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German Pages 420 Year 2019
Jürgen Hasse, Verena Schreiber (Hg.) Räume der Kindheit
Sozialtheorie
Jürgen Hasse (Prof. Dr. rer. nat. habil.), geb. 1949, lehrte von 1993 bis 2014 am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. phänomenologische Raumforschung, Mensch-Natur-Verhältnisse und Stadtforschung. Verena Schreiber (Jun.-Prof. Dr. phil.), geb. 1976, lehrt Humangeographie am Institut für Geographie und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Sie forscht zu Geographien der Kindheit sowie aktuellen Prozessen der Stadtentwicklung.
Jürgen Hasse, Verena Schreiber (Hg.)
Räume der Kindheit Ein Glossar
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Inhalt
Einleitung Jürgen Hasse und Verena Schreiber 9 Adoptiert werden Celina Rodriguez Drescher 15 Atmosphäre Jürgen Hasse 20 Bauch Sabine Dörpinghaus 26 Bildraum Mirka Dickel 32 Brennpunkt Anika Duveneck und Viola Dollinger-Rauch 39 Buch Tina Hartmann 45 Elternhaus Doris Bühler-Niederberger 52 Flüchtlingsheim Albert Scherr 58 Freizeitpark Renate Freericks und Dieter Brinkmann 64 Friedhof Marlene Lippok und Michael Lippok 71 Fußboden Dana Ghafoor-Zadeh 77 Haltestelle Christian Reutlinger 83 Heim Mechthild Wolff 89 Höhle Reinhard Knodt 95 Hort Itta Bauer 101 Hospiz Miriam Sitter 107 Inklusionsraum Andreas Köpfer 114 Internat Markus Rieger-Ladich und Angela Janssen 120 Karussell Katrin Bauer und Gabriele Dafft 126 Katzentisch Jürgen Hasse 132
Keller Silke Steets 138 Kinderarztpraxis Helga Kelle 145 Kinderbett Thorsten Albrecht 152 Kindergarten Sabine Bollig 159 Kinderwagen Lotte Rose 166 Kinderwunschklinik Carolin Schurr und Laura Perler 173 Kinderzimmer Claudia Wucherpfennig 179 Kiosk Oliver Müller 185 Klassenraum Klaudia Schultheis 191 Kleiderschrank Melanie Haller 198 Küche Susan Chales de Beaulieu 204 Kunstwerkstatt Katrin Höhne und Eva Nöthen 210 Laufen Philip Lambrix 216 Loch Gudrun M. König 222 Lunchbox Bendetta Cappellini und Vicki Harman 229 Matsch Renate Zimmer 235 Mensa Lotte Rose 241 Morgenkreis Friederike Heinzel 247 Niemandsland Egbert Daum 253 Pferderücken Robert Pütz 259 Ruhen Nicole Thiemer 266 Schoß Jan S. Hutta 272 Schreibtisch Markus Kluge 278 Schulbus Jürgen Hasse 284 Schule Ina Herrmann 290 Schulhof Verena Schreiber 296 Schultoilette Verena Schreiber 302 Seele Christoph T. Burmeister 309 Spielplatz Jürgen Hasse 315 Sportstätte Thomas Alkemeyer 322
Straße Imbke Behnken und Jürgen Zinnecker † 329 Tracking Inga Gryl 336 Unterwegssein Michaela Schier 342 Utopie Amalia Barboza 348 Verkehrsübungsplatz Annika Busch-Geertsema 354 Versteck Simon Runkel 360 Virtuelle Räume Heinz Hengst 366 Warten Heinz Schilling 372 Wildnis Antje Schlottmann 378 Zaun Sebastian Feldhusen 385 Zoo Jan-Erik Steinkrüger 391 Zuhause sein Sebastian Schinkel 397 Zur-Welt-Kommen Steffen Kluck 403 Autorinnen und Autoren 409 Abbildungsnachweise 417
Einleitung
Räume der Kindheit können überall sein. Dabei gibt es sie im engeren Sinne genauso wenig wie Räume der Adoleszenz. Mit dem Älterwerden eines Menschen wandeln sich die subjektiven Lebenssituationen, und mit ihnen das Verhältnis zu Umgebungen. Sie lassen ein und denselben Raum in der Abhängigkeit von Perspektiven, sozialen Rollen und gesellschaftlichen Zuschreibungen von Normen »richtigen« Verhaltens mal als diesen und mal als jenen erscheinen. Letztlich werden im Laufe eines Lebens – vom frischgeborenen Säugling bis zum hinfälligen Greis – Räume und Orte also nicht gewechselt wie die Kleider. Die Straße kann im Erleben von Kindern eine Welt des Spiels sein, im Erleben (beaufsichtigender) Erwachsener ein Raum pädagogisierter Bewegung, ein Terrain lauernder Unfallgefahren und vielleicht ein Milieu sozialer Begegnung. Kleinkinder kriechen mit großer Lust in engste und entlegenste Ecken, in die Eltern nicht passen und Großeltern nicht mehr wollen; Kinder, die sich in einer Höhle verstecken, gelten als kreativ, Erwachsene, die dasselbe tun, als sozial auffällig. Weder Gebüsche noch Spielplätze, Betten oder Gebäude sind allein für Kinder da, noch nicht einmal die Kinderarztpraxis, die Schule oder die Bushaltestelle. In all diesen Räumen sind neben Kindern auch andere Menschen in ihrer persönlichen Situation: ältere Geschwister, Verwandte, Polizisten, Busfahrerinnen oder xbeliebige Passanten. Es gibt aber nicht nur tatsächlich Anwesende, sondern auch politische und pädagogische Programme, die von Hinterbühnen her auf verdeckte und versteckte Weise steuern, Räume überwachen sowie strukturieren und den Staat samt seiner Werte und Normen repräsentieren. Aber im subjektiven Erleben werden all diese mit anderen geteilten Räume doch zu höchst persönlichen Welten: das Gebüsch zum imaginären Schloss, der Spielplatz zum Labor experimenteller Selbsterprobung, das Kinderbett zur Startrampe in die phantastischsten Traumblasen und das Schulgebäude zu einer Stätte, die zu spüren gibt, was es heißt, als Folge sozialisatorischer Zwänge ein anderer werden zu müssen.
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Es gibt sie, die Räume der Kindheit und es gibt sie nicht. Vielleicht ist es gerade diese Spannung, die sie so interessant macht und zu immer neuen Wechseln der Standpunkte wie zur Suche nach irritierenden Betrachtungsweisen herausfordert, um alle möglichen Räume auch als solche der Kindheit in den Blick nehmen zu können. Dies kann jedoch stets nur ein Blick sein und nur ein Blick auf fiktive Situationen. Noch die relativ dauerhafte, zuständliche Situation »der« (generalisierten und konventionell gedachten) Kindheit gibt es im sozialen Leben nur in variantenreicher Mannigfaltigkeit. Eine strukturell vergleichbare biographische Passagenzeit wird sie erst in der Absehung vom Einzelfall. In Gänze entziehen sich jene »Räume der Kindheit«, die es nur im Spiegel aktueller Situationen gibt, wenngleich doch allein in ihnen das individuelle Leben in sinnlicher wie affektiver Evidenz spürbar und erfahrbar werden kann. In einem Buch über Räume der Kindheit wird nicht zuletzt der Raum selbst denkwürdig, als etwas am eigenen Leib Erlebbares. Aber es ist nie der Raum an sich, der das Leben und Erleben tangiert und das Befinden stimmt, sondern die RaumZeit des So-Seins in Situationen. Rudolf zur Lippe spricht deshalb von existenziellen Orten (2010, S. 111), die es nur in Wandlungen gibt, im Handeln wie im Ausgesetzt-Sein gegenüber Geschehnissen und Widerfahrnissen. Räume der Kindheit stoßen uns schon wegen der hohen Präsenz zeitlich-biographischen Werdens mit besonderer Eindrücklichkeit auf die Bedeutung der Zeit. Gerade der Begriff der Er-fahr-ung verweist nicht nur auf einen Raum des Hindurch; darüber hinaus impliziert er ein lebendiges Moment der Zeit. Keinen Raum können wir diesseits der Dauer erleben, geschweige denn kritisch verarbeiten; zu einem Ort gehört immer, was zu einer Zeit in seiner Gegend war und geschah. Jeder wissenschaftliche Zugriff auf Räume und Orte, die im Leben von Kindern eine denkwürdige Rolle spielen, verlangt eine Gratwanderung zwischen der theoretischen Welt luftig-abstraktionistischer Konzepte, Begriffe und Modelle zum einen und der Erlebniswelt, die Kinder als etwas höchst Vitales am eigenen Leib zu spüren bekommen, zum anderen. Wissenschaft kann sich aber nur mit sprachlich verfassten Erkenntnismitteln Wege des Denkens bahnen. Damit wird die Gratwanderung zum Hochseilakt. Zu ihm gehört das Risiko, daneben zu treten und abzustürzen. Jeder der in diesem Buch erscheinenden Beiträge beschreitet somit einen Weg zwangsläufig hypothetischer Annäherung; sie alle sind Versuche des Sich-Einlassens auf vage bleibende Lebenswirklichkeiten. Wo sie lebendig werden, sind es in aller Regel biographische Erinnerungen, die sich aus dem Bereich eigener Erfahrung melden und konkret werden lassen, was es in einem individuellen Leben gegeben hat. Die reflexive Durchquerung biographisch bedeutsamer Räume nimmt in diesem Band ihren Ausgang in spezifischen Theorien, auf die die Mitglieder ganz
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unterschiedlicher wissenschaftlicher Communities in ihren eher kollektiven als individuellen Denkwegen zurückgreifen. Mit Ludwig Fleck (2011 [1947]) gesagt, stehen die Beiträge in der Tradition von »Denkstilen«. Damit folgen sie denkhygienischen Richtungen, etwas so oder anders zu begreifen und Dritten gegenüber darzustellen. Wie Personen aus ihrer Kindheit herauswachsen, zur Schule gehen, den Führerschein machen, Kinder bekommen und vielleicht steinalt werden, so steht alles, was mit den Mitteln der Wissenschaft gedacht und ausgesprochen wird, in seiner Zeit. Das impliziert: Es steht unter der Macht je herrschender affektlogischer Dispositive. Es gibt kein voraussetzungsloses Denken und Schreiben – nicht über das Wetter und nicht über Kinder oder Alte. Die Vielfalt der Annäherungen an Räume und Orte der Kindheit durch 63 Beiträge drückt sich in mehrfacher Hinsicht aus. Sie ist zum einen in der Sache begründet; zwischen einem kalten Kellerraum und einem warmen Pferderücken liegen in gewisser Weise Welten. Indem die Herangehensweisen disziplintheoretisch und -historisch je eigenen Bahnen folgen, unterscheiden sich zum anderen auch die Profile und Sensibilitäten der Thematisierung kategorial. Da die wissenschaftlichen Disziplinen ihre eigenen Theorietraditionen haben, drückt sich das Denken ihrer Repräsentantinnen und Repräsentanten im Allgemeinen in fachspezifischen Sprachen sowie in fachtypischen Argumentationsketten aus. Nicht zuletzt sind es immer Individuen, die ihrem Denken schreibend Ausdruck verleihen. So sahen wir auch keinen Anlass zur Vereinheitlichung, wenn in den einzelnen Beiträgen etwa sehr unterschiedliche Weisen gewählt wurden, der Gleichbehandlung der Geschlechter sprachlich gerecht zu werden. Denk- und Sprachstile bezeugen die biographische Verortung und Verwurzelung in einer Disziplin. Wer sich eine solche als Angehörige des sogenannten »wissenschaftlichen Nachwuchses« erschließt, denkt und schreibt anders als jemand, der aus einer karrierebiographischen Retrospektive auf die Vermögen »seines« Faches blickt. Eine Monographie zeichnet sich durch einen einheitlichen Stil des Ausdrucks wie der Wortwahl aus; dies darf von einem Glossar mit so vielen Beiträgen, wie sie in diesem Buch versammelt sind, nicht erwartet werden. Wie liest man aber folglich ein solches Buch, das keiner einheitlichen wissenschaftstheoretischen Richtung, keiner »Schule« oder homogenen Denktradition, geschweige denn einer erwünschten politischen Programmatik folgt? Wie liest man ein Buch, das zwar mit einer umfänglichen Liste an attraktiven Reisezielen bestückt ist, die Wegbeschreibungen dorthin aber immer nur kursorisch mitliefern kann? Eine Essaysammlung, an der so viele Autorinnen und Autoren unterschiedlichster Disziplinen mitgewirkt haben, lässt uns wie vor einem gut bestückten Regal einer Bibliothek stehen, deren einzige Ordnung zunächst die alphabethische Sortierung ihrer doch höchst ungleichen Gesellschaft an Büchern
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zu sein scheint. Wie diese Bücherwände, sind auch Essaysammlungen gleichwohl nicht dazu da, einen vorgegebenen Weg abzustecken, von der ersten bis zur letzten Seite. Letztlich fängt man mehr oder weniger zufällig mit dem Lesen an irgendeiner Stelle an und merkt schon bald, dass sich zwischen den einzelnen Beiträgen möglicherweise interessante Verbindungen aufspannen. Diese Pfade können von sehr unterschiedlicher Beschaffenheit sein: Mal sind sie Schneisen, geradlinig, planiert und auf den Landkarten gängiger wissenschaftlicher Zugriffe auf Kindheit mit dickem Strich markiert. Mal sind die Wege so schmal, dass kaum ein Durchkommen ist und ihre Kartierung noch auf sich warten lässt. Wir haben während der Erstellung dieses Buches viele Wege entdecken und durchstreifen dürfen; sind auf dem verschlungenen Pfad der Utopie durch Niemandsländer gewandert, haben in Verstecken und Höhlen ausgeharrt, uns in der Wildnis verirrt. Wir haben uns in Grenzsituationen begeben, im Hospiz und auf dem Friedhof von Leid und Trauer erfahren. Wir sind Kindern durch ihren Tag gefolgt, haben uns morgens mit ihnen auf den Weg gemacht, sind aus dem Bett aufgestanden, haben in der Küche gefrühstückt, sind mit dem Schulbus gefahren, haben eine Tag in der Schule verlebt, mussten nachmittags erst zum Arzt und anschließend zur Sportstätte, bevor wir wieder Zuhause waren. So ließen sich noch zahlreiche Wege aufzeigen und immer neue Räume und Orte entdecken. Ungeachtet aller Relevanz im tatsächlichen Leben von Kindern haben sich bestimmte Räume und Orte der Kindheit insofern als »Undinge« erwiesen, als sie trotz breit gestreuter Anfragen Brachen geblieben sind. Was als denkwürdig gilt, ist eben nicht nur oder in erster Linie Spiegel der Bedeutung, die etwas im Leben hat, sondern viel mehr Ausdruck wissenschaftlicher Relevanzsysteme. Diesen zum Trotz will das Glossar das Übersehene und Vergessene, das scheinbar Marginale und Gewöhnliche (wieder) denkwürdig machen. Deshalb liegen viele Räume und Orte, die in den folgenden Beiträgen diskutiert werden, im Abseits großer Themen jener wissenschaftlichen Diskurse, die sich der Welt von Kindern zuwenden. Aber nicht nur das Themenspektrum, auch die Form der Schreibweise soll dazu beitragen, (wieder) in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, was in abstrakten Begriffen so nicht zu finden ist. So bedienen sich die meisten Beiträge einer essayistischen Schreibweise, die programmatisch nicht den trockenen und sachlich distanzierten Stil der Abgehobenheit vom Leben nur variieren würde. Eine gewisse Befreiung von wissenschaftlichen Sprachkonventionen zugunsten kreativer und zuspitzender Pointierung soll der Öffnung »alter« Themen und Begriffe zugunsten ihrer Auffächerung und Verfremdung dienen. Das Ziel ist die Vergrößerung der Denkräume – überall dort, wo Fragen der Vergesellschaftung des Menschen durch seine räumlichen Umgebungen Beachtung verdienen.
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Deshalb kann der hier zustande gekommenen Sammlung von Begriffen auch keine Systematik zugrunde liegen. Der Katalog der Stichworte ist provisorisch und Spiegel dessen, was in einer überschaubaren Zeit eines guten Jahres von zwei Personen rein organisatorisch und praktisch beherrscht werden konnte. So sind letztlich auch Räume und Orte, die das Leben von Kindern im globalen Süden prägen, eine Leerstelle im Buch geblieben. Die Entscheidung, kindliche Selbst- und Mitwelt-Beziehungen an anderen Orten der Erde außen vor zu lassen, begründet sich nicht zuletzt darin, den Fokus auf die gewöhnlichen wie unauffälligen Plätze des täglichen Lebens zu richten, die durch das Raster wissenschaftlicher Betrachtung des globalen Nordens fallen. Allzu leicht lassen sich daher Lücken, Leerstellen und Auslassungen konkretisieren und vielleicht bemängeln. Sie mögen als Aufforderung aufgefasst werden, das Feld des Denkbaren zu erweitern, das Leben von Kindern über das hinaus zu bedenken, was wir gelernt haben über sie und ihre Welt zu sagen. Selten hat uns die Erstellung eines Buches so viel Vergnügen bereitet wie dieses. Schon die ersten Wochen waren gespeist von Momenten freudiger Erregung – immer dann, wenn wieder ein neuer Begriff gefunden war. Anschließend folgte das sich über Wochen hinziehende und dabei doch gedeihliche Anlegen eines Registers: Begriffe sortieren, wieder verwerfen, was doch zunächst so vielversprechend klang, eine Auswahl treffen müssen. Und welche Autorinnen und Autoren würden nun, da die Begriffe feststanden, denn überhaupt bereit sein, sich auf das unkonventionelle Format und so manch absurden Ort einzulassen? Dann trafen die ersten Beiträge ein, und da es kaum Vorschriften gab, waren wir jedes Mal in gespannter Erwartung, was die Autorinnen und Autoren uns wohl mitteilen werden. Die Synchronisation so vieler Artikel – von der motivierenden Gewinnung der Autorinnen und Autoren bis zur gestalterischen Fertigstellung aller Texte – hat einen beträchtlichen organisatorischen Aufwand gefordert; in der gesamten den Band betreffenden Korrespondenz waren mehr als 1.700 E-Mails zu schreiben und zu lesen. Das Ergebnis dieser interdisziplinären Zusammenarbeit ist das vorliegende Glossar. Uns bleibt zum Schluss daher nur der Dank an die über 60 am Buch beteiligten Autorinnen und Autoren. Sie haben nicht nur unseren ehrgeizigen Zeitplan mitgetragen und sich auf mehrere Überarbeitungsrunden eingelassen, sondern uns auch ihre Gedanken, Stimmungen und mitunter sehr persönliche Erfahrungen durch ihre Texte anvertraut. Wir bedanken uns außerdem bei Annika Lutz, die das Glossar vom Eintreffen der ersten Beiträge bis zur Drucklegung redaktionell begleitet hat.
Jürgen Hasse und Verena Schreiber
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Literatur Fleck, Ludwik (2011 [1947]), Schauen, Sehen, Wissen, in: Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, hg. v. Sylwia Werner und Claus Zittel, Berlin: Suhrkamp, S. 390-418. Zur Lippe, Rudolf (2010), Zeit-Ort im post-euklidischen Zeitalter, in: V. Jahrbuch für Lebensphilosophie: Gelebter, erfahrener und erinnerter Raum, hg. v. Jürgen Hasse und Robert Kozljanič, München: Albuena, S. 109-120.
Adoptiert werden
Ein Kind wird adoptiert, wenn seine Eltern oder seine (allein lebende) Mutter nicht (mehr) in der Lage sind, gut für es zu sorgen. Die Adoption bedeutet dann häufig eine positive Wendung, denn viele vernachlässigte Kinder verbleiben in ihren Ursprungsfamilien, oder sie leben in Heimen. Diese können zwar häufig eine gewisse Geborgenheit bieten, aber sie stellen oft nur einen Übergang dar. »Gut sorgen« heißt, einen gesicherten »Raum« zu schaffen, in dem das Kind im Umgang mit einer stets verfügbaren Bezugsperson allmählich so etwas wie ein »kohärentes Selbst« entwickeln kann. Der psychoanalytische Entwicklungspsychologe Donald Winnicott – »There is no such thing as a baby« (1956) – hat diesen (imaginären) Raum als einen Raum möglicher Interaktionen zwischen Mutter und Kind beschrieben. Sigmund Freud lehrte, dass der Mensch nur »am Nebenmenschen« erkennen lernt (1895, S. 426), und dass die Entfaltung des seelischen Binnen-»Raums« und die Erfahrung des äußeren Raums in einem Wechselverhältnis zueinander stehen (1938, S. 152). Sind die leiblichen Eltern aufgrund ihrer materiellen Situation, ihrer Lebensgeschichte und ihrer psychischen Verfassung außerstande, ihrem Kind einen verlässlichen Rückhalt zu bieten und es auf seinem Weg durch die Kindheit zu begleiten, vernachlässigen und misshandeln sie es, bietet sich die Adoption als eine Art Notlösung an. Adoption ist also immer begleitet von Umständen, die schmerzhaft sind, die die Idee von »normalen« Eltern-Kind-Beziehungen durchbrechen, sie markiert einen Bruch, auch, wenn die Notlösung ein Glücksfall für die Beteiligten werden kann. Da es den betroffenen Eltern oft an Einsicht mangelt, greifen in vielen Fällen öffentliche Instanzen ein. Sozialämter nehmen die geschädigten oder von Schädigung bedrohten Kinder aus den defizitären Familien heraus und suchen geeignete Adoptiveltern für sie. Was so einfach klingt, ist ein langer und, wie ausgeführt, häufig schmerzhafter Prozess für alle Beteiligten, vor allem für die Kinder; manchmal sehr engagiert von Sozialarbeitern begleitet, manches Mal schleppend und holprig. In Sozialämtern arbeiten Menschen, und insofern werden manches Mal auch Fehlentscheidungen getroffen.
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Für die adoptierten Kinder bedeutet die Adoption die abrupte Verpflanzung in ein ihnen unbekanntes Milieu, die Auslieferung an ihnen fremde Menschen, einen »Kulturschock«. Auch ein gleich nach der Geburt adoptiertes Kind muss den schützenden Raum der Mutter, die es bis dahin »trug«, verlassen. Für eine Adoption, die direkt nach der Geburt stattfindet, gilt jedoch häufig, dass die Mutter dem Kind gute Startchancen bieten möchte, die sie ihm nicht zu offerieren imstande ist. Für ein älteres Kind, das schon Monate oder Jahre in Heimen oder Pflegefamilien verbracht hat, ist der adoptionsbedingte neuerliche Verlust der halbwegs vertrauten Welt, des »Raums«, an den es sich gewöhnt hat, ein neuerlicher Schock. Der Sozialpsychologe Kurt Lewin nannte die Gruppe, deren Teil ein Mensch ist, den »sozialen Boden«, auf dem er steht (1948, S. 242). Der Verlust der Mikro-Gesellschaft, der man zugehört – oder in die man sich geflüchtet hat –, kommt einem Erdbeben gleich. Und bei den Adoptiveltern löst es neben aller Freude häufig Ängste aus, ein Kind in ihren Raum aufzunehmen – einen kleinen Menschen, auf den sie fast immer lange gewartet haben, der dann jedoch fast immer sehr plötzlich zu ihnen kommt. Wie wird das, sind wir gute Eltern, passen wir zum Kind, passt das Kind zu uns? Ungewollte Kinderlosigkeit, die eine Adoption ja meist erst einleitet, kann einen großen Schmerz auslösen und Ambivalenzen gegenüber dem Kind und der eigenen Elternschaft. Die Reaktion auf den Adoptions-Bruch der Lebens-Kontinuität der Adoptierten ist gemischt aus der Trauer über das (bald schon idealisierte) Verlorene und der Auflehnung gegen die (wiederholt erfahrene) Fremdbestimmung. Daraus erwächst ein – zeitweilig latenter, dann wieder jäh aufbrechender – Konflikt zwischen Adoptiveltern und Adoptionskindern. Die Kinder kämpfen mit der Furcht, dass auch das »bessere« Milieu, in das sie geraten sind, sich als trügerisch erweisen könnte, sodass sie abermals »emigrieren« müssen. Darum erproben sie stets wieder, ob ihr Argwohn nicht doch berechtigt ist, und provozieren ihre neuen Eltern, die das zumeist überhaupt nicht verstehen, um eben das herauszufinden. So hatten Freunde von mir, die bereits eine eigene (ältere) Tochter hatten, einen kleinen Jungen adoptiert, dem die Ruhe dieser Schwester, die in einem Buch las, unerträglich war. Er liebte sie zwar, aber er litt auch darunter, dass sie, das leibliche Kind, immer schon berechtigt gewesen war, in diesem behaglichen Familien-Raum zu leben. Er revoltierte gegen dies »Unrecht« und warf in seiner Wut mit Reis und Nudeln um sich, um den Raum zu verschandeln und auch, um seine eigene »frühere« Welt (einen Teil seines Selbst) einzubringen, sich (destruktiv) den neuen Raum anzueignen und sich und »seinen« früheren Raum den Anderen, Glücklicheren, aufzuzwingen.
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Für die Adoptiveltern ist es natürlich eine schwierige Aufgabe – umso herausfordernder, je weniger sie die Reaktion ihres Schützlings verstehen – in solchen Test-Situationen besonnen zu bleiben, dem provozierenden Kind sowohl Grenzen aufzuzeigen, als auch ihm zu versichern, dass sie es dennoch, so, wie es ist, liebhaben. Je sicherer sich das Adoptivkind in seiner (neuen) Familie eingebunden fühlt, desto eher wird es das Agieren mindern und selbständiger werden können (vgl. Rodriguez Drescher 2006). Der Kummer der Adoptivkinder kann immens sein und für die Adoptiveltern schwer zu ertragen. In einem von mir geleiteten Workshop erzählte eine verzweifelte Adoptivmutter: »Ich schreie plötzlich und fühle den Impuls, ihn [das Adoptivkind] zu schlagen; er bringt mich an Grenzen – dabei lag mir so etwas immer ganz fern. Ich schäme mich dafür.« Melanie Klein (1946) hat dieses unbewusste Wechselspiel, bei dem das Kind etwas ihm Unerträgliches auf ihm nahestehende Andere projiziert, diese sich damit identifizieren und sich dem entsprechend verhalten, als »projektive Identifikation« bezeichnet. Entscheidend für den Ausweg aus diesem Dilemma ist die Fähigkeit der Eltern zu verstehen, was vorgeht, und sich in der Situation zurechtzufinden: »Das Kind ist verzweifelt, seine Wut greift auf mich über, aber ich halte das aus und halte den Raum für die Auseinandersetzung und für eine Bändigung der Affekte offen.« Eine zumeist eher latent gehaltene Sorge von Adoptiveltern gilt der genetischen Mitgift ihres Adoptivkindes. Sie ist umso größer, je weniger sie von dessen leiblichen Eltern wissen und je befremdlicher es mitunter reagiert. Wenn es trotzt, im Zuge der Ablösung aggressiv wird, sich in der Pubertät auffällig und aufmüpfig verhält, bemächtigt sich ihrer der Argwohn, das könnte vielleicht am »schlechten Blut« des Kindes liegen. Das spürt natürlich das Kind, es fühlt sich abgewertet, und abermals beunruhigt es die Frage: Wie sicher bin ich hier wirklich? Die Frage »Wer bin ich eigentlich«, also die Frage nach der Identität, ist zweifellos für Adoptierte eine besonders heikle, da die Kohärenz ihres Selbst schon wiederholt in Frage gestellt wurde. Werner Bohleber schreibt (1999, S. 517), dass Menschen Subjekte sind, die »sich mit der Erfahrung von Kontingenz, Differenz und Andersheit auseinanderzusetzen [haben] und angesichts dieser Erfahrungen [bemüht sind], Kohärenz und Kontinuität des Selbst herzustellen […]. Identität gründet insofern in krisenhaften Erfahrungen des Menschen, die ihn zwingen, sich seiner selbst zu versichern.« Adoptivkinder vergleichen natürlich ihre »neue« Familie und deren Lebensverhältnisse mit ihrer Herkunftsfamilie, soweit sie sich daran erinnern (oder zumindest versuchen, sich ein Bild davon zu machen). Dann steht die neue »gute« gegen die frühere »schlechte« Familie, und das heißt zugleich: Dort wollte man mich nicht, ich war nicht will-
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kommen, wurde abgelegt. Die Adoptiveltern versuchen, den Kindern das auszureden, versichern ihnen, dass sie schon lange auf sie gewartet hatten und dass sie sie so lieben, wie sie sind. Doch dem Kind fällt es schwer, das zu glauben. Der Sozialpsychologe Stefan Hormuth schreibt (1990, S. 197): »A person’s understanding is formed through social experience.« Menschen reagieren nicht einfach auf einen (realen oder sozialen) Ort, sondern auf die Bedeutung, die sie ihm aufgrund ihrer Erfahrung beimessen. Ein radikaler Bruch mit einem bestimmten Ort, einem bestimmten Milieu, destabilisiert das Selbstkonzept. In diesem Zusammenhang ist Freuds Theorie des sogenannten »Familienromans« (1909) von Bedeutung. Etwa im Alter von fünf Jahren erkennt ein Kind allmählich, dass seine Eltern nicht unfehlbar sind. Es zweifelt »an der ihnen (zuvor) zugeschriebenen Unvergleichlichkeit und Einzigkeit«, und wenn es sich zurückgesetzt fühlt, macht es sich Luft, indem es die Phantasie entwickelt, es »sei ein Stiefkind oder ein angenommenes Kind« (GW VII, S. 227 f.). Dann erklären sie, die Mutter sei gar nicht ihre wahre Mutter, die sei vielmehr eine schöne Prinzessin. Auch der Vater sei nicht der wirkliche Vater, der sei vielmehr ein ganz besonderer, mutiger Mann. Diese (vorübergehende) Distanzierung von den realen, »niederen Eltern« ermöglicht, so Freud, eine »Ablösung des heranwachsenden Individuums von der Autorität der Eltern« – »eine der notwendigsten, aber auch schmerzlichsten Leistungen der Entwicklung.« Astrid Lindgren kommt in ihrem Kinderbuch »Lotta zieht aus« auf diesen Ablösungsprozess zu sprechen: Lotta hat sich geärgert und verlässt den Raum. Sie bezieht ein anderes, kleineres Zimmer, in dem sie ihre Eltern zu Besuch empfängt. Abends entschließt sie sich schließlich zur Rückkehr, nachdem ihre Eltern ihr sanft zugeredet und sie überzeugt haben, sie könne ohne Gesichtsverlust zu ihnen zurückkommen. Für Adoptivkinder ist das nicht so einfach. Da die Adoptionseltern nicht ihre leiblichen Eltern sind, können sie ihren »Familienroman« nicht dadurch auflösen, dass sie die positive und die negative Eltern-Imago verschmelzen. Die Adoptivkinder kennen ihre leiblichen Eltern manchmal kaum oder sogar gar nicht, und sie können sie darum auch in ihrer Welt nicht wirklich unterbringen. Das macht die Ablösungsprozesse komplizierter und hindert die Entwicklung eines eindeutigen und positiven Selbstwertgefühls. Adoption ist eine andere Art der Familiengründung mit einigen spezifischen Chancen und Schmerzen. Grundfragen des menschlichen Lebens, jeden Lebens, wie die der Identität werden dort wie durch ein Vergrößerungsglas wahrgenommen. Adoptiveltern und Adoptivkinder sind mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert. Es ist weder möglich, die spezifischen Probleme dieser Kinder zu ignorieren, noch ist es den neuen Eltern möglich, ihr Verhalten gänzlich darauf auszurichten, ihnen Anpassung und Ablösung zu erleichtern. Es geht vielmehr
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darum, eine neue Form des Zusammenlebens zu erarbeiten, in der beide Seiten zu ihrem Recht kommen. Celina Rodriguez Drescher Literatur Bohleber, Werner (1999), Psychoanalyse, Adoleszenz und das Problem der Identität, Psyche 53(6), S. 507-529. Burghardt, Daniel (2014), Homo spatialis, Weinheim: Beltz Juventa. Freud, Sigmund (1909), Der Familienroman der Neurotiker, in: Gesammelte Werke VII, Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 227-231. Freud, Sigmund (1938), Ergebnisse, Ideen, Probleme, in: Gesammelte Werke XVII, Schriften aus dem Nachlass, Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 151152. Freud, Sigmund (1987), Entwurf einer Psychologie, in: Gesammelte Werke, Nachtragsband, Texte aus den Jahren 1885 bis 1938, Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 357-480. Hormuth, Stefan (1990), The ecology of the self. Relocation and self-concept change, Cambridge: Cambridge University Press. Klein, Melanie (1946), Notes on schizoid mechanisms, International Journal of Psychoanalysis 27, S. 99-110. Lewin, Kurt (1948), Die Lösung sozialer Konflikte. Ausgewählte Abhandlungen über Gruppendynamik, Bad Nauheim: Christian-Verlag. Rodriguez Drescher, Celina (2006), Familiendynamik bei spätadoptierten Kindern, Gießen: Psychosozial-Verlag.
Atmosphäre
Ein perfekter Kindergeburtstag verlangt mehr als coole Geschenke, leckeren Kuchen und bunte Girlanden. Gelungen ist er erst, wenn auch seine Atmosphäre gut ist und einfach »alles« stimmt. In der Art und Weise, wie eine atmosphärische Situation erlebt wird, spiegeln sich letztlich persönliche aber auch gemeinsame Stimmungen wider. Ob Frust entsteht oder Freude, die Zeit »schön entspannt« ist, grässlich langweilig oder die Gäste sich vor lauter Spannung beinahe in die Haare gehen, lässt sich im engeren Sinne nicht vorherbestimmen. Alltagssprachlich ist immer dann von Atmosphären die Rede, wenn ein spürbarer Gefühlston wie gute oder schlechte Luft im Raum gleichsam »ansteht«. Dann ist auch von guten oder schlechten, gemütlichen oder aufgeheizten Stimmungen die Rede. Wie die eine oder andere im Raum ausgebreitete Gefühlslage dann aber genauer beschrieben werden soll, bleibt meistens im Dunkeln. Vage Darstellungen, die vieles offen lassen, werden oft nur von denen als mehr oder weniger treffend empfunden, die das Umschriebene selbst miterlebt haben. Vor dem Hintergrund gemeinsamen Erlebens übermitteln hilfsweise benutzte alltagssprachliche Wörter wie »schön«, »gut«, »gelungen« oder »cool« nur sehr unscharf, was gemeint ist. Atmosphären sind »etwas Unbestimmtes, schwer Sagbares« (Böhme 1995, S. 21); was sie als »Herumwirklichkeit« (Dürckheim 2005 [1932]), S. 36) ausmacht, ist zwar unmittelbar wahrnehmbar, lässt sich in Worten aber nicht leicht mitteilen (vgl. Tellenbach 1968, S. 62). Wo die wörtliche Rede lückenhaft ist, bleibt es beim Meinen und vagen Bedeuten. Gerade im Gebrauch von Metaphern drängt das schwer Aussagbare mit einer Schleppe impliziter Bedeutungen nach klärenden Ergänzungen. Es soll zur Sprache kommen, was sich in seinem Geschehens- und Ereignischarakter bestenfalls annäherungsweise in expressis verbis formulierten Sätzen fassen lässt. Eine gewisse Sprachnot wird offensichtlich, wo die wörtliche Rede in der Klarheit der explizierten Bedeutungen zu schwimmen beginnt, sprachliche Bilder und synästhetische Charaktere zu den bevorzugten Transportmitteln der Kommunikation werden und die kreative (Er-)Findung
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von Ähnlichkeitsformeln an die Stelle sicherer Rede tritt. Kinder bilden mit dem Beginn ihres Lebens ein pathisches Sensorium aus, das sie in die Lage versetzt, Situationen atmosphärisch mit einem Schlage zu verstehen. Solches VernehmenKönnen entscheidet in zahllosen sozialen Situationen (in Familie, Schule, unter Gleichaltrigen etc.) über Akzeptanz, soziale Integration und nicht zuletzt auch über schulischen Erfolg. Schon in der Sache trefflichen Denkens und Sprechens liegt ein hinreichender Grund für eine kurze Autopsie dessen, was sich im Alltag im Gesicht von Atmosphären zu spüren gibt. Nicht erst das Leben von Kindern ist mit Atmosphären gesättigt. Es sei am Rande erwähnt, dass sie in allen gesellschaftlichen Bereichen oft lenkende Rollen spielen – in Politik, Ökonomie, Werbung, Sport, Religion, im landschaftlichen Erleben, in der Gestaltung der Städte, der Mode usw. Unverkennbar ist ihre zentrale Bedeutung in der Dynamik pädagogischer Kontexte. Atmosphären sind mitunter ohne ersichtlichen Grund »einfach da« wie ein Wind oder ein plötzlich niedergehender Regen. Sie entstehen dann wie aus dem Nichts (performativ, im Strom der Ereignisse), ohne dass es Sinn macht, nach einem Akteur als Urheber Ausschau zu halten. Aber sie werden – nicht zuletzt in pädagogischen Situationen innerhalb wie außerhalb der Schule – auch hergestellt und planmäßig eingesetzt, abgebaut, vereitelt und evoziert (etwa durch den Einsatz von Licht und Farbe, Klang und Geruch, den Gebrauch besonderer Dinge, den Einsatz von Stimme und Habitus u.v.m.), um eine Situation (oder Gegend) mit einer »Vitalqualität« (Dürckheim 2005 [1932]), S. 39) zu stimmen. Atmosphären zeigen im sozialen Leben an, wie es den Menschen miteinander und in ihrer Umgebungen ergeht. Deshalb haben sie auch vom Kindergarten bis zur Universität einen beträchtlichen Einfluss auf das Klima des Lernens wie das Erleben des Miteinanders. Wenn Atmosphären ebenso mit dem Begriff des »Klimas« angesprochen werden, kündigt sich eine Nähe zu meteorologischen Bedeutungen an. Ganz ähnlich wie soziale Atmosphären als etwas blasenartig Herumwirkliches gespürt werden, so auch das Klima in seinen lokalen Ausprägungen des Wetters: in der scharfen Kälte eines winterlich verregneten Tages beengend und schneidend, in der schwülen Hitze eines sommerlichen Mittags drückend und verlangsamend. So kann auch eine Atmosphäre auf dem Pausenhof vom Wetter gestimmt sein und vielleicht in einer hitzebedingten Zähigkeit der Bewegungen bemerkbar werden. Dagegen sind ausgelassene Lebendigkeit oder knisternde Anspannung in einem sich gerade zuspitzenden Konflikt Spiegel sozialer Performanz. Jede Unterrichtsstunde ist mit Atmosphären geradezu gesättigt, die das Ergehen aller berühren, die im Klassenraum sind. Schon wenn die Lehrerin den
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Raum betritt, löst sich eine noch lebendige »Rest«-Atmosphäre (vom Schulweg oder aus der Pause) langsam auf, um für einen formalisierten und effizienzorientierten Rahmen der Kommunikation gleichsam Platz zu machen. Dabei gelten Atmosphären des gegenseitigen Respekts im Allgemeinen als Voraussetzung für eine konstruktive Lernatmosphäre. Diese verliert sich allerdings spätestens in den letzten 10 Minuten der letzten Stunde eines Schultages wieder in eine vibrierende Unruhe. In ihr beginnt sich der von Anspannung, Disziplin und vielleicht auch Frust aufgestaute Druck des Tages (mal langsam, mal schlagartig) hör- und spürbar zu entladen. Die Atmosphäre in einer Klasse kann durch das Tun und Lassen einer Lehrerin gefördert aber auch belastet werden: Die für jedermann wahrnehmbare (wenn i.e.S. auch nicht sichtbare) Bevorzugung einzelner Kinder lässt die, die nicht von solcher Begünstigung profitieren dürfen, mit Skepsis bis Ablehnung reagieren. Eine empathische und emotional resonanzfähige Lehrperson versteht es besser, ein aufgeschlossenes Klima (wie einen solidarischen »Klassengeist«) zu schaffen als ein stumpfer Misanthrop. Wer schließlich glaubt, mit Konkurrenzdruck gute Leistungen erzwingen zu können, erntet allzu leicht Aggression und Desinteresse. Wenn Otto Friedrich Bollnow den heiter gestimmten Lehrer im Vorteil gegenüben jenem Typen sieht, der Kinder durch finstere und trübe Stimmungen, durch Missmut und Verdrossenheit (vgl. Bollnow 2001 [1964], S. 65) nur lähmt, wird schnell deutlich, dass es nicht zuletzt die Stimmungen sind, die auf Atmosphären wirken. Es ist offensichtlich, dass Lehrende ein vitales Interesse daran haben müssen, Einfluss auf jene Gefühle zu nehmen, die den Verlauf des Unterrichts fördern oder stören können. Das Wissen um die Gefühlsanfälligkeit von Lernsituationen dürfte auch Bollnows Büchlein über Die Pädagogische Atmosphäre begründet haben (vgl. Bollnow 2001 [1964]). Jeder Versuch, auf Atmosphären einzuwirken (ihre Evozierung wie ihre Beherrschung) setzt ein hohes Bewusstsein ihrer Stimmbarkeit ebenso voraus wie ihres Zusammenspiels mit den Stimmungen. Die konstruktive Lernatmosphäre in einer Klasse ist Ergebnis von Vielem, das man an und in der Umgebung der Kinder herstellen kann, u. a. durch die architektonische und dingliche Ausstattung wie ästhetische Gestaltung des LernRaumes. Aber die soziale Situation des Lernens ist ebenso – wenn nicht sogar ganz wesentlich – von der leiblich-habituellen Präsenz der Lehrkraft abhängig, in der sie ihrer Klasse begegnet. Nicht weniger einflussreich ist die Stimmung aller anderen im Klassenraum Anwesenden. Stimmungen sind nicht nur individuelle Gefühlsgrundierungen, in denen man sich in einer gewissen Variation der Vitaltöne befindet; sie konstituieren sich auch aktuell als Resultat gemeinsamen Tuns und Mit-Seins – in Familie, Kindertagesstätte oder Schule. Wie sie in der
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Politik auf manipulativem Wege massenmedialer Suggestionen herbeigeredet werden können, so bieten sie sich als Variablen von Machtkalkülen der Umformung an – in totalitären wie in demokratischen Systemen mit je eigenen Mitteln. An Schul-Montagen fürchten viele Lehrkräfte vor allem jene Stimmungen, die zahllose Kinder aus dem zurückliegenden aber emotional noch nachwirkenden Wochenende mitbringen – aus einer ganz anders rhythmisierten Zeit noch vorragende Eindrücke, die nur langsam abflauen und schnell zur Hypothek halbwegs akzeptablen Unterrichts werden können. Weil dieser Zusammenhang so evident ist, widmet sich Bollnow eben nicht nur der pädagogischen Atmosphäre, sondern (neben Martin Heidegger, bei dem er Philosophie studierte) auch der Philosophie der Stimmungen. Wie lassen sich Atmosphären begreifen und von Stimmungen abgrenzen? Vor allem in der Phänomenologie gibt es eine Reihe systematischer Annäherungen, die ein besseres Verstehen anbahnen können, das auch im alltäglichen Leben einen Nutzen verspricht. Der Psychiater Hubert Tellenbach spricht Atmosphären als »umwölkende« Gefühle (Tellenbach 1968, S. 111) an, die »dem Dasein eine andere Färbung, einen anderen Ton, eine andere Gestimmtheit« (ebd., S. 73) verleihen. Karlfried Graf von Dürckheim nennt sie mit Ernst Cassirer »Ganzqualitäten«, die dem »gelebten Raum« (im Sinne von Theodor Lipps) eine »Raumseele« geben (vgl. Dürckheim 2005 [1932]), S. 67 ff.). Wenn Atmosphären auch Gefühle sind, so haben sie doch keinen privativen Charakter, befinden sich vielmehr in einem Zwischen-, Umschlags- oder Schwellen-Raum, in dem sich keine einfache Grenze zwischen Person und umweltlichen Dingen ziehen lässt, wie das zwischen materiellen Körpern möglich ist. Der umwölkende Charakter der Atmosphären weist darauf hin, dass sie anders sind als materielle Körper, nicht drei-, sondern (im Sinne von Hermann Schmitz) prädimensional. Man hat sie nicht vor sich (wie Kühlschrank und Herd), vielmehr fühlt man sich in ihnen wie im Nebel, im Wasser oder in der Wärme. Zwar sind Atmosphären räumlich, aber nicht in einem materiell-dinglichen Sinne, weshalb sie auch keine Ecken, Kanten und Flächen haben. Sie breiten sich schließlich nicht im Ortsraum aus, der nach relationalen Abständen strukturiert ist, sondern im Weiteraum, der leiblich (aber nicht körperlich) gespürt wird. Obwohl sie in ihrem Volumen »ausgefüllt« sind, können sie im Unterschied zu einem festen Körper nicht zerteilt werden. Atmosphären beeindrucken als gleichsam wabernd umgebende, blasenartige Gebilde. Deshalb gibt es auch Durchdringungen, Überlagerungen und konfliktreiche Berührungen. Nach Hermann Schmitz sind sie nicht »private Zustände seelischer Innenwelten, sondern räumlich ausgedehnt« (Schmitz 1993, S. 33). In ihren gefühlsmäßigen Bann gerät man in leiblichem Spüren. Willy Hellpach
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sprach von einem »Ergehen« und hob zudem den Akkord-Charakter ihrer stimmenden Momente und die Simultaneität all ihrer Wirkgrößen hervor (vgl. Hellpach 1946). Abermals am Beispiel des Kindergeburtstages lässt sich zeigen, dass Atmosphären Situationen mit ihren vielsagenden Bedeutungen auf spürbare Weise stimmen können. Die meisten, zumindest gravierenden Veränderungen einer Situation spiegeln sich atmosphärisch wider. Wenn Hermann das Geburtstagsgeschenk von Lientje nicht zufällig, sondern aus böser Absicht kaputt macht, ist Einiges »am Dampfen« – wie der Volksmund sagt. Die markige Formulierung spielt letztlich auf eine Atmosphäre an, die (konfliktbedingt) »zum Kochen« gekommen ist. Durch Hermanns aggressiven Ausbruch ist die bis dahin »schöne« Atmosphäre einer gemeinsamen Zeit vergiftet worden. Der Junge muss in einer – wie auch immer im Einzelnen begründeten – ziemlich üblen Stimmung gewesen sein, als er sich Lientjes Heiligtum auf destruktivste Weise genähert hat. Unzweifelhaft dürfte sein affektgeladenes Agieren nicht nur in Lientjes Befinden eine Stimmungsänderung ausgelöst haben, sondern auch bei ihrer Mutter und vielleicht noch anderen Kindern, die sich (ihrerseits durch den Ausbruch umgestimmt) mit Lientje solidarisiert haben. Kurzum: Schon ein einziges Ereignis kann eine Kette von Stimmungsänderungen auslösen, in deren Folge eine bis dahin situationsbestimmende Atmosphäre »kippt« und ihren Vitalton an einen ganz anderen verliert. Was »schön« begann kann »übel« enden. Wer die Fassung verliert, lässt erkennen, dass die Stimmung aus dem Lot geraten ist. Stimmungen sind es auch, die den Menschen fassen und ihm einen gefühlsmäßigen Rahmen geben, aus dem heraus er sein Leben ohne Affekt-Ekstasen in offener und vorbehaltsloser Begegnung mit anderen führen kann. Auch die alltagssprachliche Rede vom schiefhängenden Haussegen weist auf ein fragiles Zusammenspiel von Atmosphären und Stimmungen hin. Mehr noch zeigt sie an, dass die Grenze zwischen beiden oft kaum erkennbar ist. Nicht nur Atmosphären, sondern auch Stimmungen lassen sich mit Gernot Böhme als »Zwischenphänomene« (Böhme 1995, S. 22) begreifen, weil sie weder allein auf der Seite des Subjekts noch der eines Objekts (oder einer Umgebung) sind, sondern in einem Dazwischen bzw. auf einer Schwelle. Schon eine Erwartung – eine gefürchtete Klassenarbeit oder ein unangenehmes Krisengespräch mit der Schulleiterin – kann so viel Macht über das aktuelle Befinden ausüben, dass sich eine bis dahin lenkende Grundstimmung ändert. Gefühle haben insofern Macht, als sie – im Unterschied zum (dialogisch definierten) soziologischen Macht-Begriff – Einfluss auf ein aktuelles So-Sein entfalten können. Das gilt für Stimmungen wie für Atmosphären. Beide spiegeln aber
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nicht nur Situationen wider, sie können auch selbst zu Situationen werden, zum Beispiel dann, wenn ein dominant werdendes Problem einen neuen Rahmen für die Suche nach rettenden Programmen absteckt. Hermanns Attacke auf Lientjes noch beinahe unbenutztes Geburtstagsgeschenk hat nicht nur eine Atmosphäre verdorben; mehr noch hat sie der Situation der Geburtstagsfeier die Epi-Situation eines kochenden Konfliktes aufgezwungen. Was eine Atmosphäre zur Stimmung macht, ist das betroffene Ergriffensein von einem Gefühl. Es gibt aber auch atmosphärische Gefühle, die man erleben kann, ohne emotional von ihnen eingenommen zu werden. Die aufgeheizte Atmosphäre auf Lientjes Geburtstag kann man in diesem Sinne als gänzlich Unbeteiligter aus emotionaler Distanz wahrnehmen. Sobald man jedoch – wie ein unmittelbar Beteiligter – zum Betroffenen wird und emotional involviert ist, entfaltet die Atmosphäre die Macht einer Stimmung. Diese mobilisiert das eigene Befinden und gibt einer moralisch legitimierten Intervention (der Tadelung von Hermann) schließlich den initiierenden Impuls. Jürgen Hasse Literatur Böhme, Gernot (1995), Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bollnow, Otto Friedrich (1995 [1941]), Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. Bollnow, Otto Friedrich (2001 [1964]), Die pädagogische Atmosphäre, Essen: Die Blaue Eule. Dürckheim, Graf Karlfried v. (2005 [1932]), Untersuchungen zum gelebten Raum, hg. v. Jürgen Hasse, Frankfurt am Main: Selbstverlag des Instituts für Didaktik der Geographie. Hellpach, Willy (1946), Sinne und Seele. Zwölf Gänge in ihrem Grenzdickicht, Stuttgart: Enke. Schmitz, Hermann (1993), Gefühle als Atmosphären und das affektive Betroffensein von ihnen, in: Zur Philosophie der Gefühle, hg. v. Hinrich Fink-Eitel und Georg Lohmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 33-56. Tellenbach, Hubert (1968), Geschmack und Atmosphäre. Medien menschlichen Elementarkontaktes, Salzburg: Otto Müller.
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Schon in der Grundschulzeit begleitete mich eine eigenwillig schmerzende Leibesinsel in der Körperregion des Bauches. Ich erinnere mich noch sehr gut an die bunt gesprenkelten Tabletten auf der Badezimmerablage über dem Waschbecken, die mir von unserem alten Hausarzt verordnet wurden, aber letztlich – bezogen auf den besitzergreifenden Schmerz – keine Besserung brachten. Meine Klassenlehrerin setzte in den 1970er-Jahren in der Klasse noch mit viel Hingabe den Stock ein, insbesondere gegen eine bestimmte Person – Michael lachte damals dann immer, was ich erst als Erwachsene verstand. Ich war sehr berührt von der Art und Weise seines Umgangs mit der Situation. Mein Bauch und ich empfanden sie als sehr willkürlich, herrisch und ungerecht. Hierzu passte dann auch, dass ich als Linkshänderin von der Lehrerin dazu aufgefordert wurde, mit der »richtigen« Hand zu schreiben. Meine Mutter, die besagte Grundschullehrerin auch schon in ihrer eigenen Kindheit erleben konnte, setzte sich gegen meine Klassenlehrerin durch: Ihre Drittgeborene sollte mit der linken Hand schreiben dürfen. Sie selbst wurde nach dem Zweiten Weltkrieg bezogen auf ihre linke Hand »umerzogen«. Ich verstand die Situation damals nicht, wusste nur, dass (m)eine »Besonderheit« zum Streitthema wurde und dass mir durch die Beharrungstendenz meiner Mutter ein »Privileg« zuteil wurde, wie es sonst doch nur ein vorbehaltenes Recht von Gruppen ist. In allen anderen Unterrichtsfeldern, wie dem Häkeln, setzte sich die institutionell befugte Autoritätsperson ohne weitere Diskussionen durch. Das Bauchweh begleitete mich vier Jahre lang. Michael entschied sich als Erwachsener für den Beruf des Polizisten. In meiner Ausbildung zur Krankenschwester lernte ich viele Jahre später, dass der Bauchschmerz nicht nur eines der häufigsten Symptome bei Blähungen, Infektionen, zu üppigem Essen oder Stress ist, sondern gerade auch Befindlichkeitsstörungen anzeigen kann. Bauchschmerzen, in etymologischen Wörterbüchern immer wieder auch als Leibschmerzen bezeichnet, werden allgemeinhin als von den inneren Organen ausgehende viszerale (die Eingeweide betreffende)
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Schmerzen bezeichnet, die Anzeichen für Spannungszustände und Verkrampfungen der glatten und damit unwillkürlichen Eingeweidemuskulatur sind. Aber was bedeutet das und wieso wird der Bauch mit dem Leib synonym gesetzt? Der Bauch ist ein Körperteil von Mensch und Tier. Dem südhessischen Wörterbuch ist zu entnehmen, dass die ursprüngliche Bezeichnung Leib ist, in affektbetonter Sprache besonders für den dicken Leib. Eine bauchige Wölbung weist umgangssprachlich auf eine gleichmäßige runde Verdickung hin, die etwas aufnimmt. Damit ist bezogen auf den kindlichen Bauch mehr als Essen und Trinken gemeint, denn gerade im vorsprachlichen Zustand zeigt das Kind-Bauch-Verhältnis die Qualität des leiblichen Befindens an. Der Bauch kann diesbezüglich als Seismograph identifiziert werden. Im Gegensatz zum Körper, dem sich die Naturwissenschaften zuwenden, ist der Leib diskret, weist eine dynamische Struktur auf und zerfällt in Leibesinseln (vgl. Schmitz 2007, S. 117, 119-121). Die Leibesinseln rund um den Bauch zeigen qualitativ unterschiedliche Dimensionen, die in der Lage sind, einen Sachverhalt anzuzeigen, der das Kind betrifft und dem es sich nicht entziehen kann. Im Schwangerenbauch als »erstem Ort« war das Kind seinerzeit behütet. Aus der Körperperspektive behütet der Bauch jetzt die inneren Organe, man kann auf ihm kriechen und sein Nabel lässt unverkennbar das Verlassen des mütterlichen Bauches und den Lebensanfang erkennen. Der Bauch reagiert im Schwimmbad empfindlich auf Bauchplatscher, ist beim Bauchredner in der Lage zu sprechen, hat ein dynamisches Wesen, das man verlieren oder bekommen kann. Man kann sich ihn vor Lachen halten, ihn einziehen oder vollschlagen. Manchmal trägt er sogar Schmetterlinge oder Wut in sich. Kinder sollen einen Löcher in denselben fragen können. Bezogen auf das perzeptive Körperschema bildet der Bauch ortsräumlich betrachtet unsere Mitte – richtungsräumlich ist er dabei kein Virtuose. Auf der anderen Seite ist der Leib meisterhaft, wenn es darum geht Ärger, Sorge oder erlebte Ungerechtigkeit aufzunehmen, was nicht unbedingt eine Wölbung nach sich ziehen muss. Entscheidend ist, dass das Bauch-Empfinden als Leib-Erleben eine Beziehung zur Welt darstellt, der Bauch also in der Lage ist, als Resonanzboden zu fungieren. Dabei ist die Subjektgebundenheit der menschlichen Erkenntnis nicht als Mangel zu sehen; sie steht vielmehr dafür, was das Kind letztendlich gelten lassen kann (vgl. Dörpinghaus 2013, S. 56). In diesem Zusammenhang ist die Evidenz der Leiblichkeit größer als die des reflexiven Bewusstseins, da nur die subjektiven Tatsachen des eigenleiblichen Spürens relative (nicht absolute) Gewissheit bieten (vgl. Uzarewicz 2011, S. 34, 153). Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Relevanz von Objektivierungen und propositionalem Wissen ist schwer zu begreifen und zu ak-
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zeptieren, dass der Evidenzvorsprung nicht in eine andere Person zu überführen ist (Mutter, Vater, Lehrer_in, Geschwister, Freund_innen usf.). Entgegen den Sachverhalten, über die jede_r Mitschüler_in eine Aussage tätigen kann, entscheidet die Tatsächlichkeit der subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins darüber, was das Kind selbst gelten lassen muss. Damit hängt ein Sachverhalt nicht davon ab, ob das Befinden mit Worten für andere vernehmbar gemacht wird oder sich mit den Empfindungen der anderen deckt. Die Tatsächlichkeit der subjektiven Tatsachen bleibt auch in der relativen Gewissheit an das Kind gebunden (vgl. Schmitz 2007, S. 7, 59-60, zitiert nach Dörpinghaus 2013, S. 98). Dabei wird es mit zunehmendem Alter erkennen, dass alle Menschen gleich sind. Es ist uns aber unmöglich, diese Gleichheit aufgrund der subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins zu empfinden, denn in der Differenz ist die Identität begründet. Der eigene Bauch ist gerade in und mit seinem Bauchweh in der Lage zu verdeutlichen, dass wir nicht nur in einem System – wie dem der Schule – leben, sondern immer unser Leben erleben. So ist der Leib des Kindes losgelöst von den Sinnen und jeglicher Sinnlichkeit auch in der Lage, etwas zu bemerken. Als Kind kann ich den Eindruck gewinnen, dass die Klassenlehrerin bestimmte Kinder bevorzugt behandelt. In dieser Situation kann ich sogar die Gewissheit haben, dass mein Eindruck nicht trügt, auch wenn die Pädagogin im Kritikgespräch das Gegenteil beteuert und sich in der Klasse den Anschein gibt, alle gleich zu behandeln und zu fördern. Gerade ihren beschwichtigenden und kommentierenden Äußerungen wird die aufgesetzte, bemühte Höflichkeit anzumerken sein. Insbesondere in der Kindheit sind wir einem unwohligen Diskrepanzerleben ausgeliefert, und häufig bildet sich als Zentrum für dieses Spannungsverhältnis der Bauch aus. Das Kind ahnt noch nichts von der gesellschaftlichen Konvention, jegliches Erleben als erwachsene Person als rationalistischen Prozess aufzufassen. Es ist vielmehr in der Lage, Sachverhalte zu bemerken. Dies führt zu einer Provokation der traditionellen Erkenntnistheorie, denn die herkömmliche Auffassung besagt, dass die Sinnesorgane darüber entscheiden, was ein Mensch wahrnimmt. Entgegen klassischer erkenntnistheoretischer Positionen kann mit der Anerkennung der Fähigkeit zu spüren, das Bemerken von Sachverhalten als menschliche Eigenschaft verstanden werden (vgl. Großheim 2008, S. 26 f.). Neben der Körperlichkeit und Rationalität des Kindes tritt damit sein spürendes Wesen in den Vordergrund. Auf diese Weise tritt zugleich hervor, dass das Spüren dem Leib und die rationale Reflexion aus der Außenperspektive dem Bewusstsein vorbehalten ist. Dieses Spüren ist vor-rational und das bedeutet, dass Selbst-Sein und Erleben immer erst zeitverzögert im Bewusstsein stattfinden. Das leibliche Bauchgefühl
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geht nicht nur der sinnlichen Wahrnehmung voraus, sondern auch jedem Bewusstseinsakt und damit jedem Urteil (vgl. Dörpinghaus 2013, S. 91). Bedeutsam ist, dass Stimmungen, Unstimmigkeiten und insbesondere ihr epistemischer Charakter für das Kind erst im Nachklang und damit beim Verlassen der Situation in leiblicher Resonanz deutlich werden und ihm den Bauch zuschnüren können – mehr als das gesprochene Wort. Dann kann es zu der herausfordernden Situation kommen, dass es (bezogen auf die Leibesinsel seines Bauches) etwas in Sprache zu fassen versucht (stimmige oder unstimmig erlebte Atmosphäre), was sich selbst nicht sprachlich darstellt. Je älter das Kind wird, kann es sich zu der Atmosphäre, die es pathisch berührt, allmählich bewusst verhalten und Stellung beziehen. Grundlegend ist ein Einlassen auf den unzensierten Eindruck, um ein Verstehen des menschlichen Ausdrucks zu ermöglichen, was ein »Sich-Aufschließen für den unreflektierten Eindruck« (Großheim und Volke 2010, S. 10) voraussetzt. Dieses Zulassen birgt zweierlei Gefahren: Zum einen kann der Eindruck verletzend oder heftig sein und zum anderen zeigt sich für das Kind mit dem erlebten leiblichen Eindruck nichts, was man erfolgreich als Antwort auf eine Frage geben könnte. Was sich allerdings einstellt ist das leibliche Verstehen (vgl. Dörpinghaus 2017, S. 257 f.) eines Gegenübers, mit dem wir hingegen nicht ein gewissermaßen zuzementiertes Wissen teilen, sondern einen Bereich tastender Vergewisserung in einer Situation. Für die Erwachsenenwelt wäre zu klären, warum in unserer modernen rationalistischen Gesellschaft das leibliche Erleben in Form eines Betroffenwerdens »abgewählt« wird, obwohl Menschsein doch immer auch bedeutet, berührt zu werden. Die Leibesinsel um den schmerzenden oder engenden Bauch hat eine Macht der Unterwerfung und benötigt keine intentionale Vervollständigung. Die Empfänglichkeit des Leibes steht für den Sachverhalt, dass wir in der Lage sind, etwas zu begreifen, wozu der Kopf so (noch) nicht in der Lage ist. Gerade in widersprüchlichen Situationen bietet er Orientierung. Das Kind erhält einen leiblichen Eindruck, und hierbei kommt auch das pathische Moment des leiblichen Spürens zum Tragen (vgl. Dörpinghaus 2013, S. 55 ff.). Mit diesem pathischen Moment ist gemeint, dass ein Eindruck nicht für die passive Seite steht, von etwas betroffen zu werden; das Kennzeichen des Affektiven (und Pathischen) ist auch, dass das Kind in der Region des Bauches etwas in Anspruch nimmt. Dieser leibliche Eindruck ist etwas, das dem Kind etwas zeigt, dem es sich nicht entziehen kann und was sich in seiner Tatsächlichkeit auch nicht bestreiten lässt. Mit zunehmendem Alter wird das Kind zu der Bewusstwerdung von Stimmigkeiten in Gesprächen oder Situationen und dem, was all dies bedeutet, mehr und mehr Stellung beziehen können.
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Im Kern lehrt uns der Bauchleib, dass Aussagesätze reduktionistisch sind, wenn sie eine wesentliche leibliche Existenzweise und damit eine Orientierungsinstanz außer Acht lassen. Freilich ist eine objektivierende Darlegung dieser Bauchstimmigkeit beziehungsweise -unstimmigkeit nicht möglich. Die Sonderstellung des leiblichen Zugangs lässt sich jedoch mit der Neophänomenologie als epistemisches Prinzip eigener Dignität ausweisen und ontologisch wie anthropologisch fundieren. Fatal wäre es, wenn dem Kind mit dem erzieherischen Fremdblick, der unentwegt an die Fassung des Kindes rührt, in Form einer Überbetonung des Rationalistischen, der Fokussierung auf körperlich-sichtbare Ereignisse, die über die Inhalte von Erlebnissen gestellt werden oder vor dem Hintergrund des Objektivitätspostulates, seine Sensibilität aberzogen würde. Losgelöst von jeglichem Fremdblick muss das Kind erleben dürfen, sich Eindrücken als Angriffe auf seine Fassung auszusetzen lernen, um zu erfahren, was seine Fassung auf die Probe stellt (vgl. Großheim 2008, S. 6). Ein verständnisvolles Mitsein von Eltern, Geschwisterkindern, Freund_innen oder Spielkamerad_innen kann entsprechende fassungsberührende Situationen lindern. Nur der sensible Mensch gewinnt Aufschluss über das Befinden seines Gegenübers und kann sein eigenes Verhalten entsprechend darauf abstimmen (vgl. ebd.). In existenziell bedeutsamen Situationen wünschen sich alle Menschen ein sensibles Gegenüber, welches die Gesamtsituation und das vorsprachliche Befinden aushält und in der Lage ist, das eigene Verhalten darauf einzustellen. Dem Bauchleib kommt also eine zentrale Rolle zu, denn nur mit einer fluiden und ausdrücklich nicht starren Fassung (sinnbildlich mit einem weichen und nicht angespannten Bauch) kann die Person angemessen reagieren (vgl. Dörpinghaus 2017, S. 259 ff.). Wenn nun das Kind dazu aufgerufen wird, als Indianer_in keinen Schmerz zu kennen, sich auf alle Fälle im Griff oder in der Gewalt zu haben, die Contenance zu wahren und keinem Eindruck zu erlauben ihm die Fassung zu rauben, dann wird auch das Bauchweh in Diskrepanzsituationen negiert und sich in eine Reihe weiterer Sensibilitätsaustreibungen einreihen. Es bleibt allerdings die Herausforderung, dass, sobald Menschen über ihr affektives Betroffensein zu sprechen versuchen, meist nur ein unverständliches und diffuses Stammeln oder vage Aussagen bleiben. Dies liegt zum einen darin begründet, dass der eigentümliche Mangel in der Sprachfähigkeit seinen Grund in der Missachtung der Phänomene menschlichen Erlebens hat. Zum anderen ist die Zeitverzögerung zwischen Gespürtem und sprachlichem Ausdruck unumkehrbar (vgl. Hasse 2005, S. 124, 163 f.) und das Phänomen bildet sich selbst nicht sprachlich ab. Es gilt zu akzeptieren, dass die in der Sensibilität enthaltene epistemische Dimension erst zeitverzögert hervortreten kann (vgl. Dörpinghaus 2013, S. 124 f., 352, 395). Indes öffnet sich im Scheitern der Sagekraft von
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Sprache der Raum zur Artikulation leiblicher Bedeutsamkeit als Mittatsache (vgl. Dörpinghaus 2013, S. 222 f.; Dörpinghaus 2017, S. 263). So ermöglicht eine Leibesinsel im Bereich des Bauches nicht die gesellschaftlich akzeptierte objektivistische, kategoriale oder kriteriale Zugangsweise und entzieht sich dem Logos-Diktat; sie entfaltet einen »Phänomenbezirk mit völlig eigenständiger Dynamik und Räumlichkeit« (Volke und Kluck 2017, S. 9) und damit eine Bedeutung, die sich ansonsten einer eindeutigen Bestimmung und Fixierung entzieht. Dem Kind bleibt die Einbettung seiner leiblich gespürten Erlebnisse verborgen. Dies gelingt erst der erwachsenen Person, die darüber hinaus gerade in existenziell bedeutsamen Situationen mit der ontologischen Basis des Leib- und Situationsverständnisses der Neophänomenologie ihr Erleben im professionellen Kontext einem erweiterten Verstehen zugänglich machen kann. Sabine Dörpinghaus Literatur Dörpinghaus, Sabine (2013), Dem Gespür auf der Spur. Leibphänomenologische Studie zur Hebammenkunde am Beispiel der Unruhe, Freiburg im Breisgau und München: Karl Alber. Dörpinghaus, Sabine (2017), Ich spüre was, was du nicht hörst. Zur Bedeutung leiblichen Verstehens im geburtshilflichen Kontext, in: Auf den Menschen hören. Für eine Kultur der Aufmerksamkeit in der Medizin, hg. v. Giovanni Maio, Freiburg im Breisgau: Herder, S. 237-266. Großheim, Michael (2008), Phänomenologie der Sensibilität, in: Rostocker Phänomenologische Manuskripte 2, Rostock. Großheim, Michael und Stefan Volke (Hrsg. 2010), Gefühl, Geste, Gesicht. Zur Phänomenologie des Ausdrucks, Freiburg im Breisgau: Karl Alber. Hasse, Jürgen (2005), Fundsachen der Sinne. Eine phänomenologische Revision alltäglichen Erlebens, Freiburg im Breisgau und München: Karl Alber. Schmitz, Hermann (2007), Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn: Bouvier. Uzarewicz, Michael (2011), Der Leib und die Grenzen der Gesellschaft. Eine neophänomenologische Soziologie des Transhumanen, Stuttgart: Lucius & Lucius. Volke, Stefan und Steffen Kluck (Hrsg. 2017), Körperskandale. Zum Konzept der gespürten Leiblichkeit, Freiburg im Breisgau und München: Herder.
Bildraum
Dem Thema »Bildraum« können wir nur gerecht werden, wenn wir einem dahinter liegenden Problem nicht ausweichen, das Merleau-Ponty in »Das Auge und der Geist« (1961) als das Rätsel der Sichtbarkeit bezeichnet hat. Der Begriff des Rätsels deutet schon darauf hin, dass es sich bei der weitverbreiteten Annahme, dass Bilder unmittelbar zugänglich und verständlich sind, um einen Trugschluss handelt. Von einer phänomenologisch bildwissenschaftlichen Position wird das Bild nämlich nicht als Abbild eines Gegenstandes oder Dokumentation eines Sachverhaltes thematisch, sondern als etwas, das in seinem Sein auf die menschliche Subjektivität verwiesen ist. Das Eigentümliche der visuellen Vermittlung findet seinen Sinn nicht im Inhalt, sondern in der Art und (Erfahrungs-)Weise, im Bild zu sehen. In der Auseinandersetzung mit der Bilderfahrung geht es weniger um das Bild an sich, als vielmehr um das sich bildende und umbildende Verhältnis zwischen dem Bild und der es betrachtenden Person. Es geht um den Akt der Bilderfahrung selbst. Ein Lösungsversuch des Rätsels der Sichtbarkeit führt uns also direkt hinein in die Tiefen des philosophischen Nachdenkens darüber, was es heißt, eine Bilderfahrung zu machen und zu der Grundfrage nach dem Verhältnis von bildhaftem Erleben und rationalem Denken. Dass angesichts eines Bildes das leiblich vollziehende Wahrnehmen und das Begreifen in der expliziten Reflexion, das Anschauungsvermögen und das Denkvermögen, Erlebnis- und Erkenntnisformen zum Tragen kommen, wird dann
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einsichtig, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie Kinder einem Bild begegnen. Zwar ist die Integration der Modi des menschlichen Bewusstseins, der Sinnlichkeit und Geistigkeit, nicht allein dem Kinde vorbehalten. Denn Bilder können sowohl für Erwachsene als auch für Kinder neue Erfahrungen ermöglichen und alte Sehgewohnheiten in Frage stellen. Doch viele Erwachsene stellen sich den Erfahrungszumutungen von Bildern nicht, da das Erwachsenwerden mit der Disziplinierung und dem Verlust von Möglichkeiten der Erlebnis- und Erfahrungsweisen einhergeht. Im Unterschied zu einem Kind, das im sinnlichen Wahrnehmen auf die vorkognitive Weltbegegnung bezogen ist, wird die Sinnlichkeit des Erwachsenen dressiert, so dass er seine leibliche Verwurzelung in der Welt zumeist vergisst. Im Zuge der Intellektualisierung verliert der Erwachsene nicht selten sein Gespür für vorkognitive, leiblich vermittelte Erfahrungsverhältnisse. Die auf Logik und Stringenz bedachte Vernunft des Erwachsenen verhindert das ursprüngliche Erleben des Bildes, stattdessen werden diesem durch die Prozesse des Wiedererkennens, Einordnens, Benennens und Bewertens Konzepte übergestülpt. Über eine Sensibilität für die Aufladungen und Wirkungen des Bildes unterstellt das Kind dem Bild einen bleibenden Neuigkeitswert: Auch wenn es das Bild schon mehrfach betrachtet hat, so schaut es jedes Mal wieder so hin, als zeige sich ihm im Bild etwas Neues, als sei ihm beim letzten Hinschauen etwas Wichtiges entgangen. So berechtigt die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen der kindlichen und der erwachsenen Bildbegegnung auch ist, sie soll keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass es eine reine Kindheit, einen Naturzustand des Kindes, ein »vom Kinde aus« nicht gibt. Das Kind ist zweifelsfrei von Beginn an ein sozio-kulturell geformtes Wesen (vgl. Westphal 2016, S. 303). Die Potentialität wird nun nicht durch das Kind an das Bild herangetragen. Vielmehr wohnt sie dem Bild inne. Der Begriff der Potentialität weist darauf hin, dass »der gleiche Gegenstand, je nach Sichtweise und Einstellung, ganz verschieden zu zeigen vermag und dabei doch seine Identität behauptet. Er verfügt über das Potential, sich in verschiedenen Ansichten zu zeigen« (Boehm 2010, S. 210). Die Potentialität des Bildes wird als ein sinnerzeugender Überschuss wirksam, der sich nicht auf das Sagen reduzieren lässt (vgl. ebd., S. 15). Nicht alles, was ein Bild ausmacht, lässt sich mit den Augen sehen. Nach DidiHubermann (1999) können wir das, was sich unseren Augen entzieht, spüren und fühlen. Er betont die taktile Dimension des Sehens, die sich in einem ErgriffenWerden durch Bilder zeigen kann. Lässt sich ein Kind von einem Bild durchdringen, wird die ganze Leiblichkeit des Kindes in den Sehakt einbezogen. Die leibliche Ergriffenheit spiegelt sich in Augen- und Mundbewegungen, in Tastund Erkundungsgängen mit dem Finger auf dem Bild, in Geräuschen, Gesängen, Selbstgesprächen, in der Veränderung der Haltung des eigenen Leibes zum Bild.
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Die Magie bzw. der Zauber des Bildes wirkt als Reizmittel. Die visuelle Erfahrung geht von einem Anreiz aus, einem An-Reiz, der das Kind aufstört und eine irritierende Wirkung hat (Waldenfels 2010, S. 43). Das Bild richtet sich an das Kind, dieses wird vom Bild erblickt und pathisch affiziert. Durch diese »Beredtheit« des Bildes wird das Kind angesprochen, angerührt, angelockt, zuweilen auch eingefangen, gebunden oder gefesselt. Etwas macht sich bemerkbar, fällt dem Kind auf – und dann merkt es auf (vgl. ebd., S. 110). Kinder verschließen sich nicht in einer blinden Innerlichkeit, sondern sind darauf aus, ihr sinnliches Erleben zu artikulieren. Dazu wählen sie je nach persönlicher und situativer Vorliebe und Entwicklung zwischen verschiedenen körperlichen, sprachlichen und visuellen Darstellungs- und Inszenierungsformen: zum Beispiel Lauten, Worten, Sätzen, Geschichten, Fragen, Bildern, dem szenischen Spiel oder dem Puppenspiel mit und ohne Requisiten. Kinder bringen ihre Erfahrungen nicht nur eigensinnig zum Ausdruck, sondern häufig auch gegen den Sinn der konventionalisierten Gewohnheiten und Bedeutungszuschreibungen, da das Imaginäre und das Reale noch dicht verwoben ist. Über die Freiheit der spielerischen Darstellung, der nicht selten mit intensiven Momenten großer Ernsthaftigkeit, Zufriedenheit oder Euphorie einhergeht, bringt das Kind Neues hervor. So vollziehen sich ästhetische Bildungsprozesse. Insbesondere durch den bildlichen Ausdruck gestaltet das Kind lebensweltliche Erfahrungen, gestaltet es sich selbst. Stenger (2003) pointiert diesen Gedanken, indem sie darauf hinweist, dass der bildliche Ausdruck die Selbsterfahrung ermöglicht beziehungsweise erweitert: »Bilder strukturieren, verdichten Erfahrungen, die vielleicht untergehen würden, wenn sie nicht in dieser Intensität bildlich gefasst werden. Erfahrungen werden immer gemacht, Kinder steigen überall auf Hügel, die für sie Berge sind, überall werden Löcher in Sand und Erde gegraben. Doch über das Bild, das plötzlich Bedeutung und Sinn bildet, gestalten sie sich in besonderer Weise aus, erweitern sich die Selbsterfahrungsmöglichkeiten und Wahrnehmungsmöglichkeiten des Kindes (groß, klein, dunkel, gefährlich …). Die Erfahrung gewinnt an Tiefe. Bilder bilden sich sinnlich. Das kann man in der Arbeit mit 1-3jährigen besonders gut sehen. Bilder bergen und verdichten ein ungeheures Erfahrungspotential, einen Reichtum, der im besonderen Klang der Stimme und dem Leuchten der Augen sichtbar wird.« (Stenger 2003, S. 182)
Über das Gestalten von Bildern formiert sich ein Sinn für die Welt und das eigene Innere, das Selbst- und Weltverhältnis bildet sich im Zuge der kreativen Hervorbringung des Bildes um; es ist an der Subjektkonstitution maßgeblich beteiligt.
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Die bisherigen Erläuterungen geben zu verstehen, was es für ein Kind heißt, eine Bilderfahrung zu machen. Nun gilt es zu klären, inwieweit »Raum« in diesem Erfahrungsprozess zum Tragen kommt. Raum ist zwar eine Grundkonstante menschlichen Lebens, jedoch keinesfalls eine konstante Größe, über die wir einfach verfügen können. Über den Leib sind wir in einer vortheoretischen Beziehung zum Sein, er fungiert als Mittelpunkt des gelebten Raumes, der sich in Erfahrungsvollzügen und über das sich formende und umformende Verhältnis des Selbst zur Welt permanent neu figuriert. Auch der Bildraum lässt sich als etwas verstehen, das sich im Prozess der Begegnung zwischen Bild und Kind formiert. Im Zuge dieser Raumöffnung werden sinnlich-leibliches Anschauen und rationales Begreifen miteinander vermittelt. Die komplementäre Relation von Sinn- und Sinnlichkeit ist keine additive Beziehung. Sie lässt sich mit Hilfe der von Waldenfels (2002, S. 33) begriffenen Paradoxie der Erfahrung als Doppelereignis von Pathos und Response verstehen. Der Vorgang, dass einem Kind etwas auffällt, dass ihm etwas geschieht, dass es von etwas getroffen wird, bezeichnet Waldenfels als Pathos, als Widerfahrnis oder Affektion. Der zweite Pol der Erfahrung ist die Response, die Erwiderung, in der es auf etwas antwortet, das ihm fehlt, sich ihm entzieht und es eben dadurch bewegt, anrührt und affiziert. Die Antwort vollzieht sich nicht als bloße Widerspiegelung des Widerfahrnisses. Vielmehr ist die Erfahrung in sich brüchig und verschoben. An ihren Bruchstellen ereignet sich etwas, worüber das Kind nicht verfügen kann. Es entstehen neue Differenzierungen, die Waldenfels als zeiträumliche Verschiebungen oder Diastase bezeichnet: »Diastase bezeichnet einen Differenzierungsprozess, in dem das, was unterschieden wird, erst entsteht.« (Waldenfels 2004, S. 174) In der Umwandlung dessen, wovon das Kind getroffen ist, in das, worauf es antwortet, entsteht ein Zwischenbereich. In ihm vollzieht sich Bildung als ästhetische Selbstbildung. In diesem Zuge bilden sich Raum (und Zeit) neu. Ein Bildraum figuriert sich aber nicht nur zwischen dem Bild und seinem Betrachter, sondern auch zwischen dem Bild und der Person, die das Bild schafft und ihm seine Aussagekraft verleiht. Der Künstler legt sein Raumerleben in das Bild hinein. Dem Bild ist die Räumlichkeit des Schaffensprozesses als Spur eingeschrieben. Es schiebt sich als Drittes zwischen den Blick der schaffenden und den der betrachtenden Person. Es überträgt etwas von der Räumlichkeit der Schaffensphase, das sich dem unmittelbaren Zugriff verweigert. Dass die Räumlichkeit des Bildes im Sinne einer Bildwerdung und nicht im Sinne der Abbildung thematisch wird, darauf weist auch Stenger (2003, S. 182) hin: »Bilder in dieser Art sind nicht Ausdruck eines bereits vorhandenen und durch sie nur noch gestalterisch zu fassenden Gehaltes. Die Wirklichkeit liegt nicht als vorhanden vor uns ausgebreitet, sondern die Wirklichkeit dieser Erfahrung wird vom Kind in der
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sich bildhaft formenden Gestalt erst mit erstellt.« Auch der Betrachter des Bildes überträgt etwas von der räumlichen Aufladung des Bildes, wenn er sein Erleben gestaltet und darstellt. Der Bildraum existiert ebenso wenig außerhalb des Bildes, wie im Bild, Bildraum formiert sich vielmehr zwischen Bild und Person, er ist auf Übertragungsprozesse im Zuge der Inszenierung von Erfahrung und der Erfahrung von Inszenierung verwiesen. In der vorherigen Darstellung sprechen wir zwar von »dem« sich öffnenden Bildraum, genauer gesagt kommt der gelebte Raum aber in einer Vielfalt von Raumweisen in den Blick, die in der Realität miteinander verkettet oder verschmolzen vorliegen: als Wahrnehmungsraum, Raum des Gewahrens, pathisch geprägter Raum der Widerfahrnisse, Bewegungs- und Handlungsraum, Raum des Wirkens (vgl. Waldenfels 2009, S. 66). Darüber hinaus lässt sich der Phantasieraum als ein Spielraum von Möglichkeiten thematisieren: Der Phantasieraum wird als Hintergrund von Handlungen wirksam. »Das spielende Kind etwa denkt nicht nur an seinen Helden, den Geißenpeter aus Heidi, die wilden Hühner, Harry Potter oder Aragorn aus dem Herrn der Ringe. Die Vorstellungswelt wird lebendig, Empfindungen und Gefühle fließen ein in komplexe Prozesse der Konstitution ihrer Selbst, ihrer Weise der Welterfahrung. Bilder wirken nicht nur, wo man bewusst an sie denkt, sie bilden den Hintergrund von Handlungen, die vordergründig gar nichts mit ihnen zu tun haben.« (Stenger 2007, S. 279) Auch beim Malen kommt die Phantasie zum Tragen, denn beim Malen »entsteht ein Bild von der Welt, das Wahrnehmungen, Erfahrungen wie auch Wünsche und Träume aufnimmt und gestaltet« (ebd., S. 184). Schließlich wird auch ein atmosphärischer Raum der Gestimmtheit thematisch. Denn die Bildbetrachtung des Kindes findet immer in einer Situation statt, an einem konkreten Ort, mit Menschen und in einer Atmosphäre, die das Interesse an dem Bild mitbestimmt und die wiederum über das Vertiefen des Kindes in das Bild mitgestaltet wird. Forschungsarbeiten zum Bildraum sind auf Methoden angewiesen, die die Komplementarität von Bildwerdung und Subjektivierung ernst nehmen. Da sich die Formierung des Bildraumes nicht direkt beobachten lässt, greifen rein logozentrische Analysemethoden zu kurz. Martha Muchow hat in der Erforschung der leiblich-situativen Raumerfahrung über Formen der Bewältigung der Lebenswelt, die sich im kindlichen Spiel zeigen, wesentliche Einsichten über die Raumerfahrung von Jugendlichen im Vergleich zu Erwachsenen hervorgebracht und damit in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts Pionierarbeit geleistet (vgl. Westphal 2016, S. 310). Aktuell realisiert unter anderen Andrea Sabisch (2018) die Erforschung der Fremderfahrung, die sich in einem durch das Bild hervorgerufenen Anders-Sehen niederschlägt, durch eine indirekte Empirie: »Sofern es nämlich um die pathische Dimension der Bilderfahrung geht, können wir dem-
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nach nicht einfach aufzählen und etikettieren, was wir sehen, wie wir etwas sehen und wann etwas zum Bild wird, denn dann hätten wir die Fremdheit bereits durch unsere Beschreibung überschrieben und damit getilgt.« (Ebd., S. 13) Sie lässt Kinder sprachlich, bildlich und leiblich auf Bildsequenzen antworten und nimmt in den Blick, was sich zwischen den Antworten der Kinder und ihren eigenen Antworten als Forscherin zum Zeitpunkt der Forschung und in der Retrospektion aktualisiert. Ihr Augenmerk liegt dabei auf »Symptomen der Bildwerdung in Bildrezeption wie Bildproduktion, die auf Knotenpunkte und Sinnkonflikte verweisen und so die Komplexität des visuellen Erfahrungsgeschehens, das sich laufend selbst entgleitet, mitzeigen« (ebd., S. 14). Bildräume der Kindheit weisen über sich hinaus. Sie sind Vorbild für die dringend notwendige Kultivierung einer gesellschafts- und erkenntniskritischen Praxis der Moderne. Die Kritische Theorie führt uns deutlich vor Augen, dass der kritische Standort unter aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen, in der die Wirklichkeit über die Ausprägung zweckrationaler Verwertungszusammenhänge in Widerspruch zum Anspruch der Aufklärung tritt, nicht ohne Weiteres eingenommen werden kann. Folglich bleibt die Synthese der Vernunft häufig aus, die Verwertungslogik greift als totale Rationalität auf alle Bereiche der Gesellschaft über. Die kritische Theorie der Gesellschaft realisiert sich über die Ästhetik (Wesche 2018, S. 150). Kunstwerke haben Adorno zufolge einen ästhetischen Sprachcharakter bzw. eine Beredtheit: Kunstwerke sprechen uns an, haben uns etwas zu sagen. Aufgrund des Ästhetischen eines Bildes merken wir auf, interessieren uns und gewinnen Einsichten (vgl. ebd., S. 174). Damit eine scheinhafte Erkenntnisform und eine pathologische Gesellschaftsform überhaupt freigestellt und sichtbar werden können, kommt der Ästhetik eine besondere Rolle zu (vgl. ebd., S. 150). Die Ausführungen zu Bildräumen der Kindheit lassen sich vor diesem Hintergrund paradigmatisch verstehen: Kindliche bildräumliche Praktiken lassen sich auf andere Geltungsbereiche der Gesellschaft übertragen; so werden gesellschaftliche Kritik und Veränderung möglich. Mirka Dickel
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Literatur Boehm, Gottfried (2010), Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin: Berlin University Press. Didi-Hubermann, Georges (1999), Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München: Wilhelm Fink. Sabisch, Andrea (2018), Bildwerdung. Reflexionen zur pathischen und performativen Dimension der Bilderfahrung, München: kopaed. Stenger, Ursula (2003), Bild-Erfahrungen, in: Das Unsichtbare sichtbar machen. Bildungsprozesse und Subjektgenese durch Bilder und Geschichten, hg. v. Volker Fröhlich und Ursula Stenger, Weinheim und München: Beltz Juventa, S. 173-192. Stenger, Ursula (2007), Bilder als Medien der Selbstkonstitution von Kindern, in: Bild und Text. Methoden und Methodologien visueller Sozialforschung in der Erziehungswissenschaft, hg. v. Barbara Friebertshäuser, Heide von Felden und Burkhard Schäffer, Opladen: Barbara Budrich, S. 277-291. Waldenfels, Bernhard (2002), Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Waldenfels, Bernhard (2004), Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Waldenfels, Bernhard (2009), Orstverschiebungen und Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Waldenfels, Bernhard (2010), Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Wesche, Tilo (2018), Adorno. Eine Einführung, Stuttgart: Reclam. Westphal, Kristin (2016), Medien/Räume_Lebenswelten von Kindern, in: Kindheit und Raum, hg. v. Rita Braches-Chyrek und Charlotte Röhner, Opladen, Berlin und Toronto: Barbara Budrich, S. 299-314.
Brennpunkt
»Hierzu sendet die ARD im Anschluss an diese Sendung einen Brennpunkt.« Wenn dieser Satz in der Tagesschau fällt, weiß die deutsche Öffentlichkeit: Die Lage ist ernst. Fernsehfilm oder gar Sportschau müssen warten, damit ein aktuelles Ereignis mit der ganzen Seriosität einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt beleuchtet und eingeordnet werden kann. Der »Brennpunkt« als temporäre Zuspitzung der medialen Aufmerksamkeit ist längst zum geflügelten Wort geworden und findet sich auf Twitter als ironischer Kommentar alltäglicher Banalitäten wieder: »Gibt es dazu schon einen #brennpunkt?« Die Verwendung des Begriffs ist nicht auf Medien und Alltagssprache beschränkt. Auch in politischen und wissenschaftlichen Diskursen gehört er zum Repertoire. Wie beim Titel der außerordentlichen Nachrichtensendung geht es auch hier um eine temporäre Bündelung von Aufmerksamkeit – analog zum namensgebenden Punkt, in dem eine Linse die parallelen Lichtstrahlen sammelt und bündelt. Darüber hinaus beschreibt die der Optik entlehnte Metapher den Moment, in dem sich ein Stoff unter gebündelter Energie entzündet. Die Konnotation von etwas Bedrohlichem, das unter Kontrolle zu bringen ist, schwingt stets mit. Durch diese normative Aufladung ist die Metapher nie nur Mittel zur Beschreibung, sondern vielmehr ein Instrument zur Intervention. Der »soziale Brennpunkt« Als »sozialer Brennpunkt« werden benachteiligte, meist städtische Quartiere und deren Institutionen bezeichnet. Gängige Assoziationen, ebenso wie eine Google Bildersuche, rufen zunächst Bilder stereotyper Architekturen hervor: verödete Plattenbausiedlungen oder heruntergekommene, enge Altbauquartiere. Die materielle Seite sozialer Brennpunkte ist die räumliche Verdichtung sozialer Benachteiligung als Ausdruck von ungleichem Zugang von Individuen zu städtischen Wohnungsmärkten. Häuser allein machen aber noch keinen Brennpunkt. Zum sozialen Brennpunkt gehört der Fokus auf die Menschen in diesen Orten, durch den sie gleichsam zu Objekten der Betrachtung des Anderen, Fremden gemacht
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werden (vgl. Spivak 2013). Die Klassifizierung kommt stets von einem Außen, das sich durch vermeintliche Vorgänge an diesem Ort bedroht sieht. Illustriert werden die Bedrohungsszenarien mit stereotypen medialen Bildern von Bewohner*innen der Brennpunkte, vor allem mit der Figur des gewaltbereiten Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Die »Brennpunktschule« Orte, an denen die Verdichtung sozialer Benachteiligung und die darauf folgende diskursive Konnotation der Bedrohung besonders deutlich werden, sind sogenannte Brennpunktschulen. Die so bezeichneten Schulen werden durch jahrzehntelange residentielle und soziale Segregation fast ausschließlich von Kindern und Jugendlichen besucht, die soziale Benachteiligung erfahren. Die Schüler*innen verkörpern gleichzeitig die Bedrohung (für das Außen, den Rest der Gesellschaft) und die Bedrohten (als Kinder, deren Perspektiven auf erfolgreiche Bildungswege und gesellschaftliche Teilhabe besonders gefährdet sind). In sanierungsreifen Gebäuden mit mangelnder Ausstattung spiegelt sich die Haushaltskrise von Städten und Bezirken wider, deren finanzielle Handlungsfähigkeit seit den 1990er-Jahren zunehmend vom sozioökonomischen Status ihrer Bewohner*innen abhängt. Benachteiligungsprozesse konzentrieren sich hier und werden räumlich sichtbar. Verstärkend dazu kommt die starke Selektivität des dreigliedrigen Bildungssystems. Die internationale Vergleichsstudie PISA hat zu Anfang des neuen Jahrtausends aufgezeigt, dass es nicht nur nach Leistung, sondern vor allem nach der sozialen Herkunft sortiert. Benachteiligung verdichtet sich in Hauptschulen einmal mehr, deren Abschluss jungen Menschen die Chancen auf erfolgreiche Teilhabe am Arbeitsmarkt eher erschwert als eröffnet, und wird verstärkt, da gute Lehrkräfte oft Schulen in anderen Stadtteilen bevorzugen. Die Folgen des Zusammenspiels von räumlicher Segregation, sozialer Selektivität, Ressourcenmangel und Stigmatisierung haben in den Schulen erhebliche Missstände produziert, an denen sich die Ergebnisse der PISA-Studie zu Benachteiligungen der jungen Menschen konkret abbilden. Für deren Schilderung hat sich sogar ein eigenes Format entwickelt, das die mediale Aufmerksamkeit bündelt und dieselbe Metapher bemüht wie der Brennpunkt: der Brandbrief. Beispiel Rütli-Schule Der wohl bekannteste Brandbrief wurde 2006 vom Kollegium der Berliner RütliHauptschule verfasst und bündelte die mediale und politische Aufmerksamkeit so stark, dass es zu einer zweiten Debatte um das Scheitern des deutschen Bildungssystems im Umgang mit gesellschaftlicher Diversität kam. An ihrem Beispiel können alle Aspekte des hier beschriebenen Szenarios aufgezeigt werden.
