doppelten Bindung verschreibt, bleibt immer Grenzgänger, und ich bin es oft leid, mich auf beiden Seiten der Grenze einem fassungslosen Unverständnis ausgesetzt zu sehen, mich immer von neuem jeweils als Künstlerin und gleichzeitig als halbwegs praktizierende Jüdin erklären zu müssen, mit Begründungen, die allesamt inkohärent sind, weil ein Widerspruch ein Widerspruch ist und auch bleibt“ (DG, S. 160).

Aus der Perspektive einer Grenzgängerin, die mit dieser Art Doppelleben manchmal zufrieden und manchmal unzufrieden ist (DD, S. 72), thematisiert Honigmann die Bildung einer jüdischen Identität in ihrem Werk „als Akt der künstlerischen Selbstforschung“19 Dafür – und nachdem sie versteht, wie schwer es ist, „der Geschichte und den Geschichten ihrer Eltern zu entrinnen“ (DD, S. 11) – unternimmt sie eine lange Reise in die Vergangenheit und erforscht auf der Suche nach ihren 18 Gordinsky, Natasha: Ein wahres Babel. Mehrsprachigkeit in Barbara Honigmanns „Roman von einem Kinde“. In: Kurz hinter der Wahrheit und dicht neben der Lüge. Zum Werk Barbara Honigmanns. Hrsg. von Amir Eshel/Yfaat Weiss. München: Wilhelm Fink 2013, S. 113–130, hier S. 128. 19 Klaedtke/Ölke, Erinnern und erfinden. 2003, S. 270.

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eigenen Ursprüngen, die verschiedenen Stationen, die ihre Vorfahren einst durchlebten: „Die Routen des Exils Überfahrten bei stürmischer See Versunkene Städte Die Treue der Gefährten Die Untreue der Gefährten Das rettende Land Die Insel des Überlebens Eine fremde Sprache Wien vor dem Krieg Berlin vor dem Krieg Paris bis zur Okkupation London Bomben auf London der Blitz“ (DD, S. 12)

In dem oben zitierten Gedicht, das zu der Erzählung „Selbstporträt als Jüdin“ gehört, verweist die Station in Wien auf die biografische Laufbahn der Familie der Autorin mütterlicherseits. Sowohl die gebürtige Wienerin Alice Kollmann, Barbara Honigmanns Mutter, als auch ihre Eltern ungarischer Herkunft, mussten als Juden Österreich vor dem Zweiten Weltkrieg verlassen. Ihre Vertreibungsgeschichte erzählt Honigmann etwas ausführlicher als sonst in „Der Untergang von Wien“. Ähnliche Gründe führten auch den Vater der Autorin, Georg Honigmann, dazu, vor dem Krieg Abschied von seiner Heimatstadt Berlin zu nehmen und ins Exil zu gehen. Die Wege ihrer Eltern kreuzten sich in London, der Stadt, in der auch Alice nach einem kurzen Aufenthalt in Paris Zuflucht gefunden hatte. So war Großbritannien zwar die Station, an der die Familie der Autorin den Krieg überlebte, blieb jedoch nicht lange ihr Aufenthaltsort. Trotz Exil und Vertreibung entschieden sie sich bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Berlin umzusiedeln – eine Entscheidung, die Honigmann nicht nachvollziehen kann, wie sie lakonisch feststellt: „(S)o kämpften sie gegen die Deutschen, und dann kehrten sie nach Deutschland zurück“ (DD, S. 13). Indem die Autorin die Migrationsgeschichte ihrer Familie, die sie nur bruchstückhaft kennt, rekapituliert, stößt sie immer wieder auf die Geschichten gescheiterter Hoffnungen ihrer jüdischen Vorväter, denen es nicht gelingt, „in der deutschen Kultur ‚zu Hause‘ zu sein“ (DD, S. 45). Mit Ausnahme ihres Urgroßvaters David Honigmann, der die deutsche Sprache mit der Bibelübersetzung lernte, zu denen gehörte, die das deutsche Reformjudentum begründet hatten, und „als ein treuer Jude [und] ein guter Deutscher“ starb (DD, S. 41f.), bestand ihre Familie väterlicherseits fast ausschließlich aus assimilierten Juden. Genau wie sein Vater, der ebenfalls Schriftsteller war, hat Honigmanns Großvater Georg

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Gabriel Bücher in deutscher Sprache verfasst. Wie zum Bekenntnis zur deutschen Kultur trat der Großvater sogar aus der Jüdischen Gemeinde aus (DD, S. 42). Diesen Schritt hatte sich Honigmanns Vater deshalb ersparen können, da er „schon in die Assimilation hineingeboren war“,20 sich vor allem als Deutscher verstand und ohnehin nur an seine Heimat Deutschland glaubte. Bis er dann als Jude „aus der deutschen Heimat in fremde Länder flüchten“ musste (DD, S. 44), nachdem sein einziger Bruder während des Ersten Weltkrieges im Kampf für das deutsche Vaterland gefallen war. Die Geschichte der Assimilation ihrer Vorfahren setzt sich nach dem Zweiten Weltkrieg fort: Nachdem sich Georg Honigmann in der DDR niedergelassen hatte, deren politisches System die Judenfrage einfach per Dekret abschaffen wollte (ebd.), setzte er als überzeugter Kommunist die literarische Betätigung seiner Vorväter fort, unterwarf sich dabei aber der Partei und verleugnete seine jüdische Herkunft (ebd.). Ihrerseits folgte Alice Kollmann, die Berlin nie betreten hatte und deswegen nicht nach Deutschland zurückkehrte (DD, 6f.), ihrem Mann und verschwieg dabei ganz einfach ihre jüdische Herkunft. Damals füllte „ihr Enthusiasmus für den Kommunismus […] scheinbar alles aus: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (DD, S. 23). Sie wollte einfach „alles hinter sich lassen, alles wieder neu beginnen“ (EK, S. 40) und erzählte ihrer Tochter dabei jahrelang kein einziges Wort von der Geschichte ihrer Eltern, die im Exil in Großbritannien begraben worden waren. Den Wunsch ihrer Mutter, in der DDR ganz von vorne anzufangen, will Honigmann ihrerseits nach ihrer Ankunft in Straßburg ausleben. Doch im Gegensatz zu Alice verfolgt sie mit der Überschreitung der Grenze das Ziel, ein „Minimum jüdischer Identität“ (DD, S. 15) in ihrem Leben zu gewinnen. Dafür macht sie – wie schon zuvor ihre Vorväter – das Schreiben zu ihrem Beruf. Im Gegensatz zu ihnen, die „umsonst“ geschrieben hatten, nimmt sich Honigmann jedoch vor, ihre Geschichte – die auch die ihrer Urgroßmutter, ihrer Großmutter und ihrer Mutter ist – „mit anderen Worten“ – das heißt: als Jüdin – zu erzählen (DD, S. 50). Dabei sieht sie sich als Teil einer Familiengeschichte, die man auch anders weitererzählen kann,21 indem man sie „noch einmal anders, ganz von vorne“ zu schreiben beginnt und zwar nicht „in der Sprache der Vorkämpfer“, sondern in der der „Ratlosen […], der Worte sucht für die verstreuten Erinnerungen und vagen Bilder, die in seinem Innern herumschwimmen“ (DD, S. 51). In der Diaspora, als Emigrantin, setzt Barbara Honigmann eine familiäre Tradition fort und teilt das Schicksal ihrer Familie, deren Geschichte von Wan20 Honigmann, Barbara: Ein Kapitel aus meinem Leben. München/Wien: Carl Hanser 2004, S. 32. Auf diese Ausgabe beziehen sich die im Folgenden unmittelbar im Haupttext in Klammern nach der Abkürzung EK angegebenen Seitenzahlen. 21 Siehe Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München: C.H. Beck 2007, S. 95.

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derung und Vertreibung geprägt ist: mal gewollt, mal ungewollt befanden sich ihre Vorfahren in nahezu ständigem Transit. So nähert sie sich ihrer Familie an, indem sie über sie schreibt, indem sie selbst den Weg ihrer Vorfahren, nämlich den der Emigration geht. Und doch ist paradoxerweise „die Abgrenzung vom jüdisch-kommunistischen Elternhaus die Voraussetzung dafür“22 – für eben diese künstlerische Auseinandersetzung: „Ich […] habe aus dem Vakuum einer säkularisierten jüdischen Familie heraus, an einem Punkt […] meines Lebens […] die lange Reise ins Innere des Judentums angetreten und Bindungen neu zu knüpfen versucht, die nach einem 200 Jahre währenden Assimilationsrausch nur noch als lose Enden herumhingen. Deshalb ist die Reise kein Zurück zu den Wurzeln, wie diese Wiederannäherung an das religiöse Judentum gerne genannt wird, denn da sind ja keine Bräuche aus der Kindheit, zu denen man nach Jahren der Entfernung nur zurückzukehren brauchte“ (DG, S. 159).

Die zwiespältige Beziehung, die Honigmann wegen ihrer jüdischen Identität zu Deutschland hatte, hat sie auch zu ihrer Familie. Durch das Schreiben nähert sie sich ihr zwar an, geht aber als nicht assimilierte Jüdin zugleich auf Distanz zu ihren assimilierten Vorfahren. Aus dieser doppelten Perspektive zwischen Nähe und Entfernung, aus dem Niemandsland,23 in dem sie sich nach ihrem Transit nach Frankreich befindet –, den Michael Braun als Weg nach Hause interpretiert24 – versucht Honigmann durch das Schreiben „die inneren Widersprüche ihrer Existenz und ihres Status“25 zu verstehen. Dafür rekonstruiert sie immer wieder ein und dieselbe Geschichte, die sie in verschiedenen Versionen aus verschiedenen Perspektiven immer neu umsetzt und die dementsprechend in ihren Erzählungen immer anders vorkommt.26 So „[entsteht] aus vielen Mosa22 Klaedtke/Ölke, Erinnern und erfinden. 2003, S. 270. 23 Wie die Autorin selbst behauptet: „[…] meine ganze Existenz hat nie aufgehört, ein Leben zwischen hier und dort zu sein, eine Art Doppelleben oder ein Zwiespalt zwischen meinem Jüdischsein hier und meiner Arbeit dort, in beidem fühle ich mich an beiden Orten jeweils nicht verstanden oder nicht einmal wahrgenommen, und eigentlich ist es sogar ein dreifaches Leben, wenigstens am Rande berühre ich ja drei Kulturen, die französische, die deutsche und die jüdische nämlich, und wenn es ein guter Tag ist, fühle ich mich bereichert und denke, daß ich Glück habe, an drei Kulturen teilhaben zu können, und wenn es ein schlechter Tag ist, fühle ich mich zwischen allen Stühlen sitzend und verstehe gar nichts“ (DD, S. 72). 24 Vgl. Braun, Barbara Honigmann. 2009, S. 622–639. 25 Weiss, Im Schreiben das Leben verändern. 2013, S. 22. 26 Als Schriftstellerin und Malerin stellt Honigmann biographische Erzählungen mit Bildern gleich und behauptet: „Die Biographie ist nur eine andere Art, sich ein Bild zu machen, sie stellt, ebenso wie das Bild, eine Reduzierung dar, eine Festlegung, ein ‚Einfrieren‘ einer in Wirklichkeit vielschichtigen Persönlichkeit.“ (DG, S. 107) Um diese Reduzierung zu kompensieren, erzählt Honigmann immer wieder ihre Geschichte aus verschiedenen Perspektiven und schafft dabei ein vollständiges Bild ihrer Familie. Für nähere Betrachtungen über die Bedeutung der Bilder im Werk Honigmanns siehe Bonner, Withold: „Vielleicht ist es mein Großvater. Vielleicht auch nicht.” Fotos als Postmemory in Texten von Barbara Honigmann und Irina Liebmann. In: Perspektiven. Das IX. Nordisch-Baltische Germanistentreffen in Os/

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iksteinen ein brüchiges Ganzes“.27 Dieses „palimpsesartige [sic] Um- und Neuschreiben“28 erlaubt der Autorin auf der einen Seite, über die Gründe zu reflektieren, aus denen ihre Vorfahren sowohl über ihre jüdische Herkunft, als auch über ihre Assimilationsprozesse schwiegen. Auf der anderen Seite nutzt sie ihr künstlerisches Schaffen, um die Lücken zu schließen, die das Schweigen ihrer Familiengeschichte in ihre eigene Biografie gerissen hat. Auf diese Weise wird das Schreiben, wie die Autorin selbst sagt, zu ihrer neuen Heimat (DD, S. 39). So erzählt sie vom kulturellen Austausch an den verschiedenen Grenzen, die ihre Vorfahren überschritten und von Brüchen und Kontinuitäten, die sie in Kontakt mit den vielen Emigranten in verschiedenen Ländern erlebten. Es sind aber gleichzeitig die Stimmungen und Geschichten dieser Emigranten, die eng mit der Geschichte ihrer Familie in Verbindung stehen, die es Honigmann erlauben, das Schweigen ihrer Vorfahren in ihren Schriften zu kompensieren und mehrere Versionen derselben Familiengeschichte aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen zu können. Ein Beispiel dafür finden wir in „Ein Kapitel aus meinem Leben“, einem Roman in dem Honigmann die 50 Jahre des Exils ihrer Mutter erzählt, die durch ihre politische Überzeugung und ihre religiöse Herkunft geprägt war. In diesem Roman baut die Autorin eine Geschichte aus, die sie ihrer Mutter schon als Erzählung in dem Prosaband „Damals, dann und danach“ gewidmet hatte. In Roman und Erzählung entsteht das Porträt einer Frau, für deren Beschreibung Honigmann den hegemonialen Diskurs der DDR verwendet, um sie als privilegierte Kommunistin darzustellen und sie gleichzeitig durch den ständigen Kontakt mit ihren Emigrantenkreisen als eine prototypische Frau der westlichen Welt zu zeigen. Aus diesen beiden Perspektiven erwähnt die Autorin auch die Privilegien ihrer Mutter, die sie einerseits als orthodoxe Kommunistin und Mitglied der SED genießt, die sie andererseits aber nicht davor bewahren sich als Jüdin stigmatisiert zu fühlen, da sie ihr erst zuteilwerden, nachdem sie sich vom Judentum abgewandt hat. Aus diesem Gefühl der Stigmatisierung heraus umgibt sich Alice fast ausschließlich mit anderen assimilierten Juden, Emigranten und Exilanten – und zwar innerhalb und außerhalb der DDR, da ihre Privilegien als Kommunistin ihr erlauben, regelmäßig in andere Ländern zu verreisen. Dieses Porträt komponiert Honigmann aus den unzähligen Fragmenten aus Alices Leben in „Ein Kapitel aus meinem Leben“. In den einzelnen Kapiteln zeichnet die Autorin verschiedene Entwürfe der Persönlichkeit ihrer Mutter, aus denen sich unterschiedliche Facetten ihres Charakters zu einem Gesamtbild Bergen, 14.–16. Juni 2012. Hrsg. von Michael Grote/Kjetil Berg Henjum/Espen Ingebrigtsen/ Jan Paul Pietzuch. Stockholm: Stockholm University 2013, S. 98. 27 Fiero, Zwischen Enthüllen und Verstecken. 2008, S. 122. 28 Braun, Barbara Honigmann. 2009, S. 632.

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zusammenfügen: je nachdem, in welcher Sprache Alice spricht, in welchem Freundeskreis sie sich bewegt, mit welchen Namen sie diese Freunde vor oder nach dem Krieg benennt oder auf welcher Insel des Meeres ihres Exils sie sich gerade befindet (DD, S. 89). So verwandelt sich Alice in der ungarischen Sprache, in der sie sich wie ein Fisch im Wasser bewegt (EK, S. 30), in eine überlebhafte, überaufgeregte Person (DD, S. 90), „während sie in Berlin wegen ihres Wiener Akzents sofort als Nicht-Berlinerin und in Wien wegen ihrer langen Abwesenheit als Nicht-mehr-Wienerin und im Französischen und Englischen schon durch das rollende R als Ausländerin erkannt“ (EK, S. 28, 30) wird. Die echten Wurzeln ihrer Mutter findet Honigmann in Ungarn, dem „Hauch von Westen“ (EK, S. 32), in dem sie mit ihr regelmäßig die Ferien verbringt. In Budapest, Treffpunkt mit Freunden „aus alten illegalen Zeiten“ – ehemalige Flüchtlinge, Widerstandskämpfer, Partisanen und KZ-Überlebende „aus gutbürgerlichen Familien“ –, erkennt sie Alice als Teil einer Gruppe antifaschistischen Adels die nach dem Krieg wieder „etabliert, protegiert, ja privilegiert und doch gebrochen durch die vielfältigen Entwurzelungen, Ausgrenzungen und Verfolgungen als Juden und Kommunisten“ waren (EK, S. 33ff.). Durch ihre Stimmen beschreibt die Autorin die verschwiegene Enttäuschung ihrer Mutter trotz ihrer politischen Überzeugung von einem politischen System, das „sie selbst herbeigewünscht hatten und [dem] gegenüber sie sich immer noch verpflichtet fühlten“ (EK, S. 36). Dennoch bleibt ‚Lisa‘ – wie man Alice in Berlin nannte – überzeugte Kommunistin und verweilt fast vierzig Jahre lang in der DDR (EK, S. 114), bis sie dann zum Ende ihres Lebens nach Wien und in den Wiener Freundeskreis aus den ganz alten Zeiten zurückkehrt (EK, S. 51). Gegenüber ihrer ungarischen Seite, die klar und deutlich gefasst war, war die österreichische Seite von ‚Litzy‘ – wie sie in ihrem Freundeskreis in Wien, den sie als ihre Familie erkannte (DD, S. 92), genannt wurde – „schwieriger und widersprüchlicher“ (EK, S. 53). Aus der Sicht der Tochter verwandelte sich ihre Mutter in Österreich – ähnlich wie in Ungarn – in eine unbeschwerte, aber „auch fremdere Person“ (EK, S. 54). Im Gegensatz zu Berlin, wo sie sich „wie ein Fisch auf dem Trocknen fühlte“, bewegte sie sich in Wien mit so „großer Selbstverständlichkeit […] wie ein Fisch im Wasser“ (ebd.). Trotzdem war ihr Gefühl der Zugehörigkeit ihrem Geburtsland gegenüber „genauso stark wie das der Entfernung zu ihm“, so dass Honigmann nach den verschlüsselten Botschaften ihrer Mutter das Land gleichzeitig „heimatlich und abstoßend“ finden sollte und dabei die Österreicher als solche verachtet, da „sie gebildete Antisemiten waren“ (EK, S. 53). Paradoxerweise war ‚Litzys‘ Deutsch Wienerisch und das Wienerische war ihre Art, ihre Fremdheitsgefühle gegen Berlin und die Deutschen auszudrücken, die sie als Nazis und Piefkes bezeichnete (DD, S. 91). Und dies obwohl Alice schon 1951 in Berlin aus der Jüdischen Gemeinde ausgetreten war (EK, S. 123).

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In einem anderen Kapitel beschreibt Honigmann England als die alte Heimat ihrer Mutter (DD, S. 93) und behauptet, dass sie auf Englisch „Fassung und Gelassenheit“ gewann, „Eigenschaften, die sie an den Engländern schätzen gelernt hatte“ (DD, 91). Aber auch wenn England für Alice „ein zivilisiertes Land im Gegensatz zu Deutschland“ (DD, 22) und „eine zweite Gegenwart [ihres] Berliner Leben[s]“ (EK, S. 98) war, war sie in all den Jahren nach dem Krieg nie wieder in dieses Land zurückgekehrt. Höchstwahrscheinlich, so vermutet Honigmann, aus Angst vor einer Verhaftung, da sie während ihres Exils für den sowjetischen Geheimdienst gearbeitet und dabei das geliebte England verraten hatte (EK, S. 111). Ihre Sehnsucht nach diesem Land stillte ‚Litzy‘ in der DDR, indem sie ständig mit ihrer Tochter auf Englisch sprach und sie in den Ferien nach London schickte (DD, S. 22). Auf diese Weise hat Honigmann im kapitalistischen Ausland zum ersten Mal in ihrem Leben bei den Freunden ihrer Mutter – Österreicher und ehemalige Kommunisten – Jiddisch gehört und Juden kennengelernt, die sich als solche ohne Erklärung und Entschuldigung bezeichneten (EK, S. 99). Da ihr Aufenthalt in Paris sehr kurz war, meint Honigmann, dass es keine französische Seite ihrer Mutter gab – wie es eine wienerische, ungarische, englische und später eine Berliner Seite gab (EK, S. 85). Dabei ist es ausgerechnet Frankreich, wo ‚Litzy‘ vor Kriegsausbruch die schönste Zeit ihres Lebens verbrachte (EK, S. 83). Und so bezeichnete Alice Frankreich, das sie nach dem Krieg genauso so wenig wie England je wieder betrat, als eine zweite Heimat (EK, S. 85). Ganz im Gegensatz zu Deutschland, wo ‚Lisa‘ mit ihrem engen Kreis von Freunden in Berlin, die nicht zufällig Juden waren, isoliert von ihren deutschen Nachbarn und Kollegen (EK, S. 92) lebte. Durch die fiktionale Biografie ihrer Mutter und die Beschreibung deren ständigen Austauschs mit Emigranten, die sie in verschiedenen Ländern trifft, beschreibt Honigmann die Persönlichkeit einer Frau, die sich nirgendwo vollends zugehörig fühlt – weder in ihrem Herkunftsland noch in all den Zufluchtsoder in den Transitländern, in denen sie sich aufhält, zu allen diesen Orten gehört sie immer nur aus der Ferne. Dabei harmonisiert ihre Figur alle Widersprüche, die durch die Kontaktzonen in einem Leben in Transit entstehen und die charakteristisch für eine Literatur „des Dazwischen, des Oszillierens zwischen den Kulturen und der mehrfachen Identitäten“29 ist. Aus diesem Blickwinkel beschreibt die Autorin auch die verschiedenen Stationen ihrer Vorfahren in einem Europa voller Gegensätze, dessen Grenzen verschwimmen. Dabei schafft Honigmann in ihren Schriften immer wieder einen „kodierten Zwischenraum unklarer Zugehörigkeit“,30 in dem unterschiedliche politische und religiöse Dis29 Löffler, Sigrid: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler. München: C.H. Beck 2014, S. 8. 30 Ebd., S. 8.

Die Grenze als ambivalenter Raum im Werk Barbara Honigmanns

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kurse koexistieren, und „ermöglicht ein Denken ohne ideologische, politische oder moralische Schranken.“31

Fazit Anhand ihrer Familiengeschichte erzählt Barbara Honigmann die jüngere Geschichte ihres Geburtslandes Deutschland. Dabei befasst sie sich in jeder ihrer Erzählungen mit dem Thema, um das sich ihr ganzes Werk eigentlich dreht, nämlich die Bildung ihrer jüdischen Identität, die die Autorin von ihrer nahezu vollkommen assimilierten Familie nicht erhalten hat, und die ihr auch ihr Heimatland, die DDR, nicht zugesteht. Ihr Wunsch nach einer jüdischen Identität treibt sie letztlich ins Exil nach Straßburg, von wo aus es ihr gelingt, sich in Form literarischer Schriften mit ihrer Familiengeschichte und ihrer Herkunft auseinanderzusetzen. Ihre eigenen Grenzübertritte, die nicht nur geographisch, sondern auch politisch und kulturell sind, versetzen Honigmann also in die Lage, eine Reise in die Vergangenheit zu unternehmen, die sie ihrerseits unweigerlich durch die zahllosen Grenzübertritte ihrer Vorfahren führt. Grundlage für diese Reise sind die Erinnerungen von mehrsprachigen Familienmitgliedern, in denen allerlei kulturelle Kontraste eines Lebens in Transit zusammenkommen. Die verschiedenen Länder, in denen sich ihre Vorfahren nacheinander aufhalten, stellt die Autorin als Zwischenräume dar, die sie mit den typischen Charakteristika von Kontaktzonen beschreibt, in denen also Prozesse der Anpassung und Assimilation, aber auch Brüche und Verschmelzungen stattfinden. Letztlich gelingt es Honigmann in ihrer Fiktion, all diese Widersprüche zu vereinen und ein grenzenloses Europa darzustellen.

31 Eshel, Amir/Weiss, Yfaat: Vorwort der Herausgeber. In: Kurz hinter der Wahrheit und dicht neben der Lüge. Zum Werk Barbara Honigmanns. Hrsg. von Amir Eshel/Yfaat Weiss. München: Wilhelm Fink 2013, S. 7–15, hier S. 7.

Garbiñe Iztueta (Vitoria-Gasteiz)

Die Wassermetaphorik als Grenzraumgestaltung in Uwe Tellkamps „Der Turm“ (2008)

Der vorliegende Beitrag setzt es sich zum Ziel, die Wassermetaphorik des Romans „Der Turm“ als Hauptmittel für die Grenzraumdarstellung in der späten DDR zu analysieren. Der Fokus wird auf den folgenden topographischen Motiven und den damit verbundenen Themengebieten gesetzt: Atlantis als Dementierung der DDR-Utopie; Archipel und Insel als Gegensatz zum Kontinent-Bild der DDR-Utopie; Abwässer und gestautes Wasser in Gegensatz zu fließendem Wasser des heterotopischen Turmviertels; Quellen und Ströme als Symbol des (kollektiven) Unbewussten und schließlich Fluidität und Porosität als Interpretationsstrategie der Geschichte. Mittels der Wassermetaphorik werden sowohl die offizielle Topographie des Staats- und Parteiapparats und die unterschiedlichen Grenzräume kritisch beleuchtet, als auch die Diskursivität des Gedächtnisses und das kollektive Gedächtnis in Bezug auf die DDR-Vergangenheit mit Bildern der Fluidität und Porosität literarisiert. Das atlantische Dresden in Tellkamps „Der Turm“ wird durch die Wassermetaphorik als ambivalentes und komplexes topographisches, soziales und ideologisches Universum mit vielerlei inneren und äußeren Grenzräumen geschildert. The aim of the following contribution is to analyze the water metaphors as key elements for the literary representation of borderland spaces in the late GDR in the novel “The Tower”. The analysis will be focusing on the following topographic motives and topics: Atlantis as a denial of the GDR utopia; Archipelago and island as a contrast to the image continent of the GDR utopia; Wastewater and dammed up water as opposed to running water in the heterotopic tower district; fountains and streams as symbols of (collective) unconscious; and finally, fluidity and porosity as images of history. Not only does the use of these metaphors question the official topography of the state and party apparatus and the various borderland spaces, but images of fluidity and porosity also represent the discursiveness of memory and collective memory in relation to GDR’s past. The Atlantean Dresden in Tellkamp’s “The Tower” is portrayed by means of water metaphors as an ambivalent and complex topographical, social and ideological universe with many inner and outer borderland spaces.

Im Jahr 2008 wurde Uwe Tellkamps „Der Turm“ von der Kritik als großer Wenderoman begrüßt und gehört seitdem zu den Bestsellern der letzten Jahre. Der rund 1.000 seitige Roman literarisiert das Leben des Dresdner Bildungs-

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Garbiñe Iztueta

bürgertums von 1982 bis zur Nacht des Mauerfalls mithilfe der Erlebniswelten dreier Männer, aus deren unterschiedlichen Perspektiven sich die Elbstadt am Spätabend der DDR mosaikartig als ein versunkenes Land rekonstruieren lässt: der 17-jährige Christian Hoffmann, der seinen Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee freiwillig verlängert, um sich so einen Studienplatz in der Medizin zu sichern; sein 50-jähriger Vater, der Mediziner Richard Hoffmann; und Christians Onkel mütterlicherseits, der ausgebildete Biologe, Lektor und erfolglose Schriftsteller Meno Rohde. Der narrative Diskurs besteht aus einem heterodiegetischen Erzählstrom sowie aus den in diesen Erzählstrom einmontierten Tagebucheinträgen Menos und Christians Briefen aus der Kaserne. Das hierdurch entstehende Mosaik vermittelt dabei vor allem das Alltagsleben des Dresdner Bildungsbürgertums im Refugium des Turmviertels, einem topographisch privilegierten Wohnort innerhalb der Stadt. Unterstrichen wird diese privilegierte, jedoch innerlich dissidente Existenz des dort ansässigen Bildungsbürgertums durch die Musik-, Literatur- und Philosophieabende in den arkadischen Gärten. Seit der Veröffentlichung vor rund einem Jahrzehnt hat sich die Forschung unter anderem den Chronotopen und dem damit verbundenen Verhältnis zwischen Raum, Zeit und Macht1 sowie der utopischen Dimension des Romans gewidmet, zumal in seiner reichhaltigen Intertextualität2 und seinen Anspielungen auf Atlantis als utopischen/dystopischen Raum.3 In seinem 2017 veröffentlichten Artikel „Wie viel Gegenwart verträgt die Literatur?“ ordnete Michael Braun den Roman jüngst gleichermaßen als DDR-End-Roman und Gegenwartsliteratur ein und interpretierte den mit Doppelpunkt offengelassenen Schlusssatz des Romans „…aber dann auf einmal… schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, ‚Deutschland einig Vaterland‘, schlugen ans Brandenburger Tor:“4 1 Clarke, David: Space, Time and Power. The Chronotopes of Uwe Tellkamp’s „Der Turm“. In: German Life and Letters 63, 2010, H. 4, S. 490–503. 2 Als Beispiel dafür gilt der intertextuelle Dialog zwischen dem Roman und Thomas Manns „Der Zauberberg“ und „Die Buddenbrooks“, E.T.A. Hoffmanns „Der goldene Topf“, Goethes Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und auch „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, Hugo von Hofmannsthals Drama „Der Turm“ und Edgar Allan Poes Erzählungen sowie dem poetischen Realismus und der Romantik. Vgl. dazu ebd., S. 590–598; Breger, Claudia: On a Twenty-First-Century Quest for Authoritative Narration. The Drama of Voice in Uwe Tellkamp’s „Der Turm“. In: The Germanic Review 86, 2011, S. 185–200; Fuchs, Anne: Psychotopography and Ethnopoetic Realism in Uwe Tellkamp’s „Der Turm“. In: New German Critique 116, 2012, H. 39:2, S.119–132. 3 Horstkotte, Silke: Von Ostrom nach Atlantis. Utopisches in Uwe Tellkamps „Der Turm“. In: Nach der Mauer der Abgrund? (Wieder-)Annäherung an die DDR-Literatur. Hrsg. von Norbert Otto Eke. Amsterdam: Rodopi 2013, S. 323–341. 4 Tellkamp, Uwe: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. 4. Auflage. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2012, S. 973 (Seitenangaben fortlaufend im Text).

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als Zeichen einer Literarisierung geschichtlicher Offenheit.5 Braun sieht den Roman somit als Beispiel jener Gegenwartsliteratur, die „einen Doppelpunkt am Ende der Literaturgeschichte [markiert], weil sie das Unvorhersagbare und das ‚historisch Unbeobachtbare‘ umfasst“.6 Bereits zwei Jahre zuvor ordnete Braun Tellkamps Bestseller als Zeitroman ein, hierfür nicht nur den naheliegenden und leicht identifizierbaren historischen Erzählfokus, d. h. die jüngste deutsche Zeitgeschichte, sondern auch dessen Thematisierung der Zeit selbst als aktive Mitspielerin des DDR-Untergangs anführt.7 Braun wies in diesem Zusammenhang auch auf die „postmemoriale Erinnerungsstruktur“ des Romans hin.8 Ein weiteres Forschungsfeld entwickelte Anne Fuchs in ihrer psychotopographischen Analyse des Romans. Auf Jurij M. Lotmans Raumsemantik9 und Elisabeth Bronfens Psychotopologie10 aufbauend zeigte Fuchs die psychotopographische Dimension des Romans auf, in der räumliche Kategorien nicht nur metaphorisch für nicht-räumliche Sachverhalte verwendet werden, sondern durch die Darstellung der Raumelemente auch die emotionale und psychologische Welt der Einwohner widergespiegelt wird.11 Als Resultat identifiziert Fuchs drei topographisch-soziologische Haupträume: (a) Ostrom als Wohnviertel der Parteielite, (b) die Dresdner Innenstadt und (c) das Turmviertel als Refugium des zurückgezogenen Bürgertums. Diese drei Haupträume stehen Fuchs zufolge für drei differenziert emotionale Felder, die jeweils andere Zuneigungen, Lebensziele und Loyalitäten in der von Tellkamp literarisierten Spät-DDR schildern. Der vorliegende Beitrag12 setzt es sich nunmehr zum Ziel, diese bereits vorhandenen Studien um die Analyse der Wassermetaphorik zu ergänzen, die den Roman wie ein roter Faden durchzieht. Mit Blick auf die literarische Raumgestaltung ermöglicht es diese Ergänzung dabei vor allem, Fuchs’ psychotopologische Analyse zu erweitern. Die Präsenz des Wassers ist – wie sich im Folgenden zeigen wird – besonders eng verknüpft mit der Darstellung von Grenzräumen, dem Umschlagen der Utopie zur Dystopie sowie mit der nach der Wende immer wieder gestellten Frage 5 Braun, Michael: Wieviel Gegenwart verträgt die Literatur? In: Was ist Literatur? / What is Literature? Hrsg. von Rainer J. Kaus/Hartmut Günther. Berlin: Frank und Timme 2017, S. 21– 40, hier S. 23. 6 Ebd., S. 35. 7 Braun, Michael: Das Ende, das ihr kennt. Uwe Tellkamps postmemorialer Wenderoman „Der Turm“. In: Études Germaniques 70, 2015, S. 221–234, hier S. 228. 8 Ebd., S. 229. 9 Lotman, Jurij: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973. 10 Bronfen, Elisabeth: Der literarische Raum. Tübingen: Niemeyer 1986. 11 Fuchs, Psychotopography. 2012, S. 132 12 Dieser Beitrag ist im Rahmen eines durch die Universität des Baskenlandes (UPV/EHU) geförderten Forschungsprojekts (EHU15/09) und eines durch das spanische Wirtschaftsministerium geförderten Forschungsprojekts (FFI2017–84342-P) entstanden.

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Garbiñe Iztueta

der Positionierung der DDR im individuellen und kollektiven Gedächtnis und ihrer literarischen Darstellbarkeit. Konkret lässt sich die These formulieren, dass mittels der Wassermetaphorik nicht nur die offizielle Topographie des Staatsund Parteiapparats und die unterschiedlichen Grenzräume kritisch beleuchtet, sondern auch die Diskursivität des Gedächtnisses und das kollektive Gedächtnis in Bezug auf die DDR-Vergangenheit mit Bildern der Fluidität und Porosität literarisiert werden. Aus diesem Grund liegt das Augenmerk auf den folgenden topographischen Motiven und den damit verbundenen Themengebieten: Atlantis als Dementierung der Utopie; Archipel und Insel als Gegensatz zum Kontinent-Bild der DDR-Utopie; Abwässer und gestautes Wasser in Gegensatz zu fließendem Wasser des heterotopischen Turmviertels; Quellen und Ströme als Symbol des (kollektiven) Unbewussten; und schließlich Fluidität und Porosität als Interpretationsstrategie der Geschichte. Insbesondere die Perspektive Meno Rohdes ist hierbei von Interesse, handelt es sich bei diesem doch nicht nur um eine Figur, die sich in den drei genannten Haupträumen der Stadt (Ostrom, Stadtzentrum und Turmviertel) bewegt und somit kontinuierlich topographische Grenzen überschreitet, sondern sich in seinem Tagebuch auch selbst sehr oft mittels der Wassermetaphorik zu den Themen Grenzräume und DDR-Untergang äußert – zumal dieser als zentrale Stimme und Protagonist in dieser mosaikartigen Figuren-, Perspektiven- und Stimmenkonstellation gilt.

I.

Die DDR als Übergangsraum zur Utopie und dessen subsequente Unterminierung: Die DDR als (versunkener) Kontinent

Auf die komplexe Vergangenheits- und Gegenwartsschilderung des Romans, die die augenscheinlich nostalgische DDR-Darstellung konsequent konterkariert, hat neben Braun unlängst auch David Clarke hingewiesen.13 Das Dresdenporträt zeichne sich in Tellkamps Roman, so Clarkes Resümee, durch eine grundlegende Ambivalenz aus: Auf der einen Seite werde Dresden im politischen Diskurs des Staats- und Parteiapparats als Transitraum bzw. Übergangsraum zur Utopie literarisiert;14 auf der anderen Seite werden diesem Diskurs des Raums in progress kontinuierlich sowohl Anspielungen auf die strengen Grenzkontrollen, denen die Einwohner beim Verlassen der verinselten Haupträume unterstellt sind, als auch das Bild des versunkenen und somit gescheiterten Atlantis gegenübergestellt. In anderen Worten, das offizielle Bild der DDR als Übergangsgesellschaft zur Utopie wird mit wiederkehrenden Bildern eines versteinerten, starren Landes 13 Clarke, The Chronotopes. 2010, S. 491. 14 Ebd., S. 499.

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bzw. Kontinents, welcher vor allem durch die topographischen Bilder Grenze und Archipel geprägt ist, radikal unterminiert. Anhand Menos Tagebucheinträgen wird die Komplexität und Ambivalenz des Verhältnisses von Ost und West sowie von inneren und äußeren Grenzen deutlich. So bleibt die Grenze zum Westen als mentaler Topos eine unveränderliche Konstante in seiner Gedankenwelt und fungiert als topographisches Zeichen der eigenen utopieorientierten Identität gegen bzw. gegenüber der Perspektive des Westens. Die Topographie dieser Grenze nach außen wird dabei jedoch in Wechselwirkung mit der Wahrnehmung innerer Grenzen unterminiert und nuanciert. In seiner Rolle als Intellektueller beschäftigt Meno etwa, anlässlich eines beruflichen Besuchs der Gelehrteninsel und des dort angesiedelten Universums des Hermes-Verlags, neben dem Verhältnis der DDR und ihrer Gelehrtenelite zum Westen auch die Frage nach der Beziehung zwischen der Gelehrtenelite des Verlags und den Atlantisbewohnern Dresdens: „Wer waren die anderen [die Bewohner der atlantischen Wohnungen – G.I.]? Was erreichte sie von dem, das wir [die Gelehrteninselbewohner, intellektuelle DDR-Elite – G.I.] für wichtig hielten? Philosophen forschten in Gelehrtenstuben hoch über der Mauer an utopischen Sozialisten, ich dachte an Jochen Londoner, Exil in England, […] nun brütete er […] über der Geschichte der Arbeiterklasse, sann den Problemen der sozialistischen Planwirtschaft hinterher, Sachgebietskärrner kommentierten die kanonischen Schriften, schlossen sich ans Blutgefäßsystem der MEGA an – Marx-EngelsGesamtausgaben –, halfen, die Sonne der Einzigen Ideologie aufgehen zu lassen“ (S. 853).

Das aus Menos Perspektive gezeichnete subjektive Bild setzt somit zwei implizite Grenzen voraus, denn der Begriff Grenze wird an dieser Stelle nicht direkt erwähnt, sondern nur durch die Ausdrücke ‚die anderen‘, ‚Mauer‘ und ‚Exil in England‘ dargestellt. Die genaue Reihenfolge Menos rhetorischer Fragen und der darauffolgenden Sätze verdeutlicht seinen gedanklichen Übergang von der inneren Grenze zwischen den durchschnittlichen Atlantisbewohnern und den Bewohnern der Gelehrteninsel zur äußeren Ost-West-Grenze. Die Überlegenheit des utopischen DDR-Projekts und die Nutzlosigkeit, ja Absurdität der westlichen Forschung über die DDR-Utopie hebt er dabei besonders deutlich hervor, indem er das westliche Philosophenuniversum als ein orientierungsloses Kollegium charakterisiert, das sich mit der absurd-genauen Definition der Farbe der Häuserwände der DDR beschäftigt, statt den eigentlichen Kern des utopischen Projekts zu erforschen.

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II.

Garbiñe Iztueta

Verinselte Kontinentaltopografie: Das Archipel als Gegenbild zum offiziellen DDR-Diskurs

Während diese Grenze zum Westen Identität stiftet und ein Gefühl intellektueller und moralischer Überlegenheit erzeugt, tauchen – als Ergebnis der verinselten Topographie – im Dresdner Alltag immer wieder innere Grenzen um das Bild Brücke herum auf, die weniger ein identitätsstiftendes Sicherheitsgefühl als ein Hinterfragen des offiziellen DDR-Diskurses zur Folge haben. Das Universum der Stadt ist mit einer anhaltenden Abfolge von Grenzerfahrungen durchzogen, wodurch der Gedanke der vom Staats- und Parteiapparat propagierten Fluidität und Dynamik des Übergangsraums zur Utopie konterkariert wird: Der Alltag wird durch Grenzen nicht nur nach außen, sondern vor allem auch nach innen bestimmt. So verlangsamen und beeinträchtigen Grenzposten und -kontrollen nicht nur viele kleine, alltägliche Verwaltungsprozeduren, sondern auch Besuche anderer Viertel – seien diese privater oder geschäftlicher Natur. Vor allem die Elbbrücke dient hierbei als ein streng kontrolliertes und reglementiertes Verbindungselement, zwischen dem bürgerlichen Turmviertel auf der einen Seite und Ostrom, dem Universum der ‚roten Aristokratie‘ und des Verwaltungsapparats, auf der anderen Seite. Darüber hinaus steht diese Brücke für den Zugang der Grenzposten zum Inneren, zur dunklen Seite des Staats- und Parteiapparats. Neben der allgegenwärtigen Präsenz der Grenz- und Kontrollposten fungiert auch der bereits im ersten Romanabsatz erscheinende Topos Archipel als Gegenbild zum offiziellen Diskurs über die DDR als Übergangsraum zur Utopie. Da der Topos Insel oftmals als Symbol der paradiesischen Zivilisationsferne gilt, wird in Tellkamps Roman mithilfe des Archipel-Bilds vor allem eine topografische Isolation der drei Haupträume hervorgehoben15 und so der Diskurs eines soliden Utopie-Projekts in Frage gestellt. Der Archipel-Topos, topographisch in einer Reihe fiktiver Inseln verortet, thematisiert dabei zwei unterschiedlich relevante Phänomene für die Interpretation des Romans. Die Stadttopographie fungiert als eine Reihe von isolierten Einheiten, deren natürliche Grenzen nicht ‚natürlich‘, d. h. nicht ohne Hilfsmittel überwunden werden können, zumal der Staatsapparat diese Grenzen zusätzlich mit Kontrollposten verstärkt und die Stadt so als eine starre, verinselte Topographie erscheinen lässt. Auf diese Weise offeriert der Topos Archipel eine Perspektive auf die DDR, die sich von der, stets als stabil und solide gezeichneten Kontinentaltopographie des offiziellen Diskurses unterscheidet. Diese Widersprüchlichkeit eröffnet sich bereits im ersten, als „Ouvertüre“ betitelten Kapitel, welches aus einem Tagebucheintrag Menos

ˇ eské: Insel. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. 15 Broser, Patricia/Budeˇjovice, C von Günter Butzer/Joachim Jacob. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler 2012, S. 199–200.

Die Wassermetaphorik als Grenzraumgestaltung in Uwe Tellkamps „Der Turm“

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besteht und den Gegensatz zwischen soliden und porösen Topographien verbildlicht: „Und ich [Meno – G.I.] erinnere mich an die Stadt, das Land, die Inseln, von Brücken zur Sozialistischen Union verbunden, ein Kontinent Laurasia, in dem die Zeit eingekapselt war in eine Druse, zur Anderzeit geschlossen, und die Musik erklang von den Plattenspielern“ (S. 7).

Nicht nur taucht damit schon zu Beginn des Romans einer der drei Protagonisten in Verbindung mit den und charakterisiert durch die Aufgaben des Schreibens und des sich Erinnerns auf, vielmehr wird hier auch die Spannung zwischen dem Soliden, der Einheit des offiziellen Diskurses eines Mitgliedstaates des Warschauer Pakts am Beispiel des topographischen Bildes Kontinent, und dem Porösen, der zunehmenden Isolierung des realen Alltags und Gedächtnisses am Beispiel des topographischen Bildes Inseln, thematisiert. Der widersprüchliche, im Roman von diesem ersten Bild der Inseln ausgehende und nach und nach geformte Topos Archipel versteht sich allerdings nicht nur in Verbindung mit dem Terrestrischen, sondern auch durch die Präsenz des die Inseln umgebenden Wassers. Stärker noch, es entsteht ein topographisches Bild, in dem Wasser eine entscheidende Rolle spielt und welches im Verlauf des Romans das Solide, Terrestrische des Topos Kontinent zunehmend zur Porosität und Fluidität des Archipels tendieren lässt. Diese allmähliche Verschiebung wirft unweigerlich die Frage auf, wie vollständig das solide Kontinent-Bild durch das poröse, fluide Archipel-Bild unterminiert und wie diese Unterminierung literarisiert wird.

III.

Stagnierte Abwässer und fließende Gewässer: Das Turmviertel als (scheiternde) Heterotopie

Die späte DDR der 80er Jahre, von Meno verächtlich als „Papierrepublik“ (S. 9) abgetan, wird als eine in zwei Teile getrennte Landschaft geschildert: der Askanischen Insel, der Kohleninsel und der Korbidinsel, auf denen jeweils die juristische Verwaltung, der Verwaltungsapparat, inklusive der Staatssicherheit, und das Industriegebiet angesiedelt sind, steht das das bildungsbürgerliche Turmviertel gegenüber. Die zuerst genannten, drei Inseln des Staats- und Parteiapparates stellen ein antithetisches Bild zur biblisch-klassischen Darstellung des Wassers als Heiligtum und Reichtum dar.16 Von der ersten bis zur letzten Seite 16 Vgl. z. B. Homers „Odyssee“ bzw. 1. Buch Mose in der Bibel. Castell, Leonarda: Hingegeben wie gefallner Regen. (Zugriff am 22.1.2018).

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wird die DDR als eine von Abwässern, d. h. von gestauten ölig-schweren, metallischen Brühen, von Schlamm-, Schlacke-, Erdöl- und Zellstoff-Flüssen durchgezogene Landschaft dargestellt (S. 7). Diese Form der Literarisierung forciert die in Verbindung mit dem Archipel-Topos aufgeworfene Hinterfragung des offiziellen Diskurses der DDR als soliden Transitraum zur Utopie. Wird zunächst mit dem Eröffnungssatz des Romans, „Suchend, der Strom schien sich zu straffen in der beginnenden Nacht, seine Haut knitterte und knisterte; es schien, als wollte er dem Wind vorgreifen, der sich in der Stadt erhob“ (ebd.), ein Strombild evoziert, das an der Erdoberfläche und in Interaktion mit anderen Naturelementen einen positiven Erwartungshorizont eröffnet,17 schlägt dieses rasch um und mündet in der Tiefe der städtischen Rinnsale: „Im Tiefseedunkel kroch das Spülicht der Kanalisation, tropfender Absud der Häuser und VEB in der Tiefe, wo die Lemuren gruben, stauten sich die ölig-schwere, metallische Brühe der Galvanikbäder, Wasser aus Restaurants und Braunkohlekraftwerken und Kombinaten, die Schaumbäche der Reinigungsmittelfabriken, Abwässer der Stahlwerke […]; in der Nacht der Strom, weitverzweigt die Schlamm-, die Schlacke-, Erdöl- und Zellstoff-Flüsse, Wasser verschmolzen zu einem großen pechträgen Band“ (ebd.).

Damit leitet das erste Kapitel die im Roman vorherrschende Tendenz ein, Wasser mit den Abwässern der Dresdner Unterwelt in Verbindung zu bringen. Die Leserschaft begegnet im Folgenden immer wieder Wasserlandschaften von Sumpfund Faulgeruch, die nach und nach den Übergangsraum DDR vom biblischen Paradies entfernen, welches traditionell mit dem fruchtbaren Wasser und mit Ursprung verbunden ist.18 Gleichzeitig wird von Beginn an deutlich, dass die Schatten der Spät-DDR im gedanklichen Mittelpunkt der topographischen Beschreibungen stehen und Wasser hier weniger auf Fruchtbarkeit und Leben, sondern vor allem auf den Stillstand und Tod verweist. Für die Verknüpfung von Wasser, Stillstand und Tod spricht auch dessen Assoziation mit nahezu komplett stagnierten Wasseroberflächen, sowie die wiederholten Anspielungen auf Frost und Schnee. So bilden stagniertes Wasser und Erstarrung durch Kälte den Kern der Chronotopoi der Wasserszenarien der Askanischen Insel und der Kohlen- und Korbidinsel (S. 94, 106, 142, 192, 736, 751). Wenn wir fließendes Wasser nun als Symbol für Leben, unsere Lebenszeit und die Zeit selbst verstehen19 und uns einig sind, dass das Fließen, die Bewegung des Wassers als Ursprung und Essenz des Lebens zu verstehen ist, dann sind 17 Sibylle Selbmann analysiert die Interaktion zwischen den Naturelementen Wasser und Wind in den Weltmythologien als symbolische Darstellung des Schöpfungsakts. Selbmann, Sibylle: Das Wasser. Ursprung des Wassers. In: Mythos Wasser. Symbolik und Kulturgeschichte. Karlsruhe: Badenia-Verlag 2005, S. 9–19, hier S. 10. 18 Gretz, Daniella: Wasser. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer/ Joachim Jacob. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler 2012, S. 475–476. 19 Castello, Hingegeben wie gefallner Regen.

Die Wassermetaphorik als Grenzraumgestaltung in Uwe Tellkamps „Der Turm“

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Bilder von Verstopfung20 als Zeichen eines Raumes zu interpretieren, der sich eben nicht dynamisch mit der Zeit entwickelt oder – in den Worten Menos – in dem „die Zeit eingekapselt […] in eine Druse, zur Anderzeit geschlossen“ erscheint (S. 7). Im Gegensatz zu diesen deutlich mit dem Tod verbundenen Wasserbildern auf der Askanischen Insel sowie der Kohlen- und Korbidinsel fungiert das Turmviertel in der Dresdentopographie Tellkamps als einziges Beispiel für einen Raum mit fließendem, dynamischem Wasser und für paradiesische Wasserszenarien, wie nicht zuletzt die folgende Beschreibung illustriert: „Im Garten von Haus Delphinenort gab es einen Springbrunnen, ein steinerner Delphin reckte sich über der moosigen Brunnenfassung, ein Wasserstrahl kam aus seinem Maul und plätscherte ins Becken“ (S. 396). Dieses harmonische und stille Bild wird mit zusätzlichen sinnlichen Informationen weiter verstärkt: „Gartengerüche. Duft der Rhododendren, Jasmin, der sich abends blaßgesichtig öffnete, weiße Münder der murmelnden Dämmerung, und blaue, ocker- und wasserfarbene Strömungen, die der Wind fächert“ (S. 433). Jeden Abend zieht sich das dissidente DDRBildungsbürgertum bei ‚murmelnder Dämmerung‘ in die Geborgenheit der Kultur- und Musikabende im Garten zurück, der ein in sich balsamisches, ja geradezu betäubendes Universum konstituiert. Dieser Rückzug wird von Literaturkritikern wie Sabrina Wagner und Kai Sina als Gegenwelt interpretiert, die einer Verzweiflung an der Gegenwart und des Versuchs des Widerstands entspringe.21 Sina betrachtet das Turmviertel – in seiner Funktion des Zufluchtsorts – darüber hinaus als Ersatz der ‚unmöglich gewordenen Utopie‘ und schließlich sogar als ‚Heterotopie‘22 – gleichwohl die Begriffe jeweils entgegengesetzte Bedeutungen besitzen und teilweise in sich widersprüchlich sind. Da Utopie als ein „idealer gedanklicher Entwurf ohne reale Grundlage, insbesondere der Entwurf eines idealen Staatsgebildes oder Gesellschaftsmodells“23 definiert 20 Vgl. z. B. Papier „in griesgrämigen Sog“ geraten; Walmühlen verfilzen den Rohstoff; braunes, eisschlieriges Wasser; Schaum aus Guanoweiß und am Einschleuser quirlenden Phosphaten (S. 940); bzw. die Atmosphäre eines Treibhauses (S. 464). 21 Sina, Kai: Das Haus an der Havel gegen den Schmutz der Moderne. Kulturkritik bei Uwe Tellkamp. In: Kulturen der Kritik. Mediale Gegenwartsbeschreibungen zwischen Pop und Protest. Hrsg. von Kai Sina/Ole Petras. Dresden: Thelem 2011, S. 33–50, hier S. 48. Zitiert nach Wagner, Sabrina: Der Blick von oben. Uwe Tellkamp. Der Schriftsteller als Bildungsbürger und Schöpfer. In: Aufklärer der Gegenwart. Politische Autorschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Julie Zeh, Ilija Trojanov, Uwe Tellkamp. Göttingen: Wallstein Verlag 2015, S. 209– 276, hier S. 254. 22 Sina, Das Haus an der Havel. 2011, S. 48. 23 Seubold, Günter: Utopie. In: Handwörterbuch Philosophie. Hrsg. von Wulff D. Rehfus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht/utb 2003. (Zugriff am 2. 2. 2018).

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wird, offenbart der Begriff unmöglich gewordene Utopie einen essentiellen Widerspruch zwischen der Bestätigung des Unmöglichen einerseits und dem Utopie-Begriff andererseits, der ja laut Definition eigentlich keine Möglichkeit zur Kontrastierung mit der eigenen realen Grundlage bieten würde. Auch der Begriff Heterotopie sieht ein Gegenspiel zweier ‚gleichzeitiger Orte‘ vor, denn Heterotopien sind – laut der foucaultschen Definition – ihrerseits „wirkliche Orte, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, […] in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte“.24 Als Heterotopie dienen das Turmviertel und seine Wassertopographie als Gegenwelt zum sozialistischen Staat, der vor allem über die Askanische Insel und der Kohlen- und Korbidinsel literarisiert und territorialisiert wird. Innerhalb dieser Gegenwelt werden zwei unterschiedlich gelagerte Sinnesfelder geschildert, wodurch diese heterotopische Gegenwelt als ambivalenter, konzeptuell zerrissener Raum evoziert wird, bei dessen topographischer Darstellung die Wassermetaphorik eine besonders verbildlichende Rolle spielt. Fließendes, strömendes Wasser bietet zum einen ein Szenarium reinen Lebens und eines harmonischen Kreislaufs: So behandelt Sybille Selbmann in ihrer Monographie über den Mythos Wasser u. a. murmelndes, plätscherndes, strömendes Wasser und deutet dabei das Brunnen-Motiv als Symbol des Kreislaufs und Wiederkehrens.25 Zum anderen steht diese Bedeutung des Ursprungs und Lebens im Widerspruch zum allgemeinen Gedanken, leise Töne und Geräusche lüden zum Schlaf ein, wie er sich auch in einem von Menos Tagebucheinträgen, eine Stimmungsbeschreibung seiner Wohnung, wiederfindet: „Vielleicht lag es an den Stimmen, die aus den Gärten kamen, dem Jasmingeruch, der an den Abenden betäubend war und die anderen Gerüche durchdrang: […] all die rauschenden und abends zur Ruhe kommenden Gärungen aus geöffneten Fenstern und dem von Blüten entzündeten Elbhang mit seiner flüsternden […] balsamischen, Zärtlichkeit“ (S. 395).

Indem die Turmviertelbewohner sich dem politischen Panorama der DDR entziehen und in einem privilegierten, abgeschiedenen Leben verbergen, ist ihr Viertel der einzige Ort innerhalb der Stadttopographie, an dem das Wasser und letzten Endes das Leben vom Staatsapparat unbeschädigt bleibt. Allerdings handelt es sich hierbei um eine brüchige Gegenwelt, in welcher einander entgegengesetzte Lebensund Betäubungs- bzw. Todesmotive zusammenkommen. Genau wie bei den Begriffen Utopie und Heterotopie wird die eigentliche Grundlage dieser Oase immer 24 Foucault, Michel: Andere Räume. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hrsg. von Karlheinz Barck/Peter Gente/Heidi Paris/Stefan Richter. Leipzig: Reclam 1990, S. 34–46, hier S. 39. 25 Selbmann, Mythos Wasser. 2005, S. 74, 78.

Die Wassermetaphorik als Grenzraumgestaltung in Uwe Tellkamps „Der Turm“

313

wieder hinterfragt: Hat das Turmviertel eine reale oder illusionäre, eine sichere oder still untergehende, lebendige oder tödliche schlafende Grundlage?

IV.

Quellen und Ströme als Symbole des (kollektiven) Unbewussten: Der Mauerfall und die (Geschichts-)Erstarrung des Turmviertels

Die Quellen- bzw. Brunnensymbolik des Turmviertels fungiert nicht nur als Verbildlichung der reinen, vom Staats- und Parteiapparat unbeschädigten und fließenden Lebensessenz des Bildungsbürgertums, sondern nimmt auch die besondere Relevanz der Wassermetaphorik in der Darstellung des Mauerfalls am Ende des Romans vorweg. So verkörpern Quellen und Brunnen die Macht der unterirdischen Kräfte, die fließend, dem natürlichen Tempo folgend aus der Erdoberfläche austreten und alles mit sich reißen können. Diese unterirdische Kraft ermöglicht neben einer Deutung des Wassers als reines Leben, Kreislauf und Wiederkehr auch – wie ebenfalls aus klassischen und religiösen Texten zu erschließen – jene des Neubeginns, bei dem sowohl über- als auch unterirdische Kräfte entscheidend mitwirken. Steht in der Bibel das Bild Quelle ursprünglich für die göttliche Präsenz, so tritt Quellwasser doch aus dem verborgenen, nicht sichtbaren Inneren der Erde aus. Hinzu kommt das Untertauchen im Wasser als ritueller Akt der Wiedergeburt im Alten Testament und weltweit als Auflösung und Wiederbelebung.26 Wie schon angedeutet, erscheinen Quellen bzw. Brunnen, sei es im wörtlichen oder übertragenden Sinne, ausschließlich in Verbindung mit dem Turmviertel, wobei die stärkste unterirdische Kraft der Wasserquellen erst gegen Ende des Romans, nämlich in Form der friedlichen Revolution, der Montagsdemonstrationen und des schlussendlichen Mauerfalls in Erscheinung tritt. Die historischen Ereignisse werden hier mit dem Bild eines anschwellenden Flusses in Verbindung gebracht, der in seiner braunen und aufgeheizten Gestalt (S. 940) immer stärker die Dimension des unkontrollierten Unbewussten gewinnt. Gegenüber der distanzierten Haltung und sogar Passivität des Bildungsbürgertums aus dem Turmviertel und der ‚roten Aristokratie‘ aus Ostrom scheint die durch die Industrie misshandelte Natur zu reagieren und sich – als Symbol des DDRUnbewussten – aus dem Unterirdischen über die sinkende, erstarrte atlantische Stadt zu erheben. Im Gegensatz zu dem stagnierten Raum Atlantis erweist sich der Fluss als der einzige Topos, der den historischen Ereignissen unmittelbar folgt. Das Motiv der schlagenden Uhr trägt in diesem Zusammenhang dazu bei, 26 Mehr dazu ebd., S. 48–57.

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die Überwindung einer gescheiterten Phase und die Ankunft einer neuen Zeit anzukündigen. Mit der Deutung des Wassers als Symbol des Unbewussten ist seit Carl G. Jung eine emotionale Dimension fest verbunden,27 weswegen Gefühle wie die Natur selbst ‚zu fließen‘ scheinen: Tränen als ‚Wasser der Seele‘ fließen ebenso wie Flüsse und Regenrinnsale. Freien Lauf gelassene Gefühle und Regenbilder werden in Tellkamps Roman indes weniger anhand Menos als anhand der Figur des Christian Hoffmann und seiner ‚Höllenfahrt‘ thematisiert, zunächst während seines Freiwilligendienstes bei der Armee, dann während seiner Inhaftierung infolge ungehorsamen Verhaltens gegenüber seinen Vorgesetzten. Christians Entwicklung vom privilegierten, künftigen Medizinstudenten zum Nemo, zum Niemand während seiner Gefangenschaft ist dem prototypischen Bildungsprozess von Goethes Wilhelm Meister entgegengestellt. Abgesehen von den einzelnen, episodenhaften Emotionsausbrüchen Christians steht jedoch ansonsten die emotionale Kälte der Einwohner des Turmviertels im Mittelpunkt der Erzählhandlung, oftmals im Zusammenhang von Bildern von Eis und Schnee (S. 94, 106, 142, 192, 736, 751). Selbst als Anfang Oktober 1989 immer mehr Menschen nach Prag aufbrechen, um die DDR zu verlassen und immer mehr Demonstranten auf den Straßen nach Freiheit rufen, bleibt Dresden, so Meno, in einer „kaltschattigen, trauerschweren Ödnis“ versunken (S. 951). In diesem Augenblick erscheinen die Villen des Turmviertels „in einem efeuumschlungenen Traum zurückgezogen“ – als Villen im ewigen Schlaf, mit dem Blick „nicht auf die Straße, sondern ins Land Gestern“ gerichtet (S. 952). Die Einwohner, so die Anspielung, weigern sich, sich mit dem entscheidenden historischen Moment auseinanderzusetzen. Es überrascht denn auch nicht wirklich, dass die Beschreibung des Villenviertels, mit den Blumen „an den Zäunen zwischen den vom Eisenkrebs zerfressenen Gartentoren“, „[die] aus wuchernden Scherenschnittpapier zu bestehen“ scheinen (ebd.), wie ein Todesbild wirkt, wobei die wiederholten Hinweise auf die scheinbare Künstlichkeit der Blumen das Turmviertel als einen Ort einer toten Natur literarisieren und es als solchen ausgerechnet einem der lebendigsten Momente der jüngsten deutschen Geschichte gegenüberstellen. Die Wassertopographie des Todes, des Untergangs und der Stagnation tritt in Dialog mit dem mythischen Porträt Dresdens als versunkenes Land, welches schlussendlich auch durch Meno wiederholt in der Zusammenführung des Archipels und der ‚Papierrepublik‘ mit Atlantis ausbuchstabiert wird. Meno zeichnet sich mithin durch eine distanzierte, reflexive und auch poetische Interpretation der späten Jahre der DDR aus.

27 Jung, Carl G.: Die Archetypen und das kollektive Unbewusste. Zürich: Walter Verlag 1976.

Die Wassermetaphorik als Grenzraumgestaltung in Uwe Tellkamps „Der Turm“

V.

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Fluidität und Porosität als Interpretationsstrategie der Geschichte

Die atlantische Natur Dresdens verweist indes nicht nur auf eine zum Untergang verurteilte Stadt, sondern auch auf eine bereits von Beginn an fragile Topographie. Ähnlich wie Atlantis wird auch Dresden durch die Kombination von Bergen, Hängen und Tälern und dem Zusammenspiel von Land und Wasser als ein natürliches Terrain der Diversität geschildert: Die allgegenwärtige Präsenz von Brücken und Tunneln, die Elbe als topographische Achse, als Wachposten fungierende Türme und die Mauer wirken wie ein Echo auf Atlantis. Zudem zeigt sich die mit Atlantis verbundene Widersprüchlichkeit als Anstoß zur Reflexion über Grenzen als sehr ergiebig, stellt doch die Verknüpfung von Atlantis und Dresden zur Diskussion, ob es sich bei der DDR um eine reale oder inflationierte Utopie, d. h. eine noch mögliche und erreichbare Gegengesellschaft oder eine definitiv gescheiterte Utopie handelt. Insgesamt dient der Vergleich auch dazu, über Grenzen zwischen Realität und Utopie nachzudenken. Die Wassermetaphorik dient in diesem Zusammenhang als ein wichtiges literarisches Mittel, um das späte DDR-Leben zu diagnostizieren. Wenn wir von der Aussage Bernhard Judex’ in Bezug auf die metaphorische Interpretation der Fluidität des Wassers als flüssige Rede28 und von Gaston Bachelards Assoziation zwischen Flüssigkeiten und Sprache29 ausgehen, dann geht Tellkamps „Der Turm“ mittels der Wassermetaphorik auch der Frage der Diskursivität des Utopischen und des Gedächtnisses nach der Wende nach. Andreas Nabholz zufolge fungiert Wasser als ein Mittel für sowohl das bewusste als auch das unbewusste Gedächtnis, bei welchem die Fluidität ein unabdingbares Merkmal darstelle.30 Ausgerechnet der Bezug auf dieses Flüssigkeitsmerkmal weist jedoch über die im Roman übliche Wassermetaphorik hinaus, denn mit dem im letzten Kapitel geschilderten Mauerfall, der poetisch durch Assoziationen mit dem atlantischen Untergang unterlegt wird, rücken andere Flüssigkeiten wie Schweiß, Sperma und Blut in den Mittelpunkt. Körperliche Flüssigkeiten symbolisieren

28 Judex, Bernhard: Aspekte einer Poetologie des Wassers. Flüssiges bei Novalis und Hölderlin, Bachmann und Celan. In: Beiträge zum Wandel im Umgang mit dem Wasser und zu seiner literarischen Imagination. Hrsg. von Axel Goodbody/Berbeli Wanning. Göttingen: V&R unipress 2008, S. 195–215, hier S. 196. 29 „Liquidity is […] the very desire of language. Language needs to flow“. Bachelard, Gaston: Water and Dreams. An Essay on the Imagination of Matter. Dallas: Dallas Institute of Humanities and Culture 1999, S. 15. 30 Nabholz, Andreas: Henry Miller’s Aesthetics of Fluidity. Challenging Representational Norms through Rhizomatic Structures of Multiplicity. In: Words on Water. Literary and Cultural Representations. Hrsg. von Maureen Devine/Christa Grewe-Volpp. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag 2008, S. 159–172, hier S. 166.

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nunmehr die Rolle des befreiten Gedächtnisses im Umgang mit der Vergangenheit der DDR. Die zentrale Stellung körperlicher Flüssigkeiten bei der Problematisierung von Mauerfall und Gedächtnis und deren Beziehung zur Vorwendevergangenheit schließt einen narratologisch durch drei Schritte dargestellten Übergang ab. Die erste Phase wird durch die Überschwemmung des braunen Flusses verkörpert, wo das Wasser mit Zellstoffresten, Motorenöl und Schaum gemischt schon eine dickere, schleimige und den Körperflüssigkeiten ähnlichere Konsistenz vorweist als reines Wasser: „Der Fluß hob und senkte die Stadt wie auf Hydraulikbühnen, das Wasser, braun, eisschlierig, aufgeheizt von Zellstoffresten und Motorenöl und den Schalltrichtern […] überm betonierten Ufer, die sich in den Abwasserkanal einer Düngemittelfabrik erbrachen, der Schaum: [sic]“ (S. 940).

Dieser Beschreibung des Flusses, unter den das atlantische Dresden und letzten Endes die sozialistische Utopie sinken werden, schließt sich der abschließende, fast als Bewusstseinsstrom formulierte Tagebucheintrag Menos über die Nacht des Mauerfalls als zweite Phase an. Hier wirkt das Wasser über das Motiv des nassen Papiers als Bestandteil eines Gedächtnissymbols, mithilfe dessen Meno auf das erneute Niederschreiben der Geschichte, diesmal aus einer frisch eingetretenen Nachwendeperspektive verweist. Das Motiv des aufwirbelnden Papiers in den Stuben mit ihren ‚Behördennormschreibtischen‘ dient dabei als Metapher des Gedächtnisses bzw. eines Mangels an ebendiesen sowie als Metapher für die fliehende Wahrheit über die Stasi-Akten: „[N]un [fegt – G.I.] frische Luft […] mit dem durchbrechenden Volk, Papier wirbelt auf, Papier, die alten, als Gründungsdokumente gehandelten Akten, Blättersturm […] Das Petschaft des Zimmers wird geöffnet, in dem sich die Geruchskartei befindet, von Tausenden missliebigen Personen hat man Achselschweiß mit einem Läppchen abgenommen, in Zellophan verschweißt, exakt kartiert und für die Hunde aufbewahrt“ (S. 970f.).

In diesem Kontext wird noch vor der Verwendung des Motivs des nassen Papiers, das aufwirbelnde Papier mit dem Körperschweiß in Einklang gebracht. Erst nach der Anspielung auf die zerstörten Stasi-Akten und das Gedächtnis über das Geheime und das Verschwiegene kommt das Motiv des nassen Papiers hinzu. In dieser Bilderfolge vom erst aufwirbelnden Papier, dann nassen Papier steht das Wasser für das Vergessen bzw. Verdrängen der dunkelsten Seite der DDR-Vergangenheit, während der aus dem nassen Papier entsprungene Presssaft als unkontrollierbare Kraft des unbewußten Gedächtnisses in den Mittelpunkt rückt:

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„Papier für die WAHRHEIT, den gedruckten Spiegel, NEUES DEUTSCHLAND, JUNGE WELT, PRAWDA, Zeitungen, die ins Wasser gespült werden, […] Zeitungen, die ins Wasser gespült werden, […] Tropfen bilden sich wie Schweißperlen auf den Stirnen von Männern beim Armdrücken, Nässeschicht wölbt sich über Nässeschicht, […] plötzlich beginnt es eine Schräge hinabzurinnen [sic], zwei Tropfen schnappen zusammen mit der Lautstärke eines über zu schwachen Armen kollabierenden Expanders, aus eins mach zwei, eiterweiße Rinnsale suchen sich ihren Weg zu den Rohröffnungen, die auf Rohreingänge weisen, die auf Rohrausgänge weisen, Mund übergibt sich in Mund, und aus den Traufen quillt der Presssaft, Flüssigkeit kostbar wie Blut und Sperma, aus den Papieren der Archive“ (S. 972f.).

Der Vergleich des Presssafts mit Blut und Sperma verstärkt das Bild des Gedächtnisses als freie Rede im weitesten Sinne. In dieser letzten surrealistischen Überlegung werden metaphorisch herausgepresste Körperflüssigkeiten wie Schweiß und Sperma mit Blick auf das Bild der Papiere und Archive problematisiert. Dies hat zur Folge, dass der offiziellen Wahrheit das aus dem Unbewussten entsprungene, authentische unkontrollierbare Gedächtnis entgegengesetzt wird. Meno charakterisiert das Erinnern dabei als einen porösen Vorgang, wobei er das Gedächtnis mit dem aus nassen Papieren ausquellenden Presssaft gleichsetzt. Diesen Presssaft seinerseits setzt er mit Blut und Spermatropfen in Beziehung und verbindet das Sich-Erinnern mit einem Bild des Durch-mehrereSchichten-Durchsickerns. Das Gedächtnis wird also aus diversen Nässeschichten gebildet. Mit dieser Metapher einer porösen Wahrheit und Geschichte wird der Umgang mit der Vergangenheit in Frage gestellt. Das Nachwendegedächtnis wird als Flüssigkeit, d. h. als die essenziellen, mit dem Leben und Neuanfang verbundenen Flüssigkeiten, bezeichnet und steht somit im Gegensatz zu der Wassermetaphorik, die bis hierhin in erster Linie für Stagnation und Untergang steht.

VI.

Zum Schluss

Als Fazit kann man zusammenfassen, dass das atlantische Dresden in Tellkamps „Der Turm“ durch die Wassermetaphorik als ambivalentes und komplexes topographisches, soziales und ideologisches Universum mit vielerlei inneren und äußeren Grenzräumen geschildert wird. Der dabei vorherrschende ArchipelTopos vermittelt eine deutliche Divergenz zwischen dem soliden Kontinent-Bild des offiziellen DDR-Diskurses und der Porosität und Isolation des Alltags in der atlantischen Stadt. Hinzu kommt, dass die Wassermetaphorik von Beginn an stark dazu tendiert, Wasser nicht mit reinen, paradiesischen Landschaften, sondern sowohl mit der Dresdner Unterwelt der Abwässer, d. h. mit Todesszenarien, als auch mit dem unkontrollierbaren Strom des Flusses in der Nacht des Mauerfalls, d. h. mit der Dimension des Unbewussten, in Einklang zu bringen.

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Bemerkenswert ist die Tatsache, dass diese Wassermetaphorik und die damit verbundene Raumdarstellung mit der Perspektive einer Figur zusammenhängen, die im Roman immer wieder Grenzen überschreitet, als Sich-Erinnernder und Schreibender charakterisiert wird und in seinen Tagebucheinträgen seiner Stadt gegenüber eine insgesamt kritische Einstellung einnimmt. In diesem Sinne wird die Leserschaft durch die Verwendung von entgegengesetzten und mit Porosität verbundenen Wasserelementen im Roman zur Reflexion über den vielschichtigen Begriff Grenzraum eingeladen. Einerseits liegt das Augenmerk auf dem komplexen Mosaik von äußeren und inneren, von rein topographischen und auch mentalen Grenzräumen hinter den Kulissen der SpätDDR und des Mauerfalls. Andererseits soll die Leserschaft auch über die Grenzen des Körperlichen und Mentalen sowie des Bewussten und Unbewussten bei der Herausbildung von Wahrheiten und des kollektiven Gedächtnisses nach einer historischen Wende wie dem Mauerfall nachdenken. Nicht umsonst literarisiert Tellkamps Roman das historische Gedächtnis in Bezug auf die DDR-Vergangenheit mit Bildern der Flüssigkeit und Porosität als eine unabdingbare Essenz des neuen Lebens, die genauso essenziell und körpernah wie Schweiß, Blut und Sperma ist. In „Der Turm“ stellt sich durch diese Fluiditätssymbolik die Frage, auf welche Weise und mit welchen Mechanismen eine Gesellschaft die Diskursivität des Gedächtnisses und die historische Wahrheit nach einem historischen Ereignis wie dem Mauerfall konstruiert. Die Antwort scheint in der Macht des Unbewussten, in der Komplexität und Flexibilität des Gedächtnisses sowie des Wahrheitsbegriffs zu liegen.

Andrea Meixner (Stockholm)

„[W]arum die Grenze nur eine vielschichtige, nüchterne Drohung ist“. Zum räumlichen Konstrukt Grenze in ausgewählten Werken der deutschsprachigen Migrationsliteratur

Der vorliegende Beitrag untersucht literarische Inszenierungen von Staatsgrenzen vor dem Hintergrund der mobilen Identitätsentwürfe migrierender Figuren zwischen Südosteuropa und den deutschsprachigen Ländern vor dem Fall des Eisernen Vorhangs bzw. während des Krieges in Jugoslawien. Grenzräume spielen in den vier untersuchten Romanen weit über die Gestaltung von Handlungssettings hinaus eine komplexe Rolle: Immer wieder erfolgt in den Texten eine Auseinandersetzung mit ihrem politischen und sozialen Konstruktcharakter, aber zugleich auch mit ihrer sehr konkreten, teilweise lebensbedrohlichen Alltagspräsenz. Somit wird das Konzept der Grenze mit Blick auf diejenigen, die aus verschiedenen Gründen mit ihr konfrontiert werden, in sehr unterschiedlicher Weise kritisch durchleuchtet. Der Beitrag zeigt, welche Perspektiven auf die Natur von Grenzräumen die Texte dabei anbieten. This contribution analyses four literary representations of highly problematic state borders between South-eastern Europe and the German-speaking countries before the fall of the Iron Curtain and during the Yugoslav Wars in connection to migrant protagonists’ (mobile) concepts of identity. Border spaces play an important and complex role that goes far beyond them being a backdrop to plot events in the novels in question, i. e. Melinda Nadj Abonji’s “Tauben fliegen auf”, Zsuzsa Bánk’s “Der Schwimmer”, Marica Bodrozˇic´’s “Der Spieler der inneren Stunde”, and Dimitré Dinev’s “Engelszungen”. The novels examine the ambivalent character of borders as political and social constructs that nevertheless have a concrete and often life-threatening relevance and presence. Thus, the concept of the border is approached critically from a number of different angles, depending on the perspectives of those that get confronted with it. The analysis illustrates how the nature of border spaces is conceptualized in the texts.

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I.

Andrea Meixner

Fragestellung und Problemkonstellation: Warum Grenzen, und warum gerade diese?

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit Entwürfen von Staatsgrenzen in vier aktuellen deutschsprachigen Romanen („Tauben fliegen auf“ von Melinda Nadj Abonji1, „Der Schwimmer“ von Zsuzsa Bánk2, „Der Spieler der inneren Stunde“ von Marica Bodrozˇic´3 und „Engelszungen“ von Dimitré Dinev4). Im Mittelpunkt steht dabei eine Bestandsaufnahme bezüglich der Darstellung und Funktionen von Grenzen in den ausgewählten Texten, die bestimmte Tendenzen der Gegenwartsliteratur repräsentieren. Zunächst wäre jedoch einleitend zu klären, welche Szenarien hier überhaupt entworfen werden. In allen untersuchten Romanen werden Grenzräume für Figuren zu problematischen Räumen. Dies ist einerseits angesichts schwieriger politischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen der Fall, die durch die wechselseitigen Beziehungen der betroffenen Staaten zu beiden Seiten der geschilderten Grenzen bedingt sind. Andererseits stehen in den Romanen aber solche Narrative im Mittelpunkt, in denen diese Grenzen von migrierenden Figuren – teilweise mehrfach und in beide Richtungen – überquert werden. Alle vier Romane wurden in germanistischen Untersuchungen wiederholt der deutschsprachigen Migrationsliteratur zugeordnet. So problematisch dieser und ähnliche Begriffe5 als übergreifende Sammelkategorien für ein mittlerweile sehr breites Spektrum literarischer Texte sein mögen, die sich gattungspoetisch kaum unter einem gemeinsamen Oberbegriff fassen lassen,6 so ist eine solche thematische Bündelung für Einzeluntersuchungen doch sinnvoll, zumal kein Anspruch auf eine weiterführende kategorische Vereinnahmung der Texte besteht: Migration impliziert hier ‚grenzüberschreitende Mobilität‘, und die Wahl gerade dieser Romane aufgrund ihres gemeinsamen Themas liegt entsprechend vor dem Hintergrund einer gezielten Auseinandersetzung mit Entwürfen von Grenzräu1 Nadj Abonji, Melinda: Tauben fliegen auf. Salzburg/Wien: Jung u. Jung 2010 (im Folgenden MNA). Die im Titel dieses Beitrags zitierte Frage nach der Natur von Grenzen stellt die Protagonistin auf S. 271 des Romans. 2 Bánk, Zsuzsa: Der Schwimmer. Frankfurt/Main: Fischer 2002 (im Folgenden ZsB). 3 Bodrozˇic´, Marica: Der Spieler der inneren Stunde. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005 (im Folgenden MB). 4 Dinev, Dimitré: Engelszungen. Wien: Deuticke 2003 (im Folgenden DD). 5 Andere kursierende Termini wären etwa Migrantenliteratur oder Interkulturelle Literatur, vgl. Rösch, Heidi: Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs. (Zugriff am 16. 06. 2018). 6 Zu einer detaillierteren Positionierung in dieser Debatte vgl. Meixner, Andrea: Von neuen Ufern. Mobile Selbst- und Weltbilder in ausgewählten Werken der neueren deutschsprachigen Migrationsliteratur. Diss. Univ. Göttingen 2016. (Zugriff am 20. 01. 2018).

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men nahe. Bereits bei der Betrachtung eines vergleichsweise kleinen Textkorpus liefert das analysierte Material eine große Dichte und Vielfalt unterschiedlichster Grenzbeschreibungen. Darüber hinaus wird – und das ist für meine Herangehensweise entscheidender – auch zwangsläufig die Frage aufgeworfen, inwiefern eine migrantische Mobilität über Grenzen hinweg für die betroffenen Figuren Konfrontationen mit, das Agieren in und Gestalten von sozialen Räumen bedingt. Die Auseinandersetzungen der Romane mit Grenzräumen und den ihnen innewohnenden Handlungs- und Gestaltungspotenzialen gehen hier weit über die Darstellung von Grenzen als statischen räumlichen Kulissen im Sinne eines atmosphärischen Handlungshintergrundes hinaus. Teil der Komplexität des Grenzbegriffs ist, dass mit ihm einerseits, insbesondere in Bezug auf Staatsgrenzen, Manifestationen gesellschaftlicher Strukturen und Repräsentationen einer territorialen und ideologischen Trennlinie zwischen politischen Systemen angesprochen werden.7 Andererseits kann dazu analog jede Form von Abgrenzungen oder Grenzziehungen sozialer Art zwischen Individuen und Gruppen mit dem Ziel der Etablierung oder Verteidigung von Gruppenidentität terminologisch beschrieben werden. Damit hat die Grenze doppelte Relevanz im Kontext der untersuchten Romane, in denen literarische Figuren Staatsgrenzen überqueren und mit Formen sozialer Exklusion und Inklusion konfrontiert werden. Beides, also Staats- bzw. Systemgrenzen und die Umgrenzungen sozialer Räume, lässt sich hier kaum voneinander trennen. Auch wo ich im Folgenden auf die vertiefende Arbeit mit metaphorischen Grenzbegriffen zugunsten einer Untersuchung von Darstellungen konkreter, klar lokalisierter Landesgrenzen größtenteils verzichte, ist diese Ebene daher stets mitzudenken.8 Eine zentrale Fokussierung der vorliegenden Untersuchung betrifft die Art der beschriebenen Grenzen: Ich setze mich hier, wie eingangs angedeutet, mit ideologisch aufgeladenen Grenzziehungen zwischen sich stark voneinander 7 So spricht Rösch von Systemmigration „als Wanderung zwischen den politischen und wirtschaftlichen Systemen Ost- und Westeuropas“ (vgl. Rösch, Migrationsliteratur). 8 Zum hier verwendeten Raumbegriff und meinem ihm zugrundeliegenden Verständnis von Räumen als Produkten sozialen Handelns an Orten vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. Entsprechende Überlegungen zu den Dimensionen von Raumdarstellungen in der Literatur finden sich beispielsweise in dem von Wolfgang Hallet und Birgit Neumann herausgegebenen Sammelband zum Thema. Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit (Hrsg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Transcript: Bielefeld 2009, vgl. dort u. a. Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit: Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung, S. 11–32. Eine wichtige Folgefrage, auf die hier jedoch ebenfalls nicht näher eingegangen werden kann, wäre die nach der Art und Weise, in der in den Romanen analog zu räumlicher Mobilität Identität (insbesondere in ihren sozial oder kulturell definierten Spielarten) wahrgenommen und wie Identitätsarbeit in den Texten gestaltet wird. Vgl. dazu Meixner: Von neuen Ufern. 2016.

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Andrea Meixner

unterscheidenden und oft im Konflikt befindlichen politischen Systemen beiderseits bestimmter Landesgrenzen auseinander, die – mit oder ohne Bezugnahme auf den trennenden Charakter der Grenze selbst – immer wieder analog zu kontrastiven Raumentwürfen mit den zugeschriebenen Attributen westlich und östlich stattfinden.9 Die überquerten Grenzen zwingen daher in den jeweiligen Szenarien zu Positionierungen innerhalb eines hochkomplexen geographischen und politischen Spannungsfeldes zwischen Südosteuropa und den deutschsprachigen Ländern in unterschiedlichen historischen Perioden, nämlich vor dem Fall des Eisernen Vorhangs und während des Krieges in Jugoslawien in den 1990er Jahren.10 Den ausgewählten Texten ist somit bei aller Vielfalt der erzählten Migrationen über Grenzen hinweg Grundlegendes gemeinsam. Bezüglich der hier im Mittelpunkt stehenden Fragestellung ist besonders relevant, dass sie alle sowohl (1) Beschreibungen von Grenzräumen und ihrer Wahrnehmung aus den Perspektiven einer Vielzahl migrierender und nur indirekt von Migrationen anderer betroffener Figuren liefern als auch (2) legale wie illegale Grenzüberquerungen in Szene setzen. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass die Romane dabei übereinstimmend ein den jeweiligen Grenzentwürfen inhärentes Paradox der Grenze sichtbar machen. Im Sinne des titelgebenden Zitats aus Nadj Abonjis „Tauben fliegen auf“ ist die Grenze eine – komplexe und oft angsteinflößende – Vorstellung, eine ‚Drohung‘: Grenzen werden als (lebens-)bedrohliche Realität geschildert – insbesondere für diejenigen, die problematische Systemgrenzen zu überwinden versuchen. Dabei handelt es sich jedoch um Konstrukte, die zwar ein sichtbares Äquivalent in der konkreten Landschaft haben können (etwa architektonische Manifestationen von Landesgrenzen aufgrund militärischen Grenzschutzes oder mit den erfolgten Grenzziehungen koinzidierende landschaftliche Gegebenheiten), dies aber nicht müssen. Wie beides auf vielfältige und oft widerstreitende Art und Weise literarisch inszeniert wird, möchte ich im Folgenden herausarbeiten. 9 Katrin Sorko beobachtete bereits im Jahr 2007 ähnliche Tendenzen in ca. 40 aktuellen Romanen und Erzählungen mit Systemmigrationsthematik (vgl. Sorko, Katrin: Die Literatur der Systemmigration. Diskurs und Form. München: Martin Meidenbauer 2007, S. 62f.). Die Zusammenstellung des von mir untersuchten, stark eingeschränkten Textkorpus orientiert sich an der Vergleichbarkeit der ausgewählten Romane bezüglich Entstehungszeitraum und beschriebenen historischen Kontexten bei möglichst großer Vielfalt der überschrittenen Grenzen und der Art der jeweiligen Grenzübertritte. 10 Bánk beschreibt illegale Migrationen aus dem sozialistischen Ungarn der 1950er Jahre nach Deutschland und Österreich, Bodrozˇic´ und Nadj Abonji beschäftigen sich mit den Migrationserfahrungen jugendlicher Protagonistinnen aus dem heutigen Kroatien und Serbien aufgrund der Arbeitsmigration der Eltern nach Deutschland beziehungsweise in die Schweiz (inklusive des späteren Kriegsausbruchs in den jeweiligen Heimatländern), Dinev beschreibt unterschiedliche legale und illegale Formen der Migration aus dem sozialistischen Bulgarien, vor allem nach Österreich.

„[W]arum die Grenze nur eine vielschichtige, nüchterne Drohung ist“

II.

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Die Grenze in Gedanken: Ideologische Trennlinien

Die Grenze ist in den Romanen Nadj Abondjis, Bánks, Bodrzˇic´s und Dinevs allgegenwärtig. Selbst in Textabschnitten, in denen Grenzen nicht als Handlungsorte in Erscheinung treten, ‚existieren‘ sie allein schon durch die vorherrschende Überzeugung von nationaler, politischer oder kultureller Unterscheidung, durch gedachte Trennlinien zwischen mit vielfältigen Assoziationen aufgeladenen politisch-territorialen Entitäten. Als Teile von Differenzentwürfen zwischen als gegensätzlich gedachten Räumen treten Grenzen in allen vier Romanen in Erscheinung, und zwar mit deutlicher Abgrenzungsfunktion und als Marker politischer Unterschiedlichkeit. Sie sind in ihrer Funktion als Sperre weder ohne weiteres zu überschreiten noch zu durchblicken. Oft können weder Menschen noch Gedanken oder Wissen sie passieren. Das führt zu einer Aufladung der infolgedessen jeweils unbekannten Räume mit seitens der Figuren nicht oder nur schwer überprüfbaren Projektionen. Im Kontext des Kalten Krieges gilt zusätzlich, dass ‚Ost‘ und ‚West‘ analog zur territorialen Grenzziehung als absolute Opposition konstruiert und mit ideologisch gefärbten Bildern vom Anderen auf der anderen Seite von Landesgrenzen gefüllt werden. Aus östlicher Perspektive ist der Westen dabei vor allem unerreichbar und somit fremd, wie in der Frage der jungen kroatischen Protagonistin bei Bodrozˇic´ mitschwingt, wenn sie sich bezüglich ihrer ohne die Kinder als Gastarbeiter in Deutschland lebenden Eltern fragt: „Was machen die nur dort im fremden Land [?]“ (MB, S. 159).11 Als Sehnsuchtsort und fremdartiges Paradies figuriert der Westen auch in den übrigen Texten, etwa wenn der Cousin der Protagonistin bei Bánk Pläne schmiedet, die bedrückende, dörfliche Welt seiner Familie im Ungarn der 1950er Jahre hinter sich zu lassen12 oder wenn bei Nadj Abonji die auf Besuch aus der Schweiz in die alte Heimat der Vojvodina zurückgekehrte Protagonistin von einer Cousine mit den Illusionen der einheimischen Bevölkerung konfrontiert wird.13 Was hier in Erscheinung tritt, deckt sich mit einer in der Forschungsliteratur wiederholt beschriebenen ‚Glorifizierung des Westens‘:14 Was sie aufgrund der geschlossenen Grenzen nicht kennen, wird von Figuren auf der östlichen Seite wiederholt als positiver Gegenentwurf zu den Mängeln des eigenen Alltags konstruiert. Gleichzeitig lässt sich aber auch eine gegenteilige Tendenz ablesen, in der der Westen zum Ursprung allen Übels stilisiert wird und in der damit die Verantwortung für die bekannten, als unbefriedigend bewerteten Zustände an 11 Zugleich erwartet die Protagonistin ebenso wie die übrigen Kinder im dalmatinischen Dorf sehnsüchtig die exotischen Mitbringsel aus dem Westen. 12 „Weggehen wolle er, sagte er mir, wenn wir allein waren und uns niemand hörte, vielleicht nach Pest, vielleicht weiter in Richtung Westen“ (ZsB, S. 28). 13 „[I]ch dachte, ehrlich gesagt, dass ihr im Westen alles könnt“ (MNA, S. 32). 14 Vgl. u. a. Sorko, Systemmigration. 2007, S. 77ff.

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ein – ebenfalls konstruiertes – Anderes abgeschoben wird. Auch hierfür findet sich ein bezeichnendes Beispiel bei Bánk, in dem sich die Haltung der Eltern des oben angesprochenen Cousins ausdrückt: „Zsófi sagte, dieser Sturm, er kommt von Westen, und Pista ergänzte, nicht nur dieser Sturm, alles Schlechte kommt von Westen“ (ZsB, S. 40). Sichtbar wird hier und anderenorts immer wieder eine starke Verallgemeinerung der betroffenen Räume beziehungsweise der ihnen zugeschriebenen Inhalte. Diese beruht auch, aber sicherlich nicht nur auf Informationsmangel: Zu der nicht zu übersehenden Unwissenheit über die Gegebenheiten jenseits der Grenze gesellt sich die Instrumentalisierung eines mit Ideen aufgeladenen und nahezu beliebig aufladbaren Gegenstücks zu den eigenen Erfahrungsräumen. Auffällig ist bei einer näheren Betrachtung der unterschiedlichen Figurenäußerungen, dass die Gedanken über den Osten, die aus westlicher Perspektive geschildert werden, ebenso undifferenziert und oberflächlich erscheinen und zum Teil ganz ähnlichen Mustern folgen. Der trennende Vorhang Grenze ist also gewissermaßen in beide Richtungen blickdicht, wie etwa die folgende Textstelle aus Dinevs „Engelszungen“ zeigt, in der die Erfahrungen eines der aus Bulgarien stammenden Protagonisten nach der illegalen Migration nach Österreich geschildert werden: „Über die Vergangenheit versuchte Svetljo so wenig wie möglich nachzudenken. Viele seiner Kunden wußten nicht, wo Bulgarien lag, und wenn er ihnen erzählte, daß es sich zwischen Jugoslawien, Rumänien, Griechenland, der Türkei und dem schwarzen Meer befände, meinten einige, da gäbe es nichts. […] ‚Wir wissen eh, daß es im Osten Oasch is‘“. (DD, S. 558)

Neben der gerade bei Dinev offenkundigen Unkenntnis der Menschen im Westen über die thematisierten Räume jenseits der Systemgrenze tritt auch hier immer wieder ein klar (ab)wertender Ton in Erscheinung. So heißt es etwa bei Nadj Abonji in einem Gespräch über den Krieg auf dem Balkan unter Schweizern, das die migrierte Protagonistin mit anhört: „[D]ie, die seit den 90ern kommen, das ist ja rohes Material, […] wissen Sie, der homo balcanicus hat die Aufklärung einfach noch nicht durchgemacht“ (MNA, S. 108). Man kann solche Textstellen als Manifestationen von Phänomenen lesen, wie sie in Anlehnung an Saids Orientalismusbegriff 15 als ‚Osteuropäismus‘16 oder ‚Balkanismus‘17 beschrieben worden sind: Die Äußerungen intendieren mehr oder weniger deutlich eine Aufwertung der eigenen Position von sich als westlich inszenierenden Sprechern oder Sprecherinnen durch pauschalisierende Abwertung bestimmter als östlich

15 Vgl. Said, Edward: Orientalism. London: Routledge & Kegan Paul Ltd 1978. 16 Vgl. Sorko, Systemmigration. 2007, insbes. S. 89ff. 17 Vgl. Todorova, Maria: Imagining the Balkans. New York: Oxford University Press 2009.

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klassifizierter und in ihrer eindeutig negativen Beurteilung nicht nur geographisch markierter Räume, von denen man sich entsprechend distanziert. Beides, die sehnsüchtige Idealisierung des Westens beziehungsweise dessen undifferenzierte Ablehnung aus östlicher Perspektive ebenso wie die gleichermaßen undifferenziert daherkommende Abgrenzung verschiedener in westlichen Ländern lebender Figuren von einem negativ konnotierten Osten, wird in allen hier untersuchten Romanen geschildert, und zwar oft in Äußerungen von Figuren ohne Migrationserfahrung auf beiden Seiten der Systemgrenzen. Wichtig ist für die Analyse der literarischen Auseinandersetzungen mit diesen Grenzen, dass es sich bei solchen Entwürfen immer wieder um deutlich als individuelle Figurenwahrnehmung markierte Phänomene handelt, die explizit mit konfligierenden Erfahrungen migrierender Figuren und geschilderten alltäglichen Realitäten kontrastiert werden. Sichtbar ist also, dass es sich um vorgestellte, ideologisch aufgeladene Abgrenzungen mit extremen Kontrasten zwischen den abgegrenzten Territorien und Ideen handelt.

III.

Architektur der Macht: Grenzübergänge in den Romanen

Grenzen und ihr geographisches Umfeld werden jedoch in allen Texten auch als Handlungsräume dargestellt, und zwar insbesondere dann, wenn sie überquert werden. Zahlreiche Figuren nutzen dabei die offiziellen Grenzübergänge, und hier werden Staatsgrenzen als Teile komplexer politischer Mechanismen entworfen. Die Rahmengegebenheiten des internationalen Grenzschutzes treten in unterschiedlichem Maße in Erscheinung, aber es wird überall deutlich, dass es sich bei den Grenzanlagen, mit denen die Figuren konfrontiert werden, um befestigte, militarisierte Monumente der Macht handelt. Eine wiederkehrende Folge insbesondere bei den jungen Hauptfiguren in den Romanen Nadj Abonjis und Bodrozˇic´s ist Angst, die den Gedanken an die Grenze ebenso wie die Konfrontation mit ihr begleitet: „Und als wir endlich an der Reihe sind, blicken Nomi und ich mit Kindergesichtern in die strengen Augen des Grenzpolizisten, wir zeigen ihm, dass wir unschuldig sind, und nicht nur wir, sondern auch Vater; der aus Stein gehauene Kommunist bringt es fertig, dass wir ehrerbietig und wieder hellwach sind, er, der gelassen in unseren Pässen blättert, sich zwischendurch Zeit nimmt, seinen deutschen Schäferhund zu tätscheln […].“ (MNA, S. 67) „Die Freude wurde von den eisstarren Zollbeamten und glatzköpfigen Grenzsoldaten gedämpft. Das Herz klopfte stark, schon bei den Schildern, aber kaum war eine Uniform in der Nähe, fing es zu rasen an. […] Hunde mit gefährlichem Kopf stürmten ins Innere des vertraut gewordenen Gefährts […].“ (MB, S. 27)

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Aber durch die Inszenierung der Grenze als schwer überwindbare Trennlinie werden nicht nur Furcht, Abstand und Respekt erzeugt. Auch der Eindruck der grundlegenden Verschiedenheit des bekannten Umfeldes von dem, was auf der anderen Seite zu erwarten ist, wird dadurch gesteigert, und implizit auch die Bedeutung dessen, was sich dort mutmaßlich befindet. Sowohl die Bedeutung der Abgrenzung selbst als auch des Abgegrenzten werden somit durch Grenzarchitektur und militärische Präsenz verstärkt. Auf die andere Seite zu gelangen bedeutet in den untersuchten Texten, ein gewaltiges Hindernis zu überwinden und erfolgreich eine schwer erreichbare andere Welt zu betreten. Zugleich verlassen die jeweiligen Figuren zum Teil endgültig ihr bisheriges Umfeld, und zwar mit oft unabsehbaren Folgen. Die Mutter der Protagonistin bei Bánk etwa, die Ungarn und ihre Familie verlässt, um im Westen ihr Glück zu machen, verschwindet damit faktisch aus der Welt ihrer Verwandten und ihres gesamten bisherigen Lebens – auch aus dem Blickfeld ihrer beiden Kinder. Für lange Zeit bleibt die einzige Nachricht, die diese von ihr erhalten, eine kurze, unverfängliche Grußsendung im Radio („Nur so viel hatten sie geschrieben, Vali und Kata grüßen euch, gut geht es uns, wir sind im Westen, wir grüßen den Vater, die liebe Mutter, die geliebte Tochter, den geliebten Sohn“; ZsB, S. 175). Die militarisierte Grenze quer durch Europa hat hier denkbar einschneidende Konsequenzen: Der Akt ihrer Überquerung ist nicht nur lebensverändernd, sondern vielfach ein unumkehrbarer, endgültiger Schritt. Als im selben Roman die spätere Flucht des bereits erwähnten Cousins der Protagonistin bekannt wird, betrauern ihn seine Eltern wie einen Verstorbenen („In der Küche hatte Zsófi ein Foto von Jeno˝ aufgestellt, das sie zu oft in den Händen gehalten hatte, in einem Rahmen aus dunkelrotem Holz, davor zwei brennende Kerzen.“ Ebd., S. 247).18

IV.

Die unsichtbare Grenze: Verschwimmende Übergänge

Dass in der Mehrheit der in der jüngeren Vergangenheit erschienenen Romane mit Migrationsthematik die Grenzüberquerung und die Wahrnehmung von Grenzen als absoluten Trennlinien nur der Beginn schwieriger, komplexer Prozesse der Auseinandersetzung handelnder Figuren mit sich selbst und den vielfältigen Räumen ist, in denen sie sich nun bewegen, liegt in der Handlungsstruktur der Texte begründet: Die Migration über Systemgrenzen hinweg bildet meist nur den Ausgangspunkt für diese Prozesse. Es kann gewissermaßen als Teil 18 Eine ähnliche Behandlung erfährt das Thema auch in der übrigen Verwandtschaft: „Vater sagte, es ist etwas mit Jeno˝, Jeno˝ ist nicht mehr da, er hat uns verlassen, er ist weg, und er sagte all das sehr leise“ (ebd., S. 246).

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der Dekonstruktion der Idee absolut gesetzter und somit unhinterfragbarer Grenzen gelesen werden, dass Staatsgrenzen von den Migrierten im weiteren Handlungsverlauf immer seltener und in immer geringerem Maße als allgemeingültige Markierungen von Unterschiedlichkeit zwischen Menschen und Orten auf beiden Seiten anerkannt werden. Im Akt der Grenzüberquerung werden auf der Erfahrungsebene bereits Aspekte der komplexen Auseinandersetzung gerade jugendlicher Figuren mit national oder kulturell gedachten Identitätsentwürfen analog zu Staatsgrenzen sichtbar, deren genauere Untersuchung von Interesse wäre, aber im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich ist. Insbesondere Versuche, auf illegalem Weg unter Vermeidung der offiziellen Grenzübergänge ein Land zu verlassen und ein anderes zu betreten, führen zu eindrücklichen und komplexen Erfahrungen, wobei die davon betroffenen Figuren später oft beide Seiten der Grenze differenzierter betrachten und die Eindeutigkeit der Unterscheidung analog zur von der Grenze markierten Trennlinie sich zunehmend auflöst. Auch hier ist – und zwar erwartungsgemäß in zum Teil deutlich gesteigerter Form – Angst vor einer imminenten Gefahr stets ein bestimmender Faktor, z. B. die Angst vor Patrouillen von Soldaten oder Grenzbeamten, ihren Hunden oder Schusswaffen: „Als sie das letzte Maisfeld hinter sich ließen und unter wenigen Bäumen weitergingen, […] mußten sie sich noch einmal auf den Boden werfen. Ein Streifen aus Licht fuhr über die Felder, erst schnell, dann langsamer, kam vor ihnen zum Stehen, tauchte alle in ein mattes Gelb […].“ (ZsB, S. 132) „Der Hund sei der beste Freund des Menschen, hieß es, aber besonders gute Freundschaften pflegten Polizisten und Grenzpatrouillen mit Hunden zu schließen. Svetljo und Sascho wußten später nicht, wie lange sie im Schnee versteckt gelegen waren und wann genau das Bellen verstummt war und sie zu laufen angefangen hatten. Und wieviele Zäune sie übersprungen hatten oder durch wieviele sie durchgekrochen waren.“ (DD, S. 534)

Zusätzlich zu der erwartbaren Bedrohlichkeit der Fluchtsituation selbst beschreiben die Romane jedoch auch eine weitere, für die Figuren verwirrende und auf den ersten Blick erstaunliche Erfahrung, nämlich dass die tatsächliche Grenze selbst stets unsichtbar bleibt. Äußere Kennzeichnungen der Landesgrenzen fehlen vollständig, und der Moment, in dem sie überquert werden, kann damit nicht konkret bestimmt werden. Zwei Beispiele aus den zuletzt zitierten Fluchtkontexten bei Bánk und Dinev zeigen dies deutlich: „[Sie] liefen weiter, bis zu einem Baum, an dem der Bauer stehenblieb und seine Arme nach Westen hin ausbreitete. Vali nahm etwas Erde in ihre Hände, zerbröselte sie vor den Augen aller und ließ sie fallen, und der Bauer zeigte darauf und sagte, das ist Österreich.“ (ZsB, S. 133)

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„‚Svetljo, bleib stehen und schau dir das an‘, rief plötzlich Sascho von hinten. Er stand außer Atem und stützte sich auf ein Straßenschild. Das Schild war auf Deutsch beschriftet.“ (DD, S. 535)

Hier wird auf eindringliche Weise die Zufälligkeit und der Konstruktcharakter einer territorialen Trennlinie in Szene gesetzt, ebenso wie der etwas hilflose Versuch der Flüchtenden, nachträglich dennoch einen sinnstiftenden, symbolischen Moment des Übergangs zu inszenieren. Die Realität der vorgefundenen Landschaft entspricht nicht den Erwartungen der Figuren, die vergeblich einen sichtbaren Unterschied zwischen beiden Seiten der Grenze suchen. Sie konstruieren in Reaktion darauf selber Markierungen und Symbole, die der gefühlten Bedeutung des Moments und der lebensverändernden Handlung, die zu vollziehen sie im Begriff sind, eine sichtbare Form geben sollen. Durch ihr Handeln erzeugen sie gewissermaßen selber eine Spur der gefühlten Grenze in der an sich unmarkierten Landschaft. Die Unsichtbarkeit der Grenze führt sogar zu einer angesichts ihrer großen Bedeutung für die Betroffenen beinahe absurd anmutenden Gefahr. Sie überhaupt zu finden, wird zu einer unkalkulierbaren Herausforderung, wie eine andere Fluchtgeschichte bei Bánk illustriert: „Später sagte Árpi, der Himmel habe angefangen, sich zu drehen, und mit ihm hätten sich auch die Felder gedreht“ (ZsB, S. 150). Auch bei Dinev gibt ein Fluchthelfer den entsprechenden Rat, einen Kompass mitzunehmen, „‚Sonst würdet ihr euch die ganze Nacht im Kreis drehen, die Orientierung verlieren und nie aus dem Wald rauskommen […]‘“ (DD, S. 533). Sowohl als Hindernis als auch als Orientierungshilfe figurieren in den Texten lediglich die von menschlicher Hand angelegten Grenzschutzanlagen. Interessant ist, dass selbst da, wo Grenzen legal überquert werden, tatsächliche Unterschiede in den Beschreibungen beider Seiten, die ja den Erwartungen der Figuren entsprechen würden, nur selten geschildert werden und die Grenzübergänge an sich merkwürdig isoliert in ihrer natürlichen Umgebung stehen. Bei Nadj Abonji wird dies besonders deutlich, wenn es aus der Perspektive der jungen Protagonistin heißt: „[Ich] hielt […] Ausschau nach dem festlichen roten Band, das ich mir in meinem Kinderkopf als Grenze vorgestellt hatte, […] aber da gibt es nie etwas, ausser Wachtürmen, patrouillierenden Soldaten, die ihre Waffen so selbstverständlich tragen wie ein Paar Schuhe, Wachhunde, die an ihren Leinen ziehen, und meistens wehen an den Grenzen Fahnen oder hängen schlaff an Stangen nebeneinander, die Steine, die Büsche, das Gras, die wenigen Bäume kommen mir farblos vor, unnatürlich […].“ (MNA, S. 270f.)

Auch hier, wo der Akt der Grenzüberschreitung sehr bewusst stattfindet und der Grenzübergang deutlich sichtbar ist, bleibt das Aufspüren einer für die Protagonistin wirklich signifikanten, im Raum sichtbaren Trennlinie trotz ihrer

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Suche danach unmöglich. Vielmehr stehen Wachtürme, Soldaten und Hunde gleichermaßen vereinzelt in einer unscheinbaren, leblosen Landschaft. Auch in solchen Situationen, in denen es nicht um drastische Fluchterfahrungen geht, werden Grenzen als etwas beschrieben, das erst durch externe Zeichen sichtbar gemacht wird, d. h. durch Schutzmaßnahmen oder Symbole der Abgrenzung. Dazu kommt, und das deutet sich bereits in der oben zitierten Beschreibung von Grenzanlagen bei Nadj Abonji an, dass es sich um zufällige, künstliche, oft eigentlich unpassende Monumente handelt. Bei Dinev heißt es dazu beinahe zynisch: „Neue Papiere konnte man erschaffen, neues Geld, neue Gesetze und Pflichten und Regelungen, neue Grenzen und Einreisebestimmungen, […] neue Länder, neue Ideale, neue Nationen, sogar neue Bedürfnisse, aber keine neuen Menschen“ (DD, S. 534). Bodrozˇic´ lässt ihre Protagonistin explizit auf die Ungerechtigkeit von Grenzen eingehen: „Allein das Durchsuchen des Koffers vermittelte ihr das Gefühl, etwas Unrechtes getan zu haben. Das Unrechte war doch aber die Grenze selbst, die beißwilligen Hunde, die strengen Uniformen, dachte sie“ (MB, S. 28).

V.

Das Paradox der Grenze, seine Gestaltung und Implikationen

Übereinstimmend lassen sich die hier analysierten Grenzentwürfe dahingehend beschreiben, dass Grenzen oder Grenzräume einerseits als mächtige, politisch gewollte und verstärkte Barrieren für Menschen und Ideen beschrieben werden, insbesondere mit Blick auf einen Eisernen Vorhang, der ‚Ost‘ und ‚West‘ auch als ideologische Konzepte trennt. Eben diese als politische Symbole und Institutionen mit großer Bedeutung aufgeladenen Grenzen erscheinen in den Texten jedoch dann, wenn Figuren tatsächlich auf sie treffen, als im Grunde zufällige Trennlinien. Sie werden überhaupt erst real gemacht durch diejenigen, die sie im Sinne des Grenzschutzes herstellen und aufrechterhalten, ebenso aber auch durch diejenigen, die sie überqueren. In beiden Fällen sind es Handlungen und Vorstellungen, die Grenzräume entstehen lassen und determinieren. In den beschriebenen Begegnungen mit Grenzräumen wird damit der Widerspruch deutlich sichtbar, den ich eingangs als ‚Paradox der Grenze‘ bezeichnet habe: Die nicht zu übersehende große Bedeutung, die Grenzen, ihrer Verteidigung beziehungsweise ihrer Überwindung von den Figuren beigemessen wird und die sie als Räume sozialen Handelns bestimmt, findet sich oft nicht in der landschaftlichen Kulisse wieder, vor der Grenzräume konstruiert werden. Grenzlandschaften bilden dann lediglich den Hintergrund für eine sozial erfolgende ideelle Aufladung. Dem wirkungsmächtigen Konstrukt Grenze fehlt sowohl physische Substanz als auch – das zumindest impliziert die Auseinander-

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setzung mit ihr in den Romanen – eine überzeitliche moralisch-ethische Legitimierung. Die Beobachtung des Konstruktcharakters von Grenzräumen ist in der Forschungsliteratur selbstverständlich nicht neu. Klaus Müller-Richter und Ramona Uritescu-Lombard etwa beschreiben in ihrem bereits 2007 erschienenen, speziell auf Raumfragen in Migrationskontexten fokussierten Band „Imaginäre Topografien“ Grenzen nicht nur als Konstrukte, sondern heben dabei auch die unterschiedlichen Intentionen hervor, die hinter der Erhaltung solcher Konstrukte stehen können: „A border is not a natural given. Rather it is a spatial expression of a politically and economically inflected system of triage that reinforces itself by determining who can pass and who cannot“.19 Sie verdeutlichen daneben die Bedeutung von Akten der Imagination bei allen Beteiligten: „crossing, transgressing, or creating a border – these are first and foremost imaginative acts“.20 Auch für die Literaturwissenschaft sind border effects, bei denen Grenzen als soziale Konstrukte ein komplexes Eigenleben entwickeln können, bekannte Phänomene.21 Interessant ist aber doch die Art und Weise, wie damit und mit den komplexen Zusammenhängen hinter solchen Beobachtungen in den von mir untersuchten literarischen Migrationstexten umgegangen wird: Das Konstrukt Grenze wird nicht nur in zahlreichen Einzelszenarien als solches dargestellt, sondern zugleich kritisch hinterfragt. Diese Dekonstruktion von Grenzen besteht jedoch nicht etwa in einer Anzweiflung der Relevanz der beteiligten Mechanismen oder gar ihrer Existenz selbst. Im Gegenteil wird immer wieder deutlich, welch große Bedeutung beides für die betroffenen fest verorteten bzw. migrierenden Figuren hat. Infrage gestellt werden vielmehr ihre Rechtfertigung und ihr Anspruch auf Normalität. Im Zuge der Sichtbarmachung des Konstruktcharakters von Staatsgrenzen werden deren Funktionen und Auswirkungen immer wieder implizit, vereinzelt auch explizit, kritisiert, und zwar sowohl aus Figuren- als auch aus Erzählerperspektive. Dabei werden Grenzen in den Texten gerade nicht als bedeutungslos verworfen, sondern vielmehr in ihren vielfältigen sozialen Wirkungszusammenhängen ausgeleuchtet und problematisiert.

19 Müller-Richter, Klaus/Uritescu-Lombard, Ramona: Preface. In: Imaginäre Topografien. Migration und Verortung. Hrsg. von Klaus Müller-Richter und Ramona Uritescu-Lombard. Bielefeld: Transcript 2007, S. 8. 20 Ebd. 21 Vgl. etwa Wolfe, Stephen E./Rosello, Mireille: Introduction. In: Border Aesthetics. Concepts and intersections. Hrsg. von Johan Schimanski/Stephen E. Wolfe. New York/Oxford: Berghahn 2017, S. 2.

Brian Haman (Bukarest / Bucharest)

Between Exile and Homeland. Kazakhstan as the Third Space in Herold Belger’s “Das Haus des Heimatlosen” (2003)

Im folgenden Beitrag wird Kasachstan in Bezug auf Herold Belgers Roman „Das Haus des Heimatlosen“ („Дом скитальца“) von 2009 als kultureller und sprachlicher Dritter Raum interpretiert. Belger (1934–2015) wurde in Engels (Die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen) geboren und war einer von 1,2 Millionen ethnischen Deutschen, die unter dem Regime Stalins nach Kasachstan deportiert wurden. Trotz seiner frühen Erfahrungen mit körperlicher und kultureller Verschiebung gilt er als einer der berühmtesten Autoren Kasachstans (Deutsch, Russisch und Kasachisch), und sein beachtenswertes Werk offenbart lebenslange Erkundungen der kulturellen Hybridität und der transnationalen Identität. Trotz seiner zahlreichen Ehrungen (z. B. Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland) ist Belger in den heutigen Wissenschafts- und Literaturkreisen so gut wie unbekannt. Basierend auf seiner Deportation in seiner Kindheit erforscht Belgers Roman die Komplexität sprachlicher, geographischer und kultureller Zwischenräume und damit einhergehender Vorstellungen von Teilidentitäten und pluralistischem Selbst. Ist seine Fiktion ein Modell, um den postkolonialen Kampf um ethnische, kulturelle und politische Autonomie für interkulturelle Begegnungen zu überwinden? In diesem Kapitel wird untersucht, inwieweit Belgers Ablehnung der Disjunktivität der Moderne die Sprache und nationalen Grenzen dekonstruiert und ob solche transgressiven ‚Grenzübergänge‘ kulturell eingebettete Taxonomien der Differenzierung destabilisieren. This contribution proposes that Kazakhstan functions as a cultural and linguistic third space in Herold Belger’s 2009 novel “Das Haus des Heimatlosen” (“Дом скитальца”). Born in Engels (Volga German Autonomous Soviet Socialist Republic), Belger (1934–2015) was one of 1.2 million ethnic Germans deported to Kazakhstan under Stalin’s regime. Despite his early experiences of physical and cultural dislocation, he ranks as one of Kazakhstan’s most celebrated authors and his considerable oeuvre reveals lifelong explorations of cultural hybridity and transnational identity. Despite his many honours (e. g. Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland, 2010), Belger remains virtually unknown in today’s scholarly and literary circles. Based on his childhood deportation, Belger’s novel explores the complexities of linguistic, geographic, and cultural interstices and attendant notions of partial identities and pluralistic selves. Does his fiction provide a model for moving beyond the postcolonial struggle for ethnic, cultural, and political autonomy in favour of intercultural encounters? The contribution considers the extent to which Belger’s repudiation of modernity’s disjunctiveness deconstructs language and national boundaries and whether such transgressive ‘border crossings’ destabilize culturally embedded taxonomies of differentiation.

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In a 2013 interview with Kazakhstan’s “Deutsche Allgemeine Zeitung” just sixteen months before his death, Herold Belger (1934–2015) was asked about his unique tricultural background. A self-designated Zögling of each, he described himself in the following manner: “Die Verflechtung dreier Kulturen stellt meinen größten Reichtum im Leben dar. Ich sage allen: Ich trage drei Säcke auf dem Rücken mit mir herum – einen russischen, einen kasachischen und einen deutschen. Wenn du einen davon wegnimmst, wird mich das innerlich verarmen lassen. Was mich für andere vielleicht interessant macht, ist wohl in erster Linie, dass ich als ethnischer Deutscher im kasachischen Umfeld aufgewachsen bin, dass ich Kasachisch beherrsche und auch schreiben kann. Wenn man davon etwas entfernt aus der Persönlichkeit, dann werde ich nur noch ein mittelmäßiger Deutschstämmiger sein, der Russisch sprechen und schreiben kann. Jede dieser Kulturen bedeutet sehr viel für mich. Ich bin in einer deutschen Kultur geboren, großgeworden in der kasachischen, die letzte Kultur jedoch war die russische.”1

Belger, as his interview indicates, was not initially Kazakh by any geographical measure, but rather came to inhabit and indeed embody three distinct cultures as an ethnic German Kazakh writer within the former Soviet Union. His first language was German, and only later did he acquire Kazakh and Russian. Born in 1934 in Engels, the capital city of the former Volga German Autonomous Soviet Socialist Republic (1918–1941), Belger and his family were amongst the approximately 1.4 million ethnic German victims of Stalin’s 1941 mass deportations to Central Asia and Siberia following Nazi Germany’s invasion of the Soviet Union during the Second World War.2 Whilst he is widely regarded by Kazakhs today as one of their country’s most important writers, it is quite remarkable that for the first seven years of his life he had no knowledge of the country, its language, its people, and its customs. Moreover, readers beyond Kazakhstan’s borders rarely encounter his work. Although his early efforts focused on translation (Russian, German, and Kazakh), he was primarily a writer, literary critic, and chronicler of Russian-German literature. His substantial body of work, which includes dozens of books along with hundreds of translations, newspaper and journal articles, marks him as a highly prolific Kazakh writer, one who has also received numerous prestigious honours, including the Order of Merit of the Federal Republic of Germany (2010) and Kazakhstan’s Order of Parast (1994). Following Kazakhstan’s independence in 1991, he became an outspoken advocate for minority rights and the restoration of the Volga Republic, was as a

1 Klimenko, Olessja: Aufgewachsen in drei Kulturen. (accessed on 25. 07. 2017). 2 Münz, Rainer: Ethnic Germans in Central and Eastern Europe and Their Return to Germany. In: Diasporas and Ethnic Migrants. Ed. by Rainer Münz/Rainer Ohliger. London: Frank Cass 2003, p. 242–252, here p. 243.

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founding member of PEN Kazakhstan, and even served a brief stint in the Kazakh parliament (1994–1995). In his fiction and literary criticism, Belger relentlessly examined the psychological scars stemming from punitive displacement and exile and his work offers insights into the many complexities of linguistic, geographic, and cultural interstices that resulted from his exilic condition. Recent scholarship on contemporary exophonic writing in German has expanded our understanding of the many issues and concerns related to hybridity, liminality, and interculturality within postcolonial borderland spaces.3 The end of the Cold War and subsequent dissolution (or re-mapping) of fixed national borders in post-Wende Germany and post-communist Europe has facilitated an exchange of people and ideas across Europe, and consequently a number of scholars have argued for the notion of an ‘Eastern European turn’ in contemporary German-language literature.4 The phrase itself refers to non-German writers from Eastern Europe who have emigrated to German-speaking countries (and necessarily write in German) as well as the turn towards Eastern Europe by German, Austrian, and Swiss writers. Often overlooked, however, are scores of ethnic German authors (Herta Müller excluded) from former Soviet and Eastern Bloc countries, so many of whom wrote German-language novels, poems, short stories, plays, and essays. The emphasis here on ‘Russian-German’ writers refers to ‘Russlanddeutsche’ and ‘Deutsche aus Russland’ and the body of work that comprises ‘sowjetdeutsche Minderheitenliteratur’, and it is to this category of writers that Herold Belger belongs, one that remains largely overlooked by scholars. In this chapter I consider two works in particular by Belger, his 2002 essay “Aul” and 2003 novel “Das Haus des Heimatlosen”, and suggest that his enunciation of diversity and differences at the margins of Soviet life gestures towards a relational and fluid conception of cultural identity, one that eschews dogmatic nationalism. Moreover, I argue that Belger’s repudiation of modernity’s disjunctiveness deconstructs language and national boundaries and that such transgressive ‘border crossings’ destabilize culturally embedded taxonomies of differentiation. Homi Bhabha’s notions of third space and unhomeliness are employed in order to determine the extent to which Belger inhabited, in Bhabha’s formulation, a space “inbetween the designations of identity” and the manner in which his writing “open[s] 3 See for example Exophonie Anderssprachigkeit (in) der Literatur. Ed. by Susan Arndt/Dirk Naguschewski/Robert Stockhammer. Berlin: Kadmos 2007; Wright, Chantal: Writing in the ‘Grey Zone’. Exophonic Literature in Contemporary Germany. In: German as a Foreign Language 3, 2008, p. 26–46; Kulturkontakte. Szenen und Modelle in deutsch-japanischen Kontexten. Ed. by Yuichi Kimura/Thomas Pekar. Bielefeld: transcript 2015. 4 Haines, Brigid: The Eastern European Turn in Contemporary German-Language Literature. In: German Life and Letters 68, 2015, p. 145–153. See also Wanner, Adrian: Out of Russia. Fictions of a New Translingual Diaspora. Evanston, Illinois: Northwestern University Press 2011.

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up the possibility of a cultural hybridity that entertains difference without an assumed or imposed hierarchy”.5 Therefore, by focusing on Belger’s literary output on the periphery of Eastern Europe, this chapter aims to broaden the accepted understanding of the aforementioned ‘turn’ to include 20th century ethnic Germans who were active in formerly communist European countries. Despite the significant geographic and linguistic distances between Kazakhstan and Germany, the two countries share considerable historical and cultural ties, ones rooted in 18th century German migration to Russia. Much like today’s migrants from Syria, Iraq, North Africa, and elsewhere, 18th century Germans fled from chronic political instability and military conflicts in search of economic opportunities and religious freedom. With the still-visible scars of the Thirty Years’ War (1618–1648) and intra-religious infighting between Catholic Austria and Protestant Prussia along with the lingering traumas of the Seven Year’s War (1756–1763), waves of German families from Baden, Württemberg, the Palatinate, West Prussia, and Danzig emigrated to the Volga River region over the course of the next one hundred and fifty years.6 During the 1930s, however, their fortunes changed dramatically, with purges in 1937 and 1938 resulting in the arrest of approximately 38,000 Russian-Germans and eventual execution of some 29,000 of them.7 German national districts, schools, and publications were eliminated; nationality laws changed so that legal nationality became based solely on biological descent rather than on ethnicity or self-identification; mass deportations in the 1940s resulted in approximately 856,168 Russian-Germans being sent to collective farms and forced labour camps in Kazakhstan and Siberia; and virtually the entire Russian-German population of the European areas of the USSR in 1939 ended up as special settlers east of the Urals by 1946.8 After 1941 Russian-Germans were immersed almost exclusively in a Russian-language environment and legally the Soviet government considered them to be Germans by nationality. And whilst conditions improved incrementally for ethnic Germans following years of Stalinist repression, over one million Russian-Germans would eventually emigrate to Germany from countries such as Kazakhstan when the 5 Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London: Routledge 1994, p. 5. This volume will henceforth be referred to as LoC. 6 On the migration patterns of Russian-Germans, see, for example, Die Deutschen in der Sowjetunion. Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert. Ed. by Ingeborg Fleischhauer/Benjamin Pinkus. Baden-Baden: Nomos 1987; Brantsch, Ingmar: Das Leben der Rußlanddeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg im Spiegel ihres Schrifttums. War der weite Weg umsonst? Vienna: Österreichische Landsmannschaft 1999; Eisfeld, Alfred: Die Aussiedlung der Deutschen aus der Wolgarepublik 1941–1957. Munich: Osteuropa-Institut 2003.; Pohl, J. Otto: Volk auf dem Weg. Transnational Migration of the Russian-Germans from 1763 to the Present Day. In: Studies in Ethnicity and Nationalism 9, 2009, no. 2, p. 267–286. 7 Pohl, Volk auf dem Weg. 2009, p. 274. 8 Ibid., p. 274f.

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chance arose following the collapse of the Soviet Union in 1991. Unlike many of their Kazakh compatriots, however, Belger and his wife remained in Kazakhstan. All of this, then, serves as an abbreviated historical backdrop for Belger’s fiction. Of the two works under consideration, we shall begin with Belger’s essay on the Kazakh aul. Both a physical space and an abstract and even emotional idea(l), the word aul is typically translated into English as ‘village’, but its earliest meaning referred to a nomadic gathering. Only later did it signify a more or less permanent settlement of houses united by a collective economy. In his essay on the subject, Belger describes its history and organizational structure, but laments the aul’s physical diminishment and gradual disappearance within increasingly urban-oriented contemporary Kazakh society. Reflecting on his experiences of displacement as a six-year old exilic child, he recalls the novel foreignness of encountering his first Kazakh word, one that would eventually displace his initial understanding and associations of the word for home. In what Bhabha might characterize as the liminality of the migrant experience, Belger recalls his first impressions: “It was quiet. It was deserted. It was expansive. There were no people. This was an unknown and hitherto unseen world. Both huge and incomprehensible. ‘Aul’ said our wagon driver […] ‘Kasachisch Dorf,’ my father translated. Aul: my first Kazakh word would echo in my soul”.9 Displeased with dictionary definitions of an aul as a village, grouping of nomadic tents, or a settlement in the Caucasus or Central Asia, Belger offers instead an incantatory meditation in which the specificity of place underscores the articulation of identity: “And yet…and aul is not simply a collection of houses or yurt tents. It is not simply a small or large settlement. It is primarily people, united by a place of residence, who are of a kindred spirit, like mentality, way of life, morals and behaviours, who live in close, continuous contact with one another, bonded through labour and hard graft, who have a propensity for one another, who share the same or similar morals, culture, community, and social circle, who pursue the same or similar aims, strivings, Weltanschauung and spiritual order. An aul is a kind of world in itself. With its own infrastructure. An economic, social, psychological, and ethno-cultural infrastructure. It is a community with a complex root structure. […] The aul is home. The aul is a big family. The aul is your own kin on one land, under a single sky. The aul is your conscience, your love, your cares, your pride, your green landing stage and your comfort and joy. The aul is the rudiments of motherland.” (SW, p. 11)

With his emphasis “on the complex of values, customs, beliefs and practices which constitute the way of life of a specific group”, Belger’s description echoes

9 Belger, Herold: Selected Works. Trans. by Simon Hollingsworth. Almaty: Kazakh PEN Club 2016, p. 7. This volume will henceforth be referred to as SW.

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Terry Eagleton’s oft-cited notion of culture.10 More importantly, perhaps, his essay is a poignant reminder that individual and collective identities are forged in physical spaces, often at the interstices of histories and cultures. Moreover, Belger’s act of enunciation expands the notion of the aul from a fixed modality to a fluid and liminal space. In his “The Location of Culture”, Homi Bhabha employs the conceptual vocabulary of hybridity, mimicry, ambivalence, and the third space in his theory of cultural difference. For Bhabha indeterminate, liminal spaces offer possible sites for disrupting and indeed displacing deeply embedded colonial narratives as well as their practices and structures. In its most basic form, Bhabha’s theory argues that identity is realized through the act of articulation or enunciation, which takes place in language. More precisely, Bhabha writes: “The production of meaning requires that these two places be mobilized in a passage through a Third Space, which represents both the general conditions of language and the specific implication of the utterance in a performative and institutional strategy of which it cannot ‘in itself ’ be conscious” (LoC, p. 53). In other words, the locus in which this act of linguistic negotiation and translation takes place is understood as a third space, one that is interpretative and interrogative and thereby capable of blurring existing boundaries as well as calling into question established categories of culture and identity. He continues: “For a willingness to descend into that alien territory – where I have led you – may reveal that the theoretical recognition of the split-space of enunciation may open the way to conceptualizing an international culture, based not on the exoticism of multiculturalism or the diversity of cultures, but on the inscription and articulation of culture’s hybridity. To that end we should remember that it is the ‘inter’ – the cutting edge of translation and negotiation, the in-between space – that carries the burden of the meaning of culture.” (LoC, p. 56)

Belger’s status as a transnational writer calls attention to the fact that literature and indeed culture exist as hybrid forms in a state of flux, and it is as an international culture that a hybrid third space makes possible an ambivalent site where cultural representations and meanings lack fixity. In his earlier essay, “The World and the Home”, Bhabha uses Freud’s concept of the uncanny to describe a characteristically (post)modern sense of ‘unhomeliness’ in the world. Here the displacement occasioned by a condition of ‘unhomeliness’ presents a rupture in which borders become blurred: “In that displacement the border between home and world becomes confused; and, uncannily, the private and the public become part of each other, forcing upon us a vision that is as divided as it is disorienting”.11 Nevertheless, despite the disorienting effects of this rupture in which 10 Eagleton, Terry: The Idea of Culture. Malden, MA/Oxford: Wiley-Blackwell 2000, p. 34. 11 Bhabha, Homi K.: The World and the Home. In: Social Text 31/32, 1992, p. 141–153, here p. 141.