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Da ist zunächst der Ort. Die Rütli-Schule befindet sich im Reuterkiez im Norden des Berliner Stadtteils Neukölln. Nord-Neukölln ist ein klassischer Innenstadtbezirk, in dem sich Prozesse sozialer Ungleichheit und wohnräumliche Segregation räumlich verdichten und in hohen Quoten von Arbeitslosigkeit und Transferleistungszahlungen, Kinderarmut und Schulabbrecher*innen abbildeten. Zur Jahrtausendwende gab es eine Vielfalt der Sprachen, Religionszugehörigkeiten und Migrationsgeschichten. Die Politik hatte den Reuterkiez bereits als »Stadtteil mit besonderem Entwicklungsbedarf« ausgewiesen, um der »Verstetigung der sehr hohen Problemdichte« (Häußermann 2008, S. 23) entgegenzuwirken. Neukölln wurde schon lange vor Bekanntwerden der Vorgänge an der Rütli-Schule in der bundesweiten Wahrnehmung als »Endstation« (vgl. Wensierski 1997) und als »Ghetto mit Parallelgesellschaft« (vgl. Keller 2008) charakterisiert. Deutlich wurde dies im Beitrag der B.Z. im Jahr 2008 mit der Veröffentlichung der »Neukölln-Karte der Angst« (vgl. B.Z. 2008), welche »gefährliche Orte« markierte. In der Rütli-Schule wurden die sozialen Probleme im Stadtteil besonders deutlich. Das Kollegium beschrieb in einem Brief an die zuständige Behörde durch Perspektivlosigkeit und Gewalt der Schüler*innen geprägte Zustände im Schulalltag und bat um Hilfe. Sie gaben an, dass 83 Prozent der Schüler*innen einen türkischen oder arabischen Migrationshintergrund hatten und aus sozial benachteiligten Familien kamen. Hier zeigt sich der problematische Charakter des Labels »Migrationshintergrund«, der auf ethnische oder kulturelle Differenz verweisen soll, damit aber den Blick auf die soziale Benachteiligung verstellt. Nachdem der Brief einige Wochen bei der Verwaltung lag, ließ ihn schließlich seine Veröffentlichung in verschiedenen Medien zum Brandbrief avancieren. Die Meldung über die Rütli-Schule traf auf die bereits vorhandene Vorstellung von Neukölln. Die Menschen im Fokus des medialen Blicks auf die RütliSchule waren die als gewaltbereit beschriebenen Schüler*innen. Die Schilderungen ihres respektlosen und gewaltbereiten Verhaltens im Brief des Kollegiums, vor allem aber die medial inszenierte Darstellung drohender Posen vor der Kulisse des Schulhofs (für die einige Schüler*innen von Medienvertreter*innen bezahlt worden sein sollen) lieferten ein Bild, das wiederum auf solche aus bereits bestehenden »Integrationsdebatten« und Diskursen um »Parallelgesellschaften« traf. Das Thema PISA und ein diffuses Unbehagen über Missstände im Bildungssystem bekamen mit dem »Fall Rütli« über Nacht einen Ort und ein Gesicht. Dramatisierende, moralisierende und voyeuristische Elemente in der Berichterstattung trugen dazu bei, dass das Verhalten einiger Schüler*innen als Bedrohung für die öffentliche Ordnung und die Institution Schule aufgefasst wurde.
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Die Diskussion um die Rütli-Schule wies schnell über die Schule selbst hinaus, da die durch das Rütli-Kollegium angestoßene Kritik die Hauptschule insgesamt als »Sackgasse« problematisierte. Die Debatte trug zur Abschaffung der Schulform in Berlin im Jahre 2010 bei. Der Senat initiierte zunächst ein Pilotprogramm für Sozialarbeit an Hauptschulen, dann ein Gemeinschaftsschulprogramm zur Abschaffung der Hauptschule. Der Bezirk Neukölln rief den »Campus Rütli« ins Leben, auf dem die Schule von den anliegenden pädagogischen Einrichtungen sowie zahlreichen Initiativen im Quartier Unterstützung erhält. So gelang es, die neue »Marke« Rütli für einen imagepolitischen Wandel vom »Schlachtfeld zum Bildungsidyll« (vgl. Schneider 2014) zu nutzen und die durch den Handlungsdruck bedingte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen (vgl. Duveneck 2016). Es folgten weitere Brandbriefe anderer Schulen, in der Hoffnung, ebenfalls solch einen Wandel zu vollziehen. Zudem erfuhr das Campus-Konzept insgesamt als Interventionskonzept Konjunktur. Durch die Auflösung der Hauptschule der sozialen Selektion im Schulsystem entgegenzuwirken, gelang indes kaum (vgl. Helbig und Nikolai 2017). »Brennpunkt« versus Räume der Kindheit So gut sich die Brennpunkt-Metapher für die Bündelung gesellschaftlicher Aufmerksamkeit eignet, so wenig wird sie der Auseinandersetzung mit Räumen der Kindheit gerecht: Während ein »Brennpunkt« durch temporäre mediale Zuspitzung entsteht, prägen die Verdichtung sozialer Benachteiligung in den so bezeichneten Räumen die Qualität der Wohnungen, Spielplätze und Schulen sowie Möglichkeiten der Partizipation und Versorgung dauerhaft. Kinder sind davon in besonderem Maße betroffen: Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung (2017) leben mehr als ein Fünftel aller Kinder in Deutschland in Armut. Eine Kindheit im Brennpunkt bedeutet oft mangelnde Chancen auf Bildung, Arbeit und gesellschaftliche Teilhabe. Für Kinder kann das konkret bedeuten, dass nicht genug Geld zur Verfügung steht, um ins lokale Freibad gehen zu können, für ausreichendes Schulmaterial oder professionelle Förderung bei Schulproblemen. Gleichzeitig wird die Kategorie des Brennpunkts als stereotyp bebildertes Bedrohungsszenario der Lebenswirklichkeit in den so bezeichneten Quartieren nicht gerecht. Studien der Kindheitsgeographie zeigen auf, dass Räume von jungen Menschen subjektiv ganz anders erlebt und genutzt werden, als aus »erwachsender« Perspektive angenommen oder beabsichtigt. In der Betrachtung als »Brennpunkt« fallen positive Qualitäten des Lebensraums unter den Tisch, etwa eine Nachbarschaftskultur mit gegenseitiger Unterstützung, informelle Netzwerke und niedrigschwellige Angebote, die Kinder gerne nutzen. Und während gemeinhin bedauert wird, dass junge Menschen in öffentlichen Räumen kaum
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mehr sichtbar sind, wird die Präsenz junger Menschen in benachteiligten Vierteln als Zeichen von Vernachlässigung gedeutet (vgl. Duveneck 2010). Die pauschale Abwertung führt zu einer Stigmatisierung der Bewohner*innen, die vor allem junge Menschen zusätzlich benachteiligt (vgl. Wellgraf 2012). Ebenso verdeckt der Fokus auf einen »Brennpunkt« die strukturellen gesellschaftlichen Gründe, die diese Verdichtung von Benachteiligung erst möglich machten und nicht an diesem konkreten Ort zu suchen sind (vgl. Keller 2015). Zwar spielt sich das Leben von Kindern maßgeblich im Stadtteil ab, für die Analyse gesellschaftlicher Gegebenheiten ist der Fokus auf das Lokale dagegen unangebracht. Strukturelle Ausgrenzungsmechanismen im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt und im Gesundheitssystem schlagen sich zwar vor Ort nieder, können dort allein aber nicht gelöst werden. Dabei hatte der Brennpunkt-Begriff nicht immer stigmatisierende Implikationen. Im Gegenteil: Der Blick zurück zeigt, dass die Metapher zunächst in stadtund sozialpolitischen Diskursen der 1970-Jahre Verwendung fand. Auch dort diente ihr Einsatz der Bündelung von Aufmerksamkeit und zur »diskursiven Konstruktion urbaner Gefahrenszenarien« (Fölker, Pfaff und Hertel 2015, S. 9). Anders war jedoch die Stoßrichtung. Er vermied die Stigmatisierung von Individuen und wurde stattdessen vor allem verwendet, um auf die Folgen struktureller Exklusionsmechanismen hinzuweisen. Der Wandel der Bedeutung des Begriffs geht einher mit dem Wandel vom versorgenden, paternalistischen Wohlfahrtsstaat zum aktivierenden Wettbewerbsstaat, der die Verantwortung für Wohlstand und Erfolg auf die Individuen überträgt. Wenngleich die Brennpunkt-Metapher dazu diente, soziale Benachteiligung aufzuzeigen, erwies sie sich zugleich als überaus anschlussfähig für das Gegenteil, nämlich die Individualisierung eines gesellschaftlichen Prozesses. Resümee Der Begriff des Brennpunkts zur Beschreibung gesellschaftlicher Gegebenheiten ist in vielerlei Hinsicht ungeeignet. Für die Beschreibung von Räumen der Kindheit eignet er sich schon deshalb nicht, weil er immer nur temporäre Schlaglichter auf soziale Lagen wirft, die sich für junge Menschen als dauerhaft darstellen. Zudem fokussiert er auf die Frage, wie eine Bedrohung beseitigt beziehungsweise Normalität wiederhergestellt werden kann, und verstellt damit den Blick auf Benachteiligungsprozesse. Damit ist er als Analysebegriff untauglich. Selten wird wahrgenommen, welchen Anteil der Begriff »Brennpunkt« selbst zur diskursiven Konstruktion von Bedrohung liefert: Er erlaubt den stigmatisierenden, oft voyeuristischen Blick auf das als deviant Konstruierte, der vorgibt, sich für die gezeigten Menschen zu interessieren. Diese Aufmerksamkeit bietet jedoch
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keine Ansatzpunkte für eine Verbesserung ihrer Situation, sondern trägt vielmehr zu ihrer Verfestigung bei. Beispiele dafür sind Fernsehformate wie »Familien im Brennpunkt« im RTL-Nachmittagsprogramm. Um Aufmerksamkeit für Problemlagen zu bündeln, taugt der Begriff »Brennpunkt« also hervorragend; wenn es aber darum geht, diese zu lösen, sollte man ihn verwerfen. Anika Duveneck und Viola Dollinger-Rauch Literatur B.Z. (2008), »Die Neukölln Karte der Angst«, https://www.bz-berlin.de/artikelarchiv/die-neukoelln-karte-der-angst (Januar 2018). Duveneck, Anika (2010), Zur paradoxen Beziehung zwischen Kindern und dem Öffentlichen Raum – ein explorativer Vorstoß zur Etablierung einer konstruktivistischen Geographie der Kindheit, Jena: Selbstverlag der Universität Jena. Duveneck, Anika (2016), Bildungslandschaften verstehen. Zum Verhältnis von Wettbewerbsbedingungen auf die Praxis, Weinheim: Beltz-Juventa. Fölker, Laura, Thorsten Hertel und Nicolle Pfaff (2015), Schule ›im Brennpunkt‹ – Einleitung, in: Brennpunkt(-)Schule: zum Verhältnis von Schule, Bildung und urbaner Segregation, hg. v. dens., Opladen, Berlin und Toronto: Barbara Budrich. Häussermann, Hartmut, Daniel Förste, Jan Dohnke und Patrick Hausmann (2008), Monitoring Soziale Stadtentwicklung Berlin 2008, Berlin, S. 23. Helbig, Marcel und Rita Nikolai (2017), Alter Wolf im neuen Schafspelz? Die Persistenz sozialer Ungleichheiten im Berliner Schulsystem, Discussion Paper P 2017-001, hg. v. WZB, https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2017/p17-001.pdf (Juni 2018). Keller, Carsten (2015), Problemviertel? Imageproduktion und soziale Benachteiligung städtischer Quartiere, www.bpb.de/politik/innenpolitik/gangsterlaeuf er/202834/problemviertel-image-und-benachteiligung (Juni 2018). Keller, Claudia (2008), »Endstation Ghetto«, in: Tagesspiegel, www.tages spiegel.de/berlin/neukoelln-endstation-ghetto/1273612.html (Januar 2018). Schneider, Jens (2014), »Abi aus Neukölln«, in: Süddeutsche Zeitung, www.sued deutsche.de/bildung/bildungserfolge-an-der-ruetli-schule-abi-aus-neukoelln1.2031114 (Januar 2015). Spivak, Gayatri (2013), The Spivak Reader, hg. v. Donna Landry und Gerald MacLean, New York und London: Routledge. Wellgraf, Stefan (2012), Hauptschüler. Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung, Bielefeld: transcript. Wensierski, Peter (1997), »Endstation Neukölln«, in: Der Spiegel, www.spiegel. de/spiegel/print/d-8805068.html (Januar 2018).
Buch
Ein Raum zwischen zwei Pappdeckeln. Einer, den das Kind selbst zu öffnen vermag, lange bevor es Türen aufklinken und aufschieben kann. Unter der Stimme von Mutter oder Vater gehen Augen auf Entdeckungsreise. Finger tasten über Fell oder Schuppen, bohren nimmersatt durch Raupenlöcher, wimmeln vogelperspektivisch durch aufgeschnittene Krankenhäuser, erdrücken Vogel- und Geigenklänge. Zwischen einbanddicken Pappseiten öffnen sich auf- und umklappenden Händen Räume in zwei, drei und sogar vier Dimensionen, wenn sich flache Buchseiten zu kleinen Bühnen auffalten, Fontänen Papierwasser spucken und der Traktor aus der Scheune fährt. Signifikant häufig erschließt sich in Kinderbüchern ein kindliches Subjekt einen Raum. In Leo Lionnis Kinderbuchklassiker Swimmy verliert ein kleiner schwarzer Fisch seinen umgebenden roten Fischschwarm und begibt sich einsam auf Entdeckungsreise. Als er schließlich einen neuen Schwarm kleiner roter Fische findet, bringt er ihnen bei, sich um ihn zum großen Fisch zu formieren. Von der leichten Beute zum starken Kollektiv transformiert, werden sie fortan von Swimmy als ihrem bereits sehend gewordenen Auge durch einen Meeresraum voller phantastischer Erscheinungen geleitet. Noch nie Gesehenes und Unerhörtes tut sich auf. Denn Bilder- und Vorlesebücher eröffnen Kindern Welten, noch ehe sie selbst in die Welt treten. Geleitet von großen elterlichen Zeigefingern gehen kleine auf Entdeckungs- und Deu-
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tungsreise. So entstehen Semantisierungen von richtig und falsch, mit denen das Kind später der Welt begegnen, in die es seine erste Welterfahrung einpassen wird. Das im Schutzraum auf dem elterlichen Schoß und im Buchraum Erfahrene, Besprochene und Besungene ist später weniger fremd, macht weniger Angst, wird besser gemeistert. Darum lesen Eltern mit ihren Kindern Wimmelbücher über den Straßenverkehr, noch ehe sie richtig laufen können. Je konkreter die Situationen, desto genauer die Vorbereitung. Wer wollte den Straßenverkehr mit einem Ententeich erklären? Was hier nicht vorkommt, wird unweigerlich zum Anderen, Unnormalen, erzeugt Unsicherheit, gar Ablehnung und Angst. Die Kuh gibt Milch, an der roten Ampel muss man warten, mit Fremden gehe ich nicht mit. Menschen haben unterschiedliche (Haut-)Farben, mehr als zwei Geschlechter und lieben mal das andere und mal das eigene Geschlecht. Mit ihrer Präsemantisierung bilden Bilderbücher den Zentralraum des Diskurses und mit jedem Kind wird der Grundstein für seine Macht neu gelegt. Foucault hatte keine Kinder, sonst hätte er gewiss darüber geschrieben: Der Prinz rettet die Prinzessin, dann heiratet er sie. Oder könnte es auch umgekehrt sein? Wenn sich die ersten Buchräume öffnen, hat der Diskurs noch keinen langen Hebel. Er ist eine Feder, wegzublasen durch ein Bild, eine Geschichte: Der Prinz heiratet den Prinzen! (Linda de Haan und Nijan Stern: König und König), das Mädchen spielt Fußball, der Junge mit Puppen (Pija Lindenbaum: Luzi Libero und der süße Onkel/Paul und die Puppen) und Kinder haben alle Farben dieser Welt (Sheila Hamanaka: All the Colours of the Earth). Wer morgen eine tolerante und in Fragen der Diversität entspannte Gesellschaft will, muss sie heute in Bilderbüchern ausmalen. Das Bilderbuch ist die erste Brille, durch die Kinder die Welt sehen. Eltern, erziehende Menschen und Institutionen, setzen sie ihnen auf. Die Idee, dass Kinder abseits von Lesefibel und Kinderbibel eigene Bücher brauchen, konnten erst jene Epochen bekommen, die auch die Kindheit erfanden. Erst als zu belehrendes, dann als zu bewahrendes Alter: Aufklärung und Romantik schrieben und sammelten didaktische und Volksmärchen des Nahraumes, die Geschichten aus 1001 Nacht entführten Kinder in einen exotischen Orient voller Feen und Geister und Robinson Crusoe im Zeitalter des Kolonialismus auf eine Insel fernab der Enge eines in überkommene Machtstrukturen eingeschnürten Europa. Das 19. Jahrhundert steuerte die schwarze Pädagogik des Struwwelpeters bei – die jedoch zu ihrer Zeit so schwarz gar nicht war, warb sie doch in einer rassistischen und antisemitischen Zeit dafür, allen Menschen ungeachtet ihres Glaubens und ihrer Hautfarbe mit Respekt zu begegnen. Doch es waren vor allem Mark Twains Tom Sawyer und sein (fast) ewig barfüßiger Huckleberry Finn und später Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf und Michel aus Lönneberga, die das Jugendbuch zum Raum jenseits erwachsenenweltlicher Vorschriften
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und zur Anleitung für eine subversive Jugend öffneten. Wenn das Kind endlich selbst entscheiden kann, was es liest! Wenn das Buch der einzige Freund ist Mit dem Buch unter dem Arm sich allen Verpflichtungen entziehen. Eintauchen in die Welt der Fiktion, die die eigene unzulängliche vergessen macht. Eine Geschichte vermag nicht nur die unerledigten Hausaufgaben zu vertreiben, die Einsamkeit und Sorgen um das Jetzt oder die Zukunft, sie kann sogar stärker sein als Hunger, Durst und Kälte. Keiner hat dies so eindringlich beschrieben wie Karl Philipp Moritz mit seinem Roman Anton Reiser. Das vielleicht nicht in erster Linie ein Jugendbuch ist, aber das Buch über eine elende, lieblose, vernachlässigte und wohl auch missbrauchte Jugend im Kleinstbürgertum des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die nur im Fluchtraum des Buches zu ertragen ist und allen Pädagogen zeigte, wie und vor allem warum dieser funktioniert: Obgleich schon mehr als halb verhungert, trägt Anton noch sein letztes Geld zum gierigen Leihbibliothekar und isst stattdessen mit Haaren durchsetzten Brotteig, den er von einem Perückenmacher als angebliches Hundefutter erbettelt. Statt als mittelloser Schüler an demütigenden Freitischen zu sitzen, vegetiert er frierend und lesend auf einem Dachboden. Statt zu lernen, liest er Romane. Nur in ihren Alternativräumen kann die geschundene Kreatur Anton überleben, transformiert in die Gestalten der Geschichten, das unerträgliche reale Sein wie eine leblose Hülle zurücklassend, solange es noch Seiten zu wenden gibt. Antons überlebender Autobiograph schrieb dies freilich nicht, um die Macht der Fiktion zu preisen, sondern um eine Erklärung für die vielbeklagte Lese- und Theatersucht der Jugend zu liefern. Er zeigt meisterlich, wie eine unbewohnbare Wirklichkeit sie zwischen zwei Buchdeckel treibt oder auf Bretter, die eine andere Welt bedeuten. Moritz’ Freund und geistiger Zwillingsbruder Goethe sah das ähnlich. Knapp 200 Jahre später ist auch für den Jungen Bastian Balthasar Bux das Buch der einzige Freund. Weil der Vater nach dem Tod der Mutter selbst nicht mit seiner Einsamkeit zurechtkommt – übrigens bis heute in Kinderbüchern eine beliebte Konstellation –, er in der Schule gemobbt wird und auch sonst keine Freunde findet. Doch statt sich wie Anton Blatt um Blatt durch Band um Band zu fressen, immer hungrig und unbefriedigt bleibend, gerät er an – genauer: stielt er ein Buch, das eine letztgültige alternative Heimat verspricht: Die unendliche Geschichte. In einer Engführung von Moritz’ Lese- und Wirklichkeitskritik wird der Versager im Leben in der Literatur zum Helden. Das geschieht, indem sich Bastian aus dem passiv Lesenden in den die Geschichte mitgestaltenden Helden Bastian transformiert. Auch er liest auf dem Außerort eines Dachbodens, gleichsam dem Oberstübchen seiner Schule, doch betritt er nun auch den Raum der
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Geschichte. Der Leser, der das Buch verschlingt und das Buch, das den Leser verschluckt, werden zu den sich gegenseitig zeichnenden Escher’schen Händen. Wie den Büchern der exzessiv Lesenden des 18. Jahrhunderts – unter denen nicht zufällig signifikant viele Frauen und Mädchen waren, hatten sie doch noch mehr Anlass zum wenigstens vorübergehenden Austritt aus einer Lebenswelt, die so eng geschnürt war wie ihre Korsagen – wurde auch Michael Ende vorgeworfen, Jugendliche zu Eskapismus zu verleiten. Doch tatsächlich bleibt der Raum der Unendlichen Geschichte ambivalent: Das von einer durchrationalisierten Wirklichkeit bedrohte Land Phantasien wird zunächst zum Ort der Selbstfindung und Persönlichkeitsentwicklung Bastians. Doch genauso zentral, wie es vor dem Verschwinden zu retten, ist, es bei Zeiten wieder zu verlassen. Das Buch als Raum der Fiktion und Phantasie und der Raum des realen Lebens sollen aufeinander bezogen sein, damit die Menschen in ihm Erfahrungen machen, die das reale Leben nicht bietet, die es erweitern und verändern. Doch die Lesenden müssen den Schlüssel finden, mit dem sie zwischen den Räumen wechseln können. Bei Ende ist dies ein Amulett, wir nennen es: Lesekompetenz. Unendliche Geschichten Auch Bücher sind Übergangsobjekte. Wie alle nachvollziehen können, die bereits das zweifelhafte Vergnügen hatten, im elterlichen Haus die Buchbestände der eigenen Jugend auszusortieren. Harry Potter ist eine Geschichte, die nicht zu Ende zu gehen scheint, weil sie genau die kritischen Jahre des Heranwachsens umgreift, die mit dem flüssigen Lesen und ersten literarischen Verstehen im Alter von acht bis zehn Jahren beginnen. Die die Leser ursprünglich im Jahresabstand bis in und durch die Pubertät begleitete und damit die Schul- in eine erwachsene Identität überführte. Joanne K. Rowling schuf den Prototypus eines abgeschlossenen Romanzyklus, dessen sieben Teile als sieben eigenständige und zugleich aufeinander aufbauende Räume dieses »Jahrsiebt« umgreifen und so selbst zum Übergangsobjekt in die Erwachsenenwelt werden. Das Narrativ wird zum Raum Wahrhaft unendliche Geschichten verspricht hingegen die Serie, sei es als series, mehr oder weniger abgeschlossene Episode in einer endlos fortsetzbaren Reihe, oder als serial, Teil einer bis ad infinitum fortlaufenden Geschichte. In beiden Fällen wird die Zeit zum Raum und das Narrativ vornehmlich zu einer immer komplexer, immer realitätsaffiner ausgebauten Welt, in die Serienleser je häufiger je lieber eintauchen. Sei es, um mit den liebgewonnenen Figuren Zeit zu verbringen oder jenseits der Wirklichkeit eine »possible world« (mögliche Welt) zu erleben, die bei aller Komplexität zwar oft magischen, gleichwohl nachvollzieh-
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baren und systematischeren Regeln folgt als unsere Lebenswelt. Serien und vielteilig gestaffelte Erzählungen bieten aber nicht nur Orientierung in einer unübersichtlich gewordenen Realität, sondern auch bei der Auswahl zwischen den nicht nur bis ins Unendliche vervielfältigten, sondern dank Netflix und Co auch permanent und in einer zeitlichen Fläche verfügbaren Geschichten. Die unendliche Geschichte der Serie wird dabei für ihre Figuren und Räume arbiträr, zur zunehmend austauschbaren Trägersubstanz und die Narration angesichts der Fabulierlust der Serie zur Makulatur, je weiter ihr Ende aufgeschoben, ihre Figuren von Spin-offs umspielt und ihre Räume von Paralleluniversen flankiert werden. Häufig sind es Räume, die kein Vernünftiger freiwillig betreten würde. Doch Pubertierende lesen sich gierig durch mehrbändige Welten im Liebesverbot (Lauren Oliver: Amor-Trilogie), oder treten mit einer atemlos erzählenden Protagonistin in tödlichem Hungerkampf (Suzanne Collins: Die Tribute von Panem) gegen Gleichaltrige an. Wo sind die Utopien geblieben, die das Zeitalter der Aufklärung schrieb? Doch Anton Reiser flüchtete in die Südsee-Utopie der Insel Felsenburg Johann Gottfried Schnabels vor seiner grausamen Lebensrealität. Heute hingegen erfahren Jugendliche der westlichen Welt in Dystopien, wie gefährdet ihre freiheitliche und demokratische Lebenswelt ist und spielen damit zugleich Optionen des Widerstands durch. Denn die Jugend-Dystopie ist Angstraum und Trainingslager zugleich, trägt sie doch bei allen Opfern und Entbehrungen stets das Moment der Überwindung in sich. Mädchen(t)räume – Jungen(t)räume – Genderräume? Die meisten kanonischen literarischen Werke zwischen 1700 und 1900 haben männliche Protagonisten. Frauen haben von jeher gelernt, sich – außerhalb der nur in Ausnahmefällen als literarisch geltenden Frauenliteratur – mühelos mit männlichen Protagonisten zu identifizieren. So auch in der Kinder- und Jugendliteratur, in der sich Mädchen weder an den tapferen Prinzen der Märchen, Tom Sawyer und Huck Finn, Bastian Baltasar Bux, Wolfgang Herrndorfs Maik und Tschick oder Andreas Steinhöfels Rico und Oskar stören. Für Kinderbuchverlage macht ein männlicher Protagonist auch heute noch einen All-Gender-Titel, der nur in Extremfällen mit vielen Autos und Monstern Mädchen nachhaltig vom Lesen abhält. Eine Protagonistin hingegen erzählt automatisch ein Mädchenbuch, das in der Regel kein Junge anrührt. Wenigstens dann nicht, wenn das Mädchen auf dem Cover weiter vorne abgebildet ist als der Junge. Dabei war das Kinderbuch in Fragen Mädchenemanzipation einst Vorreiter: von der schlauen und mutigen Alice im Wunderland Lewis Carrolls über das starke Mädchen Pippi und Kurt Helds Die rote Zora und ihre Bande bis zu Momo. Aber viele Jungen bekommt man nur mit ganzen Kerlen ins Buch. Wenn dabei längst über-
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kommene Rollenbilder bestätigt werden – Kollateralschaden? Oder alles zurück auf Anfang – auf das Bilderbuch, das ganz offenbar die Grundlagen zu diesem patriarchalen Diskurs gelegt hat. Geh mir zum Teufel mit dem Faust! Mit Goethes Faust endete schon immer die Kindheit. Für Generationen pubertierender Jugendlicher gab es kaum anziehenderes als jenen verschlossenen Bücherschrank, in dem Wielands Erotische Erzählungen, die Josephine Mutzenbacher des Bambi-Autors Felix Salten und Goethes Faust vor ihnen versperrt wurden. Franz Wedekind lässt in Frühlings Erwachen die Tragödie vom verführten Verführer von den Gymnasiasten Moritz und Melchior lesen und letzteren in der Tragödie der Kinder prompt mit Wendla ein weiteres Gretchen (er)zeugen. Heutige Jugendliche sind hingegen viel zu auf- und abgeklärt, um sich mit dem Faust locken zu lassen. Wie aber gelingt der Übertritt der an realitätsaffine (Fantasy-)Welten gewöhnten Jugendlichen, ja selbst ausgemachter Leseratten an Literarizität? An jene Sorte von Texten, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass nicht alles »glatt« und mühelos aufgeht? Die im Extremfall sogar mehr Fragen aufwirft als beantwortet? Klappe zu – Buch tot? Das heranwachsende Kind erobert sich seine Räume, auch die des Buchs. Indem es liest, was es liest, wenn es liest, was es (noch) nicht lesen soll und heute vor allem – wenn es nicht liest. Im Gegenzug erfreut sich Jugendliteratur bei (jungen) Erwachsenen steigender Beliebtheit, als »All Age-Titel« verbrämt. Das literarische Lesen ist nicht nur bei (nach pädagogischer Definition) Jugendlichen im Hintertreffen, sondern auch bei sich selbst als »jung« betrachtenden Menschen: in der Altersgruppe bis zum 40. Lebensjahr, die sich lesend lieber in Computern und Smartphones aufhält, als im Buchraum. Aber ist das literarische Lesen zwingend an ein Buch aus Papier und Pappe gebunden? Oder kann die Buchwelt nicht mit gleichem Recht eine Scheibe aus Aluminium und Glas sein? Kinderbuchverlage jedenfalls sind hier skeptisch, weil Kinder und Jugendliche auf Handy und Tablet offenbar anderes tun wollen, als zu lesen. An Stelle von E-Books entstehen daher wie zum Trotz um dicke Buchblöcke mit haptischem Papier und üppigen Illustrationen; glänzende, samtige, oft plastisch geprägte Einbände, die mit Händen greifen lassen, welch verlockende Räume sich auftun, sobald erst der Einband aufgeschlagen wird – ein Raum zwischen zwei Pappdeckeln. Tina Hartmann
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Literatur Foucault, Michel (1976), Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Josting, Petra und Caroline Roeder (Hrsg. 2013), Das ist bestimmt was Kulturelles – Eigenes und Fremdes in Kinder- und Jugendmedien: kjl&m 13.extra, München: kopaed. Josting, Petra, Caroline Roeder und Ute Dettmar (2016), Immer Trouble mit Gender? Genderperspektiven in Kinder- und Jugendliteratur und -medien (Forschung), kjl&m 16.extra, München: kopaed. Leibacher, Rahel (2014), Männliche und weibliche Lesesucht. Systemspezifisch differenzierte Anschlusskommunikation an den bürgerlichen Roman des 18. Jahrhunderts, in: Krank geschrieben. Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin, hg. v. Rudolf Käser und Beate Schappach, Bielefeld: transcript, S. 63-85. Schindler, Stephan K. (1994), Das Subjekt als Kind. Die Entstehung der Kindheit im Roman des 18. Jahrhunderts, Berlin: Erich Schmidt. Schlachter, Birgit (2013), Harry Potter, Twilight, Die Tribute von Panem & Co. Serielles Erzählen in der populären Jugendliteratur und im aktuellen Jugendmedienverbund, in: Kinder- und Jugendliteraturforschung 2012/13, hg. v. Institut für Jugendbuchforschung der Johann Wolfgang Goethe-Universität (Frankfurt am Main) und der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz (Berlin), Frankfurt am Main u. a.: Lang, S. 105-115. Stewart, Tom (2001), Melancholia, Masturbation, and Lesesucht in Anton Reiser, Focus on German Studies 8, S. 97-108. Surkamp, Carola (2002), Narratologie und possible-worlds theory: Narrative Texte als alternative Welten, in: Neue Ansätze in der Erzähltheorie, hg. v. Ansgar Nünning und Vera Nünning, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, S. 153-183.
Elternhaus
Mit einem Auszug aus dem Roman »Les Vacances« der Comtesse de Ségur beginnt Anne Martin-Fugier (1991) ihre historische Beschreibung der häuslichen Riten des Großbürgertums. Der Roman erzählt, wie die vier Mädchen des Hauses aufgeregt die Treppen des Schlosses von Fleurville hoch und runter laufen, denn bald wird sich die Verwandtschaft auf dem Familiensitz treffen. Die anreisenden Cousins werden – wie jedes Jahr – zusammen mit den Mädchen ihre Ferien verbringen. Die Mädchen, als kleine Hausmütterchen, haben geholfen, die Zimmer vorzubereiten, haben Blumensträuße gebunden und in den Zimmern verteilt. Sie rufen und schwatzen durcheinander: von den Spielen, die sie in Haus und Garten im vergangenen Jahr zusammen gespielt haben, von den Dummheiten, die sie gemacht haben, dem Spaß, den sie hatten. Die Erinnerungen an letztes Jahr sind Verheißungen für das, was in den nun anstehenden Ferien alles geschehen kann. Bei der Lektüre dieser Szene stellt man sich einen Landsitz vor, mit einem Park, so groß, dass seine Ränder verwildert und zu entdecken sind. Nur wenig bescheidener sind die Verhältnisse an der Wende zum 20. Jahrhundert, die die Schweizer Autorin Ida Bindschedler in den beiden über Jahrzehnte beliebten Kinderbüchern »Die Turnachkinder im Winter« und »Die Turnachkinder im Sommer« beschreibt. »›Hier im Winterhaus ist es gerade umgekehrt als in der Seeweid‹, sagte Marianne, als sie mit Hans und Lotti die Treppen hinauf zur Zinne stieg. ›Dort geht alles in die Breite und hier in die Höhe.‹« In der Tat: Das Sommerhaus ist ein ausladendes Landhaus am Seeufer, das Winterhaus ein fünf Stockwerke hohes schmales Haus an vornehmer Lage in der Zürcher Altstadt, in dem sich Geschäft und Wohnung der wohlhabenden Kaufmannsfamilie befinden. In beiden Häusern gibt es zahlreiche Räume, vom Salon bis zu Kellerräumen und Dachboden, zahlreiche Nischen, die die Kinder entdecken und in Beschlag nehmen können. Wir kennen solche Elternhäuser – aus Romanen, Filmen, Autobiographien berühmter Leute, vielleicht kennt sie diese oder jener aus der Leserschaft sogar aus der eigenen Kindheit. In ihren Beschreibungen mischen
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sich Gefühle der Geborgenheit, der Vertrautheit, des Bedauerns über eine vergangene Zeit. Dies ist die romantische Geschichte, die man zum »Elternhaus« erzählen kann – es ist die Geschichte der Privilegierten. Man erkennt diese Begünstigten in Sachen Elternhaus – auch wenn sie längst erwachsen sind – bereits beim Eintritt in ihre Häuser und Wohnungen: das alte Geschirr, die alten Bilder an der Wand, antike Möbelstücke da und dort. Es sind Erbstücke aus dem Elternhaus und seit Generationen im Besitz der Familie. An den Erbstücken sind Erinnerungen festgemacht an immer wiederkehrende Ereignisse, an Regelmäßigkeiten: den Wechsel der Jahreszeiten, wiederkehrende Feste wie Weihnachten, Ostern, Geburtstage. Auch die Erinnerungen sind ein über Generationen angespartes Erbe. Es gibt eine zweite, prosaischere Geschichte; nicht der romantische, sondern der normierende Gehalt des Elternhauses verlangt in dieser Geschichte Aufmerksamkeit. Das Aufwachsen in einem Elternhaus ist Normalität, es ist das Gewohnte, Alltägliche, als selbstverständlich Unterstellte, aber es ist unzweifelhaft auch eine Norm. An dieser Norm wird die Qualität der Kindheit gemessen und ebenso die Qualität der Individuen, die sie durchlebt haben. Aber da gibt es auch die Habenichtse in Sachen Elternhaus. Der Autorin dieses Beitrags ist dies auch deswegen bewusst, weil ihre Familiengeschichte einen beachtlichen Mangel an respektablen Elternhäusern aufweist. Väterlicherseits ist diese Familiengeschichte – will man sie denn doch so nennen – durch das Aufwachsen im Waisenhaus gekennzeichnet und mütterlicherseits durch die zweifelhaften Segnungen der Behördeneingriffe gegenüber den »Kindern der Landstraße«. Die Behörden begannen im 20. Jahrhundert die Kinder der Fahrenden – das waren zu jener Zeit und in jener Gegend vor allem Jenische – aus ihren »asozialen« Verhältnissen heraus zu lösen und in sesshaften Familien unterzubringen, was nichts anderes bedeutete, als dass sie den Bauern als billige Hilfskräfte zur Verfügung gestellt wurden. Kinder der Landstraße und Heimkinder sind der Abweichung verdächtig. Über solchen Kindheiten liegt Scham und man erfährt nicht viel darüber, auch nicht, wenn diese Habenichtse längst erwachsen sind – die Erbstücke fehlen und Erinnerungen werden spärlich und zögerlich präsentiert. Zumindest teilweise trifft das auch für Kinder Alleinerziehender zu, die ja auch nicht im eigentlichen Sinne ein Elternhaus vorweisen können. Es ist heutzutage nur noch ein sehr kleiner Teil der Kinder, der vorübergehend oder dauerhaft außerhalb ihrer Herkunftsfamilie aufwächst. Genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln, dazu bedürfte es einer Lebenslaufstudie, wie sie nicht vorliegt. Aus den vorhandenen Statistiken kann man schließen, dass es sich um wenige Prozente handelt. Aber es genügt auch nicht, einfach ein Elternhaus zu
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haben; dieser ersten normativen Verortung schließt sich gleich eine zweite an: Die Frage, wo dieses Elternhaus sich befindet, muss befriedigend beantwortet werden können. Als die Autorin dieses Beitrags aufwuchs und nun – in der ersten normkonformen Generation der Familie – über das Privileg eines Elternhauses verfügte, da stand dieses sogar im richtigen Viertel, in einem Einfamilienhausviertel mit Häusern, die für zwei oder maximal drei Kinder Platz boten und reine Ziergärten aufwiesen. Es gab aber, nicht allzu weit entfernt und im Einzugsbereich derselben Schule, eine Siedlung, die die große örtliche Maschinenfabrik für kinderreiche Arbeiterfamilien erbaut hatte. Die Häuser boten Platz für große Familien, sie hatten Nutzgärten, in denen nicht selten Kaninchen gezüchtet wurden, und wer aus einem solchen Elternhaus kam, war in der Schule bekannt, manchmal gefürchtet und selten besonders erfolgreich. Nicht anders geht es den Kindern, deren Elternhaus heute lediglich eine Wohnung in einem »Brennpunktviertel« ist. Und ebenso fragwürdig ist ein Elternhaus in einem Schrebergartenhäuschen, einem Obdachlosenheim, einer Asylunterkunft, wobei der letzteren Verortung in der öffentlichen Meinung immerhin zugutegehalten würde, dass sie vorübergehender Art ist und eine ansonsten respektable Familie als unverdiente Härte treffen kann. Innerhalb der prinzipiell akzeptablen, das heißt räumlich solide verorten Elternhäuser ist das Spektrum der Wertungen noch immer groß. Dabei wird es heutzutage eine geringere Rolle spielen ob das Haus hablich, der Garten gepflegt, die Auffahrt sauber gewischt, der Geschäftserfolg des Hausherrn gesichert und der Nachwuchs ordentlich gekleidet ist. Solche Bewertungen resultierten aus der nachbarschaftlichen Kontrolle. Die wichtige Bewertung ergibt sich nun aus der Passung zu den Anforderungen der Schule. Dabei verläuft der Bewertungsprozess als wechselseitiger: Die gute Leistung des Nachwuchses in der Schule lässt auf das Elternhaus schließen und das Einbrechen von Leistungen oder das auffällige Schülerverhalten den Verdacht aufkommen, dass es da Probleme gebe. Umgekehrt haben uns bildungswissenschaftliche Studien wiederholt gezeigt, dass die Leistungen von Kindern aus »besseren Elternhäusern«, nämlich von höherer sozialer Herkunft, günstiger beurteilt werden und das Gleiche – wenn auch weniger ausgeprägt – gilt für die Leistungen von Kindern aus vollständigen Familien. Man spricht im politischen Diskurs von »bildungsnahen« und »bildungsfernen« Elternhäusern und macht mit dieser Bezeichnung die Gründe für diese Nähe oder Distanz einseitig und in dieser Weise also unzutreffend an den Familien fest. Evident ist, dass sich die einzelnen Bildungssysteme unterscheiden im Ausmaß, in dem es ihnen gelingt, auch mit Kindern, für die in diesem Sinne ungünstige Merkmalskonstellationen zutreffen, gute Ergebnisse zu erzielen.
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Es sind Merkmale des Elternhauses wie der Besitz an Büchern, die Sprache, die gesprochen wird, die explizite Förderung kindlicher Kompetenzen, zum Beispiel durch Vorlesen, Lernspiele, Kurse, durch den Besuch von Museen, Theatern und Konzerten, die jetzt in die Wertung einfließen; der Merkmalskatalog wird von den Bildungswissenschaften mitdefiniert. Zusammen genommen werden sie als kulturelles Kapital und entscheidend für den Bildungserfolg der Kinder gesehen. Das folgt einer von Bourdieu und Passeron (1964) in ihrem Werk »Les Héritiers« (übersetzt würde der Titel heißen: die Erben) formulierten Hypothese, wonach solches Kapital an die Kinder »vererbt« wird und vermittelt über das Bildungssystem die künftige Platzierung der Kinder in der Sozialstruktur weitgehend bestimmt. Die These wird empirisch immerhin teilweise bestätigt, schreibt aber Prozesse der sozialstrukturellen Reproduktion zu sehr dem Privaten zu. Die differenzierte Analyse großangelegter Studien ergibt, dass die materielle Situation, die reine Schichtzugehörigkeit als solche und der Besuch der anspruchsvolleren Schultypen – der ja auch über den wechselseitigen Bewertungsprozess möglich gemacht wird – mindestens ebenso gewichtige Faktoren sind wie das kulturelle Familienerbe (vgl. Bühler-Niederberger 2016). Was in unserer »romantischen« Geschichte als ein kultiviertes Zelebrieren eines gesellschaftlichen Ranges erschien, ist also spätestens mit den wachsenden Bildungschancen und der Bedeutung von Bildungsabschlüssen für Karrieren zu einem ambitionierten und kalkulierten Arbeiten am sozialen Aufstieg oder der Statussicherung geworden ist, das sich der Kultur bedient. So oder so ist das Elternhaus keineswegs lediglich privater Hort »jenseits von Stand und Klasse«. Der Anspruch, in der sozialen Rangordnung möglichst hoch oder immerhin solide dazustehen, das sichtbar zu machen und es noch höher zu bringen, ist heute wie früher Ansporn und Belohnung für die, die sich diesem Haus zurechnen. Und noch etwas können wir an dieser Stelle festhalten: Das Elternhaus – als gesellschaftliche Institution – hat den paradoxen Charakter eines geschützten, abgeschlossenen Raumes hinter Türen und Jalousien und unterliegt dennoch gleichzeitig einer moralischen Feinregulierung: durch die Umgebung, durch Experten und öffentliche Diskurse, durch all die Institutionen, die an das Elternhaus in der Erziehung anschließen wie Kindergarten und Schule. Vor allem über die Kinder – deren Verhalten und Reüssieren – gelangen Informationen nach draußen, die ein kritisches Urteil erlauben, selbst da, wo sich von außen ansonsten nichts Bedenkliches erkennen ließe. Seit das Elternhaus von Moralisten und später vom Staat und den Experten in seiner erzieherischen Bedeutung hervorgehoben wurde, wird es als Element der gesellschaftlichen Ordnung in Anspruch genommen (vgl. Donzelot 1980), und darum unterliegt es der erwähnten Überwachung. Gegenüber den Kindern wird
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das Elternhaus zur moralischen Autorität durch die besondere Beziehungsintensität respektive die emotionale Abhängigkeit des Kindes, die seine Bereitschaft, soziale Regeln zu akzeptieren, erhöht. Das Elternhaus bedeutet aber auch eine zeitliche und räumliche Verortung der Kinder. Diese ist höchst selbstverständlich geworden, und gerade dadurch reguliert und regiert sie das Heranwachsen so dicht. Es ist eine zeitliche Verortung in der Makrozeit des Lebenslaufs: Man kommt in das Elternhaus mit der Geburt und man verlässt es zur gegebenen Zeit – nicht früher und nicht später. Sowohl Nestflüchter wie Nesthocker werden mit Argwohn betrachtet, von der sozialen Umgebung und von der Wissenschaft gleichermaßen. Ein Auszug vor dem Erwachsenenalter zieht eine behördliche Intervention nach sich. Nistet man sich aber behaglich ein, so fordert dies ebenfalls kritische Reaktionen heraus: Die Leistungsbereitschaft des Nachwuchses, der sich im »Hotel Mama« breit macht, aber auch die Fähigkeit eben dieser Mama, ihre Kinder zur Selbständigkeit zu erziehen, werden in Frage gestellt. Da mögen wissenschaftliche Untersuchungen noch lange aufzeigen, dass der Auszug aus dem Elternhaus hauptsächlich durch Erfordernisse des Studienplatzes und die finanzielle Situation bestimmt wird und nicht so sehr durch gelungene oder misslungene Sozialisation: Der Auszug aus dem Elternhaus und damit eines definitiven Übergangs ins Erwachsenenalter bleibt ein moralisch überwachter Zeitpunkt. Geregelt sind auch die Mikrozeiten des Alltags, also wann man zum Essen kommen und wann man schlafen gehen muss, bis wann man vor dem Fernseher oder Computer sein darf. Die zeitlichen Regeln kreuzen sich mit räumlichen, geben sie doch auch vor, wo man zu einer bestimmten Zeit zu sein habe und noch weit mehr: nicht zu sein habe. Besonders überwacht werden die Ausgehzeiten Heranwachsender. Sie sind sogar gesetzlich kontrolliert, sofern es den Aufenthalt in Gaststätten betrifft, zum größeren Teil aber bleibt die Regelung den Eltern überlassen und macht ein wichtiges Thema von Erziehungsratgebern aus. Klare Absprachen und eindeutige Konsequenzen werden von diesen empfohlen, darunter eine Bestrafung durch eine »Auszeit«, bei der das Kinderzimmer vorübergehend zur Arrestzelle wird. Kinder sind also einem räumlich-zeitlichen Regime unterstellt, nicht nur in der Schule, sondern gerade auch im Elternhaus. Die Art der Unterstellung sichert die generationale Ordnung, das sozial definierte Verhältnis von Kindern zu Erwachsenen. Kinder seien damit auch der Teil der Menschheit, der fast generell am falschen Ort sei: im Schlafzimmer der Eltern, in Vaters Sessel, in der Kneipe oder beim Überqueren einer belebten Straße. In diesem Sinne seien sie Unkraut, denn es sei Gärtnerfolklore, dass jenes Kraut ein Unkraut sei, das am falschen Ort wachse – so äußert sich Jenks (1998) ironisch zu der räumlichen Ordnung der Kindheit.
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Macht im Elternhaus ist nicht auf emotionale Einflussnahme und raumzeitliche Kontrolltechniken begrenzt, sie wird auch brachial ausgeübt. Das Elternhaus ist ein gefährlicher Raum, vor allem für kleine Kinder. Die Zahlen der physischen, psychischen und sexuellen Misshandlung von Kindern sind erschreckend hoch und zumindest eine dieser Formen der Misshandlung betrifft nach verschiedenen Berechnungsmethoden in den Ländern Westeuropas und den USA etwa ein Viertel der Kinder. Gerade darüber scheinen nun wenige Informationen an die Öffentlichkeit zu dringen, trotz der kritischen Überwachung, der sich Familien ausgesetzt sehen. Seltener als Delikte gegenüber anderen Familienmitgliedern kommen nämlich die an den Kindern begangenen zur Anzeige. Damit ist nun am Ende dieser Ausführungen die maximale Distanz zum idyllischen Anfang erreicht. Aber gerade dies kennzeichnet den Ort des Privaten, »er ist heimelig. Doch er ist auch die Sphäre des Heimlichen. Im Privaten findet sich verdichtet, was uns am kostbarsten ist, was nur uns selbst betrifft, was man nicht sehen lassen kann und nicht zeigen darf, weil es so gar nicht dem Schein entspricht, den in der Öffentlichkeit zu wahren uns die Ehre gebietet« (Duby 1989, S. 8). Doris Bühler-Niederberger Literatur Bourdieu, Pierre und Jean-Claude Passeron (1964), Les Héritiers. Les étudiants et la culture, Paris: Les éditions de minuit (dt. Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs, Stuttgart 1971). Bühler-Niederberger, Doris (2016), Kindheit und Ungleichheit – Kritik einer Defizitrethorik, Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 11(3), S. 287-300. Donzelot, Jacques (1980), Die Ordnung der Familie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Duby, Georges (1989), Vorwort, in: Geschichte des privaten Lebens. Vom Römischen Imperium zum Byzantinischen Reich, hg. v. Paul Veyne, Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 7-14. Jenks, Chris (1998), Childhood and Social Space. Examples from the UK, in: Children and Childhood in Our Contemporary Societies, hg. v. Deepak Kumar Behera, Delhi: Kamla-Raj, S. 91-109. Martin-Fugier, Anne (1992), Riten der Bürgerlichkeit, in: Geschichte des privaten Lebens. Von der Revolution zum großen Krieg, hg. v. Michelle Perrot, Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 201-266 .
Flüchtlingsheim
Flüchtlinge sind heimatlos gewordene Menschen, in vielen Fällen auch Menschen, die nie einen Ort hatten, den sie ihre Heimat nennen konnten. Die Wohnorte, die ihnen nach ihrer Ankunft in Deutschland dann zugewiesen werden, sind auch nur mit einiger Mühe als Heime beschreibbar. Denn es handelt sich zunächst um lagerartige Massenunterkünfte, die zweifellos kein Gefühl der Beheimatung aufkommen lassen. Wenn von Heimen die Rede ist, dann transportiert dies generell eine hoch ambivalente Bedeutung: Heime sollen einerseits ein Ort der Geborgenheit und Sicherheit für diejenigen sein, die kein privates Zuhause haben. Heime sind demnach mehr als bloße Behausungen, die nur das alltäglich Notwendige für Schlafen, Essen und Hygiene zur Verfügung stellen. Sie sollten auch ein Raum der Beheimatung sein. Als Heime werden anderseits aber auch öffentliche Einrichtung bezeichnet, deren Aufgabe die Versorgung, Betreuung und Kontrolle derjenigen ist, die auf öffentliche Fürsorge angewiesen sind und – so im Fall von Obdachlosenheimen oder sozialpädagogisch betreuten Heimen für Kinder und Jugendliche – als Angehörige einer sogenannten Problemgruppe gelten. Heime sind so betrachtet uneindeutige soziale Orte, weder private Wohn- und Lebensräume, in denen sich die Bewohner/innen nach eigenen Bedürfnissen einrichten und sich eine kleine Heimat schaffen können, noch Kontrollinstitutionen wie Gefängnisse oder geschlossene Psychiatrien, die durch umfassende Überwachung und Kontrolle bestimmt sind. Diese Ambivalenz ist für Flüchtlingsheime in besonderer Weise bedeutsam. Denn Flüchtlinge benötigen nach ihrer Einreise nicht nur eine Unterkunft, die ihr physisches Existenzminimum – einen Schlaf- und Essplatz, Schutz vor Regen und Kälte, Möglichkeiten für Körperhygiene – gewährleistet, sondern auch einen Ort, der es ihnen ermöglicht, sich nach einer oft langen, anstrengenden und gefährlichen Reise zu erholen, zur Ruhe zu kommen und auf ein Leben unter veränderten Bedingungen einzustellen. Im Idealfall wären Flüchtlingsheime also tatsächlich Räume, die als Orte einer ersten neuen Beheimatung nach der Flucht
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erlebt werden könnten, Orte, die durch eine Atmosphäre des Willkommens, des Schutzes und der Geborgenheit gekennzeichnet sind. Dies müsste auch »kindgerechte Wohnverhältnisse, die Rückzugs- und Spielorte bereithalten« umfassen sowie eine ausreichende Zahl von Stellen für Mitarbeiter/innen, die für die pädagogische Arbeit mit Kindern qualifiziert sind und »über ein fachliches Repertoire verfügen, das ihnen hilft, sensibel mit Trauma-bedingten Bedürfnissen der Kinder umzugehen« (Bostanci et al. 2018, S. 2). Realiter aber unterliegt die Ausgestaltung der Erstaufnahmeeinrichtungen, in denen erwachsene Geflüchtete, aber auch Familien mit ihren Kindern in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft untergebracht werden, einem Primat der administrativen Kontrolle und Regulierung. Es handelt sich um Massenunterkünfte, in denen Flüchtlinge unter Bedingungen räumlicher Enge möglichst effektiv und kostengünstig verwaltet werden sollen. Der Alltag dort ist durch Eingangs- und Auslasskontrollen, räumliche Enge in Mehrbettzimmern oder Schlaflagern, Massenabfertigung bei der Essensausgabe, fehlende Rückzugsräume und strikte Regulierungen in nahezu allen Lebensbereichen gekennzeichnet. Die Beschreibung solcher Einrichtungen als »Lager« und » totale Institutionen« (vgl. Goffman 1973; Pieper 2013) ist polemisch zugespitzt, weist aber treffend darauf hin, dass es hier nicht um die Beheimatung Geflüchteter, sondern vor allem um ihre Kasernierung für Verwaltungszwecke geht. Deshalb ist es Flüchtlingen in den ersten Phasen ihres Aufnahmeverfahrens auch nicht erlaubt, eine private Wohnungen zu beziehen oder zum Beispiel bei Verwandten und Bekannten unterzukommen: Der Zugriff der Verwaltung auf Flüchtlinge, ihre Verfügbarkeit für medizinische Untersuchungen, Anhörungen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und ggf. auch der Zugriff der Abschiebebehörden und der Polizei soll sichergestellt werden. Hinzu kommt, dass es durchaus nicht beabsichtigt ist, durch eine vermeintlich allzu großzügige Behandlung Anreize für den Nachzug weiterer Flüchtlinge zu setzen. Im Gegenteil war ein wichtiges Motiv für die Einrichtungen solcher Massenunterkünfte in Deutschland die Abschreckung. Im Kontext der Einführung verbindlicher Wohnsitzzuweisungen Anfang der 1980er-Jahre formulierte dies der damalige Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg Lothar Späth in einer drastischen Sprache, die den Duktus vorwegnimmt, der gegenwärtig von der AfD gesprochen wird: »Die Buschtrommeln sollen schon in Afrika signalisieren: Kommt nicht nach Baden-Württemberg, dort müsst ihr ins Lager.« (zitiert nach Wendel 2010, S. 1) Deshalb werden Geflüchteten in vielen Bereichen auch möglichst geringe Leistungen zugestanden: Ihnen werden in Erstaufnahme- und Gemeinschaftsunterkünften maximal 7 m2 Wohnraum pro Person zur Verfügung gestellt. Das heißt konkret: Mehrere Personen müssen sich einen
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einzigen Raum teilen, der tagsüber für Wohnen, nachts für Schlafen genutzt wird. Dies schließt auch die Trennung der Schlafräume von Eltern und Kindern, Jungen und Mädchen aus. Gemeinschaftsküchen sowie gemeinsame Duschen und Toiletten sind üblich. Das Asylbewerberleistungsgesetz legt zudem fest, dass Flüchtlingen in den ersten Monaten weniger als das soziokulturelle Existenzminimum zusteht, das anderen Sozialleistungsbezieher/innen zu gewähren ist, und bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens sind medizinischen Leistungen auf das zwingend Erforderliche begrenzt. Noch bis 2015 war die maximale Dauer des Verbleibs in einer Erstaufnahmeeinrichtung auf drei Monate begrenzt. Dies galt und gilt aber nicht für die Gemeinschaftsunterkünfte, in denen Geflüchtete danach oft für viele Jahren verbleiben müssen, wenn keine politische Bereitschaft zur dezentralen Unterbringungen in Wohnungen und/oder im lokalen Kontext ein Mangel an kostengünstigem Wohnraum besteht. Die konkrete Ausgestaltung der Unterbringungssituation in solchen Gemeinschaftsunterkünften wird durch die Flüchtlingsaufnahmegesetze und Verordnung der Bundesländer uneinheitlich reguliert (vgl. Wendel 2014). Typisch sind beengte Wohnverhältnisse auf einem umzäunten Gelände in ungünstiger Lage. Eine Expertise fasst zentrale Aspekte der damit einhergehenden Problematik wie folgt zusammen: »Wohlfahrtsverbände, Flüchtlingsrechtsorganisationen und die Kirchen fordern seit Jahren bundesweite verbindliche Mindeststandards für Gemeinschaftsunterkünfte. Gefordert werden ausreichend Wohnraum pro Person, die Wahrung der Privatsphäre und die Gewährleistung von Sicherheit sowie ausreichender Platz in Gemeinschaftsräumen. Außerdem wird gefordert, Gemeinschaftsunterkünfte nicht an Standorten ohne ausreichende Infrastruktur, wie Anbindung an den Nahverkehr, Schulen oder Einkaufsmöglichkeiten, einzurichten. […] Alleinstehende Frauen und sexuelle Minderheiten genießen in den Gemeinschaftsunterkünften bislang keinen besonderen Schutz vor (sexueller) Gewalt oder Diskriminierung ….« (Robert Bosch Expertenkommission 2016, S. 12)
Dass ein Leben unter solchen Bedingungen gerade auch für Kinder mit erheblichen Belastungen einhergeht, ist offenkundig, denn der Schon- und Schutzraum, den Familien und ihr privater Wohnraum gerade auch für Kinder bieten sollen, ist nicht gewährleistet. Nicht nur tagsüber fehlt ein Platz, um in Ruhe zu spielen oder Hausaufgaben zu erledigen. Die dichte Belegung mit Menschen mit einem unterschiedlichen Tagesrhythmus führt oft auch zu nächtlichen Ruhestörungen. Das Zusammenleben vieler Menschen, die sich nicht kennen und oft auch keine gemeinsame Sprache haben, ist zudem in besonderer Weise konfliktträchtig.
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Vor dem Hintergrund der immer wieder artikulierten Kritik an den Zumutungen einer Unterbringung, die alle für Normalbürger/innen geltenden Standards unterschreitet, wäre zu hoffen gewesen, dass der Rückgang der Flüchtlingszahlen nach der Ausnahmesituation der Jahre 2016 und 2017 dazu führt, dass nunmehr stärker auf eine möglichst frühzeitige Versorgung mit Wohnungen gesetzt wird. Tatsächlich aber ist das Gegenteil der Fall: Durch das »Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht« wurde 2017 die Möglichkeit geschaffen, den Verbleib in Erstaufnahmelagern auf bis zu 24 Monate auszudehnen. Die dahinter stehende Absicht wird im Titel des einschlägigen Gesetzes deutlich: Es sollen bessere Möglichkeiten geschaffen werden, Geflüchtete, denen rechtlich kein Anspruch auf Aufnahme zugesprochen wird, leichter aus dem Land schaffen, sie abschieben oder zur »freiwilligen« Ausreise zwingen zu können. Dazu sollen Flüchtlinge von der übrigen Bevölkerung isoliert untergebracht werden. Denn soziale Kontakte führen vielfach dazu, dass sich einheimische Bürger/innen mit Geflüchteten, denen einen Aufenthaltstitel verweigert wird, solidarisieren und sich drohenden Abschiebungen widersetzen. Es geht bei der Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen also nicht zuletzt darum, Geflüchtete von der übrigen Bevölkerung zu isolieren und dadurch ihre Abschiebbarkeit zu gewährleisten. Dahinter steht nachweisbar die Einsicht, dass Begegnungen mit Geflüchteten zu Empathie und Solidarität und dann auch zu Widerständen gegen Abschiebungen führen können – und genau das soll verhindert werden (vgl. Scherr 2017). In den Vorhaben der seit 2018 amtierenden Bundesregierung ist die Weiterentwicklung einer Unterbringungspolitik vorgesehen, die auf sozialräumliche Isolierung und Entsolidarisierung zielt: Alle Flüchtlinge sollen künftig zunächst für bis zu 18 Monate in sogenannten »AnKER-Einrichtungen« (Ankunft, Entscheidung, kommunale Verteilung bzw. Rückführung) untergebracht werden, die auch Orte der Selektion sein werden. Aus diesen zentralen Einrichtungen heraus soll nicht nur die Verteilung von Flüchtlingen auf die Kommunen erfolgen, sondern auch die Abschiebung derjenigen, denen die Anerkennung als Flüchtling verweigert wird (Koalitionsvertrag 2018). Um dies wirksam realisieren zu können, wird es erforderlich sein, verstärkte Kontrollmaßnahmen durchzusetzen. Denn was für die einen der Ort einer ersten Beheimatung sein soll, wird für die anderen der Ort sein, den sie nicht verlassen dürfen, damit sie sich einer anstehenden Abschiebung nicht entziehen können. Dass eine Unterbringung in umzäunten Massenunterkünften nicht alternativlos ist, zeigt die bisherige Praxis im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Bei diesen wird auf der Grundlage der UN-Kinderrechtskonvention – im Unterschied zu Kindern und Jugendlichen, die in Begleitung ih-
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rer Eltern einreisen – von einem Vorrang des Kindeswohls gegenüber Kalkülen der Migrationskontrolle ausgegangen. In der Folge werden sie durch die Jugendämter in Obhut genommen und in sozialpädagogisch betreuten Jugendheimen und Wohngruppen untergebracht. Es handelt sich um kleinere Einrichtungen, in denen versucht wird, den individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden. Geleitet werden diese von pädagogischen Fachkräften – also nicht von Verwaltungsbeamten. Die Belegung von Zimmern mit einer oder zwei Personen ist die Regel und die Mitbestimmung bei der Gestaltung des Zusammenlebens ein anerkanntes Prinzip. Künftig aber soll dies anders werden: Bis zur Entscheidung über ihre Bleibeperspektive sollen auch unbegleitete Minderjährige in den AnKEREinrichtungen verbleiben. Ob es jedoch gelingen wird, diese Pläne tatsächlich umzusetzen, ist gegenwärtig nicht abzusehen. Auch bei der Ausgestaltung der Gemeinschaftsunterkünfte, in denen Flüchtlinge nach dem Verlassen der Erstaufnahmeeinrichtungen oft über mehrere Jahre wohnen, wenn es nicht gewollt oder aufgrund der lokalen Situation auf dem Wohnungsmarkt nicht möglich ist, dass sie in eine eigene Wohnung wechseln, gibt es erhebliche Entscheidungsspielräume. Sie sind – je nach Größe und Ausstattung und in Abhängigkeit von den Vorgaben der zuständigen Politik und Verwaltung – mehr oder weniger auf Kontrolle, Verwaltung und Disziplinierung ausgerichtet, mehr oder weniger dazu geeignet, ausreichende Räumlichkeiten, eine Privatsphäre und eine eigenverantwortliche Gestaltung des Alltags zu ermöglichen. Eine zwangsweise Unterbringung in Flüchtlingsheimen, die lagerartige Großeinrichtungen sind, führt zu Entmündigung und Passivierung der Bewohner/innen in Verbindung mit Belastungen, die aus dem Zusammenleben einer großen Zahl von Menschen unter Bedingungen räumlicher Enge resultieren. Deshalb ist die Zuweisung in Erstaufnahmelager nur für eine kurze Phase direkt nach der Einreise rechtfertigbar, um erforderliche medizinische und administrative Prozeduren zu erleichtern. In der Phase der Zuwanderung einer unerwartet großen Zahl neu ankommender Flüchtlinge in den Jahren 2014 bis 2016 war die Schaffung von Gemeinschaftsunterkünften eine zunächst alternativlose pragmatische Notlösung, um überhaupt ausreichenden Wohnraum bereitstellen zu können. Inzwischen wäre es möglich, bestehende Einrichtungen zu Gunsten einer dezentralen Unterbringung in privaten Wohnungen aufzulösen. Insbesondere für neu ankommende Flüchtlinge ist dies aber im Interesse der Migrationskontrolle politisch nicht gewollt. Heime, in denen Geflüchtete kaserniert sind und verwaltet werden, sollen deshalb nicht abgeschafft, sondern als Instrument der Kontrolle beibehalten und zudem als Abschiebezentren genutzt werden. Niemand behauptet, dass das Leben in solchen Einrichtungen dem Kindeswohl zuträglich ist.
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Das Gegenteil ist allzu offenkundig. Aber das Wohlergehen von Geflüchteten ist politisch auch in Fragen der Unterbringung nur ein nachrangiger Gesichtspunkt. Albert Scherr Literatur Bostancı, Seyran, Sarah Fichtner, Thi Huyen Trang Le, Hannah Rosenfeld, Evelyn Schulz-Algie, Penelope Scott, Trần, Hoa Mai, Petra Wagner, Anne Wihstutz und Clara Zimmer (2018), Forschungsprojekt Alltagserleben von jungen Kindern in Unterkünften für geflüchtete Menschen. Positionspapier, Berlin: https://inib-berlin.de/images/doc/positionspapierfeb2018.pdf (Juni 2018). Bundesgesetzblatt (2017), Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht von 20. Juli 2017. Expertenkommission zur Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik (2016), Themendossier Unterbringung und Wohnen von Flüchtlingen, www.bosch stiftung.de/content/language1/downloads/RBS_Kommissionsbericht_Unterbr ingung_Wohnen_ES.pdf. Goffman, Erving (1973), Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Pieper, Tobias (2013), Die Gegenwart der Lager. Zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik, Münster: Westfälisches Dampfboot. Scherr, Albert (2017), Die Abschwächung moralischer Empörung – Eine Analyse politischer Reaktionen auf zivilgesellschaftliche Proteste gegen Gesetzesverschärfungen und Abschiebungen, Zeitschrift für Flüchtlingsforschung 1(1), S. 88-105. Wendel, Kay (2010), Residenzpflicht abschaffen, https://antifainfoblatt.de/artikel /residenzpflicht-abschaffen (Juni 2018). Wendel, Kay (2014), Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland. Regelungen und Praxis der Bundesländer im Vergleich, Frankfurt am Main: Pro Asyl.
Freizeitpark
Der Freizeitpark lebt wie andere Orte des Besonderen davon, ein Gegenort zum Alltag zu sein. Das gilt heute auch und insbesondere für Kinder mit ihrem teilweise durchgetakteten Zeitplan von Lern- und Sportaktivitäten oder kultureller Bildung. Ein Gegenort zum Einerlei des Alltags war schon die Kirmes, die »Mutter« vieler Freizeitparks und der Ort des Festes in der kleinen europäischen Stadt – ein Raum, der Rausch und Rummel versprach und damit die zeitweise Aufhebung von Begrenzungen und Regeln der alltäglichen Gemeinschaft, ein Ort zum Kennenlernen und des Übergangs. Noch heute gilt der Freimarkt in Bremen als die »fünfte Jahreszeit«, eingebunden in den Jahresverlauf der Stadtkultur und vertrauter geselliger Treffpunkt mit Fahrgeschäften, Bayernzelt, Schaustellern und Trubel. Demgegenüber ist der Freizeitpark die heute überaus beliebte, allzeit verfügbare Gegenwelt zum Wohnumfeld, zu Schule und Elternhaus, zu alltäglichen Mustern der Zeitverwendung und der kindlichen Medienwelt. Es ist ein Sehnsuchtsort und eine Bühne der kleinen Gemeinschaft, der Clique, der Freundes-
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gruppe und der Familie. Davon später mehr. Thematisiert wird der Freizeitpark in diesem Beitrag als bedeutender Raum der Kindheit unter den Gesichtspunkten Konsum und Teilhabe, als ein traumhafter Spielplatz, der Angst-Lust stimuliert, sowie als Ort für das Selbsterleben und die Selbstbildung in kleinen Gemeinschaften. Junger Konsum und Teilhabe Man muss sich den Freizeitpark auch leisten können. Er ist fester Bestandteil einer entwickelten Erlebnisgesellschaft, die warenförmige, eben inszenierte Erlebnisse in einem rational geplanten und arrangierten Setting bereithält. Hier geht es um »experience economy«, wie die Analysen zahlreicher Autoren und Autorinnen herausstellen, die den Aufstieg des Produkts »Freizeitpark« seit den 1970erJahren begleitet haben. »Gibt’s auch was zu essen?«, ist die ganz selbstbewusste Frage junger Parkbesucher an die erwachsenen Begleiter kulturgesinnter oder unterhaltungsorientierter Tagesausausflüge. Und wie! Könnte man sagen. Junge Konsumenten werden umworben im multioptionalen Szenario Freizeitpark. Sie sind König beziehungsweise Königin für einen Tag oder zwei. Das Modell des pauschalen Eintrittspreises unterscheidet dabei den Freizeitpark von der Kirmes mit seinen Einzeltickets an den Fahrgeschäften. Aber ansonsten ist dem weiteren Konsum Tür und Tor geöffnet. Auch davon leben die Parks, eben von der Lust auf Eis und Cola, Pommes und Burger, Kuchen oder Zuckerwatte. Objekte der Begierde aller Art, wie Maskottchen, Andenken und Promotion-Artikel wollen zudem mitgenommen werden in das heimische Kinderzimmer. Der Freizeitpark ist auch eine Wunscherfüllungsmaschine, ein Kaufhaus der kleinen und großen Erlebnisse, mit denen heute zunehmend auch Großeltern ihre Nachfahren verwöhnen wollen, und natürlich auch Familien in unterschiedlichen Konstellationen. Ein junges Publikum übt sich ein in den Erlebniskonsum, während die ältere Generation vielleicht noch ihren Erinnerungen an den »Märchenpark« früherer Zeiten nachhängt. Der Freizeitpark ist leicht und verführerisch auf dieser Seite, und daher schmerzt ein Ausgeschlossen-Sein von diesen Räumen der entwickelten Erlebnisgesellschaft, wie es Kindern von Alleinerziehenden oder Migranten heute schnell passieren kann, vielleicht besonders. Er ist ein Stück Lebensqualität im kindlichen Alltag. Unendlicher Spielplatz Museale Welten sind langweilig, ist ein schnell gefasstes Urteil junger Besucher, und dies liegt nicht zuletzt an einem fixierten Rundgang von Epoche zu Epoche. Selbstgesteuerte Erkundung, von spontanen Interessen geleitet und angetrieben
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durch den Hunger nach Abenteuern, kennzeichnet dagegen die Raumerschließung im Freizeitpark. Die Eltern sind vielleicht noch mit dem Parkplan beschäftigt und versuchen Standort und Verbindungen in dem verwirrenden Geflecht von Möglichkeiten zu erfassen. Die etwas älteren Kinder haben ihren Weg schon gefunden, stöbern, vagabundieren oder schlendern im besten Sinne von Attraktion zu Attraktion. Wo gibt es ein Erlebnisversprechen? Welches Arrangement signalisiert »Angst-Lust« und Nervenkitzel? Welche Themen aus Filmen oder Comics wecken Emotionen und Begeisterung? Und wie kommen wir aus diesem Labyrinth der Verlockungen wieder heraus? Dies alles geschieht in einem Raum relativer Sicherheit und Sauberkeit, ebenfalls eine Leistung der Parks, die auf die grundlegenden Ideen von Walt Disney zurückgeführt werden kann. Der Freizeitpark ist ein Gegenort, der auch mit dem gesellschaftlich Randständigen, den Geistern und Gespenstern, spielerisch umgehen kann und auch aus dem Düsteren heraus überraschend familienfreundliche Angebote zaubert. Die großen Freizeit- und Themenparks präsentieren sich heute als komplexe Anlagen, die das alte Motiv »Spaß haben«, das schon die Menschen auf die Kirmes trieb, in immer neuer Weise auslegen können, mit Achterbahnen und Shows, Gastronomie und Tiergehegen. Und hierzu gehören nicht zuletzt große und kleine Spielplätze für Kinder und Familien, einer der Kernzielgruppen der Parks. Dabei geht es schon lange nicht mehr nur um »Rutsche, Sandkasten, Schaukel und Klettergestell« – dem Zerrbild eines wenig gepflegten und lieblos zusammengestellten Areals für Kleinkinder im Wohnumfeld. Spielplätze in Freizeitparks werden heute einbezogen in die umfassende Erlebnisinszenierung. Dies betrifft vor allen Dingen die Thematisierung, das heißt die Gestaltung entlang einer verbindenden »Story« (fremde Kulturen, Technik, Geschichte). Der Spielplatz mit vertrauten Grundformen erhält so eine zweite Ebene von Bedeutungen, und nicht selten ist damit eine Emotionalisierung verbunden. Die Rutsche startet vielleicht in einer Burg, nicht auf einem nüchternen Gestell. Kletterelemente verbinden einzelne Türme. Röhren führen in den Untergrund (Verlies) und wieder hinaus usw. Kulturelle Elemente, wie Symbole, Architektur oder Projektionen, steigern die Komplexität der Anlagen und führen, wenn es gelingt, zu einer Fantasiewelt der besonderen Art. Insofern findet eine Entgrenzung statt: Spielplatz und Themenwelt durchdringen sich. Ein Freizeitpark für Kinder braucht vielleicht nicht viel mehr als einen wunderbaren (unendlichen) Spielplatz, um Familien glücklich zu machen. Ich-Erlebnis in Gemeinschaft Der gut gemachte Freizeitpark stimuliert zugleich das individuelle und das gemeinschaftliche Erleben. Das Ergebnis ist ein eigentümlicher Geräuschpegel aus
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Schreien, Juchzen, Lachen und gegenseitiger Animation im Flow-Erleben und Kraft tanken. Stimulierend in diesem Sinne ist schon der Wartebereich eines großen Fahrgeschäfts: Er führt an die Fahrattraktion, beispielweise eine Holzachterbahn im Stil eines historischen Sägewerks, heran, stimmt die Besucher ein, lässt den Adrenalinpegel steigen und eröffnet eine Bühne für Mutproben, emotionale Bewährungen, kleine Kämpfe mit sich selbst und große Erleichterung nach überstandener Schussfahrt durch das Gewirr von Balken, einzelnen Gebäudeteilen oder scheinbaren Kreuzungen. Das Erlebnis auf der Achterbahn ist ein Selbst-Erleben, es mobilisiert die Sinne, ist eben »Angst-Lust«. Man weiß ja, dass es in der Regel gut ausgeht, es ist eine Ingenieurleistung, die dahinter steht, trotzdem flößen die Sicherheitsrituale und das Ambiente der Thematisierung Respekt ein. Sie verlangen bestimmte Verhaltensweisen, die gern angenommen werden, zum Beispiel Disziplin in der Warteschlange, und geben dem Ganzen mitunter einen quasisakralen Anstrich. Was nehmen die Kinder davon mit in ihren Alltag? Geben sie sich »cool« und unbeeindruckt oder erzählen sie aufgeregt von ihren Abenteuern? Wollen sie wieder und wieder den »Freefall« bezwingen, bis das Erlebnis nachlässt und es gewöhnlich wird? Gut gemachte Fahrgeschäfte im Freizeitpark verstärken die gemeinschaftlich geteilten Emotionen. Gemeinsam können Eltern und Kinder viele Fahrgeschäfte nutzen. Man schaut sich an bei der schlenkernden Fahrt durch den WildwasserStrudel und teilt die Erfahrungen. Gemeinschaftsgefühle sind heute der Kitt für die brüchiger werdenden Familienstrukturen. Angegriffen durch berufliche Mobilität, Verlust an gemeinsamer Zeit und Gleichgültigkeit, dient der Freizeitpark als Projektionsfläche für positive Familienbilder und bietet einen Spiegel für tatsächliche und mögliche Beziehungen. Und trotz aller Stressoren in diesem quirligen Umfeld gelingt es vielen Familien, sich selbst in diesem Umfeld zu konstituieren und ihre Beziehungen zum Ausdruck zu bringen, quasi als eigene Performance, als Erlebnisgemeinschaft auf Zeit. Warum sollten sie sonst wiederkommen wollen und in so hohem Maße, wie bekannt, einen Besuch in eben diesem oder jenem Freizeitpark empfehlen? Traumwelt zwischen Thrill und Zauberland Freizeitparks sind heute raum-zeitliche Gebilde mit einer starken inneren Differenziertheit. Zwischen Thrill und Zauberland entwickeln sie eine hohe Erlebnisdichte mit vielgestaltigen Möglichkeiten für die Freizeitgestaltung. Die Vielfalt und Komplexität heutiger Erlebniswelten wird häufig unterschätzt, und sie gewinnt durch den Prozess der Thematisierung eine Tiefe, die Möglichkeiten für eine Weltaneignung im weitesten Sinne eröffnet. Dabei werden Träume, Wünsche und Hoffnungen angesprochen, auch schon bei Kindern. Sie erinnern an
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Filmszenen, Comics und Märchen, arbeiten mit archaischen Mythen oder stellen alltagskulturelle Schemata verschiedener Länder und Regionen heraus. Freizeitparks wurden vor Jahren noch wegen ihrer Künstlichkeit gescholten und von der Kulturkritik verunglimpft. Seit einigen Jahren ist stärker ihre Vorreiterfunktion erkennbar. Sie strahlen aus auf die Gestaltung von Zoos, Museen oder auch Einkaufszentren. Unterhaltung ist als essenzielle Komponente im Freizeitsektor immer mit dabei. Es geht bei modernen hybriden Konzepten immer auch um gute Unterhaltung und eine emotionale Ansprache. Ein erlebnisorientierter Synkretismus integriert viele Künste und schafft fantastische Events mit hoher Ausstrahlung. Freizeitparks sind dabei nicht statisch, sie entwickeln sich als besucherorientierte Dienstleistungsunternehmen, die emotional grundierte Erinnerungen produzieren, immer noch weiter. Erkennbar ist zum einen eine räumliche Verdichtung nach innen, das heißt eine Komplexitätssteigerung bei der Aufbereitung von Themen und der Schaffung von Angebotsoptionen. Die Integration neuer digitaler Technologien (zum Beispiel Virtual Reality auf der Achterbahn) verspricht hier gerade einen neuen Innovationsschub. Hinzu kommen neue thematische Parkteile, eine Erweiterung von Anlagen und eine räumliche Ausdehnung nach außen, falls der Standort es ermöglicht. Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre und auch die Zukunftsaussichten werden von der Freizeitpark-Branche überaus optimistisch eingeschätzt. Der Erfolg beim Publikum gibt ihnen Recht. Damit einher geht eine Ausdehnung der Erlebniszeit, auch in die Nacht hinein. Die großen Anlagen in Deutschland verfügen heute über thematisierte Hotels, angegliederte Camps, Baumhäuser oder andere individuell und liebevoll gestaltete Übernachtungsmöglichkeiten. Der Freizeitpark, wie wir ihn kannten, hat sich damit vom Nutzungsmuster »Tagesausflug« zu einer Destination für attraktive »Kurzreisen« über zwei oder drei Tage entwickelt. Das schafft auch neue Räume für Kinder: Übernachten in einer Burg, in einem Piratenhotel oder in einem wunderlichen Baumhaus. Wer will da schon zu Hause bleiben? Stattdessen geht es in zwei Tagen um die Welt – zumindest gedanklich. Nicht-Lernort mit hohem Sozialisationsfaktor Verschiedene Phasen der sozialwissenschaftlichen Begleitung des Phänomens »Freizeitpark« in Deutschland lassen sich ausmachen. Zunächst ging es um eine Einordnung des neuen Typs von Freizeiteinrichtung mit seinen vielen Optionen in die Tradition besonderer Orte der Freizeitkultur und die kritische Würdigung der spezifischen Inszenierung, eben als »künstliche Erlebniswelten«. In einer zweiten Phase der Beobachtung wurden die Leistungen der Parks für die Gesellschaft insgesamt oder einzelne Segmente der Wirtschaft herausgestellt. Deutlich
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wurde in den Analysen die potenzielle Rolle als Orte der Wissenschaftskommunikation mit einem erlebnisorientierten Ansatz. Davon ausgehend erscheint informelle Bildung in Erlebniswelten heute durchaus selbstverständlich. Wissenschaftsevents und erlebnisorientierte Mitmach-Ausstellungen wenden sich heute an Schülergruppen und Familien. Freizeitparks sind in diesem Sinne erlebnisorientierte Lernorte, aber nicht unbedingt aus Sicht der lernenden Subjekte. Aus der Sicht der Kinder sind es Nicht-Lernorte, in denen ein Freiraum von den Zumutungen der Schule aber auch der häuslichen Erziehung vermutet wird. Welterschließung, funktionales Erlernen von Erlebnismustern oder auch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Interesse – all dies kommt als spielerische Erkundung, als erlebnisorientierte Selbstorganisation im Kontext des Freizeitparks daher. Darin liegt aber auch ein großes Potenzial für eine nicht-intentionale Interessenanregung. Schaut man sich einzelne Settings an, wird deutlich: Kopf, Herz und Hand sind im besten Sinne beteiligt. Woher kommen die Wünsche, sich mehr mit Tieren, Technik oder Geschichte zu befassen? Was stimuliert heute Kinder, ihre Erfahrungen zu vertiefen, sich selbstständig Wissen und Fertigkeiten anzueignen? Nicht immer ist es der Schulunterricht, dies zeigt die Alltagserfahrung – im Gegenteil. Manche Talente und Neigung werden früh verschüttet. Der Freizeitpark als Themenpark bietet hier einen anderen alternativen Einstieg in individuelle Lernwege vom Interesse zu Vertiefung und Kompetenz. Der Freizeitpark als Raum der Kindheit bietet darüber hinaus einen noch viel elementareren Rahmen für die kindliche Selbsterfahrung. Auf die Notwendigkeit einer Organentwicklung im Zusammenspiel mit passenden Sinnesreizen weisen schon Mitte des 20. Jahrhunderts die theoretischen Arbeiten und Entwürfe von Hugo Kükelhaus und Rudolf zur Lippe (1982) hin. Seine Erfahrungsfelder für die Gestaltung der Sinne sind quasi die Blaupause vieler Sinnesstationen in Freizeit- und Themenparks. Bewegung erfahren auf der Schiffschaukel, den eigenen Atem spüren und Balance halten, sind unmittelbare sinnliche Eindrücke, die ein Freizeitpark für Kinder und Begleiter bereithalten kann. Ein Bewusstsein vom Lernort Freizeitpark ist dafür nicht unbedingt erforderlich, gleichwohl kann dem Park ein hohes Sozialisationspotenzial zugesprochen werden. Renate Freericks und Dieter Brinkmann
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Literatur Brinkmann, Dieter (2018), Der Spielplatz im Freizeitpark, in: Playground@ Landscape. Internationales Fachmagazin für Spiel-, Sport- und Freizeitanlagen 3, S. 26-35. Foucault, Michel (1992 [1967]), Andere Räume, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hg. v. Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Richter, Leipzig: Reclam, S. 34-46. Freericks, Renate (2015), Erlebniswelten als inszenierte erlebnisorientierte Lernorte der Wissensgesellschaft, in: Handbuch Freizeitsoziologie, hg. v. Renate Freericks und Dieter Brinkmann, Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 671698. Freericks, Renate, Dieter Brinkmann und Heike Theile (2018), Freizeit- und Themenparks im Umbruch. Berufsfeldorientierte Fallstudien zu den Herausforderungen im 21. Jahrhundert, Bremen: Institut für Freizeitwissenschaft und Kulturarbeit (Unveröffentlichter Projektbericht). Kükelhaus, Hugo und Rudolf zur Lippe (1982), Entfaltung der Sinne. Ein Erfahrungsfeld zur Bewegung und Besinnung, Frankfurt am Main: S. Fischer. Nahrstedt, Wolfgang, Dieter Brinkmann, Heike Theile und Guido Röcken (2002), Lernort Erlebniswelt. Neue Formen informeller Bildung in der Wissensgesellschaft, Bielefeld: Institut für Freizeitwissenschaft und Kulturarbeit. Pine, B. Joseph und James H. Gilmore (1999), The experience economy. Work is theatre & every business a stage, Boston: Harvard Business School Press. Rieder, Max, Reinhard Bachleitner und Jürgen H. Kagelmann (Hrsg. 2004), Erlebniswelten: zum Erlebnisboom in der Postmoderne, München: ProfilVerlag. Steinecke, Albrecht (2009), Themenwelten im Tourismus. Marktstrukturen, Marketing-Management, Trends, München: Oldenbourg. Syring, Eberhard (1999), Raumerlebnis und Erlebnisraum. Untersuchungen zu einem avantgardistischen und zu einem postmodernen Raumbegriff in der Architektur (unveröffentlichte Dissertation).
Friedhof
Friedhöfe und die sich dort manifestierenden Bestattungskulturen sind Spiegel einer Gesellschaft und deren Veränderungen. Sie dienen der Bestattung der Toten und sind Orte der Trauer. Zusätzlich werden ihnen mehrere Sekundärfunktionen zugeschrieben: Sie liegen im kulturellen, historischen, sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen und privaten Bereich. Der Friedhof ist damit nicht nur ein Ort der Toten, sondern vor allem ein Ort der Lebenden. Er regt zur Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit an und ist somit auch ein komplexer kultureller Erfahrungsraum. Als solcher ist er wichtig für die Strukturierung eigener Erlebnisse und die Persönlichkeitsbildung (vgl. Wolf 2010). So betrachtet ist ein Friedhof eigentlich ein ganz normaler Ort. Durch verschiedene gesellschaftliche Prozesse wurde er parallel zur Tabuisierung des Todes im Verlauf der letzten Jahrhunderte jedoch zu einer Heterotopie. Im Sinne Foucaults setzen hier die Normen der gesellschaftlichen Alltagspraxis aus. Heterotopien sind nach eigenen
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Regeln strukturiert (vgl. Foucault 1993 [1967]). Im Falle des Friedhofs ist der kulturspezifische Habitus der Raumaneignung durch das normative Modell der Pietät bestimmt. So soll man sich als FriedhofsbesucherIn ruhig und bedächtig verhalten, um Respekt gegenüber den Verstorbenen und den (trauernden) FriedhofsbesucherInnen zu zeigen. Dies führt zu einem nach wie vor stark etablierten Modell gegenseitiger Verhaltenskontrolle, das das angemessene Benehmen sichert und Abweichungen sanktioniert. Dies macht den Friedhof zu einem denkbar unwahrscheinlichen Ort für Kinder. Denn Sterben und Tod sind auf eine Hinterbühne verlagert, von der auch Kinder ferngehalten werden. So werden die meisten Handlungen an und mit den Verstorbenen von professionellen AkteurInnen ohne Beisein der Angehörigen durchgeführt. Auf einer Vorderbühne findet meist nur noch die inszenierte Bestattung statt und selbst diese scheint in den Augen vieler Kindern nicht zumutbar (vgl. Goffman 2008 [1959]). Daher wird oftmals versucht, Kindern die Konfrontation mit Sterben, Tod, Trauer, Bestattung und Friedhof zu ersparen. Sie sollen geschont und nicht unnötig belastet werden. Zu diesen Vorstellungen gesellt sich zudem noch eine gehörige Portion Aberglaube, nach welchem ein Friedhofsbesuch Kindern oder auch Schwangeren Unglück bescheren könne. Letztlich ist der Friedhof für viele Menschen doch noch ein Ort der Toten und nicht der Lebenden. So halten sich Kinder auf dem Friedhof eher sporadisch und in Begleitung Erwachsener auf. Sie sind in ihrem Aktionsradius an die Wege der Erwachsenen, meist der Eltern, gebunden. Ein längerer Aufenthalt nach dem Besuch eines Grabes und der Grabpflege ist selten. Der kindliche Erfahrungsspielraum, den Friedhof als eigenen Ort kennenzulernen, ist daher sehr begrenzt. Zudem ist er ein Ort voller Fallen: »Sei leise, pflücke keine Blumen von den Grabflächen, steige nicht über oder auf Gräber und störe andere FriedhofsbesucherInnen nicht!« Das erweckt den Eindruck, Kinder werden auf Friedhöfen eher als Problem wahrgenommen. Dies machen mancherorts schon Hinweisschilder am Eingang der Friedhöfe deutlich, die Kindern bis zu einem gewissen Alter den Zutritt ohne Erwachsene untersagen. Die Altersgrenze scheint recht willkürlich zwischen sieben und vierzehn Jahren zu schwanken. Dabei bleibt offen, ob durch das Verbot die Kinder selbst, erwachsene FriedhofsbesucherInnen oder der Friedhof geschützt werden sollen. In den letzten Jahren werden jedoch immer wieder Zweifel geäußert, ob es richtig ist, Kindern die Auseinandersetzung mit dem Tod zu verwehren und damit auch den Zutritt zum Friedhof. Auch Kinder erleben Abschied und Trauer und müssen lernen, damit umzugehen. Wenn ihnen die Erfahrung vorenthalten bleibt, wird ihnen die Chance auf Lernprozesse verwehrt. So findet sich inzwischen eine recht beträchtliche Zahl an Veröffentlichungen, die für einen offenen
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Umgang mit dem Thema Tod gegenüber Kindern plädieren. Vieles davon kann der Ratgeberliteratur zugeordnet werden. Ein Großteil basiert auf praktischen Erfahrungen der AutorInnen, die sie in Bildungseinrichtungen oder im Rahmen von Trauerarbeit gesammelt haben. Schwerpunkte liegen darüber hinaus in den Bereichen Psychologie, allgemeine Pädagogik, Religionslehre und dem Schulfach Ethik, in dem die Themen Tod und Trauer curricular angesiedelt sind. Der Tenor sämtlicher Veröffentlichungen ist relativ ähnlich: Kinder können entsprechende Erfahrungen nur konkret, das heißt am Ort der Gräber eines Friedhofs machen. In der Praxis halten die meisten Eltern ihre Kinder aber eher vom Friedhof und der Thematik »Tod und Trauer« fern in der Hoffnung, ihnen damit etwas Gutes zu tun. Dabei verkennen Sie, dass Kinder dieser Thematik noch ungezwungen begegnen, und sich ihr am leichtesten annähern können, wenn sie Erfahrungen frühzeitig und am besten unabhängig von einem konkreten Trauerfall machen können (vgl. Franz 2002). Neben den angesprochenen Veröffentlichungen gibt es mittlerweile viele Projekte, die es sich zum Ziel machen, Kinder an die Thematik »Tod« heranzuführen und den Friedhof für sie erfahrbar zu machen. Es wird dabei versucht, Kinder vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebenswelt zu sehen und ihre Bedürfnisse zu berücksichtigen. So werden zum Beispiel in immer mehr Städten Friedhofsführungen speziell für Kinder angeboten. Die Angebote richten sich dabei entweder an bestimme Gruppen (Kindergärten, Schulen, Konfirmanden etc.) oder sind offen für alle Kinder. Das Kasseler Museum für Sepulkralkultur hat diesen Trend aufgegriffen und bietet ein eintägiges Seminar für FriedhofsführerInnen unter dem Motto »Wie erkläre ich Kindern einen Friedhof?« an. Eine spezielle Form von Kinderfriedhofsführungen findet rund um sogenannte Insektenfriedhöfe statt. Insektenfriedhöfe gibt es inzwischen auf mehreren Friedhöfen, unter anderem in Magdeburg, Dortmund oder Bergheim. Es handelt sich dabei um kleine Grabfelder, die zumeist von Kindergärten genutzt werden, um Kindern die Rituale rund um die Bestattung näher zu bringen. Die Kinder sollen tote Insekten sammeln, ihnen Namen geben, aus Streichholzschachteln Särge basteln und die Tiere anschließend feierlich beerdigen. So werden die Kinder spielerisch in gesellschaftliche Rituale im Umgang mit dem Tod eingeführt. Als besonders innovativ – aber ebenso umstritten – gilt das Projekt »Kinderwelten« auf dem Hauptfriedhof in Karlsruhe. Hier wurde 2012 ein Spielplatz auf dem Friedhofsgelände eröffnet. Die bisher einzigartigen »Kinderwelten« sollen eine kindgerechte Anlage darstellen, die das Erleben und die Gefühle von Kindern nachvollziehbar macht, die einen Todesfall erlitten haben. Dafür wurde ein eingehegtes Feld des Friedhofs zweigeteilt: in einen normalen Spielbereich mit Rutsche, Schaukel, Sandkasten und Kletterwand und in eine mit einer Brücke
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verbundene »Trauerwelt«, in der sich spiegelbildlich die gleichen Spielgeräte befinden, nur dass sie auf der »Trauer-Seite« nicht funktionieren. Der Sandkasten ist betoniert, die Schaukel fixiert und die Rutsche ist nicht mehr rutschig. Auf dieser Seite befinden sich Texte und Bilder von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen der im Rahmen betreuter Trauerbegleitung an den Friedhof angegliederten Trauergruppen. Es wird explizit auf einer einführenden Tafel darauf hingewiesen, dass man als Eltern seine Kinder nicht unbegleitet in die Trauerwelt gehen lassen soll und auf der hellen Seite auf Rücksichtnahme und Respekt gegenüber anderen FriedhofsbesucherInnen achten soll. Die »Kinderwelten« sind zwar für alle Kinder offen, richten sich jedoch speziell an geführte Schulklassen, denen die Trauer von Kindern nachvollziehbar gemacht werden soll. Die Hinführung von Kindern an die Welt des Friedhofs setzt in den Konzepten der Insektenfriedhöfe und der »Kinderwelten« ihre Anerkennung als Trauernde voraus. Sie sollen nicht vor der Konfrontation mit dem Tod bewahrt werden. Der Friedhof wird zwar nicht zu einer frei entdeckbaren Lebenswelt von Kindern, in der ihnen Raum gegeben wird, sich diesen Ort auf eigene Weise anzueignen, Sinn zu geben und zu entdecken, aber mittels spezieller Angebote doch zu einem besonderen Raum, dessen Inszenierung kindlichen Zugangsweisen zu Tod und Trauer entgegenkommen kann. Diese pädagogisch-begleiteten Spezialräume ermöglichen Kindern einen kontrollierten Zugang zu einem ansonsten hermetisch und atmosphärisch durch Pietät abgeschirmten sozialen Bereich. Die vorgestellten Projekte sind pädagogisch-erweiterte und spezialisierte Räume auf dem Friedhof. Sie sollen keine Lebenswelt für Kinder schaffen oder die Raumaneignung von Erwachsenen und Kindern verschränken. Aber sie sollen spezialisierte Lernorte sein, an denen trauernde Kinder Bestattungsrituale und deren Bedeutungen selbst kennenlernen und erschließen können. Auf Insektenfriedhöfen können Kinder mit toten Insekten »Beerdigung spielen« und auf Friedhofs-Spielplätzen Verständnis für die symbolischen Bedeutungen des Todes entwickeln. Die kindliche Präsenz auf Friedhöfen kann scheinbar nur darüber legitimiert werden, dass sie dabei auch etwas Sinnvolles und Hilfreiches lernen. So werden sie zwar auf einem Friedhof mit Tod und Trauer konfrontiert; sie erleben den Tod aber symbolisch und damit »sicher«. Während der Tod auf Insektenfriedhöfen als Abschiedsritus symbolisiert wird, erleben die Kinder ihn auf dem Friedhofsspielplatz durch die dysfunktionalen Spielgeräte im mechanischen Bild des Nicht-Funktionierens. Sie müssen also eine gute Portion Transferleistung erbringen, um aus einem dysfunktionalen Spielplatz einen Bezug zu lebenden und toten Menschen herzustellen. Der Spielplatz spricht eher ältere
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Kinder an und ist auf zusätzliche Unterstützung bei der Dechiffrierung durch Eltern oder Begleitpersonen angewiesen. Die meisten Menschen sterben nicht mehr zu Hause und werden über das Sterben hinaus auch nicht mehr von ihren Angehörigen begleitet. Entsprechend begegnen Kinder nur noch in Ausnahmefällen sterbenden und toten Menschen, und können in ihrem persönlichen Umfeld keine eigenen Erfahrungen sammeln. Spielplätze auf Friedhöfen und Insektenfriedhöfe sind daher auch Institutionen der Problemverschiebungen, denn sie ermöglichen keine tatsächlichen Erfahrungen mit dem Tod; aber sie erlauben eine symbolische Auseinandersetzung. So sind sie eher ambivalente Problemlösungsversuche, da sie nur eine vage Annäherung an spezifische Teile des Friedhofs ermöglichen. Kinder sollen zwar Tod und Trauer erfahren und dafür in die Rituale und den Friedhof eingebunden werden. Dadurch verlagern sich die Probleme und Widersprüche jedoch eher an diese Orte, als dass sie durch sie gelöst würden. Kindern werden bei Insektenfriedhöfen und Friedhofsspielplätzen zuvorderst Ersatzerfahrungen angeboten, was nur deshalb angemessen zu sein scheint, weil sie zumeist in reguläre Bestattungsabläufe wenig eingebunden sind und so ihre Trauer nicht am Leichnam, sondern (wenn überhaupt) auf dem Friedhof verortet wird. Die Insektenfriedhöfe und »Kinderwelten« erlauben zwar einerseits eine begrenzte eigenständige Raumnahme im Friedhof durch die Kinder, stabilisieren aber auch ihren Ausschluss, indem sie den legitimen Aufenthaltsort auf diese Spezialräume beschränken (vgl. für Spielplätze generell Hünersdorf 2014). Doch die Vorstellungen, Kinder vor der Konfrontation mit dem Tod bewahren zu müssen und die Verhaltenserwartung der Pietät halten Kinder viel mehr davon ab, Tod und Trauer auf dem Friedhof zu erleben, als dessen räumliche Gestaltung. Das Problem der Erfahrungsarmut ist nicht durch die Schaffung neuer Orte allein lösbar. Die Perspektive, Kinder (wieder) in Bestattungsabläufe einzubinden, stellt einerseits Ansprüche an unterschiedlichste Akteure der Sepulkralkultur, wie BestatterInnen, TrauerrednerInnnen aber auch die Eltern selbst und kann nur an vielen Stellen parallel bearbeitet werden. Andererseits stellen sich auch Ansprüche an die Friedhöfe als Ganzes. Kinderwelten und Insektenfriedhöfe sind so eher hilflose Versuche, eine neue Kultur der Lebendigkeit auf dem Friedhof zu etablieren, die jedoch an der etablierten Friedhofs- und Trauerkultur ihre Grenze findet und daran abprallt. Da Kinder Friedhöfe meist nur in Begleitung von Erwachsenen besuchen, kann ihre Einbindung eher durch eine Ausweitung der Nutzungsmöglichkeiten für Erwachsene erreicht werden. In dieser Richtung werden derzeit im Kontext der Sekundärfunktionen von Friedhöfen neue Konzepte des Friedhofs und der Friedhofsnutzung und deren Potential diskutiert. Diese Diskussionen finden meist im
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Rahmen des Konzepts des »lebendigen Friedhofs« oder des Friedhofs als Naherholungsort statt. Beide Ansätze wollen das vielfältige Potential der Friedhöfe jenseits von Tod und Trauer ausschöpfen. Gestaltete Naturräume oder kulturelle Angebote sollen dazu einladen, den Friedhof als besonderen Raum, der vielfältiges Erfahrungspotential bietet, kennen und schätzen zu lernen. Diese Konzepte entspringen in erster Linie aktuellen Veränderungen der Friedhofs- und Bestattungskultur, die zu Freiflächen auf den Friedhöfen und damit einhergehend wirtschaftlichen Einbußen führen. Aber sie stabilisieren nicht nur die Institution Friedhof, sondern sie öffnen den Friedhof nach außen und bahnen den Weg hin zu einem Friedhof, der nicht mehr nur ein Ort der Toten, sondern vor allem auch ein Ort der Lebenden ist. Durch diese Begegnung können Kinder den Friedhof wieder als beinahe »normalen« Ort erleben und den Tod als etwas kennen lernen, das zum Leben dazugehört. Marlene Lippok und Michael Lippok Literatur Foucault, Michel (1993 [1967]), Andere Räume, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hg. v. Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Richter, Leipzig: Reclam, S. 34-46. Franz, Margit (2002), Tabuthema Trauerarbeit. Kinder begleiten bei Abschied, Verlust und Tod, München: Don Bosco Medien. Goffman, Erving (2008 [1959]), Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper. Hünersdorf, Bettina (2014), Körper und Raum in der Sozialen Arbeit. Ein- und Ausschließungsprozesse auf dem Spielplatz, Sozial Extra 38(1), S. 25-28. Wolf, Michael (2011), Friedhofspädagogik. Eine Untersuchung im Kontext der Fragen nach erfülltem Leben, Tod und Ewigkeit, Wien: Lit.