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certainties are called into question, “another world becomes visible” (ibid.), one in which ambivalences and ambiguities offer possibilities for the creation of new meanings beyond essentialist notions of cultures and, by extension, cultural identities. In this ‘in-between’ space, identities are formed, reformed, and constantly in a state of becoming. When considering his newfound childhood home, Belger himself writes of this very process, one characterized by the layering, shifting, and, at times, shedding of identities: “It became a part of me; I knew every home, every resident, every last shrub in the district, every path in the Terensai gorge and thicket of the riverside woodland, every boulder in the Tas-otkel ford. The aul became mine and I was accepted as a part of the aul. All my disparate childhood impressions of the Volga, about the playground at the Engels summer school, about my parents’ village of Mannheim, about the canton centre of Gnadenflur, from where, in early September of those troubled years we were sent away in accordance with that sinister and scandalous Decree of 28 August 1941, from where we faded away, blending into the distance, into the irretrievable and, so we fancied at times, unreal world, while the Kazakh aul seemed to be the real beginning of my life, the starting line for a grand run, as I dreamed it.” (SW, p. 17)

Is this not what Bhabha means when he describes extra-territorial and crosscultural initiation? As he (Bhabha) argues: “The recesses of the domestic space become sites for history’s most intricate invasions. In that displacement, the borders between home and world become confused; and, uncannily, the private and the public become part of each other, forcing upon us a vision that is as divided as it is disorientating” (LoC, p. 13). Belger here experiences the disorientating unreality of both past and present, with his earlier and characteristically German milieu transforming into a hazy snapshot of life lived elsewhere, whilst his present circumstances in the aul assume an equally dream-like patina. Despite his internalization of both temporal and geographic spaces, Belger’s divided consciousness conceptualizes the aul as a borderland space “in-between the usual designations of identity”, a place that “open[s] up the possibility of a cultural hybridity”, which stands in stark contrast to Soviet nationalist discourses with their essentialist politics of inclusion and exclusion (LoC, p. 5). Significantly, this pre-national and pre-modern space enables (and seems to encourage) the integration of multinational and multi-ethnic communities simultaneously within and beyond circumscribed national borders. In this respect, the aul should be understood as an intermediary space in which home for Belger was embodied perhaps less as a geographical fixity and more as a fluid process of endlessly constructing, deconstructing, and re-constructing the self within these borderland communities. If Belger’s recollections of his early days in a Kazakh aul allow him to reconstruct a remembered past, then his fictional worlds in his novel “Das Haus des

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Heimatlosen” offer the possibility to re-write the self. The allusion here, of course, is to Franz Fanon’s bold assertion of the individual’s agency in shaping its identity despite the weight of past traumas. As Fanon famously wrote: “In the world through which I travel, I am endlessly creating myself”.12 By combining autobiography with fiction, “Das Haus des Heimatlosen” exists as a work of autofiction, one in which Belger attempts to plumb the murky depths of memory in order to understand the emotional implications of displacement and exile. The basic plotline involves an account of an ethnic German family’s traumatic forced exile from the Volga River region to the Kazakh steppe, and their subsequent intergenerational attempts to assimilate into Soviet-sanctioned Kazakh culture. Structurally, the novel is comprised of three parts, each centred on the experiences of one person in particular (although the three narratives overlap thematically and chronologically). Each part carries the name of its central protagonist: the first part, which corresponds to the experiences of Belger’s father, is entitled “David”; the second part draws upon the violence visited upon Belger’s uncle and bears the title “Christian”; and the final part or “Harry” recounts Belger’s own experiences growing up in a Kazakh aul and concludes on the cusp of his entry into university. Given the novel’s relative obscurity for most readers outside of Kazakhstan, a brief plot summary will offer an interpretive terra firma of sorts upon which to engage with specific passages, ones that are illustrative of the liminality of the migrant experience and point to the extent to which the notion of a third space can and often does disrupt homogeneous notions of national identity. The first third of the novel concerns David’s exile to a distant Kazakh aul. Married to a Russian woman whom he is forced to leave behind, he is made to perform his duties as an obstetrician within a rather large area encompassing a number of disparate auls. His encounters with local Kazakhs, the communication and inevitable miscommunication that results from mixing German, Russian, and Kazakh along with the otherness of the respective cultures, initially reflect vast and seemingly insurmountable cultural and linguistic differences. Additionally, he must simultaneously balance the demands of an oppressive state power whilst navigating these differences, and in this way, David embodies the migrant act of survival amidst conditions of cultural displacement and social discrimination. As the novel transitions from the first to the second part, the reader is introduced to Christian, David’s younger brother, who as a member of the ‘Trudarmee’ or Labour Army has barely survived its extreme trauma. It was customary to fill the ranks of the Trudarmee with men from entire German colonies, all of whom were forced to work in labour camps following their de12 Fanon, Frantz: Black Skin, White Masks. Trans. by Richard Philcox. New York: Grove 2008, p. 204.

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portation to various settlements in the Siberian taiga. Although possessing a rich body of ethnic German history and culture, particularly German songs, Christian’s physical and spiritual emaciation and eventual silencing and death come to symbolize the traumas of dislocation and the interrupted transmission of ethnic and national traditions as a result of those traumas. Amidst the backdrop of such bleak conditions, the final third of the novel, which focuses on Harry’s childhood and teenage years, offers a possible path for moving beyond the violence of the past. Belger transmutes his own lived experiences by re-writing them into the fictional lives of his characters and thereby uses fiction as a way of reconstructing the self. Among other things, he (Belger) highlights the discrepancy between young Harry’s acceptance within the Kazakh aul and the overt, state-sanctioned institutional discrimination that he faces due to his ethnicity within the larger framework of Soviet bureaucracy and society. Free from the hierarchical cultural differences of Soviet society, the aul functions within the novel as a third space that offers various opportunities for cultural hybridity. For David the aul becomes instrumental for negotiating his German identity against the backdrop of two competing foreign cultures; for Christian the aul proves merely incidental to his identity and ultimately a liminal place between life and death, the transmission of culture and its eventual cessation; and for young Harry the aul is neither incidental nor accidental, but rather essential, a heterogeneous arcadia against the backdrop of an exclusionary Soviet metropolis. In the opening chapter of the novel, which highlights the forcibly displaced migrant’s act of survival, David struggles to orientate himself amidst his condition of exile. Here Belger underscores the ongoing reciprocal process of interdependence and differentiation between David’s ethnic German identity and the Kazakh ‘other’ of the aul by juxtaposing the two. Despite the interjection “Schöner Aul […] Gibt kein besserer” by his Kazakh companion, the aul appears wild, impoverished, and even primitive when seen through David’s eyes: “Ärmliche graue Häuschen bildeten zwei Reihen. Sämtliche Dächer waren mit Grassoden bedeckt. Über die Grasschicht hinaus wuchsen Wermut und Disteln. In der Abenddämmerung wirkte die Straße ungeheuer breit. Jedes Haus hatte einen Schuppenanbau, der oben in einem runden, kuppelförmigen Aufsatz aus Weidengerten endete. In der Aulmitte zog sich eine Baumkette hin. Gleich hinter den Bäumen erhob sich ein großes Holzhaus mit Blechdach. Die Schule, ahnte der Wanderer. Der Aul lag in einer Senke. Zwei, drei Kilometer entfernt schimmerte dunkel der Auenwald. Den Hügel hinter dem Aul herunter kam eine Herde: Kühe, Schafe, Ziegen.”13

Invariably, memories of village life back home encourage a celebratory romance or nostalgia for the past in which fossilized memories reinforce boundaries rather 13 Belger, Herold: Das Haus des Heimatlosen. Trans. by Kristiane Lichtenfeld. Berlin: Schiler 2014, p. 16. This volume will henceforth be referred to as HdH.

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than create the possibilities for bridging the divide between exile and homeland. As the narrator describes: “Der Wanderer lächelte schief. Er dachte an sein Heimatdorf Mannheim, an die gediegenen Häuser, die hohen Umzäunungen, die gestrichenen Tore, an die nirgends fehlende Sommerküche – das Backhaus. Und hinter Haus und Backhaus befanden sich beinahe bei allen Dorfbewohnern diverse Anbauten – Getreidespeicher, Geflügelstall, Pferdestall, ein Viehhof für Kühe, Jungbullen, Kälber, für Schafe und Ziegen, ein Schuppen für Kamele. Und hinter diesen stattlichen und gepflegten Bauten erstreckte sich der Garten. So war es im Dorf Mannheim auf der Wiesenseite, und das war längst nicht das wohlhabendste. Hier hingegen…” (HdH, p. 16f.)

Estrangement and alienation rather than openness pervade David’s language, which enunciates with great specificity what has been lost, but glosses over what stands before him because he lacks the cultural vocabulary to articulate the particulars of his present circumstances. As the chapter closes, his companion ushers him inside for tea and sleep – tomorrow is, of course, another day: “Los, Perschil, in Haus. Wir Tee trinken und schlafen. Du müde, ich müde. Morgen, wenn Allah will, ist neuer Tag” (HdH, p. 17). And, indeed, David spends many days and many nights in the aul acculturating to its rhythms and routines. Fittingly, the last chapter of the first part of the novel concludes with David Pawlowitsch (no longer bearing the metonymic appellation ‘Der Wanderer’) on the verge of sleep once again: “Er schloss die Augen und sah sogleich Schneehügel vor sich, dazwischen den sich endlos windenden winterlichen Weg, er sah den Alten, sein Bärtchen mit den Eiszapfen darin, sah die vom Frost gefesselte Steinfurt, sah die harten Schneebröckchen unter den Hufen des Passgängers hervorstieben, und wieder Schneewehen, Schneewehen und die grenzenlose stumme Steppe. Nun ja, sagte er sich im Einschlafen, da ist also ein weiterer Tag in meinem Leben vergangen, ein langer, langer Wintertag….” (HdH, p. 115)

He has learned to approach the aul on its own terms and this internalization of Kazakh life and landscape serves to initiate the process of resettling the self within this borderland space. Whereas the aul gradually comes to represent a third space for David, it offers only a state of unhomeliness for his brother Christian, who has endured but cannot survive the terrors of state-sanctioned discrimination and violence. In “The Location of Culture” Bhabha employs Freud’s concept of unheimlich in order to examine the unhomely condition of the modern world in which there is a creeping recognition that the line between public and private as well as world and home disintegrates. When Christian first returns to his brother he uses the word “Dochodjaga” or “Muselmann” (i. e. those starving and resigned to death in the Nazi concentration camps) to refer to himself, but the narrator reveals a certain optimism of the will amidst the overwhelming pessimism of Christian’s intellect:

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“Christian lächelte in sich hinein bei dem tröstenden Gedanken, dass er ja jetzt in einem gottverlassenen kasachischen Aul unter der Obhut seines großen Bruders weilte und dass ein winziger Strahl Leben in seiner geschundenen Seele noch nicht erloschen war” (HdH, p. 164f.). As Bhabha puts it, “The incalculable colonized subject – half acquiescent, half oppositional, always untrustworthy – produces an unresolvable problem of cultural difference for the very address of colonial cultural authority” (LoC, p. 49). Attempts to reclaim his ethnic German cultural traditions and repressed history soon follow: David and Christian sing folksongs; they speak in dialect; they discuss their family histories; and they draw maps of the Volga River region, essentially trying to re-map their German identities onto their alienated psyches. However, whereas David has internalized, at least to a certain extent, aspects of Kazakh life in the aul, Christian’s unhomeliness reinforces a nagging sense of estrangement as well as the irrevocable erasure of his cultural identity: “Jawohl, die Sehnsucht nach der Heimat, dem Vaterhaus, die Unmöglichkeit, eine Heimat zu haben, das erzwungene Umherziehen durch die weite Welt, die Verlorenheit, das unauslöschliche Heimweh, das einsame Schicksal des ewigen Wanderers, das tragische Empfinden, kein Zuhause zu haben – dies ist das verbreitetste, das herzzerreißende Motiv deutscher Lieder. Der Deutsche zieht durch die Welt, sucht überall Wurzeln zu schlagen, er schafft sich eine Basis, richtet sich ein, baut ein Haus, trotzdem ist dies nicht seine Erde, bleibt er ein Fremdling, ein nicht Aufgenommener, ein Reisender, und sein Haus, wo immer es steht, ist das Haus des Heimatlosen, welches man ihm fatalerweise unbedingt wegzunehmen versucht […].” (HdH, p. 231)

In another passage, Christian laments: “Ja, die Erinnerung…Was sonst ist uns, die wir über die Welt verstreut sind, geblieben? Wir haben keine Heimat, kein Haus. Nur die Erinnerung. Den wichtigsten Schatz des Heimtalosen. Des freiwillig oder des unfreiwillig Heimatlosen, ganz gleich. Unser Zuhause ist die Erinnerung. Unser Haus ist demnach die Hauslosigkeit. […] Solange in dir die Erinnerung brennt, bist du am Leben. Wo immer du weilst. Wo immer du dir ein Haus baust. Die Erinnerung ist unsre Hoffnung. […] Darin offenbar besteht unsere einzige Rettung.” (HdH, p. 234)

But the trauma is too great. The bridge cannot be crossed. The language of the prison camp supersedes the language of home. And the estranging syntax creates an unbridgeable distance between personal agency and the events of his past. “Schneesturm. Frost. Das Knarren der Zweige unterm kalten, tiefhängenden Himmel. Das Kreischen der Säge. Das Ächzen der sterbenden Kiefer, die unwillig in die tiefen Schneewehen stürzt und alles ringsum mit ihrem Todesdonner betäubt. Die schweigenden Schatten am Lagerfeuer. Die muffige Baracke. Der spitzig gesträubte Stacheldraht. Die Wachttürme. Die höhnischen Witzeleien. Das heisere Geschimpf am glühenden Kanonenofen. Das Gewälze auf den knarrenden Pritschen. Das Gebell der Schäferhunde. Das Zählen auf dem Appellplatz…” (HdH, p. 165)

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His memories of the labour camps have irrevocably scarred his personal, psychic landscape, and here Belger approaches the issue of home and displacement in an attempt to make literature the site on which the unhomely is enacted. Within this borderland space, the aul can also function as a site of human dislocation. Capturing the condition of estrangement glimpsed from the recognition of the world as an unhallowed place, Christian repeats the words “mir ist so kalt” before drawing his last breath. Through Christian’s fixity and, to a certain extent, his fetishism of a type of ethnic German identity, Belger seems to sound a note of warning against what Bhabha described as “the celebratory romance of the past” (LoC, p. 13). In many ways, his experiences speak to the impossibility for some of coming to terms with the traumas of exile. Perhaps more so than the previous two parts, the third and final part of the novel explores the complexities of pluralistic selves along with the possibilities for constructing identity through language. All three characters (David, Christian, and now Harry) seem to inhabit borderland spaces in which cultural hybridity and (to use Kristeva’s striking expression) a wounded cosmopolitanism permeates their lives. However, with his focus on the teenage Harry, Belger offers a model for moving beyond the postcolonial struggle for ethnic, cultural, and political autonomy in favour of interculturality. Unlike Christian, who clings to maintains a stultifying nostalgia for a lost past, young Harry must confront a pervasive feeling of anxiety about an uncertain future home. Repeating the line “Nichts Vergangenes, was das Herz noch reut…”, Harry begins to reflect on his past and the narrator offers a window into his thoughts: “Was hatte er, Harry, schon für ‘Verganenes’? Was konnte er bereuen? Seine Vergangenheit erschien ihm freudlos, leer, gewebt aus Kränkungen, Erniedrigungen, Entbehrungen und Bedrängnissen. Tatsächlich, was hatte es in seiner Vergangenheit gegeben? Bruchstücke kindlicher Erinnerungen, vage wie der Nebel über dem Ischim zur Frühlingszeit, irgendwelche Streiche, Vergnügungen mit der Kinderkorona im fernen deutschen Dorf an der Wolga, […] ‘Nichts Vergangenes, was das Herz noch reut…’ Diese Zeile sagte alles. Was kam danach? Umherirren, Hunger, Erniedrigung, ein fremdes Land, eine andere Sprache, andere Sitten. Keine Behausung, keinerlei Rückhalt, alles nur provisorisch und ungewiss, Not ohne Ende, Niedergeschlagenheit, Verunsicherung.” (HdH, p. 273f.)

Here Belger offers a striking contrast between Christian’s ossified notion of ethnic German identity, one that is simultaneously utopian and ephemeral, and Harry’s unsentimental pragmatism, which acknowledges the inherent potential for the traumas of the past to act as a catalyst for the future re-shaping of the self within this new context. However, Harry’s formative experiences within the labyrinthine Soviet bureaucracy, which reflect Belger’s own experiences, continue to mark him as an ‘other’. Despite his deportation, he has attended Kazakh schools, acquired both

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Russian and Kazakh, and his use of the latter is virtually indistinguishable from the ethnic Kazakhs whom he encounters. Outwardly and inwardly he appears in the eyes of his Kazakh peers to be one of them. And yet, as Bhabha reminds us, “Hegemony requires iteration and alterity to be effective” (LoC, p. 43). Despite excelling academically, he is passed over for an academic prize by his Kazakh teachers merely because of his status as an ethnic German. However, he is not without his supporters, and a witness to such discriminatory treatment interjects: “Unsinn! Was haben der Deutsche und der Sonderübersiedler damit zu tun? Das riecht hier nach keiner Politik. Es geht allein um Leistung und um Fleiß. Er ist Schüler einer kasachischen Schule. Er hat all die Jahre Kasachisch gelernt. Auch die Aufsätze schreibt er kasachisch” (HdH, p. 290f.). Nevertheless, beyond the aul’s boundaries and despite his linguistic proficiency, Harry remains an outside in the eyes of many: “er ist kein Ka-sa-chhe!” (HdH, p. 291). The act of linguistic negotiation makes possible a space for translation in which hybridity offers a viable alternative to the strict demarcation of identity based on ethnicity or nationality, either ‘German’ or ‘Kazakh’. Although he is haunted by his family history, Harry gradually finds acceptance amongst Kazakhs. Impressed by his ability to speak fluent Kazakh, a school official proclaims: “Da bist du ja einer von uns, ein Kasache. Mein Brüderchen! Hab ich doch gleich bemerkt, dass du das Iman im Gesicht hast” (HdH, p. 406). And yet, the blacklisting of ethnic Germans excludes him from pursuing his university education until a high-ranking Kazakh from a neighbouring aul intervenes. The enigma of exile has resulted in Harry living the locality of culture that is more temporal than historical, with the aul serving as an interstitial space for the ongoing process of re-negotiating the self across linguistic designations of identity. By way of concluding, we might recall the assertion at the beginning of the essay, namely that Belger’s writings represent a model for moving beyond the postcolonial struggle for ethnic, cultural, and political autonomy in favour of intercultural encounters. In the first instance, his essay “Aul” and novel “Das Haus des Heimatlosen” should be understood as transnational literature in which migrants and migrant communities are theorized along an axis that includes multiculturalism, identity, and hybridity, all of which intersects with considerations of minority literature. Deleuze and Guattari recognized the initial need felt by minority writers to ‘deterritorialize’, which is to say the desire (in this case) of ethnic minorities to embody perspectives contrary to the dominant society into which they have been subsumed. As they (Deleuze and Guattari) observe, “the desire to de-code or to deterritorialize seems particularly crucial for minorities who want to remain minorities and affirm perspectives that are not

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those of the culture they inhabit”.14 Belger himself presents a multiplicity of perspectives, which is to say that he portrays characters caught between conflicting worlds due to their essentialist views of cultural identity. His characters variously ascribe or embody multicultural notions of fixed ethnic identities that are conterminous with specific groups as well as acknowledge the fragmented nature of identity and subsequently embrace it as a fluid, ongoing process. Conversely, some of his characters seem to waver between restorative nostalgia and reflective nostalgia, as if caught between naive essentialism and a self-consciously melancholic yearning for an inaccessible past. By underscoring the migrant writer’s enduring hybridity, Belger’s writing moves beyond the stuck-between-two-worlds binary. And by employing metaphors of hybridity, he eschews further atomization in favour of multiplicity and the interplay of pluralistic selves. Scholar Rita Felski has written about the unseating of differences once those differences have been articulated: “Metaphors of hybridity and the like not only recognize differences within the subject, fracturing and complicating holistic notions of identity, but also address connections between subjects by recognizing affiliations, cross-pollinations, echoes, and repetitions, thereby unseating difference from a position of absolute privilege”.15 In a similar vein, Belger’s literary explorations of deterritorialized memory make possible the renegotiation of identity, history, and political practices within contested linguistic and cultural spaces.

14 Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: What is a Minor Literature? In: Mississippi Review 11, 1983, no. 3, p. 13–33, here p. 13. 15 Felski, Rita: The Doxa of Difference. In: Signs 23, 1997, p. 1–21, here p. 12.

Anne Sturm (Halle-Wittenberg)

Border, Borderscape und Bordering Practices in den Erstlingswerken von Dimitré Dinev und Ilija Trojanow

Grenzüberschreitungen stellen ein zentrales Charakteristikum der beiden Erstlingsromane Ilija Trojanows („Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“, 1996) und Dimitré Dinevs („Engelszungen“, 2003) dar. Der vorliegende Artikel untersucht diese in erster Linie auf der inhaltlichen Ebene der Texte, konkret in der Figurengestaltung sowie Elementen des Plots. Als theoretischer Zugang dienen hierbei Ansätze der Border Theory, wie sie von Johan Schimanski, Chiara Brambilla und Thomas Nail vorgeschlagen wurden. Ausgehend von der Funktionsweise der historischen Außengrenzen Bulgariens wird deren Neuinterpretation als Borderscape in beiden Romanen verglichen. Weitere von Schimanski systematisierte Border Effects wie die Multiplikation von Grenzen auf einer symbolischen Ebene sowie deren In- und Outfolding werden konkret an Textpassagen aus beiden Romanen erläutert. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, durch die Anwendung theoretischer Positionen der Border Theory auf literarische Texte neuartige Lektürezugänge zu erschließen. Bordercrossing narratives are a dominant feature in both Iliya Trojanov’s “The World Is Big And Salvation Lurks Around The Corner” (1996) and Dimitré Dinev’s “Angel’s Tongues” (2003). In this article I focus on bordercrossing with regard to contents, precisely the presentation of the novel’s characters as well as elements of the plot. The theoretical basis of my research is the border theory approach as presented by border scholars Johan Schimanski, Chiara Brambilla and Thomas Nail. Based on an analysis of the operating mode of Bulgaria’s historical borders, I compare their reinterpretation as borderscape in both novels. Further border effects such as the multiplication of borders on different planes, inand outfoldings as described by Schimanski are being illustrated with the help of concrete text passages of both novels. This article aims to apply theoretical positions in the field of border theory to literary texts in order to use their potential for an alternate reading.

Dimitré Dinev und Ilija Trojanow zeichnen sich nicht nur durch eine Reihe ästhetischer Gemeinsamkeiten in ihrem literarischen Schaffen aus, beide Autoren verbindet auch die Erfahrung der Migration. Im kommunistischen Bulgarien unter Todor Zhivkov geboren, flohen Trojanow und Dinev aus politischen

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Gründen nach Westeuropa. Trojanow erlebte die Flucht 1971 als Kind1 gemeinsam mit seiner Familie, Dinev hatte zum Zeitpunkt seiner Flucht 1990 kurz nach dem Sturz der kommunistischen Diktatur bereits seinen Armeedienst geleistet. Ihre von Grenzüberschreitungen geprägten Biografien haben beide Autoren in ihren Erstlingsromanen, Trojanow in „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“ (1996)2 und Dinev in „Engelszungen“ (2003),3 literarisch verarbeitet. Die Protagonisten beider Romane erleben die Flucht in ähnlichen Konstellationen wie die Autoren zuvor selbst: Während sich in „Die Welt ist groß“ eine Kleinfamilie aus Mutter, Vater und Kind auf den Weg über Jugoslawien und Italien nach Deutschland macht, flieht in den „Engelszungen“ ein Freundespaar junger Männer von Tschechien über die Grüne Grenze nach Österreich. Nicht nur die Figurenkonstellationen, auch die Fluchtrouten entsprechen dabei den Fluchterfahrungen der Autoren. Der Bezugnahme auf diese autobiografischen Migrationserfahrungen ist es auch zu verdanken, dass die beiden Erstlingsromane bei ihrem Erscheinen unter dem im deutschsprachigen Raum damals populären Etikett „Migrantenliteratur“4 vermarktet wurden. Beide Romane erreichten relativ schnell große Beliebtheit und wurden im deutschsprachigen Feuilleton überwiegend positiv besprochen. Eine Besonderheit der Romane stellt die Tatsache dar, dass beide Autoren sich bereits hier für das Deutsche als poetische Sprache entschieden haben und beide Romane daher komplett auf Deutsch entstanden sind. Eine starke inhaltliche Parallele zwischen beiden Romanen stellt die Erzählung von Grenzüberschreitungen (bordercrossing narrative) dar,5 welche an vielen Stellen symmetrisch konstruiert sind, wodurch sich „Die Welt ist groß“ und „Engelszungen“ im besonderen Maße für eine vergleichende Analyse an1 Die Fluchtthematik hat Trojanow mehr als zehn Jahre später erneut autobiografisch verarbeitet. Vgl. Trojanow, Ilija: Nach der Flucht. Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2017. 2 Trojanow, Ilija: Die Welt ist groß und Rettung lauert überall. Roman. München: dtv 2009. (Seitenangaben fortlaufend im Text, DWG) 3 Dinev, Dimitré: Engelszungen. Roman. München: btb 2006. (Seitenangaben fortlaufend im Text, EZ) 4 Stellvertretend für das Feuilleton siehe Spiegel, Hubert: Welt im Würfelbecher. Ilija Trojanows Debütroman. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Dezember 1996 (Nr. 292/S. B5). (Zugriff am 17. 12. 2017); sowie Weltreise mit Tandem. In: DER SPIEGEL 43, 1996. (Zugriff am 17. 12. 2017). Stellvertretend für den literaturwissenschaftlichen Diskurs siehe Hielscher, Martin: Andere Stimmen – andere Räume. Die Funktion der Migrantenliteratur in deutschen Verlagen und Dimitré Dinevs Roman „Engelszungen“. In: Text + Kritik. Sonderband Literatur und Migration. Hrsg. von Heinz-Ludwig Arnold. München: edition text + kritik 2006, S. 199. 5 Die Bezeichnung findet sich bei Schimanski, Johan: Crossing and Reading. Notes Towards a Theory and a Method. S. 53. (Zugriff am 07. 01. 2018).

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bieten. Die Romanhandlungen setzen jeweils mit der Schilderung des Alltags in der kommunistischen Volksrepublik Bulgarien ein, der von einer starken Regulierung des Privatlebens durch das politische System geprägt ist, aus der weitreichende Einschränkungen der individuellen Freiheit resultieren. Die durch diese Eingriffe erzeugte emotionale Gemengelage aus Ohnmacht, Angst und Wut lässt bei den Hauptfiguren den Wunsch nach Flucht wachsen. Die Fluchtabsichten richten sich, wie für ein Ostblockland zur Zeit des Kalten Kriegs typisch, westwärts: Der ‚Goldene Westen‘ stellt den unerreichten Sehnsuchtsort dar, auf den sich die Hoffnungen nach einem Leben in Freiheit und Wohlstand richten. Verteilt auf das Figurenpanorama der Romane führen beide Autoren eine Vielzahl unterschiedlich gelagerter Fluchtmotive vor, die sich aus den Biografien und individuellen Charakteren der Figuren speisen. An eine Reihe sorgfältiger Fluchtvorbereitungen schließt sich in beiden Romanen die eigentliche Flucht als Grenzüberquerung an, die ungefähr in der Mitte der Romane angesiedelt ist und damit einen Wendepunkt der Handlung, nicht jedoch deren Ende darstellt. In beiden Romanen wird im Anschluss an die Flucht auch der Neubeginn in der westlichen Gesellschaft thematisiert.

I.

Von Border zu Bordering: Die Grenze in der Border Theory

Einen zentralen Bestandteil von Fluchtgeschichten oder bordercrossing narratives, wie beide Romane sie gestalten, stellt die Grenze und deren Überwindung dar. Ausgehend von der inhaltlich-thematischen Ausrichtung der Texte legt die vorliegende Untersuchung einen Grenzbegriff zu Grunde, der Grenzen zunächst im engeren Sinne räumlich, d. h. als „a line dividing two different territories“6 betrachtet. Grenzüberquerungen werden daher als Überwindung räumlicher und im engeren Sinne topografischer Grenzen untersucht. „The crossing of the border“, so Johan Schimanski, „involves the passage of the border-crosser from one territory to another, and the passage is marked by the border.“7. Ausgehend von der topografischen Ebene geraten weitere symbolische Ebenen von Grenzen in den Blick, da Grenzen einerseits symbolische Unterschiede territorialisieren, andererseits jedoch auch territoriale Unterschiede symbolisieren, die topografische und symbolische Beschreibungsebene damit also nicht getrennt voneinander betrachtet werden können.8 Wie lässt sich die symbolische Dimension von Grenzen nun genauer beschreiben? 6 Schimanski, Johan: Border Culture. What is a border figure? Border Culture.The blog of the EUBORDERSCAPES project research group for border crossing and cultural production. (Zugriff am 25. 01. 2018). 7 Schimanski, Crossing and Reading. S. 41. 8 Ebd., S. 52.

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Thomas Nail schlägt vor, die Gemeinsamkeit aller Grenzen sei „that they introduce a division or bifurcation of some sort into the world.“9 Legt man diese Definition der Grenze als Gabelungspunkt zu Grunde, so impliziert jede Grenzüberschreitung, dass ein bestehendes Kontinuum im Akt der Grenzüberschreitung in Diskontinuität übergeht. In Bezug auf jede Grenzüberschreitung gibt es somit ein Davor und ein Danach, welches sich beispielsweise auf einer zeitlichen Ebene beschreiben lässt. So geht mit der Überschreitung räumlicher Grenzen zwangsläufig eine zeitliche Diskontinuität einher, indem eine Vergangenheit vor und eine Gegenwart nach der Grenzüberschreitung unterschieden werden. Analog ergibt sich eine epistemologische Ebene, auf der ein Gegensatz von Bekanntem und Unbekanntem, vom Eigenen und Fremden oder Anderen beschreibbar wird. Selbst auf einer textuellen Ebene, welche die Beschaffenheit der Texte und ihre Wirkungsweise als Literatur in den Blick nimmt, lassen sich in bordercrossing narratives Grenzüberschreitungen beschreiben. Eine ursprünglich eindimensional gedachte Grenze multipliziert sich somit bei genauerem Hinsehen, indem sie auf zahlreichen verschiedenen Ebenen beschreibbar wird. Die Auffassung von dem, was Grenzen sind und welche Bedeutung sie für Gesellschaften haben, hat sich mit dem spatial turn10 in den Geisteswissenschaften und dem interdisziplinär ausgerichteten Forschungsbereich der border theory stark verändert. Vorherrschend war und ist teilweise bis zum heutigen Tag das Bild der zeitlosen und naturgegebenen Grenze, die mit der Idee von Nationalstaatlichkeit zusammenhängt: einer Idee, nach welcher politische Macht und geographisches Territorium auf scheinbar naturgegebene Art und Weise aufeinander bezogen sind.11 Erst im Rahmen der border theory wurde diese Idee als territorial trap entlarvt, nach welcher Staaten „act as rigid containers that neatly partition global space into nation-state territories corresponding to distinct societies.“12 In diesem Konzept wird Staatsgewalt mit quasi-historischer Legitimität ausgestattet. Verschiedene Facetten der Gesellschaft wie Politik, Arbeit, Militär, Bildung und Sport erhalten ihre Bedeutung somit immer in Beziehung zum (National-)Staat. Durch die derartige Institutionalisierung von Grenzen speziell im 20. Jahrhundert wurde die Tatsache verschleiert, dass es sich bei Grenzpraktiken um soziale Praktiken handelt, die der modernen Idee des Staates weit vorausgingen.13

9 Nail, Thomas: Theory of the Border. New York: Oxford University Press 2016, S. 2. 10 Vgl. (Zugriff am 24. 01. 2018). 11 Diener, Alexander C./Hagen, Joshua: Borders. A very short introduction. Oxford: Oxford University Press 2012, S. 13. 12 Ebd., S. 12. 13 Nail, Theory of the Border. 2016, S. 2.

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Im Zuge dieses processual shift14 wird in der border theory der theoretische Schritt von border zu bordering vollzogen und damit die Vorstellung naturgegebener, zeitloser Grenzen zugunsten eines Verständnisses der menschlichen Gemachtheit von Grenzen überwunden. Grenzen stellen nach Auffassung der border theory das Resultat von bordering practices, einem Bündel unterschiedlichster Praktiken, dar, die aus politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und technischen Voraussetzungen resultieren und sich in der Grenze materialisieren. Obwohl Grenzen in diesem Sinne als Resultat gesellschaftlicher Praktiken zu verstehen sind, wirken sie gleichzeitig auf die Gesellschaften zurück und verändern diese. Nail spitzt diesen Gedanken in der Formulierung zu, die Grenze definiere die Gesellschaft, nicht umgekehrt: „The border is not the result of a spatial ordering, but precisely the other way round – the spatial ordering of society is what is produced by a series of divisions and circulations of motion made by the border. The border defines society (from the Latin finis, boundary, limit), not the other way around.“15

II.

Border Poetics und Borderscape

Unter all den verschiedenen Blickwinkeln, unter denen Grenzen in der interdisziplinären border theory gegenwärtig diskutiert werden, ist für die literaturwissenschaftliche Analyse das Konzept der border poetics am ertragreichsten, da hier genuin ästhetische Fragestellungen fokussiert werden. So schreibt Johan Schimanski: „Border poetics can be defined as any approach to texts which connect borders on the levels of histoire, the word [world? – A.S.] the text presents to the reader, and of récit, the text itself, a weave of rhetorical figures and narrative structures.“16

Border poetics stellen in der Definition Schimanskis einen Interpretationszugang zu Texten bereit, die sich inhaltlich-thematisch sowie formal an der Grenzthematik abarbeiten und lässt sich damit gewinnbringend auf die Romane „Die Welt ist groß“ und „Engelszungen“ anwenden. Mit der doppelten Perspektive von Gérard Genettes histoire und récit17 soll auch in der vorliegenden Untersuchung gearbeitet werden. In Bezug auf die beiden Romane stellt sich somit zum einen 14 Brambilla, Chiara: Exploring the Critical Potential of the Borderscapes Concept. In: Geopolitics 20 (2015), S. 14–34, hier S. 15. 15 Nail, Theory of the Border. 2016, S. 9. 16 Schimanski, Crossing and Reading. S. 51. 17 Genette ersetzt den Begriff discours durch eine Aufspaltung in récit als Erzählung, d. h. den narrativen Text im eigentlichen Sinne, und narration als Akt des Erzählens. Die narration wird an dieser Stelle nicht weiter thematisiert. Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. 3. Auflage. Stuttgart: UTB 2010.

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die Frage, wie Grenzen auf der inhaltlich-thematischen Ebene der Texte dargestellt werden. Zum anderen soll untersucht werden, inwieweit diese Darstellung sich auf der formalen Ebene in Form narrativer Strukturen und rhetorischer Mittel niederschlägt. Ein solcher Einfluss von Grenzen auf die formale Gestaltung von Texten ließe sich anschließend als Baustein einer spezifischen Ästhetik beschreiben, die ein verbindendes Element der beiden untersuchten Romane darstellen würde und sich möglicherweise im Sinne einer Écriture migrante18 beschreiben ließe. Innerhalb der border poetics hat sich mit dem borderscape ein Konzept etabliert, das mehrere Elemente enthält, die für die vorliegende literaturwissenschaftliche Analyse aufschlussreich sind. Elena Dell’Agnese und Anne-Laure Amilhat Szary weisen darauf hin, dass der Begriff, der als Portmanteauwort Aspekte von „landscape“ und „border“, Landschaft und Grenze, vereinigt, gleichzeitig die Ambiguitäten beider Konzepte übernehme. Eine zusätzliche Bedeutungsebene erhält er zudem durch den Bezug auf die -scape-Bildungen, mit denen Arjun Appadurai eine Analyse des globalen Kapitalismus vorgenommen hat.19 Durch eine Verlagerung des Konzeptes ersetzen aktuelle Positionen die Vorstellung einer objektiv vorhandenen, durch eine Grenze maßgeblich modifizierten Landschaft durch eine Landschaft, die nicht objektiv existiert, sondern erst im Moment ihrer Perzeption von einem Betrachter erzeugt wird. Landschaft erhält damit die Qualität eines signifying system: „In other words, it is a ‚signifying system‘ in which meanings are made and remade by the perceiver-observer.“20 Diese Denkfigur markiert eine Interessensverschiebung im Umgang mit Grenzräumen: an die Stelle eines politischen Interesses an Grenzen als Demarkationslinien tritt ein diskursives Interesse an den komplexen soziokulturellen Prozessen und Praktiken, die sich grenzüberschreitend abspielen.21 Die Grenze ist in diesem Kontext nicht mehr „taken-for-granted-entity, but a site of investigation“,22 wie Chiara Brambilla formuliert. Durch die Neuperspektivierung von Grenzen als borderscape wird der Akt der Wahrnehmung aufgewertet, wodurch eine ästhetische Dimension bei der Beschäftigung mit Grenzen ins Spiel kommt, die entsprechend interpretiert und beschrieben werden kann. Zu den Kräften, die am shaping und reshaping des 18 Vgl. Hausbacher, Eva: Poetik der Migration. Transnationale Schreibweisen in der zeitgenössischen russischen Literatur. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2009, S. 27. 19 Beispielsweise den ethnoscape, vgl. Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. 9. Auflage. Minneapolis: University of Minnesota Press 2010. 20 Dell’Agnese, Elena/Szary, Anne-Laure Amilhat: Borderscapes. From Border Landscapes to Border Aesthetics. In: Geopolitics 20, 2015, S. 4–13, hier S. 7. 21 Vgl. auch Prem Kumar Rajaram/Carl Grundy-Warr: Borderscapes. Hidden Geographies and Politics at Territory’s Edge. Minneapolis: University of Minnesota Press 2007. 22 Brambilla, Exploring the Critical Potential. 2015, S. 17.

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Grenzraumes mitwirken, zählen neben politischen, wirtschaftlichen und sozialen Faktoren auch die Künste. Diese sind im Entwurf von Dell’Agnese und Szary als border arts selbst dann an der Schaffung von Grenzen beteiligt, wenn sie eigentlich deren Überwindung oder Abschaffung propagieren – mit anderen Worten kann Kunst, die Grenzen thematisiert, diese nicht abschaffen. In der kritischen Bezugnahme arbeitet sie im Gegenteil an deren Erzeugung mit: „From music to caricature, through literature and visual arts, all of the cultural objects on which the authors focus make the border; they scape its material and imaginary universes even when their explicit purpose is to resist the dominating border regime.“23

Das Konzept des borderscape hat neben der Einführung eines Betrachters noch einen zweiten Effekt, der in der Verräumlichung von Grenzen besteht: „border is a zone rather than a simple line“.24 An die Stelle einer Demarkationslinie tritt die Vorstellung eines Grenzraumes, der Platz bietet für Interaktionen und Praktiken, die zur Erschaffung von Grenzen führen: „borders not only separate, they also imply interactions“.25 Für die vorliegende Untersuchung ergeben sich aus den Ansätzen der border poetics und dem Konzept des borderspace mehrere Implikationen. Wie oben beschrieben, stellen Grenzen das Resultat verschiedener bordering practices dar, zu denen soziale, politische jedoch auch künstlerische Praktiken zählen. Als Manifestation dieser Praktiken repräsentiert die Grenze diese, wobei sich die Form der Repräsentation durch eine bestimmte Ästhetik auszeichnet: „Borders must have a sensible component in order to function as borders. […] One most evident aesthetic aspect of the border is its statistically high level of visibility: we view fences, markers, gates or contours in a landscape as what constitutes a boundary. A border that is not sensed by someone or something is not a border […].“26

Folgt man diesen Überlegungen, kann es, so Mireille Rosello und Stephen F. Wolfe, keine nicht-ästhetischen Grenzfigurationen geben: „there is no such thing as a non-aesthetic figuration of the border“.27 Ausgehend von dieser Annahme führt das borderscape-Konzept den Betrachter ins Feld und kommt so zu der Schlussfolgerung, dass Grenzen nur im Moment ihrer Perzeption durch einen Betrachter als Grenze entstehen.

23 Dell’Agnese/Szary. Borderscapes. 2015, S. 8. 24 Schimanski, Crossing and Reading. S. 49. 25 Rosello, Mireille/Wolfe, Stephen F.: Introduction. In: Border Aesthetics. Concepts and Intersections. Hrsg. von Johan Schimanski/Stephen F. Wolfe. New York/Oxford: Berghahn 2017, S. 1–24, hier S. 2. 26 Ebd., S. 5. 27 Ebd., S. 6.

352

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III.

Die Grenze im Text

a.

Der historische Kontext: Grenzen Bulgariens vor 1989

Die historischen Außengrenzen Bulgariens, auf welche die Romane Bezug nehmen, stellen ein Paradebeispiel für topografisch eindeutige und durch die Abfolge geschichtlicher Ereignisse historisch legitimierte Grenzen mit klaren Funktionsweisen dar. Durch ihre massive Fortifizierung erreichten sie eine hohe Sichtbarkeit. Der Grenzverlauf war jedoch auch unabhängig von seiner direkten Sichtbarkeit Teil verschiedener offizieller und inoffizieller, auch künstlerischer Diskurse. Diese beschäftigten sich besonders mit den Grenzgebieten zu Serbien und Mazedonien im Westen, wo durch den neuen Grenzverlauf Dörfer geteilt wurden und sich Familien und Freunde nun plötzlich in zwei verschiedenen Staaten wiederfanden. Ein zentraler Bestandteil der Grenzdiskurse waren selbstverständlich die Regularien, die bestimmten, wer berechtigt war, die Grenze wo und unter welchen Voraussetzungen zu überqueren, jedoch auch die teilweise drastischen Sanktionen, die bei unbefugten Übertritten verhängt wurden. Die fast hermetische Geschlossenheit der bulgarischen Außengrenzen, die nach dem Zweiten Weltkrieg politischen Interessen auf supranationaler Ebene entsprang, bedurfte einer besonders starken Legitimation bei den Bürgern des Staates, deren Bürger- und auch Menschenrecht auf Freizügigkeit plötzlich stark beschnitten wurde. Im Sinne von bordering practices wurde diese Legimitation diskursiv vorangetrieben, indem gezielt auf die Meinungsbildung Einfluss genommen wurde. Durch die Bearbeitung von Schulbüchern, die Einschränkung der Pressefreiheit sowie die Beschränkung der diskursiven Vielfalt auf einen ideologisch geprägten Staatsdiskurs sollten die Bürger von der Richtigkeit der Staatsidee und seiner restriktiven Grenzpolitik überzeugt werden.

b.

Border-crosser

Wie oben bereits erwähnt, gestalten beide Romane mit ihrem jeweiligen Figurenensemble ein Kaleidoskop an Sichtweisen auf die politische Situation des kommunistischen Bulgariens und der damit verbundenen Grenzsituation. In beiden Romanen werden Figuren, die eher durchschnittliche Existenzen darstellen und sich in der Mitte der Gesellschaft verorten lassen jeweils einer Schelmenfigur gegenübergestellt, für die gesellschaftliche Zwänge nicht oder nur sehr eingeschränkt gelten. So stehen in Trojanows Roman „Die Welt ist groß“ Jana und Vasko, Mutter und Vater der Kleinfamilie, die im ersten Teil des Romans die Flucht unternehmen, der Schelmenfigur Bai Dan gegenüber. Während Jana und Vasko als durchschnittliche Bürger den gesellschaftlichen Zwängen der

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Diktatur ausgesetzt sind, gelingt es Bai Dan als Spieler und Kosmopolit in vielfacher Hinsicht, von den gesellschaftlichen Umständen zu profitieren. Eine ähnliche Kontrastierung lässt sich in Dinevs „Engelszungen“ finden. Mit dem Freundespaar Svetljo und Sascho gestaltet Dinev zwei Figuren, die im Kommunismus aufwachsen und sich erst aus Enttäuschung über die Wiederwahl der Kommunisten bei den ersten freien Wahlen 1990 in Bulgarien zur Flucht entschließen. Kontrastiert wird Svetljos und Saschos Lebensweg von demjenigen Iskrens, der als Krimineller ähnlich wie Bai Dan von den unterschiedlichen gesellschaftlichen Umständen vor und nach der bulgarischen Wende stets in irgendeiner Form profitiert. Neben dem Kontrastpaar aus Bürger und Schelm führt Dinev mit dem Parteisekretär Mladen Mladenov und dem Volksmilizionär Jordan Apostolov zusätzlich Figuren ein, die als Bedienstete des Staatsapparats Teil des Unterdrückungsmechanismus sind und von diesem profitieren. In beiden Romanen sind es selbstverständlich nicht die Staatsdiener und nur eingeschränkt die Schelmenfiguren, die sich zur Flucht entschließen und damit zu bordercrossern werden – der Wunsch nach Flucht wächst in erster Linie in den bürgerlichen Figuren wie Jana, Vasko, Svetljo und Sascho, deren Freiheit selbst im alltäglichen Leben stark eingeschränkt wurde und die anders als Staatsdiener und Schelmenfiguren von den gesellschaftlichen Umständen kaum profitieren konnten. Von Staatsseite wurden in der Volksrepublik Bulgarien zwei große ideologische Erzählungen in Bezug auf die Grenze geschaffen, welche die Wahrnehmung der objektiv gegebenen Situation entsprechend beeinflussen und lenken sollten. Die erste der beiden Erzählungen stellte die Grenze als Schutzwall vor feindlichen Mächten dar, der die Bürger vor dem im Westen herrschenden Elend bewahren sollte. Das eigene kommunistische Gesellschaftssystem wurde als überlegen dargestellt, um so durch die Identifikation mit dem eigenen Staat den Wunsch nach Flucht zu verhindern. Diese Erzählung kleidet Trojanow in die Geschichte der Drei Damen, von denen eine als Prostituierte in die USA flieht, nach der Geburt ihres unehelichen Kindes jedoch beschließt, nach Bulgarien zurückzukehren: „Die Behörden wußten etwas mit ihr anzufangen. Ein sprachmächtiger Mitarbeiter der Staatssicherheit schrieb einen Text, den sie im Radio vorzulesen hatte. Wenn Sie weniger häßlich gewesen wäre, hätte man sie im Fernsehen auftreten lassen. […] Zur besten Sendezeit sprach sie mit belegter Stimme von ihren Erfahrungen in Amerika, diesem schrecklichen Land. Wo eine Schwangere schlimmer als ein Hund behandelt wird, keinen Urlaub erhält, bis zum Tag der Geburt schuften muß und sofort nach der Geburt wieder schuften muß und das Krankenhaus teuer bezahlen muß, keine Hilfe, keine Fürsorge erhält.“ (DWG, 144f.)

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Die Erzählung von der Überlegenheit des eigenen Gesellschaftssystems wird von Techniken des emotional bordering gestützt, unter die etwa Militärparaden, symbolische Akte, Denkmäler und historisch aufgewertete Landschaften fallen.28 Mit dem bereits erwähnten Jordan Apostolov führt Dinev eine Figur vor, die diese Erzählung vollständig affirmiert: „Überall, wo er [Jordan – A.S.] hinschaute, sah er Genossen in den blauen Uniformen der Volksmiliz. Blau war der Platz vor dem Mausoleum des Genossen Dimitrov, ein kleiner Himmel lag vor dem Mausoleum. Den Himmel auf Erden hatten seine Kollegen geschaffen und wollten ihn dem Genossen Dimitrov, dem Genossen Shivkov, der Parteiführung und dem ganzen Volk zeigen.“ (EZ, 149)

Die erwähnten Formen des emotional bordering funktionieren jedoch nicht uneingeschränkt, wie Trojanow an der Figur Vasko zeigt: „Vasko war Individualist. Er haßte Paraden, Aufmärsche, Pioniergesänge, Eide und Versammlungen. Er wollte weglaufen.“ (DWG, 45) Für Individualisten wie Vasko wurde eine entsprechende Gegenerzählung geschaffen, die von der Unüberwindbarkeit der Grenze handelte und der Abschreckung diente. Hierzu gehörte beim Scheitern der Flucht die Aussicht auf unbegrenzte politische Haft und die drohende Verschleppung ins Arbeitslager. Selbst bei geglückter Flucht bestand die Gefahr in den Repressionen, denen zurückbleibende Familienangehörige ausgesetzt waren.

c.

Border effects: Infoldings

Chris Rumford schlägt vor, ‚seeing like a border‘ als eine alternative Perspektive zu ‚seeing like a state‘ einzunehmen. Aus dem Blickwinkel der Grenze zu sehen, bedeute, so Rumford, von der Peripherie ins Zentrum zu blicken.29 In den oben beschriebenen Wirkungsweisen der beiden konträren ideologischen Erzählungen, mit denen Bürger von der Flucht aus Bulgarien abgehalten werden sollten, deutet sich bereits an, dass sich das Leben der Figuren in einem stetigen Spannungsverhältnis zur Grenze beschreiben lässt. Obwohl sich die Figuren territorial im Inneren des Staates und auf symbolischer Ebene in der Mitte der Gesellschaft befinden, wirkt die Grenze ins Innere zurück und verwandelt die Gesellschaft in einen Raum, der als Grenzraum durch eine ständige Zirkulationsbewegung von Übertretung und Abweisung gekennzeichnet ist. Einerseits stoßen die Protagonisten der Romane ständig auf Grenzen und arbeiten sich an diesen ab, andererseits werden sie selbst ständig Gegenstand, zumeist Opfer, von Grenzüberschreitungen, die in sozialer, psychischer oder physischer Art und Weise an ihnen 28 Paasi, Anssi: Borders, theory and the challenge of relational thinking. In: Political Geography 30, 2011, S. 62f., hier S. 63. 29 Rumford, Chris: Seeing like a border. In: Political Geography 30, 2011, S. 62ff., hier S. 67.

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vorgenommen werden. Schimanski systematisiert den Sachverhalt der Multiplikation von Grenzen im Inneren der Gesellschaft als einen mehrerer möglicher border effects. Schimanski zufolge werden bei einem derartigen infolding der Grenze die äußeren Grenzen eines Territoriums in Gestalt seiner internen Grenzen reflektiert.30 Diese Multiplikation von Außengrenzen zurück ins Innere des umgrenzten Territoriums erfülle, so Schimanski, die Funktion, die Identität des Territoriums zu sichern: „if the internal border is seen as a product or variant of the external border, it may reaffirm the identity of the territory.“31 Die Wirkungen der Grenzmechanismen im Inneren der Gesellschaft lassen sich wie oben bereits angedeutet in zwei verschiedene Richtungen systematisieren: einerseits erleiden die Romanfiguren ständig Grenzverletzungen, indem der Staat und seine Organe die Kontrolle über das Arbeitsleben, das Privatleben und selbst den Körper übernehmen. Grenzverletzungen finden dabei auf der symbolischen Ebene im sozialen und psychischen, aber auch im manifest physischen Bereich statt. Ein gutes Beispiel für die Grenzüberschreitungen, welche an den Figuren praktiziert werden, stellt Dinevs Figur Ognjan dar, der als ehemaliger Arzt von den Faschisten kommunistischer Ideen verdächtigt, verhört und gefoltert und anschließend von den Kommunisten des Petkovismus beschuldigt und ins Lager Belene deportiert wird (EZ, 55f.). Auch die Zwangsumsiedlung von Isabella, der Prostituierten, die der Parteisekretär Mladen Mladenov regelmäßig aufsucht, illustriert die Macht, mit welcher der Staat bzw. die Partei in das Leben der Bürger eingreifen (EZ, 448). Während die Figuren in den Romanen einerseits ständig von Grenzüberschreitungen bedroht sind, stoßen sie andererseits selbst alltäglich an Grenzen, die Rede- und Handlungsverbote festlegen. Besonders schmerzhaft muss diese Grenzen Iskren erfahren, der als Kind die Wirkung des Satzes „der Genosse Zhivkov scheißt von oben und unten“ kennenlernt, den er am Strand von einem anderen Jungen gehört hatte: „[…] eines Abends […] trat der Genosse Shivkov im Fernsehen auf und hielt eine Rede, von der Iskren nur sehr wenige Worte verstand. Nun schien es ihm angemessen, die Wirkung des lang verborgenen Satzes zu erproben, und er schoß ihn laut und befreiend heraus. […] Die Stille wurde von zwei schnellen Schritten und einer schallenden Ohrfeige unterbrochen. […] ‚Willst du, daß dein Vater eingesperrt wird und ihn nie mehr siehst?‘ Nein, das wollte Iskren auf keinen Fall. ‚Also sag das, was du vorhin gesagt hast, nie wieder, sonst passiert uns allen ein großes Unglück.‘“ (EZ, 252)

Ein weiteres Handlungsverbot zeigt Dinev in der Episode um die Schwester Mladens, die mit ihrem Mann in die USA emigriert ist und nach Bulgarien 30 Schimanski, Crossing and Reading. S. 49. 31 Ebd., S. 50.

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kommt, um die Familie zu besuchen. Mladen, von der Partei vor die Wahl gestellt, die eigene Schwester zu agitieren oder jeglichen Kontakt mit ihr zu vermeiden, begibt sich für die gesamte Zeit ihres einwöchigen Besuchs auf Dienstreise. Der Besuch der Schwester wird zur Zerreißprobe für die Familie, deren Ablehnung Mladen nach seiner Rückkehr deutlich zu spüren bekommt. Vor allem seine Mutter kann ihm den Verrat an der Schwester nicht verzeihen und empfiehlt ihm: „Nenn mich nicht mehr Mutter, geh zu deiner Partei.“ (EZ, 273) Wie schmerzhaft Mladen den Verzicht selbst erlebt, wird aus seinem anschließenden Besuch bei der Prostituierten Isabella deutlich, von der er verlangt: „Ich will, daß du auf mein Gesicht pinkelst.“ (EZ, 273) An den zitierten Ausschnitten zeichnet sich bereits ab, dass die Romane zwei unterschiedlich weitreichende Varianten der Internalisierung von Grenzen aufzeigen. Eine Möglichkeit besteht darin, die Grenzen zu verinnerlichen und in der Vermeidung ihrer Übertretung zu leben. Mladen hält sich in einer Mischung aus politischer Überzeugung und Karrierestreben an die Vorgaben der Partei. Trojanow zeigt mit Jana dagegen eine Figur, die sich schlicht und ergreifend in den Umständen eingerichtet hat. Von ihr heißt es, sie „hatte die Grenzen ihrer Realität immer wieder in Träumen überwunden, Träume, die mit keinerlei Ambition ausgestattet waren, sich zu verwirklichen.“ (DWG, 70) Eine andere Konsequenz aus der Internalisierung von Grenzen besteht darin, diese bei anderen im Namen des Systems zu verletzen. Für diese Variante steht selbstverständlich der mit der Macht der Partei ausgestattete Mladen, der selbst Parteisekretäre versetzt oder befördert. Die schmutzige Variante dieser Macht präsentiert Dinev mit dem oben bereits erwähnten Jordan Apostolov, der in den Folterkellern der Partei den Ruf genießt, jeden zum Reden zu bringen. Jenseits dieser beiden Varianten der Internalisierung von Grenzen findet eine ganze Skala kleinerer Grenzverletzungen ihren Platz, die von Taktiken wie Verheimlichen, Verstecken, Leugnen und Lügen bis hin zu geplanter Provokation reichen. Prädestiniert für diese Taktiken sind selbstverständlich die Schelmenfiguren, deren Lügen und Verheimlichen Teil ihrer literarischen Charakteristik ist. Der in den „Engelszungen“ porträtierte Ognjan ist hingegen ein Vertreter des heimlichen Widerstands, der sich aus seiner persönlichen Biografie und den erlittenen Verletzungen ableitet: „Das Radio war laut aufgedreht, aus ihm donnerte die Stimme des Genossen Shivkov. […] ‚Papa, kann man es nicht leiser stellen?‘, fragte Marina. ‚Es ist extra so eingestellt, wegen der Nachbarn.‘“ (EZ, 57)

In den Kontext der Internalisierungs- und Vermeidungsstrategien gehören auch die Heterotopien als Entgrenzungen im Inneren und Handlungsorte des Kleinen,

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Privaten und Marginalen.32 Bezeichnend sind hier Orte wie der Fahrstuhl, in dem Jordan Apostolov seine Unschuld mit zwei Prostituierten verliert (EZ, 46) und die Rückbank des Busses, die zum Schauplatz des heimlichen Liebespiels zwischen dem Busfahrer Angel Angelov und Jordans Ehefrau Marina wird (EZ, 388). Auch die Zugtoilette, in die sich Mladen nach seinem letzten Besuch bei Isabella einschließt und in der er schließlich an einem Gehirnschlag stirbt, ist ein kleiner Raum, an dem es „plötzlich sehr viel Platz für seine Gedanken“ gibt (EZ, 455). Die Bedeutung dieser höhlenartigen, kleinen Räume liegt in einem Moment der Befreiung, die auch eine Entgrenzung ist. Ein weiterer Reflex dieser Entgrenzung im Inneren ist die Bedeutung, die Verstecken in beiden Romanen zukommt. Nahezu alle Figuren verstecken Gegenstände, die auf unterschiedliche Art und Weise wertvoll für sie sind: Vasko versteckt im Tischbein sein Fluchtkapital an „dollari“ (DWG, 71f.), Jana versteckt den leeren Rahmen des Gobelins, den sie in ihrem Fluchtgepäck mitnimmt, im Kleiderschrank (DWG, 79), damit die Flucht nicht entdeckt wird. In seinem Kleiderschrank versteckt Jordan das Einmachglas, mit der Zunge des Busfahrers Angel, den er ermordet und im Wald verscharrt hat (EZ, 397). Iskren wiederum versteckt den Gewinn aus illegalen Geschäften unter der Matratze eines Freundes, mit dessen Freundin er ein Verhältnis hat, damit die Polizei, die seine Wohnung durchsucht, es nicht findet (EZ, 25). Auch das Verstecken, im Falle von Iskren und Alex sogar das Sich-selbst-verstecken, stellt sich somit als ein Austreten aus der bestehenden Ordnung und damit eine Entgrenzung dar. Wenn die Internalisierung von Grenzen ein Ende der Skala darstellt, so befindet sich die Flucht aus dem Staat am anderen Ende. Wie Nail treffend bemerkt, ist es noch keiner Grenze gelungen, alle ein- oder auszuschließen.33 Die Hoffnungen Vaskos, Svetljos und Saschos richten sich dementsprechend auf die Überwindung der Außengrenzen, durch die ein neues, freieres und materiell besseres Leben in einer westlichen Gesellschaft möglich wäre. Zwischen den beiden Polen, der Internalisierung von Grenzen und dem Entschluss zur Flucht, sind verschiedene Positionen angesiedelt. Alexander C. Diener und Joshua Hagen beschreiben die Bewegung auf der Skala als „oscillation between security and opportunity“.34 Diese Oszillation findet sich bei Trojanow personifiziert in dem Figurenpaar Jana und Vasko: „Jana hatte die Grenzen ihrer Realität immer wieder in Träumen überwunden, Träume, die mit keinerlei Ambition ausgestattet waren, sich zu verwirklichen. Vasko dagegen

32 Interessant hierzu der Artikel des Deutschlandfunks: (Zugriff am 15. 03. 2017). 33 Nail, Theory of the Border. 2016, S. 8. 34 Diener/Hagen, Borders. 2012, S. 10.

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überflog die Grenzen ständig im sehnsüchtigen Flug, so häufig, daß er Karten hätte zeichnen können, topografisch korrekte Karten der Ebenen und Berge und Flüße hinter den Grenzen. Anhand dieser Karten wollte er sich orientieren, wenn er sich aufmachte, die schwerste aller Grenzen, die Eiserne, zu überwinden.“ (DWG, 70)

d.

Fluchtmotive

Trotz der Gegenüberstellung von Bürgern und Staatsdienern konstruieren beide Romane keine einfache Binarität von Opfern und Tätern der Diktatur. Sie zeigen vielmehr, wie alle Beteiligten zu Rädchen im Getriebe werden, indem die Gesellschaft eine Eigendynamik erhält, die auf Täter wie auf Opfer gleichermaßen zurückwirkt. So wird Mladen Mladenov, eigentlich eine Täterfigur, Opfer des von der Partei verhängten Verbots, seine Schwester zu treffen und Jordan Apostolov, ebenfalls Täter, wird am Ende des Romans von den Stimmen seiner Folteropfer heimgesucht und endet als geistig verwirrter Einsiedler in den Bergen (EZ, 567ff.). Vermeintliche Opfer dagegen werden schuldig, indem sie wie Vasko den Anweisungen der Partei folgen. Diese Umkehreffekte, die aus Tätern Opfer und aus Opfern Täter machen, könnte man auch im Sinne Nails als die Effekte beschreiben, mit denen die Grenze auf das Innere der Gesellschaft zurückwirkt. An Vasko demonstriert Trojanow, wie sich seine Überzeugung, aus Bulgarien fliehen zu müssen, schrittweise verfestigt: „Die Flucht in die Flucht, der Drang weg weg weg, über die Jahre fasste er in Vasko Wurzeln, wie eine exotische Pflanze im Marmeladenglas auf dem Fenstersims. Im Humus seiner Unzufriedenheit, der kleinen täglichen Frustrationen, gedieh sie bestens, bewässert und gedüngt von Ahnungen und Sehnsüchten.“ (DWG, 41)

An die Schilderung dieser Ausgangslage schließt sich eine Aufzählung von Situationen, in denen sich Unrecht und Vaskos Sehnsüchte kristallisieren, etwa die Enteignung des Weinbergs der Familie durch die Partei (DWG, 41ff.), Vaskos Scheitern bei dem Versuch, die Grenzen Bulgariens durch organisierten Sport als Läufer hinter sich zu lassen (DWG, 45–48) sowie die traumatische Erfahrung des Wehrdienstes (DWG, 49–52). Ausschlaggebend wird letzten Endes jedoch die Erfahrung eines internationalen Studentenkongresses, der von der Partei zwar genehmigt worden war, in seiner Ausführung von Aktivisten, unter ihnen Vasko, jedoch planmäßig gestört werden sollte: „Denn obwohl die Diskussion mit Bedacht nach Mitternacht angesetzt war und somit kein großer Besucherandrang drohte, sollte der Saal mit Treibholz gefüllt werden, um den Gesprächsfluss auf dem Podium zu stören.“ (DWG, 66) Vasko wird zunächst seiner Rolle als „Treibholz“ gerecht, ruft und singt gemeinsam mit den anderen, um die Diskussion auf dem Podium zu übertönen: „Egal, mitsingen. Sein Herz zuckte mit

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den Klappen – wenn du nicht gegen den Strom schwimmen kannst, laß dich treiben.“ [im Original kursiv – A.S.] (DWG, 68) Letzen Endes setzt jedoch genau in diesem Treibenlassen ein innerer Widerstand ein: „Aber ein Gedanke ließ ihn auf dem Heimweg durch die nächtliche Straße nicht los, auf dem langen Gang durch die kalten Straßen, zu einer Nachtzeit ohne Trambahnverkehr: Wie konnte er diesem Strom entkommen, wie ans Ufer gelangen? Das hieße ruhig dasitzen, den eigenen Rhythmus bestimmen, das eigene Leben leben…“ (DWG, 68)

Für das Figurenpaar Dinevs, Svetljo und Sascho, fällt die Entscheidung zur Flucht zu einem späteren Zeitpunkt als bei Trojanows Figuren. Hier ist es maßgeblich die Enttäuschung über die missglückte Wende und das Ergebnis der ersten freien Wahlen, die den Impuls zur Flucht gibt. Während bei Trojanow der Wunsch nach Selbstbestimmung im Vordergrund stand, erscheint das Motiv bei Dinev als Wunsch nach Einflussnahme: „Große Hoffnung setzte Svetljo auf die Wahlen. Es waren die ersten freien Wahlen seit 1946, und er glaubte fest daran, daß die in Sozialisten umbenannten Kommunisten verlieren, all ihre Verbrechen ans Licht kommen und die Schuldigen in jene Lager geschickt würden, die sie einst selbst gebaut hatten. Die Wahlen fanden am 10. und 17. Juni 1990 statt. Die Sozialisten gewannen 47 Prozent der Stimmen und somit die absolute Mehrheit der Sitze im neuen Parlament. […] ‚Was für ein Verbrechen muss eine Partei noch begehen, um nie wiedergewählt zu werden‘, sagte Sascho niedergeschlagen. ‚Ich weiß nur eins, ich will hier nicht mehr bleiben‘, sagte Svetljo.“ (EZ, 524f.)

e.

Fluchtvorbereitungen

Da Flucht im historischen Kontext der Romane bedeutet, eine politisch geschlossene und militärisch gesicherte Grenze zu überwinden, für die keine Form der legalen Grenzüberschreitung vorgesehen ist, gestalten sich die Vorbereitungen entsprechend aufwändig. Zu den Fluchtvorbereitungen gehören die Beschaffung ausländischer Währung, bei Trojanow als „dollari“ bezeichnet, die Versuche, Englisch zu lernen, als „die gelobte Sprache“ (DWG, 71) bzw. die „Sprache der freien Welt“ (DWG, 93), sowie die Zusammenstellung des Reisegepäcks. Dieses stellt sich als besondere Herausforderung dar, bedeutet es doch, das gesamte bisherige Leben auf die Größe eines Koffers zu reduzieren und gleichzeitig die Essenz des bisherigen Lebens und der Heimat mit der Erwartung an das neue Leben und die Fremde zu vereinen. Trojanow zeigt den schwierigen Prozess des Abwägens, Einpackens und Verwerfens vor allem an Jana, die sich nicht zwischen zwei handgefertigten Gobelins, dem „Rosenmeer“ und dem „Segelboot“ entscheiden kann: „Sie sitzt auf dem Bett und bewegt sich nicht. Überwiegend rot der eine, eher blau der andere. Das hilft nicht weiter.“ (DWG,

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79) Beide Motive sind eng mit der bulgarischen Landschaft verbunden: der Schwarzmeerküste im Osten und den Rosenfeldern von Kazanlak. Da die Gobelins keinen praktischen Wert haben, gesteht Vasko nur einem von beiden einen Platz im Fluchtgepäck zu. Janas Unfähigkeit, eine Wahl zu treffen und eines der Motive zurückzulassen, spiegelt ihren Unwillen wider, sich von der Heimat zu trennen. Am Ende entscheidet sich Jana mit einem „Gefühl von Ohnmacht“ für die Rosenpflückerin, den „Oberkörper einer einsamen Pflückerin in wohlriechendem Rot“ (DWG, 77), nicht ohne den zurückgelassenen Gobelin schon zu Beginn der Reise zu vermissen. Ironischerweise geht der so sorgfältig gepackte Koffer und mit ihm der Gobelin gleich zu Beginn der Flucht verloren: „Ein letzter Stoß, der Hand entrissen, auf und davon, knallte er gegen einen Baumstamm, sprang auf und … hinaus fielen hinaus purzelten kleine große Stücke wochenlang abgewogen in Gedanken, in Händen zusammengetragen, Souvenirs an das zurückgelassene Leben […]. Im nächsten Waldstück hatte die Mutter beide Hände frei, um Alex festzuhalten, das letzte, was ihr blieb, auf dem Weg ins Gelobte.“ (DWG, 82)

Auch Dinevs Protagonisten beginnen ihre Reise, zunächst mit dem Zug nach Prag, mit einem kleinen Koffer, den sie auf Anraten ihres Fluchthelfers jedoch vor der Überquerung der Grenze zurückgelassen: „Zieht jetzt das Wärmste an, was ihr habt, und nehmt nur das Wichtigste mit. Die Koffer könnt ihr vergessen, mit denen kommt ihr nicht weit. […] Die beiden sahen ein, daß er recht hatte, also zogen sie sich die wärmsten Kleider an und nahmen nur ihre Maturazeugnisse mit.“ (EZ, 534)

In beiden Romanen überschreiten die Flüchtenden die Grenze somit nahezu ohne persönliche Habe. Dies verleiht der so sorgfältig vorbereiteten Flucht eine existentielle Dimension. Grenzüberschreitungen, die mit dem Verlust des materiellen Besitzes einhergehen, sind ein gängiger Erzähltopos seit der griechischen Mythologie, man denke beispielsweise an den Fährmann Charon, der die Toten gegen die Bezahlung einer Münze über den Styx übersetzt, der die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Hades, dem Totenreich, markiert. Hierzu passt der Begriff, den Francis Stonor Saunders in Bezug auf die Toten vor Lampedusa geprägt hat; er bezeichnet die Grenze als „portal to the underworld“.35 In den beiden hier diskutierten Romanen markiert der Verlust des Gepäcks beim Grenzübertritt einen doppelten Verlust: es gehen nicht nur die mit den vertrauten Gegenständen verbundenen Erinnerungen verloren, sondern auch die mit ihrer Auswahl verbundene Erwartung an das neue Leben. In dieser Auslö35 Saunders, Francis Stonor: Borders. In: London Review of Books 38, 2016, H. 5, S. 7–15, hier S. 7.

Border, Borderscape und Bordering Practices

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schung lässt sich jedoch gleichzeitig die Inszenierung einer Wiedergeburt sehen, zu deren Beginn die Protagonisten quasi nackt aus ihrem alten in ein neues Leben eintreten.

f.

Bordercrossing

Die tatsächliche Überwindung der physischen Grenze stellt innerhalb des erzählten Fluchtgeschehens ein essenzielles Moment dar. In beiden Romanen ist dieser Handlungshöhepunkt etwa in der Mitte der erzählten Handlung angesiedelt. Damit bildet die Überwindung der Grenze also keineswegs den Schluss der erzählten Handlung. Die Grenze selbst wird in den Text nicht als konkret-materielles Gebilde inszeniert, sondern im Sinne des borderscape als Grenzraum dargestellt, der den unkonkreten raumzeitlichen Rahmen für eine Vielzahl unterschiedlicher Situationen und Interaktionen zur Verfügung stellt. Die potenzielle Offenheit des Grenzraumes schlägt sich in den Romanen in der Unmöglichkeit nieder, die Grenze genau zu lokalisieren. Dadurch wird in beiden Romanen die Überschreitung der Grenze gleichzeitig als Suche der Figuren nach der Grenze inszeniert. Bei Dinev lesen wir entsprechend: „Svetljo stapfte vorwärts, den Kompaß in der Hand. Es schneite. Der Schnee reichte an manchen Stellen bis zum Knie, deswegen versuchte Sascho in Svetljos Spuren zu gehen. […] Svetljo und Sascho wußten später nicht, wie lange sie im Schnee versteckt gelegen waren und wann genau das Bellen verstummt war und sie zu laufen angefangen hatten. Und wieviele Zäune sie übersprungen hatten oder durch wieviele sie durchgekrochen waren. […] ‚Svetljo, bleib stehen und schau dir das an‘, rief plötzlich Sascho von hinten. Er stand außer Atem und stützte sich auf ein Straßenschild. Das Schild war auf Deutsch beschriftet. (EZ, 534f.)

Der Grenzraum gibt sich hier im Sinne eines borderscape als Zwischenraum zu erkennen, in dem keine konkrete raumzeitliche Verortung mehr möglich ist – Zeit- und Raumgefühl kommen den Figuren völlig abhanden, bevor sie bemerken, dass sie die Grenze längst, ohne es zu bemerken, überwunden haben. „But the border is not only its sides that touch the states“, versucht Nail die Spezifik der Grenze zu beschreiben, „it is also a third thing: the thing in between the two sides that touch the states.“36 Auch Trojanows Protagonisten stoßen zufällig auf die Grenze, die entgegen ihrer Informationen und Erwartungen mit einer Mauer gesichert ist:

36 Nail, Theory of the Border. 2016, S. 3.

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„Als sie die Grenze erreichten, standen eine Mauer im Weg und ein gelangweilter Soldat Wache. Der Fluß, den sie hätten überqueren sollen, war nicht da. […] Der Vater starrte den Soldaten an, Alex schaute zu seiner Mutter hinab, der Soldat blickte verstört zurück. […] Dem Soldaten schossen Alternativen durch den Kopf, und mit ihnen ging ihm auf, daß es eine, und nur eine, Lösung gab: So zu tun, als sei nichts geschehen. […] Der Vater schnellte hoch wie eine niedergedrückte Feder, die plötzlich losgelassen wird; vor lauter Schwung hatte er Alex über seinen Kopf gehoben, noch ehe der alles begriffen hatte, und ihn auch schon über die Mauer geworfen.“ (DWG, 82ff.)

Dieser Textausschnitt eröffnet eine zusätzliche Deutungsdimension: In der Interaktion der flüchtenden Familie mit dem Grenzsoldaten, der beschließt, sie gewähren zu lassen, erzählt Trojanow einen Moment der Enthierarchisierung. Dies setzt den Grenzraum in Analogie zum Third Space Homi Bhabhas, den dieser treffend mit dem Bild des Treppenhauses illustriert hat. Im Treppenhaus als Schwellenraum beschreibt Bhabha einen Ort symbolischer Interaktion, in dessen Auf und Ab Übergänge zwischen festen Identitäten gestaltet werden und somit hybride Identität jenseits von Hierarchisierung entstehen kann.37 Die Betrachtung von Trojanows „Die Welt ist groß“ hat sich bislang auf den ersten Teil des Romans beschränkt, in dem die Fluchtgeschichte von Jana und Vasko erzählt wird. Nicht außer Acht gelassen werden darf jedoch, dass der dritte Teil des Romans eine Gegenerzählung in Form eines neuen bordercrossing narrative, nun jedoch im Stil einer Abenteuergeschichte, darstellt. Jahrzehnte nach dem schwierigen Aufbruch Janas und Vaskos, den ihr Sohn Alex als Kind erlebt hat, bricht dieser mit seinem Taufpaten zur Weltumrundung auf dem gemeinsamen Tandem auf. Am Ende dieser Reise, bei der topografische Grenzüberquerungen kein Problem mehr darstellen, ist Alex aus seiner sozialen Isolation befreit und von seiner Lethargie geheilt. Grenzüberquerungen und die damit verbundenen Effekte der Alienation werden im Roman also keineswegs negativ bewertet. Im Gegenteil wird diesen ein geradezu heilender Charakter zugesprochen. Im Gespräch der Figuren miteinander wird lediglich die historische Veränderbarkeit und relative Beliebigkeit von Grenzen entlarvt: „Wenn man die Geschichtskarten übereinanderlegt, die den Grenzverlauf in den verschiedenen Epochen darstellen, dann ergibt sich ein Topf weichgekochter Spaghetti. Das reine Durcheinander. Alles pappt zusammen. Jetzt kommen irgendwelche Historiker und wollen die Spaghetti feinsäuberlich trennen. Was für ein Blödsinn. Du hast ein Rezept, nach dem kochst du, und wichtig ist nur, ob es schmeckt oder nicht. Wer will schon wissen, welche Zutaten woher stammen und wieso sie drin sind. (DWG, 152f.)

37 Vgl. Bhabha, Homi: The Location of Culture. London/New York: Routledge 2010, S. 94–120.

Border, Borderscape und Bordering Practices

g.

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Border effects: Outfolding

Nach der von Schimanski entwickelten Systematik von border effects existiert neben dem oben beschriebenen infolding der Grenze, ihrer Multiplikation ins Innere, auch ein outfolding, eine Vervielfachung der Grenze nach außen. Durch bordering-Prozesse, die sich an die Überquerung der topografischen Grenze anschließen, treffen die auf der anderen Seite der Grenze auf zahlreiche weitere Grenzen, deren Überwindung sich teilweise noch schwieriger gestaltet: Während im Niemandsland der topografischen Grenze eine Enthierarchisierung im Wegsehen des Grenzsoldaten in Szene gesetzt werden konnte, erwarten die Protagonisten nun juristische, soziale und sprachliche Grenzen, die teilweise durch Verfahren des othering38, Verfahren des gesellschaftlichen Ausschlusses, der Stereotypisierung oder Ästhetisierung, verschärft werden. Die vermeintliche Überquerung der Grenze wird somit in beiden Romanen als Durchquerung eines Grenzraumes lesbar, die mit der physischen Ankunft in dem Land jenseits der Grenze noch lange nicht abgeschlossen ist. Schimanski fasst dies in der folgenden Überlegung zusammen: „Because border-crossers never completely cross the border, they often bring the border with them, folding it into the inner space of the territory they have entered.“39 Im Text kann sich daher, so Schimanski der Effekt einstellen, dass dieselbe Grenze physisch und symbolisch mehrfach überquert wird „although the border-crosser only crosses the border once in the world of the text.“40 Einen Schwerpunkt setzen beide Romane auf der Überwindung der Sprachbarriere als symbolischer Grenze: Indem Svetljo seiner neuen Freundin erstmalig auf Deutsch von seiner Flucht erzählt, gewinnt er deren Liebe. Das Erzählen der Fluchtgeschichte wird damit zur eigentlichen Initiation in die neue Gesellschaft und ermöglicht das endgültige Verlassen der Transitzone zwischen alter und neuer Existenz. Die Annäherung an die neue Kultur fällt in den „Engelszungen“ zusammen mit der Annäherung an eine neue Partnerin als Vertreterin dieser Kultur. Die Liebeserklärung wird so zur magischen Formel, die der Suche nach dem Weg aus dem Grenzraum ein Ende setzt: „‚Ich hab mich in Dich verliebt.‘ Es war das erste Mal, daß er es in dieser Sprache hörte, deswegen schienen ihm die Worte so fremd zu klingen. Gleich darauf wurden die Zungen in seinem Mund zwei, und es war gut so, denn mit zwei Zungen hatte noch nie ein Mensch sprechen können. Jedes Wort

38 Johan Schimanski/Stephen F. Wolfe: Intersections. A Conclusion in the Form of a Glossary. In: Border Aesthetics. Concepts and Intersections. Hrsg. von dens. New York/Oxford: Berghahn, 2017, S. 147–169, hier S. 153. 39 Schimanski, Crossing and Reading. S. 50. 40 Ebd.

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leidet darunter, das eigene wie das fremde, jedes, das dazwischen gerät und das Spiel zu verderben sucht, zweier einander sehr nahe gekommener Seelen.“ (EZ, 598)

Auch bei Trojanow führt das Überschreiten der Sprachgrenze zur Rehabilitation des Helden. Die Überschreitung findet hier jedoch in umgekehrter Richtung statt, denn Alex, Sohn von Jana und Vasko, kann sich erst in dem Moment aus seiner Isolation und Erstarrung, dem „fortgeschrittenen Stadium der Oblomowitis“ (DWG, 219) lösen, als er nach jahrzehntelange Abwesenheit nach Bulgarien zurückkehrt und dort mit seiner Großmutter Slatka erstmalig wieder Bulgarisch spricht: „Slatka hat sich bei ihrem Enkel untergehakt und bestürmt ihn mit Fragen. Über die Flucht, das Lager, die Eltern, die Schulzeit, das Studium, über sein jetziges Leben. Und Alex kann endlich erzählen.“ (DWG, 273)

Festzuhalten bleibt, dass der bordercrossing narrative beider Romane die Figuren vor multiple Grenzüberquerungen stellt. Statt der Überwindung einer klaren, topografischen Trennungslinie finden sie sich vielmehr in einem unüberschaubaren Raum wieder, in dem sie negativen Effekten wie dem beschriebenen othering ausgesetzt sind, Interaktionen zugleich jedoch selbst aktiv gestalten. Bezogen auf die Grenzthematik führen beide Romane Erfolgsgeschichten vor.

IV.

Ausblick

Ausgehend von diesem Einblick in die inhaltliche Grenzkonzeption beider Romane, die an Passagen zu Fluchtvorbereitungen, der physischen Überquerung der Grenze und der Überwindung der Sprachgrenze vorgestellt wurde, stellt sich nun die Frage nach der Bedeutung dieser Grenzkonzeption für die Form der Romane. Inwieweit finden die in den Texten inszenierten Grenzüberschreitungen ein Äquivalent in der Überschreitung künstlerischer Grenzen im Text? Ist die thematische also analog zu einer formalen Entgrenzung? Und welche Bedeutung hat diese Analogie für die Wirkmächtigkeit des Textes als Kunstwerk? Als Anhaltspunkte einer verbindenden Ästhetik beider Texte vor dem Hintergrund einer Écriture migrante können an dieser Stelle die Komplexität der narrativen Struktur, die ihren Ausdruck in erzählerischer Polyphonie findet ebenso aufgezählt werden, wie die Suggestion von Oralität der Texte und die Intertextualität, die sich vor allem in Bezug auf die Schelmenfiguren ausführen ließe.

Teil IV. Poetische Räumlichkeit und Gattungsgrenzräume

Stefan Hajduk (Adelaide)

Grenzphänomene zwischen Imaginärem und Ironie. Erzählte Raumwerdung in Robert Musils „Törleß“ (1906) und „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1930–1943)

Ausgehend von grundsätzlichen Überlegungen zum Phänomen ‘Grenze’ wird dessen poetologische Bedeutung zunächst mit Blick auf Musils Werk insgesamt erläutert. Darin lassen sich seit der Debatte um den spatial turn neben der topographisch konkreten Räumlichkeit, etwa von Staatsgrenzen, auch die topologisch phänomenale Räumlichkeit des Liminalen besser verstehen. Diese bildet in Musils Perspektive ästhetisch-ethischer Reflexionen den narrativen Fluchtpunkt seiner Romane. Die im Traum wie in der Ironie vorherrschende ‚gleitende Logik der Seele‘, von der erzählt wird, führt statische Konzepte vom Raum als (transzendentale) Anschauungsform, als (physikalischer) ‚Container‘ oder als (geopolitisches) Territorium an die Grenzen ihrer epistemischen, positivistischen bzw. imperialen Logik. In Musils Poetik des Raums wird der substanzlogische Begriff vom Raum narrativ verflüssigt. Die so im „Törleß“ als Schwellenphänomen untersuchte Räumlichkeit macht deutlich, wie das Internat im Sinne einer Heterotopie der österreichisch-ungarischen Monarchie die raumpoetische Matrix für das untergehende ‚Kakanien‘ im „Mann ohne Eigenschaften“ bildet. Proceeding from cardinal thoughts on the phenomenon of ‘borderlines’, its poetological meaning is at first explained in reference to Musil’s oevre altogether. Apart from the topographically concrete spatiality therein, e. g. state borders, one can (ever since the debate on a spatial turn) better understand the spatiality of the liminal on both a topological and a phenomenal basis. In Musil’s perspective of aesthetical-ethical reflections, liminality constitutes the narrative vanishing point of his novels. Here, the narrated ‘gliding logics of the soul’ that is prevalent in dreams and in irony, reveals the limits of epistemic, positivistic and imperial logic – insofar these are related to concepts of space as (transcendental) form of intuition, as (physical) container and as (geopolitical) territory respectively. Musil’s poetics of space liquifies – on a narrative basis – the idea of space within the logic of substance. Spatiality, thus examined as liminality in “Törleß”, illustrates how the boarding school in the sense of a heterotopia of the Austrian-Hungarian monarchy forms the spatial-poetic matrix for the sinking ‘Kakanien’ in “The Man Without Qualities”.

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Stefan Hajduk

I. Grenzen beziehen ihre Bedeutungskraft aus den Rändern des Realen, indem sie – ohne selbst je da zu sein1 – über sich hinausweisen. Mit dem Anfang und Ende eines Staatsgebiets etwa markieren Grenzen nicht nur dessen räumliche Ausdehnung. Vielmehr symbolisieren sie damit auch ihre eigene zeitliche Relativität, ihren politischen Konstruktionscharakter sowie kulturelle Differenzqualitäten. In Krieg und Frieden, im Stillstand wie im Wandel der Geschichte werden Grenzen bewahrt und verletzt, verschoben und neu gezogen.2 Fast scheint es, als wären sie nicht nur identitätsstiftend wie der Raum, sondern auch fließend wie die Zeit; als wären sie selbst eigentlich oder fast nichts, wenn man bedenkt, dass eine Grenze entweder vor oder hinter einem liegt, noch nicht oder aber schon überschritten ist. Verliert sich die Grenze zeitlich zu einem Moment ihrer Überschreitung, so schrumpft sie räumlich zur Figur der Schwelle. Die Materialität von Grenzen und ihrer Räumlichkeit – auch dort, wo diese psychisch und physisch, kulturell und natürlich sind – ist durch deren symbolischen Vollzugscharakter gekennzeichnet.3 Im Werk Robert Musils ist das komplexe Phänomen Grenze nicht nur aufgrund von dessen symbolischer Ubiquität präsent, die ihm allgemein in kulturanthropologischer und besonders in ästhetisch-phänomenologischer Hinsicht zukommt. Vielmehr ist dem Grenzphänomen in Musils Erzähltexten eine konzeptuelle, poetologische Bedeutung beizumessen. Diese zeigt sich sowohl im abstrakten Sinne des Liminalen an erzählten Grenzen von oder zu, wie z. B. im „Mann ohne 1 Vgl. in Analogie zu Thomas Machos „Todesmetaphern“ (1988) die Eingangsätze zu Jean-Luc Nancys Reflexionen zum Thema Grenze. Nancy, Jean-Luc: Ungrenze. In: Lettre international 115, 2016, S. 16–17. 2 Dass es in Literatur nicht ausschließlich um metaphorische Grenzen geht, sondern durchaus auch um Grenzen in ihrer physisch konkreten und als räumliche Trennlinie manifesten Bedeutung, bildet den Themenschwerpunkt im Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie: Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur. Hrsg. v. Eva Geulen/Stephan Kraft. Berlin: Erich Schmidt 2010. Der konkrete und nicht vor allem imaginative Raum rückt bereits ins Zentrum des literaturtheoretischen Untersuchungsfeldes in der Dissertation von Katrin Dennerlein: Narratologie des Raumes. Berlin: de Gruyter 2009. Dabei wird jedoch unter Ausblendung des spatial turn die Alltagsvorstellung vom Raum als Container in die Voraussetzungslogik der raumtheoretischen Erzählanalyse so einbezogen, dass die ästhetischen, phänomenologischen und künstlerischen Aspekte der narrativen Raumgenese systematisch unterschätzt werden. Fiktionale Texte sind für Dennerlein letztlich nur Bewahrheitungsexempel für ein ebenso herkömmliches wie bloß thesenhaftes Raumschema und für dessen auf substanzlogische und anthropologisch ahistorische Grundannahmen gestützte Theorie. 3 Dies macht die Räumlichkeit insgesamt für die Kultur- und Literaturforschung der letzten Jahre zu einem bevorzugten Thema. Siehe u. a. Böhme, Hartmut (Hrsg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart: Metzler 2005; Günzel, Stephan (Hrsg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld: Transcript 2007.

Grenzphänomene zwischen Imaginärem und Ironie

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Eigenschaften“ bei der ‚Reise an den Rand des Möglichen‘; als auch im konkreten Sinne des Topologischen an den erzählten Grenzen zwischen, wie z. B. dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn in der politisch-kulturellen Parallelaktion zum monarchischen Jubiläumsjahr 1918. In Musils Romanen und mehr noch in seinen darstellungsästhetisch experimentellen Erzählungen wird indes auch thematisiert, dass „es feine, leicht verlöschbare Grenzen rings um den Menschen gibt“ (GW II, S. 104). Und solche zwischen dem Selbst, der Welt und Anderem verlaufende Grenzen sind – eine Formulierung des Autors des „Mannes ohne Eigenschaften“ aufgreifend – durchaus keine ‚eindeutige Angelegenheit‘. Solcher Mangel an Eindeutigkeit von Grenzen wie auch an Deutlichkeit ihrer Darstellung ist bei Musil kein Versäumnis, sondern erzählökonomisches Kalkül in seiner Raumdarstellung. Ambiguität und Ambivalenz gehören zur narrativen Struktur von Grenz- und Raumdarstellungen und tragen zu deren ästhetischem Reiz bei. Dies gilt zumal dort, wo die Ziehung, Fragmentierung sowie Auflösung von Grenzen der Gestaltung von Personen samt deren körperlicher Integrität, psychischer Stabilität und sexueller Identität dient. Dies lässt sich besonders an den weiblichen Erzählperspektiven in den „Vereinigungen“ und „Drei Frauen“ beobachten, aber auch an den männlichen Hauptfiguren im „Törleß“ und „Mann ohne Eigenschaften“.4 Geradezu im dystopischen Gegenspiel zu Ulrichs „Utopie der Exaktheit“ verschwimmen die Grenzen seiner individuellen Subjektivität zu schwellenhaften Räumen, wenn die „Utopie der Liebe“ ihm die Frage nach dem rechten Leben beantwortet.5 Schon beim jungen Törleß überschreiten Grenzen ihre bloße Linearität zu Zonen der Liminalität, wo Identitätsstiftung und -auflösung konfundieren.6 4 Siehe zu den „Vereinigungen“ weiterhin, Henninger, Peter: Der Buchstabe und der Geist. Frankfurt/Main: Lang 1980; zum „Törleß“, die psychoanalytische Deutung fortschreibend, Webber, Andrew: Sense and Sensuality in Musil’s Törleß. In: German Life and Letters 41, 1988, H. 2, S. 106–130; aus der jüngsten Forschung über Musils Frühwerk und mit analytischem Fokus auf das ästhetische Stimmungsphänomen die Dissertation von Sergej Rickenbacher: Wissen um Stimmung, Diskurs und Poetik in Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törless“ und „Vereinigungen“. München: Fink 2015. 5 Robert Musil wird im fortlaufenden Text zitiert nach der zweibändigen Ausgabe der Gesammelten Werke, hrsg. v. Adolf Frisé, Reinbek 1978. Band I („Der Mann ohne Eigenschaften“) und Band II („Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik“) werden GW I und GW II abgekürzt, gefolgt von der arabischen Seitenzahl für die Seitenangabe in runden Klammern: hier also GW I, S. 247. 6 Dementsprechend konzentriert sich Mainberger auf die „Suspension der grenzziehenden, primär Ordnung schaffenden Leistung der Linie“ und deutet Törleß emotionale Verwirrung „als Störung dessen, was im Visuellen normalerweise für Orientierung sorgt: der begrenzenden, gegenstandsidentifizierenden, denotierenden Linien und damit der eindeutigen Relation von Figur und Grund.“ Mainberger, Sabine: Visuelle Konjunktive. Überlegungen zu Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ und „Die Amsel“. In: MLN 125, 2010, H. 3, S. 602–625, hier S. 610f. (German Issue: Literature and the Sense of Possibility/Der Möglichkeitssinn von Literatur).

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Immer wieder fließt in Musils Texten – sei es inspiriert von Nietzsche oder Emerson, dem Fin de Siècle samt neuromantischer Mystik oder von der seinerzeit aufkommenden Tiefenpsychologie – entlang der phänomenologischen Innen-Außen-Achse ein Strom von Bildern, in deren Fluchtpunkt Raum- und Grenzerfahrungen konvergieren.7 In dieser existenzmetaphorischen Perspektive kann sogar Musils Satire auf das österreichisch-ungarische Kakanien als ironisches Reflektieren gelesen werden, in welchem eine psychopolitisch allgemeine sowie eine subjektlogisch individuelle Identitätsproblematik sich in einer staatlich kollektiven spiegelt.8 Die philosophisch theoretische ‚Unrettbarkeit des Ich‘ (Ernst Mach) verdoppelt sich zur politisch praktischen Unrettbarkeit des Habsburgerreiches.9 Schließlich sind es die ästhetisch-ethischen Versuchsanordnungen des „anderen Zustandes“, die im Roman „Der Mann ohne Eigenschafen“ den schwankenden Konstitutionsgrund von Grenzen im Unbegrenzten entdecken und Eigenschaftslosigkeit mit Grenzenlosigkeit assoziieren. Indes ist bei Musil eine Poetologie der Grenze nicht erst im Motivkreis des „anderen Zustandes“ zu beobachten, den der Autor selbst als den Motor seiner schriftstellerischen Existenz bezeichnete.10 Bereits Törleß’ denkerische und mathematische Faszination für das Imaginäre beruht in dieser ihn beunruhigenden Entdeckung, dass das Unbegrenzte die Bedingung der Möglichkeit von Grenzen ist und dynamische Differenz die Bedingung der Wirklichkeit von personaler, staatlicher wie auch semantischer Identität ist. Damit ist bereits angedeutet, wie Törleß’ Verwirrungen als Knäuel von Grenzlinien konzipiert sind; und dass also die erzählte Lebensphase einer Adoleszenzkrise über sich hinausweist, namentlich auf Fragen nach der humanräumlichen Existenz als Subjektivierung von Grenzerfahrungen.

7 Zum Einfluss Nietzsches siehe Dresler-Brumme, Charlotte: Nietzsches Philosophie in Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Frankfurt/Main: Athenäum 1987; zum Einfluss des zeitgenössischen Diskurses über die Innen/Außen-Achse Diersch, Manfred: Draußen, Drinnen und Ich. Ernst Machs Spiegel der Erkenntnis als Anregung für österreichische Erzählkunst des 20. Jahrhunderts. In: Genauigkeit und Seele. Zur österreichischen Literatur seit dem Fin de siècle. Hrsg. v. Josef Strutz/Endré Kiss. München: Fink 1990, S. 29–42. 8 Ausführlich zur Bedeutung des Satirischen bei Musil Arntzen, Helmut: Satirischer Stil. Zur Satire R.Ms. im „Mann ohne Eigenschaften“. Bonn: Bouvier 1960. 9 Zum wichtigen Verhältnis zu Mach siehe über Musils Dissertation hinaus aus der reichhaltigen Forschungsdiskussion Fick, Monika: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 276–84; Mehigan, Tim: Robert Musil, Ernst Mach und das Problem der Kausalität. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71, 1997, H. 2, S. 264–287; und zuletzt Pieper, Hans-Joachim: Musils Philosophie. Essayismus und Dichtung im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches und Machs. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. 10 Zit. n. Kaiser, Ernst/Wilkins, Eithne: Robert Musil. Eine Einführung in das Werk. Stuttgart: Kohlhammer 1962, S. 297.

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Es geht auch im „Törleß“ schon um mehr als entwicklungspsychologische Probleme der Identitätsbildung von österreichischen, männlichen Jugendlichen Anfang des 20. Jahrhunderts. Musil bestand wiederholt darauf, dass sein Erstlingsroman (1906) keineswegs den seinerzeit modischen Subgenres des psychologischen Pubertäts- und speziell Internatsromans zuzurechnen sei. Als habe er irreführenden oder doch reduktiven Lesarten vorbeugen und die zu erwartende Klassifikation abwenden wollen, setzte er ein langes Zitat von Maurice Maeterlinck vor den Anfang seines Romandebüts. Dieses geradezu exemplarisch die Stimmung seiner Epoche atmende Zitat enthält bereits deutliche Hinweise auf den Erfahrungs- und Darstellungszusammenhang von poetischer Räumlichkeit und Subliminalität, wie er dann im Roman entfaltet wird: „Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.“11

Das auf Musils lebenslange Vorliebe für ‚taghelle Mystik‘12 einstimmende Motto des späteren Nobelpreisträgers Maeterlinck (1911) spiegelt die symbolistische „Tiefe der Abgründe“ von existenzieller Erfahrung und Sprachmagie auf der „Oberfläche“ unseres pragmatisch-rationalen Tagesbewusstseins (GW II, S. 7). Durch Aufbietung einer traditionellen Metaphorik wie der von aufklärerischer Lichtwerdung und romantischer Verklärung des „Finstern“, von epistemischem Blick (auf den „Wassertropfen“) und ozeanischem Gefühl (vom „Meere“ als metaphysischer Ganzheit) wird ein Spannungsfeld vorbereitet, auf dem rhetorische Figuren wie Synekdoche (Pars pro toto) und poetische Polarbegriffe („Abgründe“/ „Oberfläche“; „Wassertropfen“/„Meere“; „Schatzgrube“/„Tageslicht“; „wunderbare Schätze“/„falsche Steine“) zusammengezogen werden. Dieser binärlogisch grundierte und kontrastsymbolisch aufgebaute Spannungsbogen zwischen dem Pol des Aussprechens und Bewusstseins, der Erkenntnis und Explikation einerseits, und dem Pol des Andeutens und der Ahnung, der Werte und Implikation andererseits, wird schließlich in die Äquidistanz einer Drittposition aufgelöst. Die disjunktive Alternative der Oppositionen wird jedoch nicht ins Mehrlogische überschritten, sondern auf der Schwelle von epistemischer zu ästhetischer Erfahrung suspendiert, wenn es heißt: „und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern 11 Maeterlinck, Maurice: Der Schatz der Armen. Übers. v. Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Florenz 1898. 12 Siehe das Kapitel 46 „Mondstrahlen bei Tage“ in „Der Mann ohne Eigenschaften“, GW I, S. 1087–1095, hier S. 1089.

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unverändert.“ Hat doch die um ihren Wert sich betrogen fühlende Erkenntnis „nur falsche Steine und Glasscherben“ gebracht. In diesem Augenblick der Enttäuschung aber wird die Erkenntnis zurückgelenkt auf das ihr selbst vorangehende Wahrnehmen der Wirklichkeit im Latenzmodus der Implikation. Maeterlincks sentenzhafte Formulierung artikuliert mit symbolistischer Verdichtung die epochale Erfahrung der Krisen der Sprache, der Wissenschaft und der Vernunft um 1900. Damit ist zugleich der Blickwinkel eingestellt, von dem aus meine Relektüre des „Törleß“ einen topologischen Ansatz zu Musils kulturhistorischer Diagnostik entziffert, wie sie dann im „Mann ohne Eigenschaften“ als Reflexion der sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Situation vor dem Ersten Weltkrieg entfaltet wird. Vorbereitet durch politische Überlegungen zum Phänomen ‚Grenzraum‘ (II.) werde ich zeigen, dass im „Törleß“ eine wahrnehmungsästhetische Dimension von Grenzräumlichkeit die narrative Basis bildet, auf der jene epochalen Erfahrungen mit Fragen der Erkenntnistheorie und Mystik, der Ethik und Pädagogik verbunden werden (III.). Abschließend werde ich (IV.) zumindest andeuten, wie diese räumliche Grenzerfahrungsdimension im Hauptwerk, wo sie den Namen „anderer Zustand“ trägt, den narrativen Fluchtpunkt des facettenreich perspektivierten Wegs von Kakanien in seinen Untergang im Ersten Weltkrieg bildet. Zunächst folgen einige Überlegungen zur generellen, politischen Dimension von Räumen und Grenzen, um dadurch an Musils spezifisch poetisches Schaffen von Grenzräumen heranzukommen, die dann hinsichtlich ihrer Bedeutungen in beiden Romanen beleuchtet werden.13 Politisch konkrete Grenzen und historisch rekonstruierbare Räume14 – wie die k. und k. Doppelmonarchie ÖsterreichUngarn, später z. B. auch ‚der Westen‘ als kulturell erweiterte Sphäre – besitzen eine protophänomenologische Basis, insofern sie individuelle Handlungssituationen wie auch kollektive Reflexionshorizonte vorreflexiv mitbestimmen.15 Auf 13 Einen theoretischen und historischen Überblick zum Raumthema bietet Rau, Susanne: Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen. Frankfurt/Main: Campus 2013; ergänzend und spezialisierend zum Raumthema siehe Schlitte, Annika/Hünefeldt, Thomas/Romic, Daniel/Loon, Joost van (Hrsg.): Philosophie des Ortes. Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Bielefeld: Transcript 2014; historisch grundlegend Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006; Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumwissenschaften. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009. 14 Diese bilden den Ausgangspunkt der raumtheoretischen Revisionsarbeit bei Geulen, Eva/ Kraft, Stephan (Hrsg.): Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur, Sonderhefte der Zeitschrift für Deutsche Philologie 129, Berlin: Erich Schmidt 2010. 15 Zur phänomenologischen und ontologischen Dimension des Raums siehe Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare gefolgt von Arbeitsnotizen. Hrsg. v. Claude Lefort. München: Fink 2004. Auf phänomenologischen Einsichten aufbauend hat sich der Raum zu einem kulturwissenschaftlichen Forschungsfeld entwickelt; siehe dazu etwa Weigel,

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dieser Grundlage sind die von sozialen Großgebilden ausgefüllten und militärisch gesicherten Geo-Räume – zumeist unterhalb der Bewusstseinsschwelle zu ihrer Entstehungsgeschichte – mit vorreflexiven Prozessen des Wahrnehmens und des Symbolischen, des Existenziellen wie des Imaginären verbunden. In verstärktem Maße gilt dies für solche Räume bzw. Teile von Räumen, in, vor oder nach denen Grenzen sich befinden oder aber für Räume, die (selbst) Grenzen sind: für Grenzräume. Grenzräume zeichnen sich im Allgemeinen unter abstraktem Aspekt ebenso wie im Besonderen z. B. unter politischem Aspekt dadurch aus, dass sie als Grenzen – wie Hegel nochmals in Erinnerung rief – nicht nur trennen, sondern auch verbinden. Grenzen grenzen nicht nur ein und aus. Sie können sich auch öffnen, Kontakte herstellen, sie verschieben oder gar aufheben. Das qua Abgrenzung sich Einschließende ist in seinem Definitionsgrund ein Ausschließendes, wie das von außen Eingeschlossene noch in seiner Identität-mit-sich eine definierende Wirkung des Ausgeschlossenen ist. Solche politisch oder kulturell, sozial oder individuell konstitutiven Wechselbeziehungen – im posthegelianischen Duktus: Dialektiken – spielen nach wie vor eine eminent wichtige Rolle, zumal in der gegenwärtigen System-, Gesellschafts- und (Inter-)Kulturtheorie. Und wie rasch die entsprechenden Praktiken sich historisch wandeln können, es etwa zu einem Umschlagen von Inklusion zu Exklusion kommen kann, zeigt einmal mehr unsere politische Gegenwart. Neo-Autokratie, Brexit und Trumpismus, verstanden als nostalgisch machtzentrierte und ressentimentgeladene Mischungen aus Nativismus, Populismus und Nationalismus sowie die moralisch-kulturelle Enthemmung von politischen Narzissmen, wurden und werden ebenso durch die entgrenzten Räume der historischen Imagination (z. B. von einstiger imperialer Grandeur) wie auch durch die angrenzenden Räume der digitalen Kommunikation mit ermöglicht, die durch propagandistische Echokammern die soziopolitische Arena beschallen und mitkonfigurieren. So offensichtlich die Probleme der Gegenwart – man braucht dazu nur Stichworte wie Globalisierung, Klimawandel oder Migration – mit Grenzen und (geographischen, ökologischen wie virtuellen) Räumen verbunden sind, so unübersehbar mangelt es im Feld des Politischen an reflektierten Begriffen von Raum und Grenze. Hingegen findet seit einigen Jahrzehnten eine Grundlagenreflexion von Phänomenen wie Grenze oder Schwelle unter räumlichen, kinetischen und performativen Aspekten in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung statt.16 Insbesondere bei der Analyse von literarischer Grenzräumlichkeit rücken Sigrid: Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik 2, 2002, H. 2, S. 151–165. 16 Siehe z. B. die von Johannes Bobrowskis „Sarmatien“ her eingestellte Perspektive auf Grenzräume bei Egger, Sabine: Dialog mit dem Fremden. Erinnerung an den „europäischen Osten“ in der Lyrik Johannes Bobrowskis. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009.

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ästhetische Qualitäten in den Vordergrund, die in politisch, historisch oder auch urbanistisch zentrierten Diskursen über Interkulturalität, Transkulturalität und Architektur zumeist weitgehend im Hintergrund bleiben. Während hier Zwischenund Grenzräume vor allem hinsichtlich ihrer Vermittlungsleistung zwischen Eigenem und Fremdem, Privatheit und Öffentlichkeit oder Interieurs und Exterieurs gesehen werden, können sie in avancierter Literatur auch diesseits hermeneutischer Ansprüche, also in der ästhetischen Texterfahrung selbst entdeckt werden – etwa als narrative Schwellenphänomene, als fiktionale Existenzsphären oder als poetische ‚Weltinnenräume‘ (Rilke). Durchaus meint das Prädikat ästhetisch hier zunächst spezifisch künstlerische Gestaltungen von anderweitig bereits konsolidierten, etwa ideologisch und militärisch befestigten Grenzräumen, wie z. B. dem von Selbstschussanlagen gesäumten Niemandsland entlang der innerdeutschen Grenze bis 1989 oder dem von Verlaufslinien der Front in Kriegen oder von Transitbereichen von Staatsgrenzen. Ebenfalls wäre an sogenannte natürliche Grenzen in Form von geologischen, meteorologischen oder landschaftlichen Ensembles zu denken. Darüber hinaus, im Sinne der formalen Ästhetik, sind die Begriffe Grenze und Raum als Kategorien aufzufassen, die ihrerseits zu den Grundlagen künstlerischer Gestaltung überhaupt gehören.17 Unter diesem generalisierten und generativen Aspekt ästhetischer Grenzräumlichkeit erweitert sich unser Begriff von Ästhetik um Bedeutungsvalenzen der Aisthesis. Dementsprechend lassen sich aisthetische, d. h. die wahrnehmungssinnlichen Phänomenqualitäten von Grenzräumen erkunden, wo diese im literarischen Fokus zur Erscheinung kommen und mitunter die textuelle Sinnstiftung organisieren. Bei Robert Musil tun sie dies in einer Vielzahl von Darstellungsfunktionen, die ihr poetisches Gravitationszentrum in der Vergegenwärtigung von Gedanken und Gefühlen in individuell gezeichneten Vollzugsformen hat. Dem ästhetischen Darstellen von und durch Räumlichkeit und Räume, von und durch Liminalität und Grenzen kommt vor allem im Frühwerk hohe poetologische Bedeutung zu. Dies gilt für „Drei Frauen“ ebenso wie für „Die Schwärmer“, mehr noch aber für die beiden 1911 unter dem Titel „Vereinigungen“ zusammengefassten „Die Versuchung der stillen Veronika“ und „Die Vollendung der Liebe“.18 In diesen auch als Novellen bezeichneten Erzählungen kommen dynamische Sequenzen von Empfindungen und Vorstellungen, insbesondere von Raumgefühlen und 17 Vgl. Henrich, Dieter/Iser, Wolfgang (Hrsg.): Theorien der Kunst. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992. 18 Zu letzteren siehe Lönker, Fred: Poetische Anthropologie. Robert Musils Erzählungen „Vereinigungen“. Paderborn: Fink 2002; Schiffermüller, Isolde: Veronika/Vera Ikon. Figur und Inschrift der Frau in Robert Musils Novelle „Die Versuchung der stillen Veronika“. In: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Gerhard Neumann. Stuttgart: Metzler 1997, S. 252–271.

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Grenzerfahrungen durch eine rhizomatisch entgrenzte Metaphorik zur Darstellung. Indes wollen wir uns hier auf den zuvor erschienenen Roman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ und daran anschließend auf Musils Magnum Opus „Der Mann ohne Eigenschaften“ konzentrieren. Denn in diesen beiden Romanen lassen sich erzählte Grenzräume beobachten, die auf unterschiedliche aber ähnlich unterschwellige Weise eng mit dem kulturellen Zeitraum ihrer Entstehungsepoche verbunden sind.

II. Ich versuche nun diese erzählten Grenzräume im „Törleß“ soweit auszuleuchten, dass erzähltechnische, kulturanthropologische und psychohistorische Perspektiven derselben erkennbar werden. Da sind zunächst die äußerlich sowie in sich abgegrenzten Räume des östlichen Reichsgebietes Österreich-Ungarns, einer kleinen Provinzstadt und in ihr das Internat für „die Söhne der besten Familien des Landes“.19 Diese topologische Abfolge von größeren zu kleineren Raumformaten wird in den Anfangssätzen durch das erzähltechnisch gängige Zooming (-in) eingestellt und im Fortgang narrativ verlängert über die Innenräumlichkeiten des Konvikts bis hin zum psychischen Binnenraum. Die erzählerisch ebenso gekonnt wie konventionell zugreifende Lokalisierung erfolgt zunächst über eine Eisenbahnstation „an der Strecke, welche nach Rußland führt“ (GW II, S. 7). Die Bedeutung der Kleinstadt wird durch ihre technisch zivilisatorische Anbindung ans größere Ganze des Habsburgerreiches relativiert, das seinerseits als ein territorial Ausgedehntes vor der sich endlos streckenden Weite des östlichen Nachbarn darstellt. Die genaue Beschreibung dieser Station samt unmittelbarer Umgebung fängt die Atmosphäre einer provinziellen Eintönigkeit, fast a-kulturellen Verlorenheit ein, wie sie die damalige Grenzregion zu Russland repräsentierte. Dieses historische Galizien kommt in ähnlicher Weise und etwas später in Joseph Roths „Radetzkymarsch“ in einem dann bereits vergänglichkeitsmelancholischen Rückblick auf die untergegangene Doppelmonarchie zur Darstellung.20 Vor diesem beinahe als wilde Einöde von kultur19 „Denn die kleine Stadt lag weitab von der Residenz, im Osten des Reiches, in spärlich besiedeltem, trockenen Ackerland. Der Grund, dessentwegen Frau Törleß es dulden mußte, ihren Jungen in so ferner, unwirtlicher Fremde zu wissen, war, daß sich in dieser Stadt ein berühmtes Konvikt befand, welches man schon seit dem vorigen Jahrhunderte, wo es auf dem Boden einer frommen Stiftung errichtet worden war, da draußen beließ, wohl um die aufwachsende Jugend vor den verderblichen Einflüssen einer Großstadt zu bewahren“ (GW II, S. 8). 20 Roth, Joseph: Radetzkymarsch. Roman. Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch, o. J.; siehe zu Galizien als Grenzland vor allem S. 126–137, 152–171; weitere einschlägige Texte zum Grenzthema wären „Hotel Savoy“ (1924), „Der stumme Prophet“ (1929), „Hiob“ (1930),

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fremder Provinzialität skizzierten Hintergrund, der auch als naturhaftes Gegenbild zur zivilisatorischen Blüte der Residenzstadt entworfen ist, hebt sich die k.u.k. Kadettenanstalt als ein narrativer Eigenraum ab. In dem Maße, wie die Physiognomie der bürgerlich-aristokratischen Gesellschaft, deren Kinder im Internat erzogen werden, im nicht weitererzählten Hintergrund verblasst, gewinnt der schulische Erziehungsraum den Status eben jener Gesellschaft en miniature.21 Durch soziale Leere und „furchtbare Gleichgültigkeit“ (GW II, S. 16) nach außen abgeschlossen, verdichtet sich das teils gewächshausartige, teils beklemmende Innerhalb der alten Konviktsmauern umso disziplinierter zu Formen des Einübens von Anpassung, Unterwerfung und Autoritätsakzeptanz sowie des kompensatorischen Ausübens von persönlicher Macht, psychischer und physischer Gewalt. Unter den auch raumsemantisch rekonstruierbaren Bedingungen der „Enge des Instituts“ (ebd.)22 und des fast unausgesetzten Zusammenseins seiner Insassen wirken die intersubjektiven und psychologischen Mechanismen von sozialer Scham, sexueller Begierde und sadistischer Lust, von kompetitiver Demütigung bis hin zu brutaler Unterdrückung und experimenteller Bestrafung umso stärker.23 Analysiert man das Handlungsgeschehen unter der raumschematischen Optik einer Verschachtelung ins Kleinere (wie man sie von den russischen Matrjoschka-Puppen kennt), dann erscheint das Internat der jungen Kadetten als Heterotopie (Foucault) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Das in der pädagogischen Sphäre von individuell gezeichneten Charakteren wie Beineberg, „Tarabas“ (1934), „Das falsche Gewicht“ (1937), „Der Leviathan“ (1940). Der in Ost-Galizien geborene Österreicher Roth, der sich als reisender Journalist durch Mittel-, Ost- und Südosteuropa bewegte bevor er die Grenzerfahrungen des Exils machte, ist freilich gerade heute nicht nur in seiner Habsburgnostalgie zu beachten. Vielmehr ist dieselbe in ihrem nationalismuskritischen Zusammenspiel mit seinem „Bekenntnis zu Deutschland“ (1931) als Kulturnation für die gegenwärtigen Diskurslage interessant. Siehe hierzu den Abschnitt „Die nationale Identität eines Kosmopoliten“ im Kapitel „Die ‚unnatürliche’ Grenze. Joseph Roth und die Kritik der Grenze in der Literatur der 20er Jahre“, in dem für das Thema der Literatur der Grenze wichtigen Buch Lamping, Dieter: Über Grenzen. Eine literarische Topographie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001, S. 19–36, hier S. 34ff. 21 Zu einer thesenhaften Verbindung des Themas Raum mit Aspekten der sozialen Klasse im Törleß siehe Sherman, Matthew J.: „Zwischen zwei Welten zerrissen“. Class Identity and Spaces of Liminality in Musil’s Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. In: Journal of Austrian Studies 49, 2016, H. 3, S. 65–90. 22 Und der Weite der östlichen Landschaft gegenüber dieser Enge; siehe zudem weitere Oppositionspaare im bachtinschen Sinne einer methodisch anzuwendenden Raumsemantik: Gebäude/Dachstuhl, Innenraum/Garten, Internat/Dorf, Wald/Bordell, Kleinstadt/Residenzstadt; Provinz/Vielvölkerreich u. a. 23 Zum strukturell-semantischen Zusammenhang von Räumlichkeit mit für den „Törleß“ zentralen Themen wie Wahrnehmungssinnlichkeit, Körperlichkeit, Gefühl, Atmosphäre, Sexualität und Zeitlichkeit ist immer noch brauchbar die textlinguistisch orientierte Studie von Frier, Wolfgang: Die Sprache der Emotionalität in den „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ von Robert Musil. Bonn: Bouvier 1976, insb. S. 147–265.

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Reiting und Basini in Szene gesetzte Einzelne wird lesbar als das subliminale Besondere des Allgemeinen, also der kulturellen Sphäre. Mit einem weiteren Schritt trifft die Analyse mit der Hauptfigur freilich auf eine Form der Repräsentation, die nicht länger umstandslos als ein verkörperndes Pars pro Toto aufgefasst werden kann. Zwar spricht aus Törleß durchaus das epochale Wien um 1900; und damit findet in der Tat die Zeitstimmung gewissermaßen ihre menschlich deklinierte Stimme. Jedoch wird der von der historischen Konstellation der Jahrhundertwende ausgehende Determinismus zu einer Konditionierung abgeschwächt. Und zwar in dem Maße, wie von Subjektivität als einem offenen Raum entgrenzter Möglichkeiten von Weltbeziehung überhaupt und von individuellen Selbstentwürfen erzählt wird. Zugleich lässt diese philosophisch-existenzielle und zugleich psychologischhistorisch aufschlussreiche Perspektive die Schrecken der Menschenexperimente Reitings und Beinebergs als Fortsetzung von Törleß’ Imagination erscheinen. Von diesen hinsichtlich ihrer Emotionen und Leidenschaften repräsentativ gezeichneten ‚Typen‘ unterscheidet sich Törleß nicht nur durch höhere Grade an moralischer Empfindlichkeit, ästhetischer Intelligenz und persönlicher Integrität (vgl. GW II, S. 84), sondern vor allem durch die Nutzung seines freiheitlichen Spielraums zu ethischer, kritischer und wissenstheoretischer Selbstreflexion. Die narrative Weitläufigkeit eines genuin humanistischen Spielraums konstituiert hier eine Subjektivität, deren für sie konstitutive Medialität Weltdurchlässigkeit ebenso garantiert wie Selbstausdruck erlaubt und Törleß erst zur durchgängigen Hauptfigur macht. Allein deren Grundzüge des individuellen Allgemeinen werden in ein besonderes Einzelnes konkretisiert, indem seine fürsorglichen Eltern und seine psychosexuelle Entwicklung (vgl. GW II, S. 109), seine Stimmungen der „Langeweile“, „Angst“, „Einsamkeit“ (GW II, S. 12, 24, 26, 66, 95, 113, 137) und „mit Wehmut gemischte[n] Zärtlichkeit“ (GW II, S. 131) sowie seine persönlichen Gefühls- und Gedankenexperimente einbezogen werden. Diese erzählerische Erweiterung hat ihren Fokus in „den Zuständen des menschlichen Innern“ (GW II, S. 136), die Törleß im Modus einer geradezu bedrohlich offenen Subjektivität als Ganzsein erfährt: „als sei um ihn nichts als ein leerer Raum“ (ebd.). Die komplexe „Resonanz“24 solcher medialen Subjektivität manifestiert sich in einem ‚Fortzittern‘ von „Erinnerung“ und „Sehnsucht“ (GW II, S. 9, 65), in der „Unvergleichlichkeit […] zwischen Erleben und Erfassen“, in der Inversion von „Kindheitserinnerung“ und den „Zwischenräumen“ auf dem Dachbodenversteck (GW II, S. 63, 71, vgl. S. 89), in plötzlichem Durchlässigwerden 24 Vgl. zu diesem räumlichen Resonanzkonzept eine der markantesten Kindheitserinnerungen von Törleß, die in einer „Stimmung“ auf einer Italienreise besteht (GW II, S. 91). Diese ist der musikalischen Etymologie des Begriffes entsprechend durch den psychisch nachklingenden „Ton“ und die erstmals empfundene „Leidenschaft der Melodien“ einer „Oper“ konstituiert und beruht also auf akustischer Raumerfahrung (ebd.).

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der „Grenzen des Bewußtseins“ (GW II, S. 32, vgl. S. 47) sowie im sich Überlagern von „innere[r] Zwiespältigkeit“ (GW II, S. 42) und äußerer „Leere“ (GW II, S. 70). Immer wird von Törleß’ psychischen Vorgängen unter Rückbindung an physische Dinge im Raum oder Körper erzählt; von Stimmungen, die sich jahreszeitlich, meteorologisch und raumsymbolisch verdichten, wie auf einem mittäglichen Spaziergang durch den Park, als „die Spätherbstsonne […] blasse Erinnerungen über Wiesen und Wege [legte]“ und er sich in literarischer Reminiszenz an Goethes „Werther“ „in das fahle, raschelnde Gras“ warf: „Über ihm spannte sich der Himmel, ganz in jenem verblichenen, leidenden Blau, das dem Herbste eigen ist, und kleine, weiße, geballte Wölkchen hasteten darüber hin“ (GWII, S. 62). Tagträume und Empfindungen, Gedanken und Stimmungen werden im metaphorischen Wechselspiel zwischen raumsemantischen Dualen wie Gebäude und Park, Menschen und Bäumen, Natur und Kultur, Himmel und Erde, Traum und Wachen, Indien und Europa narrativiert. Mit den nur scheinbar psychologisch hinreichend erklärbaren ‚Verwirrungen‘ des jungen Törleß thematisiert Musil eine jugendlich konfliktuelle, existenzielle und zugleich mystische Erfahrungsdimension. Subjektivität kommt als ein konfigurativer Grenzraum zwischen Welt und Selbst zur Darstellung (vgl. GW II, S. 105ff.). Die Existenz eines solchen psychischen Inneren wird als eine Art ephemere Raumbildung in Außenweltlichem konzipiert (vgl. GW II, S. 137). Seine mentale Konstitution interagiert über Affektresonanzen mit allem Umgebungsräumlichem: Imagination und Wahrnehmung durchdringen einander. Solche durch Wechselwirkungen mit der Umgebung grenzräumlich verfasste, dadurch medial verflüssigte Subjektivität verliert indes jene Souveränität, die ihr in der erkenntnistheoretischen Konzeption der Neuzeit zukam. Wo das bewusstseinskritische Konzept eines verflüssigten Selbst ins Spiel kommt, wie es zeitgenössisch Machs Formel „Das Ich ist unrettbar“ anzeigt, sind mit den Grenzen des Ich auch dessen Verstandesleistungen nicht mehr kontrollierbar.25 Die ‚Verwirrungen‘ des jungen Törleß werfen also auch Fragen nach den problematischen Folgen der Depotenzierung des Subjekts in der ästhetischen Moderne auf. Denn ohne von Rationalität kontrollierte Grenzen ist das Subjekt gar nicht länger in der Lage, jene stabile Grundlage des Erkennens zu bilden, die ihm seit Descartes fundamentum inconcussum über Kants denkende Selbstbegleitung bis zu Husserls Neo-Transzendentalismus zugesprochen und zugetraut worden war.26 25 Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1991 [1886], S. 20. 26 Zu den philosophischen Bezügen bei Musil Bohn, Ralf: Transversale Inversion. Symptomatologie und Genealogie des Denkens in der Philosophie Robert Musils. Würzburg: Königshausen & Neumann 1988; speziell zu Husserl Cellbrot, Hartmut: Die Bewegung des Sinns. Zur Phänomenologie Robert Musils im Hinblick auf Edmund Husserl. München: Fink 1988.

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So zeigt sich im „Törleß“ die gewissermaßen symbolistisch erschlossene Subjektivität keineswegs als generelle Subjektstruktur, etwa in dem Sinne, dass sie an den verschiedenen Figuren in Variationen des Gleichen zur Darstellung käme. Sie kommt deutlich nur, und d. h. samt ihrer empfindsamen Weltdurchlässigkeit und prekären Deterritorialisierung, bei Törleß und in Verbindung mit symbolisch wie affektiv aufgeladenen Raumsituationen zur Darstellung und trägt so zur Individualisierung der Hauptfigur bei. An ihr allein zeigt sich eine mehr nachdenkliche als leichtfertige Neigung zur Reflexion von Irrationalem und virtuell von allem, was unterhalb der Bewusstseinsschwelle oder jenseits der IchGrenzen liegt. Darin kommt der sprachskeptische und vernunftkritische Zug der ästhetischen Moderne um 1900 zur Darstellung. Er macht die „Unrettbarkeit des Ich“ im transzendentalphilosophischen Sinne eines konstitutiven Subjekts sinnfällig, die in Machs Empiriokritizismus die bloß theoretische Konsequenz aus einem szientifischen Selbstmissverständnis bildete.27 Es gehört zur finalen sowie schon titelgebenden Pointe der „Verwirrungen des Zöglings Törleß“, dass ausgerechnet diese im Wien um 1900 zirkulierende Einsicht in die Abgründigkeit von Subjektivität dazu führen kann, dass man „die Dinge in zweierlei Gestalt“ sieht: „Alle Dinge; auch die Gedanken“ (GW II, S. 137). Törleß’ krypto-phänomenologischer Blick auf ‚die Sachen selbst‘ (Husserl) lässt ihn im Zusammenspiel mit akustischen, haptischen und optischen Raum- und Grenzerfahrungen28 ein „zweite[s], geheime[s], unbeachtete[s] Leben der Dinge“ entdecken (ebd.). Was in der philosophisch innovativen Debatte über den ontologischen Status der Dinge und ihre „Existenzweisen“ heute diskursfähig ist29, namentlich eine phänomengerechte Überwindung des vor allem durch Kant zementierten Dualismus (in) der Erkenntnistheorie, klingt beim jungen Törleß trotz seiner

27 Die um 1900 epochemachende Formulierung „Das Ich ist unrettbar“ stellte für die substanzlogisch denkende Subjektphilosophie ebenso eine Provokation dar wie seinerzeit Freuds Bemerkung, das Ich sein nicht Herr im eigenen Hause für das traditionalistisch denkende Bürgertums Wiens. Siehe auch Machs raumtheoretische Ausführungen in: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1905, S. 331–346; dazu Diersch, Manfred: Ernst Mach. Eine Philosophie des unrettbaren Ich. In: Empiriokritizismus und Impressionismus. Über Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1900 in Wien. Hrsg. v. Manfred Diersch. Berlin: Rütten 1977, insb. S. 13–46. Zu Musils kritischer Machrezeption Smith, Peter D.: The Scientist as Spectator. Musil’s Törleß and the Challenge to Mach’s Neo-Positivism. In: The Germanic Review 75, 2000, H. 1, S. 37–51. 28 „Ich […] irrte nicht, als ich mein Ohr nicht von dem leisen Rieseln in der hohen Mauer, mein Auge nicht von dem schweigenden Leben des Staubes, das eine Lampe plötzlich erhellte, abwenden konnte“ (GW II, S. 137). 29 Für diesen Problemzusammenhang sei stellvertretend und als ein zeitgenössisch führender Denker in diesem Bereich genannt: Latour, Bruno: Existenzweisen. Berlin: Suhrkamp 2014.

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verstandesgeleiteten Selbstreflexion nach ebenso epistemologischer wie emotionaler Verwirrung30: „Ich – ich meine es nicht wörtlich, – nicht diese Dinge leben, nicht Basini hatte zwei Gesichter, – aber in mir war ein zweites, das dies alles nicht mit den Augen des Verstandes ansah. So wie ich fühle, daß ein Gedanke in mir Leben bekommt, so fühle ich auch, daß etwas in mir beim Anblicke der Dinge lebt, wenn die Gedanken schweigen. Es ist etwas Dunkles in mir, unter allen Gedanken, das ich mit den Gedanken nicht ausmessen kann, ein Leben, das sich nicht in Worten ausdrückt und das doch mein Leben ist ….” (ebd.)

Offenbar gibt es in Törleß neben dem transzendentalen nicht nur auch noch das empirische Subjekt. Es gibt außerdem ein den Grenzraum zwischen diesen beiden regierendes, prätranszendentales und vorsymbolisch intaktes Subjekt. Dieses kommt in einem an Goethe und Mach gleichermaßen erinnernden Vertrauen auf seine Sinneswahrnehmung von fast transzendentalpoetischer Wirklichkeit nah, in der die Welt als ganze wie auch die einzelnen Dinge und Gedanken in derselben lebendig erscheinen – mit Novalis zu sprechen: wo alles kontinuierlich romantisiert ist. Allein im nicht mehr epistemischen Blick auf die Dinge, dessen Ordnungsleistung Törleß durchaus vertraut und der sogar in dessen persönlichem Habitus kultiviert ist, erschließt sich deren Eigenraum. Und in ihm erhellt sich jenes Subliminale, das im Tagesbewusstsein ein ‚Dunkles‘ bleiben muss. Erst wenn die Gedanken schweigen‘, beginnt es an der Grenze der Sprache zu tönen – und es öffnet sich ein Klangraum, in dem die Erfahrung der Welt lebendig wird. Das hier in Törleß’ Abschlussplädoyer vor der Lehreruntersuchungskommission nach langem Zögern und quälenden Zweifeln an seiner Sagbarkeit am Ende doch noch Beschriebene wird von den Lehrern als bedenkliche Abstrusität empfunden, von den Eltern als symptomatisch für die „Ungelenkigkeiten des Heranwachsenden“ (GW II, S. 135) angesehen und von ihm selber als Angstsyndrom gedeutet. Der Mathematiklehrer verdächtigt seinen scharfsinnigen Schüler „einer wahren Manie“ im Aufsuchen der „Lücke[n] in der Kausalität unseres Denkens“ und abschließend der „Anlage zum Hysteriker“ (GW II, S. 135, 138).31 Bevor er der Bitte um „Erklärung gewisser Grundbegriffe der Mathematik“ wie dem „des Imaginären“ (GW II, S. 135) nachkommt, werden der Aufstieg über „die Treppe zu der kleinen Professorenwohnung“ und die missbehaglichen „Eindrücke“ derselben auf den neugierigen Schüler geschildert (GW II, S. 75). Die Ausführlichkeit der Beschreibungen der Räumlichkeiten, ihres Interieurs 30 Hierfür stehen im Roman die Anspielungen auf Kants Kritizismus und dessen potenziell weltbildzerreißende Wirkung, wodurch Törleß seine gewissermaßen kleistsche Kant-Krise antizipiert. 31 Zuletzt widmet sich ein Beitrag zur Musilforschung der Übergängigkeit zwischen Törleß’ Interesse an der Mathematik und seinen psychischen ‚Verwirrungen‘ von Cliver, Gwyneth E.: Journal of Romance Studies 7, 2007, H. 3, S. 75–85.