Fußboden
Kalte Erde im Frühling: Bei den ersten warmen Sonnenstrahlen legt sie sich glatt und kühl unter meine Fußballen und Fersen. Kleine Kieselsteine drücken in die noch empfindlich weiche Haut, die so lange nichts anderes als Wolle und Polyester gespürt, und in stetigem Wechsel zwischen novembernasskalt und zimmerheizungswarm gefroren und geschwitzt hat. Das erste Mal barfuß zu sein, die Socken und Schuhe auszuziehen, ist jedes Jahr aufs Neue ein besonderer Moment – ein Moment des sich Verortens: Ich berühre den Boden, spüre die Jahreszeit, ertaste die Landschaft und fühle neuen Raum. Aufstehen Der Fußboden ist kein Raum. Der Fußboden ist eine zweidimensionale Fläche, in geometrischer wie auch aus metaphorischer Perspektive: Er ist einerseits grundlegend, andererseits banal. Der Fußboden ist eine vieldeutige Fläche, die
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Menschen – Erwachsene und Kinder – in einen Raum verwandeln können, indem sie ihn beleben und für andere erlebbar machen. In Nordeuropa verweilen Menschen selten auf dem Boden unter ihren Füßen. Ausnahmen sind gelegentliche, meist sommerliche Picknicks im Park, im Freibad oder am Strand. Auf dem Boden essen, liegen, spielen oder beten ist ansonsten Teil des Mythos exotifizierter Lebensweisen in fernen Regionen und historifizierter Verhaltensweisen des asketischen Lebens in früheren Zeiten. Ich erinnere mich an einen Moment einer Reise in Jodhpur, an Männer, die in einem Ladeneingang bei Chai und Kartenspiel auf dem Boden sitzen. Das Bild beeindruckte mich. Erstens, weil es scheinbar in Kontrast zu meinem Alltag steht, wo Ladeneingänge freigehalten werden, damit Kundschaft ungestört eintreten kann, und zweitens, weil Männer selten zu Tee und Spiel auf dem Fußboden zusammenkommen. Ähnlich hatte mich schon als Kind beim Besuch in einem Kloster die Tatsache beeindruckt, dass Mönche in früheren Zeiten auf dem Fußboden schliefen. Als Luxus wurde es empfunden, das unmöblierte Schlafzimmer über der Küche zu errichten, wo der Fußboden von den nach oben steigenden Dämpfen leicht aufgeheizt war. Heute, in Deutschland und wohl den meisten Teilen Europas, findet Berührung mit dem Fußboden im Alltag fast ausschließlich mit den Füßen statt. Geschlafen wird im Bett, gegessen wird am Tisch, gespielt in dafür vorgesehenen Arealen und Vorrichtungen. Wer auf den Boden fällt, steht wieder auf: eine Übung, die nicht nur Bewegungsfähigkeiten und Körperkontrolle fördert, sondern auch Willensstärke und Durchhaltevermögen. Auf dem Boden liegen zu bleiben ist keine Option, vielmehr Ausdruck von Passivität, Schwäche und Kapitulation. Auf dem Boden liegen zu bleiben, bringt buchstäblich nicht weiter und bedeutet Stillstand. In Bewegung Kinder erleben den Fußboden als eine vieldeutige Fläche, die sie beleben und zum Raum formen: Mit wenigen Monaten beginnen sie sich über den Boden zu bewegen, zu rollen, zu kriechen und zu krabbeln. Schritt für Schritt lernen sie, sich mit dem Körper vom Boden wegzubewegen, auf dem Boden zu stehen, zu gehen, zu laufen und zu rennen, als dränge sie etwas Wichtigeres oder ziehe sie etwas Interessanteres an – von weiter oben, weiter vorn. Anders als für die meisten Erwachsenen, ist der Fußboden für Kinder jedoch nicht nur funktionale Unterlage zur Isolation und auch nicht allein Abstellfläche, sondern ebenfalls Entdeckungs- und Erfahrungsraum. Sie erforschen die Region unter dem Esstisch, kuscheln und essen in Höhlen, legen sich auf den Teppich oder knabbern Zwieback auf dem Küchenboden. Als neugierige Akteure bewe-
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gen sie sich im Haus über Holzdielen im Wohnzimmer, den Teppich im Kinderzimmer, Linoleum und Steinfliesen. Der Fußboden, diese Fläche, auf der Kinder sich zum ersten Mal ohne stützende Hand gehen, erst langsam und kaum merklich, dann immer abenteuerlustiger, wird zum Erlebnisraum, von dem sich Menschen im Prozess des Erwachsenwerdens abstoßen und der sich auch von den Menschen wegzubewegen scheint, bis sie sich im Prozess des Sterbens der Erde annähern um schließlich physisch Teil von ihr zu werden. Raum werden, Raum sein Die Bedeutung der Ruhe und Reinheit des Fußbodens, unbedingt notwendig für die Harmonie der Raumstimmung, ist auch für die Gestaltung von Räumen essenziell. Der Architekt Otto Schulze-Elberfeld beschreibt im Jahr 1908 für »Innen-Dekoration. Zeitschrift für Wohnungs-Kunst und den gesamten inneren Ausbau« die Bedeutung des Fußbodens als Fundament des Raumes und der Wahrnehmung. Als Fundament kann der Fußboden ausgestattet und dekoriert werden, sollte jedoch nicht den Blick ablenken und Unruhe stiften, sondern Sicherheit und Harmonie schaffen. Die Blickrichtung der Personen im Raum richte sich selbstverständlich auf den Fußboden, sei naturgemäß horizontal ausgerichtet und werde von Mobiliar, sowie Bildern an den Wänden gelenkt. Der Blick suche nicht die Decke, sondern den Boden, meint Schulze-Elberfeld – eine Erfahrung, die mit dem Aufhalten im Freien zu erklären ist, »wo schon die Klugheit lehrt, den Kopf nicht auf die Wolken zu richten, sondern auf die Umgebung und auf das, was zu unsern Füßen [sic] ist« (Schulze-Elberfeld 1909, S. 31). Schulze-Elberfeld beschreibt, wie fundamental und selbstverständlich die Orientierung am Fußboden ist, um nicht wie Hans Guck in die Luft ins Wasser zu fallen. Er unterscheidet zwischen der Bewegung auf dem »was zu unsern Füßen ist« im Freien – Straße, Erdboden, Strand und Wiese – also Orten, die sich durch ganz unterschiedliche Eigenschaften der Materialität auszeichnen, und dem Fußboden in geschlossenen Räumen, im harmonischen Dreiklang mit Zimmerdecke und Zimmerwand. Zimmerwand, Decke und Fußboden wirken zusammen, bilden den Raum, begrenzen ihn physisch. Alles, was im Raum ist, was ihn füllt, »klingt« zusammen und schafft Raumstimmung, schafft Harmonie (vgl. ebd., S. 26). Die Gestaltung des Fußbodens soll Ruhe und Sicherheit stiften. Jeder Boden muss »ohne Weckung von irgendwelchen Illusionen ungefährdet beschritten werden [können]« (ebd., S. 30). Unberührter oder berührungsloser Raum Der Boden, der uns mit der Erde verbindet, ist demnach aus sozialwissenschaftlicher und psychologischer, aber auch aus kulturwissenschaftlicher Perspektive
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interessant. Ob Sand-, Wald- und Wiesenboden im Freien oder Fußboden im Haus: Der Untergrund, auf dem wir uns bewegen, berührt Menschen in Nordeuropa nur an wenigen Stellen unmittelbar – und wenn überhaupt, dann fast ausschließlich in einem privaten, häuslichen Kontext. Nackt sind wir selten, auch nicht an den Füßen. Sich zu kleiden ist Mittel, ist Ausdruck des persönlichen oder milieuspezifischen Status, ist Schutz vor Blicken, vor Kälte, Nässe, Insektenstichen und dem Urteil anderer Menschen. Auch unsere Füße sind eingepackt, und zwar von Kindesbeinen an. Auf die Strampelhosen folgen Rutschsocken mit Noppen an den Sohlen, dann Schuhe für drinnen und für draußen, für kalt und warm, für nass und trocken, für Matsch, für Sporthallen, für steile Berge, für weite Strecken, für die Schule und für zu Hause. Unberührt ist unser Boden jedoch nicht: Boden wird bebaut, untertunnelt, gedüngt, bepflanzt, durchgraben, umkämpft, eingenommen, eben gemacht, versiegelt. Nicht nur auf Rolltreppen und Laufbändern in Flughafenhallen scheint sich der Boden unter unseren Füßen zu bewegen und uns weiterzuziehen. Die Erde ist mit uns Lebewesen in doppelter Bewegung und die Geschwindigkeit und Reichweite von Gegenständen, Lebewesen und dem Boden unter allem scheint stetig anzusteigen. Flugzeuge heben im Sekundentakt vom Boden ab, schaffen neue Fußböden, die sich in nicht greifbaren Bewegungen und Geschwindigkeiten weiterbewegen, die so selbstverständlich erscheinen und die Weltbeziehungen von Menschen mit ihrer Umgebung, mit anderen Menschen und Dingen, greifbaren Räumen, Ideen und Gedanken scheinbar grenzenlos erweitern. Unberührt ist der Boden nicht, wir machen ihn uns in stetig steigendem Aktionsradius zu eigen. Aber gibt es zwischen Mensch und Boden auch Berührung, Nähe, Fühlung und Beziehung, die über den rein physischen Kontakt hinausgehen? Raumrisiko und Raumregeln Mensch und Fußboden scheinen in einem risikoreichen Verhältnis zueinander zu stehen: Socken und Schuhe schützen den Menschen auf der einen Seite vor den Gefahren, die auf dem Boden lauern, wie etwa Glatteis, Wespen, Splitter und Kälte. Auf der anderen Seite wird so auch der Zimmerfußboden vor Verunreinigungen geschützt, die der Mensch mit sich trägt: Straßenschmutz, Erde, Sand oder auch übertragbare Krankheiten wie Hautinfektionen. Insbesondere Kinder sind vermeintlich notwendigerweise eine zu kontrollierende Gefährdung für die Reinheit des Fußbodens und werden in Kindergärten und Grundschulen zur Nutzung von Schuhabtretern und dem Wechsel von Schuhen an der »Dreckschleuse« Hauseingang erzogen. Der Fußboden soll zu
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einer reinen Atmosphäre des Wohlfühlens beitragen und muss in scheinbar logischer Konsequenz sauber sein. In Home Rules (1994) untersuchen David Woods und Robert Beck das Zusammenleben von Erwachsenen und Kindern systematisch anhand einer Sammlung von über zweihundert, auf siebzig Objekte bezogenen Regeln in einem einzigen Raum, dem Wohnzimmer. Die verschiedenen Elemente dieses Zimmers werden unter den Aspekten der Raum-Aneignung und der Beziehung der Menschen zum Raum betrachtet. Sie fragen nach ausgesprochenen und unausgesprochenen Regeln im Zusammenleben in geteiltem Raum. Wie lassen sich die Regeln und Verhaltensweisen erklären, die unsere Beziehung zu spezifischen Elementen im häuslichen Raum, zum Fußboden, kennzeichnen und begründen? Nicht trampeln! Nicht verkratzen! Der Fußboden ist keine Skaterbahn! Keine Sachen liegen lassen! Nur mit sauberen Füßen betreten! Nicht mit matschigen Schuhen betreten! Nichts auf dem Boden verschütten! Keine Schuhe herumliegen lassen! (Vgl. Wood und Beck 1994, S. 59) Der Fußboden, dessen Schutzbedürftigkeit Wood und Beck aufzeigen, befindet sich im Wohnzimmer und trägt, glaubt man der lyrischen Beschreibung der Autoren, in seiner Erscheinung wohl die Würde des ganzen Waldes in sich: helle Eiche, geschliffen und gewachst, ausgelegt in einem verschachtelten System auf ganzer Fläche (vgl. ebd., S. 59). Und dennoch: In seiner Beschaffenheit, seiner Kultiviertheit, wird der Eichenboden zum »Anti-Mud«, der nicht mehr mit der Natürlichkeit des Baumes, der er einmal war, in Verbindung gebracht werden soll und nun von Bürsten, Besen und Staubsaugern in seiner künstlich geschaffenen Reinheit gepflegt wird (vgl. ebd., S. 60). Die Veränderung des Verhaltens von Kindern gegenüber dem Fußboden offenbart ihre Annahme der Regeln des sie umgebenden Systems, in dem unterschiedlichen Räumen verschiedene Praktiken zugeordnet werden. Aufstehen, losgehen, den Kontaktkreis vergrößern gehört ebenso zum zivilisierten und kultivierten Lebenslauf, wie die Akzeptanz von Normen und Regeln in unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Lebensabschnitten. Diese Regeln und ihre Achtung sind Konvention und Training, welche der Anpassung dienen. So erfüllt die Gepflogenheit, den Fußboden sauber zu halten, einerseits den Zweck, den Boden vor Verunreinigung zu schützen, stellt andererseits jedoch auch eine kulturelle Praktik des sozialen Zusammenlebens dar (vgl. ebd., S. 61). Bedeutet die Akzeptanz von Konvention also Halt im sozialen Gefüge zu gewinnen, gleichzeitig aber die Berührung zum Fußboden als Erlebnisraum zu verlieren?
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Raum bleiben Der Fußboden ist ein Raum und kann Raum bleiben. Mein siebenjähriges Nachbarskind sagt: »Ein guter Fußboden ist weich. Und ein Fußboden muss glatt sein, damit man nicht stolpert und damit man alles darauf machen kann – vor allem turnen. Aber eigentlich kann man alles auf dem Boden machen.« Das Mädchen kann jede mögliche Bewegungsart, die ich kann und mehr noch: Sie kann Purzelbäume rückwärts und Räder schlagen – Bewegungsarten, die ich trotz langem Üben nie gelernt habe. Sie isst am Tisch und unter dem Tisch, spielt auf dem Bett, auf dem Teppich, im Gras, auf den Badezimmerfliesen. Sie kriecht in Socken unter Regale, springt barfuß über Straßenmalkreidewelten und liest vor dem Sofa auf dem Boden liegend, mit den Beinen auf die Polster gestützt. Wenn ich mich im April barfuß nur auf den Zehenspitzen hinauswage, hat sie schon seit März eine dünne Schicht Hornhaut unter den Füßen. Sie ist sich der Konvention, die ihr Umfeld pflegt, bewusst, empfindet aber keinen Bruch, nichts Bemerkenswertes dabei, im Raum anders zu agieren, mehr Berührungspunkte zu schaffen und sich den Fußboden, so banal und grundlegend er ist, zu eigen zu machen und seine Vieldeutigkeit auszukosten. Dana Ghafoor-Zadeh Literatur Schulze-Elberfeld, Otto (1909), Fussboden, Wand und Decke, in: InnenDekoration. Zeitschrift für Wohnungs-Kunst und den gesamten inneren Ausbau, hg. v. Alexander Koch, Darmstadt: Verlags-Anstalt Alexander Koch, S. 26-33. Wood, Denis und Robert J. Beck (1994), Home Rules, Baltimore: Johns Hopkins University Press.
Haltestelle
»Fug«, ein erwachsener Schauspieler, liest am Küchentisch einen Kindercomic. Er hat heute einen Arzttermin. Vertieft in die Geschichte, vergisst er die Zeit. Um den Bus noch zu erreichen, muss sich Fug beeilen. Er stopft ein paar Gegenstände in den Schulranzen und rennt zur Bushaltestelle. Eine Frauenstimme kommentiert: »Vor lauter Hektik ist Fug so unaufmerksam, dass er gleich seinen Schutzengel anrempelt.« In der nächsten Einstellung steht Fug konfus wirkend in der Bushaltebucht. Nur dank der blitzschnellen Reaktion seines Schutzengels wird Fug nicht vom einfahrenden Bus überfahren. Wieder hört man die Frauenstimme: »Die Bushaltestelle ist kein Ort zum Zanken und Toben. Hier sollte Fug in Ruhe auf dem Bürgersteig warten: ›Stell dich am besten mal einen ganzen Meter zurück, Fug.‹« Neben der Abstandnahme scheint für Kinder zu gelten: Nicht drängen, damit niemand hinfällt. »Augen auf, sonst stolpert noch jemand über herumliegende Gegenstände«. Die nachfolgende Busfahrt und das Aussteigen werden weiter kommentiert. Nicht jeder Verkehrsteilnehmer hätte seine Sin-
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ne bei sich und würde mitkriegen, was auf der Straße so passiert, klärt die Frau auf. An der Haltestelle müsstest du – jetzt an alle Zuschauer und Zuschauerinnen gerichtet – immer damit rechnen, dass Autos an haltenden Bussen vorbeirasen. Fug kommt schließlich unverletzt beim Arzt an. Im Wartezimmer entdeckt er auf dem Zeitschriftenstapel einen Comic und taucht in eine neue Geschichte ein. Diese sogenannte Sachgeschichte mit dem Titel »Verkehrsschule: Bus fahren« wurde an einem Sonntagmorgen im Jahr 2010 in der »Sendung mit der Maus« ausgestrahlt. Der deutsch-spanische Schauspieler Fulgencio Morente Gómez, allgemein als »Fug« bekannt, spielt darin ein Kind, das vieles (noch) nicht richtig macht. Natürlich geschieht nichts Schlimmes. Einerseits, da Fug permanent durch die Frauenstimme, die wie ein Über-Ich Regeln und moralische Setzungen von sich gibt, belehrt sowie durch den erwachsenen »Engel« geschützt wird. Andererseits, da »das Kind« Fug lernt, sich regelkonform zu verhalten respektive keinen Un-Fug zu machen. In dieser Bus-Fahr-Folge wird das richtige Verhalten an der Haltestelle als Geschichte aufgearbeitet, die aus dem Alltag eines jeden Kindes stammen könnte – so die Botschaft. Die erwachsenen Zuschauenden mutet es seltsam an, dass das im Fokus stehende »Kind« von einem Erwachsenen gespielt wird. Wahrscheinlich soll es dem Anspruch einer kindgerechten Darstellung dienen, Kinder einen Erwachsenen sehen zu lassen, der sich verhält, wie Erwachsene denken, dass sich ein Kind verhält. Vielleicht ist das komisch und fördert das Lernen – leider wird weder sichtbar, was Kinder von diesem Film denken, noch was sie in der Realität an Haltestellen erleben. In dem Beispiel wird die Haltestelle durch Erwachsene – vor dem Hintergrund ihres verkehrserzieherischen Ansinnens – als räumliche Gestalt konturiert und nicht durch Kinder und ihre Deutung von Welt. Dieser Unterscheidung gilt es in der Folge genauer auf den Grund zu gehen. Betrachtungsweise durch Erwachsene Eine Stelle markiert einen Platz innerhalb eines Geländes, an dem sich etwas befindet oder ereignet. Entsprechend wird bei einer Haltestelle – auch Haltepunkt oder Station – ein spezieller Ausschnitt einer Straße oder eine Sonderfläche neben der Verkehrsfläche markiert, wo ein öffentliches Verkehrsmittel anhalten kann. Mit der Bezeichnung des jeweiligen Verkehrsmittels – Bus, Zug, Tram – wird diese Stelle spezifiziert. Eingebunden in das raum-zeitliche Netzwerk »öffentlicher Verkehr« nimmt eine Haltestelle einen Bezugs- und Knotenpunkt ein, dessen geographische Lage genau bestimmt werden kann. Ausdruck hierfür sind die Ansagen, die den nächsten Halt ankündigen, aber auch die Tatsache, dass jede Haltestelle einen eigenen Namen hat. Das jeweilige Verkehrsmittel betrachtend, folgt auf den Zustand »Stillstehen« der Zustand »Bewegung« – zeitlich las-
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sen sich diese beiden Zustände genau festgelegen, da die einzelnen Transportmittel des öffentlichen Verkehrs wie in einem Nervensystem zusammenspielen (sollen): Ein Bus oder Zug transportiert die Menschen nicht nur von A nach B, sondern garantiert möglichst den Anschluss an das nachfolgende Gefährt. Nur so ist die Überwindung größerer Distanzen in einer Zeit möglich, die mit dem privaten Personenverkehr konkurrieren kann. Eindeutig ist außerdem die Richtung, in welcher ein Verkehrsmittel seine Strecke oder Runde abfährt sowie unter welcher Bezeichnung es fährt: S5, Bus Nummer 810, U-Bahn-Linie Rot etc. Diese Ausführungen verdeutlichen, dass Haltestellen in ihrer gesellschaftlichen Funktion erst einmal kinderfrei gedacht werden. Als spezifische »ProblemGruppe«, wie Hunde, Gehbehinderte oder Schwangere, müssen Kinder an diesen Raumausschnitt und das damit verbundene gesellschaftliche Raum-Zeit-Gefüge angepasst und Haltestellen-konform gemacht werden. Der Umgang mit Haltestellen wird deshalb in einzelne Sinneinheiten zerlegt und verkehrserzieherisch aufgearbeitet, wie im Eingangsbeispiel illustriert: der Weg zur Haltestelle, das Warten an der Haltestelle, das Ausschwenken des Busses, Konflikte mit Radfahrern, das Einsteigen, richtig und sicher Busfahren, das Aussteigen. Übergreifend zu diesen Einheiten geht es um Halten und Warten, in sozialem wie räumlichem Sinne – was grundlegendere Fragen nach sich zieht: Gibt es »Kind-Haltestellen«, also Stellen, an denen anstatt Busse Kinder anhalten respektive angehalten werden? Welche gesellschaftliche Bedeutung hat das Warten bezogen auf Kinder? Im Regelfall ist die Welt, in die Kinder hineinwachsen, durch Erwachsene eingerichtet. Die Dinge sind so hingestellt, damit Kinder etwas tun oder nicht tun können beziehungsweise sollen: Ist das Kind auf der Welt und beginnt, sich die von den Eltern eingerichtete Umgebung entdeckend anzueignen, wird die Bewegung von Erwachsenen durch ein komplexes Changieren zwischen Laufenlassen und Einhaltgebieten begleitet. Sinnbild für diesen Halte-Prozess und gleichsam Inbegriff einer »Kind-Haltestelle« ist ein pädagogisch stark umstrittener Gegenstand: der Kinderlaufstall – ein ca. 1 m² großes Holzgestell, das landläufig als »Ställchen« oder »Stellchen« bezeichnet wird. Sprachgeschichtlich ist ein Stall, das heißt ein geschlossener Gebäudeteil, in dem das Vieh untergebracht ist, verwandt mit dem Verb stellen, also etwas an einen Standort bringen, aufstellen. »Der Laufstall symbolisiert eine klare Grenze, die dem Kind physisch-sinnlich vermittelt bis hier und nicht weiter, und damit das Terrain des Kindes, seinen Erfahrungsraum und seine Handlungsmöglichkeit begrenzt.« (Wigger 2010, S. 86) Einer ähnlichen Logik folgt die Haltestelle: Aus Erwachsenenperspektive müssen Kinder erst anschlussfähig gemacht werden für die Welt der Erwachsenen. Denn das Halten-(Warten-)Aushalten-Können scheint eine Fähigkeit der Erwachsenen zu sein und Kinder müssen erst lernen, dass eigene Bedürfnisse
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nicht vor allen anderen kommen. Gleichzeitig sind Kinder in vielen Belangen auf Erwachsene angewiesen, was sie »automatisch« in eine wartende Position bringt. Dieser mehrfache Wartezustand versinnbildlicht sich in der Figur der Kindheit als pädagogisches Moratorium, während dem Kinder von der (Re-) Produktionslogik befreit und in einen Zustand der Vorbereitung und Selektion gebracht werden. Der Warteraum materialisiert sich an ganz vielen Orten, indem beispielsweise der öffentliche Raum heute »für Kinder deutlicher zurechtgeschnitten und präfiguriert« wird als in früheren Zeiten (Deckert-Peaceman 2016, S. 289). Sinnbildlich für das Warten ist – wahrscheinlich nicht intendiert von den Filmemachern – auch das Vorzimmer beim Arzt, wo die Sachgeschichte zum Thema Verkehr endet. Fug, der Protagonist, taucht wieder in seine am Anfang beschriebene, Erwachsenen nicht zugängliche Welt ein. Setzt man jedoch die geund erlebte Kinderperspektive an den Anfang der Überlegungen zur räumlichen Gestalt einer Haltestelle, sieht das Ergebnis ganz anders aus. Betrachtungsweise durch Kinder Wäre Fug ein Kind und versuchte man zu verstehen, welche Bedeutung die Haltestelle für ihn hat, müsste man ihn fragen oder Mittel finden, damit er uns dies verständlich machen kann. Im Gegensatz zu forschenden Zugängen mit realen Kindern, ist dies in einem fiktiven Film nicht möglich. Es bleibt daher ein Mutmaßen und ein sich Annähern an das Leben des fiktiven Fugs, über die Hinweise, welche im Film geliefert werden. Angereichert durch das Wissen aus (eigenen) Forschungsprojekten (vgl. Fritsche et al. 2011), soll so der Kinderperspektive auf Haltestellen näher gekommen werden. Das dargestellte Kind ist ein Junge, alt genug, um selber zum Arzt zu gehen, mutmaßlich ein Schüler, da er eine Brotdose in einen Schulranzen packt. Unklar ist, wie alt er genau ist, ob er in einem städtischen oder dörflichen Umfeld aufwächst, wer sonst noch im Haushalt lebt, ob er Freunde hat, was er für Hobbys hat usw. Ebenso bleibt die Frage offen, ob Fug den Bus jeden Tag nutzt, um zur Schule zu kommen, oder ob das Bushaltehäuschen, das kurz gezeigt wird, für ihn und seine Freunde überhaupt von Bedeutung ist. Aus Kindersicht ist die Klärung dieser Punkte entscheidend, um die vielfältigen Bedeutungen von Orten für Kinder zu verstehen (vgl. Reutlinger 2017). Alter, Geschlecht, soziale Herkunft, der Schulstandort, das Wohnumfeld, die persönlichen Präferenzen, die gelebten sozialen Kontakte und weitere Aspekte sind beim kindlichen (Er-)Leben von Haltestellen mitstrukturierend. Vorgelagert steht natürlich die Frage, ob es im konkreten Kontext des Aufwachsens eines Kindes überhaupt Haltestellen gibt. Manche dörflich geprägten Siedlungen sind abgeschnitten vom öffentlichen Verkehr, weshalb die Erfahrungen im Umgang mit Haltestellen dort gar nicht gemacht
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werden können. Das Vorhandensein einer Haltestelle bedeutet jedoch auch nicht unbedingt, dass ein Kind einen Bezug zu ihr entwickelt, da viele Wege ohne Bus, Zug oder Tram zurückgelegt werden können. Taucht hingegen der Ort Haltestelle in Beschreibungen von Kindern als bedeutsam auf, werden die unterschiedlichen Sinngehalte sichtbar, indem sie interessante Entdeckungs-Orte darstellen. Im Spiel mit dem Ticket-Automaten können Kinder beispielsweise herausfinden, wer mit den wenigsten Klicks den höchsten Geldbetrag finden kann. Schafft man es irgendwie, ohne Geld etwas aus dem kunterbunten Angebot des Snackautomaten – Kaugummi, Schokoriegel, Cola, Präservative – zu ergattern? Welche lustigen Hinweise stehen auf den Gebots- und Verbotsschildern oder Werbetafeln? Gelingt es, auf die Bank zu hüpfen oder auf der Lehne zu balancieren? Kann man von da aus auf einen großen Stein weiterhüpfen, ohne den Boden berühren zu müssen? Gibt es in einem benachteiligten städtischen Gebiet oder im Dorf wenige Attraktionen, nutzen Kinder schon früh den Bus, um an attraktivere Orte, wie McDonalds, Geschäfte oder Hallenbäder zu fahren (vgl. Fritsche et al. 2011). Die Haltestelle kommt dann einem Tor zur Welt gleich. Kinder erschließen die (nahegelegene) Stadt jedoch vielfach nicht alleine, sondern in der Gruppe. Nicht verwunderlich, verbinden sie die Haltestelle mit konkreten Personen und sozialen Begegnungen – nicht nur mit Gleichaltrigen, sondern auch mit dem Vater, der Mutter oder Bekannten, die sie an der nächstgelegenen Haltestelle abholen oder sie dort verabschieden. Auch hier wird der soziale Kreis über die Haltestelle weit über den Wohnort hinaus erweitert. Die Funktion einer Haltestelle als sozialer Ort differenziert sich bei Kindern, die jeden Tag den (Schul-)Bus nehmen, weiter aus. Insbesondere wenn mehrere Kinder einer Klasse im gleichen Gebiet wohnen und denselben Bus nehmen, bilden sie langjährige Pendler- oder Fahr-Gemeinschaften. Diese werden erweitert durch Kinder anderer Klassen und Schulstufen. Durch den Einbezug weiterer (Klassen-)Kolleginnen und Kollegen über WhatsApp, werden diese Wir-Gemeinschaften heute auch virtuell erweitert. Verfestigt werden sie durch längere Wartezeiten. Diese entstehen, wenn das Ende des Schultags zeitlich nicht mit den Busfahrplänen koordiniert ist oder wenn Kinder den Bus verpassen. Haltestellen erhalten dann einen Wohnzimmercharakter, indem Kinder auf ihren Schulranzen im Kreis sitzen und plaudernd die Zeit totschlagen. Wichtig ist für Kinder und Jugendliche deshalb die Möglichkeit, diesen Ort – temporär – in Besitz nehmen zu können, ihn mit ihren Bedeutungen zu versehen, aber auch von anderen abzugrenzen, kurz: ihn anzueignen (vgl. Deinet 2013, S. 186). Einen Treffpunktcharakter nehmen viele Haltestellen auch jenseits des Schulwegs ein, da sie (als Orte, wo was los ist) bekannt sind. Hat ein Wartehäus-
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chen Bänke, besteht die Möglichkeit, sich in Gruppen zu treffen, zu sitzen, zu sprechen, sich auszutauschen oder einfach nur zu chillen; ist ein Dach vorhanden, ist dies auch bei schlechtem Wetter möglich. Die Wichtigkeit von Sehen und Gesehenwerden steigert sich mit zunehmendem Alter. Neben vertrauten Personen treffen Kinder an Haltestellen auch auf fremde Menschen, die grimmig oder freundlich dreinblicken. Dadurch lernen sie den Umgang mit Fremdem wie mit Vertrautem – zentrale Kompetenzen des Zusammenlebens. Kinderöffentlichkeiten entstehen und Kinder werden Teil des öffentlichen Lebens. Der fiktive Fug muss sich in eine Welt einpassen, zu der er erst morgen (als Erwachsener) gehören wird. Frei von diesem Zwang, scheint er nur in der Welt der Comics. Reale Kinder verdeutlichen jedoch, dass Haltestellen für sie im Hier und Jetzt vielfältige Kinderwelten darstellen. Diese gilt es alleine und mit anderen Kindern zusammen zu entdecken und anzueignen. Gefahrenlosigkeit ist dabei nur eine Eigenschaft, die Orte aufweisen müssen. Für Kinder ebenso entscheidend sind Zugänglichkeit, Gestaltbarkeit oder Interaktionsmöglichkeiten (vgl. Blinkert 2017). Christian Reutlinger Literatur Blinkert, Baldo (2017), Kind sein in der Stadt, in: Kind sein in der Stadt. Bildung und ein gutes Leben, hg. v. Sabine Fischer und Peter Rahn, Opladen, Berlin und Toronto: Barbara Budrich, S. 27-48. Deckert-Peaceman, Heike (2016), Schulwege aus kindheits- und schultheoretischer Sicht, in: Kindheit und Raum, hg. v. Rita Braches-Chyrek und Charlotte Röhner, Opladen, Berlin und Toronto: Barbara Budrich, S. 281-295. Deinet, Ulrich (2013), Eine Reise durch jugendliche Aneignungs- und Bildungsräume. Kommentare zu den Beiträgen dieses Bandes, in: Sozialraumentwicklung bei Kindern und Jugendlichen, hg. v. Monika Alisch und Michael May, Opladen, Berlin und Toronto: Barbara Budrich, S. 173-194. Fritsche, Caroline, Peter Rahn und Christian Reutlinger (2011), Quartier macht Schule. Die Perspektive der Kinder, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Reutlinger, Christian (2017), Machen wir uns die Welt, wie sie uns gefällt? Ein sozialgeographisches Lesebuch, Zürich: Seismo. Wigger, Annegret (2010), Grenze, in: Raumwissenschaftliche Basics. Eine Einführung für die Soziale Arbeit, hg. v. Christian Reutlinger, Caroline Fritsche und Eva Lingg, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 81-90.
Heim
Heime für Kinder haben eine lange Geschichte und es gibt sie überall dort, wo Kinder ihre Eltern durch Krieg, Hungersnöte oder Krankheit verlieren, ausgesetzt, geschlagen oder missbraucht werden. Es gibt sie auch für Kinder auf der Straße oder wo Familien von Armut und Überforderung betroffen sind. Ob und in welcher Weise Kindern alternative, soziale und materielle Räume zur Verfügung gestellt werden, in denen sie ihre Kindheit individuell leben und gestalten können, in denen sie versorgt, erzogen und gebildet werden, ist historisch stets im Wandel begriffen. Wie Heime konzipiert sind, hängt ab vom jeweiligen Bild von Kindern und den Erziehungsvorstellungen einer Epoche. Verbunden ist dies auch mit dem Wert, den man vulnerablen Kindern gesellschaftlich beimisst. Die Geschichte von Heimen für Kinder ist nicht linear, sondern geprägt von Widersprüchen, Skandalen und pädagogischen Experimenten. Hinter dem Begriff »Heim« verbergen sich im Mittelalter »Hospitäler«, in denen verstoßene Kinder mit Behinderungen oder Missbildungen als Findelkinder verwahrt wurden. Aus dem 16. und 17. Jahrhundert sind Zucht- und Arbeitshäuser bekannt, wo es um Arbeitserziehung ging und Körperstrafen an der Tagesordnung waren. Mit den Industrieschulen des 18. Jahrhunderts setzt sich dies fort. Es gab aber auch gegenläufige Bewegungen, wie die Waisenhausbewegung Mitte des 17. Jahrhunderts, die von der religiösen Erweckungsbewegung des Pietismus geprägt war. Hier sollte das »erbsündenbelastete Kind« durch Bildung, aber auch rigide Frömmigkeit von der Erbsünde abgekehrt werden. In der Rettungshausbewegung wurden verwaiste und ausgestoßene Kinder mit der Devise »arbeite und bete« von ihrer Sittenlosigkeit und »verderbten Natur« abgebracht und ihnen »rettende Liebe« in einer Liebesgemeinschaft entgegengebracht (vgl. Wolff 2013, S. 78 ff). All diese Heime waren vorwiegend Anstalten mit dorfähnlichem Charakter, das heißt in der Umgebung der Wohnhäuser mit Schlaf- und Essenssälen befand sich die Schule, Wäscherei, Küche und eine Kirche. Das gesamte Alltagsleben der Kinder war zentral organisiert, die autarken Dörfer befanden sich vielfach außerhalb von Städten. Ende des 19. Jahrhunderts kam es zur Gründung von
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Landerziehungsheimen als reformpädagogische Alternativen. Diese Internate, in denen Kinder in familienähnlichen Gruppen mit ihren Lehrer*innen zusammenlebten, hatten auch Auswirkungen auf die Konzepte zukünftiger Heime. Bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts wurde kontrovers über Heime gestritten, es gibt Gegenbewegungen und Heimskandale (vgl. Kuhlmann 2008). Kritisiert werden ausbeuterische Interessen, Profitgier und scheinheilige Religiosität der Betreiber. Durch Skandale gerieten auch der Verwahrcharakter, militärischer Drill und die Zwangsstrukturen sowie unangemessene Erziehungspraktiken unter Beschuss. Die Rede war von Gewalt, sexuellem Missbrauch, brutaler Disziplinierung und von allen Formen schwarzer Pädagogik. Heime waren nicht zuletzt nötige soziale Räume für in Not geratene Kinder, die der Willkür Erwachsener ausgeliefert waren und darum Schutz und Hilfe benötigten. Gleichzeitig wurden Heime als konkrete Orte fast ausschließlich von Erwachsenen konzipiert. Tagesabläufe, Örtlichkeiten, Interaktionen folgten den erzieherischen, religiösen, ethisch-moralischen Vorstellungen und Erwartungen von Erwachsenen. In der Geschichte wird offenkundig, dass manches Heim für junge Menschen keinen sicheren Orte darstellte, sondern von Machtmissbrauch gekennzeichnet war und neues Leid hervorbrachte. Lange wurde dies verschwiegen (vgl. Wensierski 2007; Kappeler 2011). Heime für Kinder als sozialstaatliche Hilfeleistung Einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte von Heimen in Deutschland markiert der Aufbau sozialstaatlicher Strukturen. Mit dem Inkrafttreten des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG) im Jahr 1924 wurde jedem Kind »ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit« eingeräumt. In § 62 RJWG/JWG hieß es, die Erziehung diene »der Verhütung oder Beseitigung der Verwahrlosung und wird in einer geeigneten Familie oder Erziehungsanstalt unter öffentlicher Aufsicht und auf öffentliche Kosten durchgeführt«. Damit ist der Grundstein gelegt für ein öffentliches Interesse an Kindern und für die Verantwortung der Gesellschaft für deren Wohlergehen. Die Entscheidung über die Form der öffentlich verantworteten Jugendfürsorge wird seither in die Hand der kommunalen Jugendämter als zuständige Behörden gelegt. Historiker*innen bemerken kritisch, dass das damalige Gesetz mehr Ordnungspolitik und Eingriff im Blick hatte als die Garantie von Leistungsrechten. Teile der »Jugendwohlfahrt« seien darum im Sozialhilferecht, aber auch im Polizei- und Ordnungsrechts verortet gewesen. Hilfe und Kontrolle stellen noch heute eine Gradwanderung in der modernen Jugendhilfe dar.
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Ausdifferenzierung von Hilfen für Kinder Im Jahr 1990/1991 tritt das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) in Kraft. Im heutigen Sozialgesetzbuch VIII (SGB VIII) wird der erzieherische Kontroll- und Eingriffsgedanke gegenüber Personensorgeberechtigten weitgehend durch einen Leistungsgedanken ersetzt. Als Zielperspektive formuliert das SGB VIII in § 1, Absatz 1: »Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.« So wird die gesellschaftliche Verantwortung für das Wohl von Kindern und Jugendlichen formuliert und gleichzeitig das Wächteramt des Staates, bestehend aus Hilfe und Kontrolle, abgeleitet. Im Vordergrund stehen jedoch die Hilfen, damit Eltern in die Lage versetzt werden, ihrem Recht auf Erziehung nachzukommen. Sie haben einen Anspruch auf Unterstützung, wenn sie dieser nicht mehr gerecht werden können. Dafür stehen ambulante und (teil-)stationäre Leistungen zur Verfügung. Dazu haben die Kinderrechte beigetragen, das heißt die Einsicht, dass bei der psychosozialen Versorgung von Kindern ihr Wohl und ihre individuellen Bedürfnisse, aber auch die familialen Ressourcen im Fokus stehen. Heime und Heimerziehung sind darum heute ein Hilfesystem, wobei ein Heim nur eine Variante des Aufwachsens an einem anderen Ort darstellt. Heime für Kinder als Konzept Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wird die Heimerziehung in § 34 SGB VIII geregelt, wo von Heimen und sonstigen betreuten Wohnformen gesprochen wird. Kinder leben demnach über 24 Stunden außerhalb ihrer Herkunftsfamilie mit anderen Kindern und Jugendlichen zusammen und werden durch berufsmäßig bezahlte Erwachsene beaufsichtigt, betreut und begleitet. Heime werden als »Fremdunterbringung« oder »Fremdplatzierung« bezeichnet. »Das« Heim gibt es heute nicht mehr. Wenn man von Heimen spricht, sind Settings gemeint, die sich durch Art und Intensität therapeutischer oder pädagogischer Arbeit ebenso unterscheiden wie durch Gruppengröße und Zusammensetzung der Adressat*innen. Die Betreuung kann in einem Heim oder in einer Wohngruppe mitten im Stadtteil erfolgen. Gruppen können alters- und geschlechtergemischt sein. In einem Kinderhaus können viele oder wenige junge Menschen zusammenleben. Ein Heim kann familienähnlich aufgebaut sein, wie dies in Kinderdörfern der Fall ist, wo professionelle und bezahlte Betreuung in einer Lebensgemeinschaft geleistet wird. Es gibt auch Heime, in denen Betreuungspersonen in gemeinsamen oder angrenzenden Wohnungen leben. Heime können als Kurzzeitwohnen in Krisensituationen fungieren, als Orientierungsgruppen oder Übergangswohnmöglichkeiten, die auf die Verselbständigung vorbereiten. Heime unterscheiden sich durch die Intensität und die Methode der Betreuung, es gibt heilpädagogi-
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sche Großfamilien, Kinderheime und Pflegenester, milieutherapeutische oder psychoanalytisch ausgerichtete Kleinstheime, therapeutische Wohngemeinschaften, Beobachtungsheime oder Clearingstellen. Auch für spezifische Zielgruppen, wie Straßenkinder, (traumatisierte) Mädchen und Jungen oder Teenagermütter, werden Heime vorgehalten (vgl. Rätz, Schröer und Wolff 2009, S. 157). Allen Formen ist gemeinsam, dass hier Professionelle in wechselnden Schichten arbeiten und vulnerable Kinder und Jugendliche zusammenleben, die Hoffnungen auf einen sicheren Ort mitbringen. Sie benötigen oftmals eine Auszeit oder einen anderen Ort als ihre Herkunftsfamilie, an dem sie bessere Voraussetzungen für ihre Entwicklung im Sinne der Nachsozialisierung vorfinden. Für die Organisation des Alltags ist die partizipative Aushandlung von Regeln erforderlich. Heime arbeiten mit Ansätzen des therapeutischen Milieus, der PeerEducation und Positive-Peer-Culture oder der Gerechten Gemeinschaften. In der Arbeit mit Eltern sind Elternpartizipation und -kooperation zentral sowie die Einsicht, dass es um eine Erziehungspartnerschaft geht (vgl. Stange et al. 2012). Heute wird die Unterbringung mit individuellen Zielperspektiven verbunden, die von der familialen Situation, dem Alter sowie dem Entwicklungsstand der jungen Menschen abhängen. Ziele sind an die Möglichkeiten zur Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie gekoppelt, die für eine Rückkehr des Kindes in die eigene Familie nötig sind. Je nach Fall kann es darum gehen, einen jungen Menschen auf die Erziehung in einer anderen Familie vorzubereiten. Es kann sich auch herausstellen, dass eine auf längere Zeit angelegte Lebensform angeboten werden muss, die auf ein selbstständiges Leben vorbereitet (vgl. Kreft und Mielenz 2017, S. 478 f.). Heime sind damit Räume, in denen wichtige Entscheidungen über zukünftige Lebensperspektiven getroffen werden, im besten Falle gemeinsam mit den Eltern. Kinder im Heim als benachteiligte Gruppe Bis zum 31. Dezember 2016 lebten in Deutschland 141.704 junge Menschen unter 21 Jahren in einem Heim oder einer Wohngruppe. Zwischen 2010 bis 2016 hat es einen Zuwachs von fast 50 % gegeben. Hintergrund dieses Anstiegs ist die wachsende Bedeutung von unbegleiteten ausländischen Minderjährigen in der Heimerziehung (Fendrich, Pothmann und Tabel 2018, S. 76) sowie die Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen. Das Alter der jungen Menschen liegt bei Hilfebeginn durchschnittlich bei 15 Jahren. Von den Familien, deren Kinder in einem Heim leben, beziehen 39,5 % Transferleistungen. Der Anteil der Alleinerziehenden beträgt bei Hilfebeginn 27, 5% und der Anteil der Familien, in denen zu Hause nicht Deutsch gesprochen wird, liegt bei 53,6 % (vgl. ebd.).
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Gründe für eine Unterbringung in einem Heim sind zumeist Multiproblemkonstellationen, bei denen Ursache und Auswirkung häufig nicht mehr voneinander zu trennen sind. Es geht um materielle Missstände aufgrund von Arbeitslosigkeit eines Elternteils, Überschuldung, familiale, psychosoziale Krisen wie Trennung und Scheidung, Sucht oder Krankheit. Kinder können auf kritische Lebensereignisse (Verlust der Eltern durch Unfall, Suizid, Gefängnisaufenthalte, psychische Erkrankungen etc.) mit Leistungsproblemen, abweichendem Sozialverhalten, Schulverweigerung oder Trebegang reagieren. Vor dem Hintergrund des Zusammentreffens vieler Konfliktlinien birgt das Setting Heim strukturell Herausforderungen. Die Konzentration von Kindern mit problematischen Vorerfahrungen birgt schließlich Eskalationspotentiale in der Peergroup, wie auch im Verhältnis zu Fachkräften. Professionelle Arbeit in diesem Setting erfordert Achtsamkeit gegenüber Signalen, die auf Verletzbarkeit der Kinder und ihre individuellen Bedürfnisse hinweisen. Sie müssen erkannt und mit Sorgfalt sozialpädagogisch und therapeutisch bearbeitet werden. Wege in ein Heim für Kinder Nicht jedes Kind wird in einem Heim untergebracht, auch dann nicht, wenn Hilfe erforderlich erscheint. Für manche Kinder ist ein Heim ein guter und sicherer Ort, um neue Beziehungserfahrungen zu machen. Für traumatisierte Kinder kann es überlebenswichtig sein, auch für junge Menschen, die nach Drogenkonsum Abstand zu ihrem Umfeld und zur Szene benötigen. Es gibt Kinder, die nicht in einem Heim leben wollen. Ob ein Kind dort untergebracht wird, ist einerseits abhängig von der regionalen Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe. So haben Kinder in armen Regionen Deutschlands schlechtere Chancen auf Unterstützung als in reichen Regionen. Andererseits bedarf es eines Verwaltungsvorgangs in Form der Beantragung einer Hilfe durch die Eltern mit Unterstützung einer Fachkraft des kommunalen Jugendamtes. Hat dieses gravierende Hinweise darauf, dass das Wohl eines Kindes in einer Familie nicht mehr gewährleistet werden kann, wird der Familie Hilfe angeboten. Greift diese nicht, kann ein Kind auch gegen den Willen der Eltern aus einer Familie heraus und in Obhut genommen werden. Insofern ist jeder Heimaufenthalt abhängig von den Definitionen einer Notlage. Nach § 36 SGB VIII hat jedes Kind das Recht, an dem Prozess der Hilfeplanung gemeinsam mit den Eltern beteiligt zu werden. In welchem Heim ein Kind untergebracht werden möchte, kann es theoretisch mitbestimmen, an der Formulierung von Zielen für eine derartige Maßnahme muss es mitwirken, weil hiervon abhängt, ob diese überhaupt finanziert wird. Eltern werden zur Mitfinanzierung der Maßnahme entsprechend ihrem Einkommen herangezogen. Die Kosten werden bei Zusage vom örtlichen Jugendamt übernommen.
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Künftige Herausforderungen Das Wohl von Kindern und Jugendlichen und ihre Rechte sind in Deutschland gesetzlich gut verankert. Die Umsetzung von Kinderrechten zeigt sich vor allem in der professionellen Beziehungsgestaltung zwischen jungen Menschen und Fachkräften. Inwiefern Kinderrechte ernst genommen werden, zeigt sich darin, ob Fachkräfte Regeln im Alltag beteiligungsorientiert aushandeln. Kinder müssen Gelegenheiten bekommen, sozial verantwortbare Selbstbestimmung in einer Gruppe zu gestalten. Sie müssen bestimmen können, wie sie ihre Zimmer einrichten, Poster aufhängen, Kleidung tragen, Freund*innen besuchen, abends ausgehen, küssen, Sex haben, Handys nutzen, fernsehen wollen. (Gesetzliche) Regeln müssen für Kinder transparent und berechenbar sein. Fachkräfte sollten stets selbstkritisch reflektieren, ob Regeln für Jugendliche ihren eigenen Privatmeinungen, Befindlichkeiten, Ängsten oder paternalistischen Schutzerwägungen folgen, anstatt den Rechten der ihnen Anvertrauten. Mechthild Wolff Literatur Fendrich, Sandra, Jens Pothmann und Agathe Tabel (2018), Monitor Hilfen zur Erziehung 2018, Dortmund: Eigenverlag. Kappeler, Manfred (2011), Anvertraut und ausgeliefert. Sexuelle Gewalt in pädagogischen Einrichtungen, Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung. Kreft, Dieter und Ingrid Mielenz (2017), Wörterbuch Soziale Arbeit, Weinheim und Basel: Beltz Juventa. Kuhlmann, Carola (2008), »So erzieht man keinen Menschen!« Lebens- und Berufserinnerungen aus der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Rätz, Regina, Wolfgang Schröer und Mechthild Wolff (2013), Lehrbuch Kinderund Jugendhilfe. Grundlagen, Handlungsfelder, Strukturen und Perspektiven, Weinheim und Basel: Beltz Juventa. Stange, Waldemar, Rolf Krüger, Angelika Henschel und Christof Schmitt (2012), Erziehungs- und Bildungspartnerschaften. Grundlagen und Strukturen von Elternarbeit, Wiesbaden: Springer VS. Wensierski, Peter (2007), Schläge im Namen des Herrn: Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik, München: Goldmann. Wolff, Mechthild (2013), Heim und Heimerziehung, in: Erziehung. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. v. Sabine Andresen, Christine Hunner-Kreisel und Stefan Fries, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 78-84.
Höhle
Das Troglodytische ist der Menschensinn des Wohnens in einem anthropologischen Verständnis, und man könnte allenfalls streiten, ob es Unterschiede zwischen Nestbau und Höhlenfindung gibt, denn ein Nest – etwa das Schlafnest der mit uns verwandten Primaten – muss immerhin als bergender Raum gebaut werden, was einen aktiven und geschehnishaften Zugriff markiert, während wir uns das Auffinden einer für das Wohnen geeigneten Höhle mehr als Ergebnis sozialen Suchens und Streifens vorstellen. Auch müssen wir berücksichtigen, dass die gefundene Höhle, sagen wir an einem Felsabhang mit seinen Unwägbarkeiten, ein ganz anderes atmosphärisches Milieu darstellt als das gebaute Nest in Wipfelhöhe. Dass etwas selbst gebaut und bewohnt wird, ist atmosphärisch und hodologisch also verschieden vom Auffinden oder Zurechtmachen eines gefundenen Ortes, beziehungsweise einer Höhle, in der ja zum Beispiel auch eine Gefahr lauern kann.
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In der Philosophie ist die Höhle das Urbild des Bewusstseins geworden, zumindest seit Platos berühmtem Höhlengleichnis, aber schon vorher im Timaios. Der Mensch ist ein fragil zusammengestopseltes und sinnlich erschütterbares, vernunftloses Wesen, das in erster Linie ästhetisch, also von der ursprünglichen sinnlichen Erfahrung her lebt, dessen Bewusstsein vor allem von Stimmungen, Ängsten und Bedürftigkeiten geprägt ist, das nach seinen Wahn-Vorstellungen und Wünschen umherspringt und sich erst ein Stück weit von sich entfernen muss, um überhaupt etwas zu sein, ein Vorgang, der sich in jeder Erziehung wiederholt. Mithin ist auch die berühmte Höhle Platos nicht etwa unsere alltäglichen Welt, die wir im Hinblick auf einen Ausgang zu einem göttlichen Wesen verlassen sollten, wie das christliche Interpretatoren gern hineinlesen, sondern eben unser Bewusstsein selber, das von den Sinnen gefangen einer Höhle »gleich« (idios) ist. Löst es sich aus seiner ästhetischen Gebundenheit (den Fesseln der Sinne), was es über Abstraktionsbegriffe und Ideen versuchen muss, so wird es frei, und entsprechend auch bedürfnislos. Denn lieber ein Schafhirte unter den Strahlen der Sonne als ein hochgelobter Schwadronierer in den Irrtümern unserer gemeinschaftlichen Höhle, so in etwa der Tenor des Höhlengleichnisses. Dass Kinder Höhlen bauen – etwa in einem Gebüsch in der Umgebung ihres Streifens oder im Wohnzimmer der Eltern aus zwei Sesseln und einigen Decken, mag auf eine zwischen Bauen und Suchen noch ungetrennte Berge-Aktivität, beziehungsweise eine damit korrespondierende Bewusstseinslage weisen. Das Höhlenbauen ist ansonsten sicher nichts prinzipiell Kindisches und dass der ganze Planet unseres Daseins bereits eine Art »Menschenhöhle« sein könnte, in die wir aus den paradiesischen Anfängen (der vorgeblich lichten Savanne), naiv immer weiter Richtung Ameisenhaufen unterwegs sind, hat nicht erst Vilem Flusser in die Debatte geworfen. Er berichtete seinerzeit vom Dauer-Smog São Paulos, der es unmöglich mache, die Sterne zu sehen, so dass man sich dort eben wie in einer »städtischen Höhle« fühle, aus der man dann etwa Ausflüge »ins Freie« mache oder gar die Schüler ins Planetarium bringe, um ihnen die Sicht auf die Gestirne zu ermöglichen. – Das Planetarium einer Großstadt als Projektionshöhle, an deren Decke das All projiziert wird, damit die Schulkinder Sterne sehen, die sie im Lichtsmog nicht mehr sehen – und der Stadthimmel als smogverräucherte Höhlendecke, was wäre eine deprimierendere Vorstellung? Nun etwa zum Beispiel die, dass wir dort gar nicht mehr herauskommen, weil wir notwendig gefangen sind, wenn wir nämlich den Gedanken zulassen, dass der von uns eingerichtete Raum, beziehungsweise die von uns eingerichteten »Höhlen« nicht etwa die historischen Aufenthaltsorte des Menschen sind, sondern – kenntlich am vielseitigen philosophisch allegorischen Gebrauch – selbst nur ein Entwurfsgeschehen ist, in dem das »Ich« sich selbstsetzend als
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imaginärer Mittelpunkt eines erdachten Kosmos eine Höhle baut oder sich gar bergen will, ob in Gedanken oder Felsen; in dem es aber tatsächlich nur angestrengt an jener Gefangenschaft weiterarbeitet, die es selber ist, beziehungsweise durch die scheinbare Freiheit der Tat erst konstituiert. Nimmt man noch die Vorstellung hinzu, dass das »Innen« und »Außen« in puncto Bauen nicht festliegt, sondern sich in einem ganz und gar nicht klaren Korrespondenz-Geschehen durch das Bauen erst ergibt, und bedenkt man, dass dann auch die Möblierungen jenes »Innen« und »Außen« stark mit den Notwendigkeiten, Ängsten und Hoffnungen eines stimmungsgetriebenen Mängelwesens zu tun haben, dann kommt man dem absurden Abgrund schon näher, an dem wir stolz als scheinbar freie Erbauer unserer Welt einherstolpern. – Der Mystiker Jacob Böhme hatte dazu einmal den bestechenden Gedanken, den Raum des Sternenhimmels mit unserer Hirnschale in Verbindung zu bringen. Firmament und Hirn seien also gewissermaßen dasselbe (später überzeugend von Berkeley und Kant formuliert). Dasjenige, in dem wir nicht gefangen, sondern »wahrhaft geborgen« seien, war in dieser Konstruktion nicht das von uns geschaute oder gebaute Weltall, sondern Gott, mit dem es sich zu vereinigen galt. Nach Jacob Böhme konnten wir uns also glücklich schätzen »geborgen in Gott« zu sein, obwohl wir gar nicht aus der taumeligen Höhle unseres Bewusstseins herausgekommen waren. Plato war da in Spuren hoffnungsvoller, was unsere Selbstvervollkommnung anbelangt! Der Weise erreicht das Paradies. Böhmes Sternenhimmel einschließlich Mond und Sonne kreisen in der Höhle unseres Bewusstseins, beziehungsweise gelegentlich auch in der des Brustkorbs. In einem gewissen Sinne hat auch die Phänomenologie den Gedanken des Bewusstseins als Höhle wieder aufgenommen und zu einem Raum des »InnenAußen« (Bachelard) umgedacht, womit sie sich dem Dilemma von platonischer Höhlenmetapher einerseits und christlichem Dualismus andererseits zwar tatsächlich entzogen hat – um den Preis des Raumbegriffs allerdings, der nun seine cartesianische Orientierung verliert und als bloßes Geschehen weiterlebt. Die Höhlen meiner Kindheit, die nach diesem zugegeben stark vereinfachtem historischen Rundumschlag das phänomenologisch zu interpretierende Geschehen eines denkend handelnden und zugleich atmosphärisch interpretierenden Wesens sein sollen, wären dreifacher Art: 1. Zum einen ist da die beachtliche Wölbung einer in Familienwanderungen meiner Jugend immer wieder erreichten Jura-Höhle in der Fränkischen Schweiz, deren vorgeschichtliche Funde im Heimatmuseum des angrenzenden Städtchens besichtigt werden konnten. Diese Höhle war kindlicher Vorstellungs- und Bildungsinhalt einerseits und atmosphärischer Wahrnehmungsakt zugleich, denn
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die doch einige Meter hohe, nach außen wie eine Muschel sich öffnende Höhle mit leicht schrägem, zur Seite sich neigendem Boden in ihrer düsteren Erhabenheit, an manchen Stellen verrußt durch die Feuer von Wanderern und in ihren letzten hinteren Bereichen auch schimmelriechend, schien mir geradezu das Rätsel meiner Herkunft zu flüstern, während ich andächtig den Erklärungen meines Vaters lauschte, der von einer einstigen Grotte am Ufer des Jurameers und weiter Aussicht übers Meer fabulierte. Der Eindruck begleitete mich als atmosphärische Erinnerung einschließlich der musealen Nachbildung meiner Vorfahren und ihrer Geräte, (die an die Suppenschüsseln meiner Mama erinnerten und auch atmosphärische Entwürfe ausgelöst haben mochten) – neben vielen anderen kindlichen Erschütterungen als Ahnung einer möglichen sakralen Urform meines Elternhauses, die ich also mit fast frommer Scheu betrachtete und deren Atem ich bewahrte. 2. Die zweite Höhle hatte ich selber gefunden und sie war damit auch die »meine«. Ein enger Felsspalt in der winzigen Schlucht des »Bitterbachs«, der einen Kilometer entfernt von meinem Elternhaus und zwanzig Meter seitab von einem Spazierweg an einer Stelle tatsächlich eine Formation aus Bach, »Höhle« und lichten Bäumen ergab, und die im Zugleich aus Fantasie, den historischen Hinweisen des Heimatmuseums und – sehr wichtig – einer kindgerechten Größe das ergab, was ich offenbar zum »Wohnen« brauchte. Wohnen, das hieß, man konnte etwa Proviant oder Kerzen dorthin transportieren, man konnte Feuer schüren und einen wahrhaftigen Aufenthaltsort begründen und ihn als den eigenen einem Freund zeigen, auch wenn man pünktlich zum Essen zuhause zu sein hatte. Diese kindgerechte Praktikabilität, die nicht einfach nur angestaunt werden musste, war entscheidend und auch vorstellungsbildend – etwa im Sinn einer Projektionsfläche damaliger Kinderlektüren und der damit zusammenhängenden Spiele. Die atmosphärische Wirkung war hier zweifellos geringer, aber meine »Praxis« war im Hinblick auf diese Höhle doch wesentlich weiter entfaltet. 3. Die noch wichtigeren Höhlen waren allerdings tatsächlich diejenigen, die ich mir selber baute, etwa indem ich nicht nur auf der Nachbarswiese, sondern auch ein Stück weit in die Stadt oder in die Landschaft radelnd mir aus Gras, Ästen oder umherliegendem Müll eine Art Höhlennest und zu einer gewissen Zeit sogar eine ganze Anzahl von Höhlennestern errichtete. Etwas nicht gerade Untypisches für Kinder, und anthropogenetisch betrachtet wohl eher dem Bau-Sinn des Schlafnests entsprechend, waren diese »Höhlen« auch Nester, und durch eine ganze Anzahl, die ich zum Teil mit Freunden baute, ergab sich auch noch eine Art Netz von Schutzräumen oder »Lagern« – in meinem Kopf, das heißt, in mei-
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nem Inneren breitete sich eine ganze Welt aus, ähnlich den Sternen Jacob Böhmes, aber eben zugleich berührbar, gelegentlich besuchbar und meinem Eingreifen zugänglich. In den selbstgebauten Höhlen konnte man sich kurzzeitig aufhalten und halbstundenlang vorstellen, man »wohne« da. Das Wohnen war hier allerdings nicht viel, denn außer an der Höhle zu bauen und mich wie Kafkas unterirdisches Tier in der Erzählung »Der Bau« am Bauen selber zu ergötzen, passierte ja nichts. Die jeweilige Höhle war sozusagen nur der Plan möglichen Behaust-Seins, der das kindliche Bewusstsein mit geschäftiger Nervosität ausfüllte. Man könnte angesichts dieser drei Höhlen eine Korrespondenz zwischen menschlichem Bauen im Allgemeinen und kindlichem Höhlenbau im Besonderen veranschlagen, genauso wie es ja offenbar auch eine Korrespondenz zwischen erreichtem baulichen Abstraktionsniveau und dem assoziativen Feld des Architektendenkens in städtischen Umgebungen gibt. Bauen im Bestand ist anders als auf der Freifläche. In Städten mag das Kinderspiel des Höhlenbaus auch anders aussehen als auf dem Land, aber es lebt vermutlich aus dem gleichen Geist, der sich eine Hodologie der Geborgenheit entwirft, indem er Schutzräume in gewissen Konstellationen schafft und diese möbliert. Ich wohnte in meiner Jugend ständig wechselnd an immer neuen Lehramts-Stellen meines Vaters, zunächst auf einem Dorf, dann in Parknähe in einer Großstadt, schließlich am Rand einer Kleinstadt. Ich baute dabei immer irgendwelche Höhlen und hatte entsprechend Höhlen aus Ziegelsteinen abgerissener Ruinen, aber auch Buschhöhlen und Gras- und Zweig-Nester mit und ohne Dach. Immer hatte ich eine Stelle, an der ich saß und »hinaus« schaute, beziehungsweise einen Platz »vor« der Höhle. Das »vor« oder auch das Hinaussehen ergab sich aus der Höhle selber, die von Anfang an als eine Art Raumteilung, beziehungsweise Raumschaffung durch Teilung entstand. Wenn man diese Entsprechungen akzeptiert, kann man sagen, man baut, ob als Kind oder als Erwachsener immer eine Höhle, um hinein zu kriechen und »hinaus« zu schauen. Gelegentlich gab es den interessanten Fall von vorübergehenden Gemeinschaftshöhlen in der Nähe von verbotenen Materiallagern, auf Baustellen oder am Rand von Schutt- und Schrottplätzen. Diese Bauten waren dann keine »Einsamkeitsplätze« oder Sehnsuchtsbauten im »Außen« meiner Kinderstube, sondern eher begeisternde kleine Festlichkeiten, die die bauende Kindergruppe zur vorübergehenden Gemeinde schweißten. Alles an meinem Höhlenbau blieb ephemer und letztlich gestisch. Das Bauen selber war das Wichtige, sein Anlass war nicht abzuschätzen und sein Ende war Auflösung. Das Bauen selbst war schon das Wohnen. Ansonsten war es – wie
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das Menschenleben auch – natürlich sinnlos. Nur eine Art vorübergehende Aktivitäts- und Raumausdehnung über das Kinderzimmer hinaus, der erweiterte Kinder-Leib. Ich bin auch sicher, dass ich meine selbstgebauten Höhlen nicht allzu oft aufsuchte; fünf Mal pro Ort, schätze ich. Manchmal stieß ich auf eine durch andere Kinder zerstörte Höhle. Das wurde dann akzeptiert wie dumpfes Verhängnis. Die »Anderen« waren hier gewesen. Ich reparierte meiner Erinnerung nach nie, ich mied vielmehr den nun entweihten Ort und baute eine neue Höhle woanders, oder eine Höhle neuer Art. Die Hodologie meiner Kindheitshöhlen ist heute ersetzt durch andere Hodologien des Wohnens, die scheinbar realer oder fester oder greifbarer sind als meine ersten Bauten. Ich selber glaube, dass dies nur quantitative Unterschiede sind und dass die ersten Höhlen vielleicht sogar etwas Heroisches hatten, während mein späteres Wohnen eher pragmatisch war. Das Haltbarste an meinen Höhlen ist die atmosphärische Erschütterung durch die vorgeschichtliche Höhle in der Fränkischen Schweiz und natürlich die Höhle in der »Bitterbachschlucht«, die es sicher noch gibt, die mich aber auch nicht halten konnte, wie mich ja auch mein Elternhaus nicht halten konnte, aus dem meine Eltern übrigens, nachdem sie es einmal gebaut hatten, bis zum Tod nichts herausbringen konnte. Ein »Hanghaus«, wie mir mein Vater gern erläuterte. Man stecke mit dem Rücken sozusagen tief in der Erde, was das Gefühl der Sicherheit gebe. Wir alle bauen an unseren Höhlen. Gelegentlich treffe ich auf Menschen, die ihre Höhlen nicht verlassen wollen, aber die suchen dann vielleicht ständig nach Möbeln. – Ich selbst wollte nie Möbel. Ich wollte immer nur Höhlen. Reinhard Knodt
Hort
Martha und Vanaja gehen zusammen in die 1. Klasse. Nach Unterrichtsschluss trödeln beide auf dem kurzen Weg in den Hort, es gibt so viel zu besprechen: der letzte Elsa-Film; die Geburtstagseinladung bei Enrico; die spannende Schatzsuche im Wald; Vanajas Wochenende bei ihrem Papa und wie sie sich jetzt auf ihre Mama freut, die sie nach der Arbeit im Supermarkt um 6 Uhr vom Hort abholt, wird sie gut gelaunt oder wieder nur müde sein? Martha hingegen ist total sauer auf ihre Mama, die ausgerechnet an ihrem 8. Geburtstag auf eine Konferenz muss, und da ist auch noch ihr älterer Bruder Elias… Die Tür zum Hort steht offen, einige Kinder sind schon da. »Hallo, Vanaja, hallo, Martha! Schön, seid ihr da«, begrüßen sie die Hortleiterin und die beiden Mitarbeiterinnen. Den Tisch haben die Betreuerinnen schon gedeckt. Heute, so steht es auf der Tafel, sind Pascal, Sarah und Emre mit Tischputzen nach dem Essen dran. Es gibt Pouletfleisch mit Soße, Gemüse und Salat zu Mittag. Es duftet lecker. Die Mädchen legen ihre Kleider ab, hängen Schultaschen und Jacken an den Haken, ziehen Hausschuhe (Glitzerschuhe und Birkenstock) an und kommen in den bunt gestalteten Raum, der vieles zugleich sein muss, weil es nicht viel Platz für die 20 bis 25 Kinder gibt, die jeden Tag in anderer Besetzung kommen. Nachdem alle Kinder eingetroffen sind, sich umgezogen und an den Tischen Platz genommen haben, erklärt die Hortleiterin, weshalb Priska heute Königskind ist und was sie sich heute alles wünschen kann: Tisch-Kinder, ein Spiel und ihr Lieblingslied. Alle warten auf das »Ich wünsche allen einen guten Appetit!« und auf die ruhigen ersten fünf Minuten beim Mittagessen. Eine »Sendepause« einzulegen, ist ein neuer Vorschlag, den die Kinder diese Woche gemeinsam das erste Mal testen. Ob das klappt? Wie das ist? Nicht nur die Kinder, auch die Hortbetreuerinnen sind gespannt darauf, wie es sein wird, wenn sich der Hort voller Kinder (und drei Erwachsener) für einen kurzen Moment in einen Ruhe-Raum verwandeln wird. Ein Raum, ein Hort, ein Ort der Kinder, den sie mit Leben, Unterschieden und Ideen füllen dürfen. Ein (H)Ort der Kinder.
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Am Thema »Hort« lässt sich – gerade mit dem regionalen Bezug zur Schweiz, der in diesem Beitrag im Mittelpunkt stehen soll – sehr schön aufzeigen, dass hier viele Fäden zusammenlaufen: traditionelle Familienmodelle und moderne Betreuungsformen, der Zusammenhang von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit, nationaler Bildungspolitik und lokalen Betreuungssituationen sowie die Partizipation von Frauen, Migrant*innen, Kindern und Jugendlichen an der öffentlichen Debatte zur Betreuung von schulpflichtigen Minderjährigen. Das Beispiel Schweiz: Ein Hort des traditionellen Familienmodells? Die Frage nach dem »Hort des traditionellen Familienmodells« in der Überschrift ist aufgrund der Wort-Etymologie zweideutig angelegt: Einerseits spielt sie auf die mittelhochdeutsche Bedeutung von »hort« als kostbarer und zu bewahrender »Schatz« an, andererseits auf die seit dem 18. Jahrhundert geläufigere Verwendung als »sicherer Ort, Schutz und Zuflucht«. In Zürich wurde auf Initiative von Lehrern im Jahr 1886 ein erster Zufluchtsort für 21 Knaben von zumeist alleinerziehenden und mittellosen Müttern gegründet, damit die Jungen nach der Schule nicht mehr sich selbst überlassen und auf der Straße herumstreunern mussten. Heute besuchen über 10.000 Jungen und Mädchen eine von 350 Betreuungseinrichtungen beziehungsweise Horten in der Stadt Zürich. Mit dem »Hort« eröffnet sich ein interessanter Einblick in die Schweizer Familien-, Sozial- und Bildungspolitik. Ganztägige Bildung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen erfährt in der Schweiz erst seit wenigen Jahren eine größere Aufmerksamkeit in der öffentlichen Debatte. Ein traditionelles Familienmodell war und ist noch sehr weit verbreitet, denn die (verheiratete) Frau ist »nach der Geburt der Kinder mindestens in den ersten 10 bis 15 Jahren nicht mehr oder nur zu einem geringen Umfang berufstätig« (Schüpbach 2018, S. 15). Knapp 60 % der Frauen und 80 % der Mütter (mit einem Kind unter 25 Jahren) sind in der Schweiz in Teilzeit erwerbstätig (vgl. Bundesamt für Statistik 2018). Durch die »klassische« Verteilung von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit konnte sich das föderal organisierte Schulsystem in der Schweiz bislang in erster Linie auf Mütter verlassen, die für die Betreuung der Kinder praktisch jederzeit und rund um die Uhr zur Verfügung standen (vgl. Schüpbach 2018, S. 25). Durch das symbiotische Zusammenspiel eines konservativen Familienmodells mit einem föderalistisch organisierten Bildungssystem wurde eine Unterrichtszeit ermöglicht, die vor allem im obligatorischen Kindergarten (4-6 Jahre) und auf der Primarstufe (1.-6. Klasse) kurze Vor- und Nachmittagsblöcke vorsah. Dabei war das häusliche Mittagessen als eine verlässlich Konstante im Schultag eingeplant. Einen Hort brauchte es in diesem Modell nicht. Alternativen? Nicht wirklich vorgesehen. Das stellte gerade Familien, in denen kein klassisches Fa-
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milienmodell beziehungsweise keine traditionelle Arbeitsteilung gelebt wurde, vor große Herausforderungen. Ein Beispiel: In den ländlich und zugleich lokalindustriell geprägten Kantonen St. Gallen, Appenzell Ausserrhoden und im Glarner Hinterland waren in den 1990er-Jahren in über 50% der ausländischen Familien beide Eltern in Vollzeit erwerbstätig. Elisabeth Bühler (vgl. 2001, S. 84) weist in ihrem Frauen- und Gleichstellungsatlas der Schweiz darauf hin, dass noch immer ungeklärt ist, ob und wenn ja in welcher Form (zum Beispiel in Fabrik-Krippen, Horten oder in familiären Netzwerken) diese Kinder außerhalb der Schulzeiten betreut wurden. In den letzten 10-15 Jahren führte der gesellschaftliche und familiale Wandel zu einem rasanten Ausbau von ganztägigen Bildungs- und Betreuungsangeboten in der ganzen Schweiz, vor allem in urbanen Zentren wie Genf, Lausanne, Basel, Bern oder Zürich. In der Schweiz können Kinder ab dem Kindergartenalter (ab 4 Jahren) und Jugendliche bis zum 9. Schuljahr in den Hort gehen. Insbesondere für Kinder der Primarschule (bis zur 6. Klasse) übernehmen Horte die Betreuungszeiten vor und nach dem Schulunterricht. Neben dem Hort gibt es auch noch andere Formen der institutionalisierten Betreuung, wie Kinderkrippen, Mittagstische, Tagesfamilien- und Tagesschulen (vgl. EKKF 2008, S. 12). Das Beispiel des Kantons Zürich zeigt, dass das bestehende Angebot an Betreuungsmöglichkeiten für Schulkinder nicht mit der steigenden Nachfrage Schritt halten kann. So standen bezogen auf das Jahr 2013 den 143.000 schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen 17.000 Plätze in schulischen Betreuungseinrichtungen zur Verfügung, was sich auf einen durchschnittlichen Versorgungsgrad im Schulbereich von 13 % beläuft (Bildungsdirektion Kanton Zürich 2014; Stern et al. 2013). Der Mangel an Betreuungsangeboten sowie die relativ hohen Kosten für die externe Kinderbetreuung (trotz einkommensabhängigen Beiträgen und kantonalen Subventionierungen) führt laut der Eidg. Koordinationskommission für Familienfragen (EKFF) dazu, dass eine »beträchtliche Zahl von Kindern und Jugendlichen nicht oder ungenügend betreut ist […]. Rund 40 % der Kinder zwischen 7 und 14 Jahre sind zu Hause unbeaufsichtigt« (EKFF 2008, S. 43). Dem »Betreuungsdogma« der EKFF würden viele Jugendliche und ihre Familien widersprechen, da sich diese sehr wohl auch außerhalb von Betreuungseinrichtungen selbständig zu organisieren wissen. Nationale Bildungspolitik und lokale Betreuungs(h)orte Im Vorgriff auf die Bundesinitiative HarmoS (Harmonisierung der obligatorischen Schule) wurden im Kanton Zürich mit einem bereits ab 2005 gültigen neuen Volksschulgesetz schon viele Bildungsziele vorweggenommen. Demnach wurden Gemeinden verpflichtet »bei Bedarf weitergehende Tagesstrukturen an-
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zubieten« (§ 27 Art. 3 im Volksschulgesetz, VSG vom 7.2.2005). Mit diesem Beschluss änderte sich der Status von »Horten« nachhaltig von familien- zu schulunterstützenden Betreuungseinrichtungen. Die Veränderungen beschreibt eine Hortleiterin folgendermaßen: »Wir Hortleiterinnen und Hortleiter waren vor 2005 freier in der Gestaltung des Hortalltages. Dadurch, dass der Hort von 07:00 – 18:00 Uhr offen war und die Kinder an mindestens 3 Tagen den Hort besuchen mussten, war die Beziehung zu den Kindern eng, vertraut und familiär. Einige Kinder nannten mich damals auch ihre ›Schweizermutter‹, das würde heute kein Kind mehr zu mir sagen. Wir haben einfach viel mehr Zeit miteinander gehabt als heute. Die Kinder hatten damals auch noch nicht so viel Programm neben Schule und Hort. Schule und Hort waren das Programm. Wir hatten immer ein Projekt am Laufen. So gingen wir mal mit den Kindern zum Schreiner und holten Bretter, eine Türe und ein Fenster und bauten uns daraus ein kleines, gemütliches Haus auf dem Hortgelände. Oder wir machten eine Hort-Zeitung. Einmal drehten wir einen Krimi mit den Kindern, oder machten Tanz- oder Musikaufführungen – es war immer was los.«
Verbunden mit diesem Statuswechsel ist eine organisatorische und pädagogische Neuausrichtung von Horten in Zürich. Horte sind nun fest eingebunden in die unterrichtsergänzenden Tagesstrukturen vom Schuleingang bis zur Sekundarstufe I. In der Regel ist das Betreuungsangebot – ob im Hort oder an einer Tagesschule – modulartig wählbar und einkommensabhängig kostenpflichtig. Das verändert auch die Zusammensetzung der Hortgruppen sowie die Möglichkeiten und Grenzen der pädagogischen Arbeit im Hort. Insbesondere Horte, die seit der Reform mit einer sehr hohen Nachfrage konfrontiert waren, verwandelten sich in flüchtige, in Extremfällen vielleicht sogar in anonyme Durchgangsorte für Kinder (zum Beispiel während des Mittagstisches). Mit einer intensiven und langfristig angelegten Hortpädagogik ist diese Art der (Massen-)Betreuung nur schwer zu vereinbaren. Zudem konkurrieren Horte zunehmend mit gebundenen Tagesschulen (das heißt Ganztagesschulen mit festen Unterrichts- und Betreuungszeiten in der Schule). Die steigende Popularität der gebundenen und (halboffenen) Ganztagesschule führte in städtischen Räumen der Schweiz dazu, dass bildungspolitische Maßnahmen zur Erweiterung von Tagesschulen vorangetrieben wurden. In Zürich startete 2006 zum Beispiel das Pilotprojekt Tagesschule 2025, das in drei Projektphasen ein flächendeckendes Angebot an freiwilligen, gebundenen Tagesschulen in der Stadt Zürich vorsieht. Das Pilotprojekt, so wird es auf der Homepage des Schul- und Sportdepartements der Stadt Zürich angepriesen, verfolgt drei Ziele: Bildungsgerechtigkeit (Unterstützung von Integration und Förderung aller Schülerinnen und Schüler),
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Wirtschaftlichkeit (Optimierung der Organisation von Unterricht und Betreuung) sowie Gleichstellung (Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf) (vgl. Schul- und Sportdepartement der Stadt Zürich 2018). Der Diskurs über den Ausbau von Tagesschulen, das zeigt sich am Beispiel aus Zürich sehr schön, wird dominiert von einem wirtschaftsfreundlichem (neoliberalen) Gesellschaftsentwurf und einer strukturbetonten Definition von Schule und Betreuung. In der Diskussion um die Optimierung von schulischen Tagesstrukturen, Bildungszielen und die Sicherung von Qualitätsstandards verengt sich der Blickwinkel immer mehr zugunsten einer zunehmenden Regulierung und Strukturierung von Kindheit und Jugend. Welchen Raum nehmen pädagogische Diskussionen und Konzepte in diesen Bildungsdebatten ein? Wo finden hier Kinder und Jugendliche ihren Platz beziehungsweise werden in die Diskussion eingebunden? Für wen ist diese Schule, dieser Hort gedacht und gemacht? Der Sozialpädagoge und Sozialwirt Knut Vollmer setzt sich für eine Rückbesinnung auf die zentralen Bildungs- und Erziehungsaufgaben von Schule und Hort beziehungsweise für eine Intensivierung der Diskussion in Bezug auf die Arbeit von Pädagog*innen in Schul- und Betreuungseinrichtungen ein: »Egal, ob im Hort oder an der Ganztagesschule – die Kinder stehen im Mittelpunkt des pädagogischen Handelns. Dafür braucht es engagierte und kompetente Pädagoginnen [und Pädagogen, Anm. d. A.], die die Kinder mit ihren Rechten, Bedürfnissen, Stärken und Begabungen, Themen und Interessen, immer im Zusammenhang mit der jeweiligen Lebenssituation der Familie und den Bedingungen des Sozialraums sehen.« (Vollmer 2015, S. 18) Stünde die pädagogische Arbeit mit und für Kinder im Mittelpunkt von Bildung und Betreuung, so wäre eine Diskussion darüber, ob Horte im Zuge des Ausbaus von (Ganz-)Tagesschulen zu Auslauf-Modellen degradiert werden, überflüssig. Viel wichtiger wäre dann nämlich, was an diesen Orten von, für und mit Kindern tatsächlich gemacht wird. Auch wenn Martha und Vanaja aus sehr verschiedenen sozialen und familiären Hintergründen kommen und in ihren schulischen Leistungen weit auseinanderliegen, so gehen sie gemeinsam durch ihren Alltag und können vielleicht sogar eine langfristige Freundschaft aufbauen, die sich über bestehende Grenzen hinwegsetzt. Braucht es nicht gerade deshalb auch Orte in und außerhalb der Schule, an denen Kinder und Jugendliche eine Vielfalt an Begabungen, Neigungen, Interessen, Hintergründen und Perspektiven erfahren können? Einen Hort für Kinder und junge Menschen? Für Martha und Vanaja jedenfalls ist ihr Hort genau so ein Ort der Vielfalt, ein Ort voll schöner Kindheitserfahrungen. Dafür setzt sich auch ihre Hortleiterin ein, die dem enger werdenden pädagogischen Raum im Hort mutig entgegenhält: »Ankommen dürfen, sich aufgehoben fühlen, gesehen und gehört zu werden, das wünscht sich jeder Mensch. Und ganz besonders Kinder.«
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Weil mich die Auseinandersetzung mit dem »Hort« als einen von vielen Räumen der Kindheit auch persönlich sehr beeindruckt hat, habe ich meine Eindrücke in einer kleinen Hort-Wort-Leiter zusammengefasst. Eine Leiter, die am Schluss des Artikels wie an einen Kirschbaum gelehnt steht, weil es doch gerade darum geht, gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen Frei-Räume der Kindheit und Jugend zu ermöglichen, Grenzen im Denken und Handeln zu überwinden, um sich später an den Früchten der Arbeit erfreuen zu können. Human Ort/Offenheit Regeln/Raum/Ruhe Toben/Tanzen/Tränen
H O R T
Human Ort/Offenheit Regeln/Raum/Ruhe Toben/Tanzen/Tränen Itta Bauer
Literatur Bildungsdirektion Kanton Zürich (2014), Die Schulen im Kanton Zürich. https:// www.bista.zh.ch/_pub/downloads/Schulen_Kt_ZH_2013_14.pdf (April 2018). Bühler, Elisabeth (2001), Frauen- und Gleichstellungsatlas Schweiz, Zürich: Seismo. Bundesamt für Statistik (2018), Schweizerische Arbeitskräfteerhebung (SAKE) 2017, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/familien /erwerbs-haus-familienarbeit.html (April 2018). Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen (2008), Familienund schulergänzende Kinderbetreuung. Eine Bestandsaufnahme der EKFF, Bern: EKFF. Schul- und Sportdepartement der Stadt Zürich (2018), Tagesschule 2025, www. stadt-zuerich.ch/tagesschule2025 (April 2018). Schüpbach, Marianne (2018), Was ist eine Tagesschule? – Eine historische Herleitung der Zeitorganisation an Schulen und eine begriffliche Klärung, in: Tagesschulen – ein Überblick, hg. v. Marianne Schüpbach, Lukas Frei und Wim Nieuwenboom, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 15-28. Schweizerische Nationalfonds NFP 60 (Hrsg. 2013), Familienergänzende Kinderbetreuung und Gleichstellung: Schlussbericht, Zürich und St. Gallen: IFRAS und SEW. Vollmer, Knut (2015), Schulkindbetreuung in Hort und Ganztagsschule, Freiburg im Breisgau: Herder.
Hospiz
Wenn über Kinder, Kindheit(en) und ihre Räume diskutiert wird, so werden in selbstverständlicher Weise pädagogische, anthropologische sowie entwicklungspsychologische Sichtweisen bemüht, um die eigenständige und schützenswerte Entwicklungsphase von Kindern herauszustellen. Nahezu unabwendbar gelangt man bei dieser thematischen Zuwendung zu kindlichen Lern- und Bildungsprozessen, die es – in regelmäßiger Orientierung an pädagogischen Moden – biografisch und an entsprechenden Orten früh zu ebnen gilt. Ebenso wird man zu dem ungetrübten Wunschbild einer glücklichen Kindheit geführt, in dem Unversehrtheit, Freude und die Behütetheit vor Leid und Trauer im Vordergrund stehen. Auch wenn diese Behütetheit – im Anblick sozialer Realitäten – nicht (immer) gelingt, so kreisen in diesem Kontext genügend Begriffe stets um einen perspektivischen, gar hedonistischen Gedanken: Kindern – in normativ-unbeschränkter Hinsicht – eine gute Kindheit und ein gutes Leben in der Zukunft zu ermöglichen. Die Wünsche für ein solches Leben sind insofern oftmals romantisierend, verheißungsvoll, richtungsweisend sowie positiv-prognostisch formuliert und vom Bild einer fröhlichen und unbeschwerten Kindheit mit kontinuierlichen Entwicklungsverläufen, selbstgesteuertem Lernen bis hin zu guten Schulabschlüssen, einer erfolgreichen Bildungsbiografie und sinnvollen Erwerbsarbeit geprägt. Doch worauf nehmen perspektivische Gedanken Bezug, wenn Kinder lebensbedrohlich krank oder sogar sterbenskrank sind, wenn positiv-prognostische Narrative rund um eine schützenswerte und glückliche Kindheit kaum bis gar nicht denkbar erscheinen? Und verbirgt sich hinter der Erzählung von Perspektiven nicht von vornherein etwas Beunruhigendes sowie Bedrängendes, wenn in einem stationären Hospiz nur noch wenige Hoffnungen auf Heilungschancen für Kinder bestehen und sich die Tagesabläufe bereits um End-, Sterbe- und Todesphasen drehen? Sabine Meinig (2008, S. 11) gibt zu verstehen, dass die mit Kindern so selbstverständlich verbundenen »Zukunftshoffnungen und Zukunftsperspektiven« bei der Diagnose einer lebensverkürzenden Erkrankung »mit einem
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Schlag ausgelöscht« werden. Ein gutes Leben von Kindern in der Zukunft erhält in diesem Fall eine gänzlich andere perspektivische Bedeutung. Der Blick wird verlagert auf sorgevolle aber auch Entlastung schaffende Räume innerhalb eines Hospizes – und bleibt damit im Hier und Jetzt und Bald. In diesen Räumen eines Hospizes sind betroffene Kinder und ihre Familien einschließlich ihrer professionellen BegleiterInnen bemüht, der Tatsache einer progredienten (progressivfortschreitenden) Erkrankung des Kindes mit höchster Zuversicht zu begegnen. Das Sprechen über erkrankte Kinder ist in einem Hospiz zweifelsfrei ganz anders und zunächst einmal perspektivisch ins Gegenteil verkehrt: Erkrankte und sterbenskranke Kinder, lebensverkürzende Prognose, fortschreitende Bewegungseinschränkung(en), begrenzte Lebenszeit sowie vorauseilende Trauer etc. sind nicht nur Begriffe, sondern bittere Faktizitäten, mit denen umgegangen werden muss. Durchaus finden sich hier auch richtungsweisende und prognostische Termini, allerdings weniger in der vorausblickenden Unbeschwertheit und (bei einer progredienten Erkrankung) schon gar nicht mit genuin positiven Konnotationen hinsichtlich eines von Erwachsenen gelenkten, nachhaltigen guten Lebens in der Zukunft verbunden. Vielmehr dominiert notwendigerweise der Blick auf die andere, das heißt deutlich näher rückende finale Seite des Lebens. »Zuversichtlichkeit« ist hier also die vereinende Vokabel, um die sich – trotz schwer- oder unheilbarer Erkrankung – weitere Hilfen in einem Hospiz für Kinder versammeln, denen es darum geht, Hoffnung zu geben, Freude zu bereiten, Endlichkeit zu vermitteln, zu verstehen sowie anzuerkennen und »das kleine Glück des Augenblicks« (Kraft 2016/2017, S. 3) auszuschöpfen und zu genießen. Denn die Sterblichkeit ist insbesondere bei der Diagnose einer lebensverkürzenden Erkrankung nicht mehr nur ein theoretisches und entferntes Etwas, sondern für betroffene Kinder und ihre Familien zusehends greif- und erfahrbar(er). Aber wie können sterbenskranke Kinder und ihre Familien zuversichtlich sein, wenn in der Konfrontation mit der zu frühen Sterblichkeit vieles so sinnlos erscheint? Ein bedeutsamer Beitrag zu diesem Zuversichtlich-Sein liegt in der Historie der Hospize für Kinder begründet. Während in England bereits in den 80erJahren des 20. Jahrhunderts erste stationäre Kinderhospize mit dieser Philosophie eröffnet wurden, werden diese in Deutschland erst mehr als zehn Jahre später eingerichtet. Ausgangspunkt für die institutionellen Eröffnungen in England war die Kinderhospizbewegung Ende der 1970er-Jahre, »etwa zehn Jahre nach der Eröffnung des weltweit ersten Erwachsenenhospizes in London« (Jennessen, Bungenstock und Schwarzenberg 2011, S. 49). Betrachtet man die Kinderhospizbewegung in England genauer, so fällt auf, dass sie sich nicht losgelöst von einem persönlichen, tiefen humanen Engagement sowie eigenen Betroffenheiten entwickelt hat und auch nicht anders zu verstehen ist. So wurde das weltweit ers-
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te Kinderhospiz namens Helen House im Jahre 1982 von der Ordens- und Krankenschwester Frances Domenica in Oxford gegründet, nachdem die Familie Worswick 1978 aufgrund der lebensbedrohlichen Erkrankung ihrer Tochter Helen Kontakt zu ihr aufnahm (vgl. ebd., S. 49). »Frances Domenica entwickelte aus der temporären Pflege Helens heraus die Idee, einen Ort für Familien mit lebensverkürzend erkrankten Kindern zu schaffen.« (Ebd.) Das Helen House wurde insofern zu einem wegweisenden Modell für die Gründung weiterer Kinderhospize, in denen sich eine Philosophie durchsetzen konnte, in deren Sinne »families could share the caring in an environment where practical help, friendship and quality time were offered« (Price und McFarlane 2009, S. 6). Diesem Gründungcharakter des Helen House recht ähnlich konstituierte sich 1990 die Kinderhospizbewegung in Deutschland; und zwar durch den »Zusammenschluss und das gemeinsame Interesse von sechs Elternpaaren mit lebensverkürzend erkrankten Kindern« (Jennessen, Bungenstock und Schwarzenberg, 2011, S. 49). Sie gründeten den Deutschen Kinderhospizverein e. V., dessen Hauptziel, »ein stationäres Kinderhospiz nach englischem Vorbild zu bauen« (Deutscher Kinderhospizverein e. V. 2018, o. S.), sich in den Jahren herauskristallisierte. Dieser Blick nach England beruhte nicht nur auf dem obigen Fürsorgekonzept der Kinderhospizbewegung und -gründungen. Als Vorbild diente zweifellos auch die erwähnenswerte »prodigious personal energy« (Clark 1998, S. 43) sowie der charismatische Einfluss der englischen Krankenschwester, Ärztin und Sozialarbeiterin Cicely Saunders. Als Pionierin der Palliativmedizin und -pflege für Erwachsene (vgl. Craft 2009, S. viii) ebnete sie schließlich nicht erst – wie oft angenommen wird – mit dem 1967 in London gegründeten St Christopher’s Hospice den Weg für neue Ansätze hinsichtlich der ganzheitlichen Pflege und Begleitung von Sterbenden. Bereits zehn Jahre zuvor, so argumentiert Clark (1998, S. 43), ließ sich – bis zur Gründung des St Christopher’s Hospic – beobachten, wie das von Cicely Saunders praktizierte Bündel aus beharrlicher Aufmerksamkeit für Details und persönlichem Engagement zum Gründungsmoment einer internationalen Hospizbewegung wurde. Kinderhospizinitiativen sowie pädiatrische Palliativmedizin und -pflege schöpfen insofern noch heute ihre Grundsätze aus dem wertvollen und emblematischen hospice careVerständnis hinsichtlich des Umgangs mit Sterbenden nach Cicely Saunders, das von Zuversicht geprägt ist. Ihre zentralen Gedanken einer Lebensqualität und Selbstbestimmung bis zum Schluss finden sich in der Argumentation wieder, dass auch »Palliative care in children is not just about dying. It is about the need to make the best of living whatever may be round the corner, and how ever long or short that life might be« (Craft 2009, S. viii).