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und der emotionalen Wirkung auf den nicht nur ethisch, sondern auch ästhetisch sensiblen Jüngling („wie bei der Berührung mit etwas Unappetitlichem“; ebd.) sind als ein Beispiel für zahllose andere Stellen anzusehen.32 Und zwar beispielhaft für eine Ding-Welt-Beziehung, die nicht vom subjektzentrischen Rationalitätstypus verengt ist. Dabei zeigt sich, wie das zentrale Thema einer emphatisch lebendigen Beziehung zur Welt und zu den Dingen in ihr eingebettet (oder: „eingesponnen“) ist in einen Kokon aus raumästhetischen Resonanzen. In dieser Szene wird das wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen ästhetischen Erfahrungsmomenten – etwa das Abstoßende, Unbedeutende, Enttäuschende des Arbeitszimmers samt seines Bewohners, des noch jungen Mathematiklehrers – und dem eigentlichen Handlungsgegenstand – also das mathematische Problem der imaginären Zahlen – sogar eigens reflektiert: „Das Gewöhnliche verletzte ihn; er übertrug es auf die Mathematik, und sein Respekt begann einem mißtrauischen Widerstreben zu weichen“ (GW II, S. 76).33 Das Scheitern des Versuches, „diese imaginären, diese gar nicht wirklich existierenden Zahlwerte [als] mathematische Denknotwendigkeiten“ zu erklären, ist durch die ebenso zwischenmenschliche wie zwischenräumliche „Atmosphäre eines Mißverständnisses“ (ebd.) vorgezeichnet. Erzählt wird hier also nicht nur vom thematisch besetzten Raum jenseits des Realen, vom Imaginären als intellektuellem wie auch emotionalem Grenzraum, dessen „parallele Linien [sich] im Unendlichem schneiden sollen“ (GW II, S. 80). Vielmehr wird von einem hyperrealen Raum erzählt, der als Wirkung einer zuvor beschriebenen Atmosphäre und diese ihrerseits als Wirkung eines Wohnraums samt seinen Einrichtungsgegenständen und samt der von diesen umgebenen Person erscheint. Was diese Person im Raum und zwischen Dingen dann über die imaginären Zahlen sagt, ist nur der Resonanzeffekt narrativ verlängerter Grenzräume, wodurch die etymologische Bedeutung von persona im Sinne von ‚durch etwas hindurch klingen‘ ästhetisch zum Tragen kommt. Was Törleß’ Erfahrung von Grenzräumlichkeit am stärksten prägt sind die Metaphorisierungen psychischer und symbolischer Prozesse durch die narrative Engführung von Raum – im Sinne Kants – als Kategorie der Anschauung, als Implikation von Vor-stellen sowie als Sinnlichkeit der Einbildungskraft einerseits; und andererseits von Raum als signifikative Umgebung, als gespürte Welt und als Extension der Dinge. Dabei kommt es zu Durchbrüchen zum Imaginären 32 Die „more negative consequences of Törleß’ aestheticism“ thematisiert Turner, David: The Evasions of the Aesthete Törleß. In: Forum for Modern Language Studies 10, 1974, H. 1, S. 19– 44, hier S. 23. 33 Zur Bedeutung der Mathematik im Törleß und darüber hinaus bei Musil insgesamt siehe Genno, Charles N.: The Nexus Between Mathematics and Reality and Phantasy in Musil’s Works. In: Neophilologus 70, 1986, S. 270–278; zuletzt dazu Larese, Costanza: Robert Musil. Mathematics as the audacity of pure ratio. In: Lettera Matematica 2, 2015, H. 4, S. 223–228.

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als Grenzraum zwischen Verstand und Einbildungskraft, aber auch zum Imaginären als subliminales Grenzgebiet jenseits der vom Bewusstsein kontrollierten Schranken. Die dort ebenso transsubjektiv wie transobjektiv auftauchende Eigenwelt der Dinge, gewissermaßen eine lebendige Nature morte, die – wie Musil einmal formuliert – wirkliche Wirklichkeit erscheint im „Törleß“ noch in der Perspektive einer mystischen Vernunft, wie sie dem von neuromantischem Panpsychismus bestimmtem Zeitgeist der Jahrhundertwende entspricht.34

III. Im letzten Abschnitt schwenkt unser Blick von Musils Erstlingswerk zum Magnum Opus, um das Analysepotenzial für den „Mann ohne Eigenschaften“ anzudeuten, das sich aus der Perspektive ästhetischer Grenzräumlichkeit ergibt. Im Grundkonzept dieses oft als Jahrhundertroman bezeichneten Fragments bildet nicht mehr die träumerische Einsamkeit eines Jünglings, sondern die dezidiert nüchtern reflektierte Zweisamkeit von Anfang Dreißigern das Basislager für anarchische Aufstiege zu höheren Erfahrungsebenen der Wirklichkeit. Beflügelt durch die „Gesetzlosigkeit“ des „Wesens“ seiner „vergessenen Schwester“ tastet sich Ulrich immer wieder an die „Schwelle‘ heran, hinter der die „europäische“ Moral „als eine Ordnung der Seele und der Dinge, beide umfassend,“ ihre normative Verbindlichkeit verliert und „der Boden des Lebens vom Seichten unmittelbar in eine ganz unsichere Tiefe“ versinkt (GW I, S. 746f.). Innerlich vorbereitet durch auch juristisch und psychologisch reflektierte Grenzüberschreitungen (Testamentsfälschung, Rechtfertigung Moosbruggers, Ulrichs Gefühlstheorie, Clarisse bei den Irren, Clarisse auf der Insel) wird in den „Heiligen Gesprächen“ der geschwisterlichen „Verbrecher“ (so der Untertitel vom 2. Buch: Dritter Teil – Ins Tausendjährige Reich) der Verlauf einer „Grenze“ erkundet, die „Natur- und Sittengesetze“ ebenso unterscheidet wie sie die Regeln des Allgemeinen mit den Ausnahmen des Besonderen verbindet, sowie Gut und Böse und letztlich Natur und Kultur ineinander übergehen lässt.35 Dabei wird diese literarisch als philosophisch-mystischer Diskurs inszenierte Schwellenkunde von einer Metaphorik mitverfasst, welche menschliche Körper – angetrieben von Begehren, Gefühlen und Gedanken – durch Bewegungen im Raum 34 Siehe zur der Epoche um 1900 mit ihrem entscheidenden Einfluss auch für Musils „Törleß“ die diskurshistorischen Rekonstruktionen von Riedel, Wolfgang: „Homo Natura“. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin: de Gruyter 1996. 35 Vgl. die Analysen von Magris, Claudio: Hinter dieser Unendlichkeit. Die Odyssee des Robert Musil. In: Beiträge zur Musil-Kritik. Hrsg. v. Gudrun Brokoph-Mauch. Frankfurt/Main: Lang 1983, S. 49–62.

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und zugleich dessen Räumlichkeit als kinetischen Effekt zeigt.36 Den ihm selbst von seiner familiären und wissenschaftlichen Herkunft her (Vater Juraprofessor) naheliegenden Vorwurf der Schwärmerei, gar den Verdacht auf antimodernen Irrationalismus und den zu erwartenden Spott seiner Schwester pariert der Mathematiker Ulrich wie folgt: „‚Du brauchst nicht zu lachen‘ sagte er. ‚Ich bin nicht fromm; ich sehe mir den heilgen Weg mit der Frage an, ob man wohl auch mit einem Kraftwagen auf ihm fahren könnte!‘“ (GW I, S. 751). Mit einer Mischung aus modernem Technikstolz – d. h. hier der Fortschritt der Automobilität von Naturbeherrschung gegenüber der Selbstversenkung in mystischer Weltflucht – und selbstironischer Nüchternheit ist dies die nur noch etwas verlegene Antwort auf Agathes Frage, was er „da eigentlich all die Tage“ lese (GW I, S. 750). Inspiriert von der offenbar auch Bubers „Ekstatische Konfessionen“ enthaltenden Bibliothek des verstorbenen Vaters richtet Ulrichs intellektuelles Interesse, das im Zusammensein mit seiner Schwester auch die Subjektdimension existentiellen Selbsterlebens einschließt, sich auf die philosophischen Implikationen von Mystik.37 Diese erschließen sich ihm – darin dem gesteigerten Augenblickserleben des viel jüngeren Törleß verwandt – über die Raummetaphorik der ekstatischen Weltbeziehung, in der es zu Inversionen des Realen und zu Transversionen in die Eigenräumlichkeit der Dinge kommt: „Man kann mitten in der heftigsten Bewegung sein, aber plötzlich fällt das Auge auf das Spiel irgendeines Dings, das Gott und die Welt verlassen haben, und man kann sich nicht mehr von ihm losreißen?! Mit einemmal wird man von seinem kleinwenigen Sein wie eine Feder getragen, die aller Schwere und Kräfte bar im Wind fliegt?!“ (GW I, S. 751)

Solche Körper- und Raumbegrenzungen aufhebenden Elevationen sowie die den „Heiligen“ vorbehaltene Erfahrung einer Exstirpation des Selbst mit anschließender Immersion in Gott38 sind es, die Ulrich, dem seinerseits mit ‚Mann ohne Eigenschaften‘ ein negativitätstheologischer Titel zukommt, seiner Schwester als 36 Siehe neben zahllosen Stellen z. B. folgende Raumbewegungen in einem nur fünfseitigen Kurzkapitel: „Waten im Seichten“, „Auskristallisation einer inneren Bewegung“, „Grenzen des Irrenreichs“, Wandeln oder Getriebenwerden durch „Haus und Garten“, „wie eine Strömung vor einer Sperre“, „schattenhaft die Nähe ihrer blonden Achselhöhle und den Umriß ihres Busens“, „wie durch eine Bresche“, „vom Raum hinter seinem Rücken“, „man auf eine große spiegelnde Wasserfläche hinausschaut“, „was die sonst Vermengten [Ich und Welt] trennt und verbindet, ist ein dunkles Blinken, ein Überströmen und Auslöschen, ein Aus- und Einschwingen. Ihr schwimmt wie der Fisch im Wasser oder der Vogel in der Luft, aber es ist kein Ufer da und kein Ast und nichts als dieses Schwimmen!“, GW I, S. 747–51). 37 Zum Einfluss von Bubers Buch siehe Goltschnigg, Dietmar: Mystische Tradition im Roman Robert Musils – Martin Bubers „Ekstatische Konfessionen” im Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg: Stiehm 1974. 38 Siehe dazu die Stelle: „einst war ich eingeschlossen, dann wurde ich aus mir herausgezogen und ohne Erkennen in Gott versenkt“ (GW I, S. 752).

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„Auswirkung eines geheimnisvollen zweiten Lebens“ (GW I, S. 752) nahebringt und dabei auf Gegennähe stößt.39 Ihre Erfahrungen finden über eine Grenzmetaphorik zur Sprache, die Trennendes und Verbindendes zwischen „Sehen und Hören“, „Sprechen“ und Verstummen, Hell und Dunkel sowie zwischen den Elementen „Wasser“, „Erde“, „Luft“ und „Feuer“ in der Schwebe hält: „Man ist mit allem verbunden und kann an nichts heran. Du stehst hüben und die Welt drüben, überichhaft und übergegenständlich, aber beide fast schmerzhaft deutlich, und was die sonst Vermengten trennt und verbindet, ist ein dunkles Blinken, ein Überströmen und Auslöschen, ein- und Ausschwingen.“ (GW I, S. 751)

Hier wird die Grenze aus der binären Logik erkenntniskritischer, bewusstseinsphilosophischer und wahrnehmungsästhetischer Theorien herausgelöst und als ein Bewegungsphänomen beschrieben, das den Raum selbst zu einem dynamischen Zwischen ohne ontologische Relate auflöst.40 Aus gefühlstheoretischen Einsichten in einen solchen eigendynamischen Zwischenraum ohne „Subjektivitäten“ skizziert Ulrich später ein „Weltbild der Ekstase“ (GW I, S. 1192), das ihm und seiner Schwester einen sachlich rekonstruierbaren Zugang zu einer „volle[n]“ oder „wirkliche[n] Wirklichkeit‘ sichern soll. (GW I, S. 1194f.) Diese der Erfahrung der beiden genealogiekritischen Geschwisterwaisen zunehmend erschlossene, alternative Wirklichkeit wird hinsichtlich ihrer Konsistenz wie auch Kontingenz sondiert. Der neumystischen Suche nach „einer schwebenden ‚Einheit‘ aller Dinge und Seelenkräfte“ (GW I, S. 753) ging eine satirische Dekonstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit Wiens vor dem Ersten Weltkrieg unter dem ominösen Titel (Zweiter Teil) „Seinesgleichen geschieht“ voraus. Dem noch einmal vorangestellt ist (Erster Teil) „Eine Art Einleitung“, in der eine dem Imaginären zum Verwechseln ähnlich sehende Realität dargestellt wird. Diese erscheint dem ironischen Selbsterlebnis eines programmatisch illusionslosen Daseins – namentlich demjenigen des Mannes ‚ohne Eigenschaften‘ – als bloß mögliche, keineswegs notwendige Wirklichkeit. In ihr lernte schon der Heranwachsende, der wie Törleß in einem Internat erzogen worden war, sich „mit dem Gefühl eines Wanderers“ zu bewegen, dessen modernes Nomadentum sich im Modus des Conjunctivus potentialis vollzieht. Eine solche ontologisch prekäre Existenz hält 39 Siehe zum Titel Goltschnigg, Dietmar (Hrsg.): Die Bedeutung der Formel „Mann ohne Eigenschaften“. Vom „Törless“ zum „Mann ohne Eigenschaften“. München: Fink 1973; zu negativitätstheologischen Implikationen des Titels Laermann, Klaus: Eigenschaftslosigkeit. Reflexionen zu Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Stuttgart: Metzler 1970; ferner zur rhetorischen Tradition ‚negativer Theologie‘ Derrida, Jacques: Wie nicht sprechen. Verneinungen. Wien: Passagen 1989, insb. S. 11–15. 40 Zur literaturwissenschaftlichen Diskussion des Zusammenhangs von Raum und Bewegung siehe Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit (Hrsg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der spatial turn. Bielefeld: Transcript 2009.

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sich nicht mehr an die genealogische Transmission ihres Vaters, sondern orientiert sich an einer ironisch reflektierten Transzendenz. So schreibt der Gymnasiast der „Theresianischen Ritterakademie“ in einem Aufsatz zum Thema „Vaterlandsliebe“ zwei Sätze nieder, die seine Entfernung von der Schule zur Folge hatten, obwohl und da man nicht wusste, ob sie „als Lästerung des Vaterlandes oder als Gotteslästerung“ aufzufassen seien (GW I, S. 18f.). Sie positionieren ihren jungen Autor mit einer politisch-theologischen Doppelthese, deren Gehalt zwischen der Ironie, die mit patriotischer Relativität einhergeht, und dem Imaginären oszilliert, das den Glauben an die Schöpfung als die denkbar beste aller möglichen Welten informiert.41 Die versuchsweise immer nur als eine Wirklichkeit unter vielen möglichen aufgefasste Wirklichkeit wird dann in einem Hauptstrang des Handlungsgeschehens als empirisches Experimentalfeld für „Theoretiker des Ganzen“ (GW I, S. 151) begangen. Dies läuft nach den Intentionen der Hauptfigur wie auch des Autors darauf hinaus, die Wirklichkeit im ‚anderen Zustand‘ von ihren Grenzen her auf wissenschaftliche Nachvollziehbarkeit und postmetaphysische Tragfähigkeit hin zu prüfen. Entsprechend versucht der Mathematiker Ulrich mit seiner essayistischen Grundlagenreflexion die Bedingungen der Möglichkeit von mystischer Erfahrung ‚ohne Gott‘ als den Gegenstand dieser Erfahrung zu bestimmen. Dabei wird die mystische Erfahrungswirklichkeit zum einen und weiterhin als der existenziale Grenzraum einer sich überschreitenden Subjektivität und sich zugleich mediologisch präsentierenden Objektivität konzipiert. Zum anderen aber – den Konzeptentwürfen des Nachlasses entsprechend – wird diese zweite, von Gefühlsextremen her bekannte Wirklichkeit, die im Motivkreis des „anderen Zustandes“ ausgeleuchtet wird, auch in das zersetzende Spiel einer Ironie hineingezogen, das neue Räume des Imaginären, des Reflexiven und des Utopischen eröffnet.42 Als kühler Kopf geltend, der auch bei der Konzeptarbeit am Roman stets auf der Hut vor heißer Schwärmerei bleibt, erkundet Musil die

41 „Ulrich schrieb in seinem Aufsatze über die Vaterlandsliebe, daß ein ernster Vaterlandsfreund sein Vaterland niemals das beste finden dürfe; [und] daß wahrscheinlich Gott von seiner Welt am liebsten im Conjunctivus potentialis spreche (hic dixerit quispiam = hier könnte einer einwenden…), denn Gott macht die Welt und denkt dabei, es könne ebensogut anders sein“ (GW I, 18f.). Siehe insgesamt zum Thema Konjunktiv Schöne, Albrecht: Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Robert Musil (1961/66). In: Robert Musil. Hrsg. v. Renate v. Heydebrand. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1982, S. 19–53. 42 Ausführlich zur Ironie bei Musil Alt, Peter-André: Ironie und Krise. Ironisches Erzählen als Form ästhetischer Wahrnehmung in Thomas Manns „Der Zauberberg“ und R.Ms. „Der Mann ohne Eigenschaften“. Frankfurt/Main: Lang 1989; Masini, Feruccio: Robert Musil ovvero l’ironia della ragione. In: Musil, nostro contemporaneo. Hrsg. v. Paolo Chiarini. Roma: Edizioni dell’Instituto Italiano degli Studi Germanici 1986, S. 135–153.

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‚nicht-ratioiden‘43 Ursprünge der Raumwerdung und stößt dabei auf die Grenzen ästhetischer Darstellbarkeit, wie sie die Theorie des Erhabenen von der Antike bis in die (Post-)Moderne durchziehen.44 Musils erzählte Räume, die anfangs durchaus noch an geographisch und physikalisch nachvollziehbare Raumvorstellungen rückgekoppelt sind, werden dem Ideenaufbau des Romans gemäß zunehmend von emotional und existenzial deklinierten Räumen überlagert. In ihnen werden Grenzen einerseits als Schwellen des Bewusstseins zwischen personaler, sexueller oder semantischer Identität erfahren; und andererseits als Schwellen der Wahrnehmung von intersubjektiver, hermaphroditischer und symbolischer Alterität. Mitunter werden solche Schwellen dann auf eine Metaebene der gesamtkulturellen Zeitdiagnostik hin überschritten, auf der Grenzen nurmehr jene Linien bilden, von denen Musil im Nachlass sagt, dass sie allesamt in den Krieg münden.45 Während nämlich die dem Bildungsbürgertum Wiens Entstammenden im liminalen „Sternbild der Geschwister Oder Die Ungetrennten und Nichtvereinten“ (GW I, S. 1337) vom Überwinden dissoziativer Effekte der Verwissenschaftlichung, Technisierung und Bürokratisierung der Lebenswelt träumen, taumelt die bürgerliche Epoche ihrem Untergang entgegen. Wenn Ulrich und Agathe sich auf die Reise an den Rand des Möglichen und darüber hinaus begeben, und es dabei – wie schon Törleß – auf Transgressionen in der Perspektive epistemischer und moralischer Vernunft anlegen, zerfällt in Kakanien die politische und soziale Wirklichkeit im Aufkommen neuer Nationalismen sowie unter dem dystopischen Einfluss des ‚Überamerikanismus‘ (vgl. GW I, S. 31). Der Beginn des „Tausendjährigen Reiches der Liebe“ (GW I, S. 1319–1325) – so könnte man Musils finale Romanintention verstehen – koinzidiert mit dem Ende des sich selbst bereits als historisch empfindenden Reiches der Habsburgerdynastie. Der Traum vom „rechten Leben“ (GW I, S. 255) samt aller ihn stimulierenden Utopien geht in den zweifachen Anfang des Weltkrieges über, den schon Musil als Rückfall in die Barbarei enthemmter Aggressionen verstand. Was sich aber zwischen dem Imaginären als Quelle konstruktiver Weltentwürfe und der Ironie als

43 Mit seiner eigenwilligen Unterscheidung des Nicht-Ratioiden vom Ratioiden weist der auch biographisch zwischen ‚Genauigkeit und Seele‘ schwankende Musil der strengen Wissenschaft einerseits und der ästhetischen Literatur andererseits originäre Zuständigkeits- und Kompetenzbereiche zu. Siehe dazu im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext Luserke, Matthias: Wirklichkeit und Möglichkeit. Modaltheoretische Untersuchung zum Werk Robert Musils. Frankfurt/Main: Lang 1987, insb. S. 56–57. 44 Siehe hierzu Hajduk, Stefan: Die Figur des Erhabenen. Robert Musils ästhetische Transgression der Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. 45 „Seinesgleichen führt zum Krieg Die // [Parallelaktion] führt zum Krieg! […] Alle Linien münden in den Krieg“ (GW I, S. 1902). Siehe zum Krieg im Zusammenhang mit dem Thema Raum Honold, Alexander: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktionen in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, München: Fink 1995.

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Medium dekonstruktiver Selbstanalyse öffnet, ist bei Musil der Grenzinnenraum, aus dem heraus sich ein zivilisatorischer Weg der Geschichte abzeichnen könnte. Aus dem epochalen Blickwinkel der kurzen Zwischenkriegszeit, in der Musils langer Roman entsteht, erscheint der historische Zeitraum der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg als ein Grenz(zeit)raum, in dem sich das Ende des 19. Jahrhunderts bei aller modernen Betriebsamkeit etwas hinzuziehen scheint. Mehr als im deutschen Kaiserreich schienen sich in Österreich-Ungarn zwei epochale Kräfte noch die Waage zu halten. Auf der einen Seite die feudal-kulturelle Beharrung der Habsburgertradition, verkörpert im souveränen Habitus der (selbst-)repräsentativen Aristokratie (im Roman die Grafen Leinsdorf und von Stallburg); und auf der anderen Seite der technisch-zivilisatorische Fortschritt der Moderne, verdichtet im Geschwindigkeitstopos der ‚Elektrischen‘, des Automobils und der nervösen Selbstreflexivität.46 In Musils kulturhistorischem Rückblick ist die Vorstellung vorherrschend, dass 1914/18 eine Epoche zu Ende geht. Für diese Zeitenwende oder Grenzzeit ist Kakanien der satirische und erzählerisch metaphorische, zugleich aber auch kulturell und geographisch konkrete Grenzraum zwischen West und Ost, Nord und Süd, Slawen und Germanen (GW I, S. 445–453; 522–529). Als zuletzt „der sich selbst irgendwie nur noch mitmach[end]e Staat“ ist Kakanien zugleich der politisch „fortgeschrittenste“, dystopische Grenzraum zwischen Moderne und Tradition (GW I, S. 35). Seine Residenzstadt Wien bildet das nostalgische Gegenspiel zur Industriemetropole Berlin, wie es schon die Avantgarden um 1900 in ihren unterschiedlichen Ausprägungen zeigten. Musils Kakanien ist die ironische Formel für die kulturhistorische Grenzräumlichkeit der politischen Epochenschwelle zwischen langem 19. und dem kurzen 20. Jahrhundert. Die nach dem Friedensdiktat der Pariser Vororte (1919) erfolgte Implosion der Außengrenzen des Vielvölkerstaates ließ auch die noch im „Törleß“ intakten Räume der symbolistisch, impressionistisch und lebensphilosophisch inspirierten Jahrhundertwende kollabieren. Auf ihren Trümmern, wo die Grenzen zwischen historischer und ästhetischer Erfahrung im Untrennbaren verlaufen, errichtet Musil sein labyrinthisches Erzählgebäude „Der Mann ohne Eigenschaften“. Es experimentiert mit ästhetisch-ethischen Ideen wie denen der ‚Utopien des Essayismus und des rechten Lebens‘ (GW I, S. 247). Es macht Grenzgebiete wie die zwischen Über- und Untervernunft (GW I, S. 549), Parallelaktion und Geschwisterliebe, sowie ‚Genauigkeit und Seele‘ oder ‚Mathematik und Mystik‘ zu seinem thematischen Terrain. In der Perspektive eines infinitesimalen Erzählprozesses konvergieren all diese Grenzlinien schließlich im „Fragment eines anderen Lebens“ (GW I, S. 1087). So bilden sie Musils Grenzinnenraum gleichsam an der Stelle eines formalen Schlusssteins für die Romankonstruktion insgesamt. 46 Siehe hierzu z. B. das Kapitel ‚Haus und Wohnung des Mannes Eigenschaften‘ (GW I, S. 11–13).

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Wandernde Narration. Emigration und Ethik der Erzählung bei W. G. Sebald

Sowohl in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft im allgemeinen, als auch in der Rezeption von W. G. Sebalds Werk im Besonderen war in den letzten anderthalb Jahrzehnten ein wachsendes Interesse an ethischen Fragen zu registrieren. Die ethische Wende verband sich somit auf natürliche Weise mit Untersuchungen zu einem Autor, der das Problem der narrativen Form ganz stark mit ethischer Relevanz aufgeladen hat. Vorliegender Beitrag knüpft an diese Fragestellungen an, indem er die Auswanderungsgeschichte „Ambros Adewarth“ als eine Erzählung liest, in der die Wahl der narrativen Form als eine Antwort auf die ethische Herausforderung erscheint, sich dem Anderen anzunähern, ohne ihn durch die Narration einzuverleiben. Nicht nur die „periskopische Erzählung“ und die Beweglichkeit der Perspektive, die eine falsche Identifikation verhindern sollen, sind dabei von Bedeutung, sondern auch die Schaffung von narrativen Grenzbereichen und Zwischenräumen, in denen die Subjekt-Objekt-Relation aufgehoben wird. Sebalds narrative Verfahren korrelieren dadurch, wie es gezeigt werden soll, mit zwei unterschiedlichen theoretischen Konzepten vom ethischen Umgang mit dem Anderen in literarischen Texten. Concerning German-language literary critic generally and the reception of W.G. Sebald in particular in the last fifteen years, an increasing interest in ethical questions can be stated. Thus, the ethical turn was linked naturally with researches on an author who conjoined the problem of narrative form with ethical relevance. Present contribution focuses on these questions by reading the emigration-story “Ambros Adewarth” as a narrative in which the choice of narrative forms appears as an answer to the ethical challenge of approaching the Other without claiming possession of him/her/it through narration. Not only the “periscopic narration” and the flexibility of perspective which shall prevent from false identification, are relevant in this context. Also, the creation of narrative border zones and interspaces in which the relation between subject and object is suspended is fundamental. As it will be pointed out, Sebald’s narrative techniques correlate with two theoretical concepts of the ethical treatment of the Other in literary texts.

„The longer I’ve stayed here, the less I feel at home.“ W.G. Sebald äußert diesen in seiner Einfachheit und Dichte so erdrückend melancholischen Satz in einem Autorenportrait der Zeitung „The Guardian“ im Jahre 2001, kurz vor seinem

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Tod.1 Er bringt damit nicht nur seinen vier Jahrzehnte andauernden Aufenthalt in England auf den Punkt, sondern bietet gleichzeitig so etwas wie die Quintessenz des Lebensgefühls aller seiner ruhelosen, heimatlosen Protagonisten. „Je länger, desto weniger…“: Das syntaktische Grundmuster, das diesem Satz zugrunde liegt und bei Sebald in bestimmten Variationen mit geschichtsphilosophischen Dimensionen aufwarten kann,2 wird hier in einer negativen Dialektik des Privaten zur Grundfigur jeglicher entwurzelten Existenz: des Autors, des Erzählers und der fiktionalen Protagonisten gleichermaßen. Je länger die Entwurzelung – Verfolgung, Vertreibung oder freiwillige Emigration – zurückliegt, desto weniger ist das Trauma zu verdrängen; je länger man in der Fremde verweilt, desto weniger kann man mit der eigenen Fremdheit zurande kommen. Diese Denkfigur organisiert die erzählten Schicksale und die Andeutungen des Erzählers über sich selbst im Erzählband „Die Ausgewanderten“ und im Roman „Austerlitz“, aber auch die Selbstkommentare Sebalds in zahlreichen öffentlichen Äußerungen und wird somit ein Musterbeispiel für die konsequente narrative Verflechtung der Instanzen und für die Verwischung der Grenzen zwischen ihnen. Die enge Verkoppelung von Figur, Erzähler und Autor in Sebalds Werk wurde von der Literaturkritik und der literaturwissenschaftlichen Forschung wiederholt als ein Verfahren ethischer Natur wahrgenommen und problematisiert,3 einerseits weil die explizit erklärte oder durch Andeutungen nahegelegte Verwandtschaft eine Rhetorik der Einfühlsamkeit und Behutsamkeit dem dargestellten Anderen gegenüber in Gang setzt; und andererseits weil hinter der Erzählstimme und der Erzählerfigur immer die Konturen des Autors sichtbar werden, der für das Erzählte Verantwortung zu übernehmen scheint. Nimmt man die zuvor erwähnten fiktionalen Werke, aber auch manche Geschichten und Gestalten aus den essayistischen Texten wie „Schwindel. Gefühle“ oder „Die Ringe des Saturn“ in den Blick, scheint diese „ethische Empathie“4 in der geteilten Auswanderung und im weiteren Sinne in einer geteilten Ortlosigkeit und 1 Jaggi, Maya: Recovered Memories. In: The Guardian, 22. Sept. 2001. 2 Hutchinson, Ben: W. G. Sebald. Die dialektische Imagination. Berlin: de Gruyter 2009. S. 4–8. Nach Hutchinson sei diese Satzstruktur bei Sebald die syntaktische Entsprechung einer Fortschrittskritik, die von der Kritischen Theorie geprägt wurde. 3 Vgl. Fuchs, Anne: Die Schmerzensspuren der Geschichte. Zur Poetik der Erinnerung in W. G. Sebalds Prosa. Köln: Böhlau 2004, bes. das Kapitel „Für eine Ethik der Erinnerung“, S. 21–39. Doren Wohlleben spricht vom häufigen Ineinandergreifen von Subjekt- und Objektebene bei Sebald und kommt zu dem Schluss, dass die „Ethik des Schriftstellers […] somit auch immer die Ethik des – oft unzuverlässigen – Erzählers“ sei. Wohlleben, Doren: Ethik des Schriftstellers. In: W. G. Sebald-Handbuch. Hrsg. von Claudia Öhlschläger/Michael Niehaus. Stuttgart: Metzler 2017, S. 251. 4 Schley, Fridolin: Kataloge der Wahrheit. Zur Inszenierung von Autorschaft bei W. G. Sebald. Göttingen: Wallstein 2012, S. 446.

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Verlorenheit eine ihrer wichtigsten Quellen zu haben, freilich ohne dass es bestimmt werden könnte, wer hier wem ursprünglich nachgebildet und nachempfunden wird. Andererseits kann diese Empathie gerade im ethischen Sinne als fragwürdig erscheinen, sobald der Eindruck entsteht, dass Sebald die Grenzen zwischen Empathie und Identifikation und das heißt also gleichzeitig zwischen Subjekt und Objekt der Erzählung „mit strategischer Konsequenz“ verwischt, nämlich um an der „moralischen Gemeinschaft“ der Opfer der Geschichte oder an Ruhm und Autorität von Schriftstellerkollegen oder anderen Geistesgrößen zu partizipieren und dadurch seine eigene Autorschaft zu konturieren.5 Empathie und Identifizierung, soviel lässt sich auf jeden Fall feststellen, können in narrative Strategien übersetzt werden oder umgekehrt formuliert: Narrative Techniken scheinen ein ethisches Potenzial zu haben. In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ethik und Ästhetik eine ganze Reihe theoretisch unterschiedlich fundierter Antworten hervorgebracht. Die Ethical Turn genannte Entwicklung, die sich in den USA bereits Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre erfolgreich durchsetzte, baut auf mindestens drei markante Positionen: Erstens auf die fruchtbare Verbindung von Moralphilosophie und Literaturwissenschaft beispielsweise bei Wayne C. Booth6 oder Martha C. Nussbaum,7 zweitens auf die späten Entwicklungen der Dekonstruktion beispielsweise bei J. Hillis Miller8 und drittens auf die Anwendungsversuche verschiedener philosophischer Konzepte der Alterität von Derrida, Lévinas, Butler, Foucault und Ricœur auf die Lektüre literarischer Texte, wie es Derek Attridge,9 Adam Zachary Newton10 oder Andrew Gibson11 durchgeführt haben. Gemeinsam an diesen Positionen – und die aus ihnen teilweise ableitbaren weiteren Differenzierungen und Anwendungen – ist auf jeden Fall, dass sie sich in irgendeiner Weise auch mit den vielfältigen Beziehungen auseinander setzen, die Narrative mit der Sphäre des Ethischen ver-

5 Ebd., S. 446–449. Schley formuliert zwar nicht explizit aus einem ethischen Blickwinkel heraus, denn er konzentriert sich auf die Selbstinszenierungstechniken des Autors Sebald, aber seine Analyse gerät unmissverständlich zum ironisch-kritischen Vorwurf. 6 Booth, Wayne C.: The Company We Keep. An Ethics of Fiction. Berkeley: University of California Press 1988. 7 Nussbaum, Martha C.: Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature. New York: Oxford University Press 1990. 8 Miller, J. Hillis: The Ethics of Reading. Kant, de Man, Eliot, Trollope, James, and Benjamin. New York: Columbia University Press 1989; sowie Versions of Pygmalion. Cambridge: Harvard University Press 1990. 9 Attridge, Derek: Innovation, Literature, Ethics. Relating to the Other. In: PMLA 114.1, 1999, S. 19–31. 10 Newton, Adam Zachary: Narrative Ethics. Cambridge: Harvard University Press 1997. 11 Gibson, Andrew: Narrativity and Alterity. In: Ders.: Postmodernity, Ethics and the Novel. London: Routledge 1999, S. 25–53.

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binden.12 Der Kategorie der Ethik selbst wird dabei oft eine narrative Dimension zugesprochen – mit Vorliebe auf Kants Philosophie bezogen.13 Gegenüber philosophischen Texten zeichnen sich literarische Narrationen jedoch gerade dadurch aus, dass sie im Gegensatz zu abstrakten Normen und Gesetzen das Partikulare, das Einmalige erzählen und dadurch die emotionalen Komponenten von Werturteilen und Entscheidungen offensichtlich machen, indem sie die Spannung zwischen moralischem Gesetz und individuellem Ablauf darstellen.14 Narrative weisen außerdem ein „valoratives Moment“15 auf, indem sie eine zeitliche und räumliche Ordnung schaffen, auf ein Ende hin organisiert werden und bestimmte Perspektiven zur Geltung bringen, ja, kontingenten Ereignissen den Eindruck einer immanenten formalen Notwendigkeit verleihen.16 Geoffrey Galt Harpham geht so weit zu behaupten, dass sogar das so schwer bestimmbare narrative Minimum am besten in einem ethischen Kontext zu definieren wäre, nämlich als die Bewegung der Handlung aus einem instabilen Zustand, der existiert, aber nicht existieren sollte („is but ought not“) in einen Zustand, der rückblickend als notwendig und unausweichlich erscheint („is and truly oughtto-be“).17 „So wird der Zufall in ein Geschick verwandelt“, meint Ricœur, der diese „nachträgliche Notwendigkeit der Lebensgeschichte“ mit der narrativen Identität der Figur gleichsetzt.18 Aus der Perspektive der Alteritätsphilosophie verbindet sich Narration insofern ganz eng mit der Sphäre des Ethischen, weil der Andere – zentrale Gestalt, Phantom oder Leerstelle des Diskurses19 – das Subjekt zur narrativen Selbstkonstitution aufruft. Der Andere ist derjenige, vor dem das Subjekt (narrativ) Rechenschaft ablegt, für den es Verantwortung übernimmt und seine Souveränität aufzugeben bereit ist.20 12 Eine gute Einführung in die Vielfalt dieser Beziehungen findet sich in Öhlschläger, Claudia: Vorbemerkung. Narration und Ethik. In: Narration und Ethik. Hrsg. von Claudia Öhlschläger. Paderborn: Fink 2009, S. 9–25. 13 Vgl. u. a. Miller, The Ethics of Reading, 1985. Geoffrey Galt Harpham spricht vom „weit unterschätzten Erzähler“ Kant in Shadows and Ethics. Criticism and the Just Society. Durham: Duke University Press 1999, S. 18–37., beS. S. 34.; vgl. auch Martyn, David: Kants Kritik als ethisches Narrativ. In: Öhlschläger, Narration und Ethik. 2009, S. 25–37. 14 Nussbaum, Love’s Knowledge. 1990, bes. S. 3–54. 15 Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien/New York: Böhlau 2002, S. 29., zitiert in Öhlschläger, Narration und Ethik. 2009, S. 11. 16 Harpham, Shadows and Ethics. 1999, S. 36. 17 Ebd. Thomas Wägenbaur betont den performativen Verhandlungscharakter der Narration zwischen ‚sein‘ und ‚sollen‘ und ihre daraus resultierende Offenheit. Vgl. Wägenbaur, Thomas: Narrative Ethik. Das Paradox der Ethik als KybernEthik der Literatur. In: Im Bann der Zeichen. Die Angst vor Verantwortung in Literatur und Literaturwissenschaft. Hrsg. von Markus Heilmann/Thomas Wägenbaur. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 229– 256, zit. bei Öhlschläger, Narration und Ethik. 2009, S. 12. 18 Ricœur, Paul: Das Selbst als ein Anderer. 2. Auflage. Paderborn: Fink 2005, S. 182. 19 Ebd., S. 426. 20 Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007.

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Selbst aus dieser unvollständigen und skizzenhaften Darstellung der wichtigsten theoretischen Überlegungen kann man die Folgerung ziehen, dass sich der fiktionale Diskurs – nicht nur, aber vorrangig – durch die Narrativität mit der Sphäre des Ethischen verbindet, zumindest wenn man sich von einer allegorisierenden und moralisierenden Betrachtung von Literatur verabschiedet, die literarische Texte in erster Linie als Beispielsammlungen von moralischen Dilemmata und Wunschvorstellungen betrachtet. Dass der literarischen Form eine ethische Dimension innewohnt, ist sicherlich keine neue Vorstellung. Die Wahl der Form selbst sei immer ein ethischer Akt, meinte bereits Wayne C. Booth, der unter anderem die moralische Gefährdung des Lesers durch den unverlässlichen Erzähler analysierte.21 Seitdem gab es – auch in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft – zahlreiche Versuche zu zeigen, dass Ethik als „der poetischen und poetologischen Struktur eines literarischen Textes inhärent“ zu denken ist.22 Argumentiert man aber in der ethischen Kritik zu Recht gegen ausschließlich handlungs- und figurenzentrierte Analysen, so wäre es natürlich ebenso verfehlt, bestimmten narrativen Techniken oder Verfahren a priori ethische Relevanz oder gar einen konstanten Wert zuzuschreiben. Vielmehr dürfte sich dieses ethische Potenzial erst in enger Beziehung mit dem entfalten, was man als Thema, Handlung oder Motivik einer Erzählung bestimmen kann. Genau das ist der Ausgangspunkt der folgenden Untersuchungen, in deren Verlauf Sebalds Annäherungen an den entwurzelten Anderen als narrative Strategien beschrieben werden sollen. Denn Auswanderung und Ruhelosigkeit sollten bei Sebald meines Erachtens nicht bloß im Sinne historischer Ereignisse oder (auto-)biografischer Tatsachen aus dem Leben von realen Menschen, wie sie der Autor bekanntlich als Vorlagen benutzt hat, aufgefasst werden, sondern, gerade in ethischen Zusammenhängen, als ein Prinzip der Bewegung und Beweglichkeit der Blickwinkel und als eine Suche nach Zwischenräumen der Narration. Sebald, der die ethische Relevanz erzählender Formen auch als Literaturwissenschaftler in seinen ästhetischen Urteilen zur Geltung gebracht hatte,23 21 Booth, The Company We Keep. 1988. Vgl. auch Ricœurs Kommentar zu der These von Booth, dass der unverlässliche Erzähler gefährlich für den Leser sei. Im Gegensatz zu Booth meint Ricœur, dass gerade der in der Moderne immer häufiger auftretende unverlässliche Erzähler den Leser zur Freiheit und Verantwortlichkeit aufrufe und einen Leser erfordere, der ‚antwortet‘. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung. 2. Auflage. Paderborn: Fink 2007. Bd. 3 (Die erzählte Zeit), S. 263. 22 Öhlschläger, Vorbemerkung. 2009, S. 11. Vgl. dazu in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft vor allem die weiteren, in der Reihe Ethik – Text – Kultur bei Wilhelm Fink erschienenen Bände: (Be-)richten und Erzählen. Literatur als gewaltfreier Diskurs. Hrsg. von Moritz Baßler/Cesare Giacobazzi/Stephanie Waldow. Paderborn: Fink 2011; Waldow, Stephanie: Schreiben als Begegnung mit dem Anderen. Paderborn: Fink 2013; ‚Ethical Turn‘? Geisteswissenschaften in neuer Verantwortung. Hrsg. von Christine Lubkoll/Oda Wischmeyer. Paderborn: Fink 2009. 23 Am deutlichsten im Essay Luftkrieg und Literatur. München: Hanser 1999.

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erforschte, wie es noch zu zeigen ist, ganz offensichtlich auch in seiner eigenen Literatur die Möglichkeiten eines ethisch zu nennenden Diskurses und band diese Möglichkeit an bestimmte narrative Formen zurück. Ein ethisch zu nennender Diskurs lehre nämlich, wie Stephanie Waldow Foucault paraphrasiert, „die Aufmerksamkeit sich selbst und dem Anderen gegenüber. Die Voraussetzung für diese Aufmerksamkeit ist die Bereitschaft des sich ständig wandelnden und bewegenden Blicks. Ein permanenter Perspektivenwechsel ist notwendig, um die eigene Sichtweise zu modifizieren und um den Horizont des Bekannten beständig zu verschieben bzw. zu hinterfragen.“24

Die persönliche Nähe, die sich bei Sebald auf der Ebene des Sujets kundgibt, indem der Erzähler, der deutliche biographische Züge des Autors aufweist, unaufhörlich auf den Spuren seiner Protagonisten unterwegs ist, korreliert meines Erachtens mit einer narrativen Form, die sich in der Bewegung und in Grenzbereichen einrichtet, so als hätte Sebald nach einer adäquaten Form gesucht, die den erzählten Schicksalen gerecht werden kann. Im Folgenden möchte ich anhand der Erzählung „Ambros Adelwarth“ aus dem Band „Die Ausgewanderten“ zeigen, wie sich das ethische Potenzial der sebaldschen Narration im Hinblick auf das Thema der Auswanderung entfaltet. Zum Schluss werde ich dafür argumentieren, dass Sebalds Erzähltechnik nicht nur in der Dichotomie von Identifizierung und Distanz gedacht werden kann, sondern an vielen Stellen eine Stimme schafft, die am besten mit der Kategorie des ‚Zwischen‘ beschrieben werden könnte. Die Haupt- und gleichzeitig Titelfiguren der vier Lebensgeschichten im Erzählband „Die Ausgewanderten“ sind allesamt entwurzelte Existenzen, die das Trauma der Auswanderung in der Jugend erlebt haben. Das Wort Auswanderung mutet in Bezug auf die erzählten Lebensläufe auf den ersten Blick fast wie ein Euphemismus für Vertreibung, Verfolgung und Flucht an, denn in dreien von den vier Geschichten steht das Schicksal von Menschen jüdischer oder teilweise jüdischer Herkunft im Mittelpunkt. Genauer betrachtet ergibt sich aber ein facettenreiches Bild: In der ersten Geschichte ist Henry Selwyn, der englische Vermieter des Erzählers und Kind litauisch-jüdischer Auswanderer, die 1899 nach England kamen, eine solche entwurzelte Existenz. Paul Bereyter, der ehemalige bayrische Grundschullehrer des Erzählers, ist ein sogenannter ‚Dreiviertelarier‘, der im Zweiten Weltkrieg, vor seiner Übersiedlung in die Schweiz, sogar mehrere Jahre in der Wehrmacht dient, während seine Eltern und Großeltern der Verfolgung ausgesetzt sind. Ambros Adelwarth, die Titelfigur der dritten Geschichte, ist ein Vorfahre des Erzählers, ein deutscher Auswanderer, dessen Biographie auch dadurch mit der ersten Geschichte in Beziehung gesetzt 24 Waldow, Schreiben als Begegnung mit dem Anderen. 2013, S. 72.

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wird, dass er dreizehnjährig, und das heißt, im selben Jahr wie Henry Selwyn, also 1899, das erste Mal seine Heimat verlässt. Der vierte Protagonist ist der Maler Max Ferber, der als Schulkind im Jahre 1939 als Einziger aus der Familie aus Bayern nach England gerettet werden kann. Zu Recht bemerkt Ruth Klüger in ihrer umfassenden Darstellung „Wanderer zwischen falschen Leben“, dass manche Figuren eher eine Art „Übergang zum jüdischen Schicksal“ darstellen.25 Wie wichtig dieser Übergangscharakter mancher Figuren tatsächlich auch für Sebald ist, kann man unter anderem einem Interview mit dem Autor über „Die Ausgewanderten“ entnehmen. Hier betont er, dass er keinesfalls über eine „Judenproblematik“ habe schreiben wollen, mit der „der Rest der Welt“ nichts zu tun habe. „Was bislang kaum gemacht worden ist in der Literatur, das sind diese Übergänge. Daß es Leute gibt, die in beide Lager gehört haben. Es ging mir darum, die Gradationen dieser Verhältnisse zwischen Deutschen und Juden auszuloten“.26 Die Figur des Ambros Adelwarth, der keine jüdischen Vorfahren hat, repräsentiert außerdem die vielfältige und vielfache Betroffenheit der europäischen Gesellschaft durch das Phänomen der Auswanderung im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert. In diesen größeren und schlussendlich auch aussagekräftigeren Zusammenhängen ist jüdisches Schicksal für Sebald, ich zitiere wieder Ruth Klüger, „nicht Ausnahme, sondern paradigmatisch für den modernen Menschen“.27 Für diese Teilhabe an einem gemeinsamen Schicksal und Anteilnahme am Leben des Anderen steht auch die bis zur Selbstaufgabe gehende Freundschaft, die in der Geschichte Ambros Adelwarths die rastlose Titelfigur mit dem ebenfalls verstörten und ruhelosen Cosmo Solomon, einem verlorenen Sohn jüdischer Großbürger in Amerika, verbindet. Vom Anfang seiner wissenschaftlichen und literarischen Laufbahn an beschäftigte Sebald das Thema der seelischen und geistigen Heimatlosigkeit. Das Leben als immer schwieriger zu verkraftendes Provisorium, der Aufenthalt in geographischen, kulturellen und zeitlichen Zwischenräumen, das ständige Unterwegssein, sei es als Flucht oder als Suche gedacht, sind ständig wiederkehrende, strukturbildende Motive in seinen Werken. Bereits Susan Sontag bescheinigte Sebalds Erzählerfiguren eine geistige Unruhe und stellte fest, dass die Reise das Herz aller sebaldschen Narration ausmache und das generative Prinzip jeder mentalen Tätigkeit in seinen Texten darstelle.28 Sie nannte Sebalds Erzähler einen „propelled narrator“ und seine Werke „morally accelerated travel narra25 Klüger, Ruth: Wanderer zwischen falschen Leben. Über W. G. Sebald. In: Text + Kritik, 2003, H. 158 (W. G. Sebald), S. 95–103, hier S. 97. 26 Sebald, W. G.: Wie kriegen die Deutschen das auf die Reihe? Gespräch mit Marco Poltronieri. In: Sebald, W. G.: „Auf ungeheuer dünnem Eis“: Gespräche 1971 bis 2001. Hrsg. von Thorsten Hoffmann. Frankfurt/Main: Fischer 2001, S. 87–96., hier S. 93. 27 Klüger: Wanderer zwischen falschen Leben. 2003, S. 97. 28 Sontag, Susan: Mind in Mourning. In: Times Literary Supplement, 25. Februar 2000.

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tives“. Das Moralische dieser Reisen hat wohl auch für Sontag damit zu tun, was sie an mehreren Stellen dieses Essays „the lives of others“ nennt, also mit dem eigentümlichen Hinüberneigen der Geschichten über die Grenze der fiktionalen Welt in die Wirklichkeit. Wir wissen, dass Sebald seine fiktionalen Gestalten realen Menschen nachgebildet, meistens freilich aus mehreren Biographien zusammengeknetet hat, und dass er einen besonderen Wert auf dokumentarische Recherche legte. Offensichtlich hat ihn also ein Impuls bewegt, den Paul Ricœur die „Schuld“ der heute Lebenden „gegenüber den Menschen von einst, den Toten“ nannte.29 Ricœur spricht von einer Forderung, die von den Toten an die Lebenden ausgehe, ihre individuelle Geschichte zu erforschen, ihre „in der wirklichen Vergangenheit unterdrückten Möglichkeiten aufzudecken“,30 wobei, so Ricœur, in der Erforschung von Möglichkeiten gerade der fiktionalen Literatur eine bedeutende Rolle zukomme. Die Fiktionalisierung jedoch geht für Sebald mit einem aus der ethischen Herausforderung resultierenden Unbehagen einher. In einem Interview spricht er von der paradoxen Situation, dass „Dokumente in ihrer unverstellten Form nicht zu Literatur werden können“, die ästhetische Authentizität jedoch, die „auf eine untergründige, intime Weise mit dem Ethischen verbunden ist“, durch „falsche Formen der Fiktionalisierung“, etwa durch das „Umkippen ins Melodramatische“, leicht verlorengehen könne.31 Deshalb, sagt Sebald, sei er immer darauf bedacht gewesen, die Menschen für sich sprechen und den Erzähler bloß in der Rolle des Berichterstatters auftreten zu lassen.32 Anne Fuchs spricht von einem selbstreflexiven Diskurs, der aus dem Verfahren der narrativen Einbettung resultiert und „den Abstand zwischen Selbst und Anderem genauestens aus[lotet], um so die […] Identifikation des Ich-Erzählers mit den Protagonisten von vornherein zu unterlaufen.“33 Die eingestandenermaßen von Thomas Bernhard übernommene oder inspirierte Erzähltechnik, die von Sebald selbst als „periskopisches Erzählen, um ein-zwei Ecken herum“34 bezeichnet wird, soll vermeiden helfen, dass der Eindruck der Beherrschung des Anderen und seiner Geschichte entsteht. Periskopisches Erzählen heißt nach Sebald, „daß man also immer über zwei oder drei Gewährspersonen erzählt, nicht? Das ist etwas, was mir sehr eingeleuchtet hat an seinem [Bernhards – E. K.] Verfahren, dieses Vermittelte, daß dadurch also die Relativierung der Personen und der Positionen, die beschrieben werden, sehr greifbar werden und daß man sieht und begreift, daß letzten 29 Ricoeur, Zeit und Erzählung, 2007. Bd. 3, S. 310. 30 Ebd. 31 Sebald, W. G.: Ich fürchte das Melodramatische. Gespräch mit Martin Doerry und Volker Hage. In: Sebald, Gespräche 1971 bis 2001. 2001, S. 196–208, hier S. 200. 32 Jaggi, Recovered Memories. 2001. 33 Fuchs, Die Schmerzensspuren der Geschichte. 2004, S. 31. 34 Sebald, Ich fürchte das Melodramatische. 2001, S. 200.

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Endes alles durch den Kopf des Schreibenden geht und dann, auf diese Weise, der Schreibende auch seine Karten auf den Tisch legt, nicht?“35

Die leichte Verschiebung in der Argumentation Sebalds läuft darauf hinaus, dass die perspektivische Brechung des Erzählten, die Narration auf mehreren extraund intradiegetischen Ebenen nicht nur mit einer Relativierung der Positionen einhergehe, sondern einem auch helfe zu begreifen, ich zitiere nochmals Sebald, „daß letzten Endes alles durch den Kopf des Schreibenden geht und dann, auf diese Weise, der Schreibende auch seine Karten auf den Tisch legt“. Die Autorperson erscheint hier in letzter Instanz und übernimmt Verantwortung für das Geschriebene, aber gleichzeitig heißt hier Verantwortung übernehmen, dass die Autorperson ihre Voreingenommenheit und ihr beschränktes Wissen offenlegt. In der kritischen Rezeption zu Bernhard wird diese Erzähltechnik, soweit ich es mir vergegenwärtigen kann, nur in epistemologischen Zusammenhängen untersucht, nicht aber im Kontext einer Ethik des Erzählens. Sebald scheint aber davon auszugehen, und das ist anhand zahlreicher anderer Stellen in seinen Äußerungen belegbar, dass die formalen Unterscheidungen zwischen Erzählweisen nicht bloß formalistische und auch nicht bloß epistemologische Unterscheidungen sind, da epistemologische und ethische Fragen untrennbar miteinander zusammenhängen. So wird Bernhard für Sebald auch im ethischen Sinne ein Garant gelingenden oder zumindest nicht unmoralischen Erzählens. Tatsächlich lenkt dann Sebald auch das zitierte Gespräch in diese Richtung und spricht davon, dass der Leser wissen müsse, wer zu ihm spreche, „und zwar aus moralischen Gründen. Man muß wissen, was das für ein Bewußtsein ist. Und dieses Bewußtsein muß ein betroffenes Bewußtsein sein, auf irgendeine Weise, vor allem in unserer historischen Position.“ Er meint dass die Prosaliteratur „moralisch legitimiert sein muß, sich legitimieren muß auf jeder Seite.“36 Diese moralische Legitimität findet er in der ganzen Nachkriegsliteratur alleine in Bernhards erzählerischer Radikalität, wie er in einem weiteren Interview ausführt.37 Betroffenheit und Distanzierung werden von Sebald also nicht als Gegensätze konzipiert, sondern bedingen einander geradezu. Dieses ethisch problematisierte Verhältnis zum anderen nennt Fuchs in ihrem bereits zitierten Werk über Sebald im Kontext der Post-Memory eine empathetische Verstörung. Die empathetische Verstörung sei „eine Form des affektiven Bezugs auf den Anderen, die dessen Alterität respektiert und daher etwa darauf 35 Sebald, W. G.: Ein riesiges Netzwerk des Schmerzes. Gespräch mit Doris Stoisser. In: Sebald, Gespräche 1971 bis 2001. 2001, S. 224–252, hier S. 235. 36 Ebd., S. 236. 37 Silverblatt, Michael: A Poem of an Invisible Subject. In: The Emergence of Memory. Conversations with W. G. Sebald. Hrsg. von Lynne Sharon Schwartz. New York: Seven Stories Press 2007, S. 77–87, hier S. 83.

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verzichtet, mit der Stimme des Anderen zu sprechen“.38 Den Ausdruck übernimmt sie von Dominick LaCapra, für dessen Konzept der Historiographie der Begriff der Empathie eine wichtige Rolle spielt.39 Empathie erlaubt einen persönlichen, affektiven Zugang zu historischen Traumata, wahrt jedoch im Gegensatz zu einer falschen Identifikation die Differenz zwischen Opfern und Nicht-Opfern der Geschichte. Der Ausdruck empathic unsettlement, den also Fuchs für die Beschreibung von Sebalds narrativem Verfahren für treffend hält, impliziert auch formale Konsequenzen der Verstörung wie fortwährende Reflexion auf das Verhältnis zwischen dem Ich-Erzähler und dem jeweiligen Protagonisten oder aber den bereits erwähnten Verzicht darauf, mit der Stimme des Anderen zu sprechen. ‚Unsettlement‘ impliziert aber meines Erachtens auch, dass diese formale Konsequenz gerade in der Konstruktion einer dislozierten, ent-setzten, eben ‚unsettled‘ Narration bestehen kann. Ambros Adelwarth, Titelfigur der dritten Erzählung im Band „Die Ausgewanderten“, fügt sich in die Reihe von Sebalds typischen Protagonisten, da er Auswanderung ebenfalls nicht als ein punktuelles traumatisches Ereignis, sondern als ein fatales Prinzip der ständigen Bewegung, der Rastlosigkeit, des Ortswechsels und des kontinuierlichen Grenzübertritts erlebt, das seine Existenz fortan konstituiert. Er ist ein deutscher Auswanderer, der Anfang des 20. Jahrhunderts nach Amerika emigriert, ein Wirtschaftsmigrant also, wie wir heute sagen würden. Nach ausgedehnten Reisen mit einem japanischen Diplomaten, „halb als Kammerdiener, halb als dessen Gast“,40 arbeitet er als Diener bei der reichen jüdischen Familie Solomon, und in dieser Eigenschaft ist er nicht weniger geheimnisvoll als Melvilles Bartleby und nicht weniger hingebungsvoll als Robert Walsers Gehülfe. Die existentielle Unsicherheit des Auswanderers wird mit der zunehmenden Selbstaufgabe im Dienen verdrängt und das Gefühl der Heimatlosigkeit in exzessiven Weltreisen als Butler, Pfleger und Freund des nervenschwachen und melancholischen Cosmo Solomon verschlimmert. Die ausgedehnten Reisen führen immer wieder zu typischen Nicht-Orten41 in geographischen und kulturellen Grenzbereichen, und auch der Status des dienenden Freundes hält diese Gestalt in einem existentiellen Dazwischen. Adelwarth ist auch insofern eine typische Sebald-Figur, weil er sich Erinnerungen verweigert; an einer Stelle heißt es von ihm, er habe ein „untrügliches Gedächtnis“, aber „kaum mehr eine mit diesem Gedächtnis ihn verbindende Erinnerungsfähig38 Fuchs, Die Schmerzensspuren der Geschichte. 2004, S. 34. 39 LaCapra, Dominick: Writing History. Writing Trauma. Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press 2001, S. 41. Zitiert bei Fuchs, Die Schmerzensspuren der Geschichte. 2004, S. 34. 40 Sebald, W. G.: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt/Main: Fischer 2004, S. 115. 41 Im Sinne von Augé, Marc: Nicht-Orte. 4. Auflage. München: C. H. Beck, 2014.

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keit“.42 Ein seltsamer Entleerungsprozess geht in ihm vor sich, den er auch noch willentlich vorantreibt, indem er sich in einer dubiosen Klinik Elektroschockbehandlungen unterwirft, um sich schließlich vollkommen zu verlieren. Narratologisch gesehen handelt es sich um mehrere Erzählinstanzen auf verschiedenen Erzählebenen. Es gibt hier einen extradiegetischen und mehrere intradiegetische Erzähler, unter denen sich auch Adelwarth selbst befindet. Der extradiegetische Erzähler ist ein Nachfahre von Adelwarth, der den Lebenslauf des Großonkels zu rekapitulieren versucht, indem er andere, noch lebende Familienmitglieder, ihrerseits Auswanderer zweiter Generation, sowie den ehemaligen behandelnden Psychiater über Adelwarth erzählen lässt, beziehungsweise gegen Ende der Erzählung Adelwarths Tagebuchaufzeichnungen wiedergibt. Selbst diese an sich schon komplexe Erzählanordnung erfährt stellenweise noch weitere Vermittlungsstufen, wenn beispielsweise der Neffe Tante Fini zitiert, die Adelwarths Erzählungen wiedergibt, oder wenn Onkel Kasimirs Rede zitiert wird, der sich seinerseits auf Tante Fini und Ambros Adelwarth beruft. Die von Thomas Bernhard übernommene periskopische Erzähltechnik kommt hier also vollends zum Tragen, allerdings mit dem Unterschied, dass die Binnenerzähler, anders als bei Bernhard, sich nicht unbedingt nur auf die Geschichte der Hauptfigur fokussieren oder deren Rede wiedergeben, sondern ihr eigenes Leben beziehungsweise das der anderen Verwandten teilweise miterzählen.43 Es findet also nicht nur ein Wechsel zwischen den verschiedenen Perspektiven statt, sondern der Erzählgegenstand selbst gerät sozusagen öfters aus dem Fokus: Die Narration wird somit auf doppelte Weise dezentralisiert und in Bewegung gesetzt. Selbst nach mehrmaligem Lesen hat man noch das Gefühl, die einzelnen Lebensläufe nicht ganz auseinanderhalten zu können: Handlungsmomente, Stimmungen, Empfindungen und Äußerungen, die verschiedenen Figuren zuzuordnen sind, prägen schlussendlich unser Bild von der Hauptfigur Ambros Adelwarth.

42 Sebald, Die Ausgewanderten. 2004, S. 146. 43 Philipp Schönthaler situiert Sebalds Erzähltechnik historisch in einer allgemeinen Legitimationskrise des Erzählers in der Literatur nach 1945. Sebald reagiere darauf mit „versatilen Strategien, die sich zunächst als eine Kritik der Perspektive formulieren“. Die vielfachen Verzweigungen im Erzählprozess verbindet er u. a. mit dem geometrischen Netzwerkmuster des „Quincunx“, das in „Die Ringe des Saturn“ im Zusammenhang mit Thomas Browne explizit thematisiert wird. Selbst das geometrische Muster sei aber bei Sebald doppelt perspektiviert: es stehe nicht nur für das Rasterhafte der Erzählung, sondern auch für Kritik an der Zentralperspektive. Vgl. Schönthaler, Philipp: Negative Poetik. Die Figur des Erzählers bei Thomas Bernhard, W. G. Sebald und Imre Kertész. Bielefeld: transcript 2011, S. 120–130. Demgegenüber meint Andrew Gibson, dass die Reisethematik, die bewegliche Perspektive im Allgemeinen die geometrische Ausrichtung des Narrativs zersetze. Vgl. Gibson, Andrew: Towards a Postmodern Theory of Narrative. Edinburgh: Edinburgh University Press 1996, S. 3.

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Den Erzähler ersten Grades können wir auch als homodiegetischen Erzähler bezeichnen, da er eine Figur der fiktionalen Welt ist, ein Auswanderer in der dritten Generation. Dieser homodiegetische Erzähler ist nicht nur auf der Suche nach Zeugen, sondern macht auch einige Reisen Adelwarths nach und verliert sich zunehmend in einem gespenstischen Zwischenraum zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dieser extradiegetisch-homodiegetische Erzähler, der so charakteristisch für Sebalds Erzählkunst ist, macht hier noch ausdrücklicher als sonst darauf aufmerksam, dass er die Geschichte des Anderen in keiner Weise beherrscht und auf fremde Erzählungen angewiesen ist: Gleich am Anfang teilt er dem Leser mit, dass er „kaum eine eigene Erinnerung“ an den Großonkel habe und diesen seit ihrem einzigen Treffen im Jahre 1951, als er noch ein Kind war, ganz aus den Augen verloren habe.44 Erst dreißig Jahre später, im Januar 1981, entschließt er sich zu einer Amerika-Reise zu den Verwandten Tante Fini und Onkel Kasimir und erfährt die ersten Geschichten über Adelwarth. Dieser Reise folgt drei Jahre später, im Frühsommer 1984, eine zweite in die amerikanische Kleinstadt Ithaca, wo der Großonkel seine letzten Jahre in einer psychiatrischen Anstalt verbracht hatte. Auf der dritten Zeitebene von 1991 dominieren die Erlebnisse einer weiteren Reise auf den Spuren von Adelwarth und Cosmos Solomon nach Deauville bzw. die geträumten Erlebnisse aus dem Jahre 1913. Die Narration bewegt sich also nicht nur zwischen verschiedenen Erzählinstanzen, Stimmen und Fokalisierungen, sondern ist auch ständig zwischen unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Ebenen unterwegs. Wie auch Jan Ceuppens feststellt, ist an dieser ständigen Bewegung des Erzählers bei Sebald vor allem wichtig, dass seine „Forschungs- und Rekonstruktionsarbeit […] ohne Reisen nicht möglich wäre; seine Mobilität ist es, die die Erfahrung der Migration und des Heimatverlustes erst erzählbar macht“45, wobei Mobilität sich nicht nur auf der Handlungsebene überdeutlich zeigt. So kann man in der zunächst kryptisch anmutenden Äußerung von Onkel Kasimir auf einem Spaziergang entlang der Küste bei New Jersey – „I often come out here, […] it makes me feel that I am a long way away, though I never quite know from where“46 – nicht nur die philosophierende Summierung eines Lebens in der Emigration, sondern auch eine metareflexive Geste der Narration sehen. Diese besagt aber nicht nur, dass jede Narration einen wesentlichen Zusammenhang mit der Reise unterhält, oder, wie Mieke Bal formuliert: „a traveller in narrative is in a sense always an allegory of

44 Sebald, Die Ausgewanderten. 2004, S. 97. 45 Ceuppens, Jan: Reisen. In: W. G. Sebald-Handbuch. Hrsg. von Claudia Öhlschläger/Michael Niehaus. Stuttgart: Metzler 2017, S. 163. 46 Sebald, Die Ausgewanderten. 2004, S. 129. In der Erzählung „Paul Bereyter“ im gleichen Band wird der Verlust eines Mittelpunktes mit der Bildüberschrift „zirka 2000 km Luftlinie weit entfernt – aber von wo?“ (S. 83) auf eine sehr ähnliche Weise ausgedrückt.