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Entlang dieser Auffassung konzentriert man sich in einem Hospiz für Kinder im doppelten Sinne darauf, eine pädiatrisch-orientierte Lebens- und Sterbebegleitung zu praktizieren. Je nach Erkrankung, emotionaler Belastung und Bedürfnissen von Kindern und Eltern können entweder stationäre Hospize aufgesucht oder ambulante Hospizdienste genutzt werden. Während ambulante Hospizdienste im Wesentlichen durch ehrenamtlich Mitarbeitende den betroffenen Kindern und Familien den Wunsch erfüllen, im vertrauten Zuhause ganzheitlich begleitet zu werden, sind stationäre Hospize aufgrund der Schwere der Erkrankung des Kindes darauf spezialisiert, eine interdisziplinäre palliativ-pflegerische, medizinische und psychosoziale Betreuung zu leisten. Kinder mit einer progredienten Erkrankung können hier mit ihren Familien bereits ab der Diagnose, bis hin zum Tod und darüber hinaus unterstützt werden. »To make the best of living whatever may be round the corner« (ebd.) bedeutet daher für betroffene Kinder und Eltern, sich an diesem Ort mit der Grenzsituation eines jungen Lebens auseinanderzusetzen und mit dem frühen Sterben zu leben (lernen). Der gewählte Titel »24 Stunden voll im Leben« des Jahresmagazins des Bundesverbands Kinderhospiz e. V. gibt ausreichend Beispiele dafür, wie in stationären Hospizen der Alltag für Kinder und ihre Familien entlang dieser Leitidee zwischen Leben und Sterben zuversichtlich gestaltet werden kann. Der stationäre Raum Hospiz ist daher ein vielfältiger, solidarischer Begegnungsraum und ebenso ein Ort des guten Glaubens sowie des sich Fallenlassens in Hände, die mit der Schwere der Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung multiprofessionell umzugehen wissen. In diesem Raum sind verschiedenste Orte wie Musiktherapieräume, »Oasen der Stille«, Wohnküchen, Abschiedsräume, Bewegungsbäder, »Streichelzoos«, mit Lichtquellen und angenehmen (Duft-)Elementen ausgestattete »Snoezelräume« zum Entspannen, Spielplätze sowie Trauerbegleitungsräume etc. bereitgestellt, an denen die existenziellen Themen Sterben, Tod und Trauer zu jeder Zeit kommuniziert werden können und auch spürbar sind. Auch Erinnerungsplätze sind aufzufinden, an denen Bäume mit Bildern oder in den Garten gelegte Steine mit Namen an verstorbene Kinder gedenken. Die multiprofessionelle Begleitung von Kindern und ihren Familien durch spezialisierte Fachleute und einen hohen Anteil an ehrenamtlich Mitarbeitenden sorgt für die Förderung der Lebensqualität der gesamten Familie in dieser extremen Lebenssituation und öffnet ausreichend Räume für die damit verbundene Trauer. Zeiträume, die im Kontext von vitalen Kindheit(en) so vielfältig sind und angesichts dessen von Kindern an unterschiedlichen institutionellen Orten oftmals absehbar verbracht werden, schmelzen für sterbenskranke Kinder zu einem medizinisch-kontrollierten und zeitlich nicht gänzlich absehbaren, daher zermürbend ungewissen Zeitpunkt zusammen. In und an diesem geschieht unwillkürlich
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und mit tiefem Respekt vor dem Leben als etwas Kostbarem dennoch genau das, wovor man Kinder doch – um auf den Anfang zurückzukommen – weitestgehend bewahren möchte, nämlich die alltägliche Auseinandersetzung und Konfrontation mit den Themen Krankheit, Traurigsein, Schmerz(en), Sterben und Tod. An dieser Stelle sei erwähnt, dass sich seit einigen Jahren glücklicherweise eine Enttabuisierung dieser Themen im Kindesalter und innerhalb kindlicher Lebensräume beobachten lässt. So gibt es inzwischen unterschiedliche soziale – oftmals gemeinnützige und durch ehrenamtliches Engagement getragene – Einrichtungen, in denen Kinder, die den zu frühen Tod einer nahestehenden Person erfahren haben, die Möglichkeit erhalten, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Die langwährende Kritik daran, dass Kindern die Auseinandersetzung mit der eigenen Trauer im Kontext von Tod und Sterben zu wenig ermöglicht wird, lässt sich zumindest in diesen sozialen Einrichtungen nicht aufrechterhalten. Jedoch wird das konstante und oft unbedacht vorgetragene Plädoyer, Kindern die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit und den negativen, belastendenden Seiten des Lebens durchaus zuzumuten, paradox, wenn Kinder ein Hospiz betreten müssen. Diese Form der Zumutung trifft hier auf eine zugespitzte, unerträgliche existenzielle Realität. Die Auseinandersetzung mit Krankheit, Schmerz(en), Kraftverlusten, Schuldgefühlen, Abschiednehmen, Sterben und Tod wird ihnen nicht – wie in Kitas oder Schulen – in ausschließlich präventiver Absicht auf positive Weise und nur im Rahmen eines Gedankenspiels zugemutet, sondern muss ihnen in einem Hospiz aufgrund unmittelbarer lebensbedrohlicher Betroffenheiten für unabsehbare Zeit aufgebürdet werden. Gedankenspiele in Form von Projekten kommen und gehen. Eine lebensverkürzende Erkrankung jedoch kommt und bleibt. Und noch viel mehr: Sie nimmt den Menschen mit. Wie unerträglich daher die konfrontative Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens bereits für Kinder und Eltern ist, die sich mit zu erwartenden Heilungschancen nur gelegentlich und »vorübergehend« in einem stationären Hospiz aufhalten, zeigt sich in der leidenschaftlichen Debatte, die eine erfahrene Kinderonkologin und Palliativmedizinerin führt. Ihr Argument, dass die Heilungschancen für leukämiekranke Kinder bei mittlerweile über 80 Prozent liegen, führt sie zu dem Vorschlag, der Name Hospizdienst nähme diesen Familien die Hoffnung und müsse daher durch einen »verträglicheren« Namen wie »Familiendienst« ersetzt werden (vgl. Globisch 2012, S. 46 f.). Um wie vieles unerträglicher muss demnach das notwendige Aufsuchen eines Hospizes sein, wenn genau diese Hoffnungschancen infolge einer fortschreitenden Erkrankung nicht mehr erfüllt werden können? Erst recht wenn Kinder, geprägt von Schmerzen, regelmäßigen medizinischen Kontrollen, Eingriffen und bei zeitgleichen Rückschritten dort, wo gesunde Kinder – um es mit Maria Mon-
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tessori zu sagen – in »unausgesetztem Wachstum« begriffen sind, sich absolut gegenteilig in einer persönlichen Situation des spürbar bevorstehenden Lebensverlustes befinden. Der Charakter des Raumes Hospiz ist – seine so wertvollen Mühen kaum würdigend – nolens volens schwer belastet. In ihm können Kinder nur schwer bis gar nicht vor Zumutungen abgeschottet werden. Es wird daher immer ein Raum sein und bleiben, von dem unbetroffene Menschen wie ehrenamtlich Engagierte aufgrund der hier praktizierten menschlichen Zuneigung, Wärme und Zuversicht positiv berührt sind. Für betroffene Kinder und ihre Familien ist es jedoch der Raum, in den sie gänzlich unfreiwillig einkehren. Ob ein Kind das Hospiz besucht, weil sein oder ihr Vater dort versterben wird, oder ob ein Kind sich aufgrund der eigenen heilbaren oder nicht mehr heilbaren Erkrankung regelmäßig dort aufhält – nichts von beidem hält Kinder und Eltern vor dem unerwünschten und bedrohlichen »Stachel des Todes« (Gross 2008) im Raum eines Hospizes fern. Der Vorschlag der Kinderonkologin, den Hospizdienst in »Familiendienst« umzubenennen, würde kaum viel mehr Hoffnung bringen, zumal die verträgliche(re) Umbenennung keineswegs die Tatsache schmälert, dass etwas gedacht werden muss, was man in der und für die Kindheit nicht denken will. Denn die Bedeutung des Wortes Hospiz ergibt sich weniger aus seiner Semantik als vielmehr aus der unvermeidlichen und nicht-wahrhabenwollenden Praktik, vermittels derer sterbenskranke Kinder von so vielen unbeschwerten Dingen ferngehalten werden (müssen), die sie doch glücklich machen. Der durchaus berechtigte und vielzitierte Passus Norbert Elias’ »Der Tod ist ein Problem der Lebenden«, mit dem immer wieder gerne auf die Trauer der Hinterbliebenen verwiesen wird, zeigt sich in einem Hospiz für Kinder insofern nochmal anders; denn der Tod wird auch zu einem Problem für die noch lebenden Kinder. Schließlich werden sie in ihrer lebensbedrohlichen Situation mit vielen kleinen Verlusten aber vor allem der Härte einer ganz und gar nicht unbeschwerten Realität konfrontiert, die ihnen letztendlich ihr junges Leben nehmen kann oder gar nimmt. Wie gerne hätte man sie doch genau davor behütet. Miriam Sitter
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Literatur Clark, David (1998), Originating a movement. Cicely Saunders and the development of St Christopher’s Hospice, 1957-1967, Mortality 3(1), S. 43-63. Craft, Alan (2009), Foreword, in: Palliative Care for Children and Families. An Interdisciplinary Approach, hg. v. Jayne Price und Patricia McNeilly, Chippenham und Eastborne: Palgrave Macmillan, S. vii-viii. Deutscher Kinderhospizverein e. V. (2018), Die Geschichte des Deutschen Kinderhospizvereins e.V, https://www.deutscher-kinderhospizverein.de/der-ver ein (April 2018). Globisch, Marcel (2012), Kinderhospizarbeit in Deutschland. Entwicklung und aktuelle Situation, frühe Kindheit 1(12), S. 44-47. Gross, Peter (2008), Endlich. Der Stachel des Todes, in: Tod und Sterben in der Gegenwartsgesellschaft. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung, hg. v. Caroline Y. Robertson-von Trotha, Baden-Baden: Nomos, S. 253-260. Jennessen, Sven, Astrid Bungenstock und Eilen Schwarzenberg (2011), Kinderhospizarbeit. Konzepte, Erkenntnisse, Perspektiven, Stuttgart: Kohlhammer. Kraft, Sabine (2016/2017), Editorial: 24 Stunden voll im Leben. Wie der Alltag in einem Kinderhospiz wirklich aussieht, Jahresmagazin 365 Tage fürs Leben, hg. v. Bundesverband Kinderhospiz e. V., Lenzkirch. Meinig, Sabine (2008), Wenn Kinder sterben – die Arbeit im Kinderhospiz. Marburg: Tectum. Price, Jayne und Marisa McFarlane (2009), Palliative Care for Children – a Unique Way of Caring, in: Palliative Care for Children and Families. An Interdisciplinary Approach, hg. v. Jayne Price und Patricia McNeilly, Chippenham und Eastborne: Palgrave Macmillan, S. 1-17.
Inklusionsraum
»Inklusionsraum«!? Wie sich einem Begriff nähern, der in gewisser Weise einen Kunstbegriff darstellt, ein artifizielles Kompositum, das jeglicher terminologischer wie fachlicher Historie entbehrt? Und – ist es überhaupt sinnvoll oder eher abträglich, ein solches Kompositum zu besprechen und auf diese Weise mitzukreieren? Starten wir mit einer empirischen Beobachtung im Feld der Bildungsorganisation Schule. Bei einer Unterrichtshospitation in einer Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg sagte ein Schulleiter zu mir: »Sie beschäftigen sich ja in Ihrer Arbeit mit Inklusion und sind daher sicher interessiert. Wir haben auch Inklusion an unserer Schule. Kommen Sie mit.« Wir verließen den Klassenraum. Der Weg führte an der Schulmensa entlang zu einem leerstehenden Klassenzimmer, das in etwa der Größe des eben verlassenen Klassenraums entsprach. Mit dem Finger auf seinen Lippen und bei leicht geöffneter Tür, flüsterte er mir zu: »Sehen sie, wir haben einen Inklusionsraum. Hier arbeitet der I-Schüler Ramin gerade mit seiner Schulbegleitung an seinem individuellen Förderplan.« Diese erste Begegnung mit dem Begriffskompositum »Inklusionsraum« sorgte für Irritation meinerseits. Wie kann ein solch exklusives Setting »Inklusionsraum« genannt werden? Sicher, individuelle Förderung ist eine etablierte integrative Maßnahme und Schulbegleitungen nehmen eine bildungspolitisch präferierte paraprofessionelle Rolle ein. Aber wie kann räumliche Exponiertheit in diesem Ausmaß Inklusion, also Einschluss, ausdrücken? Die beschriebene Situation und die hierdurch angestoßene gedankliche Gratwanderung zwischen Inklusion und Exklusion waren Auslöser für die folgende tentative Erkundungsreise, die der Frage nachgeht, wie ein »Inklusionsraum« anders gedacht und formuliert werden kann. Zunächst scheint die zugegebenermaßen euklidische Auffassung von Raum als einem physisch-statischen Behälter, in dem Inklusion »enthalten« ist (und zusätzlich als personenbezogenes Additum (»Inklusions-«) einem Kind zugeordnet wird), irritierend. Inklusion würde sich dann auf die Ebene von Schule beziehen
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und Ramin erhielte durch den Inklusionsraum die Möglichkeit, in der Schule »inkludiert« zu sein? Allerdings können Räume auch als Strukturierungselemente von sozialen und symbolischen Ordnungen verstanden werden, nicht »in« denen, sondern »durch« die Ein- und Ausschluss hergestellt wird. In dieser relationalen Auffassung (vgl. Hummrich 2012, S. 18 bezugnehmend auf Löw 2001) nehmen der »Inklusionsraum« von Ramin und die Schulbegleitung sogleich eine andere Kontur an: Beides kann als Produkt angesehen werden, hergestellt durch eine gewisse räumliche Anordnung und Platzierung (von Körpern). So ergibt sich eine Anordnung, die nur für Ramin und die Schulbegleitung einen Raum kreiert und eben nicht für andere Schülerinnen und Schüler. Dieser »Inklusionsraum« mag dann zwar räumlich die Einbeziehung von Förderschulen in Regelschulen leisten. Konkret vor Ort (im Verhältnis von Regelunterricht und Einzelförderung) übernimmt er allerdings die Funktion eines Exklusions- oder Differenzierungsraums (im Verhältnis von didaktisch zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten) etc. Auf jeden Fall zeigt sich diese auf die Herstellung von Raum fokussierte Sichtweise, die unter anderem auf Henri Lefebvre und seinen 1974 veröffentlichten Text »Le Production de l’Espace« zurückgeht, höchst anschlussfähig an die Überlegungen von Jan Weisser (2005), die sich auf die Herstellung von Behinderung beziehen. Er fasst eine Behinderung schlicht als etwas, »das nicht geht, von dem man ausgeht, dass es geht« (ebd., S. 15) und verortet eine Behinderung als an eine Person herangetragene Erwartung, die sie auf Basis der eigenen Fähigkeiten (nicht) erfüllen kann (vgl. hierzu auch WHO 2010). Zurück »im Inklusionsraum« kann Ramins Lernsituation und die Einrichtung eines solchen Raums (inklusive einer Betreuungssituation durch eine Schulbegleitung) vor dem Hintergrund der vorangegangenen Überlegungen somit als Produkt einer Nichterfüllung schulischer Erwartungen angesehen werden. Möglicherweise hat er durch sein Verhalten oder durch seine schulischen Leistungen erwartungswidrig gehandelt. Die Schule als Institution antwortet hier in jedem Falle mit einer überdauernden Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs (»I-Schüler«) und hat – für die Zwecke einer spezifischen, individuellen Förderung – einen »speziellen« Raum in der Schule für Ramin (und gegebenenfalls weitere I-Schüler) eingerichtet. Dies lässt auch Rückschlüsse auf die Art und Weise der Organisation von Bildung in Schule zu. Inklusion erfährt vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von Behinderung eine kritische Wendung, ausgehend von einem Zuweisungsmerkmal (»Inklusionsschüler«) oder einer feststehenden räumlichen Entität (»Inklusionsraum«) hin zur Frage nach einem gerechten gesellschaftlichen und schulischen Umgang mit Differenz (vgl. Budde und Hummrich 2013), der zur strukturellen Verankerung von Inklusion und Exklusion in räumlicher Hinsicht führen kann
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– zum Beispiel in Form eines spezifisch zugewiesenen Raumes für einzelne Schülerinnen und Schüler, unabhängig davon, ob Ramin das Lernen in diesem Raum als privilegierten Zugang oder räumliche Aussonderung erachtet. Wie Inklusion dann aussieht, hängt in erster Linie davon ab, inwiefern das (Lern-) Angebot dazu passt, wie und woran Ramin lernen kann, wie er sich Wissen aneignen kann – also als (Nicht-)Passung von Adressierung beziehungsweise Angebot und Fähigkeit. Und auch: Mit wem Ramin lernen kann – isoliert in einem separaten Raum mit seiner Schulbegleitung? Oder unterstützt durch die Lehrperson? Oder mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern? Die Frage, wie sich Inklusion der Schule räumlich abbildet, wendet sich dahin, wie Schülerinnen und Schüler in der Schule sozial und gegenstandsbezogen agieren können. Inklusion und Exklusion kann dann als Interaktion zwischen Struktur und Person(en) angesehen werden. Eine nächste Kontur des Inklusionsraums im Kontext von Bildung scheint daher auf: Nun ist er ein Handlungsraum, in dem die Akteurinnen und Akteure vor dem Hintergrund von Strukturen und Kulturen mit ihren eigenen habitualisierten Praktiken an der Hervorbringung von Raum beteiligt sind (vgl. Bourdieu 1991). So kann davon ausgegangen werden, dass die Position von Ramin im »Inklusionsraum«, der sich zunehmend zu einem »Exklusionsraum« hin entwickelt, durch gewisse Regeln und Routinen hervorgebracht wurde – nicht im »Inklusionsraum«, sondern im Klassenraum. Die Lehrerin beziehungsweise der Lehrer entscheidet durch die Art der methodischen Gestaltung des Unterrichts (Frontalunterricht, Arbeit mit Wochenplänen, Differenzierungsmaterial, Gruppenarbeiten, etc.) in gewisser Weise über die Adressierung aller/einiger Schülerinnen und Schüler. Es gibt Regeln bezogen auf Verhalten, auf die zu verwendende Sprache; es gibt Leistungserwartungen und curriculare Setzungen bezüglich der zu behandelnden Themen. Hier scheint die Lehrperson zentrale Akteurin beziehungsweise Akteur zu sein, allerdings verfügt auch die Schulbegleitung über Handlungsspielräume. Ein Beispiel: Möglicherweise ist Ramins Aufenthalt im Inklusionsraum das Ergebnis des Willens der Schulbegleitung, die – aufgrund ihrer prekären Arbeitssituation und der Notwendigkeit der Unselbstständigkeit Ramins – der Lehrperson deutlich gemacht hat, dass Ramin sich besser in einem separaten Raum konzentrieren könne und sie dabei die Begleitung und Kontrolle des Förderplans übernehmen könne. Bewusst oder unbewusst formen und zementieren also die Strukturen und Praktiken die Handlungsräume von Kindern und Jugendlichen (zum Beispiel durch Zugangsvoraussetzungen, Milieumitgliedschaften) und geben ihnen die Möglichkeit für Teilhabe und Partizipation. Hier zeigt sich der Prozesscharakter von Sozialisations- und Behinderungserfahrungen, die sich sukzessive verdichten können zu Strukturen und Kulturen sozia-
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ler Ungleichheit (vgl. Weisser 2017, S. 148). Daher kann eine erste, grundlegende Dimension eines Inklusionsraumes als Struktur und Kultur der Unterstützung gefasst werden, um sozialer Ungleichheit entgegenzuwirken und Begegnung zu ermöglichen. Aber reicht dies als Gestalt eines Inklusionsraums aus, eine Struktur und Kultur der Exklusionsverhinderung und Anti-Diskriminierung zu schaffen? Oder hat Inklusion nicht dem selbst und wiederholt gestellten Anliegen der Wertschätzung von Vielfalt und der darin enthaltenen pädagogischen Perspektive des Voneinander-Lernens Rechnung zu tragen? Kurz gesprochen: Inklusion als einen Möglichkeitsraum zu fassen, in dem etwas entsteht, von dem ausgegangen wird, dass es ohne die Unterschiedlichkeit der Akteurinnen und Akteure nicht entstehen könnte. Vor diesem Horizont wird Inklusion dann, alteritätstheoretisch gesprochen, als eine gemeinsame Situation entworfen, in der das »Andere« enthalten ist beziehungsweise benötigt wird. Der Raum wird also zum Inklusionsraum durch den unterschiedlichen Anderen. Er zeichnet sich dann durch ein dialogisches Verhältnis (im Sinne eines basalen Sprachraums aller, vgl. Rödler 2000) sowie durch die Ungewissheit des Prozesses und Ergebnisses aus, in der eine »wechselseitige Deutung und Bedeutung [sic] der Welt« (ebd., S. 90) möglich wird. Ein Inklusionsraum kommt in dieser Form schließlich einem sogenannten »Dritten Raum« (Bhaba) sehr nahe, da er sich auf die produktive Aushandlung von Unterschieden bezieht, die hierdurch einen eigenen, übergeordneten – dritten – Raum herausbilden. Er ist also ein flüchtiger wie hybrider Raum, der durch das »Andere« entsteht und vergeht. Anna Babka und Gerald Posselt schreiben: »Der Dritte Raum ist […] Erfahrungsbereich im Spannungsfeld zwischen Identität und Differenz; er ist Ort des Aushandelns von Differenzen mit dem Ziel der Überwindung von Hierarchisierungen und damit Ort und Möglichkeit der Hybridisierung.« (2012, S. 12) Die Invariante, also der unveränderliche Kern, der den Inklusionsraum kreiert, stellt dann nicht das physisch-räumliche Beisammensein dar, sondern einen »Gemeinsame[n] Gegenstand« (vgl. Feuser 2010) als kollektiven Referenzpunkt für die handelnde Auseinandersetzung mit Verschiedenheit im Sinne von Bildungsprozessen. Mit »Gemeinsamer Gegenstand« ist nicht die Lernaufgabe gemeint, die Ramin beispielsweise mit Unterstützung durch seine Schulbegleitung getrennt von seinen Mitschülerinnen und Mitschülern bearbeitet, sondern der gemeinsame Arbeitsprozess von Schülerinnen und Schülern entlang eines gemeinsamen Erkenntnisinteresses, zum Beispiel in einer länger angelegten Projektarbeit, in der Ramin auf Basis seines Lernstandes beitragen kann.
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Vor meinem inneren Auge sehe ich wieder den Inklusionsschüler Ramin. Er sitzt an einem der vorderen Tische in dem sonst leeren Klassenzimmer. Die Schulbegleitung, die qua Auftrag nicht pädagogisch handeln, sondern assistieren und pflegen soll, sitzt links neben Ramin und zeigt mit dem Zeigefinger der linken Hand auf eine Matheaufgabe, die Ramin gleichzeitig mit Wendeplättchen zu lösen versucht. Ich befinde mich in diesem Moment der Beobachtung in einem Widerstreit, ob ich die Situation als unterstützte Ermöglichung von Inklusion durch personelle und individuelle Förderung oder als Exklusion begreifen soll, komme aber zunehmend zur Einschätzung, dass ich nicht eine gelungene Fördersituation in einem Inklusionsraum sehe, sondern die binäre »Verräumlichung« (Ahrens 2009, S. 73) von Inklusion in Klassenraum und »Inklusionsraum« genannten separaten Förderraum. Was ist das Ergebnis dieser kurzen gedanklichen Reise, was ein Inklusionsraum ist beziehungsweise sein könnte? Heraus kommt, dass ein Inklusionsraum weder ausschließlich in der Struktur, noch in der einzelnen Person angelegt ist. Er zeigt sich auf zwei Ebenen: Zum einen als ein Raum der Unterstützung, der durch Strukturen und Praktiken ständig hergestellt wird und – insbesondere hinsichtlich der eigenen Involviertheit und potenzieller Exklusionspraktiken – der Reflexion bedarf (vgl. Budde & Hummrich 2013). Zum anderen zeigt er sich als »Dritter Raum« im Sinne einer dialogischen Aneignung mehrerer Personen – zum Beispiel als unterrichtliche Projektarbeit, in der Ramin gemeinsam mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern an einem Lerngegenstand arbeitet und diesen exploriert. Die zugrundeliegenden Strukturen zeigen sich dann in Form einer Kultur der Zusammenarbeit und des kooperativen Lernens und als strukturelle Verankerung einer Assistenz, die gegebenenfalls die Lehrerin beziehungsweise den Lehrer darin unterstützt, die Projektarbeit zu gestalten und durchzuführen, mit Blick auf Schülerinnen und Schüler, die gegebenenfalls Assistenz bedürfen. Die dialogische Aneignung vollzieht sich dann als kollektiver Bildungsprozess – als Dritter Raum der produktiven Aushandlung von Unterschiedlichkeit. Was ist also ein »Inklusionsraum«? Und normativ gefragt: Was muss ein guter Inklusionsraum leisten? Vor dem Hintergrund der eben vollzogenen theoretischen Suchbewegungen besitzt ein Inklusionsraum nicht mehr die Gestalt eines Containers zur strukturellen Aussonderung wie in der beschriebenen Situation. Vielmehr kann man sich – nahezu diametral entgegengesetzt – einen Inklusionsraum als einen kollektiven und dialogischen Raum vorstellen, in dem die Möglichkeit universalistischer Bildung im Sinne von »Bildung für alle« (vgl. Budde und Hummrich 2013) gegeben ist. Andreas Köpfer
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Literatur Ahrends, Daniela (2009), Der schulische Lernort: Zwischen institutioneller Entgrenzung und sozialer Verräumlichung?, in: Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs, hg. v. Jeanette Böhme, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 73-86. Bhabka, Anna und Gerald Posselt (2012), Vorwort, in: Über kulturelle Hybridität, hg. v. Homi K. Bhaba, Anna Babka und Gerald Posselt, Wien: Turia & Kant. Budde, Jürgen und Merle Hummrich (2013), Reflexive Inklusion. Zeitschrift für Inklusion-Online 4, https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online /article/view/193/199 (August 2018). Feuser, Georg (2010), Integration und Inklusion als Möglichkeitsräumen, in: Integration und Inklusion auf dem Weg ins Gemeinwesen, hg. v. Anna D. Stein, Stefanie Krach und Imke Niediek, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 1732. Hummrich, Merle (2012), Jugend und Raum, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Lefebvre, Henri (2006 [1974]), Die Produktion des Raums, in: Raumtheorie, hg. v. Jörg Dünne und Stephan Günzel, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Rödler, Peter (2000), Die Theorie des Sprachraums als methodische Grundlage der Arbeit mit ›schwerstbeeinträchtigten‹ Menschen, in: Es gibt keinen Rest! Basale Pädagogik für Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen, hg. v. Peter Rödler, Ernst Berger und Wolfgang Jantzen, Neuwied und Berlin: Luchterhand, S. 86-101. Weisser, Jan (2005), Behinderung – Ungleichheit – Bildung. Eine Theorie der Behinderung, Bielefeld: transcript. Weisser, Jan (2017), Konfliktfelder schulischer Inklusion und Exklusion im 20. Jahrhundert. Eine Diskursgeschichte, Weinheim: Beltz Juventa.
Internat
Wirft man in einer Vorlesung, die der Einführung in die Erziehungswissenschaft gewidmet ist, die Frage auf, was am Internat aus pädagogischer Perspektive interessant sein könnte, dauert es meist nicht lange – und die Studierenden verwandeln den Hörsaal in einen Seminarraum. Sie weisen zunächst darauf hin, dass hier die Betreuung der Schüler_innen nicht nur ungleich intensiver betrieben werden könne als in einer Regelschule; sie könne überdies auch sehr viel stärker Rücksicht auf die individuellen Neigungen der Einzelnen nehmen und künstlerische, musische oder etwa sportliche Talente fördern. Die Voraussetzung dafür sei freilich, dass diese nach Unterrichtsschluss der Einrichtung nicht den Rücken kehren und sich in separierten Sphären bewegen können. Die Intensivierung der pädagogischen Arbeit stelle daher eine große Chance dar: Die Zuwendung zum_zur Einzelnen stehe im Internat nicht unter dem Diktat eines strengen Zeitmanagements; vielmehr sei Zeit hier eben keine knappe Ressource, sondern stehe ausreichend zur Verfügung.1 Dass die Dimension der Zeit auf eigentümliche Weise mit der Dimension des Raumes verschränkt ist, zeigt sich schnell, wenn im Anschluss die Frage danach aufgeworfen wird, wo sich die meisten der ihnen bekannten Internate befänden. Nur in seltenen Fällen verweisen deren Adressen auf Großstädte oder gar Metropolen. Ungleich häufiger sind sie in ländlichen Regionen anzutreffen, bisweilen weit entfernt von hoch verdichteten, urbanen Räumen. Diese Abgeschiedenheit setze dabei, so die allenthalben geäußerte Einschätzung, besondere pädagogische Möglichkeiten frei: Womöglich inspiriert von der Rousseau’schen »Pädagogischen Provinz«, unterstellen viele, dass sich das pädagogische Personal – fern der Städte und den damit verbundenen Ablenkungen – weitgehend ungestört den Fragen von Bildung und Erziehung widmen könne. Sie verwendeten viel Zeit und beträchtliche Energie darauf, solche Umgebungen zu schaffen, die nicht allein das Lernen fördern, sondern auch die Erziehungsbemühungen unterstützen und Bildungsprozesse anregen.
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Mit Blick auf diese besondere Konstellation – ein aufwendiges räumlichzeitliches Arrangement, das eine Intensivierung der pädagogischen Arbeit ermöglichen soll und eine lange, über Deutschland hinausweisende Tradition besitzt – muss es überraschen, dass das Internat von den Vertreter_innen der Erziehungswissenschaft in der Vergangenheit zumeist nur sehr stiefmütterlich behandelt wurde. Obwohl sich hier die Chancen und Risiken pädagogischer Praxis wie unter einem Brennglas beobachten lassen, sich also Fragen pädagogischer Ethik und Professionalität sowie solche nach Macht und Gewalt mit besonderer Dringlichkeit stellen, ist das Internat als Bildungseinrichtung bislang doch nur in seltenen Fällen zum Gegenstand des pädagogischen Diskurses geworden (vgl. Gonschorek 1979). Augenscheinlich hat die Erziehungswissenschaft lange Zeit kaum ernsthafte Bemühungen erkennen lassen, das Internat nüchtern in den Blick zu nehmen und die pädagogische Dimension dieser Einrichtung unvoreingenommen zu diskutieren. Dies änderte sich schlagartig, als 2010 medial breit publik wurde, dass es an der Odenwaldschule über Jahrzehnte hinweg zu mehr als 130 Fällen sexualisierter Gewalt gekommen war. Wie Meike S. Baader festhält, ist das Problem sexualisierter Gewalt in pädagogischen Institutionen jedoch nicht neu; neu sei die gesteigerte Aufmerksamkeit und das öffentliche Sprechen darüber. Das Thema sexueller Missbrauch, dessen Diskussion in den 1970er-Jahren maßgeblich von der Frauenbewegung angestoßen worden sei, sei damit vom Rand des pädagogischen Diskurses in sein Zentrum gerückt (vgl. Baader 2012). Sucht man nun das Internat als einen Raum der Kindheit zum Gegenstand zu machen, mithin als einen Ort, an dem sich Bildung und Erziehung, Sozialisation und Subjektivierung auf komplizierte Weise überlagern und unterschiedliche generationale Ordnungen aufeinander treffen, erscheint es daher ratsam, auch nach anderen Zugängen zu suchen. Dabei zeigt sich schnell, dass wissenschaftliche Disziplinen durchaus nicht die einzige Erkenntnisquelle darstellen. So geraten neben der Erziehungswissenschaft und der Soziologie, die in der jüngsten Vergangenheit einige Anstrengungen unternommen hat, das Internat als eine besondere Form der Organisation zu erforschen, auch Romane in den Blick. Seit langer Zeit stellt der Internatsroman eine eigene Gattung dar: In ungezählten Romanen, aber auch in Erzählungen und Novellen, wird das Internat als Bildungseinrichtung zum Gegenstand gemacht (vgl. Johann 2003). Aufschlussreiche Einblicke in das Internatsleben verschaffen darüber hinaus auch (Autosozio-)Biographien. Aus einer soziologischen Perspektive gerät das Internat als eine jener Organisationen in den Blick, die über besondere Programme und Konzepte, über räumliche Arrangements sowie den Einsatz der Ressource Zeit auf die Tatsache zu reagieren suchen, dass pädagogische Maßnahmen notorisch scheiternsanfällig
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sind. Die Beobachtung, dass es in pädagogischen Kontexten keine Kausallogik gibt – deren Klientel ist mit einem eigenen Willen ausgestattet und verfolgt bisweilen auch abweichende Ziele –, provoziert augenscheinlich eine besondere Intensivierung der Maßnahmen und Vorkehrungen. Untersucht man diese genauer und lenkt das Augenmerk auf die regulierte Zeitnutzung und durchgeplanten Tagesabläufe, die rigiden Kontrollen und sanktionsbewehrten Regeln, die für nicht eben wenige Internate typisch sind, muss es nicht länger überraschen, dass sie im Rückgriff auf den US-amerikanischen Soziologen Erving Goffman als »totale Institutionen« bezeichnet wurden (vgl. z. B. Gonschorek 1979). Auch wenn Goffman dabei zunächst an Gefängnisse oder etwa psychiatrische Kliniken dachte, wird bei seinem »Steckbrief« totaler Institutionen doch schnell deutlich, dass manche Internate in der Gefahr stehen, sich zu solchen Einrichtungen zu entwickeln. Typisch für totale Institutionen ist demnach erstens, dass alle Angelegenheiten des Lebens am selben Ort und unter einer Autorität stattfinden, dass zweitens die Mitglieder der Institution »alle Phasen ihrer täglichen Arbeit in unmittelbarer Gesellschaft einer großen Gruppe von Schicksalsgenossen« ausführen, dass drittens alle Phasen des Arbeitstages genau geplant und geregelt sind sowie viertens die unterschiedlichen erzwungenen Tätigkeiten »in einem einzigen rationalen Plan vereinigt [sind], der angeblich dazu dient, die offiziellen Ziele der Institution zu erreichen« (Goffman 1973, S. 17). Der Machtzuwachs, den dies für das pädagogische Personal bedeutet, wurde auch in der Soziologie erst recht spät problematisiert. Zunächst gerieten Internate aus einer bildungssoziologischen Perspektive in den Blick: Bis heute sind sie, das zeigen empirische Studien, ganz maßgeblich an der Reproduktion sozialer Ungleichheit beteiligt. Wer seinen Kindern die optimale Förderung garantieren und ihnen bestmögliche Chancen bieten will und wer dafür auch hinreichend große finanzielle Mittel aufzuwenden in der Lage ist, nimmt sie aus dem Betrieb der Regelschule und meldet sie bei einem Internat an. Hier sorgt schon meist das Schulgeld dafür, dass nur ein sehr exklusiver Personenkreis Zugang zur Welt der Eliteinternate erhält. Der umfassende Zugriff auf die Zöglinge, der mit der spezifischen räumlichen Dimension des Internats zusammenhängt, wird freilich eher selten thematisiert. Eine Ausnahme stellt Herbert Kalthoffs Studie zur Wohlerzogenheit dar. Mittels eines ethnographischen Zugangs zeigt er, wie Wohlerzogenheit im Internat durch die Arbeit an sich selbst hergestellt wird. Das Internat eigne sich für die Beobachtung der Konstitution von Individuen gerade aufgrund seiner räumlichen Besonderheit, weil die »Objekte« der Forschung, die Schüler_innen, in einer geschlossenen Lebenswelt platziert seien. Diese sei gekennzeichnet durch eine spezifische Ordnung, die verbunden ist mit einer Reihe von Erwartungen,
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Regeln sowie Ge- und Verboten; aufrechterhalten wird diese symbolische Ordnung insbesondere durch das wiederholte Üben und Korrigieren sozialer Praktiken. Das Internat erweist sich so als Ort der Einübung und der performativen Aufführung eines spezifischen Habitus und damit zugleich als Ort machtvoller Subjektivierungspraktiken, die etwa am Umgang mit der Ressource Zeit zu erkennen sind: »Zeit vergeht nicht einfach, sondern sie ist [...] ›sinnvoll gefüllt‹.« (Kalthoff 1997, S. 205) Über die permanente Erinnerung an die Verhaltensregeln und deren Durchsetzung schreiben sich diese Regeln in die Körper der Kinder und Jugendlichen ein (vgl. ebd., S. 218). So werde dort eine Identität ausgebildet, in der sich die Wohlerzogenheit durch bestimmte Kompetenzen wie Regelakzeptanz auszeichnet, die aber auch die Möglichkeit beinhaltet, auf diese den Umständen entsprechend angemessen zu reagieren und sich derart beispielsweise von Erwartungen auch distanzieren zu können. Wenngleich das Internat aufgrund seiner Zeit- und Raumordnung umfassenden Zugriff auf die Kinder und Jugendlichen ermöglicht, muss hier gleichwohl mit – zumindest subtiler – Widerständigkeit gerechnet werden. Wie hat sich nun – nach den Ereignissen an der Odenwaldschule sowie an anderen Internaten – der Blick auf das Internat verändert? Deutlich ist seither, dass gerade die räumliche Dimension des Internats erhebliche Gefahren birgt. Denn auch wenn für pädagogische Praktiken allgemein gilt, dass sie – gesellschaftlich, sozial, politisch und kulturell gerahmt – meist in asymmetrischen Arrangements situiert sowie mitunter auch gewaltförmig organisiert sind, gilt doch, dass Erzieher_innen und Lehrer_innen im Internat zweifellos die größte Kontrolle und den umfassendsten Zugriff auf Schüler_innen haben. Die Gefahr, das überaus sensible Verhältnis von Nähe und Distanz zu verletzen, die heikle Balance von Individuum und Gruppe zu stören, ist daher – und dies auch für professionelle Pädagog_innen – vielleicht nirgends so groß wie innerhalb der Mauern eines Internats. Die pädagogische Tätigkeit in einem Internat stellt daher besondere Herausforderungen an die Professionalität. Und dies eben deshalb, weil die Bemühungen, die hier betrieben werden, um die Intensivierung pädagogischer Praktiken zu erreichen, mit beträchtlichen Gefahren verknüpft sind. Gerade diese sind es denn auch, die seit dem Bekanntwerden der massenhaften Fälle sexualisierter Gewalt an Internatsschulen die öffentliche Debatte prägen – bis zum heutigen Tag, wie etwa die Diskussionen über die verschleppte Aufklärung und Aufarbeitung an Internatsschulen in kirchlicher Trägerschaft deutlich macht. Vor diesem Hintergrund fällt auch auf die Debatten um Kindheit ein neues Licht. Vertreter_innen der neueren Kindheitsforschung warnen mit guten Gründen davor, Kinder vornehmlich als Objekt pädagogischer Maßnahmen in den
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Blick zu nehmen und plädieren dafür, ihnen den Akteursstatus nicht länger zu verwehren (vgl. Honig 2009). So wichtig die Betonung der kindlichen Eigenständigkeit fraglos ist, kann in der Folge die spezifische Verletzbarkeit von Kindern, ihre Abhängigkeit von Sorge, Zuwendung und Schutz – auch als Bedingung der Ermöglichung von Selbständigkeit – aus dem Blick geraten (vgl. Andresen, Koch und König 2015). Die mit dem Akteursstatus verbundene Handlungsmächtigkeit einerseits und Verletzlichkeit andererseits sollten jedoch nicht als Alternative gedacht werden, stattdessen gilt es, diese in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Verletzbarkeit gilt zwar für Menschen ganz grundsätzlich, für Kinder und Kindheit aber stellt sich die Frage nach Verletzbarkeit in spezifischer Art und Weise. Was geschieht, wenn dieses besondere Angewiesen-Sein von Kindern an einem Ort wie dem Internat nicht berücksichtigt wird und das pädagogische Personal den besonderen Ansprüchen an Professionalität nicht genügt, lässt sich in Romanen studieren. Neben manchen Kinderbüchern, die das Internat als Stätte fortgesetzter Streiche, intensiver Freundschaften und engen Zusammenhalts schildern – und das Internat damit als Idylle präsentieren (vgl. Burg Schreckenstein, Hanni und Nanni etc.) –, gibt es auch jene mitunter biographisch gefärbten Romane, welche das Internat als eine Einrichtung schildern, die von gewaltvollen Praktiken der Beschämung, der Demütigung, der Unterwerfung und der körperlichen Verletzung gekennzeichnet ist. Und hierbei ist wiederum die spezifisch räumliche Dimension des Internats bedeutsam, die beispielsweise in Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) oder – aktueller – in Kazuo Ishiguros Alles, was wir geben mussten (2005) beschrieben wird. Pierre Bourdieu und Jacques Derrida wiederum, zwei der berühmtesten Sozialtheoretiker Frankreichs, besuchten das renommierte Lycée Louis-le-Grand in Paris und machen dieses in Reflexionen über ihren Bildungsgang zum Gegenstand (vgl. Bourdieu 2002). Sie schildern die beklemmende Atmosphäre, die großen Schlafräume, die Sanktionen und Strafen wie auch die schmerzlich vermisste Privatsphäre. Und sie beschreiben die Stigmatisierung der sogenannten Internen, die durch das Tragen eines grauen Hemdes weithin erkennbar waren, während die sogenannten Externen, die Schüler aus begüterten Verhältnissen, das Lycée nach Unterrichtsende umgehend verließen. Sowohl in (auto-)biographischen Erzählungen als auch in Romanen erweist sich das Internat somit als ein Ort von Praktiken der Disziplinierung und der Beschämung. Nicht zuletzt verweisen literarische Zeugnisse und autobiographische Erzählungen darauf, dass im Internat mit der Ausprägung unterschiedlicher Formen der Gewalt zu rechnen ist. Diese zum Gegenstand zu machen und dabei das komplizierte Zusammenspiel von zeitlich und räumlich verfassten symbolischen
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Ordnungen zu erforschen, ist nicht allein die Aufgabe der Erziehungswissenschaft. Aber hier, auch das wird deutlich, stellen sich Fragen der Professionalität, der Professionalisierung und der Ethik mit besonderer Dringlichkeit. Nicht allein die Kindheit gilt es frei von Idealisierungen und Verklärungen in den Blick zu nehmen, sondern auch Bildungseinrichtungen wie das Internat. Anmerkung 1 Für die zahlreichen Redebeiträge und die aktive Beteiligung gilt unser Dank den Tübinger Studierenden der Vorlesung »Bildung und Erziehung: Theorien und Kontexte« des Sommersemesters 2018. Markus Rieger-Ladich und Angela Janssen Literatur Andresen, Sabine, Claus Koch und Julia König (2015), Kinder in vulnerablen Konstellationen. Zur Einleitung, in: Vulnerable Kinder. Interdisziplinäre Annäherungen, hg. v. dens., Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 7-19. Baader, Meike Sophia (2012), Blinde Flecken in der Debatte über sexualisierte Gewalt. Pädagogischer Eros und Sexuelle Revolution in geschlechter-, generationen- und kindheitstheoretischer Perspektive, in: Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik, hg. v. Werner Thole, Meike Baader, Werner Helsper, Manfred Kappeler, Marianne Leuzinger-Bohleber, Sabine Reh, Uwe Sielert und Christiane Thompson, Opladen, Berlin und Toronto: Barbara Budrich, S. 84-99. Bourdieu, Pierre (2002), Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Goffman, Erving (1973), Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Gonschorek, Gernot (1979), Erziehung und Sozialisation im Internat. Ziele, Funktionen, Strukturen und Prozesse komplexer Sozialisationsorganisationen, München: Minerva Publik. Honig, Michael-Sebastian (2009), Das Kind der Kindheitsforschung. Gegenstandskonstitution in den childhood studies, in: Ordnungen der Kindheit. Problemstellungen und Perspektiven der Kindheitsforschung, hg. v. dems., Weinheim: Beltz Juventa, S. 25-51. Johann, Klaus (2003), Grenze und Halt: Der Einzelne im »Haus der Regeln«. Zur deutschsprachigen Internatsliteratur, Heidelberg: Winter. Kalthoff, Herbert (1997), Wohlerzogenheit. Eine Ethnographie deutscher Internatsschulen, Frankfurt am Main und New York: Campus Verlag.
Karussell
»Karussell, Karussell, dreh dich schnell und was draußen vorbeiflitzt ist die Welt« (Niessen 1964), so besang Hildegard Knef in den 1960er-Jahren das Karussell, und bis heute hat das Fahrgeschäft wohl nichts von seiner Faszination eingebüßt. Auf jeder Kirmes drehen sich Pferdchen, Elefanten, Polizei- oder Feuerwehrautos, Löwen oder Hubschrauber, Gondeln oder Schiffchen um eine Achse. Eingeläutet von einer Glocke, setzen sie sich auf einer sich drehenden, fest verankerten Bodenplatte in Bewegung, wippen auf und ab oder stehen still, und ihre kleinen Reiterinnen und Reiter, Pilotinnen oder Kapitäne haben allerhand zu tun, um sich festzuhalten und nicht runterzufallen. Sieht man sich Fotos historischer Karussells um 1900 an, so erkennt man schnell große Ähnlichkeiten. Auch hier waren die Reitfiguren in kräftigen Farben bunt bemalt, das sich anfangs mitdrehende Dach häufig von Kulissenmalern mit phantasievollen Szenen bestückt. Als das Licht Einzug auf dem Rummel hielt, beleuchteten zahlreiche bunte Lämpchen das Fahrgeschäft und tauchten Kinder und Figuren in einen ganz besonderen Schein. Erste, von Hand angetriebene, Karussells gab es schon im Mittelalter vor allem im Vorderen Orient, seit dem 18. Jahrhundert fanden sie dann als Teil der Reiterspiele zunehmend Eingang in die Fürstenhöfe Europas. Die Zielgruppen waren hier vornehmlich Erwachsene, die sich im Ringstechen übten. Das Ringstechen war ein Reiterspiel, bei dem die auf den Karussellpferden sitzenden Fahrgäste versuchten, bei immer schnellerer Fahrt die seitlich aufgehängten Ringe mit einer Lanze zu treffen. Bald tauchten fest installierte stationäre Karussells für Kinder in Vergnügungsparks oder Biergärten im stadtnahen Bereich auf und wurden vor allem auch vom langsam aufstrebenden Bürgertum in der durch die Industrialisierung erst entstehenden Freizeit als Auszeit von der Arbeitszeit genutzt. Um das Karussell jedoch breiten Gesellschaftsschichten zugänglich und bekannt zu machen, bedurfte es zunächst einiger »Erfindungen«: Das Karussell musste mobil werden, es musste mit den technischen Neuerungen der Zeit gehen und es musste nach dem Motto »höher, schneller, weiter« weiterentwickelt wer-
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den. Dies alles geschah um 1830, als die ersten transportablen Fahrgeschäfte aufkamen. Nun wurde das Karussell zur Attraktion auf der Kirmes, dem Volksfest oder dem Jahrmarkt und erreichte neue Zielgruppen. Die meisten Bodenplattenkarussells waren von Hand angetrieben, Kinder oder auch Pferde liefen dazu im Inneren des Karussells und schoben es an einer Stange an. Die Kinder verdienten sich für diese temporäre Arbeit ihren Kirmesgroschen. Kirmes war für einige Kinder aus dem lokalen Umfeld aber vor allem für Kinder aus Schaustellerfamilien lange Zeit nicht nur ein Ort des Vergnügens, sondern auch ein Ort der Arbeit. Um 1860 wurde dann in England das erste elektrische Karussell präsentiert, das schon per se eine Faszination war und als Besuchermagnet wirkte und Alt und Jung gleichermaßen staunen ließ. Die Kirmes – als Kirchmesse eigentlich in der traditionellen, vorindustriellen, agrarischen Gesellschaft und ihrem Festkalender verankert – überdauerte die Industrialisierung und zog mit ihren Attraktionen bald breite Gesellschaftsschichten an. Neben den klassischen Kinder-Bodenkarussells fanden auch andere Karussellformen wie Schiffsschaukeln, Wellenschaukeln oder Dampfschiff-Karussells Eingang auf der Kirmes, die dann auch für ältere Kinder, Jugendliche und zum Teil auch Erwachsene attraktiv waren (vgl. Dering 1986). Gleichzeitig mit der Etablierung des Karussells auf den Jahrmärkten hielt es als Spielautomat mit Musik, Zubehör für die Eisenbahn oder einfaches Aufziehgerät Einzug in die Kinderzimmer der vornehmlich bürgerlichen Kinder. Die Miniatur-Karussells aus Blech mit mechanischem oder später auch elektrischem Antrieb ließen auch hier die Pferdchen im Kreis laufen. Die variantenreichen Figuren spiegeln, wie bei den großen Vorbildern auch, den jeweiligen Zeitgeist wider. Reitpferdchen, Zeppelin, Motorrad, Mondrakete oder Biene Maja sind Zeugen einer zeitgenössischen Weltsicht und vermitteln auch hier auf spielerische Art und Weise Werte und Normvorstellungen. Auch im Kinderbuch, das sich 19. Jahrhundert als Medium der Erziehung durchsetzte, kommt der Rummel immer wieder vor, und vor allem die Kinderbücher (vgl. Schachenmeier 1951) der 1950er-Jahre prägen mit ihren bunten Bildern und positiven Beschreibungen des Kinderkarussells das kollektive Gedächtnis: »Rote, grüne und gelbe Lichter funkeln am Karussell. Wenn es sich dreht, werden bunte Ketten daraus. Die Feuerwehr tutet, das Auto hupt, die Straßenbahn klingelt. Alles ist bunt und in tausend Lichter gehüllt.« (Könner 1961, o.S.) In der Wirklichkeit erlebten Rummel und Schaustellergewerbe mit ihren Fahrgeschäften um den Ersten Weltkrieg herum eine Krise, als zum einen – mit dem Argument der öffentlichen Sicherheit – die Nutzung durch die Preußische Regierung stark reglementiert wurde und gleichzeitig aufgrund von Wirtschaftskrise, Rezession und Krieg finanzielle Einbußen verkraftet werden mussten. Die
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»goldenen 20er Jahre« brachten auch hier wieder einen Aufschwung. Neben den traditionellen Karussells wurden neue Attraktionen wie der Autoskooter vorgestellt und vom Publikum gerne aufgenommen. Immer schnellere, höhere und spektakulärere Fahrgeschäfte finden sich vor allem seit den 1950er-Jahren auf den Jahrmärkten. Abenteuerliche Achterbahnen, Hang Over-Türme mit freiem Fall, APOLLO 13, das »durchgestylte Mega-Fahrgeschäft« sowie immer ausgefallenere Riesenräder locken die Besucherinnen und Besucher. In der Gegenwart rückt das beschauliche Kinder-Bodenkarussell zwischen all den rasanten Hightech-Fahrgeschäften in den Hintergrund. Angesichts rekordheischender Attraktionen wirkt es wie ein Anachronismus und doch ist sein Besuch fester Bestandteil des familiären Bummels über den Jahrmarkt. Eine Szene wie die folgende haben wohl viele Kirmesbesucherinnen und -besucher schon einmal beobachten können: Das Karussell dreht unermüdlich seine Runden, ein kleiner Junge sitzt freudestrahlend in einem altmodisch wirkenden Polizeiwagen. Die Eltern warten geduldig am Rand, winken ab und zu, wenn ihr Kind an ihnen vorbeikreist, doch der Junge hat kaum einen Blick nach rechts oder links übrig, schaut mit großen Augen in die Fahrtrichtung und hält sich entschlossen am Lenkrad fest. Diese Tour ist sein kleines Abenteuer, sein Stückchen Freiheit. Mit jeder Runde geht eine Eroberung des Raums, eine Erweiterung des kindlichen Aktionsradius und eine Ahnung von Selbständigkeit einher. Denn losgelöst von den Eltern unternimmt der kleine Junge die Karussellfahrt für sich allein und gibt sich – durchaus ein wenig stolz – dieser Erfahrung an einem außeralltäglichen Ort hin. Er erlebt die Fahrt in räumlicher Abgrenzung zu den Eltern, aber doch mit der Gewissheit und Sicherheit, dass diese ganz in der Nähe sind und das Karussell ihn irgendwann zu ihnen zurückbringen wird. Als sein Polizeiauto schließlich anhält, verlangt der Junge noch eine weitere Fahrt, doch die Mutter erklärt, man müsse jetzt gehen. Ein Hauch Enttäuschung macht sich breit, doch mit Aussicht auf andere Vergnügungen verfliegt sie schnell, schließlich sind eine Portion Zuckerwatte, eine Hand voll Lose an der Glücksbude oder der Hauptgewinn beim Entenangeln zum Greifen nah. Szenen wie diese konnten die Autorinnen in den Jahren 2015 bis 2017 im Rahmen von Recherchen für das Filmprojekt »Auszeit in Pützchen. Der Jahrmarkt vor der Haustür« beobachten (vgl. Dafft und Bauer 2017). Anlässlich des Jubiläums »650 Jahre Pützchens Markt« sollte eine ethnografische Filmdokumentation entstehen, die der Faszination dieser bekannten Bonner Fünf-TageKirmes auf die Spur kommt, die jährlich rund eine Million Besucherinnen und Besucher in ihren Bann zieht (vgl. Dafft 2017). Die Interviews, Gesprächsnotizen, Film-und Fotoaufnahmen aus dem Projekt lassen es auch zu, Erklärungsansätze für die nachhaltige Faszination des vergleichsweise unspektakulären Ka-
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russells und seine Bedeutung als Ort der Kindheit zu formulieren. Gerade aufgrund seiner Behäbigkeit und Entschleunigung ermöglicht das klassische Kinderkarussell kleinen Jungen und Mädchen eine recht gefahrlose und adäquate Teilhabe an der bunten, lauten, zuweilen grellen Welt des Jahrmarkts, in der sie die Erwachsenen begleiten. Es ist ihr kindgerechter Einstieg in einen außeralltäglichen Erfahrungs- und Erlebnisraum (vgl. Szabo 2009). Denn Kirmes bedeutet auch und vor allem eine Auszeit vom Alltag mit seinen sonst üblichen Normen und Regeln. Hier werden prinzipiell andere Verhaltensmuster möglich, die rauschhafter und genussorientierter sind als üblich, aber gleichzeitig immer noch bestimmten Festkonventionen entsprechen. Um ein simples Beispiel zu nennen, das auch auf die Lebenswelt der Kinder zutrifft: Wer sich sonst gesundheitsbewusst ernährt – oder aus der Perspektive der Kinder – gesundheitsbewusst ernähren soll, darf hier durchaus einmal in Fettgebackenem und klebrig Süßem schwelgen. Auf dem Jahrmarkt sind intensive sinnliche, visuelle, akustische und köperbetonte Erfahrungen möglich: Die Lichter und Farben der Buden, das Gedränge in den Gassen, das schwindelerregende Auf und Ab, Taumeln und Trudeln der Gondeln, die kulinarische Auswahl, die sich überlagernden Gerüche und Geräusche. Allein schon Dekor, Ikonographie und Symbolik der Fahrgeschäfte halten eine scheinbar grenzenlose Vielfalt an Themenwelten bereit; hier geht das Abenteuer wahlweise durch Weltraum-, Geister- oder Meereskulissen. Das alles schafft eine multioptionale Alterität, die im alltäglichen Leben nur schwerlich ihre Entsprechung finden wird. Auch das Kinderkarussell ist Bestandteil dieser Außeralltäglichkeit beziehungsweise für sich genommen ein außeralltäglicher Erlebnisort, der vor allem den Kindern vorbehalten ist. Kleine Jungen und Mädchen eignen sich, zwar unter Aufsicht von Erwachsenen aber dennoch auf sich gestellt, ein Stück öffentlichen Raum an. So langsam sich das klassische Karussell im Vergleich zu anderen Attraktionen auch bewegen mag, für kleine Kinder dürfte das fortwährende Kreiseln, die Geräuschkulisse mit Musik, Signalen und Rufen der Schausteller eine eher ungewohnte Erfahrung bedeuten. Diesen nicht-alltäglichen Schauplatz können die Kinder – in gewissem Rahmen – selbstbestimmt erobern. Sie treffen eine individuelle Wahl, denn oft zeigen selbst die Kleinsten vor einem Karussell eine Präferenz, machen deutlich, auf welcher Figur oder in welcher Gondel sie am liebsten sitzen möchten und steuern sie je nach Temperament mal mehr, mal weniger zielstrebig an. Sie entscheiden aktiv, ob sie sich als Pferdenarr, Feuerwehrfrau, Löwenbändigerin oder eben Polizist in die Runden begeben. Zur Erlebnisqualität des Karussells gehört auch dieses kleine Spiel mit Rollen aus der Erwachsenenwelt. Im Verlauf der Kindheit und Adoleszenz verändern sich die Erlebnispräferenzen, die der Jahrmarkt mit seinen unterschiedlichen Karusselltypen bietet.
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Der Aktionsradius wird größer, das Kind erobert sich immer mehr Raum und es gibt mehr Zugeständnisse durch die Erwachsenenwelt. Dabei korrespondieren bestimmte Stationen der Kindheit durchaus mit einzelnen Karussells – je nach individuellen Vorlieben. Das Kinderkarussell, das unter Aufsicht Erwachsener erobert wird, wurde hier ausführlich als Einstieg in die Kirmeswelt beschrieben. Es ist charakteristisch, dass das Kind es, abgesehen von der selbstbestimmten Entscheidung für eine präferierte Gondel, eher passiv nutzt; ein Lenken, ein Wechsel der Fahrtrichtung ist nicht möglich. Später fahren Jungen oder Mädchen möglicherweise im Autoskooter – zunächst als Beifahrer mit einem Elternteil. Wenn sie älter sind, sitzen sie selbst am Steuer und treten auf der Fahrfläche gegen Andere an. Der Besuch auf dem Rummel findet dann nicht mehr mit der Familie, sondern mit der Clique statt, auch der soziale Radius erweitert sich. Ein Karussell, das in besonderer Weise den Übergang von der Kindheit in die Adoleszenz markiert, ist die sogenannte Raupe. Sie war beliebt bei Teenagern und stand im Ruf, kleine amouröse Begegnungen mit Freund oder Freundin zu ermöglichen, wie uns von älteren Befragten im Rahmen des Filmprojekts immer wieder schmunzelnd berichtet wurde: »Die Raupe schloss während der Fahrt für ein paar Runden das Verdeck ihrer Gondeln, dann brauchte man hinterher einen Labello, da wurde dann geknutscht« (Diskussionsbeitrag an einem Vortragsabend zum Filmprojekt am 26.1.2017 in Bonn-Holzlar), wusste zum Beispiel ein 65-Jähriger aus dem Bonner Umland zu berichten. Gerade wegen der vielfältigen sinnlichen, außeralltäglichen Erfahrungsmöglichkeiten hat der Kirmesbesuch gute Chancen, sich in das Gedächtnis von Kindern einzuschreiben und so zu einem individuellen Erinnerungsort zu werden. Genau hierin liegt die Bedeutung des Karussells für die erwachsenen Besucherinnen und -besucher des Jahrmarkts. Das anachronistisch anmutende Erscheinungsbild des Karussells kommt einerseits einem Bedürfnis nach Nostalgie entgegen, bietet Vertrautheit angesichts einer sich schnell wandelnden Welt und wird so zum emotional aufgeladenen Gegenpol zu den vielen hochtechnisierten, modernen Kirmesangeboten. Andererseits kommt es nicht selten vor, dass sich die Älteren beim Anblick eines Fahrgeschäftes an Ereignisse aus der eigenen Kindheit erinnern und damit auch an geliebte Menschen, mit denen sie diese Erfahrungen geteilt haben. »Ich bin genauso ein Kirmes-Jeck wie mein Vater. Früher bin ich immer mit ihm über Pützchens Markt gegangen. […] Meine Kinder durften mit 12 Jahren alleine losziehen […] und dieses Jahr gehe ich das erste Mal mit dem Enkelchen das Karussell angucken«, erzählt eine 67-Jährige. Erinnerungen an einzelne Jahrmarktsaktivitäten, etwa die Karussellfahrt, werden häufig an die nächste oder übernächste Generation narrativ oder performativ
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weitergegeben: Was man selbst als Kind mit den Eltern erlebt hat, unternimmt man später mit den eigenen Kindern. Erinnerungen können auf diese Weise jedes Jahr aufs Neue reproduziert und in Form von kleinen Familienritualen tradiert werden. Kirmes und das Karussell werden so zu einem intergenerationellen Erinnerungsort. Katrin Bauer und Gabriele Dafft Literatur Cwojdrak, Hilga (Hrsg. 1960), Dreh dich, Karussell. Ein buntes Jahrbuch für Mädchen und Jungen, Berlin: Der Kinderbuchverlag. Dafft, Gabriele und Katrin Bauer (2017), Auszeit in Pützchen. Der Jahrmarkt vor der Haustür, Bonn, DVD. Dafft, Gabriele (2017), Zwischen Gottesdienst und Geisterbahn. Pützchens Mark als Erinnerungsort und Erlebnisraum, in: Pützchens Markt. 650 Jahre in Bonn am Rhein, hg. v. Karl-Heinz Erdmann und Michael H. Faber, Bonn: Bouvier, S. 193-208. Dering, Florian (1986), Volksbelustigungen. Eine bildreiche Kulturgeschichte von den Fahr-, Belustigungs- und Geschicklichkeitsgeschäften der Schausteller vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Dissertation). Könner, Alfred (1961), Wenn ich groß bin lieber Mond, Berlin: Altberliner Verlag Lucie Groszer. Niessen, Charly (1964), Karussell – Karussell. Erstveröffentlichung: Single Sei doch so wie damals, 4/1964, gesungen von Hildegard Knef. Schachenmeier, Hanna und Irene Schreiber (1951), Komm, wir fahren Karussell! Oldenburg. Szabo, Sacha (Hrsg. 2009), Kultur des Vergnügens. Kirmes und Freizeitparks – Schausteller und Fahrgeschäfte. Facetten nicht-alltäglicher Orte, Bielefeld: transcript.
Katzentisch
Frieda hat sich wieder mal daneben benommen. Das Eigelb ist ihr vom Löffel gerutscht und hat einen üblen Fleck auf der neuen Tischdecke zurückgelassen. Weil die Mutter ihr zur Strafe die weitere Teilhabe an der Tischgemeinschaft versagen will, erhält sie einen »Platzverweis«. Sie muss abseits der elterlichen Tafel an einem kleinen Nebentisch (dem sogenannten Katzentisch) weiteressen. Frieda wird exkommuniziert; zwar nur auf Zeit und nicht für immer. Aber gerade darin liegt das charakteristische Merkmal eines Katzentisches. Als soziale Institution ist er dazu da, bis auf weiteres aufzunehmen, wen andere aktuell nicht mehr unter sich haben wollen. Solche Exklusionen passieren aus einer Laune, einem Argwohn, einem Ärger, einer Missgunst oder Gehässigkeit, aus einem Gefühl, das sich – würde man die »Sache« zum Thema einer Supervision machen – wegen seiner Abgründigkeit und »Grausamkeit« – kaum legitimieren ließe. Katzentische sind Undinge – in jedem Fall in ethischer Hinsicht, meistens auch in praktischer. Weil es keine Regeln für den Rauswurf aus der bergenden Dunstglocke einer Community gibt, fehlen auch Prozess, Verteidiger und Urteil; ebenso gibt es keine Rechtsmittel und keine Schließer, die über die gelebte Zeit des Draußen-sein-Müssens wachen. Umso wirksamer lässt sich auf den Wegen kryptischer Suggestionen Einfluss auf vorübergehend Geächtete ausüben. Kein Katzentisch ist Resultat rationaler Entscheidungen, folgt einer meist kollektiven Affektäußerung und hat einen situativen Charakter. Er wird als eine temporäre Sonderwelt aufgeblasen wie ein Luftballon. Katzentische funktionieren wie Exklaven, wie homöopathische, immaterielle und nicht lokalisierbare Knäste, in die man schickt, wen man gerade nicht unter seinesgleichen sehen möchte. Meistens mangelt es auch an Katzentischgefährten, weil die Unorte ihre peinigende Macht am besten als individualistische Inseln durchsetzen können. An, auf oder »in« ihnen wird man zum Robinson Cruso verzweifelten Hoffens oder – mit Samuel Beckett – zu einem erwartungsvoll ins Leere Wartenden.
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Tatsächliche Katzentische gibt es seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Bis heute existieren sie mitunter als etwas Reales – wie die in den 1950er-Jahren handwerklich und industriell gefertigten »Nierentische«. Ursprünglich war der Katzentisch jedoch gar kein Tisch, sondern ein Platz beziehungsweise eine Stelle auf dem Fußboden, erst später dann ein kleiner und niedriger Tisch, der etwas abseits von der Tafel »in einem Winkel« (Grimm und Grimm 1991, Bd. 11, Sp. 302) der Stube stand. Ein Platz für die Katze war er nur im sprichwörtlichen Sinne. Die Metapher hatte ihren Grund in einer früher üblichen Tradition: Man warf dem Haustier oft übrig gebliebene Essensreste (auf den Boden) zu. Es war somit die geringe Tischhöhe, die sich für den Ausschluss verhaltensauffällig gewordener Kinder von der elterlichen Tafel idealerweise anbot. Schon zu ihrer Zeit waren tatsächliche Katzentische jedoch vor allem (absolute) Orte der Strafe, Disziplin und Ächtung. Neben Kindern setzte man deshalb auch verspätet eintreffende Gäste zu ihrer Erniedrigung von der Tafel weg. Wer mit einem abseitigen Sonder-Ort Vorlieb nehmen musste, hatte nicht selten zur Verschärfung der Pein gar noch mit Schlimmerem zu rechnen: schlechtem Essen oder sogenannter »Strafkost« (ebd.). Ein Katzentisch sollte ja nicht in erster Linie räumlich ausschließen; die Separierung war nur eine Bedingung der Zumutung einer leiblich zu ertragenden Entwürdigung. Das tatsächliche Weg-gesetzt-Werden musste als symbolische Strafe in besonders eindringlicher Weise spürbar werden. Abgeleitet vom Katzentisch gab es im 19. Jahrhundert als Ausdruck Schwarzer Pädagogik auch die Metapher der »Katzenbank«. Das war die Sitzbank für den Klassenschlechtesten (vgl. Röhrich 2004, Bd. 2, S. 827). Sie unterstand dem gleichen Programm wie der Katzentisch; beide waren »exklusive« Plätze zur ephemeren Markierung besonderer Individuen. Zugleich waren sie habituelle »Richtstätten«, die sich als informelle Ein-Richtungen über lange Zeit gegen nachdenklich machende Kritik imprägnieren konnten. Jeder wird es schon einmal erlebt haben – nicht nur in der Kindheit: Man sitzt zwar noch neben den anderen am selben Tisch; aber mit diesem Dasitzen verbindet sich kein Gefühl der Gruppenzughörigkeit mehr. Die anderen sind im Übrigen die, die dafür gesorgt haben, dass man zwar immer noch sitzt wo man schon saß, sich in diesem Dasitzen jedoch selbst fremd geworden ist. Gefühle der Entbergung und Freistellung münden in das Befinden, ausgesetzt worden zu sein. Deshalb ist dieser Platz auch nicht mehr »mein« Platz, wenn es so etwas wie ein »Mein« gibt, das sich nicht über Eigentums-, Besitz- und Verfügungsrechte definiert, sondern über Zugehörigkeitsgefühle. Weil die meisten Katzentische metaphorische Tisch-Situationen sind, muss man sie auch nicht im wortwörtlichen Sinne »sitzend« ertragen; man kann oder muss sie oft (zudem ganz
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ohne Tisch) in allen nur erdenklichen Haltungen überstehen. So oder so, am Katzentisch ist man »draußen« – außerhalb der sprichwörtlichen Tischgemeinschaft. Man möchte fliehen, bleibt aber wie erstarrt sitzen, um nicht noch dümmer »dazustehen« und gänzlich von finaler Scham erfasst zu werden. Im Folgenden soll also weniger von tatsächlichen (hohen oder niedrigen) Tischen die Rede sein, als von denen, die es weniger in einer materiellen Realität als in sozialer Wirklichkeit gibt. Dies sind die institutionellen Katzentische. Sie unterscheiden sich – sofern sie überhaupt noch zu tatsächlichen Tischen in Beziehung stehen – in Form und Materialität nicht von »ordentlichen« Tischen, an denen man sich versammelt und zusammenrottet, um sich im emotionalen Treibhausmilieu verschweißender Gemeinschaftsgefühle eines kollektiven WIR zu vergewissern. In der Gefahr, an einen »außerordentlichen« (Katzen-)Tisch versetzt zu werden, sind nicht nur Kinder, sondern gleichermaßen Männer und Frauen, Arbeiter und Leitende Angestellte, Junge und Alte – einfach alle, die in ihrem So-Sein von Dritten in einem beißenden Unbehagen aversiv erlebt werden. Es sind die, die (aus welchem Grunde auch immer) nicht in die Welt der anderen passen. Dabei müssen sie noch nicht einmal aktiv etwas »Auffälliges« oder »Störendes« getan haben. Katzentische kommen aus dem Nichts und darin verschwinden sie auch wieder, ohne dass es irgendeiner Intervention im tatsächlichen Raum bedürfte. Sie sind so flüchtig wie ihre Veranlassung. Als »Rauswurf« ist der Katzentisch das Gegenmodell des sozialutopischen Programms der Inklusion. Nur hat er eine weitaus längere zivilisationshistorische wie disziplinpolitische Tradition. Nicht erst in jedem komplexen Sozialsystem steht er als imaginärer »Platz« potentiell für den plötzlich auftretenden Bedarf bereit, sondern schon in jedem performativen Gefüge zwischenmenschlichen Geschehens. Fast immer, wenn sich mehrere (erst recht viele) Personen über eine gewisse Zeit auf- und miteinander verständigen müssen, zeigen sich Differenzen im Denken und Fühlen. Eigentlich läge darin die produktive Herausforderung zur Findung innovativer Wege der Verständigung, mit anderen Worten, die Aufgabe der Schöpfung von Neuem, anstatt es bei dem zu belassen, was alle tun, um sich im Vertrauten der Illusion trügerischer Sicherheiten hinzugeben. Aber so läuft es nicht im tagtäglichen Leben, schon gar nicht, wenn sich angesichts kaum noch deckungsfähiger Standpunkte kommunikative Gewitterwolken zusammenziehen. Sobald sich dann die Atmosphäre ausbreitet, in der Sackgasse einer Meinungsverschiedenheit festzusitzen und es so aussieht, alle erkennbaren Mittel rationaler und vernünftiger Konfliktlösungs-Strategien seien erschöpft, werden die ersten Katzentische aufgestellt. Sie sind Produkt nur noch schlecht beherrschter Affekte und dazu da, aus einer kollektiven Blasenwelt zu exkludieren und einer beschämenden Situation auszusetzen, wer sich im gemein-
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schaftlichen Raunen als »störend« erweist. Dafür bieten sich zuerst solche Kandidaten an, deren Abweichung vom lokalen Common Sense leicht und schnell erkennbar ist. Wer komisch dasitzt, falsch mit dem Essgerät hantiert, laut ist, Unflätiges tut oder (je nach dem aktuellen Erregungspegel des Kollektivs) »Seltsames« sagt oder denkt, steht in der Gefahr des verdeckt (oft auch noch heuchlerisch-freundlich) kommunizierten Ausschlusses. Eine peinliche wie peinigende Bloßstellung wird nicht langsam, Zug um Zug und schon gar nicht erst als Folge abgestufter Mahnungen vollstreckt. Es geschieht vielmehr plötzlich. Wer sich als jemand erfährt, der an einen Katzentisch weggesetzt wurde, bemerkt das stets zu spät. Wer die Abschiebung registriert, ist bereits im Abseits – zwar nicht in Gänze von allem entbunden, aber doch vom Raum geeinten Zusammen-Seins abgeschnitten. Worauf es ankommt, ist autopoietisches Produkt sozialer Absonderung: Aus der Entfernung kann man nicht mehr sprechen, wie einer der Kohorte. Der befindliche Daseins-Modus ist verunsichert. Als Ausdruck strategischen Tuns soll man sich in diesem »schrägen« SoSein auch als jemand zu spüren bekommen, der etwas verbockt hat – nicht tatsächlich oder zum evidenten Schaden eines anderen, aber doch in einer Weise, die im Fokus der richtenden Gemeinschaft als unpassend empfunden wird. In der performativen Umsetzung einer exkludierenden Sonderung kommt es nicht auf gute oder schlechte Argumente an, kraft derer man jemandem suggerieren könnte, sein Schicksal selbst verschuldet zu haben. Ob jemand als (emotional) auffällig erlebt wird und »rausfliegt« oder als ungekrönter König der Runde reüssiert, »entscheidet« sich im Affekthaushalt einer Gruppe. Wer sich des eigenen Sitzens an einem Katzentisch bewusst geworden ist, musste zuvor meistens nirgendwo im tatsächlichen Raum hingehen. In ihrem Situationscharakter sind Katzentische Ausdruck einer verdeckten sozialen Dynamik, die vor allem Stimmungs-Abfall symbolisch »ausscheidet«. Das wird dem Ausgeschiedenen auch zu verstehen gegeben, habituell, gestisch, in jedem Falle nonverbal und nicht in der wörtlichen Rede: durch konkludentes Handeln. Im sozialkonstruktivistischen Sinne hat solches Tun mit Handlungen aber gar nichts zu tun, viel mehr mit einem affektiv untergründigen und ethisch abwegigen Treiben. Der Kandidat einer Exklusion soll sich schließlich selbst als Ausscheidung empfinden. Wie die tatsächliche (zudem vor den Augen anderer auch noch zu erledigende) eine verdammt peinliche Sache ist, so wird auch die Abschiebung an den Katzentisch als eine extrem unangenehme »Ausscheidung« aus einer ja weiterhin anwesenden Gruppe erlebt. Es gibt auch Katzen-Gruppentische, die jedoch wie Einzel-Tische funktionieren. Auch an sie wird verwiesen, wen andere nicht länger an ihrer Seite dulden wollen. Deshalb versammelt man sich auch nicht an einem Katzentisch, man
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wird dort versammelt – in KiTa und Schule, im Freundeskreis (der schnell zum Feindeskreis werden kann), im Beruf, in der Kirche, im Schwimmbad und noch bei der Trauerfeier. Überall wo es sogenannte »Communities« gibt, finden auch reibungsstarke Prozesse der Kommunikation statt, die in der Folge eines Konfliktes unter Umständen mit einer Exkommunikation enden können. Was mit einem Individuum geht, lässt sich mit Gruppen nicht immer so leicht machen. Oft rotten sich die (zunächst) Geächteten zu einer neuen Gruppe zusammen, um sich sodann mit ungeahnter Durchsetzungsmacht zu behaupten und – mehr noch – nach ihrer Erstarkung nun für andere Katzentische einzurichten. Einen Katzentischverweis kann man als eine Vertreibung auf Zeit verstehen – mit einem markanten Unterschied zur finalen Vertreibung: Am Ende der Katzentisch-Zeit sitzt man weiterhin auf seinem Platz, »nur« in einem anderen Gefühl als zuvor. Gerade um diese aufgezwungene Gefühls-Verwandlung geht es bei diesem temporären Ausschluss aus einer gemeinsamen Situation: ums Versetzt-Werden – auf dass sich die zer-setzende Macht ins Ergehen der abgesonderten Person durch-setzen möge. Wegen seiner affektiv zerbrechenden Wirkungsmacht ist das Weg-Setzen (als Relikt Schwarzer Pädagogik) bis in die Gegenwart praktischer Schulpädagogik lebendig geblieben. Wer einen Katzentisch aushalten muss, hat die emotional zerfressende Zeit abzusitzen wie eine mikrologische Haftstrafe – weniger entspannt als angespannt, weniger locker als gezwungen, weniger aufrecht als geknickt. Deshalb muss sich diese Machtpraktik leiblich-befindlicher Zersetzung auch jeder Rechtfertigung entziehen, denn sie verstößt gegen alle Grundsätze gedeihlichen Miteinanders mündiger Menschen. Ein Katzentisch ist eine Situation, die sich in einem sozialen Milieu herauskristallisiert (vgl. Schmitz 2003, S. 89). Der Sachverhalt (was ist) besteht darin, dass jemand auf Zeit exkludiert wird. Das Programm (was sein soll) läuft auf die Schmach sowie das Erleiden von Scham hinaus. Das Problem der Situation (was vielleicht ist oder sein könnte) bedeutet das Risiko, dass sich ein scheinbarer Delinquent – Opfer und Spielball mehr ungebremster als beherrschter Affektstöße anderer – der ihm auferlegten Zumutung einfach entziehen könnte. Damit würde er endlich selbst aktiv und verstieße gegen das unausgesprochene Gebot, wonach das Aushalten der Ächtung auch noch als Sache der Ehre gilt. Ein Katzentisch soll, gemäß seinem sozialpsychologischen Programm, kathartisch ertragen werden. Nur dann lassen sich die Exterritorialisierten in ihrem Befinden zersetzen, in ihrem Selbstbewusstsein brechen und diesseits der körperlichen Züchtigung disziplinieren. Aber die Institution verliert ihre Macht, sobald sich ein Versetzter entzieht und aus einer auferlegten Exklusion selbst exkludiert. Darin liegt das Risiko des Scheiterns aller Katzentische. Man kann darauf pfeifen und die illegitime Ausübung einer untergründigen Taktik der Macht annullieren. Wer aufsteht
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und geht, den Einfluss symbolischer Züchtigung verlacht und sich einfach aus dem Staub macht, löst den Katzentisch auf, bevor er sich als ein trüber und drückender Nebel sozialer Ab- wie Ausstoßung konsolidieren konnte. Ein gleichsam emanzipatorischer Katzentisch – seine Umkehrung mit eigenen Mitteln – steht der dunklen Seite entgegen, wenn auch nur als zaghaftempathische Geste gegenüber kindlichem Befinden. So muss am Ende (zumindest knapp) vom »guten« Katzentisch die Rede sein. Anstatt zu demontieren und herabzuwürdigen, bietet er sich als ein Refugium sozialen Zur-Welt-Kommens an, als ein Garten ontogenetisch »wilden« Sprießens. Es ist dies jener Tisch, an den manche Eltern ihre Kinder zwar auch von der gemeinschaftlichen Tafel weg-setzen, aber doch nur, um ihnen Raum fürs experimentell-übende Hineinwachsen ins Noch-Nicht-Gekonnte zu gewähren – eine Übungs-Welt des stilfreien Trainings von all dem, was irgendwann im Leben unter Bedingungen des Ernstes »sitzen« muss. Dieser Katzentisch hat den Charakter eines Reservats. In ihm darf sein, was Erwachsene gelernt haben, sich selbst nicht zu verzeihen: das Scheitern. Das kleckernde Essen, scheppernde Fallen-Lassen des Löffels und ungezähmte Sprechen mit anderen ist dabei prinzipiell jedoch dem ganz ähnlich, was auch Menschen immer nur halb können, aber besser können wollen. »Der Mensch ist […] das übende Wesen, d.h. ein Wesen, das sich nur in beständig wiederholtem Üben in seinem Sein erhalten kann.« (Bollnow 1987, S. 52) Der »gute« Katzentisch für Kinder macht nur darauf aufmerksam, dass es im »richtigen« Erwachsenen-Leben an Exklaven-Räumen existentiellen Übens mangelt. Übung und Können verhalten sich aber zueinander wie Spiel und Ernst. Wo das Spiel zum Ort systematisch kulturindustrieller Bespaßung und Verblödung wird, klafft eine Lücke der Selbstwerdung. Jürgen Hasse Literatur Bollnow, Otto F. (1987), Vom Geist des Übens. Eine Rückbesinnung auf elementare didaktische Erfahrungen, Oberwil bei Zug: Kugler. Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm (1991), Deutsches Wörterbuch, München: dtv. Röhrich, Lutz (2004), Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Freiburg im Breisgau, Basel und Wien: Herder. Schmitz, Hermann (2003), Was ist Neue Phänomenologie? Rostock: Ingo Koch Verlag.
Keller
Begibt man sich auf die Suche nach Kindheitserlebnissen, in denen Keller eine prägende Rolle spielen, stößt man auf die gesamte Breite menschlicher Emotionen: vom Grauen und Gruseln über die Langeweile bis hin zur Geborgenheit und selbst zur heiteren Gelöstheit. Manche dieser Emotionen sind zeitspezifisch – vor siebzig Jahren machten Kinder andere Erfahrungen mit Kellern als heute –, manche Emotionen aber hängen direkt mit der räumlichen Beschaffenheit des Kellers und seiner Verortung in der Unterwelt zusammen. Beginnen wir unsere Reise in den Keller mit einer Erzählung aus dem Jahr 1944: »Als Kind muss ich zuweilen schwierig gewesen sein und meiner Mutter manchen Kummer bereitet haben. Ich entsinne mich, einmal – ich war etwa fünf Jahre alt – in den Keller eingesperrt worden zu sein. Der Keller unseres Hauses war nur vom Hausflur aus durch eine schwere Falltür zu erreichen. In ihr war ein etwa 20 mal 20 cm großes vergittertes Guckloch. Das kleine Fenster war von außen verschlossen und mit alten Lappen abgedichtet, damit die eingekellerten Kartoffeln nicht erfroren. Es war also kein Entkommen aus
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dem dunklen Keller möglich. Der Kellerraum war ein in den Fels gehauenes Gewölbe, etwa so groß wie eine Einzelzelle im Gefängnis. Eine Steintreppe führte hinauf zur Falltür. Links und rechts waren die Boxen für die eingekellerten Kartoffeln. Im hinteren Teil befand sich ein Regal, auf welchem die Einweckgläser aufgereiht standen. Der Keller hatte kein elektrisches Licht. Wollte man in den Keller gehen, musste man vorher eine Laterne anzünden und die schwere Falltür öffnen. Ich war also Gefangener in Einzelhaft in einer Dunkelzelle.« (Martin 2017, S. 4 f.)
War es in den 1940er-Jahren wohl nicht ganz unüblich, Kinder zur Strafe im Keller einzusperren, dürfte diese Praxis heute (glücklicherweise) weit weniger verbreitet sein. Dennoch verweist Klaus-Rainer Martins Erzählung auf einige Facetten des Kellers, die ungebrochen gelten. In den Keller begibt man sich über Treppenstufen, die nach unten in eine Art Höhle führen, denn der Keller ist der Teil des Hauses, der unterhalb der Erdoberfläche liegt. Als solcher ist er maximal abgegrenzt von der Außenwelt und meist durch eine mehr oder weniger schwere Tür verriegelt. Hinter dieser Tür ist es dunkel, still und kalt, oft sogar feucht und modrig. Neben seiner Funktion als temporärem Kerker für ungehorsame Kinder, tritt der Keller in Martins Erzählung aber auch als Vorrats- und Lagerraum in Erscheinung. Es gibt dort Regale mit Einweckgläsern und Boxen für eingelagerte Kartoffeln, er dürfte also – zumal in der Kriegs- und Nachkriegszeit – auch eine durchaus lebenswichtige Rolle für die über ihm wohnende Familie gespielt haben. Erstaunlich ist, dass die Hauptbewohner des Kellers – gemeint sind Spinnen, Schaben, Mäuse und anderes Ungeziefer – unerwähnt bleiben. Nicht nur für Kinder werden Keller wegen dieser Tiere zu besonders angstbesetzten und gruseligen Orten. Davon berichtet Sonia Korn-Grimani, auch ihr Erlebnis stammt aus den Kriegstagen der 1940er-Jahre: »Für den Notfall hat Mme. J. geplant, dass wir in den Keller gehen sollen, also in jenen kalten Raum, in den wir auch an den kältesten Tagen zum Kartoffelschälen geschickt werden. Aber sie veranstaltet keine Notfallübung, um sicherzustellen, dass wir auch alle geordnet in den Keller laufen und uns vorab der drohenden Gefahr bewusst werden. Sie legt auch keine Vorräte für uns an, sondern erzählt uns nur von ihrem Plan, als ob das Wissen alleine ausreichen würde, uns Schutz zu geben. Doch der Keller ist auch das Zuhause von Mäusen und widerlichen Insekten, die, vor allem in der Dunkelheit, auch das mutigste Herz erschaudern lassen und erst recht die Herzen von ängstlichen Kindern. Also hoffen wir alle, dass wir unseren Schutzraum nie benutzen müssen.« (Korn-Grimani 2004, S. 116)
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Legt man beide Kindheitserinnerungen nebeneinander, deutet sich die Ambivalenz des Kellers als gleichzeitig positiv wie negativ besetzter Raum bereits an: In der ersten Erzählung ist er einerseits Kerker, andererseits aber auch Vorratsraum, in der zweiten Erzählung ist er einerseits ein gruseliger, kalter Ort, bietet andererseits aber auch Schutz vor der gefährlichen Außenwelt. Diese emotionale Ambivalenz des Kellers setzt sich in immer wieder neuen Facetten bis in die Gegenwart fort. Meine eigenen Kindheitserfahrungen mit dem Keller verbinde ich vor allem mit der Kellerbar meiner Eltern. Sie befand sich gewissermaßen im letzten Winkel des Kellers unseres Einfamilienhauses aus den 1960er-Jahren, hinter der Garage und jenseits des Vorratsraums. Mein Vater hatte diesen übrig gebliebenen Restraum in den 1970er-Jahren zur Kellerbar ausgebaut, den Raum liebevoll mit einer Holzvertäfelung ausgestaltet, eine Bar gebaut und alte landwirtschaftliche Geräte aus dem Bestand seines eigenen Elternhauses besorgt, um sie zu selbstgebauten Lampen umzufunktionieren. Das sah ziemlich urig aus. Meine Mutter präsentierte in der Kellerbar ihre beeindruckende Sammlung von Schnapsfläschchen (die meisten kamen als Geschenke), die sie über den kompletten Raum auf der Oberkante der Holzvertäfelung aufreihte. Ansonsten standen in der Bar alte ausgediente Möbel, die Atmosphäre war warm und gemütlich. Von den dort stattfindenden Partys bekamen mein Bruder und ich jeweils nur die Anfänge mit. Schon im Schlafanzug durften wir das Ankommen der Gäste noch miterleben, bevor wir ins Bett mussten. Für uns war die Kellerbar deshalb immer ein Raum, der uns zwar (auf positive Weise) faszinierte, in dem wir aber immer nur kurz zu Besuch waren. Ganz ähnlich lassen sich wohl die in derselben Zeit entstandenen Hobbykeller beschreiben. Hobbykeller sind – wie Kellerbars – Räume, in denen Erwachsene ihre Leidenschaften ausleben. Hier wird gesägt, geschraubt, gelötet und gebastelt, aber es ist der Spieltrieb der Eltern, der sich dort Bahn bricht. Manchmal dürfen Kinder auch mitwerkeln, aber alleine sind sie dort selten anzutreffen, denn schließlich sind Erwachsenenhobbys eine ernste Angelegenheit. Dennoch bleiben Hobbykeller für Kinder faszinierend. Da, wo sich Mama und Papa so leidenschaftlich gerne hin zurückziehen, will man dabei sein. Wahlweise »toll« oder »unfair« ist natürlich auch, dass man Hobbykeller nie aufräumen muss (welch Kinderzimmer-Utopie!), was sie – auf eine andere Weise als die Kellerbar – zu einem kreativ-anarchischen Ort macht. Vor dem Hintergrund dieser warmen, heiteren und gelösten Kindheitserlebnisse mit Kellern könnte der emotionale Kontrast zum Keller als Ort des Grauens größer kaum sein. Eine Google-Recherche mit den Stichworten »Kinder« und »Keller« führt schnell zu Berichten über Figuren wie Josef Fritzl, der eine
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seiner Töchter 24 Jahre lang in einer Kellerwohnung gefangen hielt und insgesamt sieben Kinder mit ihr zeugte (vgl. Rohr 2008). Fritzl ist kein Einzelfall. Und der Keller kann aufgrund seiner maximalen Abgeschiedenheit von der Außenwelt eben auch zu einem Ort werden, an dem Erwachsene ihre bizarrsten, ja grausamsten Leidenschaften ausleben. Wer sich für die Bandbreite der Abartigkeiten und Absurditäten interessiert, sei auf Ulrich Seidls inszenierten Dokumentarfilm »Im Keller« (2014) verwiesen, in dem die gezeigten Figuren allesamt Dinge tun, die dem Licht der Alltagswirklichkeit verborgen bleiben sollen. Das Spektrum reicht von der Verherrlichung des Nationalsozialismus, über Waffenkulte bis hin zu harten Sado-Maso-Praktiken. Auf negative Erfahrungen mit Kellern verweist auch der Begriff des Kellerkindes. Heute ist dieser vielleicht eher geläufig als Bezeichnung für Fußballclubs, die auf den unteren Tabellenrängen rangieren. Ursprünglich aber verweist er auf sozial benachteiligte Kinder, also auf Kinder, die aus ärmlichen Verhältnissen kommen und deshalb vielleicht in einer billigen Kellerwohnung aufgewachsen sind. Einmal damit verknüpft, ist es schwer, das Image des Kellerkindes wieder abzulegen. Nachdem nun die äußersten Extreme der emotionalen Aufladung des Kellers beschrieben sind, können wir uns der grauen Mitte des Kelleralltags widmen, das heißt seiner Lager- und Infrastrukturfunktion. Im Keller sitzen heute in der Regel Heizungsanlage, Waschküche und Stromverteiler, von dort werden also – kaum bemerkt – ganz grundlegende Prozesse im Haus gesteuert. Als Lagerräume haben Keller zum einen eine Vorratsfunktion und zum anderen eine Ablagefunktion. Ihre Vorratsfunktion reicht menschheitsgeschichtlich weit zurück; man mag gar Parallelen zu den Winterhöhlen mit Vorräten von beispielsweise Bären, Murmeltieren und Hamstern sehen oder zu den Vorratsverstecken, die Eichhörnchen und Krähen im Boden anlegen. Wie auch immer: In der Dunkelheit und Kühle des Kellers lassen sich Lebensmittel länger aufbewahren als über der Erdoberfläche. Phänotypisch mausert sich der Vorratskeller über die Jahrhunderte vom erdigen Kartoffelkeller über den felsigen Eiskeller und den gefliesten Getränkekeller bis zum sensorgesteuerten und deshalb stets optimal temperierten Weinkeller. Für Kinder bleibt er ein eher peripherer Raum des Hauses. Denn angelegt werden die Vorräte von den Erwachsenen, Kinder werden im Alltag allenfalls »mal schnell runter in den Keller« geschickt, früher unter anderem zum Kartoffelschälen und heute, um Dinge zu holen, die oben in der Wohnung fehlen. Interessanter scheint der Keller heutzutage als Ablageraum zu sein. Als solcher ist er – ebenfalls von Erwachsenen angelegt – ein gedachtes Zwischenlager für ausgesonderte Dinge, deren Wiederinbetriebnahme auf ein imaginiertes Spä-
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ter verschoben ist; de facto (also, wenn Erwachsene ehrlich sind und die Sache mal bei Lichte betrachten) ist der Keller aber ein Endlager. Dort landen kontinuierlich Gegenstände, die den ästhetischen oder funktionalen Ansprüchen der über ihm liegenden Wohnung nicht mehr genügen – vom teuren Fehlkauf (der einfach zu teuer war, um ihn sofort wegzuwerfen) über das großelterliche Erbstück (das zwar hässlich, aber eben von Opa ist) bis zum schlicht Abgelegten (von dem man denkt, dass man es irgendwann doch wieder brauchen könnte). Immer geht es dabei um Sachen, die (noch) zu gut sind, um sich endgültig von ihnen zu trennen. Der Abstellkeller wird damit für Erwachsene zu einer dunklen Metapher für Verdrängtes, für Nichtentschiedenes und unbewusst Schlummerndes. Im Idealfall bleibt die Kellertür geschlossen, denn hinter ihr lagern »die Kisten, die Beutel und Säcke, die Tüten, das Trimmrad, der Schlitten und das Planschbecken. Die VHS-Kassetten, die Lampe mit dem Fransenschirm, die Stadtpläne von London, Paris und Goslar, der Röhrenfernseher, der Handstaubsauger, die Küchentür und die Katzenstreu, der Standaschenbecher, die Golfschläger, der nie benutzte Sandwichtoaster und die an den Schnürsenkeln zusammengebundenen Tennisschuhe. Die Luft schmeckt nach Staub.« (Hugendick 2015, S. 2) Für Kinder sind diese Art Lagerräume im Grunde totlangweilig. Interessant werden sie nur im Hinblick auf bestimmte saisonal genutzte Kellerdinge: Wo ist eigentlich das Schlauchboot aus dem letzten Sommer? Hatten wir nicht mal ein Federball-Set? Und passen die Skier samt Skischuhen noch, wenn es nächste Woche zum Skifahren geht? Über einen längeren Zeitraum gesehen, können derart vollgemöbelte Ablageräume aber auch die Geschichte einer ganzen Kindheit in gebrauchten und abgelegten Objekten erzählen oder im Rahmen unbeliebter Kelleraufräumaktionen Dinge zutage fördern, die zumindest zeitweise wieder nach oben wandern. Will man den Charakter alltäglicher Kellernutzungen noch etwas besser verstehen, dann lohnt es sich, den Keller im Spiegel signifikanter Konkurrenzorte zu beleuchtet – etwa zur Garage. Die Garage steht in der internen Haushierarchie klar über dem Keller, was man zum Beispiel daran sieht, dass saisonal genutzten Kellerdinge, wie Schneeschieber oder Gartenstühle, temporär in die Garage umziehen dürfen (ebd.). Ihr Auszug aus dem Keller wertet sie vorübergehend auf – sie werden gebraucht –, um irgendwann wieder im Keller versenkt zu werden. Im suburbanen Amerika bildet die Garage das Pendant zum deutschen Hobbykeller. Auch hier wird gelötet und gebastelt, allerdings mit durchschlagenderen Erfolgen. Viele der berühmten Technologie-Firmen des Silicon Valley, wie Hewlett-Packard und Apple, sind ohne ihre (mythisch aufgeladenen) Anfänge in Garagen nicht zu verstehen. Das verweist noch einmal auf den kreativ-
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anarchischen Charakter, der dem deutschen Hobbykeller und der amerikanischen Garage innewohnt. Hier gedeihen mehr oder weniger große Weltideen. Dann gibt es da noch den Dachboden. Auch er steht in der Hierarchie über dem Keller, obwohl auch er als Lagerraum genutzt wird, allerdings für Sachen, die Trockenheit und Wärme mögen. Und obwohl Keller (wie übrigens auch Abfallgruben) hin und wieder reiche Fundstätten der Archäologie sind, fallen die spektakuläreren Schatzfunde – das zeigt die Kunstgeschichte – eher dem Dachboden zu. Hier lagern schwere alte Truhen mit unentdeckten Briefen, Fotos, Schmuck und Gemälden. Bleibt zu guter Letzt die Relation des Kellers zum Wohnzimmer. Während das Wohnzimmer als repräsentativster Ort der Wohnung gilt, als Ort, an dem Gäste empfangen werden, weshalb er eine gewisse Schaufunktion erhalten muss (tiefgefroren im Konzept der »guten Stube«), fragt der Keller nicht nach, ob etwas ästhetisch und funktional in ihn hineinpasst oder nicht. Der Abstellraum nimmt klaglos alles auf, im Hobbykeller muss man nicht aufräumen (gerade das macht seinen kreativ-anarchischen Charakter aus) und in der Kellerbar dürfen, ja müssen Partys auch Spuren hinterlassen, um zu erinnerungsfähigen Orten zu wachsen. Wie aber lässt sich nun die Kindersicht auf all die verschiedenen Facetten des Kellers zusammenfassend beschreiben? Die Art und Weise, wie Kellererlebnisse das Leben von Kindern berühren oder gar prägen, erklärt sich zum einen aus der höchst ambivalenten Beschaffenheit dieses unterirdischen Raums. Der Keller ist insofern ein sehr besonderer Raum, als dass er klassischerweise dunkel, kalt und unwirtlich, manchmal aber auch hell und gemütlich ist, immer aber Dinge von der Erdoberfläche verschwinden lässt – mal zum Guten, mal zum Schlechten. Zum anderen vermittelt der Keller als Ort eine generationale Ordnung. Er ist im Grunde ein Raum von und für Erwachsene. Kinder sind im Keller allenfalls zu Besuch. Dennoch ist er ein Raum spezifischer Sozialisationserfahrungen. Das Vorbeischauen im Keller lässt in Kindern eine Ahnung vom Erwachsenenleben entstehen, das – wie die unterschiedlichen Konnotationen des Kellers deutlich gemacht haben – von Verantwortungsübernahme und Vorsorge (der Keller als Infrastruktur- und Lagerraum) ebenso geprägt ist wie von Kreativität und Heiterkeit (Hobbykeller und Kellerbar), das aber auch Raum für düstere Leidenschaften und Heimlichkeiten bietet. Auf diese Weise vermittelt der Keller zwischen der Welt der Erwachsenen und der Welt der Kinder. Silke Steets
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Literatur Hugendick, David (2015), Deutsche Keller: Alles muss runter, in: Zeitmagazin vom 05.08.2015, https://www.zeit.de/zeit-magazin/2015/31/keller-wohnen-ge heimnisse-verdraengung?print (August 2018). Korn-Grimani, Sonia (2004), Verlorene Kindheit: Wie ein kleines jüdisches Mädchen aus Wuppertal den Holocaust überlebte. Autobiographische Erinnerungen, Münster: Lit. Martin, Klaus-Rainer (2017), Meine Kindheit, Jugendzeit und die ersten Erwachsenenjahre, München: BookRix. Rohr, Mathieu von (2008), Wie Josef Fritzl die Behörden täuschte, in: Spiegel online vom 06.05.2008, www.spiegel.de/panorama/justiz/der-fall-am stetten-wiejosef-fritzl-die-behoerden-taeuschte-a-551598.html (September 2018).
Kinderarztpraxis
Die Kinderarztpraxis ist ein Raum und eine Einrichtung, die Kinder in Begleitung ihrer Eltern nur ab und zu und aus besonderen Anlässen aufsuchen (müssen), und zwar entweder dann, wenn es ihnen schlecht geht, sie akut krank sind und der professionellen Diagnose und Behandlung bedürfen oder aber überraschender Weise dann, wenn sie gerade nicht akut krank sind. Letzteres ist eine Vorgabe für die Vorsorgeuntersuchungen (in Deutschland bekannt als U1 bis U9), die als eine Serie von Früherkennungs- und primärpräventiven entwicklungsdiagnostischen Untersuchungen von niedergelassenen Kinderärzt*innen durchgeführt werden und an denen alle Kinder von der Geburt bis zum Alter von gut fünf Jahren zu klar festgelegten Zeitpunkten teilnehmen sollen. Diese Vor-
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sorgeuntersuchungen werden dann für Schulkinder mit U10 und U11 sowie J1 und J2 für Jugendliche fortgesetzt. Als Institution erfüllt die Kinderarztpraxis also verschiedene Aufgaben und Funktionen, wie Behandlung und Prävention, und Kinder sind jeweils aufgefordert mitzuwirken, egal aus welchem Anlass sie von den Eltern meist zu einem recht kurzen Aufenthalt in diese Einrichtung gebracht werden. Im Unterschied zu anderen Institutionen und Räumen der Kindheit, in denen Kinder tagtäglich viel Zeit verbringen, erscheint die Kinderarztpraxis als eine außeralltägliche und nur vergleichsweise selten und zu ganz bestimmten Zwecken besuchte »Insel« (zum Konzept der »Verinselung« der Kindheitsräume vgl. Zeiher 1991). Zu einem außeralltäglichen wird dieser Raum auch deshalb, weil meist weiß gekleidete und in der Regel fremde Menschen Kinder befragen, untersuchen und behandeln und dabei Dinge mit dem Körper von Kindern anstellen, die sonst niemand, meist nicht einmal die Eltern tun dürfen, und die in anderen Räumen, außer im Krankenhaus, möglichst nicht getan werden sollen, wie zum Beispiel Blut abnehmen, Spritzen geben, mit speziellen Geräten in Ohren schauen oder Genitalien anschauen und auseinanderfalten. In diesem Raum scheinen für fremde erwachsene Personen andere Regeln von Nähe und Distanz zu den Kinderkörpern zu gelten als in anderen Räumen. Das macht die Kinderarztpraxis zu einem sehr speziellen Erfahrungsraum, der Kindern Angst einflößen und sie verunsichern kann, was wohl mit ihnen und ihrem Körper im Rahmen von ärztlichen Untersuchungen geschehen wird und wie sie sich selbst in diesem Raum bewegen und positionieren können. Eltern kommt die Aufgabe zu, Kinder auf den Besuch von Kinderarztpraxen vorzubereiten, ihnen Vertrauen zu vermitteln, dass dort alles zu ihrem Wohl geschieht und ihnen nichts Schlimmes widerfahren wird, und sie darauf einzustimmen, in diesem besonderen Raum und Rahmen entsprechend den nur dort geltenden Regeln zu »funktionieren«. Eltern bereiten die Kinder aber nicht nur vor, sondern sind auch während der Untersuchungen dabei. Wo sich die »generationale Ordnung« (Kelle 2018) in staatlich institutionalisierten Kindheitsräumen wie Kindergarten und Schule dadurch auszeichnet, dass Eltern selbst nicht an Praxis und Alltag der pädagogischen Institution teilnehmen, stattdessen ihre Kinder und die Verantwortung für sie an der Schwelle an die Professionellen abgeben, da läuft die Sache in Kinderarztpraxen anders. Pädagogische Institutionen begründen je generationalstrukturierte Interaktionsarrangements, bei denen sich Eltern und Kinder in der Familie oder Lehrkräfte und Schulkinder in der Schule gegenüberstehen. Dagegen finden sich in Kinderarztpraxen – übrigens im Unterschied zu medizinischen Konsultationen von Erwachsenen – fast durchgängig triadische Interaktionsarrangements von Kindern, Eltern und Professionellen, die insgesamt eine höhere
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Komplexität und Dichte der Interaktionen und eine gleichzeitige Virulenz unterschiedlicher Handlungsrahmen mit sich bringen (vgl. Kelle 2010, S. 34). Interaktionen überlagern sich räumlich und zeitlich: Während zum Beispiel ein Arzt ein Kind körperlich untersucht, spricht er gleichzeitig mit der daneben sitzenden Mutter und fordert die anwesende Sprechstundenhilfe mit den Augen auf, ihm zu assistieren. Wie die Räume der Kinderarztpraxis auf diese Weise interaktiv beund gelebt werden, ist damit ebenfalls komplex und dicht. Zu der Interaktionsdichte trägt schließlich auch der Eindruck der Zeitknappheit bei, den die Professionellen in Arztpraxen häufig vermitteln. Dazu ein Beobachtungsbeispiel aus einer U9-Untersuchung: Nun betritt der Arzt den Raum und legt den von ihm ausgewerteten Maltest, den Carina zuvor bei der Sprechstundenhilfe absolviert hat, auf eine Untersuchungsbank (an der ich als Beobachterin stehe), ohne ihm weiter Beachtung zu schenken. […] Auf dem Maltest, das heißt auf der Kinderzeichnung steht handschriftlich vermerkt: »6:6 Jahre«, ich deute das so, dass Carinas Malfähigkeit laut Test einem 6 1/2-jährigen Kind entspricht. Der Arzt wendet sich dem Kind zu und beginnt ein Gespräch, ob es schon Fahrrad fahren könne, die Mutter sagt ja, ohne Stützräder, was der Arzt »ganz toll« findet. Er ordnet an, dass das Kind sich jetzt ausziehen soll und verlässt den Raum wieder. (Beobachtungsprotokoll Helga Kelle, U9)
Das Beispiel vermittelt eine gewisse Atemlosigkeit, kaum hat der Arzt den Raum betreten, verlässt er ihn auch schon wieder. In der kurzen Zeit seines Transit-Aufenthaltes kommt er dabei sehr verschiedenen Aktivitäten nach: Er nutzt das Inventar zur Zwischenablage eines Tests; wendet sich mit einem Gesprächsangebot an das Kind, das von der Mutter beantwortet wird; kommentiert die nachgefragte Kompetenz des Kindes und fordert die Vorbereitung eines nächsten Untersuchungsschrittes ein. All diese Aktivitäten erscheinen auf den ersten Blick und vermutlich auch aus der Perspektive des Kindes relativ zusammenhangslos, gehören aber alle zu dem übergeordneten Plan der Untersuchungen, sukzessive entwicklungsdiagnostische Befunde aus verschiedenen Kompetenzbereichen einzusammeln (hier fokussiert auf Graphomotorik beim Malen und grobmotorisches Koordinationsvermögen sowie Balancehalten beim Fahrradfahren). Die Unterordnung aller Aktivitäten unter dieses Ziel ist auch an dem Gesprächsverhalten des Arztes abzulesen. Das Gesprächsangebot an das Kind ist offenbar nicht so ernst gemeint, dass er nicht auch mit der Antwort durch die Mutter zufrieden wäre, er verzichtet auf einen zweiten Versuch, das Kind selbst zu adressieren. Daran zeigt sich, welche Effekte das triadische Interaktionsarrangement zeitigt: Finden sich Kinder nicht schnell genug in das Tempo der Unter-
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suchungen ein oder verweigern gar Untersuchungsschritte, springen Eltern bereitwillig stellvertretend für sie ein und beantworten Fragen. So vermittelt das Beispiel durchaus widersprüchliche Eindrücke von einer typischen Interaktionsdynamik in kinderärztlichen Untersuchungen. Das Kind steht einerseits ganz im Zentrum der Diagnostik und kann doch andererseits marginalisiert werden, wenn die Erwachsenen es in ihrer Kommunikation zum Objekt machen, statt mit ihm zu sprechen. Implizit wird an dem Beispiel auch deutlich, dass Kinderarztpraxen meist aus mehreren, funktional differenzierten Einzelräumen (Wartezimmer, Empfangstheke, Untersuchungszimmer, Laborräume, Räume für spezielle Behandlungen oder Diagnostiken usw.) bestehen, die eine effektive und effiziente Zeit-RaumNutzung durch die medizinischen Professionellen ermöglichen. Während das Kind sich auszieht, wartet der Arzt nicht ab, sondern wechselt in einen anderen Raum, um dort anderen Aktivitäten nachzugehen. Es sind die Ärzt*innen, die sich in all diesen Räumen die Autorität zur Interaktionssteuerung nehmen dürfen. Eltern und Kinder werden hier zu »Befehlsempfängerinnen«, von denen kaum je die Initiative ausgeht und die sich nach den Ansagen des medizinischen Personals zu richten haben. Die Ansagen richten sich zum Beispiel auf Platzierungen der Patient*innen im Raum und in den verschiedenen Räumen. Obwohl die Aufenthaltsdauer bei den Vorsorge- und auch bei sonstigen Untersuchungen meist nicht länger als eine halbe Stunde währt, kann sie doch durch häufigen Raumwechsel innerhalb der Kinderarztpraxis gekennzeichnet sein. Im Dienste einer effizienten Durchführung der Untersuchungen ist es nicht das medizinische Personal, das gelegentlich warten muss, sondern sind es die Kinder und Eltern, die nicht nur zu Beginn im Wartezimmer, sondern in der Folge auch in anderen Räumen manchmal warten müssen. Im vorliegenden Beispiel kann es gut sein, dass das Kind längst ausgezogen ist, ehe der Arzt in das Untersuchungszimmer zurückkehrt. Viele der bisher beschriebenen Merkmale des interaktiven Raumes in der Kinderarztpraxis deuten darauf hin, dass er für Kinder nicht gerade zu den attraktivsten Räumen gehören kann. Sie suchen ihn nicht eigenaktiv auf und nur dann, wenn es ihnen ohnehin schlecht geht oder sie eine Reihe von Aufgaben, Tests und Untersuchungen absolvieren sollen, deren Sinn nur selten vermittelt wird und sich nicht immer situativ erschließt. Als ob die Professionellen wohl wissen, welche Zumutungen für Kinder mit dem Besuch einer Arztpraxis verbunden sein können, richten sie zum Ausgleich für Kinder annehmliche Ausstattungen und Attraktionen ein, die diese dort erwarten dürfen. Das beginnt mit dem Wartezimmer, in dem Kinder eigens für sie vorgesehenes Spielzeug, Mobi-
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liar, Wandbilder und Bücher vorfinden. Mit einem solchen als kindgerecht gedachten Inventar warten die Untersuchungs- und Behandlungszimmer in aller Regel nicht auf, dort sind es vielmehr gerade der Kontrast und die Fremdheit der Instrumente, die bewirken, dass medizinische Geräte wie Otoskope die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich ziehen. Es kommt dem Teilen eines Privilegs gleich, wenn die medizinischen Professionellen Kindern erlauben, Geräte zu berühren oder gar selbst auszuprobieren, deren Gebrauch eigentlich ihnen vorbehalten ist. Die wohl größte Attraktivität für Kinder besitzen aber die Situationen, in denen Ärzt*innen die Entwicklungsdiagnostik als Spiel »verpacken«. Dann kann die Kinderarztpraxis kurzfristig zu einem Fußball- oder Handballfeld umfunktioniert und es können Wettkämpfe inszeniert werden, bei denen die Mediziner*innen aber nur so tun, als ob sie mit den Kindern spielten oder sich messen würden, wie Anna Schweda (2010) zeigt. Die Doppelbödigkeit von spielerischer und diagnostischer Rahmung zieht sich durch viele Beispiele, die sich in Kinderarztpraxen beobachten lassen. Wird einmal der spielerische Rahmen aufgerufen, entwickelt er nicht selten eine eigene Dynamik, bei der Kinder ihre Bewegungsmöglichkeiten und -räume in der Kinderarztpraxis ausloten und ausweiten – oder dies zumindest versuchen: Hanna lässt sich gar nicht mehr vom Ballspielen abhalten, tritt immer wieder gegen den Ball, so kraftvoll, dass er mir um die Ohren fliegt. […] »Darf ich auch Ballspielen?«, fragt Fabian erneut und bekommt Unterstützung von Hanna, die nun auch mit ihrem Bruder Ball spielen möchte. »Nein«, antwortet die Mutter gereizt, »wir sind hier in einer Untersuchung und nicht auf dem Spielplatz.« Dr. Brixen, der mittlerweile wieder an seinem Schreibtisch sitzt und im U-Heft blättert, signalisiert den beiden Kindern auch, dass Ballspielen jetzt nicht angesagt ist: »Ihr fetzt den Ball hier einmal durch den Taunus, das ist ja nix.« Hanna möchte gerade noch etwas sagen, da wechselt Dr. Brixen rasch das Thema und sagt, dass beide Kinder »noch einen Pieks« kriegen; damit meint er die anstehende Impfung. (Beobachtungsprotokoll Anna Schweda, U9)
In dem Beispiel zieht der Arzt die Interaktionssteuerung wieder an sich, die ihm durch den Spielwillen der Kinder kurzzeitig zu entgleiten droht; mit Unterstützung der Mutter gelingt es, die Kinder zu disziplinieren, in ihrer spielerischen Raumaneignung zu begrenzen und sie wieder auf die Untersuchungslogik zu verpflichten. Die Anrufung der Mutter, dass man hier nicht auf dem »Spielplatz« sei, bedeutet, dass sie an die Kinder appelliert und deren unterstellte Einsichtsfähigkeit in die funktionalen Unterschiede von Räumen damit möglicherweise erst hervorbringt. Das Beispiel zeigt, dass die Ärzt*innen spielerische Rahmungen
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nur solange aufrechterhalten, wie es entwicklungsdiagnostisch erforderlich ist; haben die vermeintlichen Spiele diesen Zweck erfüllt, werden sie wieder unterbunden. So bleibt bei Kindern vermutlich ein ambivalenter Eindruck von den Als-ob-Spielen in Kinderarztpraxen zurück. Kinderarztpraxen konstituieren und institutionalisieren temporäre Beobachtungsräume, in denen Ärzt*innen die Gesundheit und Entwicklung von Kindern fortlaufend und wiederholt zu beobachten beanspruchen und dafür diese Beobachtungsgegenstände überhaupt erst in Interaktion mit Kindern und Eltern performativ zur Sichtbarkeit bringen müssen. In den letzten 20 Jahren ist es zu einer Intensivierung der (präventiven) fachlichen Beobachtungen von Kindern in unterschiedlichen professionellen Kontexten gekommen – sei es im Kontext der Früherkennungsuntersuchungen bei Kinderärzt*innen, sei es im Kontext der Frühen Hilfen durch Fachkräfte für Kinderschutz und Familienhebammen, sei es durch Fachkräfte in Kindertagesstätten oder sei es im Kontext der Schuleingangsdiagnostiken. Für die Erforschung dieser Kontexte bezieht sich das analytische Konzept des »Beobachtungsraums« (Kelle und Schmidt 2017) darauf, dass der Raum selbst nicht als unabhängige Gegebenheit und vorhandener Handlungsrahmen, sondern vielmehr als dynamisch und unmittelbar auf die Akteur*innen und deren Handlungen bezogen zu begreifen ist (vgl. Löw 2001, S. 31 ff.). Der konkrete Raum in seiner Materialität beeinflusst das Beobachtungs- und Wahrnehmungsgeschehen, er bietet dafür Ressourcen und Begrenzungen. Die für Kinder maßgebliche Erfahrung in Kinderarztpraxen ist die, dass die Beobachtungen häufig den Charakter von Prüfungen annehmen: Kinder werden zur Performanz von Leistungen animiert und Eltern zum Bericht über die Kompetenzen ihrer Kinder aufgefordert, die dann in Relation zu den Normalwerten der Altersgleichen evaluiert und bewertet werden. Damit sind Kinderarztpraxen auch Räume der Normierung und Normalisierung der kindlichen Entwicklung und der Erwartungen an die elterliche Entwicklungsförderung (vgl. Kelle 2010; Kelle und Schmidt 2017). Über diese »ernste« Bedeutung können auch alle ärztlichen Aufforderungen zum Spielen, denen Kinder in Kinderarztpraxen begegnen, nicht hinwegtäuschen. Helga Kelle
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Literatur Kelle, Helga (Hrsg. 2010), Kinder unter Beobachtung. Kulturanalytische Studien zur pädiatrischen Entwicklungsdiagnostik, Opladen: Barbara Budrich. Kelle, Helga (2018), Generationale Ordnung als Proprium von Erziehungswissenschaft und Kindheitssoziologie, in: Kindheiten. Institutionalisierungen von Kindheit. Childhood Studies zwischen Soziologie und Erziehungswissenschaft, hg. v. Tanja Betz, Sabine Bollig, Magdalena Joos und Sascha Neumann, Weinheim: Beltz Juventa, S. 38-52. Kelle, Helga und Friederike Schmidt (2017), Räume der Beobachtung von Kindern. Einführung in den Schwerpunkt, Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 37(4), S. 343-349. Löw, Martina (2001), Raumsoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Schweda, Anna (2010), Als-ob-Spiele als informelle Form des Testens, in: Kinder unter Beobachtung. Kulturanalytische Studien zur pädiatrischen Entwicklungsdiagnostik, hg. v. Helga Kelle, Opladen: Barbara Budrich, S. 157-177. Zeiher, Helga (1991), Die vielen Räume der Kinder. Zum Wandel räumlicher Lebensbedingungen seit 1945, in: Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder. Zur Sozialisationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, hg. v. Ulf Preuss-Lausitz, Weinheim und Basel: Beltz, S. 176-195.
Kinderbett
Jeden Tag sind mehrere Stunden Schlaf für jeden Menschen von der Geburt bis zum Tod lebensnotwendig, um die Körperfunktionen gewährleisten zu können. Jedoch ist der Ort, wo Erwachsene und Kinder schlafen, völlig unterschiedlich beziehungsweise spiegelt sozial- und kulturhistorische Gegebenheiten wider. Das Bett ist das Hauptmöbel zum Schlafen, es ist zugleich ein Indikator der gesellschaftlichen Stellung der Familie. Je wohlhabender und sozial höher stehend, desto privilegierter die nächtliche Unterkunft. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts rückte zwar die Erforschung der Kinderkultur in den Fokus verschiedener Forschungsrichtungen, jedoch wurde dem Objekt »Kinderbett« kaum – auch nicht in volks- oder möbelkundlicher Hinsicht – Aufmerksamkeit zuteil. Während für Babys noch sehr fürsorglich um den Schlafort gesorgt wurde, bricht diese Fürsorge mit dem Beginn des Krabbel- beziehungsweise Laufalters in der Zeit vor dem 20. Jahrhundert ab. Erst nach dem Ende der Kindheit, die bis
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zur Pubertät und den Übergang in das Erwachsenenleben reicht, entscheidet jeder nach seinen Möglichkeiten selbst, welchen Schlafplatz er nutzen kann. Mit den pädagogischen Reform-Bemühungen im 19. Jahrhundert wurde auch dem Kind und dessen Schlafgewohnheiten mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Mit zunehmendem Wohlstand in bürgerlichen Kreisen setzte besonders ab den 1960erJahren eine weitere intensive Beschäftigung mit dem Thema Schlafwohl des Kindes, sowohl aus medizinischer als auch soziologischer Sicht, sowie mit dem Schlafort in der Wohnung oder im Haus ein. Das Kinderzimmer gehört seitdem zum festen Raumprogramm. Seit dem späten 20. Jahrhundert bleiben häufig Jugendliche oder junge Erwachsene noch länger – teilweise bis zum Ende der Berufsausbildung – im Haus oder in der Wohnung der Eltern in ihren »Kinderzimmern« wohnen. Auch hier spiegeln sich soziale Unterschiede: Je wohlhabender desto länger und privilegierter ist die Unterbringung. Die im volkskundlichen Bereich entwickelte These vom absinkenden Kulturgut kann auch auf das Kinderbett angewendet werden. Grundsätzlich gilt: Kinderbetten waren zunächst den oberen Sozialschichten vorbehalten, wurden dann von wohlhabenden bürgerlichen Schichten übernommen und erreichten untere Sozialschichten bis ins 20. Jahrhundert nur sehr selten. Anschaffung und Ausstattung waren abhängig vom Wohlstand und der gesellschaftlichen Stellung der Eltern. Die Wiege, der erste eigene Schlafplatz Wenn man sich mit den Schlaforten von Babys beschäftigt, kommt man an einem Vorbild nicht vorbei: Die zahlreichen Darstellungen der Christusgeburt im Stall von Betlehem. Maria legte ihr Kind mangels Alternative in eine gut ausgepolsterte Futterkrippe, die zum Urbild der Wiege wurde. Babys sind im Mittelalter und bis weit in die Neuzeit hinein zudem eng gewickelt worden (Wickelkind), so dass sie wie Schnürpakete gut zu »händeln« waren. In dieser Form sind die Säuglinge auch in die Wiegen – meist in ein Steckkissen – gelegt und nur zum Stillen oder zum Wickeln herausgenommen worden. Babys und Kleinkinder befanden sich in der Regel nach der Geburt eng bei der stillenden Mutter. Häufig nahm die Mutter die Kleinkinder auch zu sich ins Bett, wodurch eine enge Bindung aufgebaut wurde. Nur im Adel und in Patrizierschichten galt, dass man Ammen das Säugen und das Kümmern um die Kinder überließ. Die Säuglinge und Kleinkinder sind dann in der Regel in Wiegen gelegt worden. Die Wiegen hatten den Vorteil, dass durch das Aufstellen eines Kastens auf gebogenen Kufen die Kinder durch die gleichmäßige Bewegung in den Schlaf gewiegt werden konnten oder sich beim Schreien beruhigten. Wiegen sind seit dem Mittelalter bis weit in die Neuzeit immer ein Zeichen für Wohlha-
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benheit gewesen. In großbürgerlichen Haushalten fand die Wiege ab dem 18. Jahrhundert und im Laufe des 19. Jahrhunderts auch in bürgerlichen Haushalten Eingang. In unteren Sozialschichten nutzte man Kartons, Kästen oder Körbe, zum Teil mit Schnüren an der Decke aufgehängt, in denen man die Kleinkinder ablegen konnte. Unter dem Einfluss der Aufklärung begannen sich zunächst Ärzte für das Wohl der Kinder zu interessieren. Gegen Ende des 18. Jahrhundert setzte eine Diskussion über das Pro und Contra des Wiegens ein. Es gab teilweise ärztliche Vorbehalte, da angeblich die »Schaukelbewegung als wenig zuträglich für das Kindergehirn erachtet« wurde. Schließlich wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts das mäßige und sanfte Wiegen als unschädlich für Kinder angesehen. Wohl nur in wenigen Ausnahmefällen ist es vorgekommen, dass Kleinkinder, die Ammen oder Mütter mit ins Bett genommen hatten, erdrückt wurden. Dieses Schreckensszenario diente dann häufig als Argument, dass man für Kinder Wiegen anschaffen sollte. Ebenfalls unter dem Einfluss der Aufklärung empfahl unter anderem Jean Jacques Rousseau bereits das enge Wickeln abzuschaffen und den Babys die Bewegungsfreiheit zuzugestehen. Wiegen standen in der Regel in der Nähe des Bettes der Mutter, das heißt in der Kammer des Hauses oder tagsüber dort, wo sich die Mutter am meisten aufhielt. So blieb das Kind immer unter Beobachtung und man konnte schnell eingreifen. Im Hochadel kam es vor, dass die Kinder zeitweise in Prunkwiegen lagen, die zu besonderen Anlässen in den Gesellschaftsräumen aufgestellt wurden, so dass der »Nachwuchs« besichtigt werden konnte. Ansonsten standen die Wiegen im Zimmer der Amme, seltener bei der Mutter. Während die Wiege im bürgerlich-städtischen Bereich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts unmodern wurde, blieb auf dem Land die Wiege wesentlich länger im Gebrauch. In großbäuerlichen Höfen waren ab dem 18. Jahrhundert Wiegen die Regel, die dann über Generationen weiter gegeben und bis ins 20. Jahrhundert genutzt wurden. Dadurch entwickelten sich eigene Familientraditionen. Heute hat die Wiege ihre einstige Bedeutung weitgehend verloren. Möbelkundlich lassen sich Wiegen seit der griechischen Antike nachweisen. Sie können in drei verschiedene Typen unterteilt werden: Die Hängewiege, die Kufenwiege und den in ein Gestell eingespannten muldenartigen Wiegenkasten. Das hauptsächlich verwendete Material war neben Holz ein Korb- oder Weidengeflecht. Im 19. Jahrhundert kommen mit der Industrialisierung auch Eisengittergeflechte vor. Die einfachste Form einer Wiege bestand aus einem Kasten, Korb oder Trog (aus einem ausgehöhlten Baumstamm). Alle konnten auch mittels Schnüren an die Zimmerdecke aufgehängt werden. Das Baby legte man dann in den Kasten und spannte darüber Bänder, so dass es nicht herausfallen
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konnte. Frühe Beispiele aus dem 9. Jahrhundert sind aus Haithabu oder auf der Wurt Elisenhof (bei Tönning, Schleswig-Holstein) ausgegraben worden. Im Mittelalter waren derartige Hängewiegen weit verbreitet. Sie blieben für die ärmeren Schichten im ländlichen Bereich bis weit in die Neuzeit üblich. Die bekannteste Wiegenform ist die eines Kastens, der in der Regel auf gebogenen Querkufen, seltener auf Längskufen steht, wodurch ein einfaches Wiegen durch Fußantrieb oder mit einer befestigten Schnur, an der man ziehen konnte, möglich war. Dieser wohl in der römischen Antike entwickelte Typ ist hauptsächlich durch mittelalterliche Malereien überliefert. Bis ins 20. Jahrhundert hat sich die Form der Kufenwiege nicht verändert. In einer Variante der Schaukelwiege wurde der Kasten beweglich an zwei Seitenteilen in einem Gestell aufgehängt. Diese seit dem 14. Jahrhundert nachweisbare Form wurde erst im 19. Jahrhundert modern, verbreitete sich jedoch nur wenig. Erwähnenswert ist weiterhin, dass sich gerade im 19. Jahrhundert etliche Mechaniker mit dem Thema »permanentes Schaukeln« beschäftigten. Ziel war es, eine lange eigenständige Schaukelbewegung zu erreichen, bei möglichst wenigen Impulseinsätzen. Vorgeschlagene Konstruktionen mit Eisenfedern etc. hatten jedoch nicht den gewünschten Erfolg. Um die beruhigende Schaukelbewegung zu erreichen, müssen dies heute moderne Eltern in anderer Form lösen, die zumeist letzte Lösung stellt eine nächtliche Autofahrt dar. Aber auch dafür gibt es schon computergesteuerte bewegliche Bettchen, die eine Nachtfahrt simulieren. Der Korb- oder Stubenwagen Mit zunehmender wissenschaftlicher Forschung zur körperlichen Entwicklung von Kindern aber auch durch die Entstehung der Pädagogik, die die Lehre zur Erziehung und Förderung der Entwicklung von Kindern zum Thema hatte, beschäftigte man sich ab dem frühen 19. Jahrhundert intensiver mit dem kindlichen Schlafverhältnis. So bekamen Wiegen ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eine ernstzunehmende Konkurrenz. Als Alternative propagierte der Arzt Christoph Wilhelm Hufeland 1803 den Korb- oder Stubenwagen. Dabei handelt es sich um einen großen Korb oder Holz-Gitterkasten auf einem Gestell mit vier Rädern, die mit Matratzen ausgestattet waren und auch kleine zeltartige Himmel aufweisen konnten. In der Regel wiesen sie auch Handgriffe oder Seile auf, wodurch ein Hinterherziehen der Wagen möglich war. Diese Stubenwagen ließen sich so bequem hin und her rollen, aber auch sowohl in das Schlafzimmer der Eltern als auch tagsüber in andere Räume schieben, wodurch die Babys und Kleinkinder immer unter Kontrolle waren. Stubenwagen sind wiederum die Vorbilder für die Kinderwagen gewesen, die ab den 1860er-Jahren in Mode kamen und nun auch außer Haus genutzt werden konnten. Die entscheidende Ver-
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änderung war, dass die bisher als Ziehwagen konstruierten Stubenwagen nach englischem Vorbild (»pram«) zu Schiebewagen umfunktioniert wurden. Relativ schnell setzte sich der Kinderwagen durch, der eine Alternative beziehungsweise Konkurrenz zur Wiege wurde. Das Kinderbett Kinderbetten gab es vereinzelt sowohl in der Antike als auch im frühen Mittelalter in Nordeuropa. Sie blieben jedoch die große Ausnahme und nur dem Adel oder der bürgerlichen Oberschicht vorbehalten. Eines der bekanntesten ist das merowingische Bettgestell im Knabengrab unter dem Kölner Dom um 540. Der aus einer bedeutenden Familie stammende etwa sechs Jahre alte fränkische Junge wurde auf einem Bettgestell, das aus gedrechselten Stäben bestand, gelegt und so bestattet. Nachweise von kleinen Bettgestellen, die man als Kinderbetten ansprechen mag, finden sich im Bereich der mittelalterlichen Buchmalerei, wobei es sich wohl meist um große Körbe gehandelt hat. Es gab bis ins 19. Jahrhundert keine spezifischen Möbel für Kinder. In der Regel wurden die Kinder, wenn sie zu groß für die Wiege wurden und anfingen zu krabbeln, zum Schlafen mit zu den älteren Geschwistern gegeben, die entweder im Stroh oder in einem gemeinsamen Bettgestell – das durch Bretter aufgeteilt werden konnte – schliefen. Im ländlichen Bereich war dies bis ins frühe 20. Jahrhundert üblich. In den Städten und bürgerlichen Haushalten war es bis zu Beginn des 19. Jahrhundert nicht viel anders. Die Kinder schliefen gemeinsam in einem Erwachsenen-Bettgestell oder in einem Zimmer mit mehreren Betten. Eine Sonderform stellte das Roll- oder Unterbett dar, das aus Platzersparnisgründen tagsüber unter das Hauptbett – meist der Eltern – geschoben wurde und nachts ausgezogen als Kinderbett diente. Seit dem 16. Jahrhundert sind derartige Betten archivalisch in Inventaren nachweisbar. Sie dienten aber auch Erwachsenen zum Schlafen. In Pommern lassen sich auch sogenannte Schlaftruhen oder Schlafkommoden nachweisen (»Schrag«), die praktisch funktional aber auch platzsparend waren. Andere Schlaforte für Kleinkinder waren Bänke in Stuben. Das spezifische Kinderbett ist schließlich auch das Ergebnis einer im 19. Jahrhundert einsetzenden intensiven Auseinandersetzung mit sowohl gesundheitlichen vor allem aber pädagogischen Aspekten bezüglich des Wohles und der Entwicklung der Kinder. Dabei spielte auch die veränderte Einstellung der – zunächst wohlhabenden – Eltern eine große Rolle, sich intensiver um die Kinder zu kümmern. Ein weiterer gesellschaftlicher Aspekt kam hinzu: Die steigende Intimisierung der Gesellschaft, wie die soziologischen Untersuchungen von Norbert Elias ergeben haben. Begründet war diese Entwicklung im ansteigenden Schamstandard, der Auswirkungen auf den Schlafort hatte, welcher zunehmend privater
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wurde. Dieser zunächst wiederum in den Oberschichten einsetzende Prozess, setzte sich schnell auch im wohlhabenden bürgerlichen Bereich durch, während er auf dem Land erheblich langsamer erfolgte und je nach Region sogar erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert Auswirkungen hatte. Der Prozess führte auch dazu, dass man die Kinder in eigenen Räumen unterbrachte und sie schließlich aus dem Eltern-Schlafzimmer »verbannte«. Folgen der Reformen waren auch die Einführung von festen Schlafzeiten, Zubettgeh-Ritualen (Gutenachtkuss, Schlaflieder, Vorlesegeschichten etc.), die dazu dienten, das Einschlafen zu erleichtern, aber auch die Kinder in die Erziehungs- und Tagesablauf-Schemata einzupassen. Ein Nebeneffekt war die teilweise Entlastung der Eltern. Infolgedessen wurde auch der Schlafort »reformiert«. Vorgeschlagen wurden eigene Kinderbetten, die konstruktiv als Miniaturausgaben von Erwachsenenbetten zu sehen sind. Besonders ab den 1820erJahren (Biedermeier) kommen eigene Kinderbetten vor. Öfters hatten diese Bettgestelle an den Längsseiten eingesteckte oder feste Gitter. Wurden die Kinder größer und ein Herausfallen weniger wahrscheinlich, konnte man diese Gitter häufig abnehmen, was in der Regel spätestens dann erfolgte, wenn die Kinder schulpflichtig wurden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert hat man vielfach (günstige) Eisenbettgestelle mit oder ohne Räder aus hygienischen Gründen – da leichter zu säubern – angepriesen, die ebenfalls hohe Seitengitter hatten und oftmals weiß gestrichen waren. Ab dieser Zeit war »Weiß« lange die Standardfarbe für Kinderbetten. Im 20. Jahrhundert bestand das typische Kinderbett aus Holz mit Seitengittern, die herabklappbar waren. Nicht zuletzt setzte eine um den Ersten Weltkrieg erneut einsetzende Reformbewegung Maßstäbe. Ein Ergebnis ist das 1926 auf den Markt gebrachte »Paidi« Bett (griechisch: »für das Kind«) einer fränkischen Möbelfabrik. Diese Betten spiegeln die moderne Vorstellung eines Kinderbettes wider: weiß, schlicht, praktisch funktional, hygienisch, mit höhenverstellbarer Matratze und unfallsicheren Holzstäben. Der Standort der Kinderbetten blieb bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert weiterhin variabel: Zunächst in der Schlafkammer der Eltern, aber auch in der der Amme oder des Kindermädchens, ansonsten in Nebenräumen oder in einem Zimmer, in dem noch weitere Kinderbetten standen. Das im engeren Sinne »Kinderzimmer« kam erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf. Hier sind einerseits noch die Auswirkungen der Intimisierung der Gesellschaft zu spüren, die nun auch zur Separierung der Kinder von den Elternschlafzimmern führte; andererseits spielte aber auch der höhere Wohnkomfort eine Rolle. In den Wohnungs- und Hausgrundrissen wurden Kinderzimmer zunächst nicht definitiv ausgewiesen, jedoch nutzte man meist kleinere Nebenräume dafür. Ein eigenes
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Kinderzimmer einzuplanen, ist in bürgerlichen Kreisen erst nach dem Zweiten Weltkrieg als Standard angestrebt worden. Auch hier spielen die sozialen Verhältnisse der Eltern eine große Rolle. Allgemein war es üblich, dass kleinere Kinder noch im Elternschlafzimmer schliefen, während sich die größeren Geschwister ein Zimmer teilten, was nicht immer konfliktfrei verlief, je älter die Kinder wurden. Zur Ausstattung der Kinderzimmer gehört als Hauptmöbel das Kinderbett, das bis zum Schulbeginn oder bis zu einer gewissen Körpergröße meist im Alter von neun/zehn Jahren durch ein »normales« Bettgestell ersetzt wurde. An eigene Kinderzimmer oder auch eigene Kinderbetten war in proletarischen Haushalten im 20. Jahrhundert nicht zu denken. Dort lebten die Familien meist nur in ein oder zwei Zimmern, in denen sowohl Bettgestelle, als auch der übrige Hausrat und die Küche untergebracht waren. Alle Bewohner mussten sich die Betten teilen, teilweise wurden auch die Betten tagsüber vermietet. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden derartige Verhältnisse durch den wachsenden Wohlstand zur Ausnahme. Eine eigene Kindermöbelkultur entwickelte sich erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert Angeboten wurden von der Möbelindustrie komplette Kinder- und Jugendzimmer, die man per Katalog oder im Möbelhaus bis heute kaufen kann. Das (Hoch-)Bett ist dabei das wichtigste Standardobjekt. Das allein genutzte Kinderzimmer brachte aber für einige Kinder neue »Gefahren« mit sich, wie kinderpsychologische Untersuchungen ergaben: Die Furcht vor der Dunkelheit, das Gefühl allein gelassen zu sein, Ausgrenzung etc. Dies führte wiederum zu elterlichen Fürsorge- oder Gegenmaßnahmen, wie Nachtlampen, Kuscheltieren oder Spieluhren. So kann das Aufwachen nach Alpträumen gelindert werden. Thorsten Albrecht Literatur Albrecht, Thorsten (2001), Schrank. Butze. Bett. Vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert am Beispiel der Lüneburger Heide, Petersberg: Imhof. Dröge, Kurt (1999), Das ländliche Bett Zur Geschichte des Schlafmöbels in Westfalen, Detmold: LWL-Freilichtmuseum Detmold. Hennig, Nina und Heinrich Mehl (Hrsg. 1997), Bettgeschichte(n). Zur Kulturgeschichte des Bettes und des Schlafens, Heide: Boyens. Zglinicki, Fritz von (1979), Die Wiege, volkskundlich, kulturgeschichtlich, kunstwissenschaftlich, medizinhistorisch. Eine Wiegen-Typologie, Regensburg: Friedrich Pustet.
Kindergarten
Grund- und Realschulen oder Gymnasien werden in Deutschland gemeinhin nach bekannten Denker*innen, Wissenschaftler*innen oder Humanist*innen benannt, die als Vorbilder für ein humanistisches Bildungsideal zu dienen vermögen: Einstein, Merian, Goethe, Nelson Mandela etc. Betrachten wir dahingegen die vorschulischen Einrichtungen der frühen Bildung, Betreuung und Erziehung, so finden wir dort eher Namen wie Feenwald, Drachenburg, Spatzennest, Zwergenwinkel, Löwenhöhle, Krümelnest, Märchenland, Palmeninsel etc. Werden diese Einrichtungen über solche Namensgebungen als phantastische, gar märchenhafte Orte ausgewiesen, so stellt ein zweiter Typus beliebter Namen, der auch gerne für die Benennung einzelner Kindergarten-Gruppen genommen wird, die besondere Einwohnerschaft heraus. Hier haben wir es dann draufgängerisch mit Wilden Knallerbsen, Frechen Spatzen, Kleinen Monstern oder gar Freibeutern zu tun. Oder etwas zahmer, mit Kleinen Mäusen, Wichteln, Kobolden und Entdeckerzwergen1. Kindergärten, so lässt sich bereits über die Charakteristik ihrer Namen erschließen, sind insofern als ganz besondere Orte für Kinder zu verstehen. Mit ihren Namensgebungen kommunizieren sie sich selbst als Hüterinnen eines Eigensinns der frühen Kindheit, der funktionale Nützlichkeitserwägungen abweist. Vielmehr wird auf das magische, wilde, naturnahe der Kindheit referiert, das trotz aller Vielfalt spätmoderner Kindheitsbilder, diesen nachhaltig eingeschrieben bleibt. Auch der Blick auf die Adressaten ist daher von einer wohlwollenden Anerkennung ihrer Unangepasstheit geprägt. Welche Schule würde hingegen die Schüler*innen ihrer Klasse 2a schon gerne als Wilde Knallerbsen deklarieren wollen? Auch Friedrich Fröbel hatte, als er 1840 den ersten »Allgemeinen Deutschen Kindergarten« in Bad Blankenburg gründete, mit Bedacht die Bezeichnung des Kindergartens gewählt. Er stellte sich diese Erziehungseinrichtung für junge Kinder nämlich als ein »Garten-Paradies« vor, als »das den Kindern wieder zurückzugebende und gegebene Paradies« (Fröbel 1840, zitiert nach Bilstein 1997, S. 32). Mit der unverkennbar romantischen Figur des Gartens für Kinder waren
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für Fröbel dabei zugleich zwei Orte angesprochen: zum einen ein »wirklicher« Ort, nämlich der für Fröbel im Zentrum stehende reale Garten des Hauses, an dem Kinder die Natur beobachten und mit ihr bildsam interagieren können. Zum anderen aber auch ein eher »unwirklicher« Ort, im Sinne einer verorteten Utopie; das Paradies, an dem sich die Kinder frei von gesellschaftlichen Einflüssen entlang ihrer göttlichen Natur entwickeln. Als ein solcher außergesellschaftlicher Gegen-Ort (vgl. Foucault 1993 [1967]),) war der Fröbel’sche Kindergarten, wie Johanens Bilstein (1997) es einmal treffend charakterisiert hat, daher als eine jener »Jenseitslandschaften im pädagogischen Diesseits« konzeptualisiert, in denen Kinder sich geschützt und frei aller schädlichen Einflüsse der Gesellschaft selbsttätig und naturgemäß als neue Mitglieder einer – wohlgemerkt – besseren zukünftigen Gesellschaft formen sollten. Es ging Fröbel mit seinem Kindergarten um nichts weniger als eine autonome, natur- und gottgemäße Erziehung zur Freiheit, eine an die Wurzel greifende Umerziehung der Menschheit überhaupt, welche vom Kinde und seinem unschuldigen, schöpferischen Spiel auszugehen habe. Kein Wunder, dass dieser Kindergarten 1851 vom preußischen König im Zuge der gescheiterten 1848er-Revolution dann zunächst auch als »staatsgefährend« verboten wurde. Der Idee des Kindergartens hat dies nicht geschadet. Ganz im Gegenteil. Denn auch wenn sich zeitgleich weitere und der »revolutionären« Idee des Kindergartens mitunter heftig widersprechende Entwicklungspfade einer öffentlichen Kleindkinderziehung ausbildeten (beispielsweise »Bewahranstalten«), so wird die Geschichte der frühkindlichen Bildungseinrichtungen heute zumeist mit Friedrich Fröbel und seiner Idee des paradiesischen Gartens für Kinder verbunden. Dies lässt sich nicht zuletzt auch daran erkennen, dass sich seine Konzeption rasch internationalisierte und somit der Ausdruck Kindergarten auch genauso in den anglophonen Sprachraum übergegangen ist. Trotz allen Erfolgs des Konzepts von Fröbel wird heute jedoch in Deutschland längst nicht mehr vom Kindergarten gesprochen, zumindest nicht offiziell. Der fachliche Duktus sieht seit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1990/91 den etwas profaneren Begriff der Kindertageseinrichtung vor und auch die Berufsbezeichnung Kindergärtnerin wird schon lange als unprofessionell, weil mit der Ideologie der Mütterlichkeit verbunden, abgelehnt. Zwar stehen die Kindertageseinrichtungen in Deutschland immer noch in der Tradition der Fröbel’schen Spielpädagogik, allerdings zeigt sich spätestens seit dem zumindest für Westdeutschland enormen Ausbau des Feldes früher Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) in den vergangenen 20 Jahren auch eine deutliche Abwendung von der bürgerlich-romantischen Idee eines außer-gesellschaftlichen Ortes für Kinder. Heute werden KiTas, so die gebräuchliche Abkürzung, vielmehr als ausgesprochen gesellschaftsbezogene Orte verstanden. Sie sollen nicht nur immer
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mehr Kinder immer früher bilden und erziehen, zur work-family-balance, Geschlechtergerechtigkeit und Frauenerwerbsquote beitragen, sondern als sozialräumlich situierte Orte des Gemeinwesens auch Kinderarmut kompensieren, vielfältige Hilfsangebote für Familien vernetzen, Eltern beraten und bilden, geflüchtete Familien integrieren, mit Schulen lebendige und barrierefreie Bildungslandschaften gestalten, und so weiter und so fort. In ihrer gesellschaftlichen Funktion immer schon durch das »sozialpädogogische Doppelmotiv« von Nothilfe und Bildung geprägt (vgl. Meyer-Franke 2016), zeichnet sich die Entwicklung der Kindertageseinrichtungen in den letzten Jahren jedoch vor allem durch eine massive Stärkung ihrer Bildungsfunktion aus. Eine erste »Vorschulreform« in den 1970er-Jahren hatte den Kindergarten bereits konzeptionell (wenn auch nicht administrativ) als Elementarstufe in das Bildungssystem integriert. Dies erfolgte damals als Reaktion auf den sogenannten »Sputnik-Schock«. Nicht zufällig fiel auch der Startschuss für die erneute und weitaus nachhaltigere Akzentuierung der Bildungsfunktion von Kindertageseinrichtungen mit dem nächsten »Bildungs-Schock« zusammen, der Publikation der ersten PISA-Studie im Jahr 2000. Einem bon mot der Frühpädagogikszene folgend, dauerte es nämlich nur einen Tag, bis nach den ernüchternden Ergebnissen dieser – wohlgemerkt – international vergleichenden Studie zu den Kompetenzen von 14-jährigen Schülern eine verbesserte Bildungsqualität von KiTas in den offiziellen Presseverlautbarungen angemahnt wurde. »Frühkindliche Bildung« hat sich seitdem nicht nur als »Zauberwort« (vgl. Meyer-Franke 2016) vielfältiger gesellschaftlicher Reformdiskurse etabliert; der politisch hoch priorisierte quantitative wie qualitative Ausbau der Kindertagesbetreuung ist auch als einschneidende Transformation der gesellschaftlichen Institutionalisierung von Kindheit – hin zur frühen Bildungskindheit – zu verstehen. In seiner Bedeutung für die Regulierung von Kindheit und des Verhältnisses von Staat/Gesellschaft und Familie ist der Ausbau frühkindlicher Bildungseinrichtungen daher vermutlich nur mit der Einführung der Schulpflicht zu vergleichen. Im Kontext der aktuellen sozialinvestiven Politikstrategien zielt der Bildungsauftrag der KiTas heute jedoch nicht mehr unbedingt auf Freiheit. Es geht vielmehr um die Gewährleistung von employability und Demokratiefähigkeit, das meint die Bildung des nachwachsenden Humankapitals im Horizont sich zunehmend globalisierender und digitalisierender Wirtschafts- und Arbeitsmärkte und sich pluralisierender Gesellschaften. Die im Zuge dieses neuen Bildungsturns entstandenen Bildungs- und Erziehungspläne der einzelnen Bundesländer geben Auskunft darüber, was KiTas hier alles für die Gesellschaft von morgen leisten sollen: zum einen die kosmopolitischen, demokratisch und interkulturell orientierten Mitbürger herausbilden, die die Vision der multikulturellen Gesell-
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schaft auf der Basis von geschlechtersensiblen, rassismuskritischen, konfliktfähigen und partizipierenden Kompetenzen auch wirklich umsetzen können. Zum anderen sollen bereits früh die Wissensarbeiter von morgen gefördert werden, die weniger auf konkrete Wissensinhalte abonniert sind, sondern gelernt haben, ihre lernmethodischen Kompetenzen zu reflektieren etc. Um dies alles zu fördern, wird neben dem so genannten Freispiel vermehrt auf Partizipationsprojekte, Anti-Agressions-Trainings und spezifische Förder- und Lernprogramme gesetzt. Darüber hinaus haben sich die gezielte bildungsbezogene Beobachtung der Aktivitäten der Kinder und die daraus abzuleitende Handlungsplanung als individuell ausgerichtete Methoden frühkindlicher Bildungsarbeit breit etabliert. Im Kontext dieser Bildungsbeobachtung spielt auch die Reflexion der individuellen Lernerfahrungen mit den Kindern eine große Rolle. Daher gehört es auch zum Selbstverständnis der Kindergarten-Kinder von heute, dass in der KiTa nicht »nur gespielt«, sondern sich auch gebildet wird, wenngleich – wie entsprechende Kinderbefragungen zeigen – das »richtige Lernen« dann doch erst in der Schule kommt (vgl. Einarsdóttir 2007). Wie sehr sich die frühe Bildungskindheit dabei als Element des Normallebenslaufs institutionalisiert hat, wird schon alleine daran deutlich, dass bei einer Besuchsquote von über 97 % bei den Drei- bis Sechsjährigen auch die in Deutschland aufgewachsenen Kinder und Eltern oft nicht wissen, ob der Besuch einer KiTa eigentlich verpflichtend ist oder nicht. Er ist es übrigens bis auf einige wenige subtile Ausnahmeregelungen, beispielsweise für Kinder mit schlechten Deutschkenntnissen in Berlin, nicht. Markant zeigt sich die Normalisierung der Kindergartenkindheit aber auch an der sich in eigenen Internetblogs formierenden Gruppe der so genannten »kindergartenfreien Selbstbetreuer«2. Unter diesem Label versammeln sich, so wie es von außen wirkt, vor allem weiße Mittelschichtseltern, bei denen sich zumeist die Mütter trotz hoher beruflicher Qualifikationen gegen eine Berufstätigkeit in den jungen Jahren ihrer Kinder und für die »Berufung Mami« entschieden haben. Was noch vor weniger als 30 Jahren als Inbegriff der frühen Kindheit galt – das mehr oder weniger behütete Aufwachsen im Schoß der Kleinfamilie – wird hier mit dem Konzept des »SelbstBetreuens« nun also zum Gegenprogramm (v)erklärt, wenngleich auch in engster Referenz auf die durch die KiTas repräsentierte »frühe Bildung«. Legitimiert wird diese Form der Resistenz gegen die Selbstverständlichkeit des KiTaBesuchs nämlich vor allem damit, dass die Familie als der bessere, weil bedürfnisorientiertere, Bildungsort (!) dargestellt wird. Die der Bewegung strukturgebenden Blogs, E-Books und Kongressangebote zeichnen sich daher vor allem auch durch ihre para-professionellen Codierungen guter Mutterschaft aus, die sich an den pädagogischen Versprechungen der frühkindlichen Bildung orientie-
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ren. Insofern sind auch die kindergartenfreien Selbstbetreuer als Teil des Dispositivs der frühen Bildungskindheit zu verstehen, wenngleich sie sich an der für dieses Dispositiv charakteristischen »Effektivierung der Kindheit« (Kutscher 2013) nun gerade nicht mit den für KiTas immer populäreren Förderdiagnostiken und Kompetenztrainings beteiligen. Aber auch in den KiTas selbst finden sich in vielfacher Weise Residuen der romantisch-freiheitlichen Idee des Gegen-Ortes. So brechen sich nicht allein anhand der Träger- und Konzeptionsvielfalt im KiTa-Bereich vielfältige pädagogische Kinderbilder mit dem Dispositiv der förderorientierten Bildungskindheit. Als besonders resistent zeigt sich dabei die Kinderladenbewegung mit ihrer wenngleich verblassenden Konzeption des revolutionären Kinder-Subjekts oder die sich immer größerer Beliebtheit erfreuenden Waldkindergärten, in denen das alltägliche und unmittelbare Naturerleben als konzeptuelles Jenseits produktivitätsorientierter Förderpädagogik verstanden werden will. Die Orientierung am natürlichen Eigensinn der frühen Kindheit bildet sich aber auch in der insbesondere für Deutschland charakteristischen naturnahen Gestaltung des »Außengeländes« ab, in welchem gartenähnliche Grünflächen, Sandkästen und Holzprodukte dominieren. Auch im Innen der Kitas finden sich viele Naturmaterialien und das beliebte »offene Konzept« mit seiner Unterteilung in Funktionsräume (Atelier, Bewegungsraum, Bauraum, Theater, Experimentierlabor etc.) folgt konzeptionell der Idee, dass Kinder den Platz und die Wahl haben sollen, um sich gemäß ihrer Neigungen und Bedürfnisse eigensinnig mit unterschiedlichen Materialien und Formen der Welterkundung zu beschäftigen. Und natürlich sind es nicht zuletzt auch die bereits erwähnten Namensgebungen von KiTas, die nachdrücklich darauf verweisen, dass KiTas vermutlich die gesellschaftlichen Orte für Kinder sind, in denen sich die Vielfalt gleichzeitiger Kindheitskonzepte am deutlichsten überlagert. Als Kindheitsräume zeichnen sich die Kindertageseinrichtungen daher vor allem durch Ambiguitäten, Paradoxien und polymorphe Raumproduktionen aus. So berücksichtigen die erwähnten Funktionsräume beispielsweise nicht einfach nur die vielfältigen Interessen der Kinder; sie entfalten auch Normen der ausgewogenen, eigenständigen Nutzung dieser Anregungsräume. Und zwar nicht zuletzt, indem sie beobachtbar und bewertbar machen, welches Kind welche mit den Funktionsräumen verbundenen Anregungen wie nutzt und wo eventuell Potenziale nicht optimal ausgeschöpft werden. Wahlfreiheit wird somit auch zur Selbstverwirklichungspflicht und das kluge »individual choice making« (vgl. Kjorholt und Seland 2012) zu einem der zentralen Anforderungsprofile für KiTa-Kinder. Daher verwundert es auch nicht, dass die Kinder in ihren peerkulturellen Aktivitäten diese Widersprüchlichkeiten zum einen reproduzieren und
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zum anderen auch daran arbeiten, durch eigene Raumproduktionen mehr Macht und Kontrolle in KiTas zu erhalten, beispielsweise indem sie sich der permanenten Beobachtung durch Rückzugsorte und Verstecke entziehen (vgl. Corsaro 2018). Die Ambiguitäten und Widersprüche der heutigen Kindertageseinrichtungen sind aber nicht nur Bestandteil des institutionellen Aufwachsens von Kindern und der damit einhergehenden komplexen Subjektivierungspraxen. Sie bringen es in ihrer Komplexität auch mit sich, dass sich die KiTas zunehmend als Orte der Reproduktion (und nicht der Kompensation) sozialer Ungleichheiten entpuppen. Mit Blick auf die subtilen und feinen Unterschiede, die zwischen produktivitätsorientierter Förderung und einem in romantischer Tradition zugedachten Eigensinn der Kinder gezogen werden, kommt nämlich auch den kulturellästhetischen Passungsverhältnissen zwischen Familie und KiTa eine höhere Bedeutung zu. Und dies liegt nicht zuletzt daran, dass es keinesfalls allen Familien gelingt, dass komplexe Austarieren ambiguer Kindheitskonzepte in den geforderten Bildungs- und Betreuungspartnerschaften zwischen Familie und KiTa mitzugestalten, angefangen bei der richtigen Kleidung der Kinder und einer angemessenen gefüllten Frühstücksdose bis hin zum wohldosierten Gespräch mit den Fachkräften zwischen Tür und Angel. Auch differenzieren sich die Identitätsangebote und Erfahrungskontexte für Kinder in ihren jeweiligen KiTas entlang ihrer familiären Lebenskontexte zunehmend aus. Für Kinder ist dies indes nichts Neues, ihr Alltagsleben findet immer schon in komplexen Räumen zwischen Familie und KiTa statt (vgl. Bollig 2018). Die Forschung beginnt dies allerdings erst zu entdecken. Anmerkungen 1 Alle Namen sind aus dem Verzeichnis Berliner Kitas entnommen, https://www. berlin.de/sen/jugend/familie-und-kinder/kindertagesbetreuung/kitas/verzeichnis/ListeKi tas.aspx (Oktober 2018). 2 Beispielhaft: https://aktiv-mit-kindern.com/2017/01/31/wir-sind-kindergarten %20freie-selbstbetreuer-aber-was-genau-bedeutet-das-eigentlich und www.beruf ungmami.de (Oktober 2018). Sabine Bollig
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Literatur Bilstein, Johannes (1997), Jenseitslandschaften im pädagogischen Diesseits: Garten, Fabrik und Werkstatt, in: Räume bilden: Studien zur pädagogischen Topologie und Topographie, hg. v. Johannes Bilstein, Gerold Becker und Eckart Liebau, Seelze-Velber: Kallmeyer, S. 19-52. Bollig, Sabine (2018), Approaching the complex spatialities of early childhood education and care systems from the position of the child, Journal of Pedagogy 9(1), S. 155-176. Corsaro, William A. (2018), The Sociology of Childhood, Thousand Oaks: Sage. Einarsdóttir, Johanna (2007), Children’s voices on the transition from preschool to primary school, in: Informing transitions in the early years: research, policy and practice, hg. v. Aline-Wendy Dunlop und Hilary Fabian, Maidenhead: Open University Press, S. 74-91. Foucault, Michel (1993 [1967]), Andere Räume, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hg. v. Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Richter, Leipzig: Reclam, S. 34-46. Kjorholt, Anne Trine und Monica Seland (2012), Kindergarten as a Bazaar. Freedom of Choice and New Forms of Regulation, in: The Modern Child and the Flexible Labour Market, hg. v. Anne Trine Kjørholt und Jens Qvortrup, London: Palgrave Macmillan, S. 168-185. Kutscher, Nadia (2013), Ambivalenzen frühkindlicher Bildung im Kontext sozialstaatlicher Politiken und Programme, in: Konsens und Kontroversen. Sozialpädagogik und Pädagogik der frühen Kindheit im Dialog, hg. v. Sektion Sozialpädagogik und Pädagogik der frühen Kindheit, Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 45-55. Meyer-Franke, Diane (2016), Geschichte der frühkindlichen Bildung und Betreuung in Deutschland, hg. v. Bundeszentrale für politische Bildung, www. bpb.de/gesellschaft/bildung/zukunft-bildung/239356/fruehkindliche-bildung (Oktober 2018).
Kinderwagen
Das Leben von Babys und Kleinkindern ist hierzulande undenkbar ohne Kinderwagen und anderweitige »Mobilitätsgerätschaften«. Gerade auf der Welt wird das Neugeborene im gläsernen Säuglingsbett durch Klinikflure geschoben. Nach Hause geht es im Auto in einer Babyschale. Danach folgen Kinderwagen, Sportwagen, Buggy, Jogger, Tragetuch oder -gurt, Kindertrage auf dem Rücken, Fahrradanhänger, Fahrradsitz oder »Gehfrei«, einem Gestell auf Rädern mit integriertem Sitz, in dem das Kleinkind laufen kann, auch wenn es sich noch nicht selbständig auf seinen Beinen halten kann. Aus der Babyschale wird später der größenverstellbare Kinderautositz.
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Das alles ist historisch jung. Lange Zeit waren Mobilitätsmanöver mit dem Baby unüblich und unnötig. Wo das Leben kleinräumig strukturiert war, wurde der Säugling in Leinenbänder paketähnlich geschnürt und relativ unbeachtet sich selbst überlassen (vgl. Weber-Kellermann 1997). War ein Transport des Kindes notwendig, wurde es getragen oder im Korb oder einer Wiege mitgeführt, manchmal auch auf einen Karren oder ein Lasttier gepackt. Der Kinderwagen kommt erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf; 1846 hatte Queen Viktoria mit ihrer Bestellung von drei Kinderwagen für öffentliche Furore gesorgt. In der Folge wurden Kinderwagen zum Stilelement aristokratischer und bürgerlicher Kreise. Als teure Handanfertigungen und Unikate dienten sie zur öffentlichen Repräsentierung der Familie beim Sonntagsspaziergang. Mit der industriellen Massenproduktion vollzieht sich dann die allmähliche Demokratisierung des Kinderwagens. Trotz der Alltagspräsenz der KITRAS (Kinästhetisches TransferierungsAssistenz-System), wie Jane Redlin (2010) das mittlerweile umfangreiche Arsenal an Artefakten für den Transport kleiner Kinder bezeichnet, ist Kindheitsforschung ihnen gegenüber relativ desinteressiert. Dabei »verwandeln« sie Babys und Kleinkinder in erstaunlicher Weise. Sie machen Wesen, die qua Natur mobilitätsunfähig sind, höchst dynamisch: Sie sind – wie andere Menschen auch – in Stadträumen, Wald und Flur, Bussen und Bahnen, im Auto und Flugzeug unterwegs, wenn auch nicht eigenständig, sondern vermittelt durch Erwachsene und Dinge. Manchmal gilt aber auch das Umgekehrte, gerade wenn Babys älter und damit selbst mobiler werden. Dann dient ihre Verfrachtung in den Kinderwagen manchmal auch dazu, die aufkeimende kindliche Mobilität zu verhindern, weil sie stört. Schließlich ist sie weder in ihrer Geschwindigkeit, noch in ihrer Zielgerichtetheit den Bewegungsbedürfnissen Erwachsener gut angepasst. Die Existenz der KITRAS ist Spiegel der fortschreitenden Verinselungsprozesse unserer Gesellschaft angesichts räumlicher Spezialisierungen und Ausdifferenzierungen. Wo Leben an vielen Orten stattfindet, sind Menschen zwangsläufig ständig »auf Reisen«. Und wenn sie Babys haben, werden sie mitgenommen. Erhöhte Qualitätsansprüche an Kinderfürsorge erlauben es heute auch nicht mehr, das Baby sich selbst zu überlassen, wenn die Erwachsenen unterwegs sind, zumal auch die Verkleinerung der Familie dafür gesorgt hat, dass andere Personen zur Beaufsichtigung im häuslichen Raum nicht mehr zur Verfügung stehen. Stattdessen muss das Baby die Ortswechsel der Eltern unentwegt mitvollziehen. Manche Wege veranlasst es aber auch selbst, zum Beispiel die zum Kinderarzt, zum Babyschwimmen, in den Park oder auch als »Einschlafhilfe«. Wenn es anhaltend schreit und durch nichts zu beruhigen ist, wird nicht selten
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von verzweifelten Eltern zu Kinderwagen und Auto gegriffen, um es endlich in den erlösenden Schlaf zu fahren. Die Unerlässlichkeit von KITRAS schafft im modernen Elternleben historisch neue Aufgaben. Dies zeigt sich schon vor der Geburt. Werdende Eltern müssen nicht nur eine umfangreiche Expertise zu Techniken, Fachbegriffen, Einsatzmöglichkeiten, Marken, Qualitäten, Preisen von Kindertransportbehältnissen ausbilden, sondern auch rechtzeitig für die entsprechende Ausstattung sorgen. Informationen werden eingeholt, Baby-Geschäfte und Flohmärkte besucht, Internetplattformen gesichtet, Preise kalkuliert, Rat bei befreundeten Eltern eingeholt, um die »richtigen« Produktentscheidungen zu treffen. Auch in den Kursen zur Geburtsvorbereitung und Säuglingspflege gehört die Beschäftigung mit den KITRAS zum Standard: »Die Kursleiterin weist sehr nachdrücklich daraufhin, dass das Kind nicht im Maxi Cosi (bekannte Marke einer Autobabyschale) Autospazieren gefahren werden sollte, sondern dieser, außer für das Autofahren, nur für kurze Einkaufstouren genutzt werden sollte. Bei längeren Spaziergängen sei immer der Kinderwagen zu nutzen. Sie erwähnt die ansonsten potentiell drohenden Wirbelsäulenschädigungen. Krystina fragt nach, ab wann denn längere Autofahrten stattfinden dürften. Sie erläutert, dass die Großeltern des Kindes im Ausland lebten und man da gerne hinfahren würde. Bevor darauf richtig geantwortet wird, wird von den Kursleiterinnen darauf hingewiesen, dass Kinder generell weder im Maxi Cosi noch in einer Babywippe ›geparkt‹ werden sollten. Der beste Ort für ein Kind sei der Boden. Im Auto würde jedoch die Sicherheit überwiegen und da sei der Maxi Cosi der Kompromiss, den man eingehen müsste.«1
Eltern müssen also nicht allein über die diversen Transportbehälter und ihre Funktionen Bescheid wissen, sondern auch über spezifische Gefahren und beides gegeneinander abwägen. Dabei entsteht ein eigener spezialisierter Kosmos, den Außenstehende kaum verstehen. Kerstin Schlesinger und Sonja Urban (2015) schildern in ihrer ethnografischen Studie in Babyausstattungsgeschäften, wie »verloren« sie dort zunächst waren, weil ihnen das Wissen zu Produkten, Techniken, Bezeichnungen und Verhaltenscodes an diesem Ort fehlte. Indem die werdenden Eltern die erforderlichen Requisiten anschaffen, markieren sie sich symbolisch erst als solche. Die Beschäftigung mit KITRAS offenbart sich damit als wichtige Bühne des Doing Parentship (ebd.). Wenn das Baby dann auf der Welt ist, gilt es mit Kinderwagen und anderen Transportgeräten gekonnt umzugehen. Eltern müssen wissen, wie sie ihr Baby gut »verpacken«, um es dann draußen im Kinderwagen zu schieben, vor Sonne und Regen zu schützen, die Autoschale im Auto sachgemäß zu befestigen und
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sicher darin anzugurten. Sie müssen schließlich in der Lage sein, den Kinderwagen Treppen hochzuhieven, in Bahnen zu bugsieren, auf Rolltreppen zu handhaben und geschickt zu zerlegen, um ihn im Auto zu verstauen. Diese raffinierten Optimierungs- und Anpassungsprozesse zwischen technischem Zubehör und Körpertechniken haben Lukas Dehm, Eva Muthmann und Laura Völkle ethnografisch untersucht und dabei Situationen wie diese eingefangen (Dehm, Muthmann und Völkle 2015, S. 11): »Zu Beginn des Spaziergangs holt Dominik eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug heraus und drückt sie mir in die Hand […]. Ich vermute es ist einfacher für ihn, wenn ich ihm die Zigarette gebe, da er mit dem Kinderwagen nicht beide Hände frei hat. Ich hole ihm eine Zigarette heraus und er bleibt stehen, um sich die Zigarette anzuzünden. Damit ihm der Kinderwagen nicht wegrollt, hält er ihn mit seinem angewinkelten Knie an der Haltestange fest.«
In diesem Fall ist es das Rauchen, das mit dem Kinderwagenschieben handwerklich synchronisiert werden muss; es kann aber auch das Mobiltelefonat sein, das Gespräch mit einer begleitenden Person oder auch die Beruhigung des im Wagen liegenden Babys. Als eine besondere Herausforderung erweist sich die Benutzung heutzutage beliebter Tragetücher oder -gurte. Versinnbildlichte das Tragetuch ehemals Antimodernität, Armut und soziale Randständigkeit, wurde es in den 1970er-Jahren zum Zeichen alternativer Lebensführung gesellschaftskritischer Gruppen. Während bürgerliche Werte, einschließlich der Werte der Kindererziehung, obsolet erschienen, wurden im Gegenzug »Naturvölker« zum Inbegriff besseren Lebens. Damit stieg auch das Tragetuch zum idealen Baby»Behälter« auf (vgl. Redlin 2010). Allerdings ist seine Benutzung offenbar doch nicht so einfach. Mittlerweile werden kostenpflichtige Trageberatungen von eigens hierfür ausgebildeten Beraterinnen angeboten, die Eltern zeigen, wie welche Tragetücher- und Tragegurt-Modelle korrekt angelegt und das Baby dort richtig eingepasst wird, damit es keinen körperlichen Schaden nimmt und sich wohlfühlt. Wie kompliziert dies sein kann, dokumentiert folgende Szene (Muthmann und Völkle 2016, S. 6): »Corinna ist mit ihrem sieben Wochen alten Baby Emma auf dem Arm in die Trageberatung gekommen. […] Sie meint, es klappe irgendwie nicht mehr richtig, die Kleine schreie, wenn sie sie in der Trage habe und irgendwie fühle es sich nicht gut an. Sabine holt eine Trage des gleichen Modells von einer der Kleiderstangen sowie ›Knut‹, eine der Vorführpuppen, und beginnt Corinna das richtige Anlegen an ihrem (Sabines) eigenem Körper zu zeigen. Die Trage hat einen Hüftgurt und Träger wie ein Wanderrucksack; der
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›Beutel‹ für das Baby ist aus Tragetuchstoff. Sabine lockert den Hüftgurt, legt ihn sich um und zieht ihn wieder fest. Sie erklärt, dass bei einem so kleinen Baby der Hüftgurt etwas weiter oben getragen werden müsse, damit das Kind in ›Kopfkuss-Höhe‹ getragen werden könne, zeigt, wie das Baby in den Beutel gesetzt werden muss, damit es die ›SpreizAnhock-Stellung‹ einnimmt, und betont, wie wichtig es sei, dass zuerst die Gurte festgezogen werden und dann erst der Tragetuchbeutel. ›Nur so lässt sich die Trage optimal an dich und das Mäuschen anpassen‹.«
Bei den Bemühungen um die Perfektionierung des Umgangs mit den KITRAS kommt eine »knifflige Spezifik von Babys« zum Tragen (Dehm, Muthmann und Völkle 2015, S. 3): Sie werden zwar transportiert, sind allerdings kein Ding, sondern lebendig. Sie lassen nicht alle Handhabungen stumm über sich ergehen, sondern reagieren auf das, was mit ihren Körpern gemacht wird. So gehört es zu den stressenden elterlichen Alltagserfahrungen, dass sich Babys schreiend gegen die für die Kinderwagenfahrt erforderlichen Einkleidungen wehren, auch gegen das Ablegen im Kinderwagen, Fixieren in der Autoschale oder das Einpacken im Tragegurt. Gerade Autotouren werden von vielen Eltern gefürchtet, weil sie wissen, dass die »Lebend-Fracht« nicht lange still bleibt. Man versucht durch geschickte Terminierungen der Fahrt den Schlafrhythmus des Babys auszunutzen. Klappt dies jedoch nicht, gibt es verschiedenste Taktiken, um das eingezwängte unwillige Baby bei guter Laune zu halten: Spiele, Beschäftigungsrequisiten, Berührungen, Gesang und Musik-CDs werden zur Beruhigung geboten – und manches Mal auch die nährende Brust, was gewisse mütterliche Körperkünste voraussetzt. Dazu gesellt sich eine weitere »Kniffligkeit«: Das Baby ist aufgrund seiner entwicklungsbedingten körperlichen Unzulänglichkeiten relativ kooperationsunfähig, wenn es portabel gemacht wird: Zum einen kann es nicht mithelfen, die Passung zwischen Artefakt und Körper zu optimieren; zum anderen schafft seine Mobilmachung potentielle Gefahren, vor denen es sich nicht selbst schützen kann. Als Sinnbild kann hier die vielzitierte Schlüsselszene aus Eisensteins Revolutionsepos »Panzer Potemkin« stehen, die genau damit Grauen erregt, dass der Kinderwagen einer im städtischen Gemetzel erschossenen Mutter mit einem Baby darin unaufhaltsam die leichenübersäte Treppe zum Meer hinunterstürzt. Der Umstand, dass mit den KITRAS vulnerable und hilflose Babys in Bewegung versetzt werden, bringt deshalb eine Sicherungsmaschinerie in Gang, um Risiken einzudämmen, die es nicht gäbe, wenn sie nicht mobilisiert würden. Ob Feststellbremse und Federung am Kinderwagen, Kopfstützen, Sonnenschutz am Tragegurt, Iso-Fix-Befestigung, Anschnallgurte der Autoschale oder TÜV-Siegel – es sind alles sichernde technische Programme.
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Und eine weitere Maschinerie wird mit der Nutzung der KITRAS in Gang gesetzt: das Packen und Verfrachten von Pflegeutensilien, derer das Baby bedarf, auch und gerade wenn es unterwegs ist. Der kommerzielle Markt hält hierfür eine Vielzahl helfender Produkte bereit: die verschließbare Trinkflasche und Befestigungsmöglichkeit am Handlauf des Kinderwagens, Breie in Gläsern, Knabberplätzchen, provisorische Wickelunterlagen, Feuchttücher zum Reinigen und schließlich große Wickeltaschen zum Verstauen sämtlicher Dinge, die bestenfalls dasselbe Stoffdesign wie der Kinderwagen haben und an diesem zu befestigen sind. Die Equipierung des Babylebens mit KITRAS und ihrem Zubehör, so rational sie vordergründig auch scheint, ist immer eine Arena sozialer Distinktion. Pia Druwe (2009) stellt bei ihrer Befragung von Eltern zum Kinderwagenkauf fest, dass ein dezidiertes Markenbewusstsein ausgeprägt ist. In den Interviews zeigen sie sich versiert zu den einzelnen Marken-Bezeichnungen, technischen Merkmalen und deren jeweiligem Ruf. Da ist dann beispielsweise von einem »Mercedes« unter den Kinderwagen die Rede, deren Besitzer sich untereinander grüßen, wenn sie sich auf der Straße begegnen. Alle sind hochidentifiziert mit dem Modell, für das sie sich entschieden haben. Und selbst die, die sich vom »Markenwahn« kritisch distanzieren, verfangen sich letztlich in der symbolisch aufgeladenen Ordnungsmatrix der KITRAS – sie nehmen nur eine andere Position ein. In den Produktentscheidungen manifestieren sich eindrücklich ökonomischer Besitz und soziale Herkunft. Gesellschaftliche Hegemonien organisieren sich hierüber ebenso wie Diskriminierungen. So wie das Tragen des Säuglings im Tuch derzeit soziale Anerkennung findet und für gutes Eltern-Sein steht, markiert zum Beispiel die Nutzung des »Gehfrei« aus einer hegemonialen Perspektive Verantwortungslosigkeit. Wie der Fahrradanhänger die Besitzer als »Ökos« ausweist, wird der alte Buggy mit vielen Gebrauchsspuren und schlechter Benotung durch die Stiftung Warentest zum Stigma der Armut und Inkompetenz. Kinderwagen und alle anderen Mobilitätsgeräte sind »Alltagsgegenstände und Symbolträger zugleich« (Redlin 2010, S. 163). Anmerkung 1 Die Szene entstammt einem eigenen ethnografischen Forschungsprojekt zu Geburtsvorbereitungskursen. Lotte Rose
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Literatur Dehm, Lukas, Eva Muthmann und Laura Völkle (2015), Von Stellvertretern, Babyblasen und Körper-Artefakt-Hybriden (unveröffentlichte studentische Seminararbeit). Druwe, Pia (2009), Der Kinderwagen: Elternkultur zwischen Praxis und Prestige (unveröffentlichte Magisterarbeit). Muthmann, Eva und Laura Völkle (2016), Babys praxistheoretisch begreifen. Ein Vorschlag zur soziologischen Handhabung von Kleinstkindern (unveröffentlichtes Vortragsmanuskript). Redlin, Jane (2010), Kitras – Alltagsdinge und Symbolträger. Eine Forschungsskizze, in: Die Sprache der Dinge – kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur, hg. v. Elisabeth Tietmeyer, Claudia Hirschberger, Karoline Noack, Jane Redlin und Gesellschaft für Ethnographie e.V., Münster u. a.: Waxmann, S. 163-172. Schlesinger, Kerstin und Sonja Urban (2015), Wenn Eltern für ihr Baby einkaufen – Pränatale Elternschaftspraktiken an Orten der kommerziellen Babyausstattung, in: Mutter, Vater, Kind – Geschlechterpraxen in der Elternschaft, hg. v. Rhea Seehaus, Lotte Rose und Marga Günther, Opladen u. a.: Barbara Budrich, S. 31-48. Weber-Kellermann, Ingeborg (1997), Die Kindheit: eine Kulturgeschichte, Frankfurt am Main: Insel.
Kinderwunschklinik
Sandra und Peter Schuber1 sitzen im Wartesaal einer Kinderwunschklinik in Alicante, Spanien. Durch die weiß mattierte Glastür lässt sich das geschäftige Treiben am Empfangstresen erahnen. Auf den Beistelltischchen vor den Ledersofas liegen zahlreiche Broschüren: Es geht um das Aufbewahren von Stammzellen aus dem Nabelschnurblut, das Einfrieren von Eizellen oder die Versprechen der Präimplantationsdiagnostik – Angebote für Menschen, die vorsorgen möchten. Alicante ist die letzte Etappe von Schubers Kinderwunsch-Odyssee. Jahrelang versuchte Sandra schwanger zu werden, bevor ihr Gynäkologe sie ins nächstgelegene Kinderwunschzentrum schickte. Nach mehreren erfolglosen Inseminationen (die Spermien des Mannes werden in die Gebärmutter gespritzt) und In-Vitro Fertilisationen (Spermien und Eizellen werden im Labor befruchtet und die daraus entstehenden Embryonen danach in die Gebärmutter eingeführt) wurde endlich eine Diagnose gestellt: Sandra Schuber leidet an einer ovarialen Insuffizienz. Die Chancen, mit ihren eigenen Eizellen schwanger zu werden, sind aufgrund derer mangelnder Qualität äußerst gering. Der behandelnde Arzt berichtete Schubers von der Möglichkeit, im Ausland eine Eizellenspende zu erhalten – eine Option, die in der Schweiz verboten ist. Nachdem sich das Paar im Internet kundig gemacht hatte, entschied es sich für eine Klinik in Alicante. Die deutschsprachige Homepage, verschiedene positive Erfahrungsberichte auf Internetforen und die guten Flugverbindungen nach Alicante ermutigten sie zu diesem Schritt. Das erste Gespräch mit der deutsch sprechenden Ärztin fand vor drei Wochen per Skype statt – und nun sitzen Sandra und Peter Schuber im Wartesaal der Klinik. Zur gleichen Zeit sitzt in einem etwas kleineren Wartesaal derselben Klinik nur einige Räume entfernt eine junge Frau. Pamela Dominguez ist 22 Jahre alt. Die ausgebildete Sozialarbeiterin gibt Nachhilfeunterricht und arbeitet zusätzlich im Sommer als Animatorin in einer der zahlreichen Hotelketten Alicantes. Eine Freundin hatte sie auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, ihre Eizellen zu spenden – gegen eine Entschädigung von 1000 Euro. Pamela Dominguez durch-
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lief bei einem ersten Termin in der Klinik bereits ein aufwändiges Auswahlverfahren: Nach gynäkologischen Tests, Blutabnahmen und Abstrichen gab sie bei einer Psychologin bereitwillig Auskunft über ihr psychisches Wohlbefinden und die Motivation, ihre Eizellen zu spenden. Nun ist sie wieder in der Klinik, um ihre Testresultate abzuholen. Wenn die psychologischen und medizinischen Tests positiv ausfallen, wird ihr noch einmal Blut abgenommen für einen Gentest. Erst wenn sich herausstellt, dass sie nicht Trägerin einer genetisch vererbbaren Krankheit ist, kann sie mit der Eizellenspende beginnen. Hierfür muss sie sich für circa zehn Tage Hormone spritzen, damit sich bis zu 30 Eizellen entwickeln, welche dann nach der Einnahme eines den Eisprung auslösenden Medikamentes unter Vollnarkose entnommen werden. Pamela Dominguez wird Sandra und Peter Schuber nie kennenlernen, denn die Eizellenspende in Spanien ist anonym. Und dennoch bringt die Kinderwunschklinik in Alicante das intime Leben von Eizellenempfängerinnen und Eizellenspenderinnen auf einzigartige Weise zusammen. Sandra Schuber ist eine von vielen Mitteleuropäerinnen, die sich jedes Jahr nach Spanien aufmachen, um sich dort ihren Kinderwunsch mit Hilfe einer Eizellenspende zu erfüllen. Neben osteuropäischen Ländern wie der Ukraine oder Tschechien ist Spanien die bedeutendste Destination für den europäischen »Reproduktionstourismus«. Frauen wie Pamela Dominguez verhelfen Wunscheltern wie den Schubers aus ganz unterschiedlichen Gründen dabei, sich ihren Traum vom »eigenen« Kind zu erfüllen. Spanische Studentinnen finanzieren sich mit der Eizellenspende ihr Studium, Migrantinnen aus Osteuropa bessern damit ihr Familieneinkommen auf, alleinerziehende Mütter bezahlen ausstehende Rechnungen und prekär beschäftigte junge Frauen überbrücken die Zeit von einem Kurzzeitjob zum nächsten. Kinderwunschkliniken betonen gerne, dass dies für alle Beteiligten eine echte Gewinnsituation ist: Die eine Frau bekommt ihr Wunschkind, die andere das nötige Kleingeld, um ein besseres Leben zu führen – und zusätzlich das gute Gefühl, einer anderen Frau ihr lang ersehntes Familienglück erfüllt zu haben. Denn: Kinder machen glücklich. Dies ist die Grundprämisse der Kinderwunschkliniken. Auf den Homepages wird dieses Familienglück in Szene gesetzt. Die Bilder von pausbackigen Babies und in Leinen gehüllten Babybäuchen machen deutlich, dass hier nicht nur Kinder gezeugt, sondern auch »Eltern gemacht« (Thompson 2005) und die »glückliche Familie« (Ahmed 2010) ins Leben gerufen werden. Die Kinderwunschklinik ist die Wegbereiterin in dieses Glück. Reproduktionstechnologien werden so zu »Hoffnungstechnologien« (Becker 2000), die denen Hoffnung schenken, welchen das Familienglück nicht »natürlich« vergönnt ist. Kinderwunschklinken im In- und Ausland sind für viele Personen und Paare somit höchst affektive Orte: Dort entscheidet sich, ob sich
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ihr Traum eines genetisch verwandten – oder im Falle der Eizellenspende zumindest selbst ausgetragenen – Kindes erfüllen wird oder nicht. Seit der Geburt des ersten IVF-Babys, Louise Brown, 1978 in England sind weltweit über fünf Millionen Kinder mit Hilfe der Reproduktionsmedizin auf die Welt gekommen. In Deutschland wurden bis heute circa 250.000 Kinder dank der Reproduktionsmedizin geboren. Doch die Zahl ist um ein Vielfaches höher, wenn man die Kinder mitzählt, die im Ausland mit Hilfe von ausländischen Eizellenspenderinnen gezeugt und/oder von Leihmüttern ausgetragen wurden. Unterschiedliche nationale Gesetzgebungen im Hinblick auf bestimmte Verfahren der Reproduktionsmedizin und enorme Kostenunterschiede in verschiedenen Ländern bringen Personen wie die Schubers dazu, in andere Länder zu reisen, um sich dort ihren Traum vom Familienglück zu erfüllen. Sie sind begehrte Kunden der Kinderwunschzentren, die sich auf ein solch internationales Klientel spezialisiert haben, indem sie ihre Dienste auch über nationalstaatliche Grenzen hinweg mit Hilfe von sozialen Medien und digitalen Werbeauftritten vermarkten. Der virtuelle Raum des Internets wird zur Arztpraxis, wenn Ärzt*innen Sprechstunden über Skype oder Facetime durchführen und Testergebnisse im klinikeigenen Live-Chat mit ihren Patient*innen diskutieren. Aber nicht alle haben gleichermaßen das »Recht«, sich mit Hilfe der Reproduktionsmedizin fortzupflanzen. In Deutschland bekommen nur verheiratete Paare drei IVF-Behandlungszyklen in einer Kinderwunschklinik bezahlt, Singles oder unverheiratete Paare müssen die Behandlung selbst bezahlen. In der Schweiz können sich alleinstehende Frauen und lesbische Paare ihren Kinderwunsch per Samenspende nicht erfüllen – da diese verheirateten Paaren vorbehalten ist. Der Staat legitimiert über die geltenden Gesetzgebungen also gewisse Familienformen, meist wird dabei die heteronormative Vorstellung von Familie reproduziert. Der Markt springt bei allen anderen Familienkonstellationen ein und gibt sich dabei als Verteidiger für alternative Familienmodelle aus. Unfruchtbare Frauen, alleinstehende Männer und homosexuelle Paare werden in diesem zunehmend globalen Markt zu Konsument*innen, die eine Eizellenspende empfangen oder eine Leihmutter unter Vertrag nehmen können. Marktmechanismen führen zu dem, was feministische Wissenschaftler*innen »stratifizierte Reproduktion« nennen: Globale Ungleichheiten ermöglichen nur bestimmten Gruppen Zugang zu den teuren Fruchtbarkeitsbehandlungen in den meist privaten Kliniken. Gleichzeitig lebt dieser Markt von der prekären ökonomischen Situation von Frauen, für die der Verkauf ihrer reproduktiven Kapazitäten als Eizellenspenderinnen oder Leihmütter eine Möglichkeit darstellt, für den Unterhalt ihrer eigenen Familien aufzukommen. Eizellenspenderinnen und Leihmütter sind in diesen transnationalen Arrangements diejenigen, die ihre Körper
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und ihr genetisches Material für die Familienpläne anderer zur Verfügung stellen. Die sogenannten »Dritten« in der Reproduktionsmedizin ermöglichen den Transfer von reproduktiver Kapazität von einem Körper in den anderen (vgl. Lafuente Funes 2017). Sie sind die primären Vehikel, durch welche Wunscheltern zum »happy object« (Ahmed 2010) Familie gelangen. Die finanzielle Entschädigung ist dabei ein zentrales Motiv für Frauen, ihre Eizellen trotz möglicher Risiken zu spenden. Dabei kommt es allerdings zu einem moralischen Dilemma. In den meisten westlichen Ländern besteht ein gesellschaftlicher Konsens darüber, dass Kinder »priceless« (Zelizer 1985) sind und kein verkäufliches Gut sein sollten. In spanischen Kinderwunschkliniken werden deshalb nicht die Eizellen an sich bezahlt, sondern die Spesen und die Unannehmlichkeiten, welche mit deren Entnahme verbunden sind. In ihrem Marketing rahmt die Reproduktionsindustrie die Eizellenspende als Spende und nicht als Verkauf von Eizellen. Die reproduktive Arbeit, die die Eizellenspenderinnen leisten, wird durch diese Formulierung aber unsichtbar – finanzielle Transaktionen werden zu Akte weiblicher Solidarität. In der alicantinischen Klinik – in welcher Schubers und Pamela Dominguez sitzen und warten – trifft sich am gleichen Tag der Chefarzt Dr. Ruiz mit Dr. Messerli, einer Schweizer Gynäkologin. Die Gynäkologin ist auf der Suche nach seriösen Kliniken, an welche sie ihre Patientinnen weiterverweisen kann. Der Arzt zeigt ihr Statistiken mit überdurchschnittlich hohen Schwangerschaftsraten. Schließlich erläutert er das ausführliche genetische Screening, welche alle seine Spenderinnen durchlaufen. Auf über 300 genetische Mutationen werden »seine Spenderinnen« untersucht – 40 % von ihnen scheiden durch das anspruchsvolle Auswahlverfahren aus. Denn für Dr. Ruiz steht fest: »Das ultimative Ziel ist nicht die Schwangerschaft an sich. Nein, die Frauen, welche meine Klinik aufsuchen, wollen nicht nur schwanger werden, sondern sie wollen vor allem ein gesundes Kind im Arm halten«. Und er, Dr. Ruiz, würde alles in seiner Macht Stehende tun, um ihnen dies zu ermöglichen. Das Ziel einer Kinderwunschbehandlung ist also nicht einfach irgendein Kind, sondern ein gesundes Kind. Eine Garantie dafür gibt es natürlich nicht; und doch zeigen die bahnbrechenden Entwicklungen und finanziellen Investitionen im Bereich der Genetik/Genomik deutlich auf, welchen gesellschaftlichen Stellenwert das gesunde Kind hat. Paare mit einem Kinderwunsch werden dabei zu Entscheidungsträger*innen, welche sich über Wahrscheinlichkeitsrechnungen und dem Abwägen von Risiken ihren Weg zum Wunschkind bahnen (vgl. Samerski 2010). Die Entwicklung von Reproduktionstechnologien und Genetik sind eng miteinander verbunden und Teil einer schnell wachsenden und zunehmend lukrati-
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ven Bioökonomie. Der Bereich, in welchem neue genetische Testinstrumente zuerst und am flächendeckendsten eingeführt wurden, ist die Reproduktionsmedizin. Spanien, das Land mit der höchsten Dichte an privaten Kinderwunschkliniken in Europa, ist auch im Bereich der Präimplantationsdiagnosik federführend (Pavone und Arias 2012). Dass Keimzellenspender*innen auch auf genetische Krankheiten untersucht werden, ist eine neuere Entwicklung, gehört aber in vielen Kliniken bereits zum Standardpaket dazu. Das Paket der untersuchten Mutationen unterscheidet sich von Klinik zu Klinik, wird aber ständig umfassender. In vielen Kliniken kann man sich zudem entscheiden, ob man zusätzlich ein »genetisches Matching« in Anspruch nehmen möchte. Dafür wird die Genetik des Vaters mit derjenigen der Mutter verglichen – um »genetische Kompatibilität« zu erzielen. Im Falle der Eizellen oder Samenspende ist das einfach: Wenn ein Spender oder eine Spenderin nicht passt, wird eben der/die nächste genommen. Wenn es sich dabei aber um eine In-Vitro Behandlung handelt und dieselbe Mutation sowohl beim Vater als auch bei der Mutter gefunden wird, muss mit Hilfe der Präimplantationsdiagnostik ein Embryo ohne die entsprechende Mutation für den Transfer ausgewählt werden. Der Einsatz von genetischen Träger*innentests führt somit auch zu einer zunehmenden Verwendung von Techniken der Präimplantationsdiagnostik. Die Kinderwunschkliniken – so die Einschätzung eines spanischen Genetikers – müssen ihr Geschäftsmodell in Zukunft grundlegend neu ausrichten. Heute ist es ihr primäres Ziel, unfruchtbaren Paaren zum Kinderwunsch zu verhelfen. »In Zukunft«, so der Genetiker »werden sich diese Zentren jedoch um die menschliche Fortpflanzung ganz allgemein kümmern. Eine normale Reproduktion. Nur sicherer«. Denn genetisches Matching und Präimplantationsdiagnostik sind Reproduktionstechnologien, die eigentlich nichts mit Unfruchtbarkeit zu tun haben. Die Debatten um Reproduktionsmedizin und Genetik sind Teil einer höchst kontroversen gesellschaftlichen Debatte. Der politische Widerstand von Feminist*innen und Behindertenorganisationen richtet sich gegen eine neoliberale Welt, in der die »Optimierung des Lebens« (Rose 2007) zum obersten Gebot geworden ist. Sie erscheinen dabei oft wie die Wilden aus Huxleys »Schöner neuen Welt«. Sie fordern »das Recht aufs unglücklich sein«, das Recht auf das alt, krank und hässlich werden ein, das so wenig zu den Hochglanz-Zeitschriften in den spanischen Kinderwunschkliniken passt. Noch ist die Reproduktions- und Gentechnologie vor allem ein äußerst lukratives Geschäft für die meist privaten Kinderwunschzentren. In vielen Fällen verhilft sie Personen mit genetischen Erbkrankheiten zu einem gesunden Wunschkind, das ihnen sonst nicht vergönnt wäre. Aber bald schon könnten Krankenkassen und staatliche Gesundheitsmini-
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sterien die Präimplantationsdiagnostik als Weg erkennen, Gesundheitskosten zu senken, indem sie diese obligatorisch für alle einführen und sich anschließend weigern, die Behandlungskosten für Kinder zu übernehmen, die mit genetischen Krankheiten auf die Welt kommen. Es ist an der Zeit, die Diskussionen über die ethischen Implikationen von Reproduktions- und Gentechnologien aus den Räumen der Kinderwunschkliniken, Ethik-Komissionen und Expert*innengremien in die Mitte der gesellschaftlichen Debatte zu tragen. Denn Schubers persönlicher Wunsch nach einem »gesunden« Kind wird dann politisch, wenn daraus die Gefahr entsteht, dass Menschen, die von dieser Norm abweichen, ihre Daseinsberechtigung abgesprochen wird. Anmerkung 1 Alle Namen sind zum Schutz der Personen anonymisiert. Die empirischen Daten dieses Artikels ergeben sich aus Interviews und Feldnotizen aus der Feldforschung von Laura Perler in Spanien (Februar-Dezember 2018). Laura Perler und Carolin Schurr Literatur Ahmed, Sara (2010), The promise of happiness, Durham: Duke University Press. Becker, Gay (2000), The elusive embryo how women and men approach new reproductive technologies, Berkeley: University of California Press. Lafuente Funes, Sara (2017), Egg donation in the making: gender, selection and (in)visibilities in the Spanish bioeconomy of reproduction, in: Bioeconomies: life, technology, and capital in the 2st century, hg. v. Vincenzo Pavone und Joanna Goven, London: Palgrave Macmillan, S. 253-277. Pavone, Vincenzo und Flor Arias (2012), Beyond the geneticization thesis: the political economy of PGD/PGS in Spain, Science, Technology, & Human Values 37(3), S. 235-261. Rose, Nikolas (2007), The politics of life itself: biomedicine, power, and subjectivity in the twenty-first century, Princeton: Princeton University Press. Samerski, Silja (2010), Die Entscheidungsfalle. Wie genetische Aufklärung die Gesellschaft entmündigt, Darmstadt: WBG. Thompson, Charis (2005), Making parents: the ontological choreography of reproductive technologies, Cambridge: The MIT Press. Zelizer, Viviana (1985), Pricing the priceless child. The changing social value of children, Princeton: Princeton University Press.