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the travel that narrative is“.47 Hier gerät die wandernde Narration zu dem Versuch, auf eine ethische Herausforderung zu antworten. Die, mit dem bereits zitierten Ausdruck Sontags, ‚moralisch angetriebenen‘ Reisen auf den Spuren des seltsamen Verwandten stehen also nicht nur für eine nachahmende Wiederholung als Anteilnahme an einem fremden Schicksal, sondern sind auch Allegorien eines sich ständig bewegenden erzählerischen Standpunktes, der durch den migrierenden Blick vielleicht die angemessenste Annäherungsweise an den toten Anderen bietet. Die Rede vom migrierenden Blick ruft Wolfgang Isers „wandernden Blickpunkt“48 aus seiner Phänomenologie des Lesens in Erinnerung, und die Reminiszenz wäre vielleicht auch gar nicht so verfehlt. Denn Isers Modell liegt gewissermaßen auch eine Erschütterung der Subjekt-Objekt-Relation zugrunde, sofern sich der Leser nicht als ein distinktes Subjekt gegenüber dem als Objekt aufgefassten Text aufstellt, sondern „als perspektivischer Punkt“ sich innerhalb dessen bewegt, was es aufzufassen gilt.49 Wollte man also den Erfassungsprozess des Erzählers bei Sebald als eine Art Lektüre einer Biographie als Text auffassen, was durchaus ein fruchtbarer Ausgangspunkt wäre, dann könnte man sagen, dass die ständige Bewegung, der Wechsel vom Detail zum Ganzen und umgekehrt sowie die Aufhebung der scharfen Grenzen zwischen Subjekt und Objekt, oder mit Isers Worten, die Erfahrung, „mitten drin zu sein und gleichzeitig von dem überstiegen zu werden, worin man ist“,50 sehr wohl charakteristische Eigenschaften der Narration sind. Was uns aber hier in erster Linie interessiert, um das zusammenfassend nochmal anders zu akzentuieren, sind die epistemologischen Konsequenzen der Struktur. Denn es ist im Grunde ein epistemologischer Zweifel, der durch diese Art der Narration zum Ausdruck gebracht wird. Ein Zweifel an der Möglichkeit, des Anderen durch Erzählung habhaft werden zu können, ihn einverleiben, integrieren zu können in eine sukzessive und kohärente Erzählung. Wie Andrew Gibson in seiner Studie „Narrative and Alterity“ schreibt: „Narration might seem principally to be a mode of activity in which a subject takes another, others, the world as the object or objects of knowledge and claims possession of them.“51 Er macht auch auf die Wichtigkeit von Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Arten von Narration aufmerksam, ja, er meint, dass es aus ethischer Hinsicht gerade auf die genauen Unterschiede in epistemologischer Hinsicht ankomme: „In the context of an ethics for which ethical and epistemological 47 Bal, Mieke: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. 2. Auflage. Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press 1997, S. 137. 48 Iser, Wolfgang: Der implizite Leser. 4. Auflage. München: Fink 1994, S. 177–193. 49 Ebd., S. 178. 50 Ebd. 51 Gibson, Narrative and Alterity. 1999, S. 26.

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questions are inseparable, distinctions between modes of narration are also the crucial ethical distinctions.“52 Interessanterweise ist es auch für Gibson die extradiegetisch-homodiegetische Narration, also die Erzählung durch einen gewissermaßen außenstehenden, aber doch als Figur konzipierten Erzähler, derjenige Erzählmodus, der die Subjekt-Objekt-Beziehung am deutlichsten problematisiert. Diese Erzählweise bietet, wie wir gesehen haben, einen geeigneten Rahmen für die Inszenierung eines perspektivisch vielfach gebrochenen, vermittelten Verhältnisses zum Anderen, einer Dynamik von Annäherung und Distanz, also für die wandernde Narration von Sebald, die unter anderem eine „falsche Identifikation“ verhindert. Sie bietet jedoch auch eine andere Möglichkeit, die von Sebald ebenfalls ganz extensiv – und nicht nur im Erzählband „Die Ausgewanderten“ – genutzt wird: die Möglichkeit, Stimmen ineinanderfließen zu lassen, einen narrativen Zwischenraum zu erzeugen.53 In der Erzählung „Ambros Adelwarth“ sind es vor allem die Schauplätze der Reisen, die als geographische, kulturelle, sprachliche Zwischenräume konzipiert sind: Hotelzimmer, Schiffe, ein sogenanntes Wasserhaus, Meeresküsten. Die Figur des Adelwarth selbst oszilliert zwischen Diener und Herr, ihre Sprache zwischen Deutsch, Englisch und gelegentlich anderen Sprachen. Und sie gehört zweifelsohne zu denjenigen sebaldschen Charakteren, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Tod und Leben herumgeisternd eine Erklärung für das ihnen angetane Unrecht verlangen. Wie bereits beschrieben, gerät auch die Erzählerfigur mehr und mehr in dieses Niemandsland zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen seinem eigenen Leben und dem von Ambros Adelwarth, und – was schon in Richtung eines narrativen Verfahrens zeigt –, zwischen seiner eigenen Wahrnehmung und der Wahrnehmung des Anderen. Auf der Ebene des Sujets gipfelt diese an eine Verschmelzung der beiden Figuren grenzende Einfühlung in der langen Traumsequenz. Der Erzähler ist im gleichen Hotel in Deauville abgestiegen wie Ambros etwa 70 Jahre zuvor und er träumt in der Nacht die damalige mondäne Welt so detailreich und sinnlich lebendig herbei, als wäre er tatsächlich einer von ihnen gewesen: „Ich stand, selber todmüde, auf der Tribüne des Hippodroms. Die um das Polofeld herumführende Grasbahn war eingesäumt von einer langen Reihe gleichmäßig gewachsener Pappeln. Mit dem Fernrohr sah ich, wie ihre Blätter silbergrau sich wendeten im Wind. Bald war unter mir nur noch ein einziges Meer von wogenden Hüten, über

52 Ebd. 53 Vgl. Schönthaler, Negative Poetik. 2011, S. 130, der diese Erzählweise, nämlich dass die Sprecherinstanzen nicht unterschieden werden und die Rede des Erzählers unmerklich in die der Figur überfließt, beispielsweise auch für „Die Ringe des Saturn“ konstatiert. Siehe dieselbe Diagnose auch bei Schley, Kataloge der Wahrheit. 2012, S. 448.

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dem die weißen Reihenfedern schwebten wie Schaumkronen über dunkel dahinlaufenden Wellen.“54

Obwohl die Perspektive des Erzählers auch hier kaum noch von der Perspektive des Protagonisten zu unterscheiden ist, entsteht narratologisch gesehen vor allem dort ein Zwischenraum, wo das Reisetagebuch von Adelwarth wiedergegeben wird. Da Sebald hier ganz bewusst keine Anführungszeichen verwendet, können wir uns im Prinzip an keiner Stelle sicher sein, ob wir gerade eine Zusammenfassung, eine Interpretation oder ein wörtliches Zitat lesen. In der Passage über Konstantinopel heißt es zum Beispiel: „Niemand, schreibt er [Adelwarth – E. K.], würde eine solche Stadt sich vorstellen können. So viel Bauwerk, so viel verschiedenes Grün. […] Jeder Spaziergang voller Überraschungen, ja Schrecken. Wie von Szene zu Szene in einem Schauspiel wechseln die Prospekte.“55 Aus der als Zitat ausgewiesenen Rede schlittert hier der Erzähler möglicherweise in einen reflektierenden Bericht. Gegen Ende der Erzählung wird die scharfe Distinktion zwischen Erzähler-Ich und der Stimme des Anderen vollständig aufgelöst. Wie steht es nun mit der akribischen Unterscheidung vom Selbst und dem Anderen, die eine unbotmäßige Einverleibung, die Verfehlung der Alterität des Anderen verhindern soll? Im bereits zitierten Aufsatz von Andrew Gibson wird die Möglichkeit erwogen, gerade dieses in der Literatur gar nicht so seltene Phänomen der narrativen Verschmelzung von Sprecherinstanzen als ethischen Akt zu verstehen. Im Anschluss an Lévinas’ Buber-Rezeption erforscht Gibson nämlich die narrativen Entsprechungen des ‚Zwischen‘ und kommt zu dem Schluss, dass das Ereignis der Erzählung, durch eine Subversion der allgemein akzeptierten narratologischen Kategorien, auch als Begegnung, als Anteilnahme und Verhältnis aufgefasst werden kann, noch bevor zwischen Entitäten wie Subjekt und Objekt, Selbst und Anderem, Erzähler und Erzähltem unterschieden wird.56 In der Tat spricht auch bei Sebald einiges dafür, dass er in seiner Literatur aus dem Grunde Grenzziehungen verunsichern und Übergangsposten einrichten will, um dem Erzählgegenstand seine Objekthaftigkeit zu nehmen und dadurch dem Leser eine Lektüre als Anteilnahme zu ermöglichen. Die Geister, die Sebalds Texte bevölkern und in der Erzählung „Ambros Adelwarth“ als die zwischen Leben und Tod herumirrenden Gestalten von Ambros und Cosmo erscheinen; die Träume und traumartigen Zustände, in denen die Grenze zwischen Wirklichkeit und Einbildung verfließt, sind solche überdeutlichen Allegorien von narrativen Zwischenräumen, die uns in der Unterscheidung von eigenem und fremdem, von vergangenem und unvergangenem oder wirklichem und mögli54 Sebald, Die Ausgewanderten. 2004, S. 182. 55 Ebd., S. 192. 56 Gibson, Narrativity and Alterity. 1999, S. 31–40.

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chem Leid verunsichern. Vom Schwindel bei Sebald als einem – dem Traum und der Spuk wohl vergleichbaren Zustand – heißt es bei Doren Wohlleben: „Indem er etablierte Grenzziehungen verunklärt und phantasmatische Grenzüberschreitungen verklärt, weist auch der Schwindel ein ethisches Moment auf, das all diejenigen, die mit ihm konfrontiert werden, zu einem Überdenken ihrer bisherigen Ordnungsmuster, zu einem Neuentwurf ihrer Wirklichkeitsvorstellung verleitet und eine Begegnung mit dem Anderen evoziert. Wenn infolge der Schwindelgefühle herkömmliche Differenzen ihre Gültigkeit verlieren, kommt ein Zwischenreich, eine Grauzone zur Geltung, welche die aktive Rolle des Lesers an denjenigen Stellen in Anspruch nimmt, an denen die ‚Grenzen der epistemologischen Horizonte‘ erfahrbar werden.“57

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es im Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem Selbst und dem Anderen im Grunde zwei entgegengesetzte, aber zumindest stark divergierende Konzepte in der literaturwissenschaftlichen Ethik gibt – und dass Sebalds Literatur, wie es vielleicht anhand der Erzählung „Ambros Adelwarth“ gezeigt werden konnte, für beide Konzepte von Interesse sein kann. Das eine, von der historiographischen Diskussion und dem Post-Memory und Trauma-Begriff herkommende, betont die Notwendigkeit einer klaren Trennung zwischen Opfern und Nicht-Opfern, zwischen Toten und Lebenden, zwischen dem Erzähler und dem erzählten Anderen. Das andere, in erster Linie an Lévinas’ Philosophie anknüpfende Konzept jedoch spricht von einer Ontologie des Intervalls und des Verhältnisses und plädiert für die Wahrnehmung von Zwischenräumen, die vor aller Unterscheidung zwischen Entitäten vorhanden sind und der eigentliche Ursprung aller Ethik sind. Die im Erzählband „Die Ausgewanderten“ geschilderten Schicksale stellen, nicht zuletzt durch ihren elementaren Zusammenhang mit Bewegung, Ortswechsel und Unverortbarkeit einerseits und ihren Übergangscharakter und Zwischenstatus andererseits aus beiden Perspektiven eine Herausforderung dar.

57 Wohlleben, Doren: Schwindel der Wahrheit. Ethik und Ästhetik der Lüge in Poetik-Vorlesungen und Romanen der Gegenwart. Freiburg/Berlin: Rombach Verlag 2005, S. 277. Die Wendung von den „Grenzen der epistemologischen Horizonte“ übernimmt sie von Butler, Kritik der ethischen Gewalt. 2007, S. 144.

Jacqueline Gutjahr (Göttingen)

„während ich unentwegt kreise“. Auf der Suche nach Sprache in Maja Haderlaps Gedichtband „langer transit“

Im Mittelpunkt des Beitrags steht die in Maja Haderlaps Gedichtband „langer transit“ inszenierte vielgestaltige Suche eines Ich nach Sprache, die im Hinblick auf darin entfaltete Sprachgrenzerfahrungen – Be- und Entgrenzungen, Übergänge – in ihrer topographischtopologischen Ausgestaltung nachgezeichnet wird. Die Gedichte des ebenfalls mit „langer transit“ betitelten dritten Teils führen vor, wie ein lyrisches Subjekt sich und Sprache bzw. seine Sprachlichkeit erlebt, auslotet und reflektiert. Sie sind über eine Vielzahl innertextueller Verweise aufeinander bezogen und kreisen um einen Sprachwechsel, der in verschiedenen Stadien und ambivalenten Begleitphänomenen, wie etwa Selbstentfaltung versus Verlust von Erinnerung, und als räumliches Übersetzen von alter in andere, neue Sprache durchgespielt wird. Der vollzogene Sprachwechsel mündet in eine metapoetische Reflexion auf die Leistungsfähigkeit von Gedichten, von (lyrischer) Sprache in der Hervorbringung spezifischer Erlebnis-, Erinnerungs- und Erkenntnisräume sowie auf das (Un)Sagbare. This chapter adresses the multifarious search for language of a lyrical speaker presented in Maja Haderlap’s volume of poems “langer transit”, which is traced with regard to languageboundary-experiences – limitations, blurred boundaries and transitions – in their topographical-topological composition. The poems of the third part, also titled “long transit” present how a lyrical subject experiences, explores, and reflects (on) himself and (his) language. They are interrelated via a variety of intratextual references and revolve around a language transition, which is created in various stages and ambivalent accompanying phenomena such as self-expression versus loss of memory and as a process of a ‘spatial translation’ of transferring from old language into other, new language. The performed language transition culminates in a metapoetical reflection on the potentiality of poems and (lyrical) language in the production of specific spaces of experience, memory and realization and in a reflection on the (in)expressible.

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„zuletzt brach / ich auf. das verlassene folgte mir. / es ist am ziel angekommen, / während ich unentwegt kreise.“1

Der in diesen letzten Versen eines Gedichts von Maja Haderlap über ein Ich vermittelte Aufbruch ins Ungewisse ist eine versuchte Abkehr. Sie geschieht von dem als eng, begrenzend und instabil erfahrenen, mit Entfremdung verbundenen „haus der alten sprache“, so lautet der Titel dieses Gedichts, und führt ins unentwegte Kreisen – eine Bewegung, die keinen linear gerichteten Verlauf mit einem klar zu fassenden, erkenn- oder erreichbaren Ziel verspricht. In den Fokus rückt also die Bewegung selbst, die aufgenommene ungewisse und anhaltende, vielleicht unabschließbare Suche nach etwas anderem, nach anderer, neuer Sprache. Sie wird das sprechende Ich immer wieder auch auf das zurückwerfen, was es zu verlassen und hinter sich zu lassen versucht. Der Aufbruch führt es aus dem „haus der alten sprache“ mit seiner insbesondere in den „porösen, atrophischen wänden“ (S. 27) zum Ausdruck kommenden Topographie des UnHeimlichen sowie aus einer Art vorgeordnetem, von kulturellen Semantiken („epochale versprechen / lagerten hinter ihren […] wänden“) und sprachideologischen Machtmechanismen („von der schmähung erstürmten kammern“, ebd.) durchzogenem Raum heraus in ein zirkuläres Treiben. Letzteres ist fassbar als ein transitorischer Schwebezustand „zwischen einem Nicht-mehr und einem Noch-nicht“2, ein auf ein noch unbestimmtes anderes gerichteter Übergang – so suggeriert es mit „langer transit“ auch der Titel des Gedichtbandes und gleichzeitig des dritten Teils, dem dieses Gedicht entnommen ist und der im Zentrum dieses Beitrags steht. Ziel ist es, nach einem kurzen kontextualisierenden Blick auf die vorausgehenden Teile, die darin inszenierten sprachlichen Suchbewegungs- und Selbstauslotungsprozesse insbesondere im Hinblick auf ihre topographische Ausgestaltung, die Hervorbringung und Verknüpfung spezifischer Sprach(en)- und Erfahrungsräume nachzuzeichnen. Besondere Berücksichtigung finden die darin entfalteten unterschiedlichen Sprachgrenzerfahrungen – Be- und Entgrenzungen, Schwellen und Übergänge – als spezifische Differenzerfahrungen3.

1 Haderlap, Maja: langer transit. Göttingen: Wallstein Verlag 2014, S. 27 (Seitenangaben fortlaufend im Text). 2 Waldenfels, Bernhard: Ordnung im Zwielicht. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987, S. 29. 3 Mit Blick auf die in diesem Beitrag analysierten Gedichte von Maja Haderlap schließe ich an die Definition von Haarmann an: „Differenzerfahrung vergegenwärtigt Seinsweisen und initiiert Denk- und Handlungsformen. Sie […] benennt das Verhältnis zwischen dem Individuum und seinem Selbst oder etwas anderem. Sie ist eine […] Bewegung der Verschiebung und Veränderung des Erfahrens, das meint der Begriff der Differenz.“ Haarmann, Anke: Disziplin und Differenz. Erfahrung bei Michel Foucault. 1995, S. 57. (Zugriff am 31. 01. 2018).

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Der gesamte Gedichtband erscheint als lyrische Umkreisung des von Haderlap in ihrer Klagenfurter Rede zur Literatur4 vor dem Hintergrund ihres Spracherlebens5 entworfenen Wunsches „von einer Peripherie aus, von der deutsch-slowenischen Sprachgrenze, die für Kärnten prägend ist, über das Phänomen des literarischen Sprachwechsels“ (S. 1) nachdenken und schreiben zu wollen, um von dort aus ihre Sprachen auszuloten. Mit der deutsch-slowenischen Sprachgrenze ist ein von spezifischen historisch-politischen und sprachideologischen Differenzkonstruktionen geprägter Raum aufgerufen und Haderlap betont, dass die Entscheidung für oder gegen eine Sprache immer in einen gesellschaftlichen und (macht-)politischen Prozess eingebettet sei und es deshalb „keine wirklich makelfreie Entscheidung in einer ungleichen Konstellation“ (S. 4) gebe. Somit ist für sie „ein Sprachwechsel ein äußerst schwieriger Prozess […] notgedrungen verbunden mit kulturellen und persönlichen Konflikten“ – auch ihr eigener „Wechsel in die deutsche Literatursprache“ (S. 2). Dies ist der Begründungszusammenhang, aus dem sie in Abwandlung eines Zitats von Ingeborg Bachmann6 und gegen den „Modediskurs der Ortlosigkeit“ (ebd.) folgert: „Die Sprache hat also ihren Ort. Der Ausgangspunkt jeder Geschichte liegt im Topographischen.“ (S. 4) Mit diesen Überlegungen grenzt sie sich von Etikettierungen des Sprachwechsels in der Literatur als Ausdruck einer neuen Form des Kosmopolitismus ab, weil dieser politische Freiheit voraussetze und die auch leidvollen Erfahrungen, die einen Sprachwechsel begleiteten, sowie die Anstrengungen, „derer es bedarf, um irgendwo anzukommen“ (S. 2), verdecke. Die Sprachgrenze stilisiert Haderlap in ihrer Rede als einen spezifischen performativen Reflexionsraum und poetologisches Konstrukt im Bild des unsicht4 Haderlap, Maja: Im Licht der Sprache. Klagenfurter Rede zur Literatur 2014, S. 1–7 (Seitenzahlen fortlaufend im Text). (Zugriff am 31. 01. 2018). 5 Busch, Brigitta: Mehrsprachigkeit. Wien: facultas Verlag 2013. Das Konzept des Spracherlebens entwickelt Busch aus der Perspektive des Subjekts als Ineinandergreifen von leiblichen, emotionalen und historisch-politischen Dimensionen im sprachlichen Repertoire und rekurriert auf sprachenbiographische Erzählungen, in denen Selbst- und Fremdwahrnehmungen „als ‚anderssprachig‘“ (S. 18) und das Erleben von (Nicht-)Zugehörigkeit, Ein- und Ausschlüssen und sprachlicher (Ohn-)Macht erkennbar werden. Haderlap thematisiert eben solche Erfahrungen in ihrer Klagenfurter Rede zur Literatur bezogen auf ihr eigenes sprachliches Repertoire, aber auch die Gedichte imaginieren und inszenieren Facetten von Spracherleben fast durchgängig aus der Perspektive eines sprechenden, erzählenden Ich. 6 Bachmann, Ingeborg: Simultan. Erzählungen. 6. Auflage. München: Piper Verlag 2000. Haderlap bezieht sich auf einen Satz aus der Erzählung „Drei Wege zum See“, der in der einleitenden Passage zu finden ist: „Auf der Wanderkarte für das Kreuzberglgebiet, […], sind 10 Wege eingetragen. Von diesen Wegen führen drei Wege zum See, der Höhenweg 1 und die Wege 7 und 8. Der Ursprung dieser Geschichte liegt im Topographischen, da der Autor dieser Wanderkarte Glauben schenkte.“ (S. 119, Hervorh. im Original).

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baren und verdunkelten Korridors, den sie „als Verbindungsweg“ zwischen ihre „bestimmenden Sprachen gebaut oder gegraben“ habe und der „mit Versatzstücken aus der Vergangenheit und Geschichte“ ihrer Sprachen gefüllt sei, der überquelle „von gedachten, gehörten und gelebten Geschichten“ (S. 6). In diesem Korridor – der dem in ihrem Gedichtband ausgeleuchteten „langen transit“, den darin inszenierten facettenreichen Raumhervorbringungen gleicht – befrage sie, beständig hin- und her, auf- und abgehend, ihre Sprachen, „einmal die eine, dann die andere Seite“ (ebd.). In diesen Formulierungen wird deutlich, dass sie ihre Sprachen – als Folge von Erfahrungen historisch-politischer Grenzziehungsprozesse – als (räumlich) voneinander getrennt wahrnimmt und in wechselseitiger, um Verknüpfung bemühter Bespiegelung betrachtet. Die „Verbindungsbande“, die sie um ihre Sprachen gezogen habe, entwirft sie als ein Halt versprechendes Sicherheitsnetz im Verlauf ihres persönlichen Scherbengerichts über die Konfliktgeschichte, die ihre eigene sei (ebd.). Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen fungieren Haderlaps Reflexionen auf ihre Sprachen und ihr Schreiben auch als (Selbst-)Schutzmechanismus, vielleicht als Medium der Vergangenheitsbewältigung. Im Zentrum ihres literarischen Schaffens steht der immerwährende Versuch, ihre Sprache(n) und sich aus sprachenpolitischen und -ideologischen Restriktionen und von festen (Sinn-)Zuschreibungen zu befreien und diese Restriktionen wie auch die Befreiungsversuche in ihren Auswirkungen literarisch zu beleuchten und zu erproben, um zu neuen Ausdrucksformen, eigener Sprache zu finden: „Im Korridor lege ich alles Bezeichnende und Bezeichnete ab, werde frei von Zuschreibungen. Außerhalb des Korridors sehe ich die Sprachen leuchten. Sie verströmen ein starkes, anziehendes Licht. Alles, was in dieses Licht drängt, im Licht der Sprache erscheint, wird dadurch erst wirklich und wichtig und erkennbar. Die Sprache ist für mich das ständig Unerreichte, Herbeigesehnte, ein Sehnsuchtsort, eine Bühne der Wirklichkeit und ihr Spielleiter.“ (Ebd.)

Nicht zuletzt stehen ihre gnoseologischen wie schöpferischen Aktivitäten in diesem Korridor für eine Form von Sprachermächtigung, ein fortwährendes Ringen um Sprache und das Bedürfnis, sich eine Sprache zu erschreiben. Es sei ihr Anliegen als Schriftstellerin, „einen Teil des angehäuften, gleichsam hegemonialen Sprachbesitzes“ an sich zu reißen (S. 9). Orte bilden auch den Ausgangspunkt in Haderlaps Gedichtband „langer transit“ – fast alle Gedichte im ersten Teil des Bandes tragen Ortsnamen im Titel: „piran“, „trieste trst triest“, „komen“, „karstweide bei col“, „lagune bei grado“, „heuhütten in laze“, „venezia“, „grenzländer“, „ein sommertag über dem jaunfeld“, „kosˇuta“ und „gocˇe return“. Dies sind – wechselnd oder gleichzeitig in den Sprachen Italienisch, Slowenisch, Deutsch präsentierte – Namen, die auf Städte, Gemeinden, Dörfer, Täler, Gebirgsstöcke vorwiegend in Grenzbereichen von Österreich–Slowenien–Italien referieren und diese Orte werden in den Gedichten

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über Schilderungen von Ereignissen, Erfahrungen, Erinnerungen, Stimmungen und Bewegungen evoziert und verknüpft. Die Geschichten, so führt Michel de Certeau in „Kunst des Handelns“ aus „durchqueren und organisieren […] die Orte; sie wählen bestimmte Orte aus und verbinden sie miteinander; sie machen aus ihnen Sätze und Wegstrecken. Sie sind Durchquerungen des Raumes.“7 Orte werden über Bewegungen, narrative Handlungen und bedeutungskonstituierende Beschreibungen in einen Raum verwandelt, d. h. dargestellt, (sprachlich) realisiert und gestaltet: „Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.“8 Der Raum ist also durch Performativität und Relationalität gekennzeichnet und an die ihn erzeugenden Körper und Geschichten gebunden. Der Titel dieses ersten Band-Teils „beinah nach hause“ (S. 5) zeigt an, dass die imaginativ ausgestalteten Durchquerungen des Raumes über die Präposition „nach“ als eine auf ein Zuhause gerichtete Bewegung entworfen und durch das Adverb „beinah“ als unabgeschlossen markiert sind, ein Zuhause also als nicht/nie ganz erreicht erscheint. In der Auflistung der Gedichttitel sticht das Gedicht „grenzländer“ heraus. Es markiert die Selbstverortungsversuche des lyrischen Ich als ein Sprechen von der Peripherie aus und in die prägende Grunderfahrung des Übergangs und Verschwindens infolge historischer, sprachen- und (macht)politischer Grenzziehungsprozesse eingebunden: „[…] im krieg schlug / das grenzband vor und zurück, kamen / die dörfer vom weg ab, glitten an / die peripherie […] oft ging ich / beäugt auf dem harnischpfad in ein / nachbarland, um von früher zu hören, / als ein zaun noch die weiden säumte / und alle namen ein verwandtes echo / verband. wo damals eine straße verlief, / schwindet ihre spur. alles ist rand / und vergessen und übergang.“ (S. 14)

Die mit diesen Orten des ersten Kapitels ihren Ausgang nehmenden, im gesamten Gedichtband weiterentfalteten Topographien falten sich in assoziativer Verdichtung zwischen Erinnerung und Begehren auf und inszenieren die Selbster7 Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Berlin: Merve Verlag 1988, S. 215 (Hervorh. im Original). 8 Ebd., S. 218 (Hervorh. im Original). In de Certeaus Ausführungen zu ‚Raum‘ und ‚Ort‘ ist die Nähe zum Erzählen angelegt. Ich schließe deshalb hier an seine Unterscheidung von Ort und Raum an, um das von Haderlap in ihren stark narrativen Gedichten komplex inszenierte Wechselspiel (der Evokationen) von Ort und Raum, von Ordnung und Performanz, von Sein/ Sehen und Tun präziser fassen zu können. De Certeau definiert: „Ein Ort ist die Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. […] Hier gilt das Gesetz des ‚Eigenen‘: die einen Elemente werden neben den anderen gesehen, jedes befindet sich in einem ‚eigenen‘ und abgetrennten Bereich, den es definiert. Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten […]. Im Gegensatz zum Ort gibt es also weder eine Eindeutigkeit noch die Stabilität von etwas ‚Eigenem‘.“ (S. 217f., Hervorh. im Original)

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kundungen und die Suche nach Sprache als das ständig Unerreichte, wie es sich auch in dem zentralen Bild des unentwegten Kreisens manifestiert. Weit zurück in die Vergangenheit verweist der zweite Teil des Bandes „langer transit“, der wie ein Einschub wirkt und mit dem Titel „karantanien“ (S. 19) auf das slawische Fürstentum in seiner Bedeutung für slowenische Selbstauslegungsprozesse verweist. Der in das Mittelalter zurückführenden kurzen Erzählung in Versform und vier Kapiteln ist ein Zitat aus dem Gedichtband „Handschrift“ von Michael Ondaatje9 vorangestellt: „Wir begannen mit Mythen und ließen wirkliche Begebenheiten mit einfließen“ (S. 21). Diese entliehenen einleitenden Worte verweisen auf die nun folgende intertextuelle Inszenierung perspektivierter Gedächtniskonstruktionen, die als fiktive, kulturell geformte Erinnerungen ausgestellt sind. Auffällig ist die Evokation von Königen, deren mythologische Ausgestaltungen auch Ausgangspunkte für unterschiedliche Geschichtsentwürfe bilden (können). In den ersten vier Versen des dritten Kapitels taucht etwa Matthias Corvinus10 auf, der mit Referenz auf eine slowenische Legende mitsamt der darin zum Ausdruck kommenden Interpretation der Figur11 in die Verserzählung eingebunden ist: „der könige müde, doch unverzagt, / nahmen die slowenen matjazˇ corvinus / gefangen und schlossen ihn in einen / berg ein, für bessere zeiten, zur not“ (S. 23). Die beiden letzten Kapitel rücken dann Sprache als Sprache der Slowenen in den Fokus. Erzählt wird im dritten Kapitel von sprachlichen Ausdehnungen: „königslos, königfrei gewannen sie [die slowenen] land, / festigten seine grenzen, indem sie / sie abschritten mit worten. 9 Ondaatje, Michael: Handschrift. Gedichte. Aus dem Englischen von Simon Werle. München/ Wien: Carl Hanser Verlag 2001, S. 9. Haderlap zitiert aus dem ersten Gedicht des Bandes: „Ein Edler vergleicht seine Tugend mit einem Stück Jade“. 10 Auf Slowenisch bezeichnet als „Kralj Matjazˇ“, insgesamt eine Figur, in der sich „Fiktion und Wirklichkeit, mythologischer Volkssagenheld und historische Person“ begegnen; der „Mythos des volksnahen […] Herrschers manifestierte sich in den Volksüberlieferungen unterschiedlicher Nationen Mittel- und Südosteuropas, wo er mit folkloristischen Elementen des jeweiligen kulturellen Kontinuitätsrahmens ausgeschmückt wurde. […] In Kärnten/Korosˇka soll K.M. der Legende nach samt seinem schwarzen Heer unter dem Gipfel der Petzen/Peca schlafen, und […] erwachen, um sein Volk zu befreien. […] Um die Jahrhundertwende wurde K.M. zur transhistorischen Metapher für die Befreiung der Slowenen“. Francé, Maja: Kralj Matjazˇ. In: Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Korosˇka. Hrsg. von Katja Sturm-Schnabl/Bojan-Ilija Schnabl. Wien: Böhlau 2016. Bd. 2, S. 691. 11 Haderlap selbst verweist in einem Interview auf die Funktion der mythischen Figur Kralj Matjazˇ als Projektionsfläche, wenn sie ausführt: „Die Slowenen haben sich im Spätmittelalter einen König gewünscht, der sie vor den Raubzügen und Überfällen der Türken hätte beschützen sollen. Weil es zu dieser Zeit offensichtlich wenige umsichtige Herrscher gab, erfanden sie einen wilden König, vom Hörensagen. […] Der Kralj Matjazˇ lebt in vielen slowenischen Volksliedern weiter. Er ist aber auch mit der Geschichte der Slowaken, Lausitzer Sorben und Kroaten verbunden. Das nenne ich zentraleuropäische Geschichtsverflechtung.“ Haderlap, Maja: Der Grenze mussten wir Tribut zollen. In: Die Presse. 26. Dezember 2014. (Zugriff am 31. 01. 2018).

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[…] während andere / kriege führten, rollte ihre sprache / die landzungen aus“ (ebd.), im vierten Kapitel von Sprachverdrängung: Der „rivale als nachbar“ kam „um zu werten, zu / zählen und fand ihre anzahl kaum einer menge / wert“ – die „keimende sprache“ blieb also, „heruntergezählt“, eine „bewehrte, verwehrte sprache“ (S. 24). Über diese inszenierte Gedächtnis(re)konstruktion werden frühe Anfänge sprachenpolitisch geleiteter Restriktionen und Begrenzungen und die aufkommende Sprache als verweigerte Sprache vorgeführt. Die poetischen Umkreisungen unterschiedlicher Facetten von Sprachgrenzerfahrungen im langen und als langer Transit richten sich im gleichnamigen dritten Buchteil primär auf den Sprachwechsel als Übergang. In freier, erzählender Form und mit einem hohen Maß an innertextueller Referenzialität führen die Gedichte dieses Teils vielgestaltig vor, wie ein lyrisches Ich sich und seine Sprachlichkeit erlebt, auslotet und reflektiert. Der Sprachwechsel wird als räumlicher Wechsel hin zu anderer Sprache oder zu einer neuen Sprache in verschiedenen Stadien und Phänomenen durchgespielt. Den Ausgangspunkt bildet der Aufbruch aus dem „haus der alten sprache“ (S. 27), gefolgt von einem Rückblick auf „home“ – einem vertrauten, über Erinnerung hervorgebrachten (Kindheits-)Ort, an bzw. hinter dem sich die selbst agierende Sprache dem Ich als noch „unversehrt und kaum gebraucht“ (S. 28) zeigt und darüber einen besonderen Wahrnehmungsraum schafft – hin zur projektiven Wunschsprachvorstellung des sprechenden Ich im Gedicht „träumende sprache“ (S. 29). Auf den Übergang hin zu einer anderen Sprache fokussiert das Gedicht „übersetzen“ (S. 30), das mögliche Verwandlungen des Ich und seines Spracherlebens, seiner Ausdruckskraft und Wörter sowie das drohende Verschwinden von Geschichte(n) im Prozess des Übersetzens reflektiert und das Gedicht „transit“ (S. 34f.), das die (antizipierte) Ankunft „am ufer des neulands“ inszeniert. Zwischen diesen beiden Gedichten erscheinen drei andere, die exemplarisch über die Schilderungen eines bestimmten Flusses („ljubljanica gedächtnisfluss“, S. 31), Moors („barje“, S. 32) und Meers („die flucht meines großvaters aus dem schwarzen meer“, S. 33) eben durch das Übersetzen vom Verlust bedrohte Geschichte(n) und Erinnerungen aufrufen. Den Schluss bildet eine Gruppe von vier metapoetischen Gedichten über symbolisch aufgeladene Wesenszüge von Gedicht-(Körpern), in denen bzw. über die die Leistungsfähigkeit von Sprache(n) und lyrischen Sprechens in der Hervorbringung spezifischer Erfahrungsräume und damit verbundenen (Selbst-)Erlebens verhandelt, befragt und erprobt werden; dies sind die Gedichte „lebenesser“ (S. 36), „ozean und gedicht“ (S. 37), „gedicht und sinn“ (S. 38) und schließlich „stummes gedicht“ (S. 39). Diese poetisch ausgelegte Spur des langen Transits wird im Folgenden nachgezeichnet. Im ersten Gedicht dieses Teils, dessen Schlussverse den Einstieg in diesen Beitrag bilden, erscheint die Sprache als alte Sprache. Der Aufbruch aus dem „haus der alten sprache“ wird aus der Perspektive des Ich über die semantisch

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aufgeladene Schilderung des häuslichen Interieurs und die raumbezogenen Ausbruchshandlungen des Ich vorgeführt. In Anlehnung an de Certeau lassen sich raumerzeugende Beschreibungen als Kombination von „sehen (das Erkennen einer Ordnung der Orte) und gehen (raumbildende Handlungen)“12 charakterisieren, wobei das Sehen in diesem Gedicht eher ein relationales Durchschauen der Strukturen des Ortes, also erkenntnisstiftend ist und sich das Gehen auf die aufbruchs- und ablösungsbezogenen Handlungen des Ich bezieht. Als Chronotopos13 deuten die Darstellung des Hauses bzw. der alten Sprache mit seinen/ihren „fluren“, „kammern“, „wänden“ (S. 27) und das darüber inszenierte Spracherleben des Ich auf die „Ko-Präsenz unterschiedlicher Zeiten und Räume in der Sprache“14 hin. Die Beschreibung des Hauses bzw. seiner zerfallen(d)en Ordnung zu Beginn des Gedichts richtet sich auf die Zeit nach dem Weggang des Ich: „in den fluren der sprache, aus der ich / ausgezogen bin, irren verstörte bienen. / zugvögel entleeren ihre mägen in den / von der schmähung erstürmten kammern, / als wären sie endlich zu hause, das ist dort, / wo sie einmal gewesen sind.“ (Ebd.) Das auf die Zugvögel projizierte Begehren „als wären sie endlich zu hause“ wird, unterstützt durch die Verwendung des Konjunktiv II, als Illusion präsentiert, denn die Kennzeichnung des Zuhauses, „das ist dort, / wo sie einmal gewesen sind“, impliziert, dass es nicht (mehr) hier, also nicht (mehr) zugänglich ist bzw. nur noch über Erinnerung. Die „von der schmähung erstürmten kammern“ dieses die alte Sprache bzw. das mit ihr verbundene Erleben symbolisierenden Hauses deuten unbestimmt auf aggressive Herabwürdigungen und Herabsetzungen der Sprache und ihrer Sprecher hin. Rückwärts gerichtet wird im Präteritum das Davor evoziert, es liefert eine Begründung für die raumbildende Handlung des Auf- bzw. Ausbruchs des Ich aus dem Haus bzw. der Sprache, die als das Ich begrenzend, festlegend, festsetzend, an eine bestimmte Welt bzw. Weltsicht bindend und unerfüllend entworfen ist: „die sprache / fesselte mich an die welt, indessen sie / sättigte nicht.“ (Ebd.) Die Abkehr ist auch als Überwindung einer in diesem Sinne empfundenen Sprachgrenze, als Schwellenerfahrung und, über die Metapher des Hauses, als versuchter Übertritt in ein Draußen lesbar. Sie erfordert eine große körperliche 12 De Certeau, Kunst des Handelns. 1988, S. 221. 13 Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Berlin: suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2008 [1986]. Unter Chronotopos versteht er den „grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit- und Raum-Beziehungen“, im „künstlerisch-literarischen Chrontopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar […]. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.“ (S. 7) 14 So formuliert (in Anlehnung an Bachtin): Busch, Mehrsprachigkeit. 2013, S. 30.

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Anstrengung und gleicht einem radikalen, zerstörerischen Befreiungsschlag, einer erzwungenen Trennung, die auch zu einem (momentanen) Bruch mit Vergangenem führt: „biss ich sie durch, kostete / ich ihre wüstung. wenig ließ ich zurück, / wenn auch alles, was von den jahren blieb, / die ich durchkämmte.“ (Ebd.) Diese Jahre waren bezogen auf die alte Sprache mit spezifischen Zuschreibungen, enttäuschten Erwartungen, nicht eingetroffenen Verheißungen verbunden und in dieser Erkenntnis erweist sich das alte Sprachhaus im Erleben des Ich als ein instabiles, verkümmertes, durchlässiges Konstrukt: „epochale versprechen / lagerten hinter ihren porösen, atrophischen / wänden, auch jenes liebliche lied, das mir / noch milch und honig verhieß, wo längst / der abriss erkennbar war.“ (Ebd.) Mit seinem Auszug setzt das Ich die Erkundung seiner Sprachlichkeit, seine Suche nach anderem außerhalb dieses alten Sprachhauses und seiner sich auflösenden Ordnung fort, als unentwegtes Kreisen. Über die Verse „zu hause, das ist dort, / wo sie einmal gewesen sind“ (ebd.) lässt sich eine Verbindung zum nächsten Gedicht des Teils ziehen, das den Titel „home“ trägt und einen Ort, an dem das Ich schon einmal gewesen ist, hervorruft: „an diesem ort tritt auch die sprache zu mir / als vertraute, die um jedes geheimnis weiß.“ (S. 28) Auffällig ist zum einen, dass das englische Wort für Zuhause als anderssprachliches Einsprengsel auftaucht – dies mag auf das Heimliche wie Un-heimliche hindeuten, das sich in diesem Gedicht primär als das Vertraute und das sich enthüllende Verborgene15 zeigt – und zum anderen, dass in der Imagination des Ich die Sprache selbst als Agens auftritt („die sprache“ tritt „zu mir“), sich an diesem Ort zeigt und über ihre Handlungen einen (un)möglichen Wahrnehmungsraum schafft. Zunächst ist dies ein Raum der Kindheitserinnerungen, der Kindheitsgeheimnisse, die in der Sprache als einer vertrauten aufgehoben und über sie vermittelt und abrufbar sind: „wo ich das erste spielzeug versteckte und / den ring meiner mutter, die gestohlenen / münzen vergrub […] wo die / honigwaben zu holen waren oder bonbons, / die der bäcker verkaufte.“ (Ebd.) Dann jedoch bringt die animierte Sprache einen bislang versteckten Teil am Ort „home“ hervor, schafft, ihn transzendierend, einen Zugang zu Verborgenem, was eine Abstreifung von allen Erfahrungen, Erinnerungs(re)konstruktionen nach sich zieht: „die sprache öffnet / verrottete türen, schiebt das staubige brett / aus der halterung, lüftet den verborgenen stein. / sie fliegt mir als aufgeschreckte schwalbe ins / gesicht,

15 Freud stellt in seinem Text „Das Unheimliche“ unter Rückgriff auf Wörterbucheinträge die Ambivalenz der Bedeutung des Wortes heimlich heraus, unheimlich sei „irgendwie eine Art von heimlich“, und rekurriert auf Schelling: „Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.“ Freud, Sigmund: Das Unheimliche. In: Ders.: Das Unheimliche. Aufsätze zur Literatur. Frankfurt/Main: Fischer Verlag 1963, S. 51, 53.

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schlägt mir entgegen als schimmelgeruch, / bricht von den zerklüfteten panzern und / hüllen des kinderkrams, als schluff aus allem, / was war.“ (Ebd.)

Die Sprache selbst macht also etwas mit diesem Ort, sie versetzt ihn in Bewegung, indem sie an den in ihm angeordneten Objekten („verrottete türen“, „das staubige brett“, der ‚verborgene Stein‘) und ihrer vermeintlichen Stabilität Handlungen vornimmt16 – öffnen, aus der Halterung schieben, lüften –, die ein raumöffnendes Vordringen zu Tieferliegendem, hinter dem Erinnerten Liegendem implizieren. Die Schlussverse inszenieren eine Art Ursprünglichkeitsphantasie, ein besonderes Spracherleben und führen das Ich zur Sprache selbst. Befreit vom „schluff aus allem, / was war“ öffnet sich die Sprache, erlaubt sie einen Blick in ihr Innerstes, enthüllt sie eine innere Schicht: „sobald ihr vogelherz ruhig schlägt, / entblößt sie ihre haut, wirkt unversehrt und / kaum gebraucht.“ (Ebd.) Die Verse spiegeln die Suche des Ich nach einer unbelasteten, wohlbehaltenen, von festen Zuschreibungen befreiten Sprache und seine Sehnsucht nach einem Aufgehobensein in Sprache, die in der schutzsuchenden Anrufung gipfelt: „verwahre mich, sprache, / schließ mich ab gegen die zeit.“ (Ebd.) Das nächste Gedicht schließt an diese Vorstellung von einer unversehrten Sprache und der ihr zugesprochenen schützenden Kraft an und geht noch darüber hinaus mit der Inszenierung einer spezifischen Variante utopischer Sprache. Während in den ersten beiden Gedichten dieses Teils von der Sprache gesprochen wird, beginnt das dritte Gedicht mit den Worten „meine kleine sprache“ (S. 29, Hervorh. – J.G.) und trägt den Titel „träumende sprache“. Die Sprache formt hier als eigene Sprache einen Möglichkeits- oder auch Wunschdenkraum: „meine kleine sprache träumt sich / ein land, in dem sie wortnester baut / zum ausschwärmen über die grenzen, / die nicht ihre eigenen sind.“ (Ebd.) Dieses „land“ ist also eine Utopie, ein fiktiver (Nicht-)Ort17, von dem aus sich die „träumende sprache“ frei entfaltet und damit fremdbestimmte bzw. ihr gesetzte Grenzen überschreitet. Dadurch, dass dieser Freiraum nur imaginiert werden kann, wird die Unhintergehbarkeit dieser Grenzen jedoch noch unterstrichen. Träumend strebt die Sprache nach einer grenzenlosen Potentialität – bezogen auf das von ihr Erreichbare, das in ihr Ausdrückbare, Sagbare, auf ihre Beweglichkeit und Tiefenwirkung: „sie will / über sich hinauswachsen, durch ferne / geisteralleen aus wasser und gas gleiten, / zu den schwarzen rauchern tauchen, / eine fassung haben für jede erscheinung / und ihre fraglichen schatten“ (ebd.). Das Ich projiziert sein Begehren auf seine Sprache, die gleichsam träumende wie erträumte Sprache ist. Ihr wird darüber hinaus der Wille zugesprochen, sich von 16 So formuliert in Anlehnung an de Certeau, Kunst des Handelns. 1988, S. 219. 17 Hier bezogen auf die Wortherkunft von Utopie „von gr. ou-für nicht und gr. topos für Ort“. Günzel, Stephan: Raum. Eine kulturwissenschaftliche Einführung. Bielefeld: transcript 2017, S. 81.

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historisch-politischen Einflüssen und sprachideologisch geleiteten Kategorisierungen, Wertzumessungen und Restriktionen, die bereits in der Attribuierung „kleine“ zum Ausdruck kommen, zu lösen: „meine sprache / will ungezügelt und groß sein, sie will / die ängste verlassen, die sie bevölkern, / alle dunklen und hellen geschichten, / in denen nach ihrem wert gefragt wird / und ihrem gewicht.“ (Ebd.) Der Wunschtraum ist die Bedingung für ihre Befreiung und unbeschwerte Entwicklungsfähigkeit: „erst wenn sie träumt, / schwingt sie sich auf, federnd und leicht, / von ihrer art, fast noch gesang.“ (Ebd.) – Damit bleibt sie an die Sphäre des Fiktiven, an die Kraft der Imagination gebunden, um von ihrer Art sein zu können. Die durchgängige formale Gestaltung dieses raumbildenden Träumens in der Modalität des Wollens lässt Sprache, wie von Haderlap in ihrer Klagenfurter Rede zur Literatur ausgedrückt, als das Herbeigesehnte und als Sehnsuchtsort erscheinen. Das darauffolgende Gedicht „übersetzen“ fokussiert auf den Übergang von einer Sprache hin zu einer anderen Sprache in der Vorstellung eines räumlichen Wechsels von der einen auf die andere Seite. Es entwirft eine Reflexion auf den Sprachenwechsel als Übersetzung des Ich wie auch als seine Übersetzung im Sinne einer potentiellen Verwandlung seiner Sprachlichkeit beim Hinüberwechseln in die neue Sprache ausgehend von der Frage: „liegt zwischen allen sprachen eine zone / dunkelheit, ein schwarzer fluss, der wörter / und geschichten aufnimmt und verwandelt?“ (S. 30) Die Imagination eines zwischen den Sprachen liegenden dynamischen Raums als „zone dunkelheit“, eine Art obskurer Schwelle, einerseits und als „schwarzer fluss“ andererseits lässt seine Passage als Schreiten ins Ungewisse erscheinen. Der Fluss bzw. das Fließende versinnbildlicht die Kraft des kontinuierlichen Gestaltwechsels und der Verwandlung und ist in dieser Hinsicht, wie es auch die schwarze Farbe suggeriert, undurchsichtig und unberechenbar. Der Fluss ist einer der „Operatoren von transitorischen Räumen“18 und in diesem Gedicht liegt das Augenmerk auf den unabschätzbaren Auswirkungen des Übersetzens, des Übergangs von einer Sprache in eine andere und den damit einhergehenden Veränderungen und Verschiebungen im Sprach- und Selbsterleben. In der Schilderung des Sprachwechsels als eines zu durchquerenden Raums zwischen den Sprachen wird über die Transformationskraft des bewegten Wassers der oft verdrängte „Wagnischarakter des Übergangs“19 herausgestellt. Sie spiegelt Ängste, vielleicht auch zaghafte Hoffnungen des Ich, das ihn zu wagen beabsichtigt. 18 Borsò, Vittoria: Transitorische Räume. In: Handbuch Literatur & Raum. Hrsg. von Jörg Dunne/Andreas Mahler. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2015, S. 263. 19 Görner, Rüdiger: Grenzen, Schwellen, Übergänge. Zur Poetik des Transitorischen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 7.

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Vor dem Hintergrund der Sprachgebundenheit von Gedächtnis und Erinnerung ist der Übergang hin zu einer anderen Sprache zudem als drohender Verlust der in Sätzen aufgehobenen Gedächtniskerne inszeniert: „hier müssen sich die sätze ausziehen, / stromern, schwimmen lernen, / das gedächtnis nicht verlieren, das in ihren / körpern nistet, ein geheimer nukleus.“ (Ebd.) Daran schließt eine differenzsensible Reflexion über die mögliche Verwandlung von Wörtern im Hinblick auf Verschiebungen im darüber Ausdrückbaren und Ausgedrückten an: „wird das blau der akelei ein violett sein, / wenn es ankommt auf der anderen seite, / und die rote bergamotte, eine birne, zimtig, / süß?“ (Ebd.) Weiter im Futur 1 und in Frageform gestaltet, beziehen sich die durchgespielten Verwandlungsprozesse dann noch konkreter auf die Sprachlichkeit des Ich und die Möglichkeiten seiner (Selbst-)Wahrnehmung und -artikulation in der neuen Sprache und auf das sich im Übergang herausbildende Verhältnis beider Sprachseiten zueinander: „wird meiner schleie eine flosse fehlen / im licht der neuen sprache? wird sie kriechen / lernen müssen oder aufrecht gehen? / weiß die sprache eine andere an sich zu ziehen / oder nur von sich zu weisen? kann denn / jedes wort den übergang riskieren, glauben, / es sei unverwundbar, in pech gebadet und gestählt?“ (Ebd.)

Über den Fluss ist das Gedicht „übersetzen“ mit dem Gedicht „ljubljanica gedächtnisfluss“ (S. 31) verbunden. Evoziert wird nun also ein konkret benannter Fluss, der (eine) spezifische Geschichte(n) aufgenommen hat bzw. dem sie zugeschrieben wird/werden. Es ist eines von drei aufeinanderfolgenden Gedichten, in denen über die Beschreibungen von Fluss, Moor und Meer je spezifische Erinnerungsräume hervorgebracht werden, bevor dann mit dem Gedicht „transit“ die Zeit nach dem Übersetzen, dem Hinüberwechseln auf die andere Seite als Ankunft „am ufer des neulands“ (S. 34) vorgeführt wird. Erschien der Fluss im Kontext des vorherigen Gedichts metaphorisch als bewegtes Wasser mit der Kraft zur Verwandlung von Wörtern und Geschichten, so wird er nun, als ein konkret benannter Fluss, noch stärker als Symbol für ein kollektives Gedächtnis, zumindest als Auslöser für historische Erinnerungskonstruktionen im Zusammenhang mit Aspekten der Subjektkonstitution und individueller Selbstverortung fokussiert. Inszeniert wird die Selbsterforschung des sich selbst adressierenden Ich „suchst du / nach deinem slowenischen gesicht, nach der einzig wahren geschichte“, als Beugebewegung über den „ljubljanica gedächtnisfluss“ in der Erwartung, sich in der Spiegelung des Wassers als slowenisch erkennen zu können. Gleichzeitig bewegt sich aber auch das Wasser in immer wechselnder Weise und unterläuft so diesen Selbstpositionierungsversuch: „derweil sinkt das wasser in den / untergrund, ändert den namen, / die richtung, das ufer, trägt schwer / an den lanzen, fibeln und äxten. / ausweglos hängt der alptraum / früher gemetzel im flusstrog. bar / des gebrauchs und zerschmettert / treiben gelübde

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und bitten im ablauf.“ (S. 31) Der Ljubljanica entzieht sich mit seinen unberechenbaren, verschiedene Zeitschichten und wandelnde Geschichte(n) symbolisierenden Fließbewegungen statischen individuellen und kollektiven Identitätskonstruktionen und -projektionen, die „einzig wahre geschichte“ ist nicht fassbar. Das in den Untergrund sinkende, tiefere Schichten freilegende und wieder verwirbelnde, fortwährend Namen und Richtung wechselnde Wasser weckt auch die Vorstellung sich ständig verschiebender Perspektiven auf die Vergangenheit und Geschichte(n). Der Blick in diesen Fluss bietet keine Orientierung, vielmehr ist er über die Spiegelung als Differenzerfahrung entworfen und macht lediglich diffus das für Identität konstitutive und kontingente andere sichtbar: „auf der suche nach dir, erblickst du das / andere, verzerrt und verschwommen, / im gefälle nach oben.“ (Ebd.) Das besondere Fließverhalten des Ljubljanica unterstreicht das Transitorische von Identitätskonstruktionen und Geschichtsentwürfen. Den Prozess des Sprachwechsels nimmt dann wieder explizit das Gedicht „transit“ auf und zwar in zwei Teilen, die getrennt auf zwei Buchseiten präsentiert werden, so dass die Anordnung des Texts den wieder aufgegriffenen Übergang von einer Sprache in andere Sprache als einen räumlichen Wechsel von einer Seite zur anderen graphisch mitgestaltet und auch dem Lesenden einen Wechsel der Blickrichtung von der einen auf die andere Buchseite abverlangt. Der erste Teil inszeniert antizipatorisch, prophezeiend im Futur und als Distanz markierende Selbstansprache im lyrischen Du die Ankunft auf der anderen Seite mit ihren unmittelbaren Folgen: „am ufer des neulands wirst du deine / muttersprache ablegen.“ (S. 34) Mit dem Erreichen des anderen Ufers wird über das Abstreifen der „muttersprache“ auch die Ablösung und Entfernung von zuvor Gesprochenem vorausgesagt: „wolken, die über / dir ziehen, werden echos von worten sein, / die du einmal gesprochen hast, doch / jetzt verschweigst.“ (Ebd.) Nur noch als Nachhall und aus der Ferne erscheinen dem Ich ambivalente mit den schwindenden Worten verknüpfte Gefühls- und Vorstellungswelten als von ihm losgelöste, schwebende Trugbilder, als vage Erinnerungen in verfremdeter, nicht mehr fassbarer Gestalt – vielleicht als Resultat einer Verwandlung im Zuge des Übersetzens: „lange nach dir / werden die luftritter deiner einbildungen / eintreffen, die liebe, die sorge, der einklang, / fremd wie die riesen la manchas.“ (Ebd.) Als Rückverweis auf das „haus der alten sprache“, aus dem das lyrische Ich auf- und ausgebrochen ist, lesen sich die Verse: „ein roh / gezimmerter rahmen aus rauch ist das haus, / das du einmal bewohntest. es schwebt / über dir, kaum fasslich, unwägbar wie du.“ (Ebd.) Wie die einst gesprochenen Worte, entfernt sich mit dem sich in Rauch auflösenden Haus der Zugang zu einem spezifischen (sprachlichen) Erfahrungsraum, wodurch es zu momentanen Brüchen im Selbstverhältnis, also in der Art und Weise, wie das Ich „ins Verhältnis zu sich selbst

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tritt“20 bzw. treten kann, kommt. Mit dem Vergangenen verschwindet ein spezifisch-begrenztes Blickfeld, „der zerknüllte horizont in deiner hand, / eine insel aus grellem papier“ (ebd.). Der zweite Teil des Gedichts gestaltet durchgängig im Präsens das Sprach- und Selbsterleben nach Eintreffen am „ufer des neulands“ als Neuschöpfung und Transformation. So beginnt er mit Referenz auf die Schöpfungsgeschichte, „alles trifft ein mit dem wort, in dem / ich mich weite, verzweige“ (S. 35, Hervorh. im Original), und mit dem eintreffenden Wort scheint sich zunächst ein Gestaltungsfreiraum zu eröffnen, eine potentielle Quelle schöpferischer Selbstentfaltung. Jedoch ist damit auch das Verschwinden dessen verbunden, was zuvor nicht zur Sprache gebracht, nicht erhellt werden konnte: „alles / verlässt mich, was ungesagt blieb, / was nicht deutlich geworden ist / in der sprache, vergeht. am denkschluss / aufgehoben ein konglomerat / aus bemühen.“ (Ebd.) Das Voranschreiten in Worten nach dem Übertritt an das andere Ufer, die versuchte sprachliche Neu- und Selbstausrichtung ist beschwerlich und in der Bewegung unregelmäßig: „ungefragt nehme ich / jeden wortschritt im ungleichmaß, / zwänge mich durch meine zeit, die / mich abträgt und aufwirft.“ (Ebd.) Performativ, mit jedem „wortschritt“, jeder Äußerung erzeugt das Ich einen (neuen) Erfahrungsraum, setzt einen vorläufigen „Akt einer Präsenz (oder einer Zeit)“21. Die Schrift erscheint in der Funktion als (Selbst-)Vergegenwärtigung und Sichtbarwerdung von Erfahrenem, Erleben, „ins gegenwärtige, blendende / drängt sich die schrift“, sie darf aber nicht stocken, denn „wenn sie stockt, / zeigt sich ihr alter panzer aus angst.“ (Ebd.) Das kontinuierliche Weiterschreiben, sich Fortschreiben, Ringen um Sprache wird zur existentiellen Notwendigkeit und fungiert als eine Art Schutzmechanismus vor emotionaler rückwärtsgewendeter Blockierung durch alte Ängste. Die vier den Abschluss des Band-Teils „langer transit“ bildenden Gedichte entfalten die Suche des Ich nach Sprache, Selbstauslotung und (Selbst-)Ausdrucksmöglichkeiten als metapoetische Reflexion im Medium des Gedichts. Der über den gesamten Teil hinweg sukzessiv ausgestaltete Sprachwechsel mündet also in die Sprache der Literatur. Die vier Meta-Gedichte gestalten und initiieren 20 Straub, Jürgen: Identität. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Hrsg. von Friedrich Jaeger/ Burkhard Liebsch/Jörn Rüsen/Jürgen Straub. Stuttgart: J.B. Metzler 2004. Bd.1 (Grundlagen und Schlüsselbegriffe), S. 280. 21 Vgl. de Certeau, der das Gehen – mit der Rolle eines Sprechakts vergleichbar – als „Raum der Äußerung“ definiert und diesen Zusammenhang in der Präzisierung seiner Unterscheidung von Ort und Raum wieder aufnimmt: „Im Verhältnis zum Ort wäre der Raum ein Wort, das ausgesprochen wird, das heißt, von der Ambiguität einer Realisierung ergriffen und in einen Ausdruck verwandelt wird, der sich auf viele verschiedenen Konventionen bezieht; er wird als Akt einer Präsenz (oder einer Zeit) gesetzt und durch die Transformationen verändert, die sich aus den aufeinanderfolgenden Kontexten ergeben.“ De Certeau, Kunst des Handelns. 1988, S. 189, 218.

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bildreich Reflexionen auf das Gedicht selbst, auf sein Wesen, seine Wirkungsfähigkeit, die Kraft und Beschaffenheit des dichterischen Worts sowie die Leistungsfähigkeit von (poetischer) Sprache in der Hervorbringung von Erfahrungsräumen. Vorgeführt werden vier miteinander korrelierende, einander ergänzende Spielarten des Gedichts: Was oder wie ist das Gedicht (nicht), was hat es (nicht), tut es (nicht), kann es (nicht)? Und wie verhält es sich zum sprechenden Ich? Was macht es mit ihm oder umgekehrt? Wer spricht, erkennt, betrachtet (sich durch) wen? Welcher Art ist dieses Sprechen, Erkennen? So erstreckt sich die metapoetische Erkundung auch auf die Hervorbringungsmöglichkeiten und Figurationen eines Ich in Gedichten als „Probebühne, Rollengestalt“22. Die Kennzeichnung der zuerst präsentierten Spielart eines Gedichts steckt in seinem ersten Vers, „dieses gedicht ist ein lebenesser“, und zugleich in seinem Titel „lebenesser“ (S. 36). Der Gedichtkörper hat sich das Leben des Ich einverleibt und übersteigt damit dessen Wissen und epistemische Fähigkeiten: „hat meine jahre verschlungen, die / spurlos in seinem maßlosen bauch / abgetaucht sind, hat meine sprache / versiegelt, weiß mehr als ich, hat / mehr ergründet als ich“ (ebd.). So macht das Gedicht (als Agens) das Ich zu einem Teil von sich, indem es seine Lebensjahre und Sprache von ihm abzieht und vor ihm verschließt. Das Ich verschwindet im Gedichtkörper, verliert seine Spur und kann nicht mehr über sich selbst und seine Sprache verfügen. Das Gedicht verselbstständigt sich und führt die über exzessive Aufnahmeprozesse in Gang gesetzten Durchforschungsaktivitäten allein fort. Dabei gibt es das Einverleibte nicht einfach wieder, sondern strebt fortwährend danach, das Ergründete in und durch Sprache sichtbar zu machen, und somit nach einem vielleicht „nie ganz zu verwirklichenden Ausdruckstraum“23: „dieses gedicht ist keine arche noah, / die später alles ausspuckt, was sie / bewahrt. es ist ein hungriger wal, / der durch die 22 Braun, Volker: Das lyrische Ich. Ein wilder Begriff. Anmerkungen zu einer totgesagten Kategorie. In: Ortlose Mitte. Das Ich als kulturelle Hervorbringung. Hrsg. von Michael Mettler/ Ladina Bezzola Lambert. Göttingen: Wallstein Verlag 2013, S. 149. 23 Bachmann, Ingeborg: Literatur als Utopie. In: Dies.: Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung. München: Piper Verlag 2011 [1982], S. 113. Der Rückgriff auf Bachmanns Formulierung aus ihrer letzten Poetikvorlesung erfolgt aufgrund der Ähnlichkeiten im Hinblick auf die Suche nach Sprache und ihrer Potentialität im Medium der Literatur. In dieser Vorlesung setzt sie dem Leben, das nur eine „schlechte Sprache“ habe, „ein Utopia der Sprache“ gegenüber, das als fortwährendes Streben die dichterische Existenz bestimmt: „diese Literatur also, wie eng sie sich auch an die Zeit und ihre schlechte Sprache halten mag, ist zu rühmen wegen ihres verzweiflungsvollen Unterwegsseins zu dieser Sprache […]. Ihre vulgärsten und preziösesten Sprachen haben noch teil an einem Sprachtraum; jede Vokabel, jede Syntax, jede Periode, Interpunktion, Metapher und jedes Symbol erfüllt etwas von unserem nie ganz zu verwirklichenden Ausdruckstraum.“ (S. 113). In Haderlaps Gedichten bezieht sich ein solcher Ausdruckstraum vor allem auf die Sichtbarwerdung von Erfahrenem, Erkundetem in (poetischer) Sprache und darauf, überhaupt eine (eigene) Sprache als Medium des Selbstausdrucks zu haben.