Kinderzimmer
»Komm mit«, sagt Luca und nimmt mich an die Hand. Gemeinsam gehen wir durch den Flur in Richtung Kinderzimmer. Dort bleibe ich einen Moment im Türrahmen stehen, Luca krabbelt aufs Bett und fängt an zu hüpfen: »Hier bin ich am liebsten!« Mein Blick durchstreift den Raum. Erst einmal sehe ich ein ganz normales Kinderzimmer – bunt, freundlich-warm und etwas durcheinander. An der rechten Wand steht Lucas Bett, daneben ein Kleiderschrank, beide im typischen Stil schwedischer Möbelhäuser. Im Regal an der Wand mir gegenüber befinden sich dutzende Bücher, Spiele und Kuscheltiere, daneben Puppen und Feuerwehr-Autos. Luca liebt Feuerwehr-Autos, das ist nicht zu übersehen. Neben dem Regal stehen durchsichtige Kunststoffkisten, gefüllt mit Autos, Kunststoff-Tieren aus allen Regionen der Welt, Bällen, farbenfrohen Bausteinen und Spielfiguren, wiederum aus Kunststoff, Naturmaterialien zum Basteln, Knet-
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gummi und vielem mehr. Links davon ist die Mal-Ecke, hier steht ein kleiner Tisch mit drei Stühlen, auf dem Malblöcke, Stifte und Wasserfarben liegen. Die Wand dahinter schmückt eine bunte Tapete mit vielen Tieren. An der rechten Wand, hinter Lucas Bett und dem Schrank, klebt eine hellblaue Tapete mit weißen Wolken. Die anderen Wandbereiche sind in hellen, warmen Farben gestrichen, gelb und mintgrün. Auf dem Boden liegt ein großer Teppich mit aufgedruckten Straßen, der fast das gesamte Zimmer ausfüllt. Auf ihm liegen ein Sammelalbum für Tierbilder, ein Kartenspiel, eine Eisenbahnlandschaft aus Holz, ein Kreisel und diverse Autos in und vor einem Parkhaus. »Dingvielfalt« nennt Renate Gehrke-Riedlin (2002, S. 22) solch eine Ansammlung von Gegenständen im Kinderzimmer und spricht weiter von einer »unüberschaubare[n] Inventarvielfalt« (ebd.). Mit etwa zwei, drei Jahren fand Luca hierfür einen eigenen Begriff. Damals begann sie, ihr Zimmer Spielplatz zu nennen. »Was gefällt dir an deinem Bett?«, frage ich Luca. »Das ist so schön warm und weich«, sagt sie, »und hier sind meine Kuscheltiere, und Mama liest mir abends Geschichten vor – und Papa und Opa auch, wenn sie uns besuchen.« Luca ist die fünfjährige Tochter von Isa, einer Freundin von mir. Isa war es immer wichtig, ihre Tochter geschlechtersensibel zu erziehen, was sich auch in den Sportarten zeigt, die Luca seit kurzem betreibt, Turnen und Fußball. »Nach ›typisch Mädchen‹ sieht es hier echt nicht aus«, sage ich zu Isa, die uns ins Kinderzimmer gefolgt ist. Isa lacht: »Stimmt, aber guck mal in den Kleiderschrank…«. Sie öffnet die Tür, ich blicke auf Kinderkleidung in vielen verschiedenen Farben, dominiert allerdings von Rosa, Pink und Lila. »Seitdem Luca in die Kita geht, steht sie voll auf Pink in allen Facetten«, sagt Isa, »sie hat da gute Vorbilder: ›Mädchen wollen so etwas‹ höre ich oft. Einige Eltern sagen sogar, dass dies ihrem Wesen entspreche.« Isa zieht die Augenbrauen hoch: »Was für ein Quatsch, dabei sollte doch mittlerweile bekannt sein, dass Rosa mal als Jungenfarbe galt. Rosa war einmal das ›kleine Rot‹, und Rot stand früher für Kampf und Blut und war mit Macht und Männlichkeit assoziiert. Das war im Mittelalter so und blieb bis Anfang des 20. Jahrhunderts, also bis in die 1920er, 30er Jahre.« Der Blick in Lucas Kleiderschrank zeigt, wie sehr das Private gesellschaftlich konfiguriert ist. Die Füllung eines Kleiderschrankes ist Ausdruck persönlicher Vorlieben. Sie ist aber auch Ausdruck von Habitus, Trends, materiellen Ressourcen und gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen. Dies gilt auch fürs Kinderzimmer. Das Kinderzimmer – ein ausgewiesener Wohn- und Schlafbereich für Kinder, der von anderen Zimmern getrennt ist – ist ein Produkt der Moderne. Sozialhistorischen und volkskundlichen Studien zufolge geht die Entstehung des Kinderzimmers in die frühe Neuzeit zurück. Grundlegend waren in westeuropäi-
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schen Ländern die Herausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft und die (allmähliche und diskontinuierliche) »Entdeckung der Kindheit« (Ariès 2014 [1960]). Bereits im ausgehenden Mittelalter soll es einen Begriff vom Kinderzimmer gegeben haben, allerdings mit einer ganz anderen Bedeutung als sie dieser Name später bekommen sollte. In Adelskreisen, in denen Kinder selbst oft als Spielzeug galten, wurden als Kinderzimmer Räume bezeichnet, in denen auf Fresken oder Teppichen Putti, kleine nackte Engelsfiguren, dargestellt waren (ebd., S. 82, 104). Erste eigene Räume für Kinder entstanden im 17. und 18. Jahrhundert in wohlhabenden städtischen Haushalten, zumeist in Form von Schlafkammern oder Unterrichts- und Studierstuben, »in der der Lehrer gemeinsam mit seinem Zögling lebt[e] und ihn unterrichtet[e]« (Gehrke-Riedlin 2002, S. 48). Ausgestattet waren sie mit Bett und Waschgelegenheit, Tisch, Lampe und Bücherschrank; Spielzeug spielte noch kaum eine Rolle (vgl. ebd., S. 150). Anders als in der Vormoderne, in der Kinder Teil der Erwachsenenwelt waren (eine eigenständige Lebensphase namens »Kindheit« gab es noch nicht) und durch Mit- und Nachmachen lernten, sollten Kinder nun durch Bücher auf das Leben vorbereitet werden. Das Kinderzimmer war zunächst also eng an Bildungsaspirationen der Eltern geknüpft, in ihm äußert sich die »neue soziale Rolle des Kindes als Schüler« (ebd., S. 15). Diese Rolle war aber hoch selektiv. Wesentliche Voraussetzung für den Besitz eines eigenen Raumes war das Zusammenwirken von Schicht und Berufsstand der Eltern (aufstrebendes Bürgertum, akademische Haushalte), Lokalität (Stadt), Alter (Erfindung dessen, was heute Schulkind genannt wird) und Geschlecht (Knaben). In der Entstehung des Kinderzimmers artikuliert sich zugleich die allmähliche Herausbildung von zwei getrennten Sphären, die im Bürgertum ihren Anfang nahmen und heute so selbstverständlich erscheinen: die öffentliche Sphäre von Wirtschaft, Politik und Kultur und die private Sphäre von Familie und Reproduktionsarbeit mit ihren Äquivalenten öffentlicher und privater Raum. Im 19. Jahrhundert breitete sich die Konvention der Einrichtung eines Kinderzimmers auch in anderen Bevölkerungsschichten aus. Dabei erfuhr es eine gesellschaftliche Aufwertung und einige Funktionserweiterungen vor allem in Richtung Schlaf- und Spielstätte. Mit dem Begriff der »guten Kinderstube« avancierte das Kinderzimmer zum Inbegriff einer guten Erziehung und eines feinen Benehmens (vgl. Gehrke-Riedlin 2002, S. 12, 90). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, geprägt durch zwei Weltkriege, Weltwirtschaftskrise, große Armut und Wohnungsnot, waren eigene Zimmer und selbst eigene Betten eine Seltenheit (vgl. ebd., S. 91). In den 1950er-Jahren erwachte schließlich ein pädagogisches Bewusstsein für die (auch räumlichen)
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Bedürfnisse von Kindern. Unzählige Ratgeber zur Einrichtung von Kinderzimmern sickerten auf den Büchermarkt. Im Fokus standen vor allem gesundheitliche und hygienische Aspekte, nebenbei wurde das Ideal eines heilen Familienlebens mit klar verteilten Rollen zwischen den Geschlechtern und Generationen vermittelt (vgl. Buchner-Fuhs 1998, S. 153 ff.). Leisten konnte sich eine Wohnung, in der Platz für Kinderzimmer ist, allerdings nur eine Minderheit. Endgültig sollte sich das Kinderzimmer als eigener Raum der (in den Familien weniger werdenden) Kinder erst ab den 1960er-Jahren durchsetzen. Maßgeblich hierfür waren insbesondere Wirtschaftswachstum und sozialer Wohnungsbau. Heute besitzt die Mehrheit der Kinder in Deutschland ein Kinderzimmer, teils allein, teils gemeinsam mit Geschwistern. Größe und Ausstattung variieren dabei stark nach Alter des Kindes sowie nach Wohnort, Schicht, Herkunft und Bildungsgrad der Eltern (vgl. Buchner-Fuhs 1998), bisweilen auch nach der körperlichen Verfasstheit der Kinder. Zusammenfassend lässt sich von einer »steile[n] Karriere der Kinderzimmer [sprechen], die vom früheren bürgerlichen Standesprivileg mittlerweile zu schichtübergreifenden Schlüsselorten kindlicher Lebenswelt avanciert sind« (Zinnecker 2000, S. 46). In der pädagogischen und sozialwissenschaftlichen Literatur wird diese Karriere indes sehr unterschiedlich beurteilt. Jürgen Zinnecker (ebd., S. 50) bringt sie mit einer »starken Privatisierung und Verhäuslichung des Kinderlebens« in Verbindung. Hartmut und Helga Zeiher (1994, S. 21, nach Buchner-Fuhs 1998, S. 149) sprechen von einer »räumlichen Verdrängung der Kinder aus den Lebensbereichen der Erwachsenen«. Philippe Ariès (2014 [1960]), S. 48) diagnostizierte Ende der 1950er-Jahre gar einen langen »Prozeß der Einsperrung der Kinder (wie der Irren, der Armen und der Prostituierten), der bis in unsere Tage nicht zum Stillstand kommen sollte und den man als ›Verschulung‹ (scolarisation) bezeichnen könnte«. Jutta Buchner-Fuhs (1998, S. 153) bewertet das Kinderzimmer »seit seiner Entstehung als doppelbödig: Spielparadies auf der einen Seite, Straf- und Isolierraum auf der anderen Seite«. Auch Renate Gehrke-Riedlin (2002, S. 19) spricht von einer Doppelbödigkeit des Kinderzimmers und betont, dass das Kinderzimmer auch »eine Leidensstätte [sein könne], im schmerzlichen Rückzug vor der realen Welt in eine eigene imaginäre Welt, aber auch konkret als Ort von körperlichen und seelischen Mißhandlungen«. Gleichwohl betonen sowohl Buchner-Fuhs als auch Gehrke-Riedlin den großen sozialisatorischen Wert eines eigenen Raumes für Kinder und den Eigensinn, den Kinder (und Jugendliche) ihrem Zimmer und dessen Einrichtung einschreiben können. Die pädagogische Forschung, so Buchner-Fuhs (1998, S. 148), übersehe oft die kindlichen Aktivitäten, mit denen die eigenen Zimmer
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gestaltet und belebt werden (dieses Übersehen lässt sich übrigens auch für die Aktivitäten von Mädchen in öffentlichen Räumen konstatieren, siehe Wucherpfennig 2010). Das heutige Kinderzimmer sei aber nicht nur ein von Erwachsenen eingerichteter Spiel-, Schlaf- und Arbeitsort, sondern auch ein Eigenraum von Kindern, der auch der Identitätsfindung diene (Buchner-Fuhs 1998, S. 177). Hieran anschließend bezeichnet Gehrke-Riedlin das Kinderzimmer auch als Ort von »Selbsterfahrung und Selbstbildung« (2000, S. 194) und hebt »die Bedeutung dieser Räumlichkeiten als Teilbereiche einer kindlichen Eigenwelt« hervor (ebd., S. 92). Heutige Kinderzimmer seien durch eine enorme »Funktions- und Bedeutungsvielfalt« (ebd., S. 19) charakterisiert, die »der Identitätsfindung u. a. durch Grenzziehungen und Geschmacksabgrenzung« (ebd.) dienen. Durch die Gestaltung des eigenen (oder auch geteilten) Raumes werde »eine kindliche Eigenwelt mit eigenen Regeln und Ordnungssystemen« (ebd., S. 191) geschaffen, auch wenn diese von Erwachsenen oft nicht verstanden werden. Die unterschiedlichen Beurteilungen des Kinderzimmers und seiner Entwicklungen und Bedeutungen rühren sicherlich auch daher, dass die Aussagen von Buchner-Fuhs und Gerke-Riedling nicht aus einer reinen Erwachsenenperspektive getätigt werden. In beiden Arbeiten spielen Interviews mit Kindern beziehungsweise jungen Erwachsenen eine große Rolle, deren (zum Teil retrospektive) Sichtweisen in die Bewertungen einfließen. Doch zurück zu Lucas Zimmer. Wir sitzen auf dem Teppich, Luca spielt mit der Holzeisenbahn, unsere Gespräche scheinen sie nur marginal zu interessieren. »Und, kommst du einigermaßen über die Runden?«, frage ich Isa. »Ja, gerade so. Seitdem Lucas Vater wieder einen festen Job hat, zahlt er immerhin regelmäßig Unterhalt. Zurzeit bin ich am Ende des Monats bei Null, da darf dann aber nichts dazwischenkommen – keine defekten Bremsen, keine Krankheit, nichts. Was mir zurzeit aber echt Sorgen bereitet, ist der enorme Gentrifizierungsdruck, der hier herrscht, seitdem die EZB [Europäische Zentralbank] hochgezogen wurde. Da kann ich nur hoffen, dass meine Vermieterin nicht auf die Idee kommt, zu modernisieren. Dann geht die Miete locker zwei- bis dreihundert Euro nach oben, die Wohnung kann ich mir dann nicht mehr leisten.« »Ja«, sage ich, »schon die Ankündigung der EZB, ins Ostend zu ziehen, löste einen Bau- und Modernisierungsboom aus, vom alten Arbeiter*innen- und Migrant*innenviertel ist hier kaum noch was zu erkennen.« »Sollte es mal soweit kommen«, sinniert Isa, »muss ich mir ’ne neue Wohnung suchen. Eine Dreizimmerwohnung finde ich dann aber sicher nicht mehr. In ein anderes Viertel umziehen wäre auch keine wirkliche Option – in anderen Stadtteilen sieht es nicht viel anders aus, außerdem hat Luca hier ihre Freundinnen und Freunde. Und finde mal einen neuen Kita-Platz, das ist auch nicht so einfach. Na ja, wenn’s hart auf hart kommt, suche ich uns eben eine
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Zweizimmerwohnung und schlafe im Wohnzimmer. Eins ist auf jeden Fall klar: Luca wird immer ihr Zimmer behalten, denn Kinder brauchen ihren eigenen Raum.« »Ja«, sage ich, »im Prinzip stimme ich dir zu. In anderen Regionen der Welt ist es anders, aber das ist und hat eine ganz andere Geschichte.« Claudia Wucherpfennig Literatur Ariès, Philippe (2014 [1960]), Geschichte der Kindheit, München: dtv. Buchner-Fuhs, Jutta (1998), Das Kinderzimmer. Historische und aktuelle Annäherung an kindliches Wohnen, in: Teenie-Welten. Aufwachsen in drei europäischen Regionen, hg. v. Peter Büchner, Manuela du Bois-Reymond, Jutta Ecarius Burkhard Fuhs und Heinz-Hermann Krüger, Opladen: Leske + Budrich, S. 147-178. Gehrke-Riedlin, Renate (2002), Das Kinderzimmer im deutschsprachigen Raum. Eine Studie zum Wandel der häuslichen Erfahrungs- und Bildungswelt des Kindes (Dissertation). Wucherpfennig, Claudia (2010), Geschlechterkonstruktionen und öffentlicher Raum, in: Geschlechterverhältnisse, Raumstrukturen, Ortsbeziehungen. Erkundungen von Vielfalt und Differenz im spatial turn, hg. v. Sybille Bauriedl, Michaela Schier und Anke Strüver, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 48-74. Zinnecker, Jürgen (2000), Kindheit und Jugend als pädagogische Moratorien. Zur Zivilisationsgeschichte der jüngeren Generation im 20. Jahrhundert, in: Bildungsprozesse und Erziehungsverhältnisse im 20. Jahrhundert. Praktische Entwicklungen und Formen der Reflexion im historischen Kontext, hg. v. Dietrich Benner und Heinz-Elmar Tenorth, Weinheim und Basel: Beltz S. 36-68.
Kiosk
Kioske, Trinkhallen und Büdchen, oder wie sie im regionalen Idiom jeweils genannt werden, kommen sicherlich nicht zuvorderst in den Sinn, wenn von Orten der Kindheit und deren Sozialisation – vom Vorschulalter bis zur Jugend – die Rede ist. Das mag zum einen daran liegen, dass vor allem institutionalisierte Räume der Unterbringung, Versorgung und Bildung zwischen Kindergarten, Schule und Verein als Hauptschauplätze der kindlichen Erfahrung angesehen werden. Zum anderen dürfte das »Übersehen« dieser performativen Ereignisinseln aber in erster Linie der eigenen Lebenslage des Erwachsenen geschuldet sein, wandelt sich doch mit dem Alter in der Regel auch der Bezug zu einem Ort. So ist es für gewöhnlich nicht mehr die gemischte Tüte, das Yps-Heft oder das Wassereis, die den Gang zum Kiosk motivieren und diesen vor dem Hintergrund individueller Bedürfnislagen bedeutsam werden lassen, sondern vielmehr der (Not-)Kauf am späten Abend, das Lotto-Spielen am Wochenende oder das zum Klischee avancierte »Zigaretten-Holen«. Das letzte Beispiel deutet jedoch bereits
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auf die Überschneidungen und Übergänge zwischen den Generationen hin, bietet der Kiosk in Zeiten der objektivierten Alterskontrolle im Vergleich zu Supermarktkasse und Zigarettenautomat doch Spiel-Räume, an denen die staatlich definierten Grenzen des Jugendschutzgesetzes unterlaufen und generationale Grenzziehungen brüchig werden können. In der kultur- und sozialwissenschaftlichen Literatur taucht der Kiosk dann auch zunächst als heterotoper Gegen-Ort in hegemonialen Diskursen auf. So nimmt der Geograph Oliver Kirst die Trinkhallen und Wasserhäuschen im Frankfurter Raum im Rahmen seiner Diplomarbeit »Vom Babbeln mit Bier am Büdchen – Stadtentwicklung im Zeichen der Trinkhalle« im Spiegel politischer und medialer Diskurse in den Blick. Aus dieser Perspektive erscheinen Kioske dann viel mehr als »Störbetriebe« und Orte der Devianz, denn als Ereignisorte, die für die verschiedenen Phasen der Kindheit, deren Zwischenräume und Übergänge ein wertvolles Erfahrungspotenzial bereithalten könnten (Kirst 2004, S. 13). Lange Zeit haftete den Trinkhallen das Stigma des Auffangbeckens »sozial gestrauchelter Personen« an. Die von diesem Ort ausgehenden performativen Dynamiken passten nicht in das Reinigungsprogramm der post-fordistischen Stadtsanierung und so verdankt die Trinkhalle ihr Fortbestehen auch ihrer Resistenz gegenüber Imperativen der Ästhetisierung im Zuge der restlosen Auf- und Verwertung des öffentlichen Raums (vgl. ebd.). Auch die Kulturwissenschaftlerin Ursula Neeb zeichnet in ihrem Buch »Wasserhäuschen. Eine Frankfurter Institution« eine Sozialgeschichte der lokalen Trinkhallen sowie des für sie charakteristischen Milieus. Wenngleich in diesen Betrachtungen das »Soziotop« Kiosk als performativer Kristallisationspunkt öffentlicher Kommunikation und Sozialität in den Blick gerückt wird, gerät dessen Bedeutsamkeit vor dem Hintergrund der Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen in den Hintergrund. Nichtsdestotrotz lassen sich in diesen Publikationen periphere Hinweise auf Raumbezüge und die persönlichen Bindungen zu diesen Orten aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen rekonstruieren. So zum Beispiel wenn eine Trinkhallenbetreiberin im Hinblick auf die Ausgestaltung der sozialen Beziehungen mit KundInnen erläutert, »dass niemand sie duzte oder mit dem Vornamen anredete, außer den Kindern im Viertel, für die sie stets ›Tante A.‹ war.« (Neeb 2005, S. 76 f.). Dass der Kiosk im Gegensatz zum anonymisierten Kauf im Supermarkt die Möglichkeit des Auslebens von Bedürfnissen im persönlichen Kontakt ermöglicht, darauf deuten die ethnographischen Beobachtungen von Oliver Kirst hin: »Nach Schulschluss strömen Kinder an die Trinkhalle, um Süßigkeiten zu kaufen. Die Verkäuferin kennt fast alle Kinder beim Namen und redet mit ihnen. Einige Kinder legen ihr gesamtes Geld, das sie in der Tasche haben, auf den Tresen. Die Pächterin achtet da-
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rauf, dass niemand mehr als einen Euro ausgibt. Reicht das Geld für die gewünschte Menge nicht, [...] teilt [sie] die Fruchtgummis mit einer Schere, damit die Kinder diese gerecht untereinander teilen können.« (Kirst 2004, S. 60)
Zum einen zeigt sich in dieser Beobachtung die persönliche Bindung zwischen der Betreiberin und den Kindern. Zum anderen wird anhand der Beobachtung die pädagogische Programmierung sichtbar, da die Betreiberin den verantwortungsvollen Umgang mit Geld sowie das Teilen der Süßigkeiten anregt. Was hier punktuell aufscheint, soll im Folgenden durch einige systematische Überlegungen zur lebensweltlichen Bedeutsamkeit von Kiosken aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen ergänzt und im Anschluss um einige grundlegende Überlegungen zur Charakteristik des »Raumtyps« Kiosk erweitert werden. Da Kioske neben den regionalen Unterschieden in der Bezeichnung ein hohes Maß an Binnendifferenzierung aufweisen, ist in diesem Beitrag nicht vom Kiosk im Allgemeinen die Rede, sondern in erster Linie von jenen transitorischen Einkaufsstätten, die aufgrund ihrer Lage oder ihres Sortiments von Kindern und Jugendlichen angesteuert werden. Zunächst einmal sind Kioske, die von Kindern frequentiert werden, durch das auf deren Bedürfnislagen zugeschnittene Warenangebot explorative Fenster zur Welt. Die Zeitschriften, Süßigkeiten und Sammelkarten bringen das Ferne und Unbekannte in den kindlichen Nahraum, lösen Sehnsüchte und Verlangen aus.1 So ist der ritualisierte Gang am Samstagmorgen vor allem mit der Neugierde verbunden, was es denn an Neuigkeiten im Sortiment gibt. Gibt es derer zu viele, macht dies ein Abwägen und die Setzung von Prioritäten erforderlich. In der Regel sind die monetären Ressourcen begrenzt und so bedarf es der reflexiven Auseinandersetzung mit den Konsumgütern vor dem Hintergrund der eigenen Bedürfnisse und Lüste. »Da man nicht alles haben kann« wird auch das Zusammenstellen einer gemischten Tüte Süßigkeiten schnell zu einer hochkomplizierten Aufgabe: lieber noch zwei Cola-Kracher oder einen sauren Schnuller? Die Ermittlung des idealen Gegenwerts zum Taschengeld und die sich anschließende Entscheidung bedürfen der genauen Prüfung, ist diese durch die Verausgabung der knappen Mittel und den schnellen Verzehr ja nicht mehr zu revidieren. Die Optimierung des Tauschakts und der Umgang mit Kleinstbeträgen – in der Regel werden Waren ab 5 Cent angeboten – können hier also von Kindesbeinen an eingeübt werden. Ist man in der Gruppe unterwegs, so kann sich die Auswahl der Genussmittel sogar noch dadurch verkomplizieren, dass es der Abwägung und des Austarierens teils divergierender Interessen bedarf. Auf der anderen Seite ermöglicht der kollektive Besuch am Kiosk auch das Zusammenlegen knapper Ressourcen und die Bildung frühester Formen der Solidargemein-
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schaft: Man hilft einander aus oder legt für »größere« Anschaffungen im Stile einer Genossenschaft zusammen. Aus dieser Perspektive wird der Kiosk zum Milieu des Einübens elementarer Kulturtechniken des Wirtschaftens sowie der mehr oder weniger (selbst-)reflexiven Auseinandersetzung mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen, dem Erliegen von Verführungen oder deren Widerstehen. Neben der Bedeutung des Kiosks für das Erlernen von Kulturtechniken des täglichen Lebens muss seine grundsätzliche Offenheit und Zugänglichkeit für Kinder als halböffentlicher Schwellenraum der Stadt betont werden. Abgesehen von der »Sonderzone« Spielplatz, deren offensichtliche Codierung als Raum der Kindheit evident ist, gibt es in der Stadt wenige öffentliche Orte, die von Kindern auf eigene Faust erkundet werden können und wo sie ihren »Platz« haben können. Die ersten Orientierungen und Gehversuche im Raum der Stadt ergeben sich nicht selten durch kleinere Erledigungen und Botengänge, die im Namen erwachsener Bezugspersonen gemacht werden. Durch das wiederholte Aufsuchen können so ein über den flüchtigen Kontakt hinausgehendes persönliches »KundInnenverhältnis« und eine Bindung entstehen, die Anknüpfungspunkte für die Herausbildung eines emotionalen Beziehungsfeldes im sozialen Raum bietet. Der Kiosk in Nachbarschaft und Viertel erweist sich häufig als eine der ersten strukturgebenden Ortsmarkierungen im räumlichen Nahfeld. Somit ist der Kiosk ein Schwellenraum, an dem Kinder Orientierung und Halt in der Unübersichtlichkeit der Stadt finden und ein »Grundbedürfnis nach emotionaler Resonanz« in der personalisierten Bindung befriedigt sehen können (Lorenzer 1968, S. 57). Die Offenheit und Zugänglichkeit dieser halböffentlichen Räume erlaubt Kindern im Gegenzug, sich diese kleinräumigen Umwelten anzueignen; der Kiosk wird zum Ort der Integration des Fremden ins Eigene. Der Aspekt der Offenheit und Zugänglichkeit gegenüber Kindern weist zudem auf eine weitere integrative Dimension von Kiosken hin: Als Kreuzungspunkt vielfältigster Schichten, Altersgruppen und sozialer Milieus darf man den Kiosk zu Recht als einen melting pot der Gesellschaft bezeichnen. Durch die Überschneidung heterogener gesellschaftlicher Gruppen konstituiert sich an diesen Orten eine Form von Öffentlichkeit, die deren pluralistischen Charakter der Erfahrung zugänglich macht. Wenngleich der Kontakt mit dem »Fremden« am Kiosk auch flüchtiger Natur ist – in der Regel ist der Besuch von kurzer Dauer –, erweist er sich dennoch als unerlässlich für das Erlernen und die Ausdifferenzierung elementarer Kommunikationsfähigkeiten und Verhaltensweisen. Das sich an einem Kiosk öffnende Fenster zur sozialen Mitwelt erfordert zum einen ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit im Zuge je wechselnder transitorischer Begegnungen und sozialer Beziehungen. Zum anderen bieten diese öffentlichen
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Begegnungen trotz oder gerade ob ihrer Flüchtigkeit die Chance zur emotionalen Verortung im sozialen Raum der Stadt. Was für öffentliche Räume im Allgemeinen gilt, trifft im Besonderen auf den »Raumtyp« Kiosk zu. Er eröffnet ein Feld unverbindlicher aber dennoch personalisierter sozialer Kontakte und Beziehungen. Was die Stadtsoziologin Jane Jacobs über den öffentlichen Raum der Straße gesagt hat, ließe sich auch auf den Kiosk übertragen: »In Wirklichkeit lernen Kinder […] nur von den Erwachsenen auf der Straße die ersten fundamentalen Zusammenhänge funktionsfähigen Großstadtlebens. Von ihnen lernen sie, daß die Menschen, auch wenn sie keine Bindungen zueinander haben, ein bißchen öffentliche Verantwortung füreinander haben müssen.« (Jacobs 1963, S. 62)
Dieses »bißchen öffentliche Verantwortung« zeigt sich beispielsweise in der Beobachtung, dass die Kioskbetreiberin gegenüber den Kindern Verantwortung hinsichtlich der Verausgabung ihres Taschengeldes übernimmt. Hier eröffnet sich für Kinder ein Lernfeld, das weit über die technischen Details einer wie auch immer angemessenen Taschengeldverwaltung hinausgeht. Die Erfahrung, dass Fremde, zu denen weder verwandtschaftliche noch freundschaftliche Beziehungen unterhalten werden, zu Vertrauten werden können, die Verantwortung übernehmen, kann in ihrer lebensweltlichen Bedeutsamkeit nicht hoch genug bewertet werden. Bereits in den 1960er-Jahren hatte der Sozialpsychologe Alfred Lorenzer herausgestrichen, dass sich die affektive Verortung und Integration des Subjekts in eine städtische Öffentlichkeit in einem korrespondieren Verhältnis zu Orten vollzieht, die das soziale Imaginativ der Erfahrung zugänglich machen. So bezeichnet er auch die »Öffentlichkeit als den Ort […] an dem dieses Stück Affektkultur erworben und kultiviert wird« (Lorenzer 1968, S. 69). Der Kiosk kann somit als ein Lernfeld des verantwortungsvollen Umgangs im sozialen Miteinander begriffen werden. Er wird zum Ausgangspunkt der Integration pluraler Lebensformen im sozialen Raum der Polis. Der Kiosk ist ein transitorischer Raum wie die Kindheit eine solche Situation ist. So mögen sich zwar die Bedeutsamkeiten vor dem Hintergrund sich wandelnder Bedürfnislagen (damals Süßigkeiten, heute Zigaretten) mit dem Vorschreiten des eigenen Lebens verändern. Was bleibt, sind jedoch die vorübergehenden Begegnungen, das Wechselspiel aus sozialer Nähe und Distanz, das den Kiosk als Erfahrungsraum und Lernfeld ungeachtet seiner jeweils verschiedenartigen Ausgestaltung in seiner funktionalen Vielfalt auszeichnet. Insofern ist dieser Beitrag auch als Plädoyer dafür zu verstehen, diese Nischen urbaner Kultur zu pflegen und die sich an diesen Orten ereignenden Praktiken be-
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wusst zu leben, damit diese Schwellenräume spontaner »Öffentlichkeit« auch in Zukunft Bestand haben. Anmerkung 1 Mittlerweile dürfte sich diese Funktion durch die Ubiquität von OnlineAngeboten zu Ungunsten der Kioske verschoben haben, was jedoch nicht bedeutet, dass der Kiosk diese Funktion eingebüßt hätte. Oliver Müller Literatur Jacobs, Jane (1963), Tod und Leben großer amerikanischer Städte, Berlin, Frankfurt am Main und Wien: Birkhäuser. Kirst, Oliver (2004), Vom Babbeln mit Bier am Büdchen – Stadtentwicklung im Zeichen der Trinkhalle, Frankfurt am Main: Fachhochschulverlag (Diplomarbeit). Lorenzer, Alfred (1968), Städtebau: Funktionalismus oder Sozialmontage? Zur sozialpsychologischen Funktion der Architektur, in: Architektur als Ideologie, hg. v. Berndt Heide, Alfred Lorenzer und Klaus Horn, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 51-102. Neeb, Ursula (2005), Wasserhäuschen. Eine Frankfurter Institution, Frankfurt am Main: Fachhochschulverlag.
Klassenraum
Wenn man Grundschulkinder ihre Idealvorstellung von einem Klassenraum malen lässt, kommen dabei erstaunliche Dinge heraus. Was immer wieder auftaucht, ist der Wunsch nach einem Swimmingpool, wobei die Kinder selbst nicht so klar begründen können, warum sie ihn gern im Klassenraum hätten. Für anderes gibt es dagegen klare Vorstellungen. Da sind zum Beispiel Tische mit einem Stuhl in der Mitte, in die man von unten reinkriechen muss und die, weil sie rund sind, auch rundherum viel Platz bieten. Es gibt Stühle, die wie Autoreifen aussehen. Ihre Einkerbungen haben Massagewirkung, ungefähr so wie Stachelbälle, und helfen dabei, sich besser zu konzentrieren. Die Tische können rund sein oder in Bananenform, damit man sich nicht an den Ecken stößt. Sie haben Essensund Getränkehalter, damit nichts raschelt, wenn man etwas essen oder trinken möchte. Da taucht auch mal ein Bett im Klassenraum auf, aber meistens ist es ein Sofa mit Kissen oder ein bequemer Sitzsack, denn die Kinder hätten gern Platz zum Liegen und Ausruhen, wenn es anstrengend war, um danach wieder klar denken zu können. Es geht bunt zu im Traumklassenraum: Es soll fröhlich ausschauen, nicht grau und langweilig. Wenn alles in einer Farbe ist, grau oder weiß, dann fühlt man sich wie in einer Gefängniszelle, irgendwie eingesperrt. Wenn man schöne Farben um sich hat, so die Kinder, macht das Lernen viel mehr Spaß. Die Farben helfen auch bei der Orientierung und bei der Einteilung und Verteilung von Aufgaben. Gleichwohl sind die Klassenräume aufgeräumt und die Dinge haben auch ihre bestimmten Plätze. Es gibt praktische Stiftehalter auf dem Tisch und dem Lehrerpult, Garderoben und Regale, damit man immer alles gleich findet. Wenn es unordentlich ist und alles herumliegt, ist es einfach nicht so schön. Auch die Wände sollen nicht so voll und überladen sein – man soll die Wand schon noch sehen können. So haben es die Kinder nicht so sehr mit der Dekoration im Klassenraum: Es soll nicht überall etwas herumstehen – ein bisschen Dekoration,
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aber nicht zu viel davon, weil man sonst erst alles wegräumen muss, um lernen zu können. Für die Kinder hat der ideale Klassenraum viel Platz und freie Flächen, so dass man auch mal herumgehen, sich bewegen kann und nicht überall aneckt und auch noch Luft zum Atmen hat. Und dann sind da noch die Extras: ein Kühlschrank, aus dem man sich Eis holen kann, der schon genannte Swimmingpool zum Abkühlen, eine Wiese, damit man auch bei Regen draußen spielen kann oder ein direkter Zugang zum Pausenhof. Interessant ist, dass in den Wunschvorstellungen der Kinder der Klassenraum nicht nur erweitert wird durch Räume, die der Erholung und Privatheit Rechnung tragen, sondern dass er sich gleichsam nach außen hin öffnet durch die Verbindungen zum Pausenhof, zum Schwimmbad, ins Grüne. Raum als Dimension des leiblichen Erlebens: Die Komplexität des Gelebten Raumes Die Kinderaussagen, die hier aus einem Forschungsprojekt stammen (vgl. Hecht und Schultheis 2016), lassen sich leibphänomenologisch interpretieren. Deutlich wird, wie die Buntheit und Abwechslung von Farben den Kindern eine Atmosphäre der Fröhlichkeit vermitteln. Die Variation und Vielfalt in den Formen verhindern Langeweile und fokussieren die Aufmerksamkeit immer wieder aufs Neue. Die Kinder verlangen nach Freiräumen und Platz zum Bewegen, aber auch nach Rückzugsmöglichkeiten, die Geborgenheit und Stille bieten. Das trägt im Hinblick auf die leibliche Dynamik dem Bedürfnis nach Entspannung und Erholung Rechnung. Auf der anderen Seite wünschen sich die Kinder klare, ordnende Strukturen und Übersichtlichkeit, die Sicherheit und Orientierung vermitteln, aber auch Konzentration, Spannung und innere Sammlung ermöglichen. In der Anspannung und Erholung bildet sich der Antagonismus der leiblichen Dynamik ab – von den Kindern als natürliches Bedürfnis artikuliert. Für die Kinder, die einen Großteil ihres Tages dort verbringen, ist der Klassenraum »gelebter Raum«: »Im gelebten Raum ist der Mensch mit seiner ganzen Wesens-, Wert- und Lebenswirklichkeit drin«, schreibt Graf Karlfried von Dürckheim (2005 [1932]), S. 16). Die Kinder wissen, dass der Klassenraum ein Ort ist, der dem Lernen gewidmet ist, allein, aber auch gemeinsam mit anderen. Aus ihren Äußerungen lässt jedoch herauslesen, dass der Klassenraum, in dem sie viel Zeit verbringen und viel erleben, für sie Lebensraum ist und deshalb auch solchen Bedürfnissen Rechnung tragen muss, die wichtig sind, um gut lernen zu können. Darauf verweist uns auch Dürckheim mit der Unterscheidung zwischen dem objektiven Weltraum – seinen objektiven Aspekten, seinen Anmutungsqualitäten
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und seinen Zwecken – und dem persönlichen Raum, die beide für das Subjekt verzahnt sind. Jeder Schüler, jede Schülerin empfindet den Raum subjektiv und individuell, und auch anders als die Lehrerinnen und Lehrer, die didaktische Abläufe im Blick haben, wie zum Beispiel den schnellen Wechsel vom Kreisgespräch zur Einzelarbeit, oder der Hausmeister, der für die Reinigung des Klassenraums verantwortlich ist und dem die vielen Regale oder das Sofa ein Dorn im Auge sind. Das Raumerleben ist nicht konstant, denn es hängt ab von dem, was einem gerade aktuell widerfährt, was man tut, was man möchte oder was von einem erwartet wird. Es verändert sich mit dem Tageslicht, der Temperatur, den Geräuschen, die von außen in den Raum dringen, mit Objekten, die neu in den Raum kommen oder entfernt werden. Es verändert sich auch durch die Themen, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer kennen die Situation, wie das draußen vorbeifahrende Feuerwehrauto oder der erste Schneefall im Winter die Aufmerksamkeit der Kinder vereinnahmt und die Fenster des Klassenraums zum Fenster in die Welt werden. Das Raumerleben ist davon beeinflusst, ob man sich mit dem Tischnachbarn gut versteht, ob jemand in der Nähe sitzt oder am Tisch vorbeigeht, der die eigene Konzentration stört. Schülerinnen und Schüler bringen auch ihre Biographie und außerschulische Lebenswelt mit ins Klassenzimmer: das zuhause vergessene Pausenbrot, das heute nicht unter der Bank liegt oder das neue Kartenspiel, das man zum Geburtstag bekommen hat und unbedingt in der Pause den Schulfreunden zeigen möchte. Die Verschmelzung von objektiven und persönlichen Aspekten des Klassenraums lassen sich an den Kinderbildern ablesen. Für die Kinder ist der Klassenraum ein Raum des Lernens. Er ist so gestaltet, dass er dem Lernen förderlich ist. Wenn man gut lernen können will, dann braucht es aber mehr als Tische, Stühle und eine Tafel. Dann muss der Klassenraum auch Lebensraum sein und den Bedürfnissen Rechnung tragen, die für Konzentration und Lernen notwendig sind. Für die Kinder hat ein Wunschklassenraum deshalb Bereiche für eigenständiges Tun, für das Lernen miteinander, aber auch Rückzugsnischen für Konzentration und Entspannung. Man spürt aus den kindlichen Wünschen zur Gestaltung des Klassenraums heraus, dass das Lernen als Anstrengung den Ausgleich braucht durch den Rückzug in einen stillen Raum zum Lesen, Ruhen oder durch Bewegung, Spiel, Musizieren. Historische Entwicklungen: Von der Zentralisierung zur Dezentralisierung des Klassenraums In der Gestaltung der räumlichen Bedingungen des Klassenraums manifestieren sich spezifische pädagogische Intentionen und bestimmen die Formen des Ler-
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nens. Das wird deutlich, wenn man die geschlossene Schul- und Klassenraumarchitektur, wie sie im wilhelminischen Kaiserreich vorherrschte, einer modernen, offenen Lernumgebung gegenüberstellt. Foucault hat in seinem Buch »Überwachen und Strafen« (1994) die Technik der Disziplinierung herausgearbeitet. So gehören dazu unter anderem die Kontrolle der Tätigkeit und der Zeitplanung, die Einrichtung des »zwingenden Blicks« als Überwachung und die Hierarchisierung. Ulrich Bendele nennt in seinem Buch »Krieg Kopf und Körper« (1984, S. 17) die Schularchitektur des Kaiserreichs eine Architektur der Ordnung und der Hierarchie. Schulleiter- und Lehrerzimmer hatten eine exponierte Lage, die jüngeren Schüler befanden sich in den unteren, die älteren in den höheren Etagen, die Wohnung des Schuldieners im Keller. Vom Erker im Zimmer des Schulleiters konnte der Pausenhof übersehen werden. »Der strafende Blick des Direktors von oben wurde ergänzt durch den denunzierenden Blick des Schuldieners von unten.« (Bendele 1984, S. 18) Dies setzte sich im Klassenraum fort: Der Lehrer konnte vom erhöhten Pult aus die Schüler bis in die hinterste Reihe überwachen. Die Aufmerksamkeit sollte sich auf den Lehrer richten. Dazu dienten auch erhöhte Fensterbrüstungen oder die Milchverglasung der Fensterscheiben. Der äußeren Ordnung sollte die innere Haltung des Schülers entsprechen. Dies sicherten die sogenannten Subsellien, das sind Schulbänke, die die Schüler in die »Normalposition« zwangen und den Bewegungsspielraum begrenzten. Der Zwang zur geraden Haltung sollte »fühlbar« sein, weil »das Maß der Beschulbarkeit des Kopfes« zunehme, »wenn die Körperunruhe, der Drang nach Bewegung sinkt« (ebd., S. 66). Ihre didaktische Entsprechung hat eine solche Schulraumgestaltung in einem frontalen, lehrerzentrierten Unterricht, bei dem der Lehrer den Gang des Lernens und die Inhalte bestimmt. Die Verantwortung der Schüler für ihr Lernen beschränkt sich auf das konzentrierte Nach- und Mitvollziehen der Lehrerpräsentation, was Konzentration, Blickkontakt und permanente Aufmerksamkeit erfordert. Die Reformpädagoginnen und -pädagogen wie Célestin Freinet, Peter Petersen oder Maria Montessori hingegen dezentralisierten den Klassenraum und gestalteten ihn als offene Lernumgebung, die selbstbestimmte Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler und die Mitgestaltung des unterrichtlichen Geschehens ermöglichte. Freinet richtete im Klassenraum beispielsweise so genannte Arbeitsateliers ein, die für unterschiedliche Lernaktivitäten vorgesehen waren. Indem hier in offenen Regalen vielfältige Materialien, Bücher, Geräte zum Experimentieren, Spiele und vieles mehr für die Kinder zugänglich sind, wird der Klassenraum zur Werkstatt. Eine solche Lernumgebung besitzt für die Schülerinnen und Schüler Aufforderungscharakter. Sie ist einladend und anregend,
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weckt Interesse, bietet Möglichkeiten, Ideen kreativ auszuprobieren und umzusetzen, Informationen einzuholen, selbständig zu üben und die Ergebnisse selbst zu überprüfen. Offene Lernumgebungen ermöglichen durch ihre Variabilität auf den Lehrer zentrierten Unterricht, aber auch unterschiedliche soziale Arbeitsformen wie das Kreisgespräch, Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit. Sie bieten Platz, die eigenen Arbeitsergebnisse zu präsentieren und zu besprechen. Die Schülerinnen und Schüler erhalten Bewegungsfreiheit in jeder Hinsicht: nicht nur motorisch, sondern auch, was die Mitgestaltung ihrer Lernprozesse anbelangt. Dahinter steht das pädagogische Konzept der Freien Arbeit: Die Kinder bearbeiten Themen und Aufgaben nach einen individuellen Wochenplan, gemäß dem eigenen Lernrhythmus und mit individuellen Schwerpunkten. In eigenen oder gemeinsamen Projekten entwickeln sie kreative Lösungen für Probleme und finden Antworten auf Forschungsfragen. Die Flexibilität der Einrichtung ermöglicht sowohl die Auflösung des Klassenverbandes und die Individualisierung des Unterrichts, wie auch den Klassenunterricht, mit einer Sitz- und Tischordnung, die auf die Lehrerin zentriert ist, zum Beispiel wenn in ein Thema eingeführt wird. Man sieht, dass Lernumgebungen immer auch eine pädagogische Intention ausdrücken: im einen Fall die Kontrolle und die Engführung des Lernens, im anderen Fall die Öffnung und Anbahnung selbstbestimmter Lernprozesse. Klassenraum und erziehungswissenschaftliche Reflexion Betrachtet man die erziehungswissenschaftliche Forschung zum Klassenraum wird deutlich, dass es nur wenige empirische Studien gibt, die »die Lehrkraft sowie Schülerinnen und Schüler und deren Umgang mit der gebauten Umgebung, dem vorgegebenen Klassenzimmer in den Blick nehmen« (StadlerAltmann 2016, S. 11). Oft würden nur pädagogische Überlegungen im Sinne von Bildungszielen und -entwürfen zum Ausgangspunkt genommen, um über die Gestaltung und Nutzung von Klassenräumen nachzudenken. Auch international gibt es kaum Forschung, die einen Zusammenhang zwischen Schulgebäude, Klassenzimmer, Schülerinnen und Schülern und Lehrkraft herstellt, der durch die pädagogischen Grundhaltungen und didaktischen Orientierungen bestimmt wird (vgl. ebd., S. 10). Man müsste eigentlich die Erkenntnisse aus der Forschung zur Wahrnehmung des objektiven Schulraumes verbinden mit dem (kaum vorhandenen) Wissen über die leiblich fundierte Perspektive und Bedürfnislage der Schüler(innen) und Lehrer(innen) im Sinne des gelebten Raums. Beides wiederum müsste man hineinnehmen in die Diskussion darüber, wie man pädagogische Intentionen mit guter Raumgestaltung und Architektur zusammenbringt. Das wäre wichtig, denn
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die Diskussion über Schularchitektur und Klassenraumgestaltung wird virulent bleiben, da uns die Ganztagsschulen vor die Herausforderung stellen, die Bedürfnisse zur berücksichtigen, die auch eingangs in den Kinderäußerungen zum Ausdruck kamen. Für Ganztagsschulen werden dezentralisierte Unterrichtsformen wie Wochenplan- und Projektarbeit gefordert. Ein rhythmisierter Unterricht muss – über den Tag verteilt – Konzentrationsphasen mit Entspannungszeiten koordinieren und den Schüler(inne)n auch ihr Recht auf Rückzugsmöglichkeiten und Privatheit zugestehen und sichern. Das vergessen wir nur allzu leicht in Zeiten, in denen Großraumbüros mit je nach Verfügbarkeit wechselnden LaptopArbeitsplätzen in der Ausbreitung begriffen sind. Auf der anderen Seite gibt es auch Unternehmen, die ihren Arbeitnehmern Ruhe- und Fitnessräume bereitstellen, weil sie erkannt haben, dass gute Arbeitsleistung und Kreativität auch der Rekreation bedürfen. Das sollte man auch unseren Kindern zugestehen. In der Zwischenzeit ließe sich beispielsweise die Reggio-Pädagogik studieren. Von ihrem Begründer Loris Malaguzzi stammt der Begriff des Raumes als »dritter Erzieher«. Hier manifestiert sich Bildungsphilosophie in einem pädagogischen Konzept, das die Bedürfnisse der Lernenden mit Ästhetik, »die sich in der Architektur, der Raumgestaltung, den Dokumentationsformen sowie der Materialauswahl und -präsentation konkretisiert« (Knauf 2017, S. 8), verbindet. Gleichzeitig transzendiert die Reggio-Pädagogik das Konzept des Klassenraums. In der Reggio-Pädagogik werden Räume einerseits als veränderbar, aber auch als Räume für bevorzugte Aktivitäten konzipiert. Es gibt »den Forscherraum, den Wahrnehmungsraum, die Bibliothek, den Medienraum oder die Schreibwerkstatt. Manche Funktionen beziehen sich nicht auf kompetenzvermittelnde Aktionen, sondern spiegeln menschliche Grundbedürfnisse wider«, wie beim Schlafraum, dem Rückzugsbereich und Essraum (Kinderrestaurant, Bistro, »Atelier del gusto«). Es gibt eine »Piazza«, das Spiegelkabinett, das digitale Atelier, in dem mit (Web)Kameras, Bildschirmen, Overheadprojektoren, veränderbaren Lampen experimentiert wird (vgl. ebd., S. 21). Was man für die pädagogische Raumgestaltung von der Reggio-Pädagogik lernen kann, ist, die Enge des Klassenraums aufzulösen und von daher Lernen auch anders zu begreifen: offen, selbstbestimmt, forschend, kreativ, kooperativ und voller Überraschungen, dabei gleichzeitig aber auch die Antinomien des Lernens zu berücksichtigen. Vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses des pädagogischen Raumes lässt sich dann auch der kindliche Wunsch nach einem Swimmingpool im Klassenraum besser verstehen. Klaudia Schultheis
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Literatur Bendele, Ulrich (1984), Krieg Kopf und Körper. Lernen für das Leben – Erziehung zum Tod, Frankfurt am Main u. a.: Ullstein. Dürckheim, Graf Karlfried von (2005 [1932]), Untersuchungen zum gelebten Raum, hg. v. Jürgen Hasse, Frankfurt am Main: Selbstverlag des Instituts für Didaktik der Geographie. Forster, Johanna und Christian Rittelmeyer (2010), Gestaltung von Schulbauten. Ein Diskussionsbeitrag aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, hg. v. Schulamt der Stadt Zürich, https://www.stadt-zuerich.ch/ssd/de/index/volksschule /themen_angebote/schulraumplanung/anforderungen_schulbauten.html (Juni 2018). Foucault, Michel (1994), Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Göhlich, Michael (1999), Pädagogischer Raum, inszenierter Raum. Phänomenologische Zugänge und historische Tendenzen, in: Metamorphosen des Raums. Erziehungswissenschaftliche Forschungen zur Chronotopologie, hg. v. Eckart Liebau, Gisela Miller-Kipp und Christoph Wulf, Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 167-179. Hecht, Karin und Klaudia Schultheis (2016), Wie sich Kinder ihr Klassenzimmer wünschen – leibliche Aspekte des Lernens aus der Sicht der Kinder, in: Pädagogische Kinderforschung. Grundlagen, Methoden, Beispiele, hg. v. Klaudia Schultheis und Petra Hiebl, Stuttgart: Kohlhammer, S. 108-132. Knauf, Tassilo (2017), Reggio-Pädagogik. KiTa Fachtexte, https://www.kitafachtexte.de/uploads/media/KiTaFT_Knauf_2017_Reggio-Paedadogik_01.pdf (Juni 2018). Stadler-Altmann, Ulrike (Hrsg. 2016), Lernumgebungen. Erziehungswissenschaftliche und architekturkritische Perspektiven auf Schulgebäude und Klassenzimmer, Opladen, Berlin und Toronto: Barbara Budrich.
Kleiderschrank
Raum – Interieur – Möbel – Schrank – Aufbewahrungsmöbel – Kleiderschrank: Auf der Suche nach der Geschichte eines alltäglichen Gegenstandes verzweigen sich die Wege in die bedeutungsvolle Vielschichtigkeit moderner Einrichtung. Den vorwiegend kunsthistorischen Arbeiten ist zu entnehmen, dass die Etablierung des Kleiderschrankes mit der langsamen Abschaffung von Kleider-Truhen im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert zusammenhängt. Diese sich ausschließlich auf ästhetische Stil- und Formengeschichte beziehenden Forschungen blenden weitestgehend die komplexe Gebrauchs- und Mediengeschichte von Kleiderschränken aus (vgl. Hackenschmidt und Engelhorn 2011). Jedoch lassen sich die Geschichten um sie wesentlich in der Entstehung von bürgerlichen Intimitätsräumen im 17. Jahrhundert lokalisieren. In diesen Kammern, Alkoven, Ankleideräumen und Schränken wurde Besitz geordnet, gelagert und einer impliziten Trias von Intimität, Familie und Zuhause untergeordnet. Kleiderschränke gehören zu den familiären Räumen von Intimität, die für Kinder zu ihren unmittelbaren Sozialisationsräumen gehören, welche Besucher aber nur selten zu Gesicht bekommen. So wundert es nicht, dass bei einer Umfrage des international größten und populären, schwedischen Möbelherstellers, welche Teile der Wohnung nur ungern gezeigt werden, an erster Stelle mit 34,5 % das unaufgeräumte Schlafzimmer und an zweiter Stelle mit 30,7 % das Innere des Kleiderschrankes angegeben wurden (vgl. Statista 2018). Umso mehr gehören Kleiderschränke aber zu den gemeinsam geteilten privaten Räumen und sind ein Teil des Gewebes einer modernen Konstruktion von Familie und Zuhause. Die Fragen, ob oder für was es einen gemeinsamen Kleiderschrank gibt und ab wann Kinder etwa einen »eigenen« Kleiderschrank (nach der Wickelkommode) bekommen, ist aus dieser Perspektive alles andere als profan. Sie sind insofern bedeutungsvoll, als sich im letzten Jahrzehnt die möglichen Spielräume in Kinderkleidung verkleinert haben und besonders im Bezug zu Genderidentitäten als Limitierung wahrgenommen werden können (vgl. Haller 2019). Einerseits lassen
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sich also Identitätsangebote über Kleidung einschränken, aber andererseits eröffnen sich mit Kleiderschränken auch neue Möglichkeitsräume (eigener Schrank). Wie Cook (2011, S. 15) für Kinderkleidung konstatiert, ist es nicht die Kleidung, welche Kinder macht, sondern vielmehr die Perspektive auf Kindheit, welche die Produktion und Wahl von Kleidung bestimmt. Kinderkleidung als eine Repräsentation von Konzepten von Kindheit bestimmt dann auch die Vieloder Einfalt einer Auswahl in Kleiderschränken. In dieser soziokulturellen Rahmung sollten Kleiderschränke nur in ihrer Mehrdeutigkeit von »choice, diversity, individuality, experimentation, bricolage« (Cwerner 2001, S. 81) interpretiert werden. Denn wie Hackenschmidt und Engelhorn (2011) in ihrem Sammelband zu Möbeln als Medien hervorheben, »dienen Möbel […] der zwischenmenschlichen Kommunikation und können eine ganze Reihe von Sachverhalten vermitteln« (ebd., S. 8). Kleiderschränke haben hierbei mindestens eine doppelte Medialität: Sie sind selbst als materieller Aufbewahrungsort in einer Wohnung »Informationsträger und Mittel von Repräsentation und Distinktion; sie tragen zur Atmosphäre von Räumen bei und kreieren einen ›Stimmungswert‹ oder ›szenischen Wert‹, der je nach Kontext und Situation unterschiedliche ästhetische und repräsentative Aufgaben« (ebd., S. 13) erfüllt, genauso wie die in ihm gelagerten Medien von Kleidung und Textil direkt mit diesen medialen Vermittlungsebenen von Information, Repräsentation, Distinktion und Atmosphäre in einem Verhältnis stehen. Diese mediale Komplexität verbirgt sich nach Bachelard (2003, S. 94) in der metaphorischen und tatsächlichen Tiefe und Intimität von Kleiderschränken: »Jeder Dichter der Möbel – und wäre es ein Dachstubendichter ohne Möbel – weiß instinktiv, daß der Innenraum eines alten Schrankes tief ist. Der Innenraum des Schrankes ist Intimitätsraum, ein Raum, der sich nicht jedem Beliebigen auftut.« Als Orte familiärer Intimität sind Kleiderschränke für Außenstehende eine Terra incognita, in welcher sich jedoch gerade in diesem privaten Raum besondere Ankleidepraktiken, als ein sozialer Sinn des Bekleidens, von Generation zu Generation subtil und »intuitiv« weitergeben. Praktiken um Körperkorrekturen (Unterwäsche, Korsett und Shape-Wear), Passungsversuche (zu eng, zu weit, zu lang, zu kurz), Kombinationsmöglichkeiten (von Farben, Kleidungsstücken, Schnitten und nicht zu vergessen Schuhen) bis hin zu Ausgestaltungen (Accessoires wie Gürtel, Krawatten, Schmuck, Taschen, Kopfbedeckungen) sind kulturell erlernte Techniken, welche Schönheit, Perfektion und das mögliche Gestaltungspotential äußerer Erscheinungen vermitteln. All dies findet vor und mit dem Kleiderschrank statt und führt Kindern eine kulturell performative Praxis des Ankleidens vor, die immer auch im Spannungsfeld zum Verkleiden steht. Wie vor allem die Wardrobe Studies in ihren Forschungen in den letzten Jahren
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(Cwerner 2001; Woodward 2007; Skjold 2011) anschaulich zeigen, schafft diese weit über ihre Metaphorik hinausgehende »Tiefe« (Bachelard 2003) eines Kleiderschrankes mehr Sinn und Bedeutung als wir alltagspragmatisch wahrnehmen. Kleiderschränke verknüpfen Intimität mit Sozialität: »[T]he wardrobe is an intimate space where clothes are taken off and put on. In this respect, the wardrobe is one the sites in which public-private boundaries are managed.« (Skjold 2011, S. 4) Im Rückbezug zu Lefebvres Raumkonzept umfassen Kleiderschränke für Skjold (vgl. ebd., S. 6) einen mentalen, sozialen und physischen Raum, in welchem Dispositionen, Ordnungen und Potentialitäten verhandelt werden. In diesen Aushandlungsprozessen nehmen sie zwangsläufig Bezug zu sozialen Strukturierungskategorien von Lebenswelten wie Gender, Alter, Milieu, Ethnie, Sexualität und Religion. Kleiderschränke repräsentieren und re/produzieren in solchen sozialen Rahmungen auch immer eine generationale Ordnung sozialer Strukturkategorien, allerdings nur selten in Reinform. Sie sind vielmehr in ihrer Sozialität vor allem materielle Orte einer Kleiderpraxis, in welcher die Überlagerung von mehreren Identitäten angelegt, ausprobiert, gestaltet und verändert wird. Kleiderschränke sind mit Praktiken verbunden, sie sind »wardrobe practices« (Cwerner 2001, S. 80) mit welchen am Körper Subjektivierungspraktiken vollzogen werden: »The wardrobe articulates, both spatially and temporally, a set of material and symbolic practices that are fundamental for the constitution of selfhood, identity, and well-being.« (Ebd.) Diese Praktiken bestimmen insofern auch wesentlich Sozialisationsprozesse und die Entwicklung von Kindern. Dies lenkt den Blick auf die Materialität und faktische Auswahl: den Inhalt von Kleiderschränken. Dort lagert Textiles aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Kleidung die verbunden war und ist mit Utopien, Hoffnungen und Potentialitäten – welcher äußere Schein gewahrt wurde, wird und werden könnte. Sophie Woodward (2007, S. 55) spricht von einer »material biography«, welche am Kleiderschrank erzählt, wer wir sind, waren oder sein wollen. Der Kleiderschrank ist aus dieser Sicht der Wardrobe Studies ein Ort, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderfließen. In ihm sind Identitätsangebote vorhanden, die aus einer Alltagslogik von zweckrationalen Entscheidungen (Arbeit oder Freizeit) zunächst logisch erscheinen, sich aber einem verallgemeinerbaren, kulturellen Wissen entziehen. Die Materialität des Kleiderschranks als Aufbewahrungsort für Kleidung und Textiles wird bei den Wardrobe Studies wesentlich ergänzt um die Dimension von Imagination. In dieser materiellen Offenheit zeigen sich Kleiderschränke als Gestaltungsorte und gleichzeitiges Repertoire postmoderner Identitätsbildungsprozesse. Geballt gesammelte, sortierte, gelagerte und geordnete Kleidung offeriert Identitäten als Spiel, als Möglichkeitsraum – der jedoch keineswegs in dieser Vielfalt immer im Bewusstsein präsent ist.
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Denn wie Cwerner hervorhebt, ist der Großteil von Kleidung gar nicht als getragener Identitätsmarker aktiv, sondern muss im Kleiderschrank ausharren, wurde längst vergessen oder nur aufgrund von Erinnerungen behalten. Auch Woodward stellt in ihren Forschungsergebnissen fest, dass bis zu 40 % von aufbewahrter Kleidung ungetragen sind, was sich in einer aktuellen Studie von Greenpeace (2015) bestätigt. Hier schlummern also längst vergessene Materialien, welche einmal für andere Identitäten und Zeiten vorgesehen waren. In dieser »verschwundenen« Materialität ist der Kleiderschrank nur ein scheinbarer »Verfügungsraum« postmodernen Identitätskonstruktionen um Style und Bricolage. Die alltägliche Kleidungspraxis steht diesem normativen Anspruch einer funktionalen Ordnung des Kleiderschrankes entgegen: »Therefore, if the wardrobe is the method to keep clothes organized and at hand, it actual use also turns it into a space of darkness and forgetfulness. How many times have we experienced the discovery of a piece of clothing long deemed lost?« (Cwerner 2001, S. 86) In dieser zum Teil verborgenen Vielfalt und Tiefe von Kleiderschränken liegt jedoch auch ihr Zauber, der im Finden des Nicht-Alltäglichen und Unbekannten steckt. Für Kinder enthüllen sich Kleiderschränke also auch als Schatzkammern, in welchen Neues entdeckt werden kann. Dieses Finden ist in der räumlichen Dimension von Kleiderschränken angelegt, sind sie doch häufig das größte Aufbewahrungsmöbel in Wohnungen. Solcherart sind es Orte der Mimesis, jedoch nicht nur als Nachahmung und Reproduktion bestehender und bekannter Ordnungen, sondern vor allem als Emergenzen (vgl. Gebauer und Wulf 1998). Im fehlenden Wissen um verfestigte Identitäten und soziale Kontextualisierungen von Kleidung – Abendkleider sind für den Abend – kann für Kinder alles zum Kostüm werden und zum Spiel anregen. Im Sinne dieser Neukonstruktionen (ebd.) bietet sich der Kleiderschrank an, stellt dar und offenbart Inhalte, die im Alltag nicht auftreten: Der Schrank selbst wird zum Versteck und zur Höhle, der Unterrock zum Abendkleid, der Hut zum Helm, das Betttuch zum Gespenst und die Krawatte zur Leine. Zunächst nur scheinbar offensichtliche Bedeutungsebenen von Kleiderschrank und Kleidung verschieben sich zum Kuriositätenkabinett (vgl. Hackenschmidt und Engelmann 2011, S. 69 ff.), welches in der Art einer Sammlung enthält, was längst vergessen oder verworfen wurde, aber noch immer materiell präsent und von sinnhaftem Wert ist. Diese materielle Verfügbarkeit ermöglicht Neuinterpretationen, vor allem für Akteure, welche die vormals zugewiesenen kulturellen Bedeutungen noch nicht kennen. Für Kinder offenbart sich ein Kleiderschrank in nicht absehbaren und unendlichen Emergenzen.
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In ihrer materiellen Präsenz halten sich Kleiderschränke als Orte von Potentialitäten bereit, die zwischen Versteck, Verkleidung und Identitätsspiel changieren. Es ist kein Zufall, dass die moderne Literaturgeschichte den Kleiderschrank in diesen vielfältigen Bedeutungsebenen immer wieder, vor allem auch in Kinderbüchern, nutzt: von Thomas Mann, über C.S. Lewis bis hin zu Joanne K. Rowling – stets ist es die fehlende Rückwand im Schrank, welche neue Welten, Wege und Wesen offeriert. Um dorthin zu gelangen, führt der Weg in eine wahrnehmbare Materialität von »festem« Schrank und weicher Kleidung, welche sinnliche Eindrücke vom Visuellen und Olfaktorischen, über das Haptische zum Auditiven anbietet. In dieser sinnlichen, affektiv-besetzten Wahrnehmung steckt ein weiteres Potenzial der materiellen Komponenten eines Kleiderschrankes: »Clothing is imbued with meaning not only through how it appears, but also through how it feels, smells and sounds.« (Woodward 2007, S. 55) Ein solch aisthetischer Zugang verschiebt und öffnet die Wahrnehmung hin zu vielschichtigen Bedeutungen von Kleidern und Kleiderschränken, welche vor allem auch in Erinnerungen zu Tage treten. In ihren aisthetischen Dimensionen changieren Kleidungsstücke und Textilien zwischen vertraut Heimeligen, leiblich Wahrnehmbaren und sozial Unbekannten. Diese möglichen imaginären Welten sind bereits in der materiellen Mannigfaltigkeit zwischen Sozialität und Intimität eines Kleiderschrankes eingelassen. Als privater Raum einer alltäglichen Praxis zwischen Individuum und Gesellschaft offerieren Kleiderschränke Identitätsangebote und Gestaltungsspielräume. Sie können also jenseits von normativ exkludierenden Ordnungen, wie beispielsweise Genderordnungen begriffen werden (vgl. Haller 2019), während sie gleichzeitig auch als solche fungieren und genutzt werden. Der Kleiderschrank ist jedoch vielmehr ein Ort der Vielfalt von ästhetischen Objekten, aisthetischen Erlebnissen und notwendigen performativen Prozessen, welche in ihrer Materialität keineswegs vorgeben, wer wir sind oder sein könnten – in ihm überschreiben sich multiple Identitätsangebote mit generationalen Ordnungen und noch unbestimmten Phantasien. Melanie Haller
Kleiderschrank | 203
Literatur Bachelard, Gaston (2003), Poetik des Raumes, Frankfurt am Main: Fischer. Cook, Daniel Thomas (2011), Embracing Ambiguity in the Historiography of Children’s Dress, Textile History 42(1), S. 7-21. Cwerner, Saulo B. (2001), Clothes at Rest: Elements for a Sociology of the Wardrobe, Fashion Theory 5(1), S. 79-92. Gebauer, Gunter und Christoph Wulf (1998), Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Greenpeace (2015), Wegwerfware Kleidung, https://www.greenpeace.de/files/ publications/20151123_greenpeace_mode-konsum_flyer.pdf (Juli 2018). Greenpeace (2018), Let clothes be clothes, https://letclothesbeclothes.uk/ (Juli 2018). Hackenschmidt, Sebastian und Klaus Engelhorn (Hrsg. 2011), Möbel als Medien. Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge, Bielefeld: transcript. Haller, Melanie (2019), Implizites Geschlecht – Kleidergrößen in zeitgenössischer Kindermode, Gender – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 11(1), S. 92-107. Skov, Lise (2011), Entering the space of the wardrobe, Working Paper, Copenhagen: Business School. Statista (2018), Welchen Teil der Wohnung zeigen Sie selbst guten Freunden nur ungern?, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1598/umfrage/teile-derwohnung-die-ungern-gezeigt-werden/ (Juli 2018). Woodward, Sophie (2007), Why women wear, what they wear, Oxford: Berg.
Küche
Der große zeitgenössische portugiesische Komponist Emmanuel Nunes – von dem ich 2012 ein aufwühlend zartes, neue Räume eröffnendes Stück im Berliner Kammermusiksaal erlebte – wusste, dass jeder musikalische Ton von einem Feld mitklingender Geräuschpartikel umgeben ist, so dass im eigentlichen Sinne nicht mehr von einem singulären Ton gesprochen werden kann. Ein derart offenes kompositorisches Denken lockt mich, den Raum der Küche in die Weite zu denken. Im Halbschlaf dringt Geschirrgeklapper an mein Ohr. Unter der Bettdecke verbreitet sich die wohlige Ahnung, dass da draußen dieser andere, verheißungsvolle und vertraute Raum auf mich wartet, der mich ernähren wird. So fällt das »Räumewechseln« leichter. Ich stehe auf und torkele in die Küche ... Keinesfalls kann hier von einem wissenschaftlichen Text gesprochen werden. Ganz andere Dinge ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich: Vor mir auf dem Küchentisch liegt zum Beispiel ein Büchlein von George Perec, das mich in meinem experimentierfreudigen Vorgehen zum Erfassen dieses Raumes zusätzlich bestärkt. Ich sehe mich um. Irgendwo tickt eine Wanduhr, tropft ein Was-
Küche | 205
serhahn, plustert sich pustend ein Hefekuchen auf. Die Küche ist uralt. Ihr historisches Wesen schwebt unsichtbar von der Decke herab, bedeckt Wände und Boden. Hier sind wir also geboren, waren klein, wurden größer, älter und hungriger. Es ist hier wie in einer Gebärmutter, wie in einer Urzelle, die alle genetischen Informationen und Varianten enthält, die es zum Leben braucht und die später im Leben alles erleichtern werden. Eine Windböe versetzt der Küchengardine einen Stoß. Sie streift meine nackte Schulter, umschlingt mich und plötzlich empfinde ich einen ähnlichen Initiationsschauer wie einst beim Anlegen des Lätzchens um den nackten Hals – das »Sabberlätzchen, Schlabberlätzchen«, wie der Duden sagt. Schlabbern, Sabbern, eruptiv und musikalisch, alles eins: Essen und Laute kommen gleichzeitig aus dem Kindermund. Wir spucken Brei und Worte aus, schlucken Milch und verschlucken Silben. Die Zunge ist unsere Waage (französisch: balance), bereit zu prüfen, ob wir etwas in uns hineinlassen oder lieber hinauslassen möchten. Der begehrende Mund ist freiherzig und aufrichtig. Alles ist »ich will«, Nahrung und Sprache. Die Ursprünge unseres Sprechens und »Verständlichmachens« gehören mit in diesen Raum. – Auch das Hören und Aufhorchen. All die erstaunlichen Geräusche: das Schmatzen, Schlucken, Spucken, Kleckern, das Rumpeln des Besteckkastens, das Klirren der Gläser, der helle Ton des Porzellans. Eine Schublade voller Messer aufzureißen ist aufregender als eine Registrierkasse. Das Zischen des Pfannkuchenteigs, das Brodeln der Dampfnudeln, der Kartoffelstampfer; in dieser elektrisierenden Gleichzeitigkeit von Hören, Riechen, Sehen, Sprechen, Schmecken und Fühlen steckt das unaufhörlich Mögliche. Ein Schlag auf den Topf und das Spielen beginnt. Entschieden und fordernd, aber auch unendlich weich, dehnbar und frei in der Tonalität sind die Lockrufe der Küche. Die Schriftstellerin Ginka Steinwachs hat mir erzählt, dass sie ihre Doktorarbeit einst von Roland Barthes in einer Pariser Bar zu zwei Whiskeys angedreht bekommen hat. Fortan schwebte über ihrer verspielten, surrealistischen Literatur, so vermute ich, so etwas wie der Geist aus der Flasche. Das ist es, was uns später, wenn wir erwachsen sind, die Zunge löst und Großes leisten lässt: das Destillierte, ja, streng genommen Vergorene, filtert das Beste aus uns heraus! Die Pariser Bar, ja, alle Bars der Welt, verschmelzen in ihrem Kern jedoch immer wieder zur Küche, zum Ursprungsort des Flüssigen (dem Mutterbrustkontinuum). Betrachten wir die Spüle: Frisches Leitungswasser wird hier unvermittelt zu Abwasser – unterbrechen wir aber den Fluss, kann etwas anderes daraus entstehen. So, wie sich zwischen Geburt und Abgang das lebendige Leben schiebt, mäandernd und einfallsreich. Der Wasserhahn, den Kopf gesenkt, öffnet seine Gurgel und speit nach unten hin fontänenartig aus. Nun ist die Chance, die-
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sen Moment, diesen Spalt in Raum und Zeit zu nutzen: Kleine weiche Hände werden begierig unter das strömende Wasser gehalten – auch Äpfel, Möhren, Teller und Tassen. Lauter kleine Waschungen, Spülungen, Reinigungen, Wassersegnungen finden hier statt, Eintauchen in ein Sekundennass, ein sprudelndes Elixier, einen Wasserfall und fließenden Kindertraum – geheimnisvoll. Und wie schon zu Zeiten unseres embryonalen Entstehens umfängt (und schützt) das sinnliche Becken unsere Wasserspiele. Im Schlepptau folgen später Kindertränen, Küsse, Bratensaft und Buttermilch, die hier im bergenden Raum, der Quelle, auf das Leben vorbereiten. Hier entsteht etwas im Feuchten, weitet sich aus und wird transformiert. Wie eine junge Pflanze, eine junge Blume. In der Küche entspringt fortwährend etwas von unserer Vita. »Küche ist der alchemische Ort der Verwandlung, wo der Durchgang zwischen Welt und Mensch eine Mitte findet«, sagt Ginka Steinwachs in einem Film, den ich vor vielen Jahren als eine Art Forschungsreise in diesen Raum unternommen habe. Ihre Worte formulieren den Küchenraum als Passage, in der etwas en passant geschieht, im Vorübergehen, dessen Charakteristikum, so könnte man sagen, eben darin besteht, dass wir – wie in der Filmkunst – die Flüchtigkeit als solche erfahren können. Ein mittlerer Raum, ein Zwischenraum zwischen Innen und Außen, oder, wie die Schriftstellerin sagt, »zwischen Welt und Mensch«. Ein Zwischenraum (manchmal seinerseits mit einer Durchreiche), so, wie der Flur, durch den wir als Kinder jauchzend und polternd hindurchlaufen. Wir kommen hier hinein und gehen von hier aus wieder hinaus. Innerhalb unserer inneren Organe, mittig in uns angesiedelt, kennt der Canalis alimentarius ebenfalls diese Art Durchreise. Etwas ist sehr musikalisch und rhythmisch an diesem Raum. Maß und Zeit haben hier ihren Platz. Das Entscheidende (auch genannt »der springende Punkt«) dieses Zwischenraums ist jedoch die darin vollzogene tätige Bewegung: Die Küche ist ein Raum in Bewegung, eine Werkstatt, in der fortlaufend nahrungsbezogene Aktivitäten stattfinden, in der ein kontinuierliches, zumeist unspektakuläres Tun geschieht, in der Versuchsanordnungen durchgeführt und Rezepte ausprobiert werden; in der Prozesse stattfinden. Dabei verändern sich die Formen und Konsistenzen: Etwas bläht sich beim Backen auf, dehnt sich beim Kochen, wird beim Kneten, Schlagen und Rühren zunehmend cremiger und fester und verleiht dem zuvor Farblosen eine goldene Kruste. Sinnlich, ein »Ort der Verwandlung«! Ein und derselbe Stoff geht hier in andere Zustände über! Erweckt in Nase und Gaumen Duftnoten und Geschmacksknospen (Kinder haben etwa doppelt so viele von letzteren wie Erwachsene), erreicht vielleicht sogar zunehmend seine wahre Bestimmung, ähnlich eines hellen Tons, der eine Tonleiter krönt.
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Das Ausprobieren ist dabei essentieller Grundstoff allen Tuns. Bevor etwas Neues entsteht, durchläuft es Versuchsphasen, Momente des Scheiterns, Momente des Wagnisses, um schließlich als etwas Einmaliges geboren zu werden. Neugeborenes, euphorisch begrüßt, kindliche Jetztzeit. Bestandteile dieses Experimentierens und Ausprobierens sind Unordnung, zuweilen Chaos (in diesen Phasen ähnelt die Küche oft dem biologischen Alter eines Vierjährigen, der genüsslich alles um sich herum stehen- und liegenlässt). Wie in einem Künstleratelier ist dieses Durcheinander notwendig, ist ein Zeichen des Produktiven und Atmosphärischen. Auch entsteht an diesem Ort jede Menge organischen Abfalls, Nahrungsreste, Selleriestrunke, welke Salatblätter, Kartoffelschalen. Die Vergänglichkeit ist anwesend, spürbar, delikat, unentbehrlich, eine Art memento mori! Vergehen und Neugeborenes liegen nah beieinander. Diesem Fragilen, Verwesen tagtäglich die Stirn zu bieten, ist möglicherweise eine der tieferen Antriebsfedern der Küche. Es geht um nichts weniger als ums Überleben, ums Erschaffen einer nährenden Schutzschicht, vielleicht auch um die Stärkung unseres Bauchgefühls. Das Rohe, das Gekochte, das Vergorene, Getrocknete, Gebackene und Eingelegte – sie alle sind auch Versuche, eine Lebensverlängerung zu erzielen, Haltbarkeiten, Stabilitäten und Resistenzen zu erlangen. Hier genau wird die »alchemische Verwandlung« deutlich, die auf der Lehre von den Stoffen und ihren Eigenschaften fußt. Die Küche ist der Raum des Heranreifens, des Wachsens, des Werdens. Und so entwickelt sich hier sukzessiv auch unsere Sprache weiter, nistet sich ein und lässt diesen Raum ebenfalls zu einem Raum des Erzählens werden. Ermutigt durch diese Atmosphäre des Heranreifens werden intime Lebensfragen und persönliche Vertraulichkeiten zum Ausdruck gebracht. Dabei begünstigt die Beiläufigkeit, mit der dies in den alltäglichen Arbeitsablauf eingeflochten ist, die Freimütigkeit des Erzählens. Der Werkstattcharakter der Küche regt offene Konstruktionen und Unfertiges in den Geschichten an. »Ich schöpfe, also bin ich« steht in vielsagender Geheimschrift auf der Kelle und auch das »Weckglas« scheint seinen Namen einzig zu tragen, um Stimulierendes in uns freizusetzen. Der vertraute, alte Küchentisch, wie überhaupt fast alles hier ermutigt uns, ins Reden zu kommen und dabei Wesentliches anzusprechen. Bekenntnisse, Tröstungen, Zwischenmenschliches aus Kindergarten und Schule, das Ausloten unseres Selbst im Labyrinth des Lebens. Hauchdünn ist die Membran zwischen dem, was uns körperlich, geistig und seelisch ernährt, was uns sein und werden lässt und uns im erweiterten Sinne Lebensmittel ist. Alle Entwicklungsschritte fließen ineinander, nichts und niemand bleibt, alles ist Wagnis. Das Erzählen ist deshalb wie ein kleines Raumschiff, mit dem wir in der Küche auf Reisen gehen können,
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das uns erfinderisch unser Dasein durchdenken, Varianten durchspielen, dem Unbekannten begegnen und Lösungen in Worte fassen lässt. Ein kleines transparentes Raumschiff, ein Raum im Raum, so, wie die Luftblase in einer Wasserwaage – wesentlich, beweglich und unvorhersehbar. Federico Fellini verwandelte in einem seiner Filme hunderte Trinkgläser in ein Konzert singender Gläser. Anderswo sucht plötzlich eine Gruppe Musiker noch Schlaginstrumente und leiht sich aus dem Besteckkasten die Löffel aus. Kann die Küche überhaupt ein geschlossener Raum sein? Tritt sie nicht ohnehin über die Ufer und breitet ihre Tentakel in andere Räume aus, bringt Säfte, Krümel und Düfte ins Bett, Butterbrote in den Ranzen und lässt die geölte Zunge in Alltagsgespräche auf der Straße abtauchen. Grenzen und Grenzenlosigkeit fordern sich hier gegenseitig heraus. Dabei steigt die Kostbarkeit der Speisen und Getränke je begrenzter, verbotener oder reglementierter sie an diesem Ort verhandelt werden. Andere Dinge wie den verfügbaren, angepriesenen Spinat speien wir wieder aus (wir verstehen es, den Eisengehalt woanders herzuholen). Das Verbotene aber entfacht unser Begehren. – Am Ende gibt es von allem etwas, auch vom Verbotenen. Damit bleibt die Küche ein Ort der Großzügigkeit, des Überflusses, des Gebens und Schenkens. Aber … sie will entschlüsselt und verstanden werden. Überall locken Schubladen, Kisten und Kästchen, Schränkchen, kleine Türen und Fächer. Die Küche ist ein Exzess an Versteck- und Verstaumöglichkeiten – vielleicht, um das Offensichtliche hinauszuzögern, damit Erinnerung, Orientierung, Intuition und Improvisation zum Zuge kommen? Vielleicht, um im Feld des Überbordenden Übersicht zu schaffen, Ordnung – oder besser Ordnungen? Die Aufbewahrungsorte in der Küche unterliegen höchst individuellen Ordnungssystemen. Jede Person ordnet (oder versteckt) Dinge anders, hat Prioritäten, die eine andere nicht kennt. Das Ordnen der Dinge erscheint wie im Zoo die Unterteilung der Tiere in Gattungen und Spezies. Systematisierungs- und Kategorisierungsversuche bugsieren die Dinge mal in geschlossene, mal in halboffene, mal in gänzlich offene Regale. Leise atmen sie dort vor sich hin, warten geduldig ab und versuchen wie beiläufig (und wo sie nur können) unsere Zuwendung zu erhaschen. Jedes von ihnen will beachtet (oft auch berührt) werden und viele haben in den Augen von Kindern animistischen Charakter. Vielleicht dienen all die geordneten Ansammlungen ja letztendlich dazu, dieses Begehren, ja, diese Vorstellungswelt wachzuhalten – auch noch nach dem siebten Lebensjahr? Auf jeden Fall stimulieren diese semiplausibel, semirational vorgenommenen Platzierungen und Positionierungen unsere körperlichen Bewegungen zu kleinen choreografieähnlichen Glanzleistungen: Steht etwas oben, recken wir uns zu ihm hin, steht es unten, bücken wir uns danach, beugen, biegen und dehnen uns, grei-
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fen um uns, benutzen die linke Hand, asynchron dazu die rechte Hand und geben der Kühlschranktür mit der Hüfte oder dem Fuß einen Schubs. Wir erfahren die Küche und all ihre verwinkelten und kleinteiligen Herausforderungen mit unserem gelenkigen Körper. Der Küchenraum ist unablässig Anlass freudiger Vergewisserung unseres Geschicks, unserer Gewitztheit und Jugendlichkeit. Munter wirbelt der Schneebesen in unserer Hand, geradezu tänzerisch, geradezu tranceartig. Mit der Trittleiter kommen wir hoch hinaus, zu den Glühbirnen und Keksdosen und darüber hinaus, an den Rand der Decke – die zu durchstoßen aber meist nur dem Unterbewusstsein gelingt. Die Küche sollte idealerweise genügend Bewegungsfreiheit bieten, damit unser ausgelassenes Toben (und mit uns das der freilaufenden Hühner) hier für immer vorstellbar bleibt. Ein Gabelstapler kommt um die Ecke, sammelt alle Gabeln auf und hinterlässt uns staunend. In der offenen Küchentür blinken noch seine Rücklichter, entfernen sich langsam, geheimnisvoll in sinusförmigen Teiltönen summend. Das war’s, die Gabeln sind weg! Nun müssen wir mit den Fingern essen – etwas, was wir doch schon immer wollten! Susan Chales de Beaulieu
Film Chales de Beaulieu, Susan (2016), Das ist meine Küche – Forschungsreise in einen Raum. Ein Film (52 Minuten).
Kunstwerkstatt
Ein altes Ladengeschäft. Große Schaufenster geben den Blick ins Innere des ehemaligen Verkaufsraumes frei. Statt einer Theke mit Warenauslage zeigt sich ein großer, hoher Raum mit leeren aber nicht mehr ganz weißen Wänden. Einzelne Nägel, verteilte Farbspuren und vergessene Reste von Klebebändern markieren die Wände als Arbeitsflächen. Schränke bergen Werkzeuge und Arbeitsmaterialien, flankiert von Regalen voller Bücher und Kataloge, darauf Naturgegenstände, bizarre Fundstücke, kuriose Objekte. Dazwischen Zeichnungen, gerahmte und ungerahmte Bilder, angefangene und abgeschlossene plastische Arbeiten aus Karton, Ton, Stein, Stoff, … In der Mitte des Raumes befinden sich Arbeitsplätze. Beschichtete Holzplatten lagern horizontal auf Klappböcken – temporäre Installationen, die bei Bedarf schnell beiseite geräumt werden können. Um die Tische herum steht ein Sammelsurium von Hockern und Stühlen, wie sie der Straßensperrmüll hergibt. Farbe, Ton und Staub verleihen ihnen die Patina eines nicht um Ordnung und Sauberkeit bemühten Schaffens.
Den beschriebenen Ort – eine Kunstwerkstatt – gibt es so oder ähnlich in vielen größeren Städten. Ebenso wie Schwimmverein, Theatergruppe oder Musikschule gehört diese zu außerinstitutionellen Förderangeboten für Kinder jeden Alters. Eine solche Werkstatt ist dabei in ihrer materiellen Beschaffenheit und ihrem sozialen Gefüge nicht statisch. Sie fordert zur gestaltenden Aneignung heraus und macht zugleich etwas mit jenen, die sie be- und erleben. Im Inneren ist die Luft ein wenig staubig-trocken, es riecht nach Farbe und Sägemehl. Die Straßengeräusche sind nur noch gedämpft zu hören, das einfallende Tageslicht reicht kaum bis in die letzten Winkel des Raumes. Die halboffenen Schubladen eines Schrankes zeugen vom kürzlichen Gebrauch, ebenso wie eine Schraubzwinge an der Kante einer der lagernden Holzplatten. Die Stühle sind beiseite gerückt. Hier brauchte jemand Bewegungsfreiheit. Nebendran ruht ein noch feuchtes Tonobjekt. Ist es ein Berg, eine Höhle, eine Insel, … oder doch nur ein Haufen hingeworfener Materialreste? Am Boden neben der Tür liegen zusammengefegt Rückstände vergangenen Wirkens.
Kunstwerkstatt | 211
Wer eine künstlerische Werkstatt betritt, überschreitet die Schwelle zu einem Raum mit einer jahrhundertealten Tradition. Ihr Ursprung als Ort kreativgestalterischer Produktion und geheimen, laborartigen Experimentierens liegt im 14. Jahrhundert. Maler und Bildhauer, die sich bis dahin einem Selbstverständnis als Handwerker verschrieben hatten und in streng reglementierenden Zünften organisiert waren, begannen sich als Künstlerpersönlichkeiten zu emanzipieren. Sie bauten Werkstätten auf, in denen Gesellen und Lehrlinge – oft noch im Kindesalter – sie bei der Fertigstellung größerer Auftragsarbeiten unterstützten und zugleich eine künstlerische Ausbildung erhielten. In dieser Zeit liegt der Ursprung des Begriffs Werkstatt. Er geht zurück auf das spätmittelhochdeutsche Wort »werkstat« und bezeichnet eine Arbeitsstätte von Handwerkerinnen und Handwerkern, (Fabrik-)Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Bildenden Künstlerinnen und Künstlern. Besonderes Charakteristikum des Ortes ist das sich dort ereignende schöpferische Wirken (Grimm und Grimm 1971 [1854-1961]). In der Tradition von künstlerischer Produktion und handwerklicher (Aus-)Bildung ist die Werkstatt bis heute als ein Möglichkeitsraum stofflicher und menschlicher Gestaltung zu verstehen. Im 19. Jahrhundert schrumpften die künstlerischen Werkstätten mit dem Verschwinden der Auftraggeber sowohl was ihre Größe als auch was ihre Bedeutung betraf. Zwischen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Werkstatt jedoch pädagogisch adaptiert und konzeptionell von einem Ort der Warenproduktion zu einem des handlungsorientierten Lernens (re-)strukturiert. Über den vom Nationalsozialismus in den 1930/40erJahren vereinnahmten reformpädagogischen Diskurs und die folgende Distanzierung in der Nachkriegszeit fasste der pädagogische Werkstattgedanke in Deutschland erst in den frühen 1980er-Jahren mit der ästhetischen Erziehung wieder Fuß in der kunstpädagogischen Praxis. So werden heute im schulischen Kontext mit der Bezeichnung »Werkstatt« einerseits fächerunabhängig subjekt-, handlungs-, prozess- und/oder erlebnisorientierte Lehr-Lern-Arrangements gelabelt, die in der konkreten Ausgestaltung von kleinschrittigem Stationenlernen über thematische Projektarbeit bis hin zu virtuellen Online-Werkstätten variieren (vgl. Kirchner und Peez 2001, S. 8). Gemeinsames Vermittlungsziel ist die Heranführung an ein praktisches und theoretisches Verständnis von Techniken und Arbeitsweisen von Kunstschaffenden in einer Weise, die die Schülerinnen und Schüler (fein-)motorisch schult und erkennend sehen lernen lässt. Zugleich geht es aber auch darum, durch das Material als kommunikativen Faktor ästhetische Prozesse anzustoßen (vgl. ebd., S. 16). Ein Tisch ist mit einer Schachtel mit Tonwerkzeugen und mehreren hölzernen Arbeitsunterlagen bestückt, ein anderer mit Farben und Pinseln, auf einem dritten sind Holzstücke,
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Nägel und eine Kiste mit Hämmern vorbereitet. Der Aufbau lässt einen didaktischen Ansatz vermuten, der anbietet, aber nicht vorschreibt. Da erklingt die Ladenglocke. Das erste Kind betritt den Raum, es folgen weitere. Jacken, Fahrradhelme, Trinkflaschen werden verstaut, die vorbereiteten Materialien im Vorbeigehen registriert. »Oh nee, nicht schon wieder Ton, warum Holz? Wir wollen was mit Gips machen!« Schnell werden die vorbereiteten Utensilien zur Seite geschoben und Gipspulver herangeschafft. Jemand füllt ein Gefäß mit Wasser und streut das Pulver ein – bis kleine Inseln stehen bleiben. Ärmel werden hochgeschoben. Hände tauchen in die Masse. Sie fühlen kalt und nass, lassen Pulver und Flüssigkeit durch die Finger quellen, erspüren und zerdrücken Klumpen. Es tropft und schwappt. Der Gipsbrei wird in Formen und Förmchen und über die Arbeitsfläche geschüttet. Dann zieht er an, wird wärmer, fester und formbar. Nun kann geträufelt, gespachtelt, geklatscht, … werden. Die Gesichter glühen im Eifer. Schließlich bindet der Gips ab. Das Werkzeug verklebt. Auf den Händen bilden sich Krusten. Die Werke liegen auf dem Tisch.
In der künstlerischen Praxis kommt es im New York der späten 1950er-Jahre zu performativen und interaktiven Happenings, die als subkulturelle, soziale Räume des künstlerischen Herstellens, Handelns und Bildens an die traditionelle Funktion der Werkstatt erinnern. Diese transitorischen Werk-Räume finden unter anderem mit den Aktionen von Joseph Beuys ihren Niederschlag in Europa. Aus der Verweigerung, Waren des Kunstkonsums zu produzieren, erheben diese Aktionen den Anspruch, die neuen Orte künstlerischen Handelns und Bildens zu sein. Mit dem erweiterten Kunstbegriff, nach dem jeder Mensch zum Künstler wird, der als Hersteller seiner eigenen Lebenswelt die »soziale Plastik« realisiert, geht ein hoher didaktischer Anspruch einher: die Welt wird zur menschlichen Kunstwerkstatt. Die Künstlerische Kunstpädagogik (vgl. Buschkühle 2012) bemüht sich seit mehreren Jahren um eine Wiederannährung an die Werkstattidee in Anlehnung an das Beuys’sche Kunstverständnis, in dem künstlerische und pädagogische Handlungsräume miteinander verschmelzen. Sie mutet den Lernenden zu, selbst eine Rationalität und Ordnung in ihr gestalterisches Tun zu legen. Mit dieser Zielsetzung stellt die Werkstatt einen (Sozial-)Raum dar, der sich den Kindern anregend problematisch »in den Weg« stellt und so eigenverantwortliche kreativ-gestalterische Handlungen im Unstrukturierten herausfordert. In der kunstpädagogischen Idealform bedarf es zunächst eines materiellen Raumes, gleich dem eingangs beschriebenen, dessen funktionale Ausstattung die Durchführung unterschiedlichster bildnerischer Techniken ermöglicht. Als Amalgam aus laborartigem Künstleratelier und einem Ausstellungsraum in der Tradition des »White Cube« (O’Doherty 1996), bietet ein solcher Raum die Voraussetzungen für gestalterisches Arbeiten und gleichzeitig die Möglichkeit der reflexiven
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Distanzierung vom Werkstück. Angeleitet durch Begleitpersonen, die mit den Kindern in Dialog treten, Impulse geben, beraten, sich Lösungsvorschlägen jedoch verweigern, können gestalterische Probleme bearbeitet und zugleich Materialien und Techniken kennengelernt und in ihrer Anwendung erprobt werden. Durch diese freie und nur begrenzt gesteuerte Arbeitsweise werden die Kinder zu intuitiv-experimentellem wie überlegt-reflektiertem künstlerischem Handeln ermächtigt. In der Gruppe sind die Kinder gegenüber dem Tun der Peers meist sehr aufmerksam. Sie beobachten sich gegenseitig intensiv, lernen voneinander, inspirieren und helfen sich. Auch das Nachmachen kann zur Selbstbildung beitragen, wird es nicht als Imitation einer durch Lehrende als gut bewerteten Leistung, sondern als Prüfung und Aneignung einer gestalterischen Handlungsoption verstanden. Doch letztlich geht es um das Kind, das sich mit sich und seinem transformierenden Vorgehen mit dem Material beschäftigt und sich dabei an seinen inneren Bildern und deren äußeren Erscheinungsformen abarbeitet. In der Konsequenz bedeutet dies, dass »Resonanz« (Rosa 2016) als eine das Subjekt verändernde Begegnung im Tun erfahren wird. Eine Zuspitzung dieses Ansatzes stellt der von dem kunstpädagogischen Autodidakten Arno Stern begründete »Malort« dar, der »quer wie ein Findling« (Schmitter 2008, S. 172) im Garten der kunstpädagogischen Debatten liegt. Der »Malort« (Stern 2003) stellt einen in seiner Größe und Ausstattung genau festgelegten Raum dar: rechteckiger Grundriss, keine Fenster, ebene mit Packpapier bespannte Wände. In dieser räumlichen Situation findet die »Malstunde« (ebd., S. 23 ff.) in höchst ritualisierter Form statt: Die Besucherinnen und Besucher arbeiten mit auf einem Tisch vorbereiteten Farben und Pinseln auf Papierbögen, die auf Augenhöhe in der von ihnen gewünschten Ausrichtung aufgehängt werden. Es werden keine Themen voroder Ratschläge mitgegeben. Die Malenden entscheiden in jedem Moment selbst, welche Spur sie auf ihrem Papier hervorbringen möchten. Zwischen ihnen findet keine Interaktion statt. Ziel des Arbeitens ist das Sich-Versenken im Tun und das Finden einer bildnerischen Ursprache – der »Formulation« (Stern 2003, S. 55-62) –, die nach den Erfahrungen Sterns allen Menschen gemein sei. Stern bietet mit seinem »clos lieu« Schutz vor einer vereinnahmenden Welt und bezieht eine Position jenseits des erklärenden Kunst- oder Malunterrichts. Neugierig wird das Entstandene berührt, gedreht, gewendet und bestaunt. Was noch alles aus Gips hergestellt werden könnte, wird imaginiert: schnittige Schiffe oder riesige Tiere! Ist die tragende Säule in der Raummitte nicht auch aus Gips? Wer hat die wohl gemacht? Da erklingt wieder die Ladenglocke. Eltern kommen in die Werkstatt, um ihre Kinder abzuholen. »Ach, ihr habt was mit Gips gemacht? Ihr wolltet doch eigentlich töpfern. Aber toll hast du das gemacht. Und was ist das?«
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Besuchen Kinder eine Kunstwerkstatt, so geschieht dies oft auf Wunsch der Erziehungsberechtigten. Im Gegensatz zur schulischen Werkstattarbeit kommen vor allem solche Kinder in den Genuss der Früchte einer privat getragenen künstlerischen Werkstatt, deren Eltern den sozialisatorischen wie bildenden Wert erkennen. Das Privileg zum Besuch einer Werkstatt muss dabei durch vorherige Anmeldung und Begleichen von Kursgebühren erworben werden. Eine soziale Exklusion aufgrund finanzieller Möglichkeiten oder ideell-bildungsorientierter Perspektiven der Eltern ist nicht zu leugnen und schwer zu vermeiden. Was aber erhoffen sich Eltern für ihre Kinder, wenn sie die Kosten für die Werkstattbesuche aufbringen? Wie soll sich diese Investition bezahlt machen? Wirkt sich das, was dort erfahren wird, nachhaltig (positiv) auf schulische Leistungen oder gar langfristig auf die beruflichen Perspektiven aus? Im Grunde kommt eine Werkstattpädagogik, die mit einem Aufbautraining von Eigenverantwortlichkeit, Flexibilität, Improvisations- und Problemlösekompetenz, Resilienz und Fehlerfreundlichkeit wirbt, den Anforderungen der heutigen, liberalen Leistungsgesellschaft entgegen. Und doch ist schwerlich nachzuweisen, ob das freie, bildnerische Gestalten als Training für die allumfassende Schlüsselkompetenz »Kreativität« – der Soziologe Andreas Reckwitz (vgl. 2014) spricht vom »Kreativitätsimperativ« – dient, die in der modernen Leistungsgesellschaft als Erfolgsgarantin gehandelt wird. Selbstmotiviertes bildnerisches Gestalten entspringt einer Freiheit ohne äußere Rahmung. Das Kind verfährt nach einem inneren Rhythmus, der mit ökonomischen Taktungen kaum kompatibel ist. Der Kontakt, den das Kind im Tun mit der Welt aufnimmt, dient in erster Linie ihm selbst. Die Bildung, die es erfährt, ist subjektiv, unkonventionell und einem Wettbewerbsdenken fern. Der gestaltend generierte Sinn hat den Charakter eines unverfügbaren Eigensinns. Die Arbeitsergebnisse sind nach objektiven Leistungsmaßstäben kaum bewertbar. Wäre nachweislich messbar, wozu freies, bildnerisches Gestalten dient, wäre seine autonome Kraft instrumentalisiert. So sehr Wirksamkeitsbeweise der Anerkennung einer offenen Kunstpädagogik zu Gute kämen, sind sie vielleicht gar nicht wünschenswert. In seiner Unerklärlichkeit verweigert sich die künstlerische Werkstattarbeit letztendlich jedem ökonomisch profitversprechenden Zugriff. Das Kind macht Erfahrungen, die frei von pragmatischem Nutzen sind und trotzdem – oder gerade deshalb – Raum in dieser Welt beanspruchen. Vielleicht glimmt hier der subversive Funke eines halben Jahrhunderts. Vielleicht schwingt auch eine Werkstatttradition nach, die schon ein halbes Jahrtausend alt ist – die Werkstatt als Ort geheimer Produktion. Katrin Höhne und Eva Nöthen
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Literatur Buschkühle, Claus-Peter (2012), Zur Einleitung, in: Künstlerische Kunstpädagogik. Ein Diskurs zur künstlerischen Bildung, hg. v. dems., Oberhausen: Athena, S. 9-60. Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm (1971 [1854-1961]), Deutsches Wörterbuch, www.woerterbuchnetz.de/DWB/ (September 2018). Kirchner, Constanze und Georg Peez (2001), Kunstunterricht als Werkstatt. Aspekte ästhetischer Erfahrungs- und Lernprozesse im Werkstattunterricht, in: Werkstatt: Kunst. Anregungen zu ästhetischen Erfahrungs- und Lernprozessen im Werkstattunterricht, hg. v. dens., Hannover: BDK, S. 8-21. O’Doherty, Brian (1996), In der weißen Zelle/Inside the white cube, Berlin: Merve. Reckwitz, Andreas (2014), Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Rosa, Hartmut (2016), Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Schmitter, Elke (2008), Das Alphabet der Menschheit, Der Spiegel 62(23), S. 172-175. Stern, Arno (2003), Der Malort, Einsiedeln: Daimon.
Laufen
Das Laufen ist Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen. In der (Sport-)Medizin ist der »Gang« ein optimierbarer (etwa für den Laufsport oder bei Gehfehlern) beziehungsweise wiederherstellbarer (nach Unfällen oder Erkrankungen) biomechanischer Vorgang. Dessen Crux ist »dynamische Stabilität«, also den Schwerpunkt über der Unterstützungsfläche zu halten, während beide in Bewegung sind (vgl. Meyer und Ayalon 2006). Dabei destabilisiert man sich systematisch selbst, indem man auf nur einem Bein stehend das Gewicht nach vorn verlagert. Biomechanische Analysen zeigen, dass gerade Kleinkinder – im Englischen auch »toddler«, das heißt Watschler oder Schwanker – in jeden Schritt hineinfallen (vgl. Adolph 2008). Auch die biologische Anthropologie bedient sich primär anatomischen Wissens, denkt das Laufen aber weniger von seinen Pathologien her, als von seinen evolutionären Vorläufern und Alternativen. Es fällt aus dieser Perspektive durch Vertikalität sowie den sparsamen Einsatz von Extremitäten und Energie auf. Anthropologisch interessant wird der aufrechte Gang also wegen seines Distinktionspotenzials: Er unterscheidet den Menschen von anderen Lebewesen. Als Kriterium anthropologischer Differenz konkurriert das Laufen allerdings unter anderem mit dem Hirnvolumen, dem Gebiss, dem Werkzeuggebrauch und dem Fortpflanzungsverhalten (vgl. Lovejoy 1981). Die Entwicklungspsychologie schließlich spiegelt die große Gattungsgeschichte in der kleinen Geschichte von der motorischen Entwicklung des einzelnen Menschen. In gewissem Sinne erzählt sie ebenfalls eine Geschichte der »Hominisation«, indem sie beschreibt, wie sich das Individuum die spezifisch menschliche Fortbewegungsweise aneignet. Sie kartiert die normale (und normative) Ordnung aufeinander aufbauender motorischer »Meilensteine«, versucht kausale Beziehungen zwischen ihnen zu isolieren, streitet sich über die Motoren der motorischen Entwicklung – Körperwachstum? neuronale Reife? Übung? – und liefert Schablonen für die Detektion von Entwicklungsstörungen. Letztlich zielt sie auf einen Wirkzusammenhang zwischen motorischer und psychischer
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Entwicklung, über dessen Richtung sich allerdings die psychologischen Theorien scheiden. In der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie etwa galt der Beginn der selbständigen Fortbewegung als zweite, psychologische Geburt des Kindes (vgl. Mahler 1975). Mit der räumlichen Trennung von der Mutter verselbständigt sich in dieser Perspektive auch das Kind als Person. Einig scheint sich die Forschung also in der physikalischen, evolutionären, ontogenetischen Unwahrscheinlichkeit des Laufens (vgl. Kaube 2017). Um es vor diesem Hintergrund zu plausibilisieren, fragt die Anthropologie nach den evolutionären Vorteilen gegenüber der Vierbeinigkeit. Manche Entwicklungspsychologen gehen sogar so weit zu fragen, was Kinder »motiviert«, das stabilere Krabbeln aufzugeben. Der folgende Beitrag fahndet nicht nach den Ursachen oder Gründen der zweibeinigen Mobilität, sondern versucht sich an einer mikrosoziologischen Beschreibung des Laufenlernens in der frühen Kindheit. Dazu liefert er eine Skizze der konkreten räumlichen Lageveränderungen des Körpers und wirft Schlaglichter auf deren Verschränkungen mit dem sozialen und interaktiven Raum. Laufen ist, anders als beispielsweise das Klettern, eine Form der Mobilität in der Horizontalen: vom Kinderzimmer in die Küche, von der Balkontür zum Sofa. Es steht dabei in Konkurrenz zu Formen der »Heteromobilität« – zum Getragen- und Geschobenwerden –, aber auch zu anderen Formen der »Automobilität«, deren prominenteste das Krabbeln ist. Was das Laufen aber vom Krabbeln unterscheidet, ist eine veränderte Lage im Raum: ein Aufrichten. Der Säugling zeichnet sich zunächst durch ein enges Verhältnis nicht nur zur Mutter, sondern auch zum Boden aus. Abgesehen von den Momenten, in denen er hochgehoben, in den Arm genommen, gedrückt, gewiegt und getragen wird, liegt er. Die folgenden sogenannten »motorischen Meilensteine« – Kopf heben, Sitzen, Robben, Krabbeln – können als Schritte der Ablösung vom Boden betrachtet werden. Irgendwann richtet sich das Kind dann auf: Es krabbelt auf etwas zu – einen Menschen, ein Sofa –, krallt sich in Hosenbeine oder legt die Hände auf die Kante einer Sofasitzfläche. Dann kniet es vor der Herausforderung, die Füße mit ihrer Unterseite auf den Boden zu setzen. Ist das Problem gelöst – oft mit einer Art »Heiratsantragsstellung« –, hält es sich mit den Händen fest, baut Körperspannung auf, und zieht und drückt sich hoch. Indem das Kind aufsteht, bringt es sich auf Augenhöhe mit etwas und dieses Etwas in seine Reichweite: das Gesicht des Vaters oder der Erzieherin, die Fernbedienung auf dem Couchtisch oder Bücher auf dem Regalbrett. Es erschließt sich neue Schichten des Raumes. In der Sprache von Elternratgebern und Frühpädagogik »entdeckt«, »erforscht« oder »erkundet« es seine Umgebung. Dieses Vokabular entwirft das Kind als Forscher, der sich neue Wissensobjekte
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erschließt, seine Raum- und Objektwahrnehmung vervollkommnet usw. In der Sozialdimension sind Entdecker aber oft auch Eroberer, und auch das Kind macht bei seinem Vorstoß in die Vertikale Räume im wahrsten Sinne unsicher, die schon jemandem gehören: den Zweibeinern, allen voran den »Erwachsenen«. Eine Raummetapher aus der Sozialstrukturanalyse reimportierend könnte man von »sozialer Stratifizierung« sprechen. In der elterlichen Wohnung überlappen sich generationale und topologische Ordnung: Erwachsene bewohnen die höheren Schichten, Kinder die Niederungen. Oben sein bedeutet auch Dabeisein bei den Aktivitäten der Erwachsenen: etwa über die Kante der Sofasitzfläche schauen und einem Gespräch zweier Sitzender »folgen«. Dementsprechend geht es bei der vertikalen Expansion des Kindes auch um die Öffnung/Schließung von sozialen Räumen, um In- beziehungsweise Exklusion. Die Bewohner der oberen Strata fürchten nämlich um die Unversehrtheit des Emporkömmlings – heiße Flüssigkeiten, scharfe Kanten und schwere Gegenstände lauern in der Höhe –, aber auch um die Unversehrtheit und Ordnung ihres zerbrechlichen Hab und Guts. Um die vertikale Expansion des kindlichen Aktionsraumes in Bahnen zu lenken, setzen sie zum einen »raumplanerische« Strategien ein: Sicherheitstechnologien wie Eckenschützer, materielle Barrieren wie Schubladensicherungen, sowie Taktiken der Distanzierung: den Rückzug entweder in höhere Schichten oder in »hintere«, kantenfernere Zonen. Zum anderen reagieren sie mit situativeren, stärker »polizeilichen« Interventionen, wenn sie das Handy oder die Bierflasche in letzter Sekunde vor dem kindlichen Zugriff retten, aus der Höhe herabstoßen und den Eindringling aus dem Verkehr ziehen – oder »Nein« sagen. In dem Maße, wie das Kind sich aufrichtet, politisiert sich sein Raum. Die Gefahr, sich zu stoßen, wächst: an Tischkanten und am Boden, der einen bei der kleinsten Unachtsamkeit unbarmherzig anspringt, aber auch an der »ärgerlichen Tatsache« der Gesellschaft, »an der der Einzelne sich stoßen kann und muß wie an einem Stein oder Baumstumpf« (Dahrendorf 2006 [1958], S. 47). Dem ikonischen ersten Schritt in die ausgebreiteten Arme der Mutter oder des Vaters geht also das Aufstehen an Körpern und Möbeln voraus. Aus dem Stand machen Kinder dann in der Regel erste, aber zunächst eher unspektakuläre Schritte: Sie stützen sich mit den Händen ab, setzen ihre Füße im Seitschritt und drücken sich auf diese Weise um einen Menschen herum, am Sofa, an Küchenschränken oder an Wänden entlang. Die Krabbler halten sich bei ihren Expeditionen in die Zweibeinigkeit also ausgerechnet an diejenigen vertikalen Elemente, die arrivierte Fußgänger umgehen. Sie drücken sich an den Schnittstellen zwischen Vertikale und Horizontale entlang, an den Rändern des offenen Raumes, der ihnen paradoxerweise gerade deshalb auf zwei Beinen unzugänglich ist, weil
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er leer ist. Die Kinder emanzipieren sich dann nach und nach von ihren materiellen Unterstützern, handhaben sie zunehmend souverän – einhändig, mit den Unterarmen, freihändig und lässig mit dem Rücken angelehnt – und überbrücken kleinere haltlose Lücken, etwa zwischen Couch und Couchtisch. Parallel zu diesem möbelgestützten »mobilen Stehen« läuft oft eine andere Form händisch unterstützten Laufens: Das Kind läuft vor einer erfahreneren, größeren Fußgängerin, die es an beiden Händen aufrecht hält. Dabei handelt es sich um eine ziemlich eigentümliche dyadische Form der Mobilität. Zwei Individuen bilden eine für die Zwecke der kollisionsfreien Navigation von außen erkennbar zusammengehörige »Fortbewegungseinheit« (Goffman 1982 [1971]), ähnlich wie zwei Jogger oder Spaziergängerinnen. Innerhalb der Einheit braucht es eine taktile Koordination von Tempo und Richtung. Doch der Körperkontakt ist nicht nur symbolisch (etwa als Beziehungszeichen) oder kommunikativ (zur Übertragung taktiler Signale), sondern die Hände fungieren als Scharnier zwischen zwei physikalischen Körpern, das Kraft überträgt. Hinsichtlich dieser Abhängigkeit im wahrsten Sinne ähnelt das Laufen den oben erwähnten Formen der Heteromobilität. Doch anders als bei diesen Mobilitätspraktiken ist die Erwachsene, wenn sie das Kind an ihren Händen laufen lässt, auf dessen Kooperation angewiesen. Das Kind wird nicht einfach fremdbewegt, sondern bekommt Hilfe dabei, sich selbst zu bewegen. Diese »durchlässige« Verteilung der Handlungsträgerschaft macht das Laufen an den Händen zu einer didaktischen Vorbereitung beziehungsweise Simulation der Selbst-Ständigkeit. Irgendwann lassen die Kinder dann los, wagen sich ins Offene, das ihnen sichtlich nicht geheuer ist. Für sie ist es ein Drahtseilakt, den sie halb fasziniert, halb geängstigt vollführen. Sie gehen konzentriert, langsam, schwankend und bei jedem Schritt balancierend fast wie ein Seiltänzer; die Hände in Hab-AchtStellung erhoben; die nächste »Haltestelle« oft schon fest im Blick. Dieser Übergang mag vielleicht keine zweite Geburt sein, hat mit dieser aber gemein, dass eine gewisse räumlich-körperliche »Abnabelung« stattfindet: die Kontaktfläche und -häufigkeit mit anderen Entitäten im Raum nimmt ab. In diesem Zuge werden auch die Hände von der Fortbewegung entlastet. Sobald man sie nicht mehr zum wild rudernden Balancieren braucht, kann man mit ihnen Objekte tragen, die man vorher hätte vor sich her schieben oder umständlich in einer der Krabbelhände unterbringen müssen. Entlastung von der Fortbewegung heißt aber auch, dass nun statt der relativ empfindlichen Knie und Hände die Fußsohlen den Boden berühren. Wegen ihres engen Verhältnisses zum Boden lassen viele Eltern ihre Kinder hauptsächlich auf glatten Wohnungsböden und Teppichen krabbeln. Für viele Kinder öffnet sich nun erst der Raum draußen, insbesondere bestimmte Zwi-
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schenräume für die selbstgesteuerte Mobilität. Hatten sie vorher oft hauptsächlich in gewissen begrenzten Räumen »Freilauf« – im Sandkasten, in der elterlichen Wohnung, auf dem eingezäunten Teppich in der Kita – und wurden zwischen diesen »Inseln« hin und her getragen oder gefahren, legen sie nun auch manchmal die Wege zwischen diesen Orten zu Fuß zurück. Die aufrechte Fortbewegung entlastet aber nicht nur die Hände, sondern »befreit« auch den Blick, wie in der biologischen und philosophischen Anthropologie wiederholt vorgebracht, aber auch in entwicklungspsychologischen Studien mit Techniken der Blick- und Kopfbewegungserfassung bestätigt wurde: Aufrecht Gehende »sehen die Welt anders«. Während krabbelnde Kinder hauptsächlich auf den Boden vor ihren Händen schauen, haben laufende Kinder entfernte Objekte und Menschen, also »das ganze Zimmer« (Kretch et al. 2014, S. 1513) im Blick. Läufer bewegen sich im wahrsten Sinne vorausschauender, allein schon aufgrund der größeren Augenhöhe und der Tatsache, dass die Wirbelsäule beim Menschen an der Unter- statt der Hinterseite des Kopfes ansetzt. Sie erspähen Objekte in der Ferne und bewegen sich gezielt auf sie zu. Vermutlich auch deshalb verbringen Laufnovizen mehr Zeit in Bewegung und legen größere Distanzen zurück als erfahrene Krabbler (vgl. Kretch et al. 2014). Entwicklungspsychologinnen verdächtigen die Verschiebung in der visuellen Wahrnehmung aber außerdem, Veränderungen im räumlichen Denken und die Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten anzustoßen. Das scheint daran zu liegen, dass Kinder nun mehr aus der Entfernung mit anderen über entfernte Objekte im Raum kommunizieren. In mehreren Hinsichten distanzieren sich laufen lernende Kinder also zunehmend von ihrer nicht-menschlichen und menschlichen materiellen Umgebung, was umso augenfälliger wird, wenn man es mit dem stark haptischen, ja sogar oralen Weltverhältnis von Säuglingen vergleicht. Diese Distanzierung ist natürlich nicht gleichzusetzen mit Beziehungslosigkeit und auch nicht ohne Weiteres mit einem Autonomiezuwachs. Wenn Kinder anfangen zu laufen, entstehen außerhalb des Blickfelds der entwicklungspsychologischen Motorik-Forschung, die sich in ihrem methodologischen Individualismus über das einzelne Kind beugt, gleichzeitig neue Praktiken der interaktiven Mobilität. Eine davon ist das schon selbst-ständige aber geführte Laufen an einer Hand. Aber auch beim Laufen ohne Körperkontakt sind die Eltern oft noch beteiligt als verbal oder gestisch steuernde Navigatorinnen und interventionsbereite Aufseherinnen am Rand des Geschehens. Was sich also mit dem Laufenlernen verändert, ist die sinnliche, körperliche, räumliche Konfiguration des Verhältnisses zur Umwelt, und zwar in Richtung einer distanzierteren, das heißt visuelleren und verbaleren Interaktion. Damit ergeben sich verschobene Akteurs- und Subjektpositionen im wörtlichen, räumlichen Sinn des Wortes, die ihrerseits Impli-
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kationen für Prozesse der Selbst-Bildung haben, die den Rahmen dieser Überlegungen überschreiten. Philip Lambrix Literatur Adolph, Karen E. (2008), Motor and physical development: Locomotion, in: Encyclopedia of infant and early childhood development, hg. v. Marshall M. Haith und Janette B. Benson, San Diego: Academic Press, S. 359-373. Dahrendorf, Ralf (2006 [1958]), Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Goffman, Erving (1982 [1971]), Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kaube, Jürgen (2017), Die Anfänge von allem, Berlin: Rowohlt. Kretch, Kari S., John M. Franchak und Karen E. Adolph (2014), Crawling and Walking Infants See the World Differently, Child Development 85(4) S. 1503-1518. Lovejoy, C. Owen (1981), The Origin of Man, Science 211(4480), S. 341-350. Mahler, Margaret S., Fred Pine und Anni Bergman (1975), The Psychological Birth of the Human Infant: Symbiosis and Individuation, New York: Basic Books. Meyer, G. und Moshe Ayalon (2006), Biomechanical aspects of dynamic stability, European Review of Aging and Physical Activity 3(1), S. 29-33.
Loch
Das Loch ist eine Chiffre für etwas Abwesendes, ein Kürzel für einen Nichtort und für eine Lücke der Oberfläche. Ausgeschlossen ist bei den folgenden Überlegungen das Loch als umgangssprachliche Bezeichnung für einen armseligen dunklen Wohnraum und für das Gefängnis. Die Mode kennt Löcher in vielen Variationen: von der Lochstickerei, über die cut outs der sogenannten Transparentmode, bis zum Knopfloch. Insbesondere die Kindheit ist eine Lebensphase, in der Spielfreude die Kleidung strapaziert und Schürzen, Ärmelschoner und Lederhosen in der bürgerlichen Kindermode bis ins 20. Jahrhundert als Rüstungen gegen den Verschleiß eingesetzt wurden. Das gezielt hergestellte Loch gehört wie der abdeckende oder schützende Flicken zum Dekor- und Funktionsrepertoire, das sich zwischen »in« und »out« in der Mode konstant wiederholt. Und doch ist seit einigen Jahrzehnten ein Umschwung sichtbar geworden. Das Loch als Zeichen und Zentrum zerstörter Klei-
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dung ist aus subkulturellen Milieus in die Mitte der Gesellschaft zwischen Mainstream und Laufsteg gewandert. Das Loch im Stoff hat eine Gebrauchsgeschichte und eine Stilgeschichte. Das Paradox der Mode zwischen Flüchtigkeit und Wiederkehr, zwischen Affront und Affirmation sowie zwischen Moral und Protest bündelt sich prismatisch im Look des Lochs. Das funktionale Knopfloch ausgenommen, ist das Loch im Stoff, Gewebe und Gewirke das Indiz einer Schadstelle wie eines Bekenntnisses. Das Loch als Regler von Ein- und Ausgrenzungen hat eine mehrdeutige Geschichte, deren Stränge parallel gehen, sich treffen, verdichten und wieder trennen. Im folgenden Beitrag geht es um vier Phasen: das Loch aus Materialermüdung, das Loch als Protestzeichen, das Loch in der Avantgardemode und das Loch in der Massenmode. Materialermüdung Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren auch gewöhnliche Stoffe relativ kostbar, hierarchisch über der Hand- und Maschinenarbeit platziert, durch die Löcher gestopft, ausgebessert und zugenäht wurden. Stoffknappheit und der Rückgang der Rohstoffproduktion von Wolle und Leinen im 19. Jahrhundert konnten trotz Importen und erhöhter industrieller Produktion den Bedarf kaum decken. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wuchsen zwar dank billiger Importe die baumwoll- und seidenverarbeitenden Industrien, und neue Kunststoffe erweiterten seit den 1920er-Jahren das Spektrum der stofflichen Möglichkeiten. Doch blieben textile Rohstoffe wertvoll, und »aus dem Alten das Neue erhalten« (Keim 1920, S. 83) war weiterhin eine Möglichkeit, knappen Ressourcen zu trotzen. Zu den Umarbeitungen gebrauchter Textilien und der Beseitigung von Schäden gehörten die Techniken des Wendens und Verkleinerns, des Ansetzens und Auslassens. Für die Beseitigung von Löchern waren Stopfen, Nähen und die Applikation von Flicken gängige Alltagspraktiken der Bürgersfrau wie der Näherin. Das Ausbessern und Reparieren von Kleidungsstücken verlangte besondere Geschicklichkeit. Litzen, Borten und Besätze kaschierten ausgelassene Säume und schadhafte Stoßkanten – insbesondere bei der selbstgenähten, »mitwachsenden« Kinderkleidung. Die Sorge für reinliche und lochfreie Oberbekleidung war ein moralisch aufgeladener bürgerlicher Verhaltenskodex, denn außen und innen wurde in unmittelbarer Korrespondenz gesehen: »Nicht nur in unsern Zimmern […] müssen peinliche Ordnung und Reinlichkeit herrschen, sondern vor allem auch in unserm Anzug. Schon Kinder werden lieber selbst die bessernde Hand anlegen, als daß sie sich in schmutziger oder zerlöcherter Kleidung sehen lassen, die auf jeden Menschen einen nachlässigen, wenn nicht ekelhaften Eindruck macht.«
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(Dransfeld 1924, S. 16) Der Ton der Politikerin und Lehrerin Hedwig Dransfeld ist drastisch in Bezug auf die Wahrnehmung von ungepflegter Kleidung. Die Kongruenz von Sein und Schein, von Oberfläche und Innerlichkeit war eine verbreitete Vorstellung, die insbesondere in Erziehungs- und Anstandsratgebern vertreten wurde: »Trage keine zerrissenen Kleider. […]. Vom schadhaften Kleide schließt man auf ein verkommenes Inneres.« (Vogt 2013 [1894]), S. 20) Das Loch derangiert die Oberfläche und lässt tief blicken. Soziale Abstiegsangst und die Abgrenzung von ärmsten Schichten diktierten eine einwandfreie vestimentäre Hülle. Der Flicken als möglichst unsichtbare Ersatzbedeckung eines Loches und das Flicken als Stellvertreterwort für alle Formen und Fertigkeiten des Reparierens waren in Knappheitsgesellschaften notwendig. Sichtbare Zeichen der Armut wurden im textilen Feld lange so gut wie möglich versteckt. Im Handarbeitsunterricht wurden die Techniken des Ausbesserns gelehrt, geprobt und als »bescheidene Kleinkunst« (Gamm 1922, S. 3) nobilitiert. Erst mit dem Überwinden der Notjahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die moralische Verbindung von außen und innen gelockert. Protagonisten und Protagonistinnen der Kinderbuchliteratur treten auf wie Pippi Langstrumpf, Räuber Hotzenplotz und der Hörzu Mecki, die Flicken, löchrige Strümpfe und aufgeplatzte Schuhe tragen. Zeichen der Armut charakterisieren im Kinderbuch die Außenseiter und mutigfreche Protagonistinnen, sie werden verniedlicht zu Sympathieträgern und Identifikationsfiguren. Protestzeichen Löcher und Flicken als Zeichen sozialer Stigmatisierung wurden mit den 1970erJahren dreifach kritisch aufgeladen. Sie materialisierten Antikonsum, politischen Protest und Antimode. Ted Polhemus, der Analytiker des Street Styles und der Kurator der gleichnamigen Ausstellung im Victoria & Albert Museum, London (1994) betont, dass es schwieriger geworden sei, eine exakte Grenzlinie zwischen Mode und Antimode zu ziehen. Die beiden Begriffe Antimode und Stil oder neudeutsch »Style« bezeichnen daher für ihn parallele Phänomene (Polhemus und Procter 2011, S. 7). In Folge der Studenten- wie der Hippiebewegung wurden Jeans zur Uniform jugendkultureller Milieus. Ihr Verschleiß im längeren Gebrauch führte zu Ausbesserungen und Flicken, die nicht mehr versteckt, sondern durch versetzte Gesäßtaschen, bunte Stoffe und Stickereien sichtbar und demonstrativ gezeigt wurden. Löcher wurden verschönt, aber meist noch verdeckt. Die Verlängerung der Tragezeit durch Reparaturen war gegen den schnellen Konsum und die Weg-
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werfmentalität, gegen das Diktat der Mode und als Protest gegen gesellschaftliche Konventionen gedacht. In den 1980er-Jahren traten mit der Antimode der Punks löchrige Jeans und zerrissene (Netz-)Strumpfhosen im subkulturellen Milieu auf. Das Loch kam mit dem Punkstil zunächst als Provokation und Rebellion auf die Straßen der Industrieländer. Löcher entstanden nicht mehr durch lange Tragezeit, sondern sie wurden gegen die Normästhetik aktiv gestaltet, gerissen, geätzt und geschnitten. Die Band Die Ärzte formulierte im Jahr 2007 in dem Song »Junge« mit Ironie »und wie du wieder aussiehst, Löcher in der Hose« den Appell einer besorgten Mutter, die sich um den Lebensstil des Sohnes sorgt. In Kombination mit dem Starkult aus den Musik-, Sport- und Filmmilieus wurde sichtbar, dass Mode nicht mehr allein die propagierten Vorschläge in Illustrierten, in der High Fashion und von Edelmarken sind, sondern sich mit getragener Mode aus Szenen und Milieus neue Beeinflussungen und Stile durchsetzten. Die in der Modetheorie bis in die 1970er-Jahre umstrittene trickle downTheorie, Mode verbreitete sich von oberen zu unteren Schichten, wurde durch Polhemus’ Hypothese der Inspirationen »bubble up from anywhere« durchkreuzt (2011, S. 9). Parallel zu den ästhetischen Umbrüchen in der Punk-Ära veränderte sich die Mode als ökonomisches System in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts grundlegend. Das Fortschreiten der Globalisierung, die Kapitalvernetzungen und die Auslagerung weiter Teile der Textilproduktion nach Südostasien sowie die zunehmende Filialisierung der internationalen Modeketten wie H&M (seit 1980) und Zara (seit 1999 in Deutschland vertreten), illustrieren heute noch das Diktum des Soziologen Werner Sombart (1904), die Mode sei des Kapitalismus liebstes Kind. Avantgardemode Trickle down und bubble up sind keine Alternativen, sondern Additionen. Weitere Beeinflussungsfaktoren kommen hinzu, die zu Erfolg und Misserfolg von Stilen und Moden führen. Mischungsverhältnisse variieren historisch, sozial, kulturell, mit dem Alter und den Geschlechtern. Zerlöcherte Kleidung kam Anfang der 1980er-Jahre in der High Fashion an. Auf dem Laufsteg war ein Skandal, was in Jugendszenen bereits alltäglich war. Die Japanerin Rei Kawakubo mit ihrem Label Comme des Garçons zeigte in der Herbst-Winter-Saison 1982/83 in Paris einen Damenpullover mit Löchern. Unregelmäßig eingestrickte, kleinere und größere Löcher zierten einen schwarzen Pullover, der über einem weißen TShirt getragen wurde. Der journalistische Aufschrei war groß. Er reichte von einer Kriegserklärung an die westliche Ästhetik bis hin zu neuen Schönheitsvor-
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stellungen (vgl. Magier 1998, S. 76). In der Tat kamen mit asiatischen Einflüssen neue Impulse in die westliche Mode, kreuzten hier aber die Lochmode als Protestzeichen jener Milieus, die sich vermutlich kaum ein Highend-Label leisten wollten. Die zerstörte Oberfläche nachhaltig getragener Kleidung, das fabrizierte Loch der Designermode und die selbstgemachte Antimode begegneten sich auf einer Zeitachse. Ihre Bedeutungen scherten auseinander, obwohl sie gleichsam Protestpotential inkorporierten. Der politische Protest auf der Straße und der antimodische Protest auf dem Laufsteg wählten formal das identische Zeichen »Loch« der derangierten Oberfläche. Die Deutung des Kulturwissenschaftlers Fritz Franz Vogel, die Mode würde die »Ästhetik der Armut« (Vogel 2004, S. 38) als Überflussphänomen entdecken, trifft die Sache nur halb. Die Ästhetik der Armut verdeckt das Loch, die Ästhetik des Überflusses zeigt das Loch. Das Schonen, Flicken und Erhalten als Inbegriff bürgerlicher Tugenden der Sparsamkeit, der Not und der Krisenerfahrungen ist der Demonstration permanenter Verfügung und Verfügbarkeit frisch fabrizierter Vergänglichkeit gewichen. Sie gaukelt die lange Nutzung in der schnell wechselnden und schnell fabrizierten Massenmode nur noch vor. Die Transformation des Armutszeichens »Loch« in gegenwärtige Mode wird in der Forschung als »class vacationing«, als Ausflug in eine andere soziale Schicht und als Maskerade bezeichnet (Taylor 2018, S. 31). Massenmode Seit Modezyklen uns rasant umtosen, können wir die Gebrauchsspuren, die Patina und das Abgenutzte neu kaufen. Künstliche Altersspuren reagieren auf die schnelle Mode. Die britische Innenarchitektin Rachel Ashwell gründete um 1990 ihre Marke Shabby chic. Die Ästhetik des Gebrauchten, die in der FlohmarktKleidung und Vintagemode als Look bereits vorbereitet war, zog nun mit alten und scheinbar alten Möbeln ein in die Wohnungen und Gastroszenen. Shabby chic kann sowohl die Ästhetik der Nachhaltigkeit feiern wie den Look der Nachhaltigkeit vortäuschen. Die schamhafte Unsichtbarkeit von Abgenutztem wandelte sich zur neuen Sichtbarkeit. Armutszeichen wie Verschleiß und Löcher wurden in Mode transformiert. Mit Flicken, Patchen, Sampeln wurde zugleich der strategische Eingriff des Selbermachens zum Apell und Do It Yourself zum Modell von Nachhaltigkeit, um Dauer in den schnellen Warenzyklus einzubauen. Eine »Ästhetik des Provisorischen« (Wiedemeyer 2015) charakterisiere die Modifikationen der Gegenstände durch Reparaturen und Umnutzungen wie etwa die Herstellung neuer aus alten Jeans. Eine Strategie, die das Designkollektiv Vetements seit dem Jahr 2014 erfolgreich im gehobenen Segment praktiziert. Neu genäht aus aufgetrenn-
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ten alten Jeans bedienen sie die Ästhetik des Provisorischen, der Nachhaltigkeit und des Selbstgemachten. Es sind längst nicht mehr nur die Edelmarken, die zerlöcherte und zerstörte Jeans neu anbieten. »Aus alt mach neu«, die materielle Devise bürgerlicher Sparsamkeit und Krisenerfahrung ist zum Stil geworden. Mit der vorgefertigten Patina der Mode täuschen Kleider optisch vor, was sie nicht mehr haben: Zeit. Seit Fast Fashion über die Ladentische geht, wird das Abgetragene, Zerlöcherte und Verfärbte zum modischen Kult. Spuren des Alters und der Tragezeit werden fabrikneu geliefert. In diesem Kontext erst wird die Bedeutung einer Ästhetik des Selbstgemachten und Unfertigen als eine Ästhetik der Konsumkritik und Nachhaltigkeit interpretierbar. Ihre visuellen Codes sind mehrdeutig und damit uneindeutig geworden. Das Loch der Jeans und die Stickerei der Bluse können sowohl Zeichen der Lebensverlängerung, des Abgetragenen wie des Auffrischens, selbstgemacht als auch fabrikneu sein. Es ist weder eine Ästhetik der Armut, noch des Provisorischen, noch der Arbeit, noch des Protestes, sondern es ist alles zusammen, und je nach Kontext können weitere Facetten aktiviert werden. Unter Kontexten sind hier die Tragesituation, die Trägerinnen und Träger selbst, das Material und die Verarbeitungen zu verstehen, die im Zusammenspiel unterschiedlicher Bedeutungsszenarien wirksam werden. Kleidungstechnisch hat sich die Kindheit weit in das Erwachsenenleben geschoben, wenn das Aussehen einer durch Spiel und Toberei zerlöcherten Jeans frisch von der Stange als Unisexmode die Teens und Twens begeistert. Ein Loch ist Materialveränderung mit und ohne Absicht. Die konventionelle Bedeutung changiert zwischen Funktion, Dekor und Verschleiß, und die potentielle Bedeutung reagiert auf spezifische Kontexte. Die Ästhetik der uneindeutigen Mehrdeutigkeit wandelt sich kontextuell in diverse Mischungsverhältnisse der Eindeutigkeit. Die Travestie geht über den »poor chic« (Bettez Hanon 2002) hinaus, sie ist eine Maskerade, hinter der sich vielerlei versteckt: Selbst gemacht oder gekauft, alt oder neu, nachhaltig oder Fast Fashion, Primark oder Edeldesigner, teuer oder günstig – es sind die Prinzipien der Mode selbst, die zur Sichtbarkeit entstellt werden. Mit dem Tragen zerlöcherter Kleidung wird Uneindeutigkeit visuell und materiell in Szene gesetzt. Sie kann Modeprotest, Protestmode, Nachhaltigkeitsstrategie, Bekenntnis und Zufall bedeuten. Das Selbstgemachte, Veränderte und Umgenutzte dient sowohl als Wunsch der Teilhabe an Konsum als auch als Gegenentwurf zum entfremdeten Warenprodukt. Die geflickten, zerrissenen und zerlöcherten Dinge und Bekleidungen zeigen »ästhetische Alternativformate« und eine »profane Kreativität«, die der Soziologe Andreas Reckwitz in seiner Prozessanalyse »gesellschaftlicher Ästhetisierung« beschreibt (2012, S. 358).
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Taktiken und Praktiken sind verwickelt, verkettet und verknäult mit Materialien, Produktionstechniken, Ästhetiken, Zugänglichkeiten und Tragesituationen. Die Mehrdeutigkeit des Lochs als Look inkorporiert die visuelle und materielle Abwehr der Korrespondenz von Innen und Außen als bürgerlichem Erziehungsverdikt. Die vestimentäre Identifikation mit den sympathischen Helden der Kinderbuchlektüre und mit dem mitleidsheischenden Armutszeichen konsturieren diesen Infantilisierungstrend in der Mode. Im Lauf von wenigen Jahrzehnten mutierte das Loch in der Jeans vom Stigma der Armut über das Signal des Protestes zum Ausweis von Jugendlichkeit – freilich ohne die jeweiligen Bedeutungsebenen völlig aufzugeben. Multiperspektivisch und mehrdeutig geben kulturelle Praktiken die interpretatorische Lesart vor. Gudrun M. König Literatur Bettez Halnon, Karen (2002), Poor Chic: The Rational Consumption of Poverty, Current Sociology (50)4, S. 501-516. Dransfeld, Hedwig (1924), Der gute Ton für die heranwachsende Jugend. Leipzig: Hamm. Gamm, Hedwig (1922), Das Flick-Buch. Anleitung für Haus und Schule zum Ausbessern, praktischen Umändern und Verwerten von Kleidern, Wäsche u.a.m, Leipzig: Verlag der deutschen Moden-Zeitung. Keim, Emma (um 1920), Die praktische Hausfrau. Beste Selbsterlernung der Anfertigung von Wäsche und Kleidungsstücken für Kinder und Erwachsene, Stuttgart: Stuttgarter Verlags- und Reisebuchhandlung Carl Keim. Magier der Mode (1998), Comme des Garçons, München: Schirmer/Mosel. Polhemus, Ted und Lynn Procter (2011), Fashion & Anti-Fashion. An Anthropology of Clothing and Adornment, London: Thames & Hudson. Reckwitz, Andreas (2012), Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Taylor, Lou (2018), The Several Lives of a Collection of Rag Dump Clothing from Normandie (199-1955): From Farm, to Dump, to Poverty Chic, Fashion Studies 1(1), S. 2-37. Vogel, Fritz Franz (2004), Pannen, Patches, Prothesen. Zur Dialektik des Flickens, Schweizer Volkskunde 94(2), S. 33-41. Vogt, Franz (2013 [1894]), Anstandsbüchlein für das Volk, Donauwörth: Auer.
Lunchbox
A lunchbox or packed lunch is a combination of food items prepared at home to be eaten outside the home, for example at school or at a workplace. The combination of items and the form of the container varies depending on the geographical and social context in which lunchboxes are consumed. In the UK, the context of our studies, a typical packed lunch consists of a sandwich, a piece of fruit, a yoghurt and a cold drink, and a sweet snack or packet of crisps. While there are many variations, for example a wrap, pasta or another type of carbohydrate might replace a sandwich, and crisps may not be allowed in some schools, the overall structure of a packed lunch is similar for children and adults. Children’s packed lunches are usually stored in plastic containers or bags decorated with popular characters from cartoons, movies and sports.
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The content of children’s lunchboxes has recently become the centre of debates around childhood obesity and eating nutritionally »correct« food. Metaphorically speaking, opening lunchboxes and scrutinising their content have been of interest to Government policy makers (in the UK but also elsewhere) academics, public health groups, celebrities, schools and the media. A review of these debates reveals how this seemingly mundane object is a »socially produced space« (Lefebvre 1991). Indeed, it is a space of representations, in which different and contradictory ideas, knowledge, understandings, and desires of a meal collide, and interactions amongst different actors take place. Such representations and interactions blur the border between public and private, since lunchboxes can be considered »a bridge between home and school«, the public and the private (Metcafe et al. 2008, p. 408). In unpacking the notion of lunchboxes as a bridge between home and school, it emerges that a lunchbox can be considered a space for disciplining bodies, a space for displaying family life and mothering and a space for sanctioning »the Other«. A space of disciplining bodies Lunchboxes can be seen as an example of a biopedagogical device. Biopedagogy refers to the sociological notion that health principles, practices and devices hide systems of value, in which certain bodies and subjectivities are devalued and other are valued. Such practices and devices are adopted to normalise ideas and ideals of what constitutes a healthy subject who follows a highly regimented lifestyle. The increasing monitoring of children’s diets can be seen as the effect of a wider climate of health surveillance, in which children are seen as subjects at risk, requiring protection from the government. In the UK children’s health policies have been planned with the intention of providing a more integrated approach to health and care, instigating a surveillance-based relationship towards children and their families. However, this approach has not resulted in a centralised authority coherently applying health imperatives, but rather a dispersed and contradictory initiative concerned with the construction of a healthy child (Leahy 2014). In the specific case of lunchboxes, the monitoring and disciplining of their contents is aimed at creating a self-regulated child who can »correct« his or her food choices outside as well as inside the school. Although such initiatives can be framed as a way of tackling child obesity, some of their unintended consequences may be problematic. These initiatives might for example stigmatise children who do not conform with the ideals of a healthy child, a »healthy« body and a »healthy« weight. Also, children from ethnic minority backgrounds, whose diet does not necessarily conform to the mainstream diet of
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the host country, might face stigmatisation for their different understandings of what constitutes a healthy lunch. Despite such an intensified control of children’s diets, we know that children resist biopedagogies. In fact, ethnographic studies conducted during school lunch breaks reveal how children often use their own power to consume foods they enjoy and avoid those they do not, by hiding, swapping and stealing food (Pike and Leahy 2012). A space for displaying family life and mothering Given that lunchboxes contain food prepared at home to be consumed in the school setting, it is not surprising to see that they have attracted wider attention and instigated a debate about family life. A broader look at the literature on feeding children reveals how parents in general and mothers in particular, are held responsible for the current »epidemic« of childhood obesity. In the UK, media and politicised initiatives around healthy eating in schools have been seen as tools for disciplining certain mothering styles, while praising others. Studies have shown how the apparently neutral language of health and healthy eating tends to promote middle-class ideals and practices of mothering. In our own work, we have shown how middle-class mothers« understanding of healthy eating is more aligned with school policies. Middle-class mothers are very confident in navigating school regulations, displaying their adherence to school policies outside the home, while maintaining a different diet in the domestic setting. Working-class mothers tend to be less orchestrated in their display of mothering outside the home, generally maintaining the same diet inside and outside the home. As such, they are more likely to come into conflict with school regulations and consequently with middle-class teaching staff (Cappellini et al. 2018). Such a conflict is often seen as an example of how working-class women are doing »bad mothering« and in need of help and discipline. Media campaigns have been particularly brutal in dehumanising working-class women, denouncing their apparent inability to feed children »properly«. As the notion of propriety has its roots in middle-class morality and way of life, it is not surprising that working-class women who deviate from such notion have also been portrayed as immoral. If working-class women are framed as deviant with regards to the processes described above, middle-class mothers are often anxious to conform to the unachievable goal of perfect motherhood. With the prominent middle-class ideology of intensive mothering, in which the child is seen as innocent and at risk, being a »good mum« is seen as a matter of managing risks, including the risk of feeding children with »wrong« food. Preparing »good« lunchboxes that both the child and the school will appreciate, seems to be an ongoing goal with
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ever-shifting expectations. Middle-class mothers feel that they need to constantly experiment with new food available on the market and keep up with localised trends of what constitutes a »good« lunch. Considering that preparing a good lunch is a never fully achieved target, mothers feel that they are the only ones in the family that can mediate the market’s offers, children’s tastes and the school regulations. This is a complex mediation in which each item included in the lunchbox symbolises food that children can enjoy as well as food approved by the school. Providing enjoyable food is a common concern amongst some of our participants who engage in elaborated preparations of food to both entertain and nourish their children. As they perceive themselves as the only ones in the household to be able to prepare a good lunch, other family members are often unaware of the emotional labour invested in this mundane practice (Harman and Cappellini 2017). A space for sanctioning »the Other« School food policies with their promotion of healthy and good diets do not simply support a middle-class family life, but also support national discourses of citizenship, belonging and othering. Karrebæk’s (2012) study of lunchboxes in Denmark shows how school regulations and informal guidance sanctions some kind of food while encouraging the consumption of others. In this way, such forms of guidance re-establishes the cultural dominance of the Danish diet, while at the same time disregarding and devaluing the culinary cultures of ethnic minorities. The insistence on the inclusion of Danish bread in children’s lunchboxes is an example of how such practices, often framed with the apparently neutral language of nutrition and science, emphasise the cultural superiority of the culinary culture of the host country while marginalising cultural practices and food customs of ethnic minorities. Similarly, the study conducted by Allison (1991) on her own experience of being an American mother in Japan preparing obento boxes for her child, is a testimony of how school regulations stigmatise certain ways of mothering. In her detailed account, Allison speaks of being othered because she deviated from national conventions concerning the making a »proper« obento box, thus being perceived as in need of attention and guidance as to how to align herself to the Japanese ideals of »good« mothering. In our own study, we have shown how the process of othering sees social class and ethnicity intertwined. For example, we have seen how middle-class parents in migrant families frame their diets, and indeed their children’s lunchboxes, within a cosmopolitan taste, which is in line with the current culinary trends of celebrating diversity and a »exotic« and »authentic« diet. In
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this case, being transnational is seen as a resource that middle class migrant parents and children cultivate. The use of brands and »home« food is accordingly framed as a matter of celebrating diversity and belonging to a privileged social category. In contrast, migrant families from less privileged backgrounds, often find that their economic, social and cultural capitals do not allow them to frame their practices in the same socially approved way. In such cases, their children’s lunchboxes are often framed as a compromise between keeping their own cultural identities alive and aligning themselves with the culinary culture promoted in schools (Harman and Cappellini 2018). To conclude this overview of the debates regarding lunchboxes, we can affirm that they are seen as a space of governance, and as a means of constructing ideal subjects (children, parents and indeed mothers) in terms of social class, ethnicity and gender. Despite these observations, lunchboxes are not simply a space of dominance. They are in fact a contested space, connecting public and private ideas, understandings, feelings, and practices of feeding and eating, while serving as a symbolic spatial artefact helping to reinforce social relations such as power, hegemonic ordering of gender, class and cultural status. Lunchboxes are also a space in which parents can represent their own understandings of feeding children and enact their own strategies of negotiating, coping with, and/or resisting in response to the discourses around feeding children »properly« (Harman and Cappellini 2015). It is in unpacking the notion of a »proper« and »right« way of feeding and eating that the literature has shown how the neutral language of nutrition often hides cultural and social ideals of childhood, parenting and family life. In fact, the »right« way of balancing food often reflects cultural norms around conviviality and »good« food and the conventions of other meals. As others have highlighted the content of children’s a lunchbox »is balanced, culturally rather than nutritionally« (Metcalfe et al. 2008, p. 405) since it symbolise ideals, understanding and practices of displaying family life outside the home. Benedetta Cappellini and Vicki Harman
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Matsch
Ein Junitag: Es hat geregnet. Auf dem unbefestigten Weg zum Spielplatz haben sich Pfützen gebildet, der lehmige Boden hat das Wasser nicht aufgesogen, es bleibt stehen und vermischt sich mit dem erdigen Untergrund. Das Glück liegt auf der Straße Zwei Kinder in Gummistiefeln laufen die Straße entlang, ihnen voran geht ein Erwachsener. Zwischen den Pfützen gibt es trockenere Flächen, der Erwachsene versucht, möglichst auf dem festen Boden zu bleiben, macht mal große, mal kleine Schritte, umrandet die Pfützen, vermeidet den Kontakt mit dem Wasser. Nicht so die Kinder, sie peilen die Pfützen geradezu an, lassen keine aus, treten zielgerichtet in jede hinein, zuerst zögerlich, Schritt für Schritt mit den Stiefeln vorsichtig tastend waten sie behutsam hindurch, bleiben stehen, beobachten wie das Wasser brauner wird, wenn man hineintritt, wie die Stiefel kaum mehr zu sehen sind, wie sie immer tiefer im Matsch versinken.
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Dann kommt die nächste Pfütze, breiter, länger. Das größere der beiden Kinder versucht sie zu überspringen – aber nicht an ihrer schmalsten Seite, wo der Sprung sicher wäre. Es springt dort, wo die Pfütze am breitesten ist, als suche es geradezu das Risiko, in der Lache zu landen. Es springt und erreicht gerade noch den Rand, ein paar Wasserspritzer werden hoch gewirbelt. Und dann springt auch das kleinere der Kinder – plötzlich und mit beiden Füßen gleichzeitig in die Pfütze, mitten hinein in das schlammige Innere, die braune Brühe spritzt nach allen Seiten. Beide Kinder werden von den Schlammspritzern getroffen, sie schreien und lachen und kreischen vor Vergnügen. Nun ist genug der Vorsicht – aus dem anfänglich zurückhaltenden Ertasten wird ein wildes Planschen. Nicht nur die Stiefel, auch die Kinder sind vom Schlamm bespritzt. Voll Vergnügen waten sie im nun knöcheltiefen Matsch. Jetzt sind die Hände an der Reihe, sie graben sich in das Gemisch von Wasser und Erde und befördern kleine Steine hervor. Die Kinder schieben den Matsch an die Seite und beobachten, wie sich das Wasser sammelt, wie es nachläuft, scheinbar immer tiefer wird – obwohl doch nichts dazu gekommen ist? Sie lassen Steine, Stöckchen und Blätter ins Wasser fallen und verfolgen, ob diese in der Pfütze verschwinden oder oben auf dem Wasser schwimmen. Fast sind die Kinder auf ihrem Weg am Spielplatz angekommen – aber der Spielplatz mit seinen Geräten und Spielstationen ist unwichtig geworden, das Glück liegt auf der Straße, in der Pfütze, im Matsch und Schlamm; sie versprechen ein nicht enden wollendes Abenteuer. Faszination Matsch Warum werden Kinder magisch von Wasser angezogen, warum gehen sie an keiner Pfütze achtlos vorbei, warum lockt sie ein Matschtümpel mehr als ein perfekt gestalteter Spielplatz? Auch Regen kann so spannend sein, man kann die Wassertropfen auf Haut, auf der Zunge spüren, er verwandelt langweilige Straßen und Wege in eine abenteuerliche Seenlandschaft. Für die schönsten Spiele der Kindheit braucht man nur wenige Dinge: Erde, Sand und Wasser. Schon das Wasser alleine ist ein sinnliches Vergnügen, ein Bachlauf, aber auch ein Eimer Wasser, ein Schlauch, ein Schwengel, mit dem Wasser gepumpt werden kann, fließendes Wasser wird in seinem Verlauf verfolgt, stehendes Wasser mit den Händen in Bewegung versetzt. Wasser stauen, es in eine Bahn lenken, ihm einen neuen Weg geben, es fließen lassen – immer übt das Wasser auf die Kinder einen ungeheuren Reiz aus. Ebenso ist es mit Sand, Lehm und Erde: Graben und schieben – mit den Händen oder mit einer Schaufel, einen Hügel bauen oder Berg auftürmen. Aber so richtig spannend wird es erst, wenn beide Elemente – Erde und Wasser – zu-
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sammenkommen. Wenn alle Sinne sich lustvoll in dem entstehenden Matsch entfalten können. Der Tastsinn, über den die Konsistenz des Matsches gefühlt, Kälte und Wärme gespürt werden. Der kinästhetische Sinn, der das Einsinken der Füße in den Matsch wahrnehmen lässt und die Bewegungen beim Springen über und in die Pfützen steuert. Der Gleichgewichtssinn, der erkennen lässt, wann das Stehen im Matsch unsicher wird, wie die Balance schwindet und wie man sie wiederfinden kann. Und natürlich auch der Geruchs- und der Geschmackssinn: Wonach riecht die Pfütze, wenn es geregnet hat? Wie riechen Pfützen in einem trockenen Sommer nach einem kräftigen Regenschauer? Eine Pfütze bietet viel Geheimnisvolles – sieht man doch kaum von außen, wie tief sie ist und ob man noch in ihr stehen kann. Vielleicht ist sie in der Mitte so tief, dass man darin versinkt? Und welche Schätze mögen in ihr verborgen sein? Vielleicht hat jemand ein Geldstück mitten in der Pfütze verloren? Oder vielleicht sogar Gold? Die Phantasie entfalten Matsch ist nicht einfach nur Matsch, er trägt vielfältige Bedeutungen in sich, die sich im Spiel der Kinder entfalten. Er ist formbar und vielseitig deutbar, er kann alles sein: Sumpf, ein Hafen, ein Staudamm, ebenso aber auch Suppe, Kuchenteig oder vielleicht sogar ein Haifischbecken. Alles ist möglich – die Phantasie ist Produzentin der Spielidee. Mit nassem Sand kann man Burgen bauen und Figuren formen, sich in die Tiefe graben. Wie weit ist es bis ans andere Ende der Welt? Sich selbst oder andere tief im Sand einbuddeln, nur noch das Gesicht schaut aus dem Sand heraus. Wasser in Sand einrühren und mit den Händen eine matschig schöne Kugel formen, drücken und glätten, Kuchen backen, Suppe kochen, rühren, formen, daraus ergeben sich Rollenspiele, denn der Kuchen will verkauft, die Suppe »gegessen« werden. Barfuß durch den Sand stapfen und die Fußabdrücke verfolgen. Wasser und Sand sind Elemente der Natur, die die Sinne der Kinder herausfordern, ihren Forschergeist wecken und sie zu immer neuen Fragen führen. Entdecken – Fragen entstehen beim Spiel Sand ist nicht gleich Sand, ist Sand auch Matsch? Fragen entstehen beim Spiel mit den Elementen: Warum lässt sich trockener Sand nicht formen, warum rieselt der »Sandkuchen« schnell auseinander, sobald das Förmchen umgestülpt worden ist? Warum fühlt sich Gartenerde ganz anders an als Sand? Warum verschwindet das Wasser im Kies schneller als im Sandkasten? Antworten ergeben sich aus dem Erproben. Sandboden ist leicht und wasserdurchlässig, es sind viele kleine Ministeine, aus denen sich der Sand zusammen-
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setzt, mit der Lupe kann man die Steine besser erkennen als mit dem bloßen Auge. Die Körner im Sand sind unterschiedlich groß, je größer sie sind, umso weniger haften sie aneinander. Im trockenen Zustand fällt Sand daher immer zusammen. Manchmal helfen auch Erklärungen der Erwachsenen weiter: Wird Sand mit Wasser befeuchtet, dann kleben die kleinen Steinchen aneinander. Wasser wird so zu Klebstoff, der den Sand zusammenhält – aber eben nur so lange, wie es nicht verdunstet, dann fällt der Sand wieder auseinander. Je mehr Lehm im Sand enthalten ist, umso höher ist seine Konsistenz, er »klebt« besser, er lässt sich formen und gestalten. Mit Wasser vermengt ändert sich die Konsistenz, aus dem rieselnden Sand wird eine klebrige Masse, ein Klumpen, der sich gut formen lässt. Alles Lernen beginnt mit der sinnlichen Wahrnehmung Betasten und Berühren, Beobachten und Entdecken, Finden und Bestaunen – damit diese Prozesse entstehen, bedarf es einer Umwelt, in der das Kind selber tätig werden kann, die sein Interesse weckt und es neugierig macht, in der es seinen Körper und alle Sinne einsetzen kann. Die Sinne sind wie Antennen, über die das Kind mit der Umwelt kommuniziert. Sie sind die Nahtstelle zwischen innen und außen, zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Für Kinder stellt die sinnliche Wahrnehmung den Zugang zur Welt dar. Sie ist die Wurzel jeder Erfahrung, durch die sie die Welt jeweils für sich wieder neu aufbauen und verstehen können (vgl. Zimmer 2012). Durch die Sinne begegnet das Kind den Lebewesen und Dingen, es kann sie sehen, hören, befühlen und anfassen, kann sie schmecken und riechen, sich mit ihnen bewegen. Die Sinne liefern dem Kind viele Eindrücke über seine Umwelt und über sich selbst in Zusammenhang mit ihr. Die sinnliche Wahrnehmung ist die Grundlage aller Erkenntnis: Mit den Sinnen Erfahrenes führt zu neuen Fragen und zum Weiterforschen. Gleichzeitig wird die Wahrnehmungsfähigkeit weiter ausdifferenziert, die Selbsttätigkeit des Kindes wird angeregt, die Beobachtungsfähigkeit geübt: Warum ist nasser Sand schwerer als trockener Sand? Warum hinterlässt das Gehen im Kies keine Spuren? Welche Dinge schwimmen auf dem Wasser, welche sinken (gehen unter)? Im Spiel mit Wasser und Sand gewinnen die Kinder Erfahrungen – Erfahrungen aus erster Hand, die nicht von anderen aufbereitet, vorbereitet, angeleitet und bewertet werden, sondern beim Tun entstehen.
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Die Welt leiblich spüren – Spielen im Matsch, mit Wasser und Sand Das Spielen mit Wasser und Sand bereitet Kindern ein zutiefst sinnliches Vergnügen. Sich nass in den Sand legen und sich drehen und wenden – bis man wie ein Schnitzel paniert ist, die Schwere des Sandes am eigenen Körper erleben, die kühlende Wirkung des nassen Sandes spüren –, all dies ermöglicht intensive taktile Sinneswahrnehmungen. Die Haut ist das ausgedehnteste Sinnesorgan unseres Körpers. Über sie nehmen wir einerseits passiv mit Hilfe mechanischer Reize Berührungen wahr, gleichzeitig erkunden wir jedoch auch über das aktive Berühren unsere Umwelt. Fühlt sich ein Gegenstand warm oder kalt an, ist er spitz, eckig oder rund? Dicht unter der Haut sitzen die Tastkörperchen – kleine Zapfen, in denen sich empfindliche Nervenzellen befinden. Wenn sie einen leichten Druck verspüren – bei Berührung der Haut – erzeugen sie ein winziges elektrisches Signal. Es wird über die Nervenbahnen zum Gehirn geleitet. Dort wird einem dann bewusst, dass man eine Berührung fühlt. Kinder sind sinnenreiche Wesen. Sie haben Spaß am Einsatz all ihrer Sinne und nehmen über sie sich selbst aber auch ihre Umwelt wahr. Sie sind von ihrem ersten Lebenstag an aktiv und wollen ihre Umwelt erkunden. Erwachsene können sie dabei begleiten und unterstützend wirken, indem sie eine entsprechende Umgebung schaffen, die ihnen die Chancen für ein Leben und Lernen mit allen Sinnen gibt. Sie können allerdings auch einfach den Kindern das zugestehen, was diese sich selbst als lustvollen Spielort aussuchen: den Matsch, die Pfütze, den nassen Sand. Wasser und Sand sind vor allem in den ersten Lebensjahren ideale Elemente, um die Sinne zu trainieren, die Welt leiblich zu spüren, sie sich einzuverleiben. Das Spielen mit Wasser und Sand bedarf keiner speziellen Anleitung, keiner Vorbereitung, keines Trainings und keiner Fertigkeit – aber es vermittelt tiefgehende Sinneserfahrungen, führt zu ersten Erfahrungen naturwissenschaftlicher Phänomene, fordert die Phantasie heraus. Ein Plädoyer: Pfützen schützen Aber wo gibt es in einer Welt von Asphalt und Beton noch Pfützen? Sie sind nur noch dort zu finden, wo es ein Loch in der Asphaltschicht, eine Unebenheit in der begradigten Straßenlandschaft gibt, wo unbefestigte Wege noch ein Stück Natur erhalten haben. Matsch und Pfützen locken die Kinder nach draußen, es gibt sie nicht im Haus und schon gar nicht virtuell. Pfützen schützen Kinder vor einer allzu technisierten, perfekten Welt, sie schützen vor der Sterilität von Plastikspielzeug und Modellbauten. Pfützen schützen die Kinder – aber Pfützen müssen auch geschützt werden – weil sie aus der Sicht der Erwachsenen einen Angriff auf die Zivilisation bedeu-
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ten: Nässe, Dreck, Bakterien, Schmutz, Erkältungsgefahr … Das sind Assoziationen, die Erwachsene mit dem Matsch, mit der Pfütze verbinden und vor denen die Kinder möglichst ferngehalten werden sollen! Pfützen und Matsch passen nicht in die Vorstellung einer perfekten, reinen und planbaren Welt, sie widersetzen sich Programmen und Förderkonzepten, der Verschulung der Kindheit. Aber sie sind Symbole einer Welt, in der sich die tiefen Wünsche der Kinder nach sinnlicher Eroberung erfüllen, in der sie ihre Phantasie entfalten und selbstbestimmt lernen dürfen, in der auch der Körper und alle Sinne gefordert werden. Mit Wasser und Sand matschende Kinder sind glückliche Kinder, sie vergessen die Zeit, genießen den Augenblick und fordern sich selbst immer wieder aufs Neue heraus. Wasser und Sand ermöglichen das lustvolle Erleben des eigenen Körpers, die sinnliche Begegnung mit der Welt. Sie wecken Emotionen und kreative Energie. Das macht nicht nur glücklich, es lässt auch den Forschergeist erwachen und führt ganz nebenbei auch zu neuen Erkenntnissen – macht also klug. Renate Zimmer Literatur Lück, Gisela (2008), Neue leichte Experimente für Eltern und Kinder, Freiburg im Breisgau: Herder. Weber, Andreas (2011), Mehr Matsch. Kinder brauchen Natur, Berlin: Ullstein. Zimmer, Renate (2012), Handbuch der Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Bildung und Erziehung, Freiburg im Breisgau: Herder. Zimmer, Renate (2014), Handbuch der Bewegungserziehung, Freiburg im Breisgau: Herder. Zimmer, Renate (2018), Wilde Spiele zum Austoben. Wie Kinder zur Ruhe kommen, Freiburg im Breisgau: Herder.
Mensa
Was für Schulkinder anderer Länder schon lange selbstverständlich ist, ist für (west-)deutsche neu: das Mittagessen in der Mensa. Etwa 50 % der jungen Menschen essen in der Schule – in den Grundschulen mehr als in den weiterführenden, in den neuen Bundesländern mehr als in den alten (vgl. BMEL 2014, S. 7). Das Gleiche gilt für Vorschulkinder, die immer häufiger mittags in der Kita essen. Im Zuge dessen nimmt die öffentliche Aufmerksamkeit zum Schulessen zu. Medien skandalisieren regelmäßig die schlechte Gesundheits- und Geschmacksqualität des Essens wie auch den enormen Kostendruck. Von politischer und ernährungswissenschaftlicher Seite gibt es erhebliche Bemühungen um Qualitätsentwicklung. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft rief 2014 die »Qualitätsoffensive für ein gesundes Schulessen« aus, in deren Kontext das »Nationale Qualitätszentrum für Ernährung in Kita und Schule« entstand. Die »Deutsche Gesellschaft für Ernährung« legt bereits in der vierten Auflage den »DGE-Qualitätsstandard für die Schulverpflegung« vor, der Maßstäbe einer gesundheitlich optimalen Essensversorgung definiert. »Vernetzungsstellen für Schulverpflegung« helfen in allen Bundesländern den Schulen, ihr Essen und vor allem seine Akzeptanz zu verbessern. Mit zunehmendem Alter sinkt nämlich die Teilnahmequote beim Schulessen dramatisch. Auch geforscht wird viel, mehrheitlich von Ernährungs- und Agrarwissenschaften und Marktforschung und fast ausschließlich mit standardisierten Befragungsinstrumenten. Umfangreich untersucht werden Sensorik und Gesundheitswert der Speisen, Nutzungsquoten und Nutzungsmotive des Schulessens, Kundenzufriedenheit, Organisation, Finanzierung, Hygiene und räumliche wie zeitliche Bedingungen des Essens. Diffus ist bei alledem die institutionelle Verortung des Schulessens. Welche Rolle die Mensa im Bildungswesen spielt, was hier stattfinden soll, ob dies Bildung oder schlicht Versorgung ist, wer hier was verantwortet und was es kosten darf, dies alles ist umkämpft. Schulträger müssen zwar sicherstellen, dass Schülerinnen und Schüler ein Mittagessen erhalten. Wie sie dies tun, liegt jedoch in
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ihrem Ermessen. Auf Bundesebene können hierzu aufgrund des föderalen Bildungssystems keine Vorgaben, höchstens Empfehlungen gemacht werden. Auf Länderebene könnte dies geschehen, aber die meisten Länder halten sich dazu bislang eher bedeckt. Die Praxis zeigt, dass es am Ende vielfach die einzelnen Schulen selbst sind, die die vollständige Verantwortung für die Gestaltung der Schulverpflegung übernehmen und die Aufgabe dann irgendwie zu lösen versuchen (vgl. Jansen 2017). Dazu kommt, dass das Schulessen zwar öffentlich organisiert, aber nicht öffentlich finanziert wird, wie in Schweden und Finnland. Während die Bildungsleistungen vom Staat finanziert werden, sind die Verpflegungsleistungen der Schule in Deutschland privat zu tragen. Eltern kaufen von der Schule Essen für ihr Kind. Damit werden sie (und ihre Kinder) in einem marktwirtschaftlichen Sinne zu Kunden der Schule, die Schule wird zur Essenshändlerin. Hierbei zeichnen sich neuartige Allianzen zwischen Schule und Wirtschaft ab. Gastronomie, Pächter, Catering-Firmen und Konzerne suchen Zugang zur Schule, um Profite zu machen. Schulen und Schulträger geraten in die Position umworbener Geschäftskunden – eine Rolle, die professionsgeschichtlich ungewohnt ist und auf die man kaum vorbereitet ist, zumal Schule bislang vehement als marktfreie Bastion zum Schutz der Schülerinnen und Schüler verteidigt wurde. Dieser Grundsatz erodiert nun schleichend. Schule öffnet sich für Marktakteure und Marktinteressen, pädagogische Räume werden zu Wirtschaftsräumen. Doch was passiert eigentlich in diesem neuen Schulraum der Mensa? Die vorliegenden ernährungswissenschaftlichen Studien sagen dazu nichts. Mittlerweile liefern jedoch einzelne erziehungs- und sozialwissenschaftliche Studien zum Schulessen erste empirische Einblicke (vgl. Rose und Schäfer 2009; Rose und Seehaus 2019; Schütz 2015; Tull 2014). Ähnliches gilt für das Essen in der Kita. Charakteristisch ist, dass sie allesamt ethnografisch konzipiert sind – vielleicht ein kritischer Reflex zu den quantitativ dominierten Studien der Ernährungswissenschaften zum Schulessen. Der Blick auf die Praxis des Schulessens offenbart zwei kontrastierende Formate: Es gibt zum einen das von Erwachsenen betreute Essen an einer gemeinsamen Tafel, zum anderen das kantinenförmig organisierte Mensa-Essen. Das erste Format ist stark bestimmt durch das Ideal des kollektiven Mahls nach bürgerlich-familialem Vorbild. Dazu gehört das Händewaschen vor dem Essen, die gemeinsame Versammlung am Tisch, das Auftragen der Speisen in großen Schüsseln, aus denen sich die Einzelnen selbst bedienen, der gemeinsame Beginn des Verzehrs nach einem kollektiven Ritual und ein geregeltes Ende der Mahlzeit. Entweder haben alle zu warten bis alle mit dem Essen fertig sind, oder aber die Kinder müssen zumindest bei den Erwachsenen um Erlaubnis bitten
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aufstehen zu dürfen. Erwachsene überwachen hier engmaschig und relativ streng Sitte und Anstand am Tisch. Sie sichern ab, dass beim Griff in die gemeinsamen Speiseschüsseln niemand übervorteilt wird. Sie weisen an, mahnen, sanktionieren und animieren zum Essen, wenn die aufgetischte Speise nicht schmeckt. Sie sorgen dafür, dass die Kinder während der Mahlzeit am Tisch verbleiben, sich ruhig verhalten, die richtige Tischkonversation führen und das Essbesteck sachgerecht nutzen, wie in dieser ethnografischen Szene (Rose und Seehaus 2019, S. 213) beschrieben: »Frau Wapp weist Manu an: ›Mach die Kartoffeln klein und iss ganz ordentlich!‹ Etwas verwirrt hält Manu inne …. ›Ich will aber matschen!‹, meint er und versucht, die Kartoffel mit der Gabel zu zerdrücken, was ihm nicht gelingt. ›Wir essen hier ordentlich‹, erklärt ihm Frau Wapp und demonstriert ihm, wie er die Kartoffel mit der Gabel zerdrücken solle. Dabei blickt sie auffordernd Maximilian und Jan an, die ihre Kartoffelstücke auf ihren Tellern daraufhin mit den Gabeln zerdrücken und sich an der vorgeführten Art und Weise orientieren.«
Die Betreuungskraft beansprucht Definitionsmacht darüber, wie zu essen ist und diskreditiert die Manieren des Jungen. Dieser begehrt für einen kurzen Moment auf, gibt dann aber nach. Der Raum des Essens ist also gekennzeichnet durch ein starkes Machtgefälle zwischen den Generationen. Die Mensa folgt demgegenüber einem gänzlich anderen Modus, der individualisierter und liberaler ist. Zwar symbolisieren die Gruppentische weiterhin das Ideal des kollektiven Mahls, doch wird seine Realisierung strukturell sabotiert. Die Essenden werden zeitlich nacheinander an der Essensausgabe versorgt, müssen dann einen Platz und eine passende Tischgruppe suchen – ein komplizierter Prozess. Auch haben sich erwachsene Ortswächter insgesamt hier zurückgezogen und sichern nicht mehr wie beim betreuten Essen die Gemeinsamkeit des Essens ab. Vielmehr sind Schülerinnen und Schüler sich selbst überlassen, was die Gestaltung des Essens betrifft. Trotz alledem finden sich auch in der Mensa am Ende Gruppen zum Essen zusammen, aber ihre Struktur ist sehr viel gelockerter als beim betreuten Essen. Man kommt und geht, beginnt zu essen, wenn man seinen Platz hat, steht auf, wenn man will. Auch die Manieren sind unkonventioneller: Es wird gespielt, gestritten, geärgert, gealbert, geschrien, Essen wird verschenkt, geteilt, geklaut, verunreinigt oder auf dem Teller zurückgelassen. Während beim betreuten Essen das Regime der Erwachsenen die subversive Peerkultur im Zaum hält, lässt die Mensa dieser großzügig Raum (vgl. Rose und Seehaus 2019).
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Beide Praxisformate markieren institutionell eine Altersdifferenz: Der betreute Modus wird für die jüngeren Kinder der Grundschulen bevorzugt, der Mensa-Modus für die älteren Schülerinnen und Schüler. Während bei den Jüngeren noch viel institutioneller Aufwand betrieben wird, bürgerliche Essenserziehung und ein gesittetes Mahl abzusichern, wird den Älteren ein kontrollfreier und deregulierter Essensraum zugestanden, dessen Organisationsform schlicht pragmatisch der Konsumlogistik der Betriebskantine folgt. Erzieherische Ansprüche sind hier verschwunden. Die Jüngeren erscheinen als unzivilisierte Wesen, die deshalb der strengen Führung beim Essen bedürfen. Den Älteren wird demgegenüber unterstellt, dass sie über die entsprechenden Selbststeuerungskompetenzen bereits verfügen und von daher keiner Reglementierungen beim Essen mehr bedürfen. Vielleicht ist Schule aber auch einfach nur der beständigen Disziplinarprozeduren »müde« und entlässt deshalb die Älteren beim Essen in die »Freiheit«? Typisch für den Raum des Schulessens ist zudem die Spannung zwischen Tempo und Langsamkeit. Anders als in den Kitas, in denen das Essen viel Zeit erhält, steht es in der Schule unter hohem Zeitdruck (vgl. Tull 2014). In dem knappen Zeittakt zwischen morgendlichen und nachmittäglichen Bildungsangeboten müssen große Schülermengen gesättigt werden. Schülerinnen und Schüler verweilen zum Teil gerade fünf Minuten beim Verzehr. Gleichzeitig sind sie ständigen Wartephasen ausgesetzt: Beim betreuten Essen warten sie am Tisch auf die anderen Tischmitglieder, auf das Rundgeben der Speiseschüsseln, das Ritual des Mahlzeitenbeginns, die Erlaubnis, den Nachtisch essen und vom Tisch wieder aufstehen zu dürfen. In der Mensa warten sie vor allem an der Essensausgabe, aber auch darauf, dass die, mit denen man essen will, endlich auch ihre Portion erhalten. Das Schulessen ist zudem immer auch ein Ort des Spielens (vgl. Rose und Seehaus 2019). Das Spielrepertoire umfasst zwei Typen. Das ist zum einen der Fundus der klassischen Kinderspiele, der zur Unterhaltung beim Essen aktiviert wird: Sprachspiele, Witze, Klatsch- und Singspiele, Phantasie- und Rollenspiele, sprachliche Provokationen, Spiele mit Tischgegenständen (zum Beispiel mit Wassergläsern, Besteck oder den Tabletts) und Körper- und Bewegungsspiele (zum Beispiel Fangenspielen, sich unterm Tisch treten). Zum anderen wird aber auch das Essen selbst zur Spielressource. Es wird ausprobiert, wer wieviel in welcher Geschwindigkeit verschlingen, ob eine Kartoffel auch ohne Kauen runtergeschluckt werden kann, wann der Hähnchenknochen bricht. Lebensmittel werden phantasievoll »umgenutzt«, zum Beispiel mit der Banane telefoniert, auf der Frikadelle getrommelt, Speisebestandteile als Wurfgeschosse eingesetzt. Speisen werden auf dem Teller »umgearbeitet«, zum Beispiel beim Zermatschen
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der Kartoffeln mit Ketchup, oder sie werden gänzlich ungenießbar gemacht, zum Beispiel durch Verunreinigungen. Diese Spiele deuten an: Das Essen ist für Schülerinnen und Schüler mehr und anderes als eine Sättigungsquelle. Es ist Material zur Gestaltung des Sozialen. Hiermit werden Beziehungen bearbeitet, Arenen der Selbstinszenierung und Unterhaltsräume für die Gruppe geschaffen. Es ist aber auch etwas, in dem sich das Verhältnis zur Schule manifestiert. Auffällig ist, dass Schülerinnen und Schüler das Schulessen immer aufwendigen Prüfungen unterziehen. Sie wollen genau wissen, was auf ihrem Teller ist, befragen dazu Küchen- und Betreuungspersonal, auch die Peers. Sie sondieren die Geschmacksqualität, holen Informationen bei jenen ein, die schon gegessen haben, kosten vorsichtig. Etwas zu essen, dessen Identität sie nicht klären und bei dem sie deshalb nicht sicher sein können, wie es ihnen schmeckt, erweist sich regelmäßig als Konfliktthema an den Tischen: »Brooke schaut auf die Maultaschen und sagt: ›Äh‹. Darleen schiebt die Platte mit den Maultaschen von sich: ›Ich will gar nichts essen, voll eklig‹. Dann fragt sie Brooke, ob diese mit ihr eine Maultasche teilen möchte … Brooke nickt, Darleen sagt: ›Ich guck rein, dann seh ich, ob ich’s ess’‹. Brooke teilt die Maultasche mit der Gabel. Darleen sagt: ›Ess’ ich nicht‹.« (Rose und Seehaus 2019, S. 32)
Die Szene verdeutlicht exemplarisch, dass die schulische Speisegabe für Schülerinnen und Schüler häufig kritisch ist. Sie wird nicht vertrauensvoll oder gar erfreut entgegengenommen, sondern wachsam gecheckt, um dann erst eine Konsumentscheidung zu treffen. Nicht selten fällt diese negativ aus, zumindest finden sich auf vielen Tabletts, die zurückgebracht werden, Speisereste auf den Tellern. Schule wird offenbar nicht als »gute Nährerin«, sondern eher als gefährliche erlebt, von der »schlechte Gaben« drohen, vor denen man sich schützen muss. Während die Speiseverweigerungen in der Mensa kommentarlos hingenommen werden, zeigt sich beim betreuten Essen dagegen ein ausgeprägter institutioneller Druck zum Verzehr des Essens. Verbreitet sind das »Probiergebot« und Verführungen zum Essen von Seiten der Betreuungskräfte. Die Welt der Schule besteht aus zwei Bühnenräumen (vgl. Zinnecker 2001). Da ist zum einen die institutionelle »Vorderbühne«, auf der die offiziellen Bildungsanliegen und Regeln der Schule zur Geltung gebracht werden; Unterricht und Lehrkräfte repräsentieren diese. Da sind zum anderen die »Hinterbühnen«, auf denen sich das »schulische Unterleben« entfaltet: Freundschaften und Feindschaften, Cliquenbildungen und -abgrenzungen, Geschlechterspiele, körperliche Selbsterprobungen, Abenteuer, narzisstische Inszenierungen, Eigensinn und Wi-
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derstand gegen die Erwachsenenwelt. Es entfaltet sich überall dort, wo die schulische Kontrolle nachlässt: auf dem Pausenhof, in den Fluren, Toiletten, Umkleiden der Sporthalle, vor dem Schulgelände, aber auch – soweit möglich – gerade inmitten des Unterrichtsgeschehens. Es spricht einiges dafür, auch die Mensa als eine solche, historisch neue Hinterbühne der Schule zu begreifen. Beim betreuten Essen der Jüngeren dominiert das institutionelle Regime noch sehr stark die Szenerie und macht das Essen eher zu einer schulischen »Vorderbühne«. In der kontrollarmen Mensa schiebt sich dann das peerkulturelle Hinterbühnenleben sehr viel deutlicher in den Vordergrund. Lotte Rose Literatur Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (Hrsg. 2014), Bundeskongress Schulverpflegung 2014: Qualität der Schulverpflegung – Bundesweite Erhebung. Ergebnispräsentation. Kongressband 25, BMEL Eigendruck, www.in-form.de/fileadmin/redaktion/Publikationen/pdfs/20150625IN FORM _StudieQualitaetSchulverpflegung.pdf (November 2014). Jansen, Caterina (2018), Essen an Schulen zwischen Anpassung und Wirklichkeit. Erwartungen an Schulverpflegung in Anbetracht von Erfahrungen aus der Praxis. Eine qualitative Studie (unveröffentlichte Dissertation). Rose, Lotte und Kathrin Schäfer (2009), Mittagessen in der Schule. Ethnografische Notizen zur Ordnung der Mahlzeit, in: »Erst kommt das Fressen...!« Über Essen und Kochen in der Sozialen Arbeit, hg. v. Lotte Rose und Benedikt Sturzenhecker, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 191-203. Rose, Lotte und Rhea Seehaus (2019), Was passiert beim Schulessen? Ethnografische Einblicke in den profanen Verpflegungsalltag von Bildungsinstitutionen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Schütz, Anna (2015), Schulkultur und Tischgemeinschaft. Eine Studie zur sozialen Situation des Mittagessens an Ganztagsschulen, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Tull, Marc (2014), Zeit zu essen!? Ein ethnografischer Blick auf den Umgang mit Zeit in Essenssituationen des Elementar- und Primarbereichs, in: Nahrung als Bildung: Interdisziplinäre Perspektiven auf einen anthropologischen Zusammenhang, hg. v. Birgit Althans, Friederike Schmid und Christoph Wulf, Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 164-174. Zinnecker, Jürgen (2001), Stadtkids. Kinderleben zwischen Straße und Schule, Weinheim und München: Beltz Juventa.
Morgenkreis
In vielen Kindergärten, Kindertagesstätten und Grundschulen – seltener in den weiterführenden Schulen der Sekundarstufe – beginnt der gemeinsame Tag mit dem Morgenkreis, einem ritualisierten, räumlichen Arrangement mit gemeinschaftsbildendem Anspruch. Kinder versammeln sich am Wochenbeginn zum Montagskreis oder täglich zum Morgenkreis. Die Teilnahme ist für Kinder in Kindergärten oder Kindertagesstätten oft freiwillig, in der Grundschule meist verpflichtend. Mit dem Morgenkreis werden pädagogische Absichten wie die Förderung des sozialen Lernens und der Gesprächsfähigkeit von Kindern verbunden. Wenn auch der Morgenkreis in der pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Diskussion nicht unumstritten ist, gehört er doch für viele Kinder zum Alltag in pädagogischen Institutionen und für nicht wenige Erwachsene zu den biographisch erinnerten Räumen ihrer Kindheit. Die Einführung von Kreisgesprächen als pädagogische Methode gilt als reformpädagogische Innovation. Im Kreis sitzende Kinder bilden mit ihren Körpern eine Grenze nach außen, während ihre Blicke nach innen gerichtet sind. Durch diese Anordnung, die Teilung des Raumes in ein Drinnen und ein Draußen, wird zumindest vorübergehend Gemeinschaft hergestellt. Daher kann der Morgenkreis als eine pädagogisch initiierte Sitzordnung gelten, in der sich – anders als in einem frontal gerichteten Sitzarrangement – alle gut sehen, alle durch Blicke vernetzt sind und sich leicht aufeinander beziehen können. Wegen der gleichrangigen Anordnung der Plätze wird dem Morgenkreis daher zugeschrieben, dass er ein gleichberechtigtes Miteinander in heterogenen Kindergruppen erlaubt. Zugleich werden im Kreis auch alle Beteiligten, Kinder und die im Kreis sitzenden pädagogisch Verantwortlichen, beobachtbar. Für Kinder entsteht im Morgenkreis ein situativer und performativer Erlebnisort, in dem sie institutionelle und peerkulturelle Herausforderungen erfahren und bearbeiten können. Im Kindergarten geht es insbesondere darum die Gruppe zu formen und zu stärken. Da die Kinder in Kitas zu unterschiedlichen Zeiten ankommen, wird mit dem Morgenkreis als Rahmen gebendes Ritual der gemeinsame Beginn des Ta-
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ges angezeigt. Nachdem sie zusammengerufen wurden, beginnt das Kreisgeschehen täglich mit Singen oder Kreisspielen in der Gruppe. Zu jahreszeitlichen Themen werden Geschichten vorgelesen und Erzählungen initiiert. Auch Geburtstage der Kinder werden im Kreis gefeiert. Manche Eltern lehnen den Morgenkreis im Kindergarten ab, weil er zu Zeitdruck am Morgen führt und Leistungsdruck auf die Kinder ausüben kann. Teilweise wird die Versammlung im Kreis als Pflichtprogramm empfunden. In der Grundschule wird dem Morgenkreis, im Kontrast zu Formen frontaler Instruktion, einen Beitrag zur Öffnung des Unterrichts zugesprochen. Im Kontrast zum individualisierten Lernen gilt der Morgenkreis als Beitrag zur Gemeinschaftsbildung. Dem Morgenkreis in der Grundschule, der im Folgenden im Zentrum steht, kommt eine Brückenfunktion zu, da hier der Übergang zwischen Schule und außerschulischer Lebenswelt gestaltet wird. Er soll Passungsprobleme zwischen Schule und außerschulischer Lebenswelt vermindern. Beobachtungen zum Ablauf des Morgenkreises an Grundschule lassen verschiedene Phasen erkennen. Die Eröffnungsphase, die entweder von einem Kind oder von der Lehrperson übernommen wird, verläuft oft stark ritualisiert. Es wird zum Beispiel ein Kreisspiel durchgeführt oder ein Begrüßungslied gesungen. Das Datum wird genannt und festgestellt, ob alle Kinder anwesend sind oder jemand fehlt. Danach geht es um Aktuelles wie die Würdigung eines Geburtstags, die Planung schulischer Ereignisse oder das Ansprechen von Gefühlen und Problemen. In der folgenden Erzählphase können die Kinder eigene Erlebnisse und Erfahrungen offen oder themenzentriert mitteilen; im Montagmorgenkreis stehen hier meist Erzählungen über Wochenendgeschehnisse im Zentrum. In der folgenden Arbeitsphase werden Unterrichtsgespräche geführt oder die Kinder können Arbeitsergebnisse präsentieren. Häufig stellt auch die Lehrperson neues Arbeitsmaterial vor oder erläutert Arbeitsaufträge. Zur Gestaltung des Ausklangs werden meist Abschlussrunden, Stilleübungen oder musikalische Beiträge gewählt. Der Ablauf wird durch Regeln zur Bildung (zum Beispiel tischweise), zur Leitung (zum Beispiel die Moderation bestimmter Phasen durch ein Kind) oder zum Gesprächsverlauf (zum Beispiel kein Kind muss sprechen) bestimmt. Der Morgenkreis kann unterschiedlich konzipiert und genutzt werden. Beobachtungen an Grundschulen ergaben, dass lehrer- und kindzentrierte Gestaltungsvarianten unterschieden werden können. In letzteren stehen die Themen der Kinder im Vordergrund. Kinder organisieren hier die Bildung des Kreises, sie können ihre Plätze frei wählen, vergeben das Rederecht und haben hohe Redeanteile. In lehrerzentrierten Kreisgesprächen bestimmen vorwiegend die Lehrpersonen, wer das Wort erhält und worüber gesprochen wird. Sie entscheiden über die Sitzord-
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nung im Kreis, haben hohe Redeanteile oder kommentieren die Beiträge der Kinder. Von vielen Kindern wird der Morgenkreis in der Grundschule, wenn er partizipativ gestaltet ist und sie sich in der Gruppe anerkannt fühlen, positiv bewertet. Sie schätzen die Zeit, in der sie zusammensitzen, von sich erzählen oder von den anderen Kindern hören können, was diese interessiert und was diese denken. Aber es gibt auch Kinder, die den Morgenkreis ablehnen, weil sie ihre privaten Erfahrungen und Erlebnisse nicht mitteilen wollen, sich scheuen in der Klassenöffentlichkeit zu sprechen oder den Kreis als ermüdend erleben. Andere Kinder treten sicher im Morgenkreis auf, wenn sie das Wort erhalten und im Mittelpunkt des Kreisgeschehens stehen. Der Morgenkreis kann Kindern also Raum für Aktivität und Geselligkeit, aber auch für Zurückhaltung, Passivität und Langeweile bieten. Wenn Kinder in der Erzählphase eigene Inhalte in den Morgenkreis einbringen, sprechen sie meist über Erlebnisse und Beziehungen in den Handlungsbereichen Familie, Freundschaften, Tiere, Körper, Spiel, Freizeit und Medien. Themen wie zum Beispiel Besuche, Feiern, Fußball, Medienfiguren, Ausflüge, Missgeschicke oder Streiche erlangen Platz im Unterrichtsgeschehen. Im Morgenkreis erhalten die Beziehungen der Gleichaltrigen, ihre Freundschaften und Konflikte einen Raum. Auch Phantasien oder Wünsche können zur Sprache gebracht werden. Kinder nutzen den Morgenkreis in der Grundschule durchaus für eigene Themen und es werden dabei nicht selten auch Fragen von Differenz und Gleichheit, Werden und Wachsen, Freude und Schmerz, Leben und Tod, Gut und Böse oder Öffentlichkeit und Privatheit erörtert. Manchmal sind die Schülerinnen und Schüler bemüht, den Beginn des folgenden Unterrichts hinauszuzögern, weil der Morgenkreis häufig noch nicht als Unterricht empfunden wird. Was in der Runde passiert, ist zwar pädagogisch vorstrukturiert, doch erweisen sich die Kinder auch als soziale Akteure. Daher ist das Kreisgeschehen immer auch Resultat ihrer Handlungen oder von spontanen Ereignissen. Für die Kinder sind die Partizipationsmöglichkeiten im Morgenkreis mit diversen Herausforderungen verbunden. Sie spannen Beziehungsnetze auf und müssen sich auch als Akteure auf einer Bühne bewähren, wobei sie nach Anerkennung streben. Sie konkurrieren nicht selten um begrenztes Rederecht oder eingeschränkte Redezeit und rangeln um die Plätze im Kreis. Gemeinschaft und Differenz wird im Kreis von den Kindern alltäglich aufgeladen und in Interaktionen erzeugt, reproduziert, verhandelt und auch bearbeitet. Wenn zum Beispiel die Platzwahl im Morgenkreis den Schülerinnen und Schülern freigestellt ist, dann folgt diese bestimmten Mustern. Meist sitzen »beste Freunde« nebeneinander. Neben manchen Kindern bilden sich Lücken. Auch Geschlechterunterscheidung wird im
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Kreis durch Platzwahl praktiziert. Jungen wählen lieber Plätze neben Jungen, während Mädchen Plätze neben anderen Mädchen bevorzugen. Die Lehrerin sitzt oft an der gleichen Stelle, nicht selten mit dem Rücken zur Tafel. Auch die Plätze neben der Lehrerin oder dem Lehrer sind von einigen Kindern begehrt. Der Blick aus der Vogelperspektive auf den Morgenkreis eröffnet also Einsichten in die sozialen Beziehungen von Schulklassen. Da der Morgenkreis klassenöffentlich stattfindet und sich alle Teilnehmenden sehen, zeigen und vergleichen können, bietet er mehr Raum für aufeinander bezogene Schüleraktivitäten als ein frontales Plenum, aber auch weniger Möglichkeiten, sich zu verbergen oder zu schützen. Wenn die Wortvergabe durch die Kinder erfolgt, streben sie danach, durch ihre Auswahl Beziehungen auszudrücken und zu festigen, weshalb im schulischen Kontext nicht selten Regeln für die Wortvergabe eingeführt werden (zum Beispiel Mädchen müssen Jungen aufrufen und umgekehrt; man darf nicht nur »beste Freunde« aufrufen; die Kinder sollen darauf achten, wer noch nicht »dran« war). Immer besteht ein Risiko, dass der eigene Beitrag nicht passend im Sinne des Statuserhalts, des Statusgewinns oder der Imagepflege in die Schulklasse eingebracht werden kann. Die Kindergruppe ist bemüht, Kriterien für – aus ihrer Sicht – gute und passende Beiträge zur Geltung zu bringen. Erlebnisse und Erfahrungen werden im Morgenkreis als Inszenierungen auf die Kreisbühne gebracht. Fast alle Kinder wissen, wenn sie sich schon länger mit ihren Klassen im Morgenkreis versammeln, welche Geschichten ankommen und wie Pointen gestaltet werden müssen. Dennoch gibt es erfolgreiche und weniger erfolgreiche, geschickte und weniger geschickte Erzählerinnen und Erzähler. Teilweise wird der Morgenkreis auch genutzt, um zwischen Kindern bestehende Konflikte zu besprechen, was problematisch sein kann, wenn bei einer klassenöffentlichen Konfliktklärung Situationen entstehen, in denen das Risiko, vorgeführt, bloßgestellt und gedemütigt zu werden, besonders hoch ist. Was im Morgenkreis thematisiert wird, kann starke Gefühle bei den Kindern auslösen. Gleichzeitig müssen sie aber im schulischen Rahmen auch ständig um deren Kontrolle bemüht sein. Der Morgenkreis ermöglicht also einerseits die Erfahrung von positiver Zuwendung und Anerkennung durch die Gruppe, doch bietet die Beteiligung auf der Kreisbühne auch das Risiko der Beschämung und des Imageverlustes. Auch ergeben sich durch die räumliche Formation des Kreises und die damit verbundenen Blickverhältnisse Möglichkeiten der wechselseitigen Disziplinierung durch die Kinder im Vorführ- und Aufführraum. Was im Morgenkreis zur Sprache gebracht wird, steht zudem immer unter Beobachtung der Lehrperson. Die Kommunikation der Kinder ist mit der LehrerSchüler-Interaktion vernetzt, was für die Kinder zu spezifischen Handlungsan-
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forderungen zwischen Peerkultur und schulischen Ansprüchen führt. Sie müssen allgemeine Regeln im Morgenkreis einhalten, die je nach Lehrperson und Klasse unterschiedlich sein können. Andererseits müssen sie sich vor dem kritischen Blick ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler bewähren. Ihre Gesprächsbeiträge platzieren und adressieren die Kinder deshalb in einer Pendelbewegung zwischen den Regieanweisungen der Lehrerin und den Inszenierungsvorschlägen der Gleichaltrigen, zwischen den von der Lehrerin für wichtig erachteten Themen und den kinderkulturellen Themen, zwischen schulischen Anforderungen und den Normen der Kinderkultur. Als Schülerinnen und Schüler werden Kinder alltäglich vor die Herausforderung gestellt, in der Klassenöffentlichkeit des Morgenkreises und Klassenrats im Spannungsfeld zwischen schulischen und peerkulturellen Herausforderungen zu bestehen. Die Kinder müssen also sowohl auf der Ebene der schulischen Ordnung als auch peerkulturell kompetent agieren, während die Lehrpersonen im Morgenkreis vor allem auf ihre pädagogischen Absichten konzentriert sind. Als leiblich und sozial hergestellter Raum repräsentiert der Morgenkreis soziale Beziehungen und soziale Ordnungen im Rahmen der Grundschule oder des Kindergartens. Mit dem Morgenkreis wird in der Grundschule ein Übergangsund Zwischenraum zwischen Schulkindheit und außerschulischem Kinderleben gestaltet. Ihm kommt die Funktion eines Übergangsrituals zu, das Kinder zugleich zwingt und unterstützt, den Übergang in den Schulalltag und die Rolle der Schülerin oder des Schülers täglich zu vollziehen. Der Morgenkreis kann zudem als intermediärer Raum beschrieben werden, in welchem zwischen individuellem Erleben und sozialer Resonanz in der Gruppe vermittelt wird. Der im Morgenkreis entstehende relational-leibliche Raum vermag zu sozialisieren, indem mittels Sprache und sinnlich-symbolischer Interaktion eine Vermittlung zwischen Kind und sozialer schulischer Welt gestaltet wird. Im kommunikativen und konjunktiven Erfahrungsraum des Morgenkreises entstehen ferner intergenerationale Kommunikation und intragenerational geteiltes, konjunktives Wissen, was die probehafte Entfaltung biographischer Orientierungen und die experimentelle Suche nach habitueller Übereinstimmung verbindet. Die Kommunikation der Gleichaltrigen mit den Lehrer-Schüler-Interaktionen wird vernetzt und generiert so ein komplexes soziales Zusammenspiel von kommunikativer Interaktion und schulischen Strukturen, Werten und Anforderungen. Morgenkreise verfügen teilweise über starre, stark ritualisierte Abläufe und wirken disziplinierend. Bisweilen wird die Grenze zur Privatheit überschritten und es kommt auch vor, dass Lehrpersonen ihre Macht ausspielen und Kinder bloßstellen oder deren Erfahrungen entwerten. Die Blickverhältnisse im Kreis erzeugen auch virtuell Schutzlosigkeit und unterwerfen die Kinder der
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Sichtbarkeit. Häufig sind Formalisierungen und Routinisierungen zu beobachten, die den Umgang mit der Entgrenzung von Öffentlichkeit und Privatheit formal zu regeln versuchen. Wenn Morgenkreise einerseits Teilhabe versprechen und darauf abzielen Partizipation zu erproben, bleiben sie für Kinder andererseits eine durch pädagogische Dominanzstrukturen gekennzeichnete Lebenspraxis. Damit ergeben sich Möglichkeiten und Gefahren, weil Grenzen zwischen Kindern und Lehrkräften, zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen Schule und außerschulischer Kinderwelt aufgelöst erscheinen und eine Balance zwischen persönlicher und sozialer Identität zwar erprobt, aber auch zum Problem werden kann. Friederike Heinzel Literatur Bennewitz, Hedda und Michael Hecht (2017), Doing Privacy. Kreisgespräche in der Sekundarstufe, in: Konturen praxistheoretischer Erziehungswissenschaft, hg. v. Jürgen Budde, Martin Bittner, Andrea Bossen und Georg Rißler, Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 173-193. Diekhof, Mariele (2010), Faszination Morgenkreis, https://www.kindergartenpae dagogik.de/1058.html (September 2018). Heinzel, Friederike (2003), Zwischen Kindheit und Schule – Kreisgespräche als Zwischenraum, ZBBS 1, S. 105-122. Heinzel, Friederike (2004), Kreisgespräche – Versammlungen, die herausfordern, in: Unterricht, der Schülerinnen und Schüler herausfordert, hg. v. Dorit Bosse, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 101-121. Heinzel, Friederike (2016), Der Morgenkreis – Klassenöffentlicher Unterricht zwischen schulischen und peerkulturellen Herausforderungen. Pädagogische Fallanthologie Band 13, Berlin und Farmington Hills: Barbara Budrich. Magyar-Haas, Veronika und Melanie Kuhn (2011), Die Quadratur des Kreises? Formierungen von Gruppen und Machtverhältnissen in pädagogisch arrangierten Kreissituationen, Neue Praxis 41(1), S. 19-34. Mori, Midori (2010), Die »Dramaturgie« im Klassenzimmer. Das Ritual des Morgentreffens und Montagskreises in der japanischen und deutschen Grundschule. Eine qualitative Untersuchung, Münster: Waxmann. Purmann, Ernst (2001), Morgenkreis und Schulanfang. Das Beispiel der altersgemischten Eingangsstufe der Schule Vollmarshausen, Kassel: kassel university press.