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sprachen pflügt und / das wortlicht jagt, den blinkenden vers.“ (Ebd.) Der Schluss des Gedichts weist in den Formulierungen – dem Aufspüren des Wortlichts, des blinkenden Verses – Ähnlichkeiten auf zu dem von Haderlap in ihrer Klagenfurter Rede zur Literatur entwickelten Bild des Korridors, von dem aus sie, von festen (Bedeutungs-)Zuschreibungen befreit, die Sprachen leuchten sehen könne und mit dem sie ihr Schreiben als Suche nach dem im „Licht der Sprache“ Erkennbaren und, darauf bezogen, Sprache als das ständig Unerreichte, Herbeigesehnte stilisiert. Im Gedicht „lebenesser“ projiziert das Ich ein solches Sterben auf das Gedicht selbst, dem dafür, über den Vergleich mit einem Wal, bessere Voraussetzungen aufgrund seiner großen Aufnahme- und Ergründungskapazitäten zugesprochen werden. Die zweite Spielart eines Gedichts, vorgestellt mit dem Titel „ozean und gedicht“, kann nicht die Kraft und Kapazität des gigantischen Wal-Gedichtkörpers der vorherigen entfalten. Es bleibt angesichts der Unermesslichkeit des potentiell zu Erfassenden, wie es sich in der Schilderung des titelgebenden Ozeans manifestiert, machtlos: „dieses gedicht wird nie den ozean / erfassen, nie seine rieselnde gischt, / die in pigmente zerstiebt. es wird / immer winzig sein.“ (S. 37) Die Beschreibung des Ozeans als fluider Raum, immer in Bewegung und dazu fähig, unentwegt unzählbare Wassertropfen („rieselnde gischt“) und Farbgebungen („pigmente“) hervorzubringen, unterstreicht die Unmöglichkeit seiner poetischen Erfassung, die dieses Gedicht vorführt. Es wird angesichts dieser Herausforderungen lyrischer Selbst- und Welterzeugung „immer winzig“ und unzulänglich sein. Auch das Verhältnis von Ich und diesem Gedicht ist ein anderes: „das gedicht wird sich / an mich halten und nasse füße bekommen. / es wird […] sich hinter einen sprachverschlag flüchten, / von wo heraus wir die wütenden wellen / betrachten werden“ (ebd.). Es sucht sich vergeblich am Ich zu orientieren und weicht, überwältigt von dessen Ozean, mit dem es sich konfrontiert sieht, erst einmal zurück, sucht Schutz hinter dem „sprachverschlag“, wo es zunächst gemeinsam mit dem Ich eine beobachtende Rolle einnimmt, sich (sprachlich) vortastet. Die genaue Beobachtung führt zu Erkenntnis: „auf / einmal wird das gedicht deutlicher sehen, / die schreckensträume erkennen, die ich / mitgebracht habe vom strand, in dem / ich leichen vergrub, die nicht verschwinden / wollten.“ (Ebd.) Über diese Verse wird der Hoffnung Ausdruck verliehen, ein Gedicht vermöge, als Spielraum und Bühne lyrischer Selbsterfindung, erlebte „schreckensträume“ zur Sprache zu bringen und darüber erfassbar und sichtbar zu machen. Diesem personifizierten, zu Empathie fähigen Gedicht kommt, inszeniert über eine Sprachgeste, letztlich eine Geborgenheit und Kraft spendende, schützende Funktion zu: „es wird seine worthand auf / meine schulter legen und mich trösten. / ich werde in seinen armen einschlafen, / dem heulen der dunkelheit standhalten.“ (Ebd.)

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Als Wechseltausch, der zur Möglichkeit gegenseitiger Betrachtung und Bespiegelung führt, gestaltet sich das Verhältnis von Ich und Gedicht in „gedicht und sinn“. Darin wird das Gedicht erst wahrnehmungsfähig durch das Ich, durch einen Körpertausch, der zu einer wechselseitigen Abhängigkeit führt und schließlich zur Unfähigkeit, sich, ineinander verwoben, erkennbar zu machen. Der Gedichtkörper, der hier zunächst als noch zu füllende Gestalt in Erscheinung tritt, wird erst durch den ihm verliehenen Körper des Ich sinnhaft-wahrnehmend und zu Gefühlen und Empfindungen befähigt: „dieses gedicht ist taub, hat keine sinne, / es fühlt nichts, solange ich meinen körper / nicht gegen seinen tausche.“ (S. 38) Durch den Körpertausch kann das nun empfindsame Gedicht zudem sich selbst in seiner Gestalt, seiner (sprachlichen) Form und Ausdruckskraft, die es über die ihm von dem Ich dargebotenen Bilder annimmt, betrachten – und zwar aus der Perspektive des zweifelnden Ich: „erst dann / kann es sich als kloß in meinem hals / empfinden, kann seine gestalt durch / meine augen betrachten, wie matt die bilder / glänzen, die ich ihm vorführe, wie sich / das gesagte ums gesehene bemüht, / es leckt und es umwirbt, wie weit die zweifel / vorgestürmt sind, die ich ihm ersparen / wollte.“ (Ebd.)

Damit inszeniert auch dieses Gedicht das immerwährende Bemühen, Gesehenes, Erlebtes, Empfundenes sagbar zu machen, es in Bilder zu fassen, in Sprache zum Ausdruck zu bringen und ihm eine adäquate sprachliche Gestalt zu verleihen. Das Oxymoron oder zumindest die Abschwächung in der Formulierung der matt glänzenden Bilder suggeriert jedoch die diesbezügliche Unzulänglichkeit, die Bilder vermögen das Licht der Sprache nicht stark genug zu reflektieren. Das auch mit Selbsthervorbringung verbundene Bestreben wird als unerreicht vorgeführt: „wenig sind wir ohne einander, / kaum der rede wert. wo wir erkennbar / sein müssten, herrscht unbemerkte leere.“ (Ebd.) Die wechselseitige Abhängigkeit und körperliche Ineinander-Verflochtenheit, die aus Gedicht und Ich ein „wir“ formt, führt letztlich nicht zur angestrebten Sichtbarwerdung beider, sondern verbleibt paradox eine – offenbar für beide spür- aber nicht ausfüllbare – unbemerkte Leerstelle. Dies führt zur letzten Reflexionsfigur, die über den Titel „stummes gedicht“ charakterisiert wird und den Abschluss des Band-Teils „langer transit“ bildet. Anders als die vorausgegangen drei Gedichte beginnt es mit einer Frage: „ob das stumme gedicht aus der sprache / gerückt ist, wenn es mich wiegt in sein / schweigen?“ (S. 39) Ist das „stumme gedicht“ noch in der Sprache bzw. sprachlich fassbar? Lässt sich Schweigen, etwa in der Inszenierung von Sprachohnmacht, poetisch artikulieren? Endet also die in diesem Teil des Bandes inszenierte Suche nach Sprache und Selbsterkundung des Ich im oder mit Schweigen? Wie ist das Schweigen des stummen Gedichts zu deuten? Es scheint sich zunächst von seiner (sprachlichen) Form zu befreien und agiert eher ziellos, „es streift gedanken-

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verloren / durch mein zuhause, legt seine fassung / ab, hängt meine blicke als lampions auf / im herbstlichen garten, addiert abgelebte / sekunden zu ewigkeiten, in denen wir / uns entfallen.“ (Ebd.) Eher umherschlendernd als durchforschend, zeitverdichtend erzeugt es den Raum des Ich – Gedicht und Ich scheinen einander zu entgleiten. Das selbst zu sprechen beginnende Ich wird sogleich von der Sprache unterbrochen: „kaum setze ich an zu einem / ansehnlichen satz über das Ich oder den / zustand der welt, fährt mir die sprache / über den mund, verbietet mir jedes fügsame / wort, das nicht die stille durchquert hat. / dergleichen gedichte sind sprachlos betreten, / gerichtet bloß gegen sich und mich.“ (Ebd.) Somit fungiert die wieder als Agens inszenierte Sprache als eine Art Korrektiv zum leichtfertig Artikulierten, zum unbedachten Wortschritt, indem sie dem Ich das fügsame, gefällige Wort, das zu einem nur „ansehnlichen satz“ führt, nur matt glänzende Bilder evoziert, versagt. Sie fordert hingegen für den über sie, über das ausgesprochene Wort hergestellten Raum der Äußerung das „wort, das […] die stille durchquert hat“ ein – dies kann etwa ein Wort sein, das die Erfahrung von Sprachlosigkeit und die daraus resultierende Sprachsehnsucht einzufangen vermag oder auch ein Wort, das im Durchqueren der Stille zu bzw. aus Tiefgründigem (her)vorgedrungen ist – und ruft damit ein Ausdrucksideal auf, eine besondere Qualität in der poetischen Selbstartikulation, in der Inszenierung der lyrischen Persona24 und der lyrischen Welterzeugung. Dieses Gedicht führt also in besonderer Weise das Streben nach dem ständig Unerreichten vor. Als stummes Gedicht entwirft es die bloße Virtualität und Potentialität dichterischen Schaffens und erscheint als Gedicht, für das fortwährend Sprache gefunden werden muss. Diese vierte Spielart erinnert an Stéphane Mallarmés Ideal eines Gedichts, „le poème tu, aux blancs“25, mit dem er „Schweigen als Modus von Rede“26 entwirft. Durchgespielt wird in diesen letzten vier Gedichten die Reflexion auf das Sagund Unsagbare, auf poetische Modi des (Un-)Sagbaren, auf poetische Sprachlichkeit und ihre Leistungsfähigkeit in der Evokation und Sichtbarwerdung spezifischer Erfahrungsräume, Erinnerungen und ihrer Vergegenwärtigung. Und nicht zuletzt reflektieren diese Gedichte Möglichkeiten lyrischen Selbstausdrucks, 24 Nur in diesem Gedicht erscheint Ich einmal in Großschreibung: „kaum setze ich an zu einem / ansehnlichen satz über das Ich“ (S. 39), also nur in dieser Reflexion über die poetische Herstellung eines Ich im Gedicht. 25 Mallarmé, Stéphane: Variations sur un sujet. In: Ders. Oeuvre complètes, Texte établi et annoté par Henri Mondor et G. Jean-Aubry. Paris: Gallimard 1956, S. 367. Übersetzung: „[…] das schweigende Gedicht, aus lauter Weiß“. In: Friedrich, Hugo: Die Struktur der modernen Lyrik von Baudelaire bis zur Gegenwart. Hamburg: Rowohlt 1956, S. 118. 26 Gerigk, Horst-Jürgen: Lesendes Bewusstsein. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2016, S. 130. Er präzisiert dort: „Das leere weiße Blatt tritt als Artikulation von Schweigen auf […] Das weiße Blatt ist in seiner Leere ein redendes Blatt. Was durch die Leere redet, ist das Schweigen.“

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poetischer Selbsterkundung, indem sie eben solche Möglichkeiten vielfach über ein Ich als ein imaginiertes (Sich-)Sprechen im und mit dem (Medium) Gedicht performativ hervorbringen. Alle vorgestellten Gedichte im Band-Teil „langer transit“ veranschaulichen dieses Unterwegssein, „Unterwegs zur Sprache“27 als raumbildende Bewegung und lyrische Erzählung zwischen Sehen, Erkennen und Handeln, zwischen Begehren und Erfinden, über die Sprache variantenreich als das Unerreichte vorführt wird. Der Sprachwechsel, inszeniert als Durchquerung eines Raums zwischen den Sprachen, als Wechsel hinüber in eine andere Sprache, von einem Ufer an das andere, ist ambivalent gestaltet. Zum einen vollzieht das Ich die Abkehr vom „haus der alten sprache“ aktiv als Befreiung von Begrenzungen, zum anderen fürchtet es die Auswirkungen potentieller Verwandlungen beim Übergang in anderes und neue Sprache. Die im Gedicht „transit“ durchgespielte sprachliche Neuausrichtung schafft Distanz, gestaltet sich aber mühevoll und kann die in den Gedichten davor inszenierte Sehnsucht und das Streben nach unversehrter und erträumter Sprache nicht einlösen, Sprache bleibt das Herbeigesehnte, jeder Wortschritt ist auf die Öffnung eines Gestaltungsfreiraums ausgerichtet. Die auf (Selbst-)Erkenntnis zielende Suche nach Sprache, die Gesehenes und Erfahrenes sagbar macht, setzt sich von Gedicht zu Gedicht fort und verbleibt im Modus des unentwegten Kreisens und der metapoetischen Reflexion. In ihrem Artikel „Meine Sprache“, einer selbstreflexiven Stilisierung ihrer Sprachenbiographie und ihres mit Erfahrungen von Sprachohnmacht verknüpften Spracherlebens, scheibt Haderlap: „Ich schreibe nicht aus dem Sprachüberfluss, sondern aus der Erfahrung des Mangels. Ich spiele nicht mit den Sprachen, dazu fehlt mir die Leichtigkeit. Ich führe den Sprachen Bilder vor, die aus den tieferen Erfahrungs- und Bewußtseinsschichten aufsteigen. Meine beiden Sprachen müssen daran gemessen werden, wie sie diese Bilder sichtbar werden lassen.“28

Die poetischen Durchquerungen des langen Transits inszenieren und erproben eben diese Leistungs- und Wirkungsfähigkeit von Sprache(n) (in) der Literatur.

27 Mögliche Bezüge bzw. die Art der Bezüge zu Heideggers „Unterwegs zur Sprache“, in dem er dem Wesen der Sprache nachspürt, und den in den Gedichten von Haderlap inszenierten Sprachreflexionen wären in einem eigenen Artikel herauszuarbeiten. Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache (1950–1959). Hrsg. von Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. Frankfurt/ Main: Verlag Vittorio Klostermann 2018. 28 Haderlap, Maja: Meine Sprache. In: Exphonie. Schreiben in anderen Sprachen. Hrsg. von Johann Georg Lughofer. Goethe-Institut Ljubljana/Österreichisches Kulturforum/Universität Ljubljana 2011, S. 12. (Zugriff am 31.01. 2018).

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“lippengrenzland”. Unstable Linguistic Boundaries, Minor Literature and “boden los” (2012) by Semier Insayif

Semier Insayifs experimentelle Gedichtsammlung „boden los“ (2012) verwendet eine natürliche Bildsprache, um die ‚Grenzländer‘ der Sprache zu erforschen, sei es zwischen den Sprachen, zwischen lexikalischen Einheiten, zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem, zwischen Gedanken und ihrem sprachlichen Ausdruck, oder zwischen Morphem und Phonem. Diesbezüglich bieten seine Gedichte nicht nur die in der Literatur von sogenannten Minoritäten vorherrschende transnationale Perspektive, sondern sie lassen sich auch durch die Idee Gilles Deleuze and Félix Guattaris von der minoritären Literatur beschreiben, in dem sie die Einheit von Wörtern und Sprache grundsätzlich in Frage stellen und die Sprache dadurch deterritorialisieren. Ein Dialog zwischen „boden los“ und den Ideen Deleuze and Guattaris, zusammen mit anderen Kontinentalphilosophen, zeigt, wie Isayifs vielseitige Erkundung der Sprache Vorstellungen von der Darstellung und denotative Bedeutungen kritisch hinterfragt. Durch seine minoritäre Schreibweise auf Deutsch, und in gewissem Maße auch auf Arabisch, stört Isayif die Machtverhältnisse, die mit der herkömmlichen, an Repräsentation orientierten Auffassung der Sprache verbunden sind. Dabei bietet seine Lyrik die Möglichkeit für kreative, neue Denkweisen. Semier Insayif ’s experimental poetry collection “boden los” (2012) uses natural imagery in order to explore the ‘borderlands’ of language itself, be they between languages, between lexical units, between signifier and signified, between thoughts and their linguistic expression, or between morpheme and phoneme. In this regard, his poems not only convey the transnational perspective commonly associated with so-called minority literature and its interpretation, but equally challenge the unity of language and words in a fundamental way, deterritorializing language in a manner that resonates with Gilles Deleuze and Félix Guattari’s concept of minor literature. By bringing “boden los” into dialogue with the writing of Deleuze and Guattari, and other thinkers of continental philosophy, the way in which Insayif ’s multifaceted exploration of language challenges notions of representation and denotative meaning-making can be delineated. Through a minor use of German, and to a certain extent Arabic, Insayif disrupts the power relations bound up in the conventional, representational use of language, creating the potential for creative, new ways of thinking.

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Introduction: Writing against “eindeutigkeitsidiotie” The work of the prize-winning1 poet and novelist Semier Insayif (b. 1965 in Vienna) is experimental, challenging and deeply influenced by various branches of philosophy. It also deals with a broad range of themes; the poetry collection “über gänge verkörpert” (2001) contains poems inspired by different ways and concepts of movement, and the poems of “libellen tänze” (2004) are written to accompany and complement Johann Sebastian Bach’s six Cello Suits. His first and only novel, “Faruq” (2009), is semi-autobiographical and engages with the family history of his Austrian mother and Iraqi father. In an interpretation of “Faruq” drawing upon postcolonial theory, Anna Babka regards the protagonist as a hybrid figure, shaped by transnational memories from both Austria and Iraq that circulate in a literary third space.2 Yet as well as calling the integrity of cultural boundaries into question, “Faruq” is also a meditation on language. Indeed, the novel’s disorientating prologue is a disembodied mouth that prompts the reader to engage in conversation: “komm, sprich mit mir! nimm dir zeit. setz dich und lass uns in ruhe reden”.3 Thus, alongside this transnational aspect of Isayif ’s writing that is a common motif within so-called minority literature and its interpretation,4 Insayif equally challenges the unity of language and words in a fundamental way, deterritorializing language “by intensifying features already present within it”5 in a manner that resonates with Gilles Deleuze and Félix Guattari’s concept of minor literature. Within German Studies, Margaret Littler in particular has forcefully argued for such a post-representational understanding of literature from a Deleuzian perspective, viewing literature as experimental, as “a creative and critical engagement with precisely the social forces that produce stable, territorial notions of identity”.6 1 Insayif has won the Autorenstipendium für Literatur der Literar Mechana Jubiläumsfonds 2008 and the Projektstipendium für Literatur des Bundesministeriums für Kunst und Kultur 2014/15. Since 1998 he has been a co-editor of the book series LITERATniktechTUR and has played an organisational role in the Siemens prize. 2 Babka, Anna: “wir haben ein land aus worten”. Semier Insayifs Roman Faruq. In: Aussiger Beiträge 8, 2014, p. 137–152. 3 Isayif, Semier: Faruq. Innsbruck/Wien: Haymon 2009, p. 7. 4 The interviewer from dasgedichtblog, Franziska Röchter, frames Insayif ’s writing in the oftrepeated terms of the two-worlds-paradigm: “Ihr Band ‘boden los’ ist ja auch eine lyrische Wanderung zwischen Orient und Okzident. Wie auch Ihr rhythmischer Prosaroman ‘Faruq’ (Haymon, 2009) eine Wanderung zwischen der morgen- und abendländischen Welt und ein Sich-Bewegen zwischen Identität und Heimatlosigkeit ist”. Röchter, Franziska: Gipfelruf, Folge 4: Semier Insayif. In: dasgedichtblog, 7 June 2012, (accessed on 03. 10. 2017). 5 Bogue, Roland: Deleuze on Literature. New York: Routledge 2003, p. 91. 6 Littler, Margaret: Cramped Creativity. The Politics of a Minor German Literature. In: Aesthetics and Politics in Modern German Culture. Festschrift in Honour of Rhys W. Williams.

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Insayif ’s play with the complexities of language comes to the fore most prominently in the poetry collection “boden los” (2012), whose poems are linked by their exploration through natural imagery of the borderlands of language itself, be they between languages, between lexical units, between signifier and signified, between our thoughts and their linguistic expression, or between morpheme and phoneme. By bringing the poems into dialogue with the writing of Deleuze and Guattari, and other thinkers of continental philosophy such as Jacques Derrida and Jean-Luc Nancy, the way in which Insayif ’s multifaceted exploration of language challenges notions of representation and denotative meaning-making can be delineated. “boden los” can be regarded as minor literature, since it contains the concept’s three interrelated central themes: “the deterritorialization of language, the connection of the individual to a political immediacy, and the collective assemblage of enunciation”.7 In terms of the deterritorialization of German in the text, this does not just occur through the subject matter of these poems, which meditate on the nature of language itself. Their experimental form, language mixing, neologisms and deliberate ambiguity resulting from techniques such as word-splitting and blanket non-capitalization convey an unstable sense of meaning, which simultaneously alienates readers and demands their intellectual and creative engagement. Insayif ’s readers are not only encouraged to consider multiple interpretations, but also exposed to a use of language beyond the production of meaning, as the poems of “boden los” “[o]ppose a purely intensive usage of language to all symbolic or even significant or simply signifying usages of it”.8 For example, Insayif demonstrates that, just as cultures are not isolated units, words are equally determined by their interrelatedness and how they border on other words, even at the level of morphemes. Indeed, the title “boden los” expresses this ambiguity. Written together, ‘bodenlos’ can mean ‘incredible’ in colloquial German, or in standard German ‘bottomless’ or ‘groundless’, and this hints at the non-foundational aspect of signification and meaning hinted at in the text. The title also reflects the collection’s botanical theme, as “boden los” can mean ‘without soil’ or even ‘soil go’. The second and third aspects of minor literature are closely linked. In order to grasp the political implications of minor literature for Insayif ’s writing, it is important to understand Deleuze and Guattari’s concept of language. In “A Thousand Plateaus”, language is viewed primarily as a series of “order-words” that enact “incorporeal transformations of bodies”, including not just human Ed. by Brigit Haines/Stephen Parker/Colin Riordan. Bern: Peter Lang 2010, p. 221–233, here p. 222. 7 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka. Toward a Minor literature. Trans. by Dana Polan/Réda Bensmaïa. Minneapolis: University of Minnesota Press 2003, p. 18. 8 Ibid., p. 19.

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bodies, but also political bodies and bodies of law.9 In Helen Stratford’s words: “In language terms saying something is often a means of doing something or allocating designations.”10 Deleuze and Guattari use the example of a judge’s guilty verdict turning the accused into a convict.11 Although the convict’s body remains physically the same, what s/he can now do changes drastically. The collective assemblage of enunciation, the third characteristic of minor literature, is defined as the grouping of incorporeal transformations in a particular field,12 or, as Ronald Bouge puts it, “discursive […] patterns of heterogenous practices, institutions and entities that inform relations of power”.13 It is therefore minor literature’s political role to disrupt these and open up new possibilities for bodies, and in so doing “forge the means for another consciousness and another sensibility”.14 As Moira Gatens states, Deleuze and Guattari’s approach “does not posit bodies on one side and language on the other. Rather bodies and states of affairs are interleaved with the ‘collective assemblages of enunciation/utterance’”.15 The notion of the collective assemblage of enunciation therefore underlines the social aspect of literature and its relation to the world. As Littler affirms, for Deleuze and Guattari, “the collective and author are in a continuous state of constant feedback” and “life and literature are suffused with the same social forces”.16 Insayif too understands literature in this non-representational way as effecting change in the world: “eindeutigkeitsüberbewertung führt meiner meinung nach oft zu einem monokulturellen denkprinzip der ‘eindeutigkeitsidiotie’. die poetische präzision ist aus meiner sicht eine öffnende, weniger eine schließende. jedes wort, jeder laut, jeder vers, … öffnet mehrere fenster zu einer welt, die dadurch in vielerlei perspektiven unterschiedlichst wahrnehmbar wird.”17

Rather than accurately representing the natural world, “boden los” can be viewed as part of Insayif ’s attempt to liberate thought from “eindeutigkeitsidiotie”

9 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia. Trans. by Brian Massumi. London: Bloomsbury 2013, p. 88ff. 10 Stratford, Helen: Collective Assemblages, Embodiment and Enunciations. In: Recoveries and Reclamations. Advances in Art and Urban Futures, Volume 2. Ed. by Judith Rugg/Daniel Hinchcliffe. Bristol: Intellect Books 2002, p. 107–117, here p. 108. 11 Deleuze/Guattari, A Thousand Plateaus. 2013, p. 93f. 12 Ibid., p. 103. 13 Bogue, Deleuze on Literature. 2003, p. 111. 14 Deleuze/Guattari, Kafka. 2003, p. 17. 15 Gatens, Moira: Through a Spinozist Lens. Ethology, Difference, Power. In: Deleuze. A Critical Reader. Ed. by Paul Patton. Oxford: Blackwell 1996, p. 162–187, here p. 180. 16 Littler, Cramped Creativity. 2010, p. 225f. 17 Röchter, Gipfelruf. 2012.

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through an emphasis on ambiguity and nuance and hence to open up new ways of viewing the world. This objective resonates with the poems of “boden los”, and when viewed within the legacy of avant-garde poetry such as Dadaism and the Wiener Gruppe, the political nature of his subversive use of language becomes all the more apparent. Insayif sees language as an inherently political terrain: “jeder von uns, jeder und jede einzelne ist durch die art und weise der sprachverwendung gesellschaftspolitisch aktiv. in welche richtung auch immer”.18 He therefore shuns the idea of the depoliticised artistic individual that Deleuze and Guattari associate with major literature in favour of directly engaging with the questions of language, power and the collective. Like the Dadaists whose surrealism he shares, Insayif is perhaps also aiming for “a transformation of the value and thought structure of the recipients” of his poetry.19 In contrast to literary strategies of fragmentation that are concerned with representing a world in pieces, Anna Katherina Schaffner’s concept of language dissection in relation to Dada poetry emphasises how the poet intervenes in the linguistic order of signs in order to raise awareness of and radically change our thought processes.20 Like the Dadaists before him, Insayif too is interested in creating the potential for new ways of thinking: “das phänomen der ‘bewegung’ fasziniert mich schon lange. der versuch, bewegungsdefinitionen aus verschiedenen blickwinkeln (z. b. der musik, philosophie, physik, sprache, …) aufzugreifen und auf poetische spurensuche zu gehen […]. damit sind wir mitten in den themen sprech-, sprach- und denkbewegungen. was könnte das poetisch gesehen bedeuten und wie könnte das poetisch wahrgenommen aussehen, worauf fußt das alles und wohin könnte es uns führen? bis heute lassen mich diese suchbewegungen nicht los, vielleicht überhaupt ein grundthema von poesie und meiner weltwahrnehmung?! man denke an die schule der peripatetiker21 und die idee, dass es bewegungslosigkeit gar nicht gibt.”22

The poem “p.s.” from the collection’s last cycle “hintergarten”23 serves as an example for these three aspects of minor literature in practice, here relating to the collection’s overarching theme: language and the natural world: 18 Ibid. 19 Schaffner, Anna Katherina: Dissecting the Order of Signs. On the Textual Politics of Dada Poetics. In: Dada and Beyond. Dada Discourses. Ed. by Elza Adamowicz/Eric Robertson. Amsterdam: Rodopi 2011, p. 37–50, here p. 39. 20 Ibid. 21 Many of the poetry cycles in “boden los” begin with philosophical quotes from Aristotle. 22 Röchter, Gipfelruf. 2012. 23 Every cycle in the collection bears a name relating to the natural world and the garden in particular, such as “in fremden gärten (nah am boden)”, in which canonical German poems with a natural theme, such as Stefan George’s “Komm in den totgesagten park und schau”, are printed next to the new ones they inspired, again implying the social aspect of writing.

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“ist sprache selbst ein stück natur ist natur selbst ein stück sprache ist sprachnatur nur sprache selbst ist sprachnatur das innere der sprache ist sprachnatur ihr äußerstes ist sprachnatur natur der sprache selbst ist selbst natur nur sprache ist alle sprache nicht natur ist aller anfang sprache ist aller sprachen anfang ende der natur ist nicht das wort natur nur sprache ist nicht das wort natur niemals selbst natur […] ist nur das wort natur ist nur das wort natur des denkens ist nur das denken sprache und ist daher die sprache wort und macht natur und macht sie manchmal denken […]”24

The confusing repetitions and puns of “p.s.” serve to deterritorialize language, making meaning hard to follow, just as Deleuze and Guattari mention how Franz Kafka, as a child, “repeated one of his father’s expressions in order to make it take flight on a line of non-sense”.25 Insayif questions the representational function of language here: “ist nicht das wort natur niemals selbst natur”? Furthermore, the poetic persona ponders the character both of language and of nature, and of their reciprocal relationship. He raises the performative function of language and labelling, in Deleuzian terminology, of “order-words”: “und ist daher die sprache wort und macht natur”? Ultimately, what emerges is a social idea of language and the material world as interwoven and impacting upon and shaping one other, expressed through an unfamiliar German. These theoretical and political implications regarding how we understand language will be further analysed in a cross-section of poems from “boden los”, which contains twenty-one cycles in total.

24 Insayif, Semier: boden los. Innsbruck/Wien: Haymon 2012, p. 158 (further quotes are given in the text). 25 Deleuze/Guattari, Kafka. 2003, p. 21.

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I.

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Linguistic Instability and Alienation in “‫ ِﺑﺪﻭﻥ َﻗﺮﺍﺭ‬/ bidu¯n qara¯r”

The poet’s own bilingualism comes to the fore in the poem “‫ ِﺑﺪﻭﻥ َﻗﺮﺍﺭ‬/ bidu¯n qara¯r” (which means “without decision”26) from the cycle “wer hat vom maulbeerbaum gegessen”. The title “‫ ِﺑﺪﻭﻥ َﻗﺮﺍﺭ‬/ bidu¯n qara¯r” is not translated, but a phonetic transcript is given, suggesting a privileging of the acoustic and optic aspect of language for the presumably monolingual German-speaking reader. This tactic reoccurs throughout the poem and the entire cycle, serving both to alienate the monolingual reader and confront them with an unassimilatable difference. Not only the Arabic phrases resist clear-cut interpretation, however; the meaning of the German is also elusive: “ich ritze buchstaben in ewiges eis (aber was ist schon ewig?) ‫ُﺣﺮﻭﻑ َﻭ َﺣﺮﻑ‬ ¯harf wa ¯huru¯f ‫َﺧﺮﻭﻑ ﻻ ِﺣﺮﻳﻒ‬ ¯hirrı¯f la charu¯f stanze ganze silben heraus breche sie ab und zu fällt ein wort auf meine zunge wird starr vor kälte zeile für zeile schmilzt verwässert im mund vermischt sich mit speichel und tropft langsam aus mir heraus in mich hinein lippengrenzland ‫ُﺑﻠﺪﺍﻥ ُﺣﺪﻭﺩ َﺷ َﻔﻮﺍﺕ‬ schafau¯a¯t ¯hudu¯d bulda¯n ich ritze das wort haut ‫ِﺟﻠﺪ ﺑَ َﺸﺮﺓ ِﻗﺸﺮﺓ َﺯ َﺑﺪ‬ dschild baschara qischra zabad in die rinde eines baumes in das grün eines blattes (aber was ist schon grün?) das wort steckt fest als schrei meiner hand unter der haut meiner finger 26 I am immensely grateful to Dr Suleiman Adam for the translation of the Arabic words.

432 bekränze ich es mit linien strichen und punkten und begrenze mich erst schriftlich dann mündlich ‫ﺛُ َّﻢ َﺷ َﻔﻮﻱ ﺗَﺤﺮﻳﺮﻱ‬ tah ¯ rı¯rı¯ thumma schafau¯¯ı ich ritze buchstaben und worte auf meine blaue zunge perlt rote tinte ‫ﺃﺯ َﺭﻕ ﻟِﺴﺎﻥ‬ lisa¯n azraq ‫ﺃﺣ َﻤﺮ ِﺣﺒﺮ‬ ¯hibr ah ¯ mar ich stanze gedankenzeilen (aber was ist schon ein gedanke?) breche in ihr fleisch und sauge verse aus transparentem blut ٌ ‫َﺷﻔﺎ‬ ‫ﻑ َﺩ ٌّﻡ‬ dammun schafa¯fun auf die lippen gebissen unter den gaumen gekehrt wird jede silbe zum gegenteil ihrer angestrebten freiheit ِ ‫ُﺣ ّﺮﻳﺔ‬ hurrija buchstaben ritzen mir weiße streifen aus papier unter die augen lider öffnen und schließen die stille der luft ‫ﺃﻟ َﻬﻮﺍﺀ ُﺳﻜﻮﻥ‬ suku¯n al-hau¯a: (aber was ist schon stille?) verstropfen verstopfen die wunder und wunden in mir und um mich herum eiszapfenlandschaft bricht stück für stück wort für wort hund für herz und herz für hund ‫ﻟِﻠ َﻘﻠﺐ َﻛﻠﺐ‬ kalb lilqalb

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‫ﻟِﻠ َﻜﻠﺐ َﻗﻠﺐ َﻭ‬ wa qalb lilkalb ganz am grund ab gelegt (aber was ist schon ein grund?) und boden los” (p. 84ff.)

This poem not only creates a hybrid poetic borderland between the German- and Arabic-speaking worlds, but also raises the issue of the divide between the inner self and the outer world. The opening stanza creates a link between language and ice through the paradoxical statement “ewiges eis / (aber was ist schon ewig?)”, metaphorically portraying the poet as a sculptor and words as ephemeral and transient. Language acts as a link between inner and outer worlds here, as the melted ice mixes with the poetic persona’s saliva, some dripping out of the mouth and some dripping back down the throat. The final image of the stanza “lippengrenzland / ‫ َﺷ َﻔﻮﺍﺕ ُﺣﺪﻭﺩ ُﺑﻠﺪﺍﻥ‬/ schafau¯a¯t ¯hudu¯d bulda¯n” implies a transformative border-crossing between the inner thoughts and their linguistic expression. This border is problematic, however, as the symbol of the frozen tongue suggests an inability to speak adequately. This can be read biographically, following the representational paradigm, as Insayif ’s difficulties in learning Arabic, which he undertook in earnest as an adult, or it can be read non-representationally, as generating an intensity in the reader. In an interview for dasgedichtblog, Insayif elaborates on his relationship with Arabic: “ich habe die arabische sprache im ohr, als kind von meinem vater viele geschichten in arabischer sprache erzählt bekommen und habe viel arabische musik gehört. habe die sprache aber nur fragmentarisch zur verfügung. […] ich habe erst vor ein paar jahren an der uni arabisch schreiben gelernt, was ganz wunderbar war.”27

Viewed this way, the “lippengrenzland” is between his mother tongue or his ideas and a language he does not master. The play between the phrases in Arabic “‫َﺣﺮﻑ‬ ‫ َﻭ ُﺣﺮﻭﻑ‬/ ¯harf wa ¯huru¯f / ‫ ِﺣﺮﻳﻒ ﻻ َﺧﺮﻭﻑ‬/ ¯hirrı¯f la charu¯f”, meaning “letter and letters / spiciness not sheep” (a pun which also works in German: “scharf nicht schaf”), also indicates how a change in one syllable can affect and transform meaning, making language precarious and vulnerable to slippages, especially for the learner. This theme of linguistic instability is continued in the Arabic of the second stanza, as “‫ ِﺟﻠﺪ ﺑَ َﺸﺮﺓ ِﻗﺸﺮﺓ َﺯ َﺑﺪ‬/ dschild baschara qischra zabad” demonstrates the various possible translations of ‘Haut’, including human skin, the skin or peel of fruit, and also foam. Moving between languages is not straight forward. Compromises must often be made to convey the meaning of a word, or it can be 27 Röchter, Gipfelruf. 2012.

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the case that a new language allows us to be more precise. Here, however, communication is again impeded, and oral and written communication is conflated: “das wort steckt fest / als schrei meiner hand”. The hand’s inability to scream implies the silence and also the frustration of the inability to speak or write as a beginner in a new language. In this regard, the Arabic script allows the reader to share Insayif ’s experience of, and perhaps frustration at not being able to fully understand it. In its German-speaking context, however, the emphasis on the visual and phonic aspects of Arabic can be regarded as deterritorialization, as it is a nonrepresentational use of language that dispenses with signification in favour of generating a response and an intensity in the reader. Moreover, the poem as a whole suggests a broader interpretation of the “lippengrenzland” as a comment on the limitations of linguistic expression more generally. To illustrate this point, the clarity of the metaphor of ice sculpting in the first stanza is itself undermined by the split words across lines: “breche sie ab und / zu fällt ein wort / auf meine zunge”. Due to enjambment, there is ambivalence here between ‘abbrechen’, ‘ab und zu’ and ‘zufallen’, implying a Derridean view of language as non-foundational, as the never-ending chain of significations referred to as différance: “every concept is inscribed in a chain or in a system within which it refers to the other, to other concepts, by means of the systematic play of differences”.28 The nonessentiality of lexical units is highlighted by Insayif, as they only make sense in relation to others and this sense is in a state of constant transformation. Thus, not just the Arabic alienates and confuses the reader; the German is also deterritorialized and difficult to follow. In the third stanza, the poetic persona speaks of carving words on one’s tongue and thoughts are compared with fruit. Whether the flesh is of the tongue or of the fruit remains unclear, continuing the motif of skin from the second stanza. There is also further ambiguity between blood and juice, which through the title of the cycle, “wer hat vom maulbeerbaum gegessen”, perhaps references Ovid’s tale of Pyramus and Thisbe, whose blood supposedly gave mulberries their colour. Yet ultimately, like the words of ice, the thoughts change as they pass through the mouth: “auf die lippen gebissen / unter den gaumen gekehrt / wird jede silbe zum ِ gegenteil / ihrer angestrebten freiheit / ‫ ُﺣ ّﺮﻳﺔ‬/ hurrija”. Unimpeded communication is, like absolute freedom, unattainable due to our limitations and constraints, and the change of just one syllable and the addition of an extra word or morpheme can completely change a word’s meaning. The minute changes to syllables throughout the poem demonstrate these linguistic transformations, such as in the final stanza where “verstropfen verstopfen” can be read as ‘vers28 Derrida, Jacques: Différance. Trans. by Alan Bass. In: A Derrida Reader. Between the Blinds. Ed. by Peggy Kamuf. New York: Columbia University 1991, p. 61–79, here p. 64.

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tropfen’ and then the verb ‘verstopfen’ or the compound noun ‘vers-topfen’, depending on how we understand the word’s morphemes. Likewise, there is another Arabic play on words with a single change of syllable making dog into heart: “‫ َﻛﻠﺐ ﻟِﻠ َﻘﻠﺐ‬/ kalb lilqalb / ‫ َﻭ َﻗﻠﺐ ﻟِﻠ َﻜﻠﺐ‬/ wa qalb lilkalb”. The poem’s last three lines, which bear the collection’s name, not only question what a base or foundation is, but also demonstrate how meaning is relational rather than foundational: “(aber was ist schon ein grund?) / und boden / los”. Words only make sense within an endless chain of meanings, as readers are forced to reconsider their understanding of the text due to the play between the phrases ‘Grund und Boden’, ‘bodenlos’ and the final command ‘los’ that are separated across lines, implying an understanding of signs as “deferred presence”.29 Ultimately, just as the title “‫ ِﺑﺪﻭﻥ َﻗﺮﺍﺭ‬/ bidu¯n qara¯r” suggests, we cannot decide the definitive meaning of much of what the poem contains. The poem does not merely concern the difficulty and annoyance associated with languagelearning, but Insayif is, like Kafka, also a “stranger within his own language”,30 as German is ultimately rendered almost as unfamiliar as Arabic for the monolingual reader. This unclear poetic language chimes with the political stance of minor literature, moving away from clear order-words in favour of a creative ambiguity. This ability of deterritorialized language to open up new ways of thinking, rather than simply representing what is already there, is seen throughout “boden los” and it forms part of how Insayif regards his own oeuvre: “dadurch erhoffe ich mir größere differenzierungen, keine platten unhaltbaren generalisierungen und politische schlagwörter, die tatsächlich als schlagwörter funktionieren. sie schlagen zu und führen zu kategorisierungen, die zur lähmung des denkens und empfindens führen, anstatt die entwicklung zum menschwerden anzuregen.”31

II.

“libellenzauberarchivierung” and the Problem of Representation

The poem “libellenzauberarchivierung” from the cycle “tier kinder friedhof garten” can also be read in a non-representational sense as a comment on the impossibility of expressing something in language without fundamentally transforming it, meaning representation is ultimately never fully achievable: “aus dreißig tausend einzel augen auf gezeichnet kontrolliert im schweben ein getaucht als schillerndes geschenk für forscher 29 Ibid., p. 61. 30 Deleuze/Guattari, Kafka. 2003, p. 26. 31 Röchter, Gipfelruf. 2012.

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hände geist aviatiker die odonata quer gedacht in bänden glänzt metallen licht bedrängt beschossen jeder ihrer körper schlank und strahlend platt auf riesenleinwand projiziert transparent vergrößert flügel häute faltend tanzen moos jungfer und pracht smaragd granat beschwert und pech besehen im spiegel der facetten ihre arten spaltend angepeilt so ins visier genommen dicht herangezoomt und los gelassen ihre wesenheiten über flüsse frei verschenkt weit aus geholt und unter wasser laufend larven schreck ganz still imagines geheim ein wort zur fressmaschine generiert […] doppel flügel spreizend selbst vergessen sich im schwarzen aug des teiches suchend jene gier im wissenraub gepackt von riesenhänden auf geknackt das blaupfeilleben zu gedeckt und ab gespießt hinter ab deckglas gerettet aug ins aug gegangen dieser blick gleich zu gleich so archiviert fixiert und schau objekt für immer” (p. 96f.)

The poem begins with a detailed description of a dragonfly with echoes of impressionist literature’s aim of trying to capture every moment, which is emphasised by the word-splitting across lines and accelerated by the enjambment, as one impression moves on to the next in rapid succession. The references to digital technology and machines, which jars with the otherwise natural imagery, imply a preoccupation with how reality is captured and represented: “so ins visier genommen dicht / herangezoomt”. Such vocabulary equally chimes with the Deleuzian concept of the world as the interaction of “machines” (desiring machines, war machines, etc.). Indeed, the dragonfly eats the larvae, becoming a “fressmaschine”. Hence the function and action of the dragonfly is emphasised, rather than its being or essence. At the end of the poem the dragonfly is captured and pinned in a display case. This not only portrays the hierarchy of the food-chain (larvae-dragonfly-human), but it also comments on the effects and the very possibility of representation on a meta-level through its multiple distancing from reality. Observing

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a dragonfly in a display case is certainly not the same as observing one in the wild. The rhyme of “gepackt” and “geknackt”, and “archiviert / fixiert” serves to emphasise the acts of grabbing, pinning down and preserving, an act which changes the dragonfly into a “schau objekt”, where the word-splitting stresses the fact that it is now an object, and the poet/scientist is the representing subject. Moreover, another layer of complexity is added since it is unclear if the poetic persona is watching the dragonfly unmediated, or reflected in a lake, and the metaphor of the surface of the water as a “riesenleinwand” signals the preoccupation with representation and capturing reality through reference to film. Viewing a dead insect in a case is not the same as observing one in the wild and neither is watching a reflection of one. Furthermore, reading a poem about a reflection of one, or one being put in a display-case is certainly not the same. Although the poet does his best with poetic features to mirror the series of fleeting moments and reflect the beauty of the scene with features such as consonance and alliteration (“schillerndes geschenk für forscher”, “aviatiker die odonata quer”), it can never truly approach lived experience. The deterritorializing technique of word-splitting alludes to distinctions between the experience of the actual dragonfly and of its representation, be it in the water, in a display case, or in poetry, which emerges as a pale comparison. The difference between its “wesenheiten” being “los gelassen” or merely “gelassen” emphasises the differing nature of the original experience and its representation. The splitting of “über flüsse” too alludes both to excesses (‘Überflüsse’) that exceed representation, and to the subject matter of a dragonfly hovering over rivers (‘über Flüsse’). This notion of an excess that cannot be grasped or represented is also expressed in the Arabic words in other poems, at least for the average German-speaking reader, who is left with a sense of loss and incomplete understanding. This questioning of the representational paradigm is found in many of the collection’s other poems and in some of philosophical quotations that precede each cycle, such as the following from the biologists/philosophers Humberto R. Maturana and Francisco J. Varela, which highlights the performative nature of language, and implies that as a result of the subject-object relationship, the object becomes changed and so cannot really be experienced as it is: “In diesem Sinne werden wir ständig festzustellen haben, dass man das Phänomen des Erkennens nicht so auffassen kann, als gäbe es ‘Tatsachen’ und Objekte ‘da draußen’, die man nur aufzugreifen und in den Kopf hineinzutun habe. […] Die Erfahrung von jedem Ding ‘da draußen’ wird auf eine spezifische Weise durch die menschliche Struktur konfiguriert, welche das ‘ding’, das in der Beschreibung entsteht, erst möglich macht.” (p. 89)

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This question of experience and representation, subject and object, also comes to the fore in the poem “durch änderung der ansicht über blumen verändert” from the cycle “vergessene pflanzen”: “[…] wie aber wie streuen sich worte dazwischen? zwischen steine kristallgitterscheu treiben sie aus und uns an. flüstern sich ein schreiben sich fest auf den zungenspielen. kreisen und schaukeln heftig voraus und genau dann wenn du bereit bist sie aus zu spucken sie dir ins gesicht und fallen verwelkt auf den boden. papier los. […]” (p. 143)

Here, the way words are personified and the way the sentence is interrupted by the change in tack with the zeugma of “spucken” emphasises how language frustrates our attempts at meaning-making, even giving language itself a sense of agency, supporting this idea of a transformative “lippengrenzland”. This limitation of the representational paradigm can also be theorised through Nancy’s notion of exscription as “a circulation of meanings (‘sens’) by which language is not merely referring to or representing a given x outside of it, but has its own bodily materiality”.32 For Nancy, as for Insayif, the thing being named in language always ultimately resists signification, and this relation between language (speech or writing) and the thing-in–itself is performative: “Exscription is produced in the loosening of unsignifying spacing: it detaches words from their senses […], abandoning them to their extension. A word, so long as it’s not absorbed without remainder into a sense, remains essentially extended between other words, stretching to touch them, though not merging with them: and that’s language as body.”33

III.

Reading, Writing and the Rhizome in “baum grab”

As the above poems evidence, the shifting meaning amongst neighbouring words and morphemes is one of the most dominant poetic features of the collection, which is intensified by the frequent use of enjambment and zeugma. This technique is most pronounced in the poem “baum grab” (p. 66f.), which is a series of interrelated words extending with no punctuation whatsoever. A ‘Baumgrab’ is an environmentally friendly form of burial, in which the person’s ashes are put into a biodegradable urn and buried beneath a tree, and many 32 Gratton, Peter: Excription. In: The Nancy Dictionary. Ed. by Peter Gratton/Marie-Eve Morin. Edinburgh: Edinburgh University Press 2015, p. 86–87, here p. 86. 33 Nancy, Jean-Luc: Corpus. Trans. by Richard A. Rand. New York: Fordham University Press 2008, p. 71.

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words in the poem evoke death, such as “trauer”, “totes baby” and “zypresse” – a tree symbolic of death. The poem begins: “mai christ öl granat lärche gold apfel feigen blatt tannen ast zweig wipfel weide nadel laub welwitschia mirabilis n’tumbo unter boden stamm namibia ginkgo flammen drachen nuss erkenntnis erlen ulmen maul beer baum wie schule schema arbor bona arbor mala tugend laster luster baum der sonne und des mondes kosmisch komisch mitten drin im all und alles miteinander in verbindung himmel erde jesse wurzel fischschwanzpalm und wedel welt esche yggdrasil mandel eibe zeder wein stock dorn busch holz kreuz stapel aufgenagelt umgedreht die wendung luft baum baumelt […]” (p. 66)

The poem in its entirety continues for over a page, but its already clear from this excerpt that many of the words are species of tree or plant: “welwitschia mirabilis”, “ginkgo”, “nuss”, “zeder”, etc. Although the sheer volume of words exhausts the reader and makes it difficult to keep track of the various meanings of the individual words, some neighbouring words are associated through linked meanings: “ast zweig wipfel” are all part of trees; “fischschwanzpalm” is a type of palm tree and “wedel” is part of a palm leaf. Some connections are through word splitting: “unter boden” and “wein stock”, for instance, can be written together as compound nouns. These ambiguous connections demonstrate the network of language that makes meaning and understanding possible, as outlined by Derrida. For example, the possible ways to read “maul beer / baum” increase as we read: “mouth, berry, tree”, or “mulberry, tree”, or finally “mulberry tree”. The ambivalence of the poem that demands readers’ active participation renders lexical units as nonessential, but this linear way of reading based on shared meanings is perhaps still territorialized. By contrast, other associations between words are established not through signification, but through consonance, assonance and alliteration, creating unexpected connections and giving the poem texture: “kosmisch komisch”, “wedel welt esche”, “schule schema”, “erlen ulmen”, and “baum baumelt”. Insayif ’s work is deeply theoretical and, as previously mentioned, he begins each cycle in “boden los” with a quote from a philosopher or a wise saying, and these can provide an interpretive key. The quote before “baum grab” is from Deleuze and Guattari’s writing on the rhizome: “Seltsam wie der Baum die Wirklichkeit und das gesamte Denken des Abendlandes beherrscht hat, von der Botanik bis zur Biologie, der Anatomie, aber auch Erkenntnistheorie, Theologie, Ontologie, der ganzen Philosophie … der Wurzelgrund…” (p. 65)

Evidence of Deleuze and Guattari’s assertion of how the natural world shapes our thoughts is found in the poem, which contains various arboreal references with religious and folkloric associations from across the world. However, a different

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reading approach is needed to make these connections, and this can also be linked to Deleuze and Guattari’s writing. On the one hand, this poem produces some linear chains of signification still perhaps informed by an arborescent, that is to say, linear and hierarchical structure, albeit with an unknown, deferred foundation and some gaps – this open-endedness is implied by the lower-case letter at the “start” and lack of a full stop at the “end” of the poem. On the other hand, a rhizomatic reading of the poem that allows for multiple shifting connections in a non-hierarchical way is perhaps a more comprehensive reading strategy. By this I mean when connections are made between words regardless of where they are on the page. For instance, Christian associations group many words, even if they are not beside one another: “christ” (“christbaum”), “himmel”, “jesse wurzel”, “kreuz”, “aufgenagelt”, “dorn” and “wein”. The words “erkenntnis”, “apfel”, “laster” and “feigen blatt” carry associations with the Biblical Fall. Some have folkloric associations: the “yggdrasil” is a mythical tree that connects the nine worlds in Norse cosmology, and hence can be associated with the words “welt” and “kosmisch”. “drachen” and “flammen” also correspond. As the poem itself states in a brief moment of syntactic clarity: “alles / miteinander in verbindung”. Such a non-linear reading is hinted at in a further quote about the rhizome before the poem “im horz”34: “In einem Rhizom gibt es keine Punkte oder Positionen wie etwa in einer Struktur, einem Baum oder einer Wurzel. Es gibt nichts als Linien” (p. 27). “baum grab” is, then, not to be understood as having a linear structure or a beginning- and endpoint. Rather, the reader is encouraged to exhaust the various connecting lines within the text, which becomes a shifting multiplicity, challenging the linear concept of chains of signification and creating the potential for new meanings. As stated in “A Thousand Plateaus”: “in nature, roots are taproots with a more multiple, lateral, and circular system of ramification, rather than a dichotomous one.”35 In this way, the poem can express both in its structure and in its content the important role that the natural world plays in influencing human thought and culture, and also the way language and thought function through making multifaceted connections. In terms of the social aspect of the collective assemblage of enunciation, different readers will inevitably make different connections in this poem, perhaps exceeding those intended by the author – the poem is not only structured like a rhizome, but equally “forms a rhizome with the world”.36 Although by grouping words that seem to belong together readers reterritorialize meaning, they do have to go through various options that ‘fail’ 34 The meaning of “horz” is unclear und not given in the poem. Given the shifting vowels of Insayif ’s other poems and the overwhelming natural imagery, it could be a portmanteau of Herz and Holz. 35 Deleuze/Guattari, A Thousand Plateaus. 2013, p. 3. 36 Ibid., p. 10.

“lippengrenzland”

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before arriving at this point. This can therefore still be viewed as a rhizomatic form of poetry in which “any point […] can be connected to anything other, and must be”,37 which is liberating, as it allows for a greater possible number of unexpected readings and the potential to unleash a greater number of intensities in the reader.

IV.

“der kinder garten” and Deterritorialized Sound

Finally, as the title suggests, children might enjoy the silliness of “der kinder garten” (p. 99f.), a nonsense poem also from the cycle “tier kinder friedhof garten”, which seems to shun denotative meaning-making altogether. Yet this prioritization of the acoustic aspect of language is equally political in its deterritorializing gesture, moving language as it does away from signification: “was zibbelt zampft und zirbt was zieselt zwickt und zeckt was zwiebelt zäunt und zuckt aus allen fugen ritzt es sich und eckt was äugt und saugt und schluckt was sprengt und läuft und stirbt was krabbelt kreucht und scheucht in allen winkeln sprüht es sich hinweg es surrt und brummt und seucht es sticht und stachelt sturm es fühlert fingert säumt den turm […]”

Parallels can be drawn between this poem and Deleuze and Guattari’s comments on Kafka’s minor literature: “Since articulated sound was a deterritorialized noise but one that will be reterritorialized in sense, it is now sound itself that will be deterritorialized irrevocably, absolutely. The sound or the word that traverses this new deterritorialization no longer belongs to a language of sense, even though it derives from it, nor is it an organized music or song, even though it might appear to be.”38

Indeed, many of the words in “der kinder garten” are made up and have no real meaning, and the creature being described too seems imaginary, calling to mind surrealist or Dada poetry. The use of assonance, consonance, rhyme, anaphora and asyndeton create rhythm and pace, and questions surrounding representation retreat into the 37 Ibid., p. 5. 38 Deleuze/Guattari, Kafka. 2003, p. 21.

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background. They do not disappear entirely, however, as we are invited to consider what the creature could be, and what words such as “zibbeln” and “zirben” might signify, and what it means ‘to onion’ (“zwiebeln”). The acoustic experience of the poem does, nonetheless, take precedent. This favouring of the aural side of poetry is also found in the cycle “klang raum baum – eine mögliche blatt rede” (p.127ff.), which starts with “klang rede 1 – largo” and ends with “klang rede 7 – presto”. Here, the pace and rhythm of the poems speed up as with every poem the lines become longer and longer. The relationship between poetry and music is central to much of Insayif ’s work, as the poem “maqa¯m al-qubbantschı¯” (p. 81) inspired by Arabic music39 in “boden los” and the collection “libellen tänze” demonstrate. These poems that rely heavily on sound can perhaps be understood in the same way that the Dadaist poet Hugo Ball viewed his writing “as a point of refuge, a pure, ideologically untainted realm”.40 Insayif himself positively evaluates this lack of straight-forward signification: “ich halte leidenschaftliche plädoyers fürs ‘nichtverstehen’ oder besser gesagt fürs ‘nicht zu voreilige verstehen’ oder anders gesagt fürs ‘mehrsinnige verstehen’. der sinn ist nicht die letzte schicht eines textes. nicht immer sinnzentriert hören, sondern auch sinnenzentriert. den gedichten lauschen wie der musik. also nicht die fixierung auf die frage, was es im engen semantischen sinn bedeutet. das ist die stärke des kunstwerkes ‘gedicht’, es macht so viele fenster des verstehens sichtbar, dass man manchmal ganz taumelig davor steht, sitzt oder liegt.”41

Whereas other poems, and especially “baum grab”, encourage readers to ponder multiple potential readings, readers of “der kinder garten” are free to simply invent and imagine what the neologisms could mean, stimulating creative thought and again emphasising the reciprocal and collective nature of author, text and readership. This takes monolingual readers’ experience of the Arabic in the collection to the next level. Whereas Arabic words can be deciphered with a dictionary or the help of an Arabic speaker, the complete rejection of signification in “der kinder garten” can be understood as an absolute deterritorialization of language.

39 ‘Maqam’ is a scale system used in traditional Arabic music. 40 Schaffner, Dissecting the Order of Signs. 2011, p. 38. 41 Röchter, Gipfelruf. 2012.

“lippengrenzland”

V.

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Conclusion

Bogue argues that minor literature mostly relates to three categories: “the literature of numerically small nations and groups; the literature of oppressed minorities; and the literature of the modernist avant-garde. In some cases, the first two categories coincide, but not in all.”42 Insayif, however, appears to link all three, in that he belongs to the numerically small minority of Austrian-Iraqis and he is clearly inspired by the linguistic experimentation and flair of the modernist avant-garde. Through a poetic exploration of nature in “boden los”, he raises various subversive questions about the nature of language and the many borderspaces (to use his term, “Lippengrenzländer”) that are associated with it, be they between languages (here German and Arabic), between lexical units, between signifier and signified, between our thoughts and their linguistic expression, or between morpheme and phoneme. The ambiguous nature of meaning in this collection demonstrates the fluidity of these boundaries. “boden los” not only suggests that meaning arises from the interconnectedness of words, rather than being something essential and fixed, but it also expands the ways we should form these connections through strategies such as zeugma, enjambment and even a rhizomatic reading- and writing-style with a vast multitude of possible reading outcomes. The collection can therefore be associated with the project of minor literature, as it corresponds with the three key concepts outlined by Deleuze and Guattari. Language is deterritorialized and German is rendered strange and slippery, as meaning shifts along neighbouring words and morphemes, signification is suspended by the invention of neologisms, and a non-hierarchical rhizomatic reading strategy allows for multiple interpretive possibilities. This ‘becomingminor’ of the language also serves to engage the reader in a creative reading process, underlining the social aspect of literature in terms of a collective assemblage of enunciation. Indeed, ambiguity often means that readers must choose their particular interpretation or accept multiple simultaneous possibilities, and in the case of “baum grab”, different readers will make different associations based on their prior knowledge, cultural background and what speaks to them the most. Lastly, this play with language equally has a political effect. Bogue states: “Every language encodes the world, categorizing entities, actions and states of affairs, determining their contours, specifying their relations and so on”.43 Thus, through a minor use of German, and to a certain extent Arabic, Insayif disrupts the power relations bound up in the conventional, representational use of language, creating the potential for creative, new ways of 42 Bogue, Deleuze on Literature. 2003, p. 112. 43 Ibid., p. 98.

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thinking. If you disrupt language, you disrupt ideology, and the poems “‫ ِﺑﺪﻭﻥ َﻗﺮﺍﺭ‬/ bidu¯n qara¯r” and “baum grab” in particular seem to blur cultural boundaries too, the former in its bilingual experimentation and the latter in its rhizomatic, transnational and transspecies network of shifting cultural, religious and botanical associations. Just as Schaffner locates the subversive nature of Dadaist poetry “in the strategy of cutting deeply into the textual fabric of linguistic order”,44 language is not the transparent mediator of a message in Insayif ’s poems, but rendered strange, slippery and ambiguous. He makes language “vibrate with a new intensity”,45 as fluctuating connections and shifting meanings open up multiple interpretive options and compel the reader not just to creatively explore ambiguity, but to ultimately resist any static and final attribution of meaning, which in turn opens up new ways of thinking and of viewing the world.

44 Schaffner, Dissecting the Order of Signs. 2011, p. 38f. 45 Deleuze/Guattari, Kafka. 2003, p. 19.

Tom Vanassche (Freiburg)

Borderland Auschwitz. Lagerszpracha in Dieter Schlesak’s “Capesius, der Auschwitzapotheker” (2006) and its translations

Wie die Geschichtswissenschaft, Soziologie und Linguistik bereits ausführlich gezeigt haben, war die Kommunikation in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern von Mehrsprachigkeit geprägt. Auch in den Memoiren vieler Überlebenden wird sie thematisiert, meines Wissens ist diese Mehrsprachigkeit aber nicht konstitutiv für die Mehrzahl der fiktionalen Darstellungen der KZs. Dieter Schlesak’s „Capesius, der Auschwitzapotheker“ ist eine Ausnahme: In diesem Roman wird die lagerszpracha eingesetzt, damit die historischen Realitäten in Auschwitz-Birkenau so präzise wie nur möglich dargestellt werden, während zugleich darauf bestanden wird, dass die Ereignisse nicht erzählbar sind. Diese Poetik bezeichnet Michael Rothberg als traumatischen Realismus. Allerdings führen die sprachlichen Spezifika dieser Pidginsprache und die unterschiedlich normativ konnotierten Implikationen dieser Sprache zu vermehrten Dilemmas für die literarische Übersetzung, wobei schon die Übersetzung des Traumas die Frage nach der (Un)sichtbarkeit der Übersetzer und Übersetzerinnen verkompliziert. Wie wird zwischen Tatsachentreue und einer sprachlichen Nähe zur Leserschaft balanciert? Wird die negative Konnotation der lagerszpracha in der Übersetzung wiederholt? Entsteht in der Übersetzung dieser Sprache erneut ein Grenzgebiet, sei es sprachlich oder ethisch? The multilingual circumstances within the Nazi concentration camps have been well documented by historians, sociologists, and linguists, and are frequently mentioned by the survivors in their memoirs. To my knowledge, however, this fact has not very often been embraced stylistically in fictional depictions of the concentration camps. I purport that Dieter Schlesak’s “Capesius, der Auschwitzapotheker” poses an exception: it embraces the lagerszpracha in an attempt at rendering the realities of Auschwitz-Birkenau as realistically as possible while insisting on the un-tellability of the events there – it takes a poetic stance described by Michael Rothberg as traumatic realism. However, the linguistic peculiarities of the lagerszpracha and the different normative estimations of this pidgin raise extra challenges for translators, who already face sensitivities concerning the translation of trauma and the desirability of their own (in)visibility. How do they balance a truthfulness to the historical facts and a sufficient linguistic closeness to the reader? Is the negative bias towards the lagerszpracha repeated in translation? Does another borderland, be it linguistic or ethical, emerge in translation?

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Tom Vanassche

Dieter Schlesak’s documentary novel “Capesius, der Auschwitzapotheker” (2006), in which he documents various facets of life and death in the infamous titular concentration camp, thrives on contrast. This manifests itself in various ways: the novel’s attempt at offering a “realist” depiction1 of the events in the extermination camp (by means of its technique of montage and collage2) clashes with the “antirealist”3 notion that the extremity of the violence renders any accurate depiction an unreachable goal. Auschwitz is depicted as an otherness that cannot be fully grasped by those who were not there and then (and probably not even by those who were), and that ultimately defies adequate representation: “Adams Erlebnisse sind nicht erzählbar”.4 This notion of un-tellability is motivated by a strong chronotopic distinction: the genocide’s spatiality is emphasised through typographic means, its temporal dimensions through the juxtaposition of verb tenses: “Adam hat es gesehen, Adam weiß es, er weiß etwas, was wir nicht wissen, und nie wissen werden. […] Es geht um Adam, der DORT gewesen war, zum ‘Sonderkommando’ der Krematorien gehört hatte, es geht um einen Menschen, der das, was wir nicht begreifen können, in sich trägt.” (CDt, p. 6f.)

The volume is interested in borderlands, which may be defined as places marked by ethnic intermixing, tension and confrontation, and, more metaphysically, even by a transcendental character. However, I would argue that the novel’s conflicting claims and practices concerning realism and antirealism may not be best described with this metaphor. This is because the objects of realism and antirealism differ: the suffering of the victims may defy adequate representation, but simultaneously the novel juxtaposes testimonies, juridical proceedings, and historical documents in order to irrefutably depict the role of individual perpetrators. Some of these were personally known to Schlesak: the titular Victor Capesius, who was appointed pharmacist to Auschwitz in 1943, was an acquaintance of Schlesak’s parents; a former SS guard and officer, Roland Albert, was a cousin of his mother. Yet other notions of the borderland can be found in the novel. Indeed, whereas Rothberg considers the “concentrationary universe of the Nazi camps” to be “a borderland of extreme and everyday elements”,5 I maintain that the very chronotope of the concentration camp may be conceived as a borderland as well: 1 Rothberg, Michael: Traumatic Realism. The Demands of Holocaust Representation. Minneapolis: University of Minnesota Press 2000, p. 4. 2 As such, the novel inscribes itself in the tradition of politically engaged documentary literature and theatre in the Federal German Republic during the 1960s. 3 Rothberg, Traumatic Realism. 2000, p. 4. 4 Schlesak, Dieter: Capesius, der Auschwitzapotheker. Bonn: J.H.W. Dietz 2006, p.8. This edition will henceforth be referred to as CDt and referenced in the text. 5 Rothberg, Traumatic Realism. 2000, p. 109 (emphasis – T.V.).