Niemandsland
Von außen deutet nur ein kleiner Trampelpfad darauf hin, dass sich hinter dem Gestrüpp, den Brennnesseln und Disteln eine Gruppe von Kindern einen Spielraum geschaffen hat. Fünf Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren treffen sich täglich in einer Erdmulde, über die sich kuppelartig Gestrüpp ausbreitet. Der Eintritt Fremder wird durch eine Schranke, ein Brett in einer Astgabel, verhindert. Auch wir durften und wollten nicht ungebeten in diesen Raum der Kinder eindringen. Erst nachdem wir die Kinder an zwei Nachmittagen besucht hatten, uns vorgestellt und mit ihnen geklönt hatten, zeigten sie das nötige Vertrauen und waren bereit, uns in ihre »Höhle« zu führen. Die Kinder erzählen, dass sie hier wohnen und dass dies ihr eigentliches Zuhause sei. Bereitwillig zeigen sie ihre Zimmer zwischen Ästen und Zweigen. Mit der Einrichtung müssten sie noch bis zum nächsten Sperrmüll warten, dann wollen sie sich Möbel bauen. Bis dahin sammeln sie Müll und Geäst vom Boden und räumen auf. Viele der achtlos weggeworfenen alten Gegenstände werden von den Kindern umfunktioniert. Alte Nägel, aus Bauschutt gesucht, dienen in einen Ast geschlagen als Garderobe oder werden für den Bau von Tischen und Stühlen verwendet. Die Mädchen haben ein Beet aus Ablegern von Büschen angelegt, das sie regelmäßig wässern und pflegen. Voller Stolz zeigen sie ihren Apfelbaum. Von der diesjährigen Ernte ist nur noch ein Apfel übriggeblieben. Ortswechsel, fünf Minuten Fußweg durch das Niemandsland. Wiederum bieten Sträucher und Büsche recht guten Schutz vor den Einblicken der Erwachsenen. Vor uns steht ein dicht verzweigter Maulbeerbaum, etwa 300 Meter von den Wohnhäusern der Kinder entfernt. Hierin zeigt sich einerseits die nötige Distanz zum unmittelbaren Einflussbereich der Erwachsenen, andererseits ist das Elternhaus noch in Rufweite und die Umgebung vertraut. Aus solchen Bedingungen wachsen Kraft und Mut der Kinder, eine ihnen unbekannte und immer wieder auch geheimnisvolle Welt zu erkunden. Erst aus der Nähe entdecken wir das Baumhaus der Mädchen. Hier gibt es eine Haustür mit Briefkasten, eine Küche mit Kochstelle, ein Wohnzimmer mit Esstisch, Tischdecke, Blumentopf und Teppich. Der Stamm und einige Äste sind mit einem Blumenkranz, mit Schleifen und Bildern geschmückt. Die Mädchen haben Folien über die Bilder gezogen und sie so vor der Witterung geschützt. Jedes Detail der Einrichtung zeugt von Phantasie und Geschick, gleichzei-
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tig schlägt das Vorbild der elterlichen Wohnkultur und herkömmlicher Rollenmuster durch. Aus einem Schuhkarton ist ein weiterer Briefkasten entstanden. Liebevoll bemalt mit Herzen und Blumen, stellt er die »Schatzkiste« der Kinder dar – ein Aufbewahrungsort für besonders schöne Steine, gepresste Blumen, Briefe und die Abziehbildersammlung. In der Baumkrone ist aus Brettern, Nägeln, Decken und Tüchern eine »Butze« entstanden, in der es sich gemütlich leben lässt. Die Mädchen haben Dinge des Alltags zusammengetragen, sie umgedeutet und für ihr Spiel nutzbar gemacht. In dieser Umgestaltung spiegeln sich ihre realen Lebensumstände sowie ihre Vorstellungen und Wünsche. Im Schutz der Heimlichkeit wachsen Mut und Sicherheit, sich auf dieserart Spiel einzulassen. Umso mehr müssen wir dieser Intimsphäre der Kinder mit Takt und Respekt begegnen. Ganz anders stellt sich das Baumhaus der Jungen dar. Hier stehen konstruktive Elemente des Spiels im Vordergrund. Mit Hilfe einer gefundenen Säge sowie von Hammer und Nägeln aus dem Elternhaus haben die Jungen unermüdlich gezimmert und gehämmert. Es kommt ihnen weniger auf die detaillierte Ausgestaltung des Raumes an als auf das Auf- und Umbauen. Das Haus wird immer wieder verändert und ergänzt.
Die beiden von Annette Brandt und mir (vgl. Brandt und Daum 1994) beschriebenen Szenen sind in seltsames Terrain gebettet, in verlassene, vergessene, verwahrloste und etwas anrüchig erscheinende Orte am Rande der Stadt, an denen sich Kinder frei tummeln. In planerischen Bezeichnungen wie »Brachfläche«, »Baulücke«, »aufgegebenes Fabrikgelände«, »Ödland« oder »dysfunktionale Freiräume« (vgl. Heinemann und Pommerening 1989) ist dagegen kaum etwas von jener geheimnisvollen Ungewissheit, Unbestimmtheit und Unbeschwertheit zu spüren, von der die Atmosphäre der beiden Kinderszenen geprägt wird. Anzutreffen ist eine erstaunliche Leichtigkeit des Handelns und Seins der Kinder, die an die eigene Kindheit erinnert und zu exotischer beziehungsweise romantischer Verklärung förmlich einlädt. Doch soll im Folgenden kein arkadisches Idyll – etwa als sozialräumliches Gegenstück zu urbaner »Hektik«, »Zerrissenheit« und »Entfremdung« – entworfen werden. Vielmehr stellt sich die Frage, was diese hybridartigen, keiner Nutzung eindeutig zuzuordnenden Räume so bedeutsam für Kinder macht und worin ihre besondere Qualität hinsichtlich kindlicher Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse liegt. In der Wahrnehmung handelt es sich um ungenutzte, offensichtlich sich selbst überlassene Räume, um die sich niemand kümmert und die, so sieht es aus, auch niemandem gehören und daher frei verfügbar erscheinen – um Mountainbike zu fahren, den Hund auszuführen, einen Drachen steigen zu lassen oder sich zu verstecken, offen für allerlei Spiele, zum Verweilen und Lagern, bis hin zum Bauen von Hütten und Buden (vgl. Kowarik 1993, S. 9). Hierfür hat sich der Begriff »Niemandsland« eingebürgert, auch wenn Wolfram Nitsch im Post-
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skriptum bei Broich und Ritter (2017, S. 285 ff.) für ihn eine ausschließlich militär- und politikgeographische Konnotation beansprucht: »Niemandsland, das ist das Land, wo der Schorsch seine selbstgebaute Rakete zündete und wo die Anne ihren ersten Kuss bekam.« (Ullmann und Burckhardt 1981, S. 114) Während die kindliche Auseinandersetzung mit der Welt ansonsten durch Spielplätze, Kindergärten, Schulen und institutionalisierte Freizeiteinrichtungen in starkem Maße organisiert, strukturiert und funktionalisiert wird – und zwar in sozialer, räumlicher und zeitlicher Hinsicht –, sind Niemandsländer so ziemlich die einzigen allgemein verfügbaren Freiflächen eines Gemeinwesens, die niemandem verpflichtende Verhaltensnormen auferlegen. Niemand stört sich an dem, was die Nutzer dort treiben. Das Erscheinungsbild, hauptsächlich eine spontane Vegetation, legt potenziellen Nutzern nahe, dass auf diesem Gelände keine festgelegten Nutzungsansprüche und auch keine »Deutungsregeln« existieren (vgl. Heinemann und Pommerening 1989). Schilder wie »Betreten verboten!« sind eher selten aufgestellt. Falls doch, können sie meist folgenlos unbeachtet bleiben. Niemandsländer laden somit zu spontaner Interpretation und Improvisation ein, je nach gerade aktuellen Bedürfnissen der Nutzer, das sind Kinder wie auch Erwachsene. Wenn Kinder sich persönlich frei entfalten können, erfinden sie in ihren Spielen eigene Regeln und imitieren gern Erwachsene. Niemandsländer bieten hierzu ideale Voraussetzungen. Hier kann Neues und Abenteuerliches ausprobiert werden, hier haben Mutproben ihren Platz. Die Abwesenheit von Kontrollinstanzen kann Niemandsländer leicht zu Orten des Testens und Überschreitens von Grenzen machen: Rauchen von Zigaretten, Trinken von Alkohol sowie »erste erotische Erfahrungen, erster Konsum von Rauschmitteln, erste kriminelle Handlungen etc.« (Broich und Ritter 2017, S. 59), bisweilen verbunden mit harmlosen bis gesetzwidrigen Cliquen- beziehungsweise Bandentätigkeiten. Es wäre allerdings nicht vertretbar, hierin generell problematische oder negative Spielräume für Heranwachsende zu sehen. Das Niemandsland ist freilich auch geeignet und offen für allerlei »Allegorisierungen, die es zum verlorenen, unwiederbringlichen Paradies der Kindheit […] machen« können (ebd., S. 69). Doch jenseits dieser Gefahr bleibt die eminent wichtige Funktion von Niemandsländern für Praktiken der Raumaneignung festzuhalten. Das heißt: Räume sind nicht einfach da, sie werden erlebt und gelebt, gemacht und kommuniziert. Da kindliche Sozialisation nicht als passiv-hinnehmender Vorgang, sondern als konstruktiv-handelnde Auseinandersetzung mit der Umwelt zu verstehen ist, brauchen Kinder ausreichend Gelegenheit, sich Realität selbständig anzueignen, sie mit anderen und für andere zu verarbeiten und sie auch handelnd zu verändern. Kinder haben Anspruch auf ein eigenes Leben mit weitreichenden sozial-
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räumlichen Konsequenzen (vgl. Daum und Werlen 2002). Bekanntlich geht der Trend in eine andere Richtung: Kindheit und Jugend sind durch Reduzierung von Eigentätigkeit, durch Zunahme der Erfahrung aus zweiter Hand sowie durch wenig spontanes, von Erwachsenen kontrolliertes Handeln gekennzeichnet (vgl. Daum 2006). Raumaneignung bedeutet dagegen, »sich den physikalischen (aber auch sozialen, geistigen) Raum handelnd zu erschließen, dass Orientierung, also Handlungsentwurf und -realisation, in ihm möglich ist« (Kruse und Graumann 1978, S. 187). Allerdings sind es nicht die physisch-materiellen Raumstrukturen, die menschliches Handeln und Verhalten determinieren, »sondern die Bedeutungen und Wertigkeiten, die Menschen bestimmten Strukturen und Orten attribuieren, legen auch das ihnen entsprechende Verhalten nahe« (ebd., S. 190). Räume werden über Kommunikation beziehungsweise Handlungen hergestellt, es geht um Praktiken der räumlichen Wahrnehmung und Deutung, kurz: um die geistigen Konstruktionsleistungen der sozialen Akteure über den Raum. Das greift anthropologisch weit tiefer als eine nur physisch-materielle Inbesitznahme von Räumen, es impliziert das Herstellen von Heimat, einem Milieu der existenziellen Selbstvergewisserung (vgl. Daum 2015). Da Kinder nicht bloße Opfer ihrer Verhältnisse, sondern in erster Linie kreativ handelnde Subjekte sind, heißt Raumaneignung immer auch ein Umdeuten, Verändern und Umfunktionieren der Umwelt. »Die Aneignung des Raumes ist das Resultat der Möglichkeit, sich im Raum frei bewegen, sich entspannen, ihn besitzen zu können; etwas empfinden, bewundern, träumen, etwas kennenlernen; etwas den eigenen Wünschen, Ansprüchen, Erwartungen und konkreten Vorstellungen gemäßes zu tun und hervorbringen zu können.« (Chombart de Lauwe 1977, S. 6) Das Vorhandensein quasi natürlicher, veränderbarer Strukturen begünstigt komplexere Handlungsabläufe und schöpferisches Spiel. Im Niemandsland, das voller Geheimnisse steckt, machen Kinder ihre ureigenen Erfahrungen mit Feuer und Wasser sowie mit der Natur, was Ulrich Gebhard (vgl. 2013) anhand zahlreicher Studien eindrucksvoll belegt. Ein großer Teil der beobachteten und aus Spuren abgelesenen Aktivitäten kann als Naturerleben aufgefasst werden. Hierunter lässt sich »die geistige, sinnliche und körperliche Aneignung von Natur«, also das Betrachten und Beobachten, Riechen, Schmecken und Anfassen, Genießen, Erforschen und Begreifen verstehen (Kowarik 1993, S. 10). Derlei Areale sind nicht von ungefähr auch Rückzugsgebiete von Tieren und Pflanzen. Häufig verbindet sich der Artenreichtum von Niemandsländern mit dem Vorkommen seltener und gefährdeter Arten der »Roten Listen«. Die Spiele der Kinder in und mit der Natur führen zu Beobachtungen, die Interesse wecken und zu weiteren Entdeckungen Anlass geben. So kommt den Kindern überraschend vor, dass zum Beispiel ein in den Boden gesteckter Stängel als Ableger seine Wurzeln
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schlägt. Die Schleimspur einer Schnecke erweckt nicht etwa Ekel, sondern unbändige Neugier und Forschergeist. Das Erleben von Naturphänomen wie Ameisenstraßen, Vogelnestern oder Springkraut schärft den Sinn für umsichtiges Verhalten und Schutzbedürfnisse. Solche Möglichkeiten zu aktiver, gestalterischer Auseinandersetzung mit einer naturgeprägten Umwelt, die ansonsten in urban verdichteten Räumen kaum gegeben, aber für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen von entscheidender Bedeutung sind, bieten Niemandsländer in Hülle und Fülle und erleichtern so ihre Aneignung. Indessen können Niemandsländer von heute auf morgen verschwinden, wenn zum Beispiel Investoren zuschlagen und sie unversehens in Baugebiete verwandeln, in aufgeräumte Viertel mit Reihenhäusern, Zierrasen, Gabionen, Kiesbeeten und allerlei exotischen Gewächsen. Niemand fragt, was aus den Kindern der Niemandsländer wird. Kann es Ersatz oder Kompensation geben? Nach Roger Hart (vgl. 1979, S. 38) sollten Planer in der Nähe von Wohnungen kleine Flächen unberührt belassen, auch wenn das ihrer Berufsauffassung zuwiderliefe. Zweifel seien jedoch erlaubt, dass sich ein Hauptmerkmal von Niemandsländern, nämlich der Reiz des Ungeplanten, Spontanen, Zufälligscheinenden und Undefinierten, durch planerische Eingriffe herstellen lässt. Technokratische Planungsperspektiven tun sich schwer, Werte zu erfassen, die sich nur den Raumnutzern selbst offenbaren und von ihnen geschätzt werden. Man kann froh sein, dass sich das ehedem eindeutig negative Image von Niemandsländern – Verwahrlosung, Unordnung und leibhaftigem Chaos – seit dem Aufschwung der Umweltbewegung gewandelt hat (vgl. Kowarik 1993, S. 3). Inzwischen sind sie als wertvolle Biotope innerhalb der Stadt anerkannt. Einerseits als wahrhaft »freie« Räume, in denen Stadtbewohner – vor allem Kinder und Jugendliche – auch andere Aktivitäten als in öffentlichen Grünflächen entfalten können und andererseits als vielfältige Lebensräume für eine große Anzahl von Tier- und Pflanzenarten (vgl. ebd.) Wenn schon nicht neu planbar, dann könnten neuerdings wenigstens Bewahrung und Sicherstellung von Niemandsländern ins Auge gefasst werden. Ihren Ruf als städtebauliches Ärgernis haben sie längst verloren. Das Niemandsland ist zu einem Hoffnungs- und Möglichkeitsraum für neue Formen urbanen Lebens emporgestiegen. Immer deutlicher werden seine Potenziale zur produktiven Bewältigung moderner Herausforderungen des Lebens, auch als Ausstrahlung sozialräumlicher Praktiken hinsichtlich Vergnügen und Freizeit in die Gesellschaft hinein. Das Niemandsland tut seinen Nutzern rundum gut (vgl. Gebhard 2013, S. 112 ff.) und stellt nicht länger mehr nur das marginalisierte Andere der urbanen Moderne dar. Egbert Daum
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Literatur Brandt, Annette und Egbert Daum (1994), »Niemandsländer« – die geheimen Orte der Kinder, Die Grundschulzeitschrift 8(71), S. 51-53. Broich, Jacqueline Maria und Daniel Ritter (2017), Die Stadtbrache als »terrain vague«, Bielefeld: transcipt. Chombart de Lauwe, Paul-Henry (1977), Aneignung, Eigentum, Enteignung. Sozialpsychologie der Raumaneignung und Prozesse gesellschaftlicher Veränderung, arch+ 34, S. 2-6. Daum, Egbert (2006), Raumaneignung – Grundkonzeption und unterrichtspraktische Relevanz, GW-Unterricht 103, S. 7-16. Daum, Egbert (2015), Heimat als Ort? Heimat als Raum? Subjektive Sinnsuche und Weltkonstruktion aus geographischer Perspektive, Theologie und Glaube 105(6), S. 122-138. Daum, Egbert und Benno Werlen (2002), Geographie des eigenen Lebens. Globalisierte Wirklichkeiten, Praxis Geographie 32(49), S. 4-9. Gebhard, Ulrich (2013), Kind und Natur, Wiesbaden: Springer. Hart, Roger (1979), Children’s Experience of Place, New York u. a.: Irvington Publishers. Heinemann, Georg und Karla Pommerening (1989), Notizbuch 12. Struktur und Nutzung dysfunktionaler Freiräume, hg. v. AG Freiraum und Vegetation, Kassel. Kowarik, Ingo (1993), Stadtbrachen als Niemandsländer, Naturschutzgebiete oder Gartenkunstwerke der Zukunft?, Geobotanisches Kolloquium 9, Frankfurt am Main, S. 3-24. Kruse, Lenelis und Carl F. Graumann (1978), Sozialpsychologie des Raumes und der Bewegung, in: Materialien zur Soziologie des Alltags, hg. v. Kurt Hammerich und Michael Klein, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 177-219. Ullmann, Gerhard und Lucius Burckhardt (1981), Niemandsland – Stadtbrachen und wilde Gelände im Wohnbereich, in: Grün in der Stadt, hg. v. Michael Andritzky und Klaus Spitzer, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 110-115.
Pferderücken
Der Pferderücken ist ein ganz besonderer Ort. Nicht nur, aber vielleicht insbesondere für Kinder. Schon bevor sie ihn einnehmen, entfaltet er große Kraft. Denn die meisten Kinder des globalen Nordens erfahren die Begegnung mit dem Pferd zunächst in Form von (medialen) Repräsentationen. Diese sind großteils nicht kindspezifisch. Das Pferd ist Symbol der Sehnsucht des Menschen nach einer Verbindung zur Natur, die in literarischen und künstlerischen Darstellungen sowie mythischen Gestalten wie den Zentauren als symbiotischem Wesen aus Mensch und Pferd zum Ausdruck kommt. Und der Ort des Pferderückens symbolisiert die jahrhundertelange kulturelle Beziehung zum Pferd, dessen Eigenschaften sich der Mensch zu Diensten machte, um die Welt zu erobern: die Schnelligkeit in der Raumüberwindung, die Kraft in der Landwirtschaft und als
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»lebende Maschine« in den Städten des Industriezeitalters, die Wendigkeit im Krieg und die Sensitivität in der tiergestützten Therapie. Für das Pferdebild von Kindern sind vor allem Repräsentationen in Kinderbüchern und -filmen von Bedeutung. Seien es die zahlreichen Verfilmungen von Anna Sewells Klassiker »Black Beauty« (1877), sei es der »kleine Onkel« von Pippi Langstrumpf, seien es Blockbuster wie jüngst »Ostwind«. In diesem Film trifft die Jugendliche Mika auf dem Hof ihrer Großmutter den als unzähmbar geltenden Hengst Ostwind, lernt durch und mit ihm die Fähigkeit zu bedingungslosem Vertrauen und wortloser Kommunikation und erlebt magische Momente des sattel- und zäumungslosen Reitens. Ostwind verkörpert ein Geschöpf der »Natur«. Er steht damit vor allem für Freiheit von »Gesellschaft«: Freiheit von sozialen Zwängen und Regeln, die Teenager in Elternhaus, Schule und Gesellschaft erleben. Wie viele Jugendliche, kämpft auch das Pferd Ostwind gegen seine Einordung (in den Reitschulbetrieb). In der Beziehung zu ihm spürt Mika keine Erwartungen. Denn Pferde bewerten Kinder nicht, sie wollen sie nicht verändern und sie lassen sich nicht von ihrem Äußeren beeinflussen. Die Beziehung zu ihnen ist unmittelbar und gründet auf Vertrauen durch gemeinsames Erleben, nicht auf Konventionen und Regeln. Beim ersten Kontakt von Kind und Pferd haben Repräsentationen eher keine Bedeutung. Erst später, wenn es um das Erlernen des Reitens geht, kommen sie in Form von Körper-Ansprüchen wieder zum Vorschein. Spätestens dann erlebt das Kind den Pferderücken als einen Ort, der durch komplexe und widersprüchliche gesellschaftliche Einschreibungen, leibliches Erleben sowie körperbezogene Erwartungen gekennzeichnet ist. Um den Blick hierauf zu schärfen, greife ich im Folgenden auf Überlegungen aus der Phänomenologie zurück: Zum einen nutze ich die bereits von Edmund Husserl (1859–1938) getroffene begrifflichkonzeptuelle Differenzierung von Körper und Leib, nämlich einen Körper zu haben und ein Leib zu sein. Körper (abgeleitet vom lateinischen corpus) bezeichnet also eher das Materielle, das sichtbare und greifbare Objekt (wenngleich sozial geformt, wie zu sehen sein wird). Leib (vom mittelhochdeutschen Lip für Leben) hingegen bezeichnet das Lebendige, schließt also das Erlebte und Gespürte mit ein. Zum anderen verwende ich das Konzept »leiblicher Kommunikation« (Schmitz 2008) und übertrage es auf Mensch-Pferd-Begegnungen. Die erste Begegnung mit dem Pferd ist für das Kind (und auch für das Pferd) eine stark leibliche Erfahrung. Und zwar sowohl hinsichtlich des Erlebens von Welt als auch des Ausdrucks zur Welt. So vermittelt sich die Wahrnehmung vom Gegenüber leiblich – das Riechen des Pferdeatems (beziehungsweise des Kinderatems), das Erspüren von Fell, Mähne und Nüstern (beziehungsweise der Kinderhand), das Betrachten der jeweils anderen Bewegungen. Zugleich vermit-
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telt sich der Leib als Ausdruck zum Gegenüber und wird durch diesen erlebt – das Berochen-Werden im Pferdeatem, das Berührt-Werden von Nüstern, das Betrachtet-Werden im Ausdruck von Augen und Ohren. Auch die mit diesen wechselseitigen Wahrnehmungen verbundenen Gefühle – Freude, Angst, Scheu, Neugierde – sind der Sphäre des Leiblichen zuzuschreiben. Hier wird deutlich, dass der Leib stets die Grenzen des materiellen Körpers überschreitet. Der Phänomenologe Herrmann Schmitz bezeichnet dieses stetige Bezugnehmen auf die Umgebung als »leibliche Kommunikation«. Diese erleben Kinder mit dem Pferd unmittelbar bereits beim erstmaligen Sitzen auf dem Pferderücken – und zwar zutiefst raumbezogen. Denn das Kind verliert den Kontakt zum Boden. Es gibt die elementaren Funktionen der eigenen Beine (Stabilität und Fortbewegung) auf und überträgt sie auf die Pferdebeine. Dadurch verliert es schlagartig einen Großteil seiner räumlichen Orientierungs- und Bewegungsfähigkeit. Zunächst stellt sich dies beim Kind als Empfinden von Balanceverlust ein, sobald das Pferd den ersten Schritt macht. Balance stellt sich dann aber wieder ein, sobald das Kind sich an die Bewegungen des Pferdes anpasst. Und sein Gefühl von Kontrollverlust weicht wachsendem Vertrauen bis zum Gefühl der Geborgenheit, wenn es bemerkt, dass das Pferd sich so sorgsam bewegt, dass es nicht aus der Balance gerät. Nach und nach vermitteln sich dem Kind durch leibliche Kommunikation mit dem Pferd völlig neue Erfahrungen von Bewegung im Raum (Geschwindigkeit, Wendigkeit). Und es erlebt, dass das Pferd ebenso auf seine Bewegungen reagiert wie umgekehrt. Denn in jeder Geste, die der Mensch mit dem Pferd austauscht, ebenso wie in jedem körperlichen Austausch, zum Beispiel zwischen Pferdebauch und Schenkel, steckt immer die Gleichzeitigkeit des Sendens und Empfangens. Dies weitergedacht, bedeutet: Der Mensch sieht und spürt sich selber im Ausdruck und in den Bewegungen des Pferdes. Und andersherum! Schmitz definiert zwei Formen leiblicher Kommunikation, die »solidarische« und die »antagonistische«. Beide finden wir auch in der Kommunikation zwischen Mensch und Pferd. Finden sie eine gemeinsame »Sprache«, richten sie sich leiblich aneinander aus und synchronisieren ihre Bewegungen. Sie erleben »solidarische wechselseitige Einleibung«. Sprechen sie unterschiedliche Sprachen, ist die wechselseitige Einleibung »antagonistisch«. Das obige Beispiel macht den Unterschied klar. So kann sich das Kind auf dem Pferderücken der Bewegung des Pferdes hingeben und dadurch Balance finden (»solidarische Einleibung«). Es kann aber auch im Zügel die Lösung sehen und sich an diesem festhalten und ausbalancieren. Das bedeutet, dass es sich, vermittelt über die Zäumung, direkt am sensiblen Pferdmaul festhält und ausbalanciert. Hierdurch geht jegliches Potenzial an Synchronisierung von Bewegung unmittelbar verlo-
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ren (»antagonistische Einleibung«). Kind und Pferd erkennen sich in solch antagonistischer Einleibung als »Anderes« und nehmen den anderen Leib als Störung, vielleicht sogar Gefahr wahr. In der Praxis wechseln sich beide Formen solidarischer und antagonistischer Einleibung situativ laufend ab. Leibliche Kommunikation schließt nach Schmitz auch »Dinge, Halbdinge und Atmosphären« mit ein. Auch in der leiblichen Kommunikation zwischen Mensch und Pferd sind offensichtlich »Dinge« beteiligt, die geschaffen wurden, um die Kommunikation in einer bestimmten Weise zu vermitteln: Zäumung, Zügel, Sporen oder Sattel (die damit auch Ausdruck historischer Mensch-PferdBeziehungen und der darin eingelassenen Machtverhältnisse sind). Mensch und Pferd kommunizieren aber auch mit anderen Dingen wie Reitbahnbegrenzungen, Pylonen oder mit schmackhaftem Gras. »Halbdinge« wären dagegen zum Beispiel der Wind, den beide im Galopp erleben, und die Gerüche beim Durchreiten des Waldes. Und auch »Atmosphären« erleben Mensch und Pferd für sich selber und kommunizieren sie leiblich miteinander: Seien es die Atmosphären, die das Kind bei ersten Ausritt alleine in die Nacht spürt und sich dem Pferd mitteilen, sei es die Atmosphäre eines scharfen Windes, der weit Entferntes in die Nüstern des Pferdes trägt und sich dem Kind mitteilt. Intensive Erlebnisse wechselseitiger solidarischer Einleibung beschreiben Menschen häufig mit »vollkommener Harmonie« oder »blinder Verständigung«. Wie lassen sich aber Bilder wie »Eins-Sein« interpretieren, die für ganz besondere Momente im Gemeinsam-Sein gewählt werden? Angelehnt an den französischen Philosophen Merleau-Ponty könnte man solche Momente mit »Zwischenleiblichkeit« bezeichnen, als Momente, in denen aus dem permanenten Wechselspiel solidarischer Einleibung eine übergreifende, gemeinsame Leiblichkeit entsteht. Als etwas Neues, bei dem sich Pferd und Reiter im gemeinsamen Erleben mit dem anderen konstituieren und über gemeinsame Leibhaftigkeit eine intersubjektive Form von Identität entsteht. Diese Identität ist mit Schmitz »absolut«, da sie nicht als »identifizieren mit« aus einem Wechselspiel von Selbst- und Fremdzuschreibung entsteht, sondern auf affektiver Betroffenheit beruht. Momente von Zwischenleiblichkeit zerfallen nicht in die Seite des Pferdes und die Seite des Menschen und gehen mit völlig neuen Empfindungen einher. So kann in Zwischenleiblichkeit eine – auch physikalisch – neue, gemeinsame »Körpermitte« entstehen, die erspürt und neuer Bezugspunkt einer gemeinsamen Bewegung des Pferd-Reiter-Leibes werden kann. Studiert man die Reitliteratur, finden sich Beschreibungen von Zwischenleiblichkeit (anders benannt) in historischen wie aktuellen Aufzeichnungen bekannter Reitmeister, die auf dem Pferderücken den »Hauch der Ewigkeit« entdecken und den Ausgleich der »Horizontalität« des Pferdes und der »Vertikalität« des Menschen (vgl. De Oliviera
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2015). Einmal erlebt, sehnt sich der Mensch – und vielleicht auch das Pferd – nach solchen Momenten und der darin erfahrenen intersubjektiven Identität. Der Pferderücken ist physisch der Ort des Erlebens und – im medialen Diskurs – der Ort der Repräsentation dieser Sehnsucht und verschmilzt dort mit anderen kindund jugendspezifischen Repräsentationen, zum Beispiel im Untertitel des erwähnten Films: »Ostwind. Zusammen sind wir frei« (Hervorhebung R. P.). Gemeinsam-Sein mit Pferden wird jüngst ein besonderer Nutzen in der Therapie (vor allem bei Menschen mit Behinderung) und Pädagogik zugesprochen. Letztere Konzepte zielen vornehmlich auf Kinder und Jugendliche. Zum einen soll mit dem Pferd »schwer erziehbaren« oder straffällig gewordenen Jugendlichen die Rückkehr in ein »geregeltes Leben« ermöglicht werden. Dies ähnelt Ansätzen der pferdgestützten Resozialisation von Gefängnisinsassen in den USA (vgl. Pütz 2017): Die Jugendlichen übernehmen Verantwortung für andere Lebewesen und lernen, diesen zum Beispiel Halfterführigkeit beizubringen. Diese Zähmung der (Wild-)Pferde soll ihrerseits die zähmenden Jugendlichen zähmen, das heißt in die Gesellschaft zurückführen. Auch der eingangs erwähnte Film »Ostwind« enthält eine solche Botschaft der wechselseitigen Zähmung von Pferd und Kind: Mika kehrt zu sich selbst gefunden zu den Eltern in die Stadt zurück, nachdem Ostwind mit ihr auf einem Springwettbewerb brilliert hat. Andere Programme wie »Hippolini« richten sich explizit an Kleinkinder und zielen darauf – in Schmitz’scher Terminologie –, leibliche Kommunikation zu erlernen. Zunächst über Putzen, Streicheln und Kuscheln, später durch Spiele auf dem Pferderücken. Die Kinder erleben den Unterschied von antagonistischer und solidarischer Einleibung beziehungsweise werden zu deren Befähigung sensibilisiert. Gleichzeitig muss das Kind lernen, sich auf ein Gegenüber verantwortungsvoll einzulassen, was gerade in einem Alter, in dem Empathie noch nicht voll ausgebildet ist, eine sehr wertvolle Erfahrung ist. Sobald es an das Erlernen des Reitens geht, ändert sich die Kind-PferdBeziehung gemeinhin jedoch schlagartig. Übertragen gesprochen: Das KörperHaben tritt mit Macht auf und konkurriert mit dem Leib-Sein. Das Kind erfährt, dass sowohl an seinen Körper als auch an den Körper seines Pferdes Erwartungen gestellt werden, bestimmten »Körperbildern« zu entsprechen und die Körper diesen Idealen (durch Gymnastizierung, Ernährung unter anderem) anzunähern. Und zwar sowohl hinsichtlich der äußeren Form als auch der räumlichen Bewegung der Körper. Solche Körperbilder kann sich das Kind nur bedingt selber aussuchen, da sie sozial geformt sind – wie gesellschaftlich geprägte Schönheitsideale oder Vorstellungen über Merkmale »gesunder Körper«. So wird vom Pferdekörper erwartet, Bewegungen in einer definierten Form auszuführen (Schrittlänge, Biegung des Körpers, Stellung des Genicks etc.). Die-
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se Erwartung gilt für die Wettbewerbsreiterei ebenso wie für nicht kompetitive Reitweisen und bestimmt das Streben vieler Reiter. Zudem soll das Pferd hinsichtlich Bau und Muskulatur einen Körper aufweisen, der eine möglichst hohe Übereinstimmung mit einem Körperbild aufweist, das zum Beispiel in Bewertungsskalen auf Körungen oder Richtlinien von Zuchtverbänden entsteht und gefestigt wird – auch aber in Diskursen über »gesunde« Pferdekörper. Gleichermaßen erlebt das Kind seinen eigenen Körper als Ort der Einschreibung gesellschaftlicher Vorstellungen. Auch er soll spezifischen Körperbildern entsprechen (aufrechter Rücken, gerader Sitz) oder entsprechend geformt werden (Rücken anspannen, Absatz tief) – wenngleich manche dieser körperbezogenen Erwartungen auch leibliche Elemente enthalten (zum Beispiel »Haltung«). Gleichzeitig lernt das Kind, körperliche Bewegungen auszuführen, die den Pferdekörper ausrichten und/oder gymnastizieren sollen. Bei aller Leiblichkeit, die das Kind mit seinem Pferd erlebt, erfährt es Reitunterricht häufig als Forderung der Erfüllung von Erwartungen an den Körper. Das Kind erlebt hier eine Gleichzeitigkeit der zweifachen Disziplinierung, über die Formung des eigenen Körpers und über die Formung des Pferdekörpers. Reitunterricht ist damit nicht zwangsläufig eine leiblose und körperdominierte Angelegenheit. Grundsätzlich steht er aber vor einem fast unauflösbaren Dilemma. Denn »feines« Reiten erfordert (in Anlehnung an Hasse 2015), nahezu gleichzeitig sowohl als Akteur durch körperliche Signale die Situation des Reitens zu beeinflussen als auch als Patheur deren phänomenale Wirklichkeit zu erleben sowie beides bewusst aufeinander beziehen zu müssen. Vor allem die Seite des leiblichen Erlebens ist aber nur sehr begrenzt sprachlich explizierbar und damit schwer vermittelbar. Wohl auch deswegen ist die Reitliteratur voll von metaphorischen Leitsätzen (oder Versuchen, Reiten in Form atmosphärischer Bilder zu vermitteln). Darüber hinaus kann die Schulung leiblicher Kommunikationsfähigkeit im Unterricht je nach Reitphilosophie, Unterrichtskonzept und Reitlehrer*in als »belanglos« abgetan werden, als Technik fortgeschrittenen Reitens (re-)integriert werden (zum Beispiel im timing, der Synchronisierung reiterlicher Signale auf die Bewegungsabläufe des Pferdes) oder als »dialogisches Prinzip« (vgl. Thomas Ritter 2010) zentrales Element der Reitphilosophie sein. Letzteres kommt paradigmatisch in den Lehrsätzen der wohl führenden Reiterpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts, Nuno Oliviera (1925-1989) zum Ausdruck: »Versuchen Sie, mit der Zartheit Ihrer Hilfen Neugier zu erwecken.« Der Pferderücken ist für Kinder also zugleich Ort und Medium des Welterlebens. Und er ist Ort ambivalenter Erfahrungen. Auf ihm erlebt das Kind sowohl »Freiheit von Gesellschaft« als auch »Disziplinierung durch Gesellschaft«. Auf ihm erlebt es sowohl solidarische Einleibung und Glücksgefühle des Eins-Seins
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als auch die Andersartigkeit des Pferdes und das Scheitern von Kommunikation (bis zu schmerzhaften Erlebnissen des Kontrollverlustes beim Abwurf). Der Pferderücken ist Ort der Verzauberung und Entzauberung zugleich. Auch für das Pferd birgt das Gemeinsam-Sein mit dem Kind ambivalente Erfahrungen. Beobachtet man Pferde beim Grasen in der Herde, sieht man ihr Bedürfnis und Streben nach solidarischer Einleibung: Immer wieder richten sie ihre Körper aneinander aus, synchronisieren ihre Bewegungen und beziehen sich in ihrem Ausdruck aufeinander. Es gibt Indizien, dass Pferde auch im GemeinsamSein mit dem Menschen nach Befriedigung dieses Bedürfnisses solidarischer Einleibung streben. Oder dass sie zumindest offen dafür sind. Ihr Rücken ist für die Pferde aber nicht nur ein Ort, über den sie sich mit dem Menschen leiblich synchronisieren können, sondern auch ein Ort, von dem aus sie im Zweifelsfall Momente der Ausübung körperlicher Gewalt einleiben (müssen) – bis hin zur Unterdrückung, wenn Reiter Zwangsmittel einsetzen, um Gefühle von Herrschaft und Dominanz über ein anderes Lebewesen ausleben zu können. Hieraus erwächst auch eine grundsätzliche ethische Verantwortung. Wie alle Reiter, betrifft sie auch Kinder und Jugendliche sowie deren Lehrerinnen und Lehrer. Sie berührt die grundlegendste Frage: »Warum reite ich?«! Leibliche Kommunikation ist dann nicht mehr nur eine interessante Perspektive zur Analyse für Pferd-Kind-Beziehungen. Ihre Bewusstbarmachung könnte auch für das Lebewesen Pferd sensibilisieren und zu einem respektvollen Umgang beitragen. Robert Pütz Literatur De Oliviera, Manuel Jorge (2013), Der Hauch von Ewigkeit: Reiten als Weg in eine andere Dimension, Stuttgart: Franckh Kosmos. Hasse, Jürgen (2015), Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen, Freiburg im Breisgau: Karl Alber. Merleau-Ponty, Maurice (1966), Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter. Oliviera, Nuno (2016), Die Kunst des Reitens, Hildesheim: Georg Olms. Pütz, Robert (2017), Wildpferde in den USA, Geographische Rundschau 69(10), S. 46-51. Ritter, Thomas (2010), Klassisches Reiten auf Grundlage der Biomechanik, Schwarzenbek: Cadmos. Schmitz, Herrmann (2009), Kurze Einführung in die neue Phänomenologie, Freiburg im Breisgau: Karl Alber.
Ruhen
Nietzsche ließ einst den tollen Menschen in einem Aphorismus ausrufen: »Gott ist todt! Gott bleibt todt!« Damit konstatierte er einen Bruch, einen unüberbrückbaren Riss in der Geschichte, in der Kultur, im Selbstverständnis des Menschen. Denn – wohin gehört der Mensch, wie verortet er sich, wenn der einstige sinngebende »Horizont«, legitimiert durch den kulturstiftenden Glauben an einen christlichen Gott, verschwunden ist? Wenn die großen und die kleinen Ordnungen des bisherigen Lebens einfach weggewischt wurden? (Vgl. Nietzsche 2003a, § 125) Analog lässt sich heute ein Bruch, ein unüberbrückbarer Riss konstatieren – denn wo verortet sich der Mensch in der neuen digitalen Zeit und Flut medialer Informationen, in den unüberschaubaren Mächten von Big Data – in einer Welt, die scheinbar primär nur noch virtuell zu erleben ist und gelebt werden soll?! Der Imperativ der neuen Technologien stellt sich als sinn- und ordnungsgebender Modus des Zeit-, des Welt- und Kultur- sowie des Selbsterlebens dar, und prägt damit den Mikro- und Makrokosmos der Gesellschaft. Es ist keine neue Erkenntnis, dass die Technologien der universellen Digitalisierung enorme gesellschaftliche Auswirkungen haben. »Ein Arzt empört sich: Lasst die Kinder in Ruhe!« – Nervöse Unruhe, Schlaflosigkeit – »ADHS und ADS: Wenn Kinder nicht zur Ruhe kommen« – Medienkonsum, die Macht der sozialen Netzwerke – und das Tablet und das Smartphone sind die ständigen Begleiter! So liest man in großen Zeitungen – und bevorzugt in Newstickern aller Art. Eine große Erzählung der Unruhe, die den Nah- und den Fernbereich der Kindheit von heute konstituiert. Die neuen Technologien haben die Dimension und den Wert der Ruhe weggewischt – und was bleibt, folgt man den negativen Schlagzeilen, sind Ängste, die schwer zu greifen sind. Es ist nicht mehr neu oder überraschend, dass YouTube oder Instagram als (ehemals privates) Tagebuch des Jugendlichen genutzt werden, dass Erlebnis um Erlebnis nicht erlebt, sondern gepostet wird – gut war es, wenn die Likes es zeigen. Aufwachsen in der digitalisierten Gesellschaft,
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dies bedeutet universelles Sharing, nicht nur mit den Freunden von nebenan, sondern mit der ganzen Welt. Es bedeutet, sich verorten zu müssen, und zwar nicht nur oder nicht primär im vertrauten Zuhause, sondern im digitalen Glashaus, um nicht ausgeschlossen zu sein. Und dies heißt, sich zum informativen und informierten Produkt zu machen. Nietzsches Worte: »Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten« (Nietzsche 2003b, § 285) gelten heute mehr denn je. Es finden sich zahlreiche Studien über den Zusammenhang zwischen Hyperaktivität und Digitalisierung, obwohl hier nicht von einem einfachen UrsacheWirkung-Zusammenhang gesprochen werden kann. Diese Zeilen zeichnen ein düsteres Bild – worin die Möglichkeiten und der Nutzen der neuen Technologien nicht zu ihrem Recht kommen – sei es im Blick auf die Bildung, sei es im Blick auf die Weitung des geistigen Horizontes, sei es im Blick auf die neuen spielerischen Erfahrungsräume von Virtual Reality. Die digitalisierte Welt bietet durchaus Raum zum Chillen, wenn dazu jedoch durch eine optimierte Freizeit und Ausbildung keine Zeit bleibt, so bleibt als Grundphänomen bestehen: Die Gesellschaft hat das Ruhen verlernt und überträgt es auf ihre Kinder! Spricht man vom Ruhen, von der Ruhe, so tauchen allzu oft idyllische Kindheitserinnerungen im Gedächtnis auf, die je nach Generation vielleicht Bilder am heimischen Herd, am Lagerfeuer, am Esstisch mit Großmutter und Geschwistern, einen Spaziergang in der Natur mit dem Walkman auf den Ohren, oder auch einfach das gemütliche Bett mit dem Lieblingsstofftier in der Ecke formen. Das Ruhen wie die Ruhe verweisen auf vertraute Geborgenheit, auf Behaglichkeit, auf eine Unbelastetheit, die in den Wirren des erwachsenen Alltagslebens häufig schwindet oder verloren zu gehen droht. So soll – doch wenigstens in der Kindheit – noch Ruhe möglich sein, Zeit zum Zeitvertreib, zum Seele baumeln lassen. Im Blick auf den Rausch der Digitalisierung scheinen solche Räume nicht mehr gegeben, denn der neue Imperativ der Ruhelosigkeit durchdringt schon die Kindheit bis ins tiefste Mark. Jedoch schon 1935 schrieb der Philosoph Nicolai Hartmann (1935, S. 14): »Das Leben des heutigen Menschen ist der Vertiefung nicht günstig. Es entbehrt der Ruhe und Kontemplation, es ist ein Leben der Rastlosigkeit und des Hastens, ein Wetteifern ohne Ziel und Besinnung. Wer einen Augenblick stille steht, ist im nächsten schon überholt.« Das Phänomen der ruhelosen, gehetzten Gesellschaft und deren moralisch bedenkliche Implikationen scheinen also gar nicht so neu zu sein. Auch wenn sie sich heute phänomenal anders zeigen, so lässt sich deuten, dass strukturell jeder Menschenzeit die Spannung zwischen Ruhe und Unruhe inne wohnt. Und wo die Ruhe fehlt, da macht sich Sorge breit! Warum? Weil die typischen Bilder der
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positiven Kindheitserinnerungen, der Geborgenheit, der Ruhe, des müßigen Verweilens, so nicht mehr in der Kindheit gestiftet werden? Weil Kindheit geflutet ist beispielsweise vom Spiel blutiger Games und die reifenden Persönlichkeiten dadurch abstumpfen? Der Fragen gäbe es noch viele zu stellen, konstatieren lässt sich jedoch auch heute noch in Hartmanns Worten: »Das Leben der heutigen Menschen […] entbehrt der Ruhe« (ebd. S. 14) – und das schon in Kinderzeiten. Was hat es mit dem Phänomen des Ruhens auf sich? Die Ruhe, das Ruhen, sich ruhen, sich ausruhen, jemanden in Ruhe lassen, die Ruhe vor dem Sturm, dies alles verweist auf Momente des Pausierens, des Erholens, vielleicht auch des Rückzugs aus äußerlichen Bedrängnissen, heute vielleicht auf das Ausschalten der digitalen Sinnflutwelten. Im Phänomen des Ruhens drückt sich philosophisch gesehen eine relationale Struktur aus, eine Beziehung beziehungsweise Bindung. Ruhe ist nicht einfach nur an einen Ort gebunden; in ihr drückt sich in philosophischer Sicht ein grundlegendes In-Beziehung-Sein des Menschen aus, das räumlich, zeitlich wie auch innerstrukturell zu deuten ist (vgl. ebd. S. 123).1 Räumlich gesehen ruht jemand irgendwo, es gibt Ruhewinkel – vielleicht zu Hause, vielleicht in der Natur, vielleicht im Urlaub, heute spricht man von »Ruheinseln« in der Kita – im letzten Sinn ruht man in der Grabesruhe sanft. In ihrer räumlichen Dimension verbinden sich mit dem Ruhen wie der Ruhe positive, aber auch negative Zuschreibungen. Positiv besetzt ist das Ruhen mit der Bedeutung von vertrauten, geborgenen oder auch geschützten Orten, an denen der Mensch inaktiv sein darf, sich Inaktivität gönnt. Negative Konnotationen werden der Ruhe zugeschrieben, sobald sie in ihren diametralen Verhältnissen zu Bewegung und Dynamik als »Starre, Stillstand oder auch Stagnation« (ebd. S. 123) gedeutet wird. Zeitlich gesehen führt das Phänomen der Ruhe bis heute in eine der Grundfragen der Philosophiegeschichte, nämlich die nach der erlebten, empfundenen Zeit im Unterschied zur mathematischen Zeit, deren Uhr unseren Lebensalltag zumeist und zu oft regelt und ordnet. Die mathematische Zeit vergeht gleichmäßig. Doch so erlebt der Mensch Zeit nicht. Verdeutlichen lässt sich dies am Beispiel der Langeweile. In der Langeweile ist nichts mit der Zeit anzufangen – eine gähnende Leere. Bei Martin Heidegger heißt es: »Wir suchen [in der Langeweile] irgendein Beschäftigt-Sein. Warum? Nur, um nicht in die mit der Langeweile aufkommende Leergelassenheit zu fallen.« (Heidegger 2004, S. 152) Das Beschäftigen in Zeiten der Langeweile erfüllt aber nicht. Und hiermit möchte auf das Ruhen im zeitlich verstandenen Sinne eingehen. Denn: »In einem zeitlichen Sinne verstanden meint Ruhe ›die Erfüllung der Zeit‹ […]. Der Mensch, der […] seine Ruhe findet, […] zeitigt […] sich entsprechend der in ihm liegenden eigenen Tendenz zu einem Sich-Binden. Die meßbare Zeit wandelt sich dergestalt in
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die Eigenzeit um, bei der der Mensch mit sich identisch ist, weil er sich auf solches ausrichtet, was er selbst ist und sein kann.« (Joisten 2003, S. 123) Das Ruhen, wie beispielsweise In-sich-Ruhen, oder die Ruhe als Zeit des Sich-Sammelns lässt sich nicht mathematisch qualifizieren. Ruhe ist hier positiv als erfüllte Zeit konnotiert. Der ständige Umgang mit den neuen Technologien von Seiten der Kinder, wie er sich aus der Perspektive der Erwachsenen darstellt, wird verstanden als leeres Beschäftigt-Sein, worin keine positiv erfüllte Zeit stattfindet. Von hier aus gesehen müsste gegenwärtig von einer Kindheit der Unruhe gesprochen werden, die weitreichende Konsequenzen hat, ebnet doch die Stimmung der Ruhe die Möglichkeiten des gelingenden In-Beziehung-Seins. Der Stimmung der Unruhe steht die innere Ruhe gegenüber, die Art von Ruhe, nach der der Mensch sich heute sehnt. Es ist diese Art von Ruhe, die als Defizit in den oben genannten Schlagzeilen durchscheint. Von der befürchtet wird, dass die Kindheit heute zu wenig davon hat, im ständigen Beschäftigt-Sein mit den digitalen Sinnwelten, dem zielorientierten Vorbereiten auf eine perfekte Zukunft hin. Es geht also nicht einfach nur darum, dass es zu wenige verordnete Ruhzeiten gibt, wie vielleicht Pausen oder strenger Smartphone-Entzug. Solche Verordnungen ersetzten nicht die der Ruhe innewohnende Eigenzeit, die jeweils subjektiv, persönlich unterschiedlich ist. Innere Ruhe kann man nicht verordnen – auch wenn wir mittlerweile in Zeiten leben, in denen diese trainiert wird – wie beispielsweise mit der neuen Kulturtechnik der Progressiven Muskelentspannung, die in ihrer leiblichen Dimension wiederum die räumliche Struktur des Ruhens mit ins Spiel bringt. Das Ruhen als zeitliches und räumliches Phänomen, und zwar im Sinne einer gelingenden Beziehung zur Eigenzeit und einer gelingenden leiblichen Selbstverortung kulminiert in der innerstrukturellen Dimension des Ruhens, die ein wichtiger Grundstein des Auslebens und des Ausbildens einer gelingenden, stimmigen und stabilen Beziehung des Menschen zu sich wie seiner Mit- und Umwelt ist. Phänomene wie Unausgeglichenheit, Gereiztheit, Konzentrationsschwierigkeiten, Stress, Gehetztheit und Hypernervosität häufen sich. Zu früh – denn der Burnout ist nur für Erwachsene vorgesehen. Vorwürfe gegenüber der Medienflut und dem social networking, die – so die Wertungstendenz in der Gesellschaft – zur Verflachung und Abstumpfung im Persönlichkeitsbild von Jugendlichen führen, findet man überall. Verpasst oder vermieden würden die Auszeiten, die so wichtig zum Heranwachsen sind. Dies mag alles stimmen, mehr oder weniger einseitig sein, oder nur graduell zutreffen. Verknüpft sind diese plakativen Meinungen mit dem Fehlen an Ruhe in ihrer relationalen Struktur des Sich-Bindens. Die sogenannte Auszeit in der
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Ruhe ist eine Zeit des Verarbeitens von Erfahrungen und Eindrücken, es ist eine Zeit des Zu-sich-Kommens. In der Ruhe bindet der Mensch die Weisen seines Zeitigens an sich. Auch spürt er beispielsweise körperlich die Erschöpfungen eines rastlosen Tages. Er kann sich nachspüren und hat dadurch die Möglichkeit, geistig wie auch leiblich, das Erfahrene an sich zu binden – wie auch neue Möglichkeiten in die Zukunft zu entwerfen – man erinnere sich beispielsweise an den Gedanken des »Muße-Habens«; dem Menschen »gelingt [im Ruhen] eine Weise der Zeitigung, bei dem er in einem ›freien Gebundensein an‹ sich offen nach Neuem ausrichtet« (ebd. S. 124). Geschieht dies nicht, verliert er sich, sein Selbstsein, im Äußeren, und wird – selbst noch im (schlaflosen) Schlaf – getrieben von seiner ruhelosen »Seele«, die nicht mehr bei sich ist. Innerstrukturell gesehen geschieht in der Ruhe ein gelingendes In-Beziehung-Sein des Menschen mit sich selbst, was jedoch nicht mit einer Isolation des Menschen von seinem Außen verwechselt werden darf. Denn eine dauernde Ruhe mündet in Stagnation und Stillstand. Die innere Ruhe ist philosophisch gesehen eine Stimmung, eine Befindlichkeit, die existenziell den Menschen in seiner Identität, in seinem Selbst-Sein und Mit-Sein, in seiner Persönlichkeit und konstanten Persönlichkeitsentwicklung (mit anderen) prägt. Die Frage ist also nicht primär, wo man sich ruht, sondern wie Ruhe geschieht. Gelingt die Beziehungsstruktur, so findet der Mensch sich im »Gefühl des Einsseins mit sich selbst« (ebd. S. 123). Beziehen wir all dies auf die Kindheit zurück. Anthropologisch gesehen ist ein Kind ein Mensch. Die hier in Kürze beschriebene philosophische Deutung des Ruhens trifft auf den Menschen insgesamt zu – für den Erwachsenen wie für das Kind. Die Gesellschaft hat das Ruhen verlernt – und überträgt es auf ihre Kinder! Es ist jedoch für die Kindheit insbesondere wichtig, denn die Gesellschaft von heute bietet nur noch Schlupflöcher des Ruhens. Allzu sehr wird der Wert des konstanten Beschäftigt-Seins – sei es mit dem Fernsehen, sei es mit den neuen Medien, sei es mit der Effizienz – in die Kindheit projiziert, eine Kindheit, deren Eigenzeit für all das Zukünftige unerlässlich ist. Die Kindheit ist eine Zeit des »Reifens« im besonderen Sinne, in der darauf zu achten ist, dass die Disposition zur Unruhe gelingende Bindung nicht außer Kraft setzt – in den Erscheinungsformen der Hyperaktivität, der Angst vor der Stille, des Unwohlseins mit sich selbst, des uferlosen Getrieben-Seins und der ständigen Suche nach Bestätigung durch ein (zu) Viel an Außen. Nicole Thiemer
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Anmerkung 1 In den philosophischen Ausdeutungen des Phänomens des Ruhens orientiere ich mich an den ausführlicheren Darstellungen bei Karen Joisten. Literatur Hartmann, Nicolai (1935), Ethik, Berlin und Leipzig: De Gruyter. Heidegger, Martin (2004), Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. Joisten, Karen (2003), Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie, Berlin: Akademie Verlag. Nietzsche, Friedrich (2003a), Die fröhliche Wissenschaft, München: dtv. Nietzsche, Friedrich (2003b), Menschliches, Allzumenschliches, München: dtv.
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In Tagebuch eines Babys beschreibt der Kinder-Psychoanalytiker Daniel Stern eine alltägliche Situation, wie sie ein rund viereinhalbmonatiges Kind namens »Joey« erleben könnte. Joey wird beim Brunch im Freundeskreis vom Vater so auf den Schoß gesetzt, dass er in den Raum schauen kann: »Ich reite mit Papa durch die Luft… […] Wir halten an und kommen zur Ruhe... Um uns herum fließt Musik von einer Person zur anderen. Auch Papa stimmt in die Musik ein. Sie vibriert gegen meinen Rücken. Er strömt sie aus und sie fließt davon, irgendwohin... Ich steige und sinke mit der sanften Brandung seines Atems... […] Die Musik ist wieder da und schwillt an. Sie eilt durch den Raum und zerbirst im Gesicht einer Frau. Mein Kopf wird zu ihr herumgerissen... Papa nimmt mich fester in den Arm, und ich fühle mich gleich besser.« (Stern 1991, S. 78 f.)
Die Gäste unterhalten sich – für das Kind fließt Musik umher – und eine Frau lacht schrill. Der Vater nimmt das erschrockene Kind fester in den Arm, und Joey fühlt sich gleich besser. Diese Szene illustriert auf fast poetische Weise einige der Dimensionen, die den Schoß für ein Kleinkind zu einem zugleich ermöglichenden und sinnlichen Ort machen. Der enge, durch das kindliche Körpergewicht sowie den Druck erwachsener Arme oder die gebeugte Haltung erzeugte Körperkontakt kann ein Gefühl von Wärme und Nähe stiften und zugleich die Grundlage für eine nuancierte Kommunikation schaffen. Doch über Sterns harmonische Inszenierung hinaus kann der Schoß auch zum Ort gewaltvoller Übergriffe werden. Kann das Kind sich wohlig in den Schoß fallen lassen, so kann es sich dort auch eingeschränkt oder bedrängt fühlen. Ob in positiver, negativer oder ambivalenter Weise, der Schoß ist für viele Kleinkinder einer der bedeutsamsten und prägendsten Räume sozialer Interaktion. In überzeichneter Form bringt das englische »lap child« dies zum Ausdruck: Mit diesem Ausdruck wird der Schoß (englisch: lap) gar zum essenziellen Merkmal eines Kindes, das noch nicht gehen kann.
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Anknüpfend an Sterns Beschreibung deuten sich drei Aspekte an, die eine Beschäftigung mit dem Schoß als Raum der Kindheit lohnend machen: ein praktischer, ein affektiver und ein subjektivierender Aspekt. Zunächst ist die durch eine Sitzhaltung geformten Zone eminent praktisch, kann doch eine Vielzahl von Tätigkeiten – von mimischer und lautlicher Interaktion, über Füttern und Spielen (etwa sogenannte »Schoßspiele«), bis hin zum Kontrollieren und Disziplinieren – besonders gut über den Schoß ausgeführt werden. Zweitens kann die gewölbte, »bauchig-schenklig« weiche Zone auch eine besondere Nähe stiften und dabei eine Reihe – positivere wie negativer – affektiver Intensitäten erzeugen. Und drittens kann die konkrete Art und Weise, wie sich praktische und affektive Dimensionen ausgestalten, die kindliche Subjektivität bereits in den ersten Lebensjahren prägen. Entscheidend ist dabei die Relationalität von »schoßgebender« und »schoßnehmender« Person. Denn auch erwachsene Subjektivitäten werden durch Schoß-Praktiken geformt. Um diese Facettenhaftigkeit des Schoßes als Ort, über den vielfältige soziale Verhältnisse hergestellt werden – von Formen heterosexistischer »Vermutterung« oder Vermännlichung über Verkörperungen von Höflichkeit und Moral bis hin zu postkolonialer »Modernisierung« – soll es hier gehen. Affektive Schoßbeziehungen Die kinderpsychologische Forschung liefert ein reichhaltiges Archiv affektiver Beziehungen, wie sie insbesondere – jedoch keineswegs ausschließlich – über den mütterlichen Schoß angereizt werden. So beschreibt der Psychoanalytiker Donald Winnicott ein Kleinkind, das den mütterlichen Schoß für eine längere Phase des Trauerns benötige, um eine Gemengelage intensiver Gefühle wie enttäuschter Liebe, Hass, Angst und Schuldgefühlen zu verarbeiten. Aber auch für ältere Kinder könne der elterliche lap, so Winnicott, einen affektiven Raum bieten, wo sie in kleinkindliche Beziehungsmuster zurückfallen können: »Your older boy is dressing up and bravely fighting enemies. He is ordering everyone about. He bumps his head on the table as he stands up and then suddenly he is a baby, with his head on your lap, sobbing.« (Winnicott 1987 [1964], S. 83) In Winnicotts Texten formt der elterliche Schoß so einen wesentlichen Teil des zugleich körperlichen und psychischen »holding environment«, das in der Folge von verschiedenen »Übergangsräumen« abgelöst werde. In eine ähnliche Richtung gehen die Bindungstheorien von John Bowlby und Mary Ainsworth, die affektive Bindung als evolutionär bedingtes Schutzbedürfnis verstehen – das besonders durch die »Mutterfigur« befriedigt werde. Ein wiederkehrendes Motiv ist in diesen Arbeiten die »secure base from which to explore«. Die »Basis«, die räumlich insbesondere im Schoß der Bindungsfigur verortet wird, wird als affek-
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tive Voraussetzung für eine schrittweise Öffnung des werdenden Subjekts gegenüber der Welt verstanden. In diesen Arbeiten wird die Bedeutung des Schoßes in der Ausgestaltung einer Vielzahl intersubjektiver Beziehungen sehr deutlich. Zugleich idealisieren diese Theorien aber gerade die Figur der Mutter und versuchen in universalisierendem Gestus »natürliche« Beziehungsformen für die Ermöglichung einer »gesunden« Entwicklung zu identifizieren. Können sie im Lichte dieser – nicht zuletzt von feministischen Psychoanalytiker_innen vorgetragenen – Kritik überhaupt zu einem besseren Verständnis des Schoßes beitragen? Nehmen wir diese Arbeiten nicht für bare Münze, sondern lesen sie als Teil eines historisch spezifischen Wissensarchivs, so können sie dies in zweifacher Hinsicht. Zum einen haben sich diese Ansätze an realen Praktiken orientiert und diese auch selbst geprägt – etwa durch therapeutische Techniken oder die Ratgeberliteratur. Insofern geben sie, anstatt ihrem universalistischen Anspruch gerecht zu werden, im Gegenteil Hinweise auf ganz konkrete affektive Schoßverhältnisse, wie sie im Kontext bestimmter Normen entstanden sind oder entstehen sollten. Zweitens haben diese Arbeiten aber auch eine Reihe affektiver Dynamiken identifiziert, die auch in anderen als den dyadischen oder triadischen heterosexuellen Familienkonstellationen vorkommen dürften. Semantik des Schoßes Die Einbindung von Schoßdiskursen in gesellschaftliche Verhältnisse zeigt sich bereits auf einer sprachlichen Ebene – insbesondere im Deutschen. Wie ein Blick in etymologische Wörterbücher zeigt, bezeichnete das mittelhochdeutsche Wort »schōʒ« noch den faltenreichen unteren, zum Knie herabhängenden, Teil der Rumpfkleidung, der von jedwedem Geschlecht getragen werden konnte. Daraus ergaben sich später die übertragenden Verwendungen für den vorderen mittleren Körperbereich einerseits und, in Abstraktion, für Formen des Bergenden, Nährenden und Schöpfenden andererseits. Dabei bildete sich die Verwendung des Wortes »Schoß« für »Leib der Frau« oder die Gebärmutter sowie die weibliche »Schamgegend« beziehungsweise Vagina erst ab dem späten Mittelalter heraus. In der Fokussierung auf den gebärenden »Mutterleib« wurde der weibliche Körper einerseits hypersexualisiert, zugleich jedoch entsexualisiert, wurde eine lustfähige Körperzone doch auf die Gebärfunktion reduziert. Diese sich in der Moderne weiter verdichtende Schoßsemantik kann als sprachliche Facette in der Herausbildung einer neuen normativen Geschlechterordnung verstanden werden, wie sie von Nancy Chodorow und anderen beschrieben wurde. Auch in übertragenden Bedeutungen, wie in der Formulierung »im Schoß der Erde« schwingt in
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der Folge diese vergeschlechtlichte Bedeutungsdimension mit. Wie stark sich die heteronormative Kodierung des Schoßes auch in wissenschaftliche Auseinandersetzungen hineinträgt, zeigt ein Blick in Werke wie die Monographie Geborgenheit des Psychologen Hans Mogel. »Das begehrteste Nest der Geborgenheit«, schreibt Mogel, »ist für den Mann wohl der Schoß der Frau.« (1995, S. 115) Der Autor kann hier bequem auf eine semantisch geformte Imagination Bezug nehmen, die seine Aussage geradezu natürlich erscheinen lässt. Nähern wir uns dem im Sitzen geformten Raum der Körpermitte daher mithilfe des deutschen Wortes »Schoß«, so kommen wir nicht umhin, die mit diesem Wort bezeichnete Räumlichkeit als historisch situiertes »materiell-semiotisches Knäuel« (Haraway) zu betrachten, in das – stärker als etwa im englischen »lap« – die vergeschlechtlichte Semantik eines nährenden und schöpfenden Mutterleibes eingeschrieben ist. Im Englischen fallen dagegen die verschiedenen mit »Schoß« gemeinten Bedeutungsdimensionen semiotisch auseinander: Bezeichnet »lap« eher die körperlich-praktische Zone auf den Oberschenkeln, so steht das Wort »womb« für »Schoß« im Sinne von Uterus. »Fold« wird dagegen als Übersetzung für Schoß im figurativen Sinn von »Heim« verwendet. Noch deutlicher werden die Unterschiede etwa im Türkischen, wo es für die mit dem Schoß gemeinte Räumlichkeit überhaupt kein passendes Wort gibt, und Wendungen wie »Jemanden auf den Schoß« nehmen am ehesten mithilfe des Wortes kucak umschrieben werden können – das jedoch »Umarmung« heißt. Gesellschaftliche Schoßpraktiken Dass auch für den britischen Psychoanalytiker Winnicott ein lap nicht gleich ein lap war, zeigt sich etwa an seiner Differenzierung zwischen lap und knee. Sitzen kleine Kinder in seinen Fallbeschreibungen häufig im lap der Mutter, so nimmt er diese als Therapeut auf sein knee. Inwiefern sich diese Differenzierung zwischen Schoß und Knie auch in unterschiedlichen Formen des Haltens manifestierte, lässt sich heute schwer rekonstruieren. Beide Wörter evozieren jedoch unterschiedliche affektive Beziehungen und Praktiken. Auch in der deutschen Sprache werden ja mit dem weniger weichen, weniger nah an der intimen Körpermitte gelegenen Knie eher dynamische Tätigkeiten wie »auf den Knien reiten« oder auch, gewaltvoller, »übers Knie legen« verbunden. Ist der Schoß eher weiblich kodiert, so kann gerade der Einsatz des männlichen Schoßes für Irritationen sorgen, worauf erziehungswissenschaftliche Forschungen hingewiesen haben. So zeigt Sargent (2000) in einer Studie mit USamerikanischen männlichen Grundschullehrern, dass das Auf-den-SchoßNehmen eines Kindes von deren sozialem Umfeld als sexuell konnotierte Grenzüberschreitung verstanden wurde. Spendeten hingegen Lehrerinnen Kin-
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dern durch Auf-den-Schoß-Nehmen Trost oder drückten Sorge und Liebe aus, so galt dies als »natürlich«. Einer der befragten Lehrer fasste diesen Unterschied so zusammen: »Women’s laps are places of love. Men’s are places of danger.« (Sargent 2000, S. 416) Anhand dieser geschlechterdifferenzierten Doppelkodierung des Schoßes wird deutlich, dass die Art und Weise, wie mit dem Schoß umgegangen wird, nicht nur für Kinder prägend ist, sondern auch erwachsene Subjekte formt – indem etwa den einen eine liebevolle und den anderen eine gefährliche Körperlichkeit zugewiesen wird. Insbesondere neuere kulturanthropologisch inspirierte Arbeiten haben aber auch gezeigt, dass es nötig ist, den Blick über die in den klassischen Theorien fokussierten triadischen Familienkonstellationen der Mittelschichten des Globalen Nordens zu erweitern. Bereits Ainsworth war in ihrer Forschung in Uganda aufgefallen, dass Kleinkinder zwar häufig im Schoß ihrer Mutter saßen, jedoch Besucher_innen in einer Höflichkeitsgeste immer wieder in deren Schoß übergeben wurden. Die Kulturpsychologin Barbara Rogoff hat zudem auf eine Reihe von Kontexten verwiesen, in denen ganze Communitys die Verantwortung für Sorge und Erziehung übernehmen: »Children have ›many laps‹ to sit in […].« (Rogoff 2003, S. 129) Die Autorin erwähnt aber auch Kontexte, in denen der weibliche Schoß während der Menstruation als unrein gilt und für Kinder dann unzugänglich bleibt. Dass gesellschaftliche Schoßpraktiken gar Ankerpunkte postkolonialer Modernisierungsprojekte sein können, zeigen Jeffery et al. (2005) in ihrem Aufsatz The Mother’s Lap and the Civilising Mission. Besonders in ländlichen Gebieten Indiens werde der Bildung »als rückständig konstruierte« Mütter seit der Kolonialzeit eine besondere Rolle in der Weitergabe von Formen von Wissen und sozialen Normen zugeschrieben. Viele muslimische und hinduistische Erzieher_innen bezeichneten daher den Schoß der Mutter als die »erste Schule« kleiner Kinder. In all diesen Fällen konstituieren sich kindliche und erwachsene (oder auch jugendliche) Subjektivitäten somit relational über spezifische, teils moralisch kodierte, Schoßpraktiken. Facettenreiche Affektspektren, multiskalare Schoßräume Der Schoß lädt in besonderem Maße dazu ein, den durch Schoße ermöglichten Denk-, Fühl- und Handlungsmöglichkeiten werdender Subjekte nachzugehen – wie im Falle von Lewis Carroll’s Alice, die das Haupt in den Schoß der Schwester legt, um von ihren Abenteuern im Wunderland zu träumen. Entgegen der idealisierenden Thematisierung von »Resonanz« (H. Rosa) in der gegenwärtigen Soziologie eröffnet ein stärker ethnographisch-machtsensibel ausgerichteter Ansatz zugleich den Blick für subjekt-räumliche Beziehungen, in denen das Wohlig-Bergende, »Resonante«, zugleich das Normativ-Subjektivierende sein kann.
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Geographische Arbeiten können dabei insbesondere für die wechselseitige Einfaltung unterschiedlicher Maßstabsebenen von Mikro bis Makro sensibilisieren. So evoziert der umfassende »Schoß der Natur« zugleich den intimen »mütterlichen Schoß«; »Abrahams Schoß« verweist auf »Gottes Schoß«; und der »Schoß der Stadt« könnte einerseits als »Übergangsraum« in Winnicotts Sinn gelesen werden oder andererseits als Synekdoche für den »Schoß der bürgerlichen Gesellschaft« (Marx). Derart multiskalare Schoßverhältnisse sind dabei weniger als ineinander verschachtelte Matrjoschka zu verstehen, denn als kontingente räumliche Konfigurationen, die für gesellschaftliche Verhältnisse selbst konstitutiv sind. Als »Raum der Kindheit« mit besonderer affektiver Intensität ist der Schoß somit ein immanent gesellschaftlicher Raum. Ethologische Forschungen laden darüber hinaus gar zur Erweiterung des Blicks über den menschlichen Tellerrand hinaus ein. So machte bereits Bowlby auf die Nutzung des mütterlichen Schoßes durch Schimpansenbabys aufmerksam. In Konrad von Würzburgs Die goldene Schmiede schlummert im Schoß einer Jungfrau gar ein Einhorn ein. Jan S. Hutta Literatur Jeffery, Patricia, Roger Jeffery und Craig Jeffrey (2005), The mother’s lap and the civilising mission. Madrasah education and rural muslim girls in western Uttar Pradesh, in: In a Minority. Essays on Muslim Women in India, hg. v. Zoya Hasan und Ritu Menon, New Delhi: Oxford University Press, S. 108148. Mogel, Hans (1995), Geborgenheit. Psychologie eines Lebensgefühls, Berlin und Heidelberg: Springer. Rogoff, Barbara (2003), The Cultural Nature of Human Development, Oxford und New York: Oxford University Press. Sargent, Paus (2000), Real Men or Real Teachers? Men and Masculinities 2(4), S. 410-433. Stern, Daniel N. (1991), Tagebuch eines Babys. Was ein Kind sieht, spürt, fühlt und denkt, München und Zürich: Piper. Winnicott, Donald W. (1987 [1964]), The Child, the Family, and the Outside World, Cambridge: Perseus Publishing.
Schreibtisch
Meist steht er in einer Ecke im Kinder- oder Jugendzimmer, ausgerichtet an einer geraden Wand des Raumes und so positioniert, dass seine Arbeitsfläche mit genügend Licht erhellt wird. Ein Schreibtisch strahlt Ordnung aus: konstruiert durch Symmetrien, gerade Kanten und Flächen; supplementiert durch Ablagen
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und Schubfächer hat alles seinen Platz. Gleichsam erzeugt der Schreibtisch einen Raum, der nicht mit ihm endet, sondern immer über ihn hinausgeht. Ist ein Schreibtisch ohne die gefüllte oder leere Position vor ihm zu denken, ohne Platz für einen Stuhl oder eine Sitzgelegenheit? Und überhaupt: Was ist ein Schreibtisch? Was macht ihn aus? Die allgemeinste Antwort muss lauten: seine Funktion. Ein Schreibtisch ist eben kein Esstisch und auch kein Beistelltisch. Seine genuine Funktion liegt vordergründig in der Ermöglichung der Tätigkeit des Schreibens, aber mehr noch: in der Arbeit, in der Ernsthaftigkeit, im Tätig-Sein selbst. Ein Schreibtisch ist in dieser Hinsicht wohl ein sonderbares Objekt in Kinderzimmern. Es fügt Strenge zu einem Zimmer hinzu, das als Ausdruck eines modernen Kindheitsverständnisses gesehen werden kann. Kinder sind in diesem Verständnis gerade als ein Gegenpol zur menschlichen Notwendigkeit von Arbeit zu verstehen. Kindheit in der Moderne ist eine Phase der Befreiung von Zwängen und der gleichzeitigen Anerkennung genau dieser Besonderheit. Dies spiegelt sich auch in der wohnlichen Umgebung von Familien wider. Das Kinderzimmer ist deshalb auch ein Raum der Privatheit des Kindes, der unproblematischen Unordnung von Spielzeug, Kleidung, Büchern usw. Ein Schreibtisch, dessen Notwendigkeit sich meist zu Beginn der Schulzeit für Familien erschließt, ist in diesem Sinne von symbolischem Charakter. Er ist als Gegenstand in Kinderzimmern selbst ein Ausdruck. Aber von was? Eine erste Antwort kann lauten: Er ist Ausdruck von Ordnung – einer Ordnung des Körpers und seiner disziplinierten Haltung, einer Ordnung der Gegenstände auf und in ihm, einer Ordnung seiner Form und einer Ordnung seiner Praktikabilität. Der Schreibtisch ist deshalb nicht nur »Erziehungsraum«, sondern auch »erziehender Raum« (vgl. Groppe 2013, S. 61). Eine zweite Antwort kann lauten: Ein Schreibtisch im Kinderzimmer verdeutlicht die Endlichkeit des »pädagogischen Moratoriums« (Zinnecker 2000), das die Kindheit selbst darstellt. Als ein solches Moratorium legitimiert die Freiheit der Kindheit von Arbeit und Reproduktion ihre Ausgestaltung als pädagogische Lebensphase. Der Schreibtisch verweist in diesem Sinne auf eine Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Zukunft. Auf der einen Seite geschieht an ihm das Lernen oder das Bearbeiten von notwendigen Verpflichtungen. Er zeigt das gegenwärtige »Noch-nicht« an, das Kinder im Erledigen von Aufgaben erleben. Es ist eben nicht das »Schon-Schreiben-Können«, weswegen ein Schreibtisch bereits Kinderzimmer ab der Einschulung oder davor strukturiert, sondern der Ausweis des »Noch-Zu-Lernenden«. Das Lernen gilt auf der anderen Seite immer auch einer Zukunft, auf die das Kind zusteuert und in der es nicht mehr von der Pflicht der Arbeit befreit ist. Für diese Zukunft ist es unabdingbar, dass wich-
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tige Dinge angeeignet oder erlernt werden müssen. In erster Linie ist dies das Schreiben. Darin aber manifestiert sich viel mehr ein Erlernen von Kulturtechniken. Das Schreiben ist Zeichen von Kulturalität und Zivilisiertheit. SchreibenLernen ist ein Moment der Sozialisation. Es geht um ein Können von Interaktions- und Kommunikationsformen, Schriftsprache, Ästhetik, Syntax und Grammatik. »Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben ...«, sagt Friedrich Nietzsche (2014 [1889], S. 78) und verweist auf die metaphysische Bedeutung der Sprache und ihrer Strukturen, die sich in der Produktion eines substantiellen »Ichs« verdeutlichen. Ein sich seiner selbst bewusster Mensch ist einer, der »Ich« sagen kann. Der Schreibtisch ist mit seiner allgemeinen Bedeutung als Raum des Schreibens Ausdruck der gesellschaftlichen Produktion einer Kindheit, die sich immer zwischen den Polen von Gegenwart und Zukunft bewegt. Genau in dieser Hinsicht unterstreicht er ebenso die Notwendigkeit von Sozialisationsprozessen wie die geforderte Eigenaktivität des Kindes in solchen Prozessen. Eine dritte Antwort auf die Frage, was sich im Schreibtisch ausdrückt, kann lauten: die Einbettung der Institution Schule in den familialen Raum. Nicht nur werden Schreibtische in der Zeit des Übergangs von der Kindertageseinrichtung in die Schule angeschafft, zusammen mit dem Schulranzen und manchmal einer Tafel imitieren sie einen Ausschnitt des Klassenraums im Kinderzimmer (vgl. Krinninger, Kesselhut und Kluge 2018, S. 144 ff.). Gab es zum Ende des 19. Jahrhunderts in bürgerlichen Wohnumgebungen oftmals eine Trennung zwischen Kinder- und Lern- beziehungsweise Schulzimmern (vgl. Groppe 2013, S. 67), ist dies heutzutage eher unüblich. Die Präsenz der Institution Schule ist über den Schreibtisch in das Kinderzimmer selbst eingeschrieben; und auch in andere Räume der familialen Umgebung, wenn etwa der Esstisch zum Schreibtisch umfunktioniert wird. Das elterliche Überwachen des HausaufgabenErledigens wird zur quasi-schulischen Ordnung. Das Öffentliche dringt in das Private ein, das Private wird öffentlich. Der Schreibtisch wird zur Schaltstelle zwischen den Institutionen. Jedoch kann gefragt werden: Wird der Schreibtisch in Zeiten von Ganztagsschulen und der Digitalisierung des Lernens zur Rarität? Wohnen wir dem langsamen Verschwinden des Schreibtischs als Ort der Ordnung, der Sozialisation und der Bindung des Familialen ans Öffentliche bei? Das ist nur eine Seite der Medaille. Denn eine Betrachtung des Schreibtischs als Ordnungsmoment geht davon aus, dass sich Menschen nahtlos den Funktionen von Dingen fügen. Mit Bruno Latour gesprochen, können Dinge jedoch auch »ermächtigen, ermöglichen, anbieten, ermutigen, erlauben, nahelegen, beeinflussen, verhindern, autorisieren, ausschließen und so fort« (ebd. 2007, S. 124). Keiner hat diese produktive Aktivität für den Schreibtisch wohl so deutlich ausge-
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führt wie Walter Benjamin. In seinem Text »Das Pult« beschreibt er einen starren Tisch, bei dem die Platte mit einem anmontierten, aber verstellbaren Sitzbalken verbunden ist. Es ist jedoch nicht die starre Form, die Benjamin zu seinem eigentlichen Thema macht. Er schreibt: »Oft war es, wenn ich aus der Schule kam, mein erstes, mit meinem Pulte Wiedersehn zu feiern, indem ich es zum Schauplatz einer meiner geliebtesten Beschäftigungen machte – des Abziehns zum Beispiel.« (Benjamin 1966 [1950], S. 111) Im Zuge der kreativen Tätigkeit des »Abziehns« – das aus den Ausführungen Benjamins mit dem künstlerischen Verfahren der »Dekalkomonie« verglichen werden kann und bei dem ein Blatt auf ein anderes, mit Farbe versehenes Blatt gepresst wird, um es dann wieder abzuziehen – verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie. Bilder werden erzeugt und erscheinen in einem kontinuierlichen Strom. Wird diese Tätigkeit langweilig, widmet er sich dem »Basteln an Heften und Schulbüchern« (ebd., S. 113). So verweigert sich Benjamin fortwährend der Tätigkeit, die eigentlich am Pult zu erledigen ist: den Schularbeiten. Statt als machtvolles und ordnendes Objekt zu erscheinen, wird das Pult an dieser Stelle zu einem anderen Symbol: »So hatte das Pult zwar mit der Schulbank Ähnlichkeit. Doch um so besser, daß ich dennoch dort geborgen war und Raum für Dinge hatte, von denen sie nichts wissen darf. Das Pult und ich, wir hielten gegen sie zusammen.« (Ebd.) Das Pult ist nicht nur ein Raum der Kreativität, es wird vielmehr zum Verbündeten im Widerstand gegen alltägliche und institutionelle Zwänge. Ein Antipode oder gar ein Antagonist zu Struktur und Ordnung – nicht in seiner Form, sondern in dem, zu was es ermutigt. Das ist die eigentliche Privatheit des Schreibtischs in einem Kinderzimmer. Der Schreibtisch ist ein Raum der Entfaltung. Er ist ein Raum der Fantasie im Schreiben von Texten, im Basteln, Malen, Gestalten, im Umbauen des Tischs zu einer Höhle oder einem Sprungbrett, im spielerischen Aufstellen und Bewegen von Figuren oder einfach im Nachhängen von Gedanken. Er ist in diesem Sinne auch ein Raum, an dem man immer wieder ins Denken kommen kann – in dem Moment, wenn man sich von den Anforderungen zu erledigender Aufgaben entfernt. Der Schreibtisch ermöglicht dann ein Denken, das sich im strengen Sinne formiert, wenn man keine Begriffe mehr hat, die noch irgendeine Stütze der Strukturierung der Gedanken liefern; ein Denken, das sich im Offenen bewegt und das ein »Reisen ohne Bewegung« ermöglicht (vgl. Deleuze 2002, S. 169 ff.; Deleuze und Guattari 1997, S. 668). Die Tätigkeit am Schreibtisch kann Ereignisse hervorrufen, die zum Denken führen oder fast gewaltsam dazu zwingen. In einem Augenblick schlägt die Notwendigkeit der Arbeit in die freie Assoziation und Träumerei um; in einem Augenblick folgen die Gedanken dem ziellosen Blick aus dem Fenster; in einem Augenblick wird das Bisher-Ge-
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glaubte außer Kraft gesetzt; in einem Augenblick verliert man den Boden unter den Füßen; in einem Augenblick wird alles anders – all das in einer Nische im Kinderzimmer mit genügend Licht. Der Schreibtisch konstituiert eben auch einen Raum, der nicht nur der Sozialisation und Kultivierung dient, sondern vielmehr auch individualisierenden Charakter in sich trägt. Und nicht nur einer sozial vermittelten Individualisierung liberaler politischer Ökonomien, sondern einer Individualisierung, die sich letztlich jederzeit abseits aller gesellschaftlichen Konventionen und Zugriffe bewegen kann. Er ist ein Symbol für eine Offenheit von Möglichkeiten, die für das Individuum bestehen bleiben. Eine Offenheit, in der sich nicht nur die nie einzuholende Fremdheit und Geheimnisumwobenheit manifestiert, die schon bei JeanJacques Rousseau mit der Kindheit verbunden waren, sondern auch eine Offenheit, von der gesagt werden kann, dass sich mit ihr die Potentialität, Eventualität und Fülle an Möglichkeiten der Welt ausdrückt. Am Schreibtisch über den Schreibtisch schreiben. Man kommt nicht umhin, in einer solchen Perspektive auch die Schreibtische von Kindheitsforscher_innen als Räume der Kindheit zu verstehen: Räume, an denen die Fremdheit der Kindheit sowohl ergründet werden soll, sich aber immer auch weiter fortsetzt. Der Schreibtisch der Kindheitsforscher_innen als Raum der Formgebung eines »Gegenstandes«, der selbst keine sinnlich zu erfahrene Form besitzt. Der Schreibtisch von Philippe Ariès, von dem aus der Historizität von Kindheit nachgespürt wurde und von dem aus Kindheit zu etwas wurde, das man in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit immer wieder untersuchen musste. Der Schreibtisch von Leena Alanen, von dem aus Kindheit als ein flexibles Differenzkonstrukt verstanden wurde. Räume der Sinngebung im Schreiben und Verstehen-Wollen dessen, was Kindheit ist. Schon die ersten ethnologischen Expeditionen fanden am Schreibtisch statt. Im Lesen und im Schreiben wurden ferne und fremde Welten durchschritten, erkundet, entdeckt und mit Sinn verknüpft. Zwar ist eine solche Exklusivität der Schreibtischarbeit in der Ethnologie heute selten geworden, doch gehört sie neben der Präsenz im Feld immer noch zu den Konstanten des Forschens. Auch Kindheit wird nicht nur in der Befragung und Beobachtung von Kindern zu einem wissenschaftlichen Gegenstand. Es ist der Schreibtisch, an dem man Kindheit entdeckt und versteht. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Kindheit gleicht dann einer Expedition in die Fremde, die irgendwie vertraut erscheint. Der Schreibtisch als Raum, an dem die Kindheit Sinn offenbart und findet. So ist auch für Kindheitsforscher_innen der Schreibtisch ein Objekt, das zum zivilisierten Arbeiten drängt und an dem man die Strenge der gesellschaftlichen Welt und ihrer Notwendigkeiten erfährt. Ein Schreibtisch, der an der Grenze
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zwischen Privatem und Öffentlichem steht. Ein Schreibtisch jedoch, der nicht nur Ordnung ausstrahlen, sondern auch im Chaos von Büchern, Papieren und Stiften versinken kann, und an dem man immer wieder selbstvergessen in Gedanken treibt. Ein Raum, an dem man sich ganz im Privaten aber auch den gesellschaftlichen Zwängen widersetzen kann, an dem man zum Denken gedrängt wird und an dem sich die Kindheit ihre kleineren und größeren Geheimnisse bewahrt. Markus Kluge Literatur Benjamin, Walter (1966 [1950]), Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Deleuze, Gilles (2002), Differenz und Wiederholung, Paderborn: Wilhelm Fink. Deleuze, Gilles und Felix Guattari (1997), Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve. Groppe, Carola (2013), Erziehungsräume, in: Mensch und Ding. Die Materialität pädagogischer Prozesse (= Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 25), hg. v. Arnd-Michael Nohl und Christoph Wulf, S. 59-74. Krinninger, Dominik, Kaja Kesselhut und Markus Kluge (2018), Schreibtisch. Maltisch. Abstelltisch. Empirische und theoretische Perspektiven auf