Borderland Auschwitz

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although hermetically sealed off from the outside world – barbed wire, several guard cordons, the forced evacuation of nearby villages, occasionally minefields – the concentration camps (especially those in occupied Poland and in Germany) were populated by inmates from virtually the entire European continent. This led to the emergence of highly diversified concentration camp populations, and this contributed to the emergence of pidgin languages. Within this multilingual and multi-ethnic reality, Schlesak’s novel zooms in on a specific community: its preoccupation is with the lives and fates of those victims and perpetrators with Transylvanian roots in Auschwitz. Transylvania (German: Siebenbürgen) itself may be considered a borderland between Hungary and Romania. Historically contested, Northern Transylvania became Hungarian territory in 1940 following the Second Vienna Award, only to be returned to Romania in the 1947 Treaty of Paris. Moreover, as in many Central and Eastern European regions, a non-neglectable German-speaking minority inhabited the region, adding to Transylvania’s linguistic and cultural diversity. Moving to the realm of metaphor, the novel thematises the ethical borderland coined the grey zone by Primo Levi. Levi notes that the Manichean distinction between good and evil cannot be used to describe human agency in the concentration camp.6 Indeed, to paraphrase Giorgo Agamben, survival in a biopolitical state of exception requires certain actions that would be considered immoral outside of this state of exception. Levi particularly stresses the lack of solidarity between many inmates.7 The grey zone refers to more than to the morally compromised status of the survivor, however: it also enables us to differentiate within the groups of victims and perpetrators, respectively.8 Levi’s attention goes out primarily to the members of the Sonderkommando, charged with the incineration of the gassed bodies, the cutting of hairs, the removal of gold teeth and jewellery, etc.; and Chaim Rumkowski, chairman of the Jewish council of the Łódz´ ghetto. And although Levi repeatedly insists that no judgement about these persons is possible, his stance vis-à-vis the Sonderkommando members is ambivalent: initial acclaims of pity are tempered by the implication that the SS has succeeded in corrupting them, e. g. by engaging in football games.9 Schlesak’s “Capesius”, too, focusses extensively on this grey zone. Not only are there passages from Levi’s oeuvre integrated in the novel,10 but Adam, a fictional 6 Levi, Primo: I sommersi e i salvati. Torino: Einaudi 2007, p. 24f. 7 Ibid., p. 25. 8 It should go without saying that such nuances do not justify any absolute relativism, which would equate victims with perpetrators – Levi, too, is very outspoken on this point: “so che vittima incolpevole sono stato ed assassino no”. Ibid., p. 34. 9 Ibid., p. 40. 10 Albeit it not concerning the Sonderkommando, but the final days and hours before the camp was liberated by Soviet troops. Interestingly enough, when the novel does discuss the grey

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passe-partout figure, has also been a member of the Sonderkommando. His (self-) description is akin to Levi’s ambiguous stance towards these inmates, quasipositing that the SS had managed to corrupt them to the same derogated moral status. Schlesak seems to be using his novel’s sole (purely) fictional figure in order to shape Levi’s external observation in a first-person account from inside the Sonderkommando, as it were. “Adam: Das gab es vor allem im Krematorium, dort war fast alles unbewacht, außerhalb jeder Kontrolle. Man war gesellig beisammen. Ja, es wurde sogar zusammen mit den SSLeuten gesungen und gegessen. Die schienen in Ordnung zu sein! […] Und es wurden laufend mit den SS-Männern Geschäfte gemacht. Sogar mit den Offizieren.” (CDt, p. 108f.)

The infamous grey zone constitutes, therefore, an additional (yet metaphorical) borderland within the spatial-temporal borderland Auschwitz. Yet not only does “Capesius” thematise the aforementioned borderlands, the literary text in se is a borderland. Particularly two textual phenomena may be described as such. The first is the relation between fact, fiction, and fictitiousness, which is more complex than the paratext gives cause to assume.11 The second phenomenon is the novel’s depiction and use of the lagerszpracha, a linguistic peculiarity which poses a formidable challenge for the novel’s translators. In this contribution, I aim to look at the rendition of this borderland language within “Capesius”, and to look at the translation strategies of John Hargraves and Jacq Vogelaar. Do they preserve the borderland character of the language in their translations? Do their translations constitute further linguistic borderlands? In order to answer these questions and to illustrate the considerable challenge faced by the translators, it is necessary to sketch the historical and sociolinguistic background of this lagerszpracha, and to consider some ethical concerns about translation and authorship, particularly in the case of testimony and genocide.

zone, no reference to Levi is made! Cf. “Capesius”, p. 267, p. 331; and Levi, Primo: Se questo è un uomo. Torino: Einaudi 2014, p. 168. 11 I have analysed the relation between the novel’s extensive use of intertextuality and its hybridity in terms of fictionality, fictivity, and factuality elsewhere; cf. Vanassche, Tom: Intertextualität in “Capesius, Der Auschwitzapotheker”. Interferenzen zwischen Fiktivität, Fiktionalität, Faktualität. In: Interferenzen. Dimensionen und Phänomene der Überlagerung in Literatur und Theorie. Ed. by Sebastian Donat/Martin Fritz/Monika Raic/Martin Sexl. Innsbruck: Innsbruck University Press 2018, p. 123f.

Borderland Auschwitz

I.

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Lagerszpracha: The communicative situation in the concentration camp

As mentioned above, the Nazi concentration and extermination camps, although draconically severed from their surroundings, constituted borderlands. The ethnic and national superdiversity amongst the inmates brought with it a linguistic superdiversity, leading to the emergence of a pidgin, the so-called lagerszpracha.12 The emergence of such languages does not point to an equal influence of the languages involved. On the contrary, pidgins result from language contact between superstrates and substrates, the first being the languages of power and prestige, the latter being the languages of lesser cultural and political influence. In all varieties of the lagerszpracha, the superstrate was German, the language of the camp administration, and the language in which orders to the inmates were issued.13 This German dominance reveals itself, obviously, in the very denomination for the phenomenon: ‘lagerszpracha’ stems clearly from the German word ‘Lagersprache’, which literally translates as ‘camp language’. Nonetheless, the pidgin did vary from concentration camp to concentration camp, depending (amongst other things) on the numerically dominant nationality amongst the inmates.14 Although arguably all languages except for German belonged to the substrate of the pidgin, they did not all exercise the same amount of influence in the emergence of the lagerszpracha. Generally, the dominant language – within the substrate – was the language most spoken by the inmates in any given concentration camp.

12 Cf. Aschenberg, Heidi: Sprachterror. Kommunikation im nationalsozialistischen Konzentrationslager. In: Zeitschrift für Romanische Philologie 118, 2002, no. 4, p. 529–572, here p. 529. Aschenberg notes that up to 40 nationalities were found within the population of a concentration camp. 13 This explains why command, or at least some knowledge of, the German language somewhat increased an inmate’s chance at survival. Cf. Gramling, David: An Other Unspeakability. Levi and Lagerszpracha. In: New German Critique 117, 2012, p. 165–187, here 179; and Wolf, Michaela: ‘German speakers, step forward!’ Surviving through interpreting in Nazi concentration camps. In: Translation & Interpreting Studies. The Journal of the American Translation & Interpreting Studies Association 8, 2013, no. 1, p. 1–22, here p. 5f. Both, Gramling and Wolf, refer to Levi’s “I sommersi e i salvati”. 14 Cf. Oschlies, Wolf: Lagerszpracha. Zu Theorie und Emperie einer KZ-spezifischen Soziolinguistik. In: Zeitgeschichte 13, 1985, p. 1–27, here p. 3, 11; Hansen, Imke/Nowak, Katarzyna: Über Leben und Sprechen in Auschwitz. Probleme der Forschung über die Lagersprache der polnischen politischen Häftlinge von Auschwitz. In: Kontinuitäten und Brücken. Neue Perspektiven auf die Geschichte der NS-Konzentrationslager. Ed. by Christiane Heß/Julia Hörath/Dominique Schröder/Kim Wünschmann. Berlin: Metropol 2011, p. 115–141, here. p. 119; Oschlies, Wolf: Lagerszpracha. Soziolinguistische Bemerkungen zu KZ-Sprachkonventionen. In: Muttersprache. Vierteljahresschrift für deutsche Sprache 96, 1986, no. 1.2, p. 98–109, here 101; Aschenberg, Sprachterror. 2002, p. 532; Gramling, Unspeakability. 2012, p. 171.

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This regional diversity is one reason why lagerszpracha cannot be regarded as one homogenous phenomenon. The second one is that there are two different conceptualisations of the lagerszpracha: a broad one and a minimalist one. The broader conceptualisation, found in recent and older linguistic research, sees lagerszpracha not just as the parole of the victims, to speak with Ferdinand de Saussure, but as a broader langue – a language system which envelops the entire concentration camp, including the langue (and parole) of the SS.15 Lagerszpracha is, therefore, simultaneously the language of power, but also of resistance; of cynicism, but also of solidarity, and not in the least of camouflage – murderous as well as life-saving. As such, any attempt at depicting the lagerszpracha is inherently limited. Indeed, depicting the lagerszpracha is paramount to depicting a specific variety or instance of that language – which is in se not problematic: the same holds true for all other languages, as well. In this broader view, the lagerszpracha is a borderland “mit fließenden räumlichen (z. B. hatte jedes KZ eigene Spezifika) und inhaltlichen Grenzen (z. B. zu den Sondersprachen von Soldaten, Kriminellen u. a.)”.16 By contrast, a narrower conceptualisation of the lagerszpracha would correspond with the so-called Krematoriumsesperanto: a presumed lingo consisting of German and Polish, perceived as a language of rubbish, a pathologized communication form, reflecting the extremely violent circumstances which led to its emergence.17 Here, too, the lagerszpracha may be considered a borderland, since it is a pidgin constituted from German and at least one other national language, including sociolects, jargons, etc. In this narrow conception, the lagerszpracha is merely a linguistic borderland, though, whereas the broader conception the borderland includes the moral ambiguity reminiscent of the grey zone. It should be clear that these competing views on the phenomenon of the lagerszpracha are informed by competing political and philosophical interpretations of the concentration camp system and of the Shoah in general. This, combined with the extremity of the camps’ everyday realities, the virtually exclusive oral usage of the lagerszpracha, and its tabooing in the immediate post-

15 Oschlies, Lagerszpracha. 1985, p. 3; Hansen/Nowak, Über Leben und Sprechen in Auschwitz. 2011, p. 119; Oschlies, Lagerszpracha. 1986, p. 101. 16 Oschlies, Lagerszpracha. 1985, p. 13. 17 Cf. Jagoda, Zenon/Kłodzin´ski, Stanisław/Masłowski, Jan: ‘bauernfuss, goldzupa, himmelautostrada’. Zum Krematoriumsesperanto, der Sprache polnischer KZ-Häftlinge. In: Die Auschwitz-Hefte. Texte der polnischen Zeitschrift “Przegla˛d Lekarski” über historische, psychische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz. Ed. by Jochen August. Weinheim/Basel: Beltz 1987, p. 241–260, qtd. in Gramling, Unspeakability. 2012, p. 181.

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war years leads to misunderstandings concerning the lagerszpracha,18 which may be furthered in the literary representation of the lagerszpracha. Heidi Aschenberg, for example, claims that the lagerszpracha’s usefulness as means of communication was limited to the world of the concentration camp, and that consequentially, the liberation of the camps rendered it obsolete: “Die im Lager entstandenen Ausdrücke und praktizierten Kommunikationsformen sind unmittelbar an die Lagersituation gebunden, sie haben folglich eine begrenzte kommunikative Reichweite, räumlich wie auch zeitlich. Nach der Auflösung der Lager werden diese Ausdrucksmittel nur noch metasprachlich, im Sprechen über die Lager benutzt.”19

Yet several studies demonstrate that this was not the case. In certain groups of survivors, the lagerszpracha was also used after liberation.20 A second question is that concerning the ‘purpose’ of representing the lagerszpracha in literature. Aschenberg continues her remark concerning the exclusively metalinguistic use of the lagerszpracha after liberation by referring to the literature by former concentration camp inmates: “In Analysen zum Konzentrationslager, in Erinnerungsberichten ehemaliger Häftlinge und in literarischen Texten werden Elemente des lagerspezifischen Sprachgebrauchs – dies gilt insbesondere für die Lexik – wieder aufgenommen oder zitiert. Nur so können die mit den Lagern geschaffenen Realitäten überhaupt benannt, analysiert oder literarisch evoziert werden.”21

Indeed, many survivors continued to use the lagerszpracha among themselves, or as a descriptive tool when reporting to ‘outsiders’, and a ‘realist’ approach may posit that the use of the lagerszpracha is one requirement for depicting the realities of the Shoah to its full extent. However, the question remains whether depicting (elements of) it allows for a successful literary evocation of Auschwitz in ‘outsiders’. Why would this specific language enable those who were not there to transcend linguistic borders?22 As the antirealist school’s assumption is arguably an emotional reaction to such violence and injustice as much as an epistemological assumption, Aschenberg fails to argue why the use of the lagerszpracha should convince the antirealists: the reader presumably has at best a 18 Cf. Gramling, Unspeakability. 2012, p. 170. On the potential ethical dilemmas concerning the translation of survivors’ memoirs in English, cf. Kuhiwczak, Piotr: Mediating Trauma. How do we read the Holocaust Memoirs? In: Tradition, Translation, Trauma. The Classics and the Modern. Ed. by Jan Parker/Timothy Mathews. Oxford: Oxford University Press 2011, p. 283– 297. 19 Aschenberg, Sprachterror. 2002, p. 534. 20 Oschlies, Lagerszpracha. 1985, p. 10; Oschlies, Lagerszpracha. 1986, p. 104; Gramling, Unspeakability. 2012, p. 184f.; Wolf, ‘German speakers, step forward!’. 2013, p. 7. 21 Aschenberg, Sprachterror. 2002, p. 534. 22 Cf. ibid., p. 539.

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limited understanding of that language in the first place. Nor does she explain how it should dispel any linguistic scepticism – any representation of the lagerszpracha, as we have seen, is necessarily a fragmentary one, and not devoid of ideological assumptions. The matter of translation, as we shall see, complicates this assumption even more. The fact that German was the dominant language in the lagerszpracha – broadly or narrowly defined – should lead us to ask how that German language is presented in camp literature, as well, be that literature Germanophone or not. Addressing these questions concerning the depiction of the lagerszpracha and of German in “Capesius” and its translations, their textual functions, and their underlying ideological assumptions demands some reflection on translation, which is not free from ideological assumptions, either.

II.

Translating trauma: Ethical and linguistic challenges23

In its most basic yet still heuristically productive definition translation is “a process by which the chain of signifiers that constitutes the source-language text is replaced by a chain of signifiers in the target language which the translator provides on the strength of an interpretation”.24 Yet Lawrence Venuti, inspired by Jacques Derrida’s notion of différance, maintains that this process cannot be stable, since two poles of the interpretation process are unstable: its object, i. e. the text, and its outcome, i. e. meaning.25 Venuti’s argument may be summarised as follows: acknowledging this instability of meaning allows for a translational ethos of foreignization, ignoring it leads to practices of domestication during the translation process. Moreover, the violence that Venuti sees as inherent to translation may be rendered invisible by domestication,26 whereas “a foreignizing translation seeks to restrain the ethnocentric violence of translation”.27 Translation, in sum, is never a neutral activity, but rather one which is marked by 23 This may be the apt point to demonstrate some critical self-reflection: it should by no means be self-explanatory to write about the Shoah in English, for obvious historical reasons. Cf. Engelkind, Barbara: Holocaust and Memory. Trans. by. Emma Harris. London: Leicester University Press 2001, p. 15, qtd. in Kuhiwczak, Mediating Trauma. 2011, p. 285. The English language’s status as academic lingua franca comes with its own ideological implications. 24 Venuti, Lawrence: The Translator’s Invisibility. A History of Translation. London: Routledge 1995, p. 17. 25 Ibid., p. 17f. 26 Venuti sees as violence “the reconstitution of the foreign text in accordance with values, beliefs and presentations that preexist it in the target language, always configured in hierarchies of dominance and marginality” (ibid., p. 18), which may in turn serve agendas of “ethnic discrimination, geopolitical confrontations, colonialism, terror, war” (ibid., p. 19). 27 Ibid., p. 20.

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ethical and ideological decisions. Venuti sees this not only in the actual practice of translation, but also in legal frameworks concerning ownership of a translated text’s copyrights, which usually remains in the hands of either the original text’s author and/or the publisher(s). If the translator’s invisibility is to be assessed critically, then this rings especially true for the translation of trauma, i. e. of texts disclosing intense violence and suffering. When David Gramling describes Primo Levi as a “translator of Birkenau by necessity”, he is not just using the notion of translation in a metaphorical sense, but referring to the fact that post-war publishing houses required survivors to leave out any trace of the lagerszpracha, or at least to include glossaries.28 Without referring to Venuti, he too implicitly deems this domestication a violence inflicted on already-wounded victims: the metaphor of ‘cleansing’ a survivor’s memoir from any traces of the concentration camps’ multilingual reality eerily echoes the Nazi obsession with ‘racial’ hygiene. This configuration of the author/survivor-as-translator only complicates the process of translation into other languages: it implies a second-degree translation, although the initial translation may or may not be visible – causing the seconddegree translation to be perceived as first-degree, and therefore, in a way, rendering it less visible as such. In the following argumentation, however, the focus is not so much on the survivor-as-translator (understood both literally and more abstractly), but on the ethics of translating the accounts of survivors. At stake are matters of authorship and of manipulation, which may cast a different light on the desirability of the translator’s visibility. Indeed, a translator may have to walk a tight line of signalling emotional, conceptual, and referential breaches while retaining the text’s intelligibility in translation. After all, the appeal of many eyewitness accounts is not restricted to a monolingual readership, but instead to a more general humanity, rendering commodification – at least to some extent – desirable. Such commodification implies that the translator should remain – again, at least to some extent – invisible. Moreover, the position of the translator proper is itself a double one: s/he is a witness to the author’s voice, and is supposed to bring this voice to a different readership, culminating in third-degree witnessing, with the translator being a second-degree witness – although differing from the seconddegree witness as Dori Laub, informed by psychotherapy, imagined her.29 Con-

28 Gramling, Unspeakability. 2012, p. 166ff. The practices differed widely: Kielar, Wiesław: Anus Mundi. Wspomnienia Os´wie˛cimskie. Kraków: Wydawnictwo Literackie 1972 contains many German phrases, italicised within the Polish text, and translated in a footnote. A glossary with both administrative German and lagerszpracha terms is added after the actual account. 29 Deane-Cox, Sharon: The Translator as Secondary Witness. Mediating Memory in Antelme’s L’espèce Humaine. In: Translation Studies 6, 2013, no. 3, p. 309–323, here p. 311. Deane-Cox’s

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sequently, the ethical appeal inherent in Dominick LaCapra’s notion of empathic unsettlement applies to the translator’s ethos, too: “Being responsive to the traumatic experience of others, notably of victims, implies not the appropriation of their experience but what I would call empathic unsettlement, which should have stylistic effects or, more broadly, effects in writing which cannot be reduced to formulas or rules of method.”30

In fact, the translator’s empathic unsettlement should be a double stance: she has to enact this empathic unsettlement towards the victim, and her translation activity should enable the third-degree witness to live up to this ethical stance, as well. By being too visible, the translator may usurp the victim’s experiences – or at least lead to a confused reception by the third-degree witness. The traumatised victim, LaCapra would argue, should remain visible as the author of her own account. In “Capesius”, one crucial element may relativize this need for the translator’s invisibility. When looking at the translation (or not) of the lagerszpracha in that novel and its translations, we mainly look at instances within a fictional account, not at the actual testimony of a real-life survivor. This does obviously not mean that the translation of the lagerszpracha would be free of ethical or ideological questions. Rather, I would argue, these questions hinge on the novel’s translators adhering to a domesticating or foreignizing ethos. Though correlating with the matter of (in)visibility, it has the advantage of allowing for some more nuance: since Schlesak already makes decisions on translating the lagerszpracha, Hargraves’s and Vogelaar’s decisions on domestication and foreignization are situated on a second level. Of course, looking at the translation strategies concerning the lagerszpracha does not suffice for establishing whether or not Hargraves and Vogelaar adhere to domesticating or foreignizing strategies. After all, “[d]etermining whether a translation project is domesticating or foreignizing clearly depends on a detailed reconstruction of the cultural formation in which the translation is produced and consumed; what is domestic or foreign can be defined only with reference to the changing hierarchy of values in the target-language culture.”31

We may assume a priori, however, that the lagerszpracha is perceived as foreign. This language is already characterised as foreign due to its association with a world perceived as substantially different from ours, and this applies to the German original of “Capesius” as well as its translations. The lagerszpracha’s article voices similar ethical concerns surrounding the morally ambiguous visibility of the translator. 30 LaCapra, Dominick: Writing History, Writing Trauma. Baltimore: Johns Hopkins University Press 2001, p. 41. 31 Venuti, Lawrence: Strategies of Translation. In: Routledge Encyclopedia of Translation Studies. Ed. by Mona Baker. London/New York: Routledge 1998, p. 240–244, here p. 243.

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radical linguistic otherness from English and Dutch only adds to this literary estrangement. As such, an analysis of the literary use of German, of the lagerszpracha, and of the various translation strategies involved ought to suffice for a reconstruction of the hierarchy of values that Venuti mentions.

III.

German and lagerszpracha in “Capesius”

Aschenberg distinguishes between four modes of depicting the lagerszpracha, namely the descriptive, mimetic, evaluative, and explicative modes.32 At least theoretically, these four modes are easily distinguishable – whether this holds true when looking at concrete instances is a different matter. Nonetheless, the model may also be used for a differentiated description of the use of German in the texts. After all, in non-Germanophone depictions of the concentration camp, the German language is not seldom marked qua German in the representation of camp life, for various reasons. Not only can it be used to achieve a certain Barthian effet du réel given the sociolinguistic importance of German in the concentration camp, but its status as the language of the perpetrators evoked strong emotional attitudes in all inmates, regardless of their native language. Aschenberg notes that its use qua German may lead to an increased authenticity.33 This authenticity can be understood both in an objective (i. e., historical accuracy) as well as in a subjective sense (i. e., with regard to the inmate’s emotional stance).34 This increase in authenticity may also be explained by the fact that non-German speaking survivors presented German qua German in other settings as well – e. g., in court.35 Obviously, the effect of the descriptive and mimetic modes gets lost in German texts, but evaluative and explicative modes, in the form of socio- or metalinguistic comments may be used to compensate for this. In “Capesius”, Schlesak uses the fictional protagonist, Adam, to demonstrate that German was the native language of many victims as well. Additionally, the German of the SS is decried as either a mere Saxon dialect (in the case of the ethnic minority from Transylvania), or as the sociolect of the uneducated: “Erst diese SS-Typen haben mich zum Juden machen wollen, das wusste ich vorher gar nicht, dass ich Jude bin, ich war doch Deutscher mit dieser Sprache, die ich schon als 32 Aschenberg, Sprachterror. 2002, p. 540. 33 Ibid., p. 541. 34 The notion of ‘authenticity’ needs to be critically assessed, moreover. Suffice it to say, for the purposes of this contribution, that it is an impression on the reader evoked by certain text strategies and informed by cultural standards. 35 Atze, Marcel: ‘Los schnell’. Peter Weiss liest H.G. Adler. In: Monatshefte 103, 2011, no. 2, p. 276–288, here p. 276.

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Kind lallte. Sie tröstete. Sie weinte dann dort in mir, meine Sprache. Ich hörte sie deutlich weinen, wenn diese Tiermensch-Typen, die zwar aus Deutschland kamen, aber kein richtiges Deutsch sprachen, ‘Deutsche’ waren, doch oft nur falsche ‘deutsche’ Sätze rausbrüllten, Anal-Phabeten, die auf Deutsch nur bellen konnten.” (CDt, p. 10)

As such, the German language not only expresses sadness, but is sadness, while it simultaneously offers comfort. By coupling it to this universal emotionality, Schlesak-through-Adam attempts to de-couple the German language from the concentration camps, and thereby to redeem it: “das schlimmste Zwangsmittel war die Sprache, schon am Lagertor das zynische ‘Arbeit macht frei’ […] Ich versuchte meine geliebte deutsche Sprache ‘zu retten’. Denn sie wurde gehasst” (CDt, p. 47). In his uneasy stance towards his native language, Adam shows similarities with Paul Celan, a German-speaking survivor of the Shoah whose hermetic poetry has traditionally be understood to be an expression of the apophatic – understood both with regard to any deity and to the extremity of the suffering.36 And indeed, it is Adam who partially quotes Celan’s “Tenebrae”, adding an apophatic element to his visceral description of the opening of the gas chambers (CDt, p. 73).37 Its hermeticity may also be understood as language reaching the limits of representation. For a German-speaking victim of the Shoah, the relation to his native language is troubled by the fact that, as the language of the perpetrators, it has been perverted to prepare and mask the genocide. Its potential of adequate representation has been felt to have been compromised. Yet how this is this lagerszpracha depicted? In line with early accounts and the narrow conception, its ‘transcription’ consists basically of a German vocabulary with Slavic grammatical and phonetic elements. These include phonetic representations of abbreviations (“esesmani” for SS-Mann, CDt, p. 34; “kacetlager” for KZ-Lager, i. e. concentration camp, CDt, p. 47); paramilitary ranks (“lagerfirer”, CDt, p. 47) and other words pertaining to the realm of the concentration camp (“pejcz” for whip, CDt, p. 46); a particularly coarse parole (cf. the various composite nouns containing “szajs” for ‘shit’, CDt, p. 59); and various metaphors and phrases whose meanings are obscure to the reader who has no previous knowledge or access to translations. These terms are often used sarcastically or euphemistically: “cugang” is used to refer to newly-arrived inmates (CDt, p. 44), “tresura cugangow” for the training (literally: the dressage) of new arrivals – which implies a first exposure to extreme maltreatment (CDt, p. 45). 36 Cf. Wolosky, Shira: Language Mysticism. The Negative Way of Language in Eliot, Beckett, and Celan. Stanford: Stanford University Press 1995. 37 Adam’s account resembles Filip Müller’s non-fictional description. Cf. Müller, Filip: Sonderbehandlung. Drei Jahre in den Krematorien und Gaskammern von Auschwitz. Ed. by. Helmut Freitag. Munich: Steinhausen 1979.

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As the examples demonstrate, the novel adheres to a narrow conception of the lagerszpracha, i. e. it reduces the pidgin to the “Krematoriumsesperanto” (CDt, p. 44). The evaluative mode is, therefore, very strongly present within the novel, particularly by strongly contrasting it to German: “Deutsch ist sogar falsch. Einzig das Ordinäre der lagerszpracha gäbe es [an instance of particularly sadistic behaviour – T.V.] wieder” (CDt, p. 60). Yet the criterium for defining the appropriateness of the respective languages is not just historical accuracy but moral judgement as well. By linking the ‘ordinariness’ of the lagerszpracha to Kapo sadism and opposing it to German, the latter is implicitly linked to high-brow culture. The conceptualisation of the lagerszpracha is, as can be expected within a narrow approach, as a pathological language reflecting its genesis.38 This attitude may be closer to the perpetrators’ view than one might wish for. Schlesak quotes Jan Sikorski’s testimony during the first Auschwitz trial, held in Frankfurt (1963– 65): “Unser Apotheker Capesius, der Chef, tat so, als höre er nicht zu, wenn die Häftlinge die ‘lagerszpracha’ sprachen” (CDt, p. 86).39 Then again, Schlesak/ Adam do offer us their accounts in German, and deconstruct the ‘Germanness’ of the Volksdeutschen. The dialects spoken by these ethnic minority are charged with pathological connotations just as much as the lagerszpracha. By contrast, there are very few instances of the descriptive mode – this would be an explanation of the sociolinguistic or phonetic or syntactic structures and rules of the language. The mimetic mode, too, is only limitedly used: single lexemes are thrown in German sentences; there are no complete lagerszpracha sentences – let alone dialogues. Arguably, this is the case because the lagerszpracha is only substantiated in Adam’s narrative, which describes the event in hindsight. As such, he communicates the events to readers who were not there, and who therefore do not master the lagerszpracha. Isolated lexemes create, therefore, an effet du réel, whereas complete sentences would lead to incomprehensibility. By translating certain (but by far not all) lagerszpracha lexemes into German, the explicative component is present as well.

38 Cf. Oschlies, Lagerszpracha. 1986, p. 101. 39 It must be said that, although the majority of Sikorski’s testimony can be verified by looking at the trial records, the particular instance concerning Capesius’s attitude towards the lagerszpracha cannot be corroborated. Perhaps Schlesak resorts to pure invention, or perhaps he inserts this information from other sources. As noted above, the relation in the novel between fictionality, factuality, and fictivity is highly complex, and its systematic analysis is largely a desideratum.

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IV.

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Strategies of translation

Whereas the German novel does not ‘demand’ any translation for a great number of lagerszpracha lexemes, this does not automatically hold true for the English and Dutch versions of the novel. The English translation, by John Hargraves,40 features translation strategies aimed at foreignization and at domestication. In total, eight different strategies may be distinguished. 1. An instance where the English text adds an explicative element or translation when compared to the German text, or at least reduces ambiguity 2. ‘Neutral’ behaviour: the lagerszpracha lexeme is maintained; when the German text adds a translation, this is translated into English. This is arguably the most invisible strategy in Venuti’s sense – but note this does not amount to rendering the lagerszpracha invisible (cf. infra) 3. Modification of the spelling of the lagerszpracha lexeme 4. Double domestication 5. Direct replacement: the lagerszpracha lexeme is not included; instead, it is translated into English. The translator renders the lagerszpracha invisible 6. The lagerszpracha lexeme is retained, as is the German translation; moreover, the German lexeme is translated into English 7. The lagerszpracha lexeme is replaced by an English translation (as in 5), but this translation is placed between quotation marks 8. The lagerszpracha lexeme is deleted, and a translation is not provided. This is the most invisible strategy. Examples follow below. 1. The term “Blockältesten”, which is not marked by Schlesak as lagerszpracha, is marked as such, and a translation is added between brackets: “highestranking prisoners” (CDt, p. 45; CEn, p. 43) This strategy entails foreignization and domestication simultaneously: it highlights the foreign status of the lexeme, and renders it intelligible for the intended reader. This strategy accounts for 25 % of the cases. 2. Accounting for 23 % of the cases, this is the most self-explanatory strategy. 3. The translator uses the opportunity to – presumably – correct typos in the original ‘transcription’ of the lagerszpracha. This occurs only three times; “dupa nie szlanka” is rendered in the English version of the novel as “dupa nie szklanka” (CDt, p. 289; CEn, 302, emphasis mine – T.V).

40 Schlesak, Dieter: The Druggist of Auschwitz. A Documentary Novel. Trans. by John Hargraves. New York: Farrar, Strauss and Giroux 2011. This edition will henceforth be referred to as CEn and referenced in the text.

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4. A strategy that involves a double domestication is found in the following example: “finfundzwanzig” becomes “fünfundzwanzig (twenty-five)” (CDt, p. 46; CEn, p. 44). It renders a German dialect into standard German, and additionally offers the translation into English. By doing so, it takes a first step towards the translator’s invisibility: Schlesak’s distinction between pathological German dialects and the German high-brow language is being dissolved. This is the only example of this strategy. 5. Whereas the German original features “apela in der kwarantena” as an elaboration on the standard German “Appellen”, Hargraves deletes the lagerszpracha term and directly translated the German equivalent (CDt, p. 47; CEn, p. 44). There are plenty of instances where the lagerszpracha is directly translated: 44 % of the cases leads to this rendering invisible. 6. The only example of this strategy is found early in the novel. Schlesak adds the German “Zugang” for lagerszpracha “cugang”; Hargraves retains this German translation and adds the English “arrivals” (CDt, p. 44; CEn, p. 42). 7. Very similar to 5, but only used in three cases: “organisacja”, untranslated by Schlesak, is rendered as “‘organizing’” (CDt, p. 49; CEn, p. 47). Arguably, this renders the translation activity slightly less invisible, since the quotations marks imply uncommon language use. 8. Another strategy for which only one example is found: the erasing and nontranslation of “eintopwy prcjony” (CDt, p. 289). By contrast, the Dutch translation by Jacq Vogelaar features only 5 of the 8 strategies found in Hargraves’s text. Vogelaar does not use the double domestication (4), the lagerszpracha + German + Dutch (6), or the deletion (8) strategies. Moreover, the addition of explication or translation (1) is used only twice; as is the strategy with the quotation marks (7). Vogelaar modifies the lagerszpracha (3) in nine cases – three times more often than Hargraves. The big differences lie in the second strategy (83 instances in Vogelaar’s text) and in the fifth strategy (only four instances). One may conclude, therefore, that Vogelaar’s translation of the text is considerably closer to Schlesak’s novel than is Hargraves’s. Yet this conclusion should not be read as a preference of one translation over the other. I argue that both strategies come with their advantages and disadvantages, depending on one’s point of view on the lagerszpracha and, perhaps more importantly, the ‘nature’ of the Shoah. If one wishes to bring the Shoah within the range of normality, reducing the lagerszpracha’s visibility may heighten the sense of universality. The reduction of this pidgin’s presence may furthermore downplay the notion that the inmates were compromised – but only if one considers the lagerszpracha a pathological communication form. By contrast, if one’s aim is to depict the concentration camp reality as accurately as possible, acknowledging the linguistic dimension of this reality is a must.

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Whether one has a narrow or a broad view on the lagerszpracha is even of secondary importance – its inclusion in the discourse hints at the life-threatening dominance of the German language within the camps. A negative view on the lagerszpracha may, however, reduce the inmates to morally compromised figures with no room for personal initiative at all, let alone resistance. Both views on the concentration camp and on the Shoah tell only a one-sided story, and are easily instrumentalised for philosophical and political purposes. The translations can only add moral ambiguity surrounding the lagerszpracha.

V.

Conclusions

Let me use one final example to demonstrate that both translations, when compared to each other and to the German original, illustrate the difficulty in depicting and even deciphering the lagerszpracha. Whereas the phrase “mam glod” goes uncommented and untranslated in Schlesak’s text, both Hargraves and Vogelaar translate it in a footnote. Their translations vary slightly, however, and Hargraves notes the phrase stems from the lagerszpracha. Vogelaar does not indicate where the phrase’s linguistic roots lie. Instead, he indicates that the footnote is his addition; Hargraves does not signal that this is his translation (CDt, p. 288; CEn, 300).41 Drawing big conclusions from this one instance may be presumptuous, but it does point to the question about the translator’s invisibility. This example would suggest that Hargraves remains invisible whereas Vogelaar does not. The question is, then, whether the same applies to the quantitative analysis above. Hargraves renders the lagerszpracha considerably less visible, both compared to Schlesak’s novel and to Vogelaar’s translation of it. Yet does this mean that he as a translator is more invisible than Vogelaar? Arguably, it is exactly the other way around – Vogelaar, by remaining ‘more faithful’ to Schlesak’s depiction of the lagerszpracha, may be considered more invisible than Hargraves. Ultimately, this is a question of what texts are being read, and the previous conclusion would be achieved only after comparing both translations with the source text. However, when read on their own, which is presumably the most common reading practice, Vogelaar’s retaining of the lagerszpracha indicates its foreignness – and therefore, the need of the translator’s interference. Hargraves, by rendering the lagerszpracha less visible, also renders the role of the translator less visible.

41 Schlesak, Dieter: De apotheker van Auschwitz. Trans. by Jacq Vogelaar. Amsterdam/Antwerpen: De Arbeiderspers 2010, p. 271. This edition will henceforth be referred to as CNl and referenced in the text.

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Ultimately, and even though Adam’s account may suggest otherwise, the reduction of the lagerszpracha to the Krematoriumsesperanto coincides with quite normative views on the Sonderkommando. This normativity is retained grosso modo within translation, although the Dutch and the English versions of the novel offer slight variations. Hargraves’s strategy renders the lagerszpracha considerably less visible. Although there are many instances where he adds lexical information, thus simultaneously highlighting the foreign status of the lagerszpracha, there are a good deal more instances where he replaces the lagerszpracha with English terms. This entails a further reduction of the mimetic mode – which was already, in the German original, the least present of Aschenberg’s four modes. Interestingly, a contradiction between mimetic and evaluative modes follows. After all, the novel does not replace Schlesak’s opposition between German and lagerszpracha: “And even German is wrong. Only the obscenity of the lagerszpracha can reproduce it correctly” (CEn, p. 57). The steady replacement of lagerszpracha lexicon with English equivalents, especially in the sentences preceding this quote, is striking, and exaggerates the discrepancy between both modes already at hand in the original, German text. However, this strategy does not fundamentally challenge Schlesak’s depiction of the lagerszpracha, and neither does Vogelaar’s – except, perhaps, in one instance: by translating the rather neutral “Stuhlgang” with the more vulgar “scheten” (CDt, p. 288; CNl, p. 271),42 Vogelaar’s form reflects Schlesak’s statement that ‘Scheiße’ was the main swearword in the camp: “Immer die Scheiße, auch als Hauptschimpfwort” (CDt, p. 59). In a sense, the mimetic mode transcends the lagerszpracha: Vogelaar does not explicitly mark his verb as part of that language, but the mimetic mode indicates that the lagerszpracha was not limited to the campgrounds from 1940–45. After all, the verb stems from a description by Adam, imagined to be spoken years after the events, and cannot be considered a German-Slavic composite. With this one detail in translation, a much broader conceptualisation of the lagerszpracha is suggested. A final question, then: does it make sense to conceptualise translation as a borderland? After all, “[t]ranslation […] always involves a relationship that spans time and space”.43 So far, we have established that the lagerszpracha may be considered a borderland, certainly. Not because it is a multifaceted language – that would make any language a borderland and would render the metaphor’s heuristic value nihil – but because it is a pidgin, albeit a much more complex one than just Polish and German, and because it was used for taking and for saving 42 The Dutch verb would roughly correspond to ‘shat’, or ‘crapped’ – in German ‘geschissen’. 43 Bassnett, Susan: Prologue. In: Tradition, Translation, Trauma. The Classics and the Modern. Ed. by Jan Parker/Timothy Mathews. Oxford: Oxford University Press 2011, p. 1–9, here p. 8.

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lives. As such, it incessantly ‘moves’ beyond linguistic and moral borders. Therefore, its literary use may increase the novel’s status as borderland, or add a second borderland, since the pidgin is interwoven with at least one “authoritative state monolingualis[m]”, i. e., German, English, or Dutch.44 In the case of strategy 6, the borderland character may be perceived of as even stronger, since it is situated not between the lagerszpracha and one other language, but two. However, we have seen that this strategy is employed only once in the English translation, and not at all in the Dutch version. The act of translation, therefore, does not seem to increase the borderland status of the novel spectacularly – at least not in the translations I have looked at. The English version does add, at times, explicative elements, but there are about as many instances where it does not add any more information than that present in the German original. And even more often it renders the lagerszpracha invisible by directly translating it. The Dutch translation may not reduce the borderland character as often as the English text, but mostly sticks to the German original – therefore, it, too, does not substantially add to the novel’s borderland status. What may have constituted a borderland, however, was my very specific reading practice. As noted above, it is safe to assume that most readers will read the novel in one language – be that the original or the translation. A borderland may have been perceived of within translation because of my comparative approach. One should, indeed, keep a wary eye on one’s metaphors.

44 Gramling, Unspeakability. 2012, p. 170.

Autorinnen und Autoren

Bonner, Withold, Dr. Lektor (em.) für Literatur und Kultur der deutschsprachigen Länder an der Fakultät für Informationstechnologie und Kommunikation der Universität Tampere. Forschungsschwerpunkte: Gedächtnis, Transkulturelle Literatur, Raum und Heimat, DDR-Literatur. Neuere Publikationen: Themenheft der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7.2. Von Utopie zu Dystopie. Eisenbahnreisen in der Sowjetunion in Texten aus der DDR (Mithrsg., 2016); „Haymatlos“ im kulturellen Gedächtnis. „Serenade für Nadja“ von Zülfü Livaneli und „Seltsame Sterne starren zur Erde“ von Emine Sevgi Özdamar. In: GegenwartsLiteratur 15 (2016); The Interplay of Water, Home, and Narration in „Überfahrt“ by Anna Seghers. In: Water in Social Imagination from Technological Optimism to Contemporary Environmentalism (Hrsg. v. J. Costlow/Y. Haila/A. Rosenholm, 2017). Degen, Andreas, Dr. habil. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Potsdam. Forschungsschwerpunkte: Literaturgeschichte und Poetologie ab 1750, Ästhetik- und Begriffsgeschichte, Literaturgeschichtsschreibung, literarische Beziehungen zu Osteuropa. Neuere Publikationen: Ästhetische Faszination. Die Geschichte einer Denkfigur vor ihrem Begriff (2017); Heiner Müller in literaturgeschichtlichen Darstellungen (1985–2015). In: Material Müller. Das mediale Nachleben Heiner Müllers (Hrsg. v. J. Bohley/S. Pabst, 2018); Sterben, Tod und Weiterleben. Vorstellungen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Mithrsg., 2019); Sonnenfinsternis, angeschaut „in einem Gefäße voll Wassers“. Hamanns Medienphilosophie. In: Medienpraktiken der Aufklärung (Hrsg. v. L. Lukas/S. Pasewalck, 2019); Reisen im Kalten Krieg. Hans Henny Jahnn, Wolfgang Koeppen und Leo Weismantel in Moskau (1956/57). In: 1917–2017. Deutschland–Russland. Topographien einer Beziehungsgeschichte (Hrsg. v. C. Gansel/C. Roeder, 2019).

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Autorinnen und Autoren

Efimova, Svetlana, Dr. Juniorprofessorin für Slavische Literaturwissenschaft und Medien, LudwigMaximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Gattungsgrenzen und alternative Textordnungen (Prosa, Textumfang), transnationale literarische Kontakte, Materialität und Medialität der Literatur, Schreibprozessforschung. Neuere Publikationen: Das Schriftsteller-Notizbuch als Denkmedium in der russischen und deutschen Literatur (2018); Sonderausgabe 3 von Textpraxis. Digitales Journal für Philologie: Autor und Werk. Wechselwirkungen und Perspektiven (Hrsg., 2018); Dichtertod und Himmelfahrt. Mystisch-religiöse Motive im Textkomplex um den Briefdialog zwischen Rilke und Marina Cvetaeva. In: „Polytheismus der Einbildungskraft“. Wechselspiele von Literatur und Religion von der Aufklärung bis zur Gegenwart (Hrsg. v. T. Sommadossi, 2018); „Man hat hier alles in Bild und Schrift beisammen“. Wissenserzeugung in Theodor Fontanes Notizbüchern und Werk. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 4 (2017). Egger, Sabine, Dr. Dozentin am Institut für German Studies, MIC, Universität Limerick, und CoDirektorin des Irish Centre for Transnational Studies. Beiratsmitglied des Christa-Wolf-Zentrums für deutsche und polnische Gegenwartsliteratur und Kultur. Forschungsschwerpunkte: Erinnerung, Alterität, Raum und Bewegung, autobiographisches Schreiben, Gattungsgrenzen, Intermedialität (Literatur und neue Medien). Neuere Publikationen: Dialog mit dem Fremden. Erinnerung an den ‚europäischen Osten‘ in der Lyrik Johannes Bobrowskis (2009); Themenheft der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7.2. Vom Zugabteil zum Cabaret. Transiträume Sprache, Literatur und Kultur (Mithrsg., 2016); Magical Realism and Polish-German Postmemory. Reimagining Flight and Expulsion in Sabrina Janesch’s „Katzenberge“. In: Interférences littéraires / Literaire interferenties 14 (2014); Dynamisierte Räume, Krieg und Technik. Reisen gen Osten in der deutschsprachigen Literatur. In: Nach 1914. Krieg, Literatur und Film in der europäischen Kultur (Hrsg. v. M. Braun et al, 2016); Auf der Suche nach Spenglers Spuren in der deutschen Nachkriegsliteratur. In: Tektonik der Systeme. Neulektüren von Oswald Spengler (Hrsg. v. A. de Winde et al, 2016); Alterität. In: Buddenbrooks Handbuch, Metzler (Hrsg. v. N. Mattern/S. Neuhaus, 2018). Ellerbach, Benoît, Dr. Assistant Professor für Germanistik an der Abteilung für Moderne Sprachen, YADYOK, Bog˘aziçi-Universität (I˙stanbul). Forschungsschwerpunkte: interkulturelle Literatur, Literatur der Migration, Gastarbeiterliteratur, Postorientalismus, Postkolonialismus, Soziopoetik, interkulturelle Autorschaft. Neuere Publikationen: Hohe und niedere Literatur bei Rafik Schami. In: Zwischen Kanon und Unterhaltung. Interkulturelle und intermediale Aspekte von hoher und

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niederer Literatur (Hrsg. v. A. Bourguignon et al, 2016); L’anti-conte de J. Roth. „Le Conte de la 1002ème nuit“ ou l’implacable loi du rang. In: Joseph Roth, l’exil à Paris (Hrsg. v. P. Forget/S. Pesnel, 2017); Exotismus im postkolonialen Zeitalter am Beispiel Rafik Schamis. In: Etudes Germaniques 72.3 (2017); L’Arabie contée aux Allemands. Fictions interculturelles chez Rafik Schami (2018). Gassner, Florian, Dr. Senior Instructor am Department of Central, Eastern and Northern European Studies an der University of British Columbia (Vancouver), zudem Mitglied im Beirat des Studiengangs Religion, Literature and the Arts. Foschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Literatur aus Ost- und Südosteuropa, Literatur & Musik, Literatur & Religion, Fiktionalitätstheorien. Neuere Publikationen: Giacomo Casanova und die sexuelle Geographie Europas. In: Lessing Yearbook XLIV (2017); Robert Schumanns religiöser Nationalismus um 1848. In: German Quarterly 91.4 (2018); und Martin Luther in Nineteenth-Century Music, Literature & Politics. In: Edinburgh German Yearbook 13 (2020). Gutjahr, Jacqueline Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung Interkulturelle Germanistik, Georg-August-Universität Göttingen. Koordinatorin der Zusatzqualifikation Interkulturalität und Mehrsprachigkeit/Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Forschungsschwerpunkte: Interkulturalität und Literatur/Film, Poetiken der Mehrsprachigkeit, Sprachenpolitik – Sprachideologien – Sprachenvermittlung. Neuere Publikationen: Mehrsprachige Räume gestalten (zus. mit Andrea Bogner). In: Formen der Mehrsprachigkeit in sekundären und tertiären Bildungskontexten (Hrsg. v. M. Dannerer et al, 2018); ‚Die Trance des ersten Augenblicks‘ – Spielarten des poetischen Wechseltauschs mit Fremde/m am Beispiel von Durs Grünbeins „Lob des Taifuns“. In: Dynamische Gesellschaften – dynamische Kulturen (Hrsg. v. E. Reuter, 2017); ‚Sich herschreiben, sich fortschreiben, sich einschreiben in Sprache‘. Themen und Verfahren des Transitorischen in José F.A. Olivers „kompass & dämmerung“. In: Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik 7.2 (2016). Hajduk, Stefan, Dr. Head of Department of German Studies, University of Adelaide, studierte Germanistik, Philosophie, Theaterwissenschaft an der LMU München und der Universität Rom. Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin, und Mitarbeit am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Nach Forschungsstipendien in Neapel und Baltimore (USA) arbeitete er als DAAD-Lektor für Literaturgeschichte an der University of Pune (2000–2005) und Dozent an der University of Limerick (2006–2009); seit 2012 in Australien. Gegenwärtige For-

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schungsschwerpunkte: Literarische Ästhetik, Poetik der Stimmungen, Europäische Realismen. Neuere Publikationen: Poetologie der Stimmung. Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit (2016); Ein Mythos und sein doppelter Entzug des Modernen. Prämissen für einen Ausweg aus der Unübersichtlichkeit der Faustforschung. In: Goethe Yearbook 25 (2019, USA); Das Gefühl der Fremde und das Eigene der Literatur. In: Die Welt auf Deutsch. Fremdenbilder und Selbstentwürfe in der deutschsprachigen Literatur und Kultur (Hrsg. v. A. Bandhauer et al., 2018); Zwischen ‚Schwindel der Freiheit‘ und ‚Grundbefindlichkeit des Daseins‘. Zum existenzphilosophischen Angstbegriff und seiner literaturwissenschaftlichen Relevanz. In: Limbus 8 (2017). Haman, Brian, Dr. Postdoctoral International Fellow, New Europe College, Institute for Advanced Study, Bukarest, Rumänien. Forschungsschwerpunkte: Russlanddeutsche Literatur, Interkulturalität, Postkolonialismus, Deutsche Romantik, Deutscher Idealismus. Neuere Publikationen: The Unquiet Mind. Notions of the Sublime in Ludwig Tieck’s „Über das Erhabene“ and „Der Runenberg“. In: Oxford German Studies (2019); „Nicht Vergangenes, was das Herz noch reut“. Exile, Memory, and the Search for Home in Herold Belger’s Writings. In: New Europe College Yearbook (2017); Reevaluating Eichendorff ’s Romanticism. „Aus dem Leben eines Taugenichts“ as Metafictional Parody. In: Monatshefte (2015). Hinojosa Picón, Olga, Dr. Dozentin an der Germanistischen Abteilung der Universität Sevilla. Forschungsschwerpunkte: Erinnerungsliteratur, autobiographisches Schreiben von Frauen, Autofiktion, Raum und Bewegung. Neuere Publikationen: Erinnerte Erlebnisse von Lou Andreas-Salome. In: Autobiografische Diskurse von Frauen 1900–1950 (Hrsg. v. M. Bascoy et al, 2017); Memorias de la historia en la novela autobiográfica. In: Historia, memoria y recuerdo. Escrituras y reescrituras del pasado en la narrativa en lengua alemana desde 1945 (Hrsg. v. M. Maldonado et al, 2018); Das Leben an der Grenze erinnern und erzählen. In: Narrationen in Bewegung. Deutschsprachige Literaturen und Migration (Hrsg. v. M. Blanco et al, 2018). Iztueta, Garbiñe, Dr. Dozentin am Germanistischen Institut der Universität des Baskenlandes (VitoriaGasteiz) und Direktorin für die Förderung der baskischen Sprache am Baskischen Institut Etxepare (Donostia-San Sebastian). Mitglied des Forschungsprojekts „Contested Memories“. Forschungsschwerpunkte: Körper- und Raumfigurationen in Herta Müllers Werk, Körperfigurationen und Gedächtnis in der Nachwendeliteratur, Heimat und Gedächtnis in der neuen Literatur in Zusammenhang mit den

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methodologischen Ansätzen ‚Spatial Turn‘ und ‚Emotional Turn‘, deutsch-baskische interkulturelle Beziehungen am Beispiel von Reiseliteratur. Neuere Publikationen: Raum-Gefühl-Heimat. Literarische Repräsentationen nach 1945 (Mithrsg., 2017); Transiträume und Heimatlosigkeit als Grunderlebnis bei Herta Müller. In: Transiträume und transitorische Begegnungen in Literatur, Theater und Film (Hrsg. v. E. Hess-Lüttich et al, 2017; Phantomschmerz im Erinnern bei Herta Müller. Heimat als konstruierter und dekonstruierter Raum. In: Literaturkritik 10 (2015). Jabłkowska, Joanna, Prof. Dr. Professorin am Institut für Germanistik der Universität Łódz´. Forschungsschwerpunkte: deutschsprachige Literatur im 20. und 21. Jahrhundert, Literatur und Politik, Erinnerung und Gedächtnis, Utopie und Apokalypse, Holocaustliteratur. Neue Publikationen u.a: Distanziertes Engagement. Das Konzept der Tragödie in Heiner Müllers Schaffen. Am Beispiel von „Der Horatier“. In: Vom kritischen Intellektuellen zum Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 (Hrsg. v. C. Gansel/W. Nell, 2016); Sprachsatire, Pazifismus und Ohnmacht. Karl Kraus und der Erste Weltkrieg. In: Kriegstaumel und Pazifismus. Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg (Hrsg. v. H.R. Brittnacher/I. v.d. Lühe, 2016); „Diese Unruhe ist es, die in den geglückten Reisebüchern tickt.“ Alfred Anderschs Italienbild. In: Alfred Andersch. Engagierte Autorschaft im Literatursystem der Bundesrepublik (Hrsg. v. N. Ächtler, 2016); Volkstheater oder politisches Drama: Jura Soyfers Stücke. In: Gegen den Kanon. Literatur der Zwischenkriegszeit in Österreich (Hrsg. v. A. Jachimowicz, 2017); Möglichkeiten und Aporien des Engagements. Eine Reflexion über die deutschsprachige Literatur der Nachkriegszeit. In: Vom Eigenwert der Literatur. Reflexion zu Funktion und Relevanz literarischer Texte (Hrsg. v. A. Bartl/M. Famula, 2017); „Dir bleibt aber nur die Liebe. Die zu dir selbst“. In: Autobiografie intermedial. Fallstudien zur Literatur und zum Comic (Hrsg. v. K. Kupczynska/J. Kita-Huber, 2018). Jung, Britta C., Dr. Stipendiatin des Irish Research Council am UCD Humanities Institute und Government of Ireland Postdoctoral Fellow der Higher Education Authority (Dublin). Mitglied des Irish Centre for Transnational Studies (ICTS) und regelmäßige Beiträgerin des niederländisch-flämischen Lexicon van de jeugdliteratuur (2017–dato). Forschungsschwerpunkte: Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Jugendliteratur, Migration, (trans-)kulturelle Erinnerung und Identitätsstiftung, mediale Darstellung des ‚Dritten Reichs‘. Neuere Publikationen: Komplexe Lebenswelten – multidirektionale Erinnerungsdiskurse. Jugendliteratur zum Nationalsozialismus, Weltkrieg und Holocaust im Spiegel des postmemorialen Wandels

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(2018); Er waren eens… . De wereld van de Bloomsbury’s als prentenboek. In: Literatuur zonder leeftijd 102 (2017); Erinnerungskulturelle und jugendliterarische Modernisierungsprozesse. In: Germanistik in Ireland 12 (2017); De jaren zeventig en de geboorte van de moderne meesters van de kinder- en jeugdliteratuur. Een internationaal panorama. In: Literatuur zonder leeftijd 99 (2016). Krobb, Florian, Prof. Dr. Professor of German an der National University of Ireland Maynooth und Extraordinary Professor an der Universität Stellenbosch / Südafrika. Neuere Buchveröffentlichungen: Erkundungen im Überseeischen. Wilhelm Raabe und die Füllung der Welt (2009); Phantastik – Völkischer Aufbruch – Jugendliteratur. Wilhelm Matthießen (1891–1965). Werke und Kontexte (2013); Vorkoloniale Afrika-Penetrationen. Diskursive Vorstöße ins „Herz des großen Continents“ in der deutschen Reiseliteratur ca. 1850–1890 (2017); Streiflichter zur deutsch-jüdischen Literaturgeschichte. Selbstbild – Fremdbild – Dialog (2018). (Mit-) Herausgeber des Jahrbuchs Germanistik in Ireland (2005–2009), des Jahrbuchs Austrian Studies (2010–2017), des Jahrbuchs der Raabe-Gesellschaft (2011– 2015), des Raabe-Handbuchs (2016) sowie zahlreicher Sammelbände und Texteditionen. Kovács, Edit, Dr. Dozentin am Lehrstuhl für Deutsche Sprache und Literatur, Károli Universität der Reformierten Kirche in Ungarn, Budapest. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Ethik, Literatur und Recht, Spektralität, neuere deutschsprachige Literatur, bes. Thomas Bernhard und W. G. Sebald. Neuere Publikationen: Wendepunkte in der Kultur und Geschichte Mitteleuropas (Mithrsg., 2015); Der letzte Mensch – ein Mann/eine Frau. Anthropologische und genderspezifische Fragestellungen in den Romanen „Die Wand“von Marlen Haushofer und „Die Arbeit der Nacht“ von Thomas Glavinic. In: Konstruktion – Verkörperung – Performativität. Genderkritische Perspektiven auf Grenzgänger_innen in Literatur und Musik (Hrsg. v. K. Katschthaler et al, 2016); Von Mensch zu Mensch. Wege der literaturwissenschaftlichen Ethik. In: Inspirationen III. – Wege (gleichz. Mithrsg., 2019); „Naturgemäß“. W. G. Sebalds Hommagen an Thomas Bernhard. In: Fogosch oder Zander. Kulturelle und mediale Übertragungen der Texte von Thomas Bernhard (gleichz. Mithrsg., 2019). Meixner, Andrea, Dr. DAAD-Lektorin in der Abteilung für Germanistik, Universität Stockholm. Forschungsschwerpunkte: Raum- und Identitätskonzepte in literarischen Texten, Grenzräume, Migration. Neuere Publikationen: Von neuen Ufern. Mobile Selbstund Weltbilder in ausgewählten Texten der neueren deutschsprachigen Migra-

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tionsliteratur (Diss. Univ. Göttingen 2016); Zwischen Ost-West-Reise und Entwicklungsroman? Zum Potenzial der sogenannten Migrationsliteratur. In: Wie viele Sprachen spricht die Literatur? Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus Mittel- und Osteuropa (Hrsg. v. R. Cornejo et al, 2014); Interkulturelle ‚Welt‘Bilder. Ein Blick auf die Darstellung von ‚Heimat‘ und ‚Fremde‘ bei Marica Bodrozˇic´ und Melinda Nadj Abonji. In: Heimat – Räume. Komparatistische Perspektiven auf Herkunftsnarrative (Hrsg. v. J. Bauer et al., 2014). Patrut, Iulia Karin, Prof. Dr. Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft im europäischen Kontext am Seminar für Germanistik der Europa-Universität Flensburg. Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Literaturen des 18.–21. Jahrhunderts, Literatur und Interkulturalität sowie Postkoloniale Studien, deutsch-jüdische Literatur, literatur- und kulturwissenschaftliche Theoriebildung. Publikationen: Phantasma Nation. ‚Zigeuner‘ und Juden als Grenzfiguren des ‚Deutschen‘, 1770–1920 (2014); Schwarze Schwester – Teufelsjunge. Ethnizität und Geschlecht bei Paul Celan und Herta Müller (2006); Einführung in die interkulturelle Literatur. Wissenschaftliche Buchgesellschaft WBG (zus. mit M. Hofmann, 2015); Der Neue Weltengarten. Jahrbuch für interkulturelle Literatur. (Mhrsg., fortlaufend ab 2015). Rebien, Kristin, Dr. Associate Professor for German and European Studies, San Diego State University. Leiterin des German Studies Programms. Forschungsschwerpunkte: Nachkriegsmoderne, Gegenwartsliteratur, Literatur und Politik, Europa, Transkulturelles Schreiben, Theorien des Lesens, Literatursoziologie. Neuere Publikationen: Jenseits der Grenzen. Europa in der zeitgenössischen deutschen Literatur. In: Das Politische in der Literatur der Gegenwart (Hrsg. v. S. Neuhaus/I. Nover, 2018); Whose Nation? Political Johannes Bobrowski’s Case for Inclusive Communities and Basic Liberal Rights. In: German Studies Review (2017); Cosmopolitan Perspectives. Globalization and Transnationalization in Contemporary German Literature. In: Transcultural Identities in Contemporary Literature (Hrsg. v. I. Gilsenan Nordin et al, 2013); Literary Awards and the Practice of Aesthetic Judgment. In: Journal of Austrian Studies (2012). Roth, Hannelore, MA Wissenschaftliche Mitarbeiterin (FWO – Flandern) am Institut für deutsche Literatur der Katholische Universität Leuven. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik und Politik, Erinnerung, Formen des Männlichen, Konservative Revolution. Neuere Publikationen (Auswahl): Die Suche nach dem besseren Vater. Zu einer neuen Konzeption von Männlichkeit in Ernst von Salomons „Die Kadetten“. In:

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Autorinnen und Autoren

Weimarer Beiträge 63.4 (2017); Spengler und sein Erbe Hochhuth (zus. mit Arne De Winde). In: Tektonik der Systeme. Neulektüren von Oswald Spengler (Hrsg. v. A. de Winde et al, 2016). Sturm, Anne, Dr. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Forschungsschwerpunkte: Mehrsprachigkeit, Raum und Bewegung, Border Theory, Literaturdidaktik. Neuere Publikationen: Die Oratorische Bibliothek des Pädagogiums zu Halle. Eine Schulbibliothek um 1800 (2017); Zur Metaphorik des Spielens in Ilija Trojanows und Dimitré Dinevs Erstlingswerken. In: In der Sprache, für die Sprache, mit der Sprache (Perspektiven der philologischen Forschung). (Hrsg. v. L. Ivanova et al, 2018); Die didaktische Aufbereitung des Themas Sterbehilfe anhand des Films „Das Meer in mir“ (2004) In: BDV-Magazin (zus. mit Michael Meznik, 2016). Twist, Joseph, Dr. Dozent für German Studies am University College Dublin. Forschungsschwerpunkte: Wechselwirkung von Literatur, Philosophie und Religion; Alterität; Islam und Sufismus; Kosmopolitismus; Subjektivität; Gemeinschaftsvorstellungen. Neuere Publikationen: Mystical Islam and Cosmopolitanism in Contemporary German Literature. Openness to Alterity (2018); Sacred and Secular Spaces. Emine Sevgi Özdamar’s „Das Leben ist eine Karawanserei“ and „Großvater Zunge“. In: Gegenwartsliteratur 17 (2018); Everyday Life and Death. Mortality and Community in Navid Kermani’s „Kurzmitteilung“. In: Germanistik in Irland 12 (2017); „es kostet Sinn und Zeit / die Sphären zu einen“. Das Selbst und der Andere, der Himmel und die Erde in Zafer S¸enocaks „Übergang“. In: Lyrik Transkulturell. (Hrsg. v. E. Binder/S. Klettenhammer/B. Mertz-Baumgartner, 2016). Urupin, Innokentij, Dr. Lehrbeauftragter an der Universität Konstanz, freier Übersetzer und Journalist. Forschungsschwerpunkte: Mediologie der Literatur, früher Film, russischer Formalismus. Aus den neueren Veröffentlichungen: Fotogenija i semiotika v e˙ kranizacijach russkoj ‚klassiki‘ 1920-ch gg. („Kollezˇskij registrator“, „Sˇ inel’“, „Lisˇnie ljudi“). [Photogenie und Semiotik in den Verfilmungen der russischem ‚Klassik‘ der 1920er Jahre („Der Postmeister“, „Der Mantel“, „Überflüssige Menschen“)]. In: Kinoapofatika (Hrsg. v. L. Bugaeva, 2018).

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Vanassche, Tom, MA Visiting Lecturer at the University of Freiburg. PhD thesis on the pathos of antipathos in Shoah encyclopaedic and documentary literature, historiography, and autobiography. Other research interests: Theory of Fiction, translation studies, ecocriticism. Recent publications include: Intertextualität in “Capesius, der Auschwitzapotheker”. Interferenzen zwischen Fiktivität, Fiktionalität, Faktualität. In: Interferenzen (ed. by S. Donat et al., 2018); Hiding One’s Feelings. ‘Emotionless’ Rhetoric in Raul Hilberg’s “The Destruction of the European Jews” and Peter Weiss’s “Die Ermittlung, in Writing Emotions” (ed. by S. Knaller et al., 2017); Theatre as Courtroom. The NSU Protocols in Freiburg. In: Testimony 123 (with Martin Hinze, 2016). Co-editor of “Ko-Erinnerung/Co-memoration” (with Daniela Henke, forthcoming).

Weitere Bände dieser Reihe Band 26: Eva Rünker

Band 24: Britta C. Jung

Konstruktionen Komplexe Lebenswelten christlichen Lebens im – multidirektionale populären Frühmittelalter- Erinnerungsdiskurse Roman 2018. 310 Seiten, gebunden Eine Untersuchung zum Verhältnis von Geschichte und Gegenwart

€ 45,– D ISBN 978-3-8471-0866-5

2020. 493 Seiten, gebunden € 65,– D ISBN 978-3-8471-1195-5

Band 23: Monika Wolting (Hg.)

Band 25: Sabine Egger / Stefan Hajduk / Britta C. Jung (Hg.)

Sarmatien – Germania Slavica – Mitteleuropa. Sarmatia – Germania Slavica – Central Europe Vom Grenzland im Osten über Johannes Bobrowskis Utopie zur Ästhetik des Grenzraums. From the Borderland in the East and Johannes Bobrowski’s Utopia to a Border Aesthetics 2020. 471 Seiten, gebunden € 65,– D ISBN 978-3-8471-1193-1

Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur 2017. 362 Seiten, gebunden € 50,– D ISBN 978-3-8471-0741-5

Band 22: Thomas Hardtke /  Johannes Kleine / Charlton Payne (Hg.)

Niemandsbuchten und Schutzbefohlene Flucht-Räume und Flüchtlingsfiguren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 2017. 326 Seiten, gebunden € 50,– D ISBN 978-3-8471-0681-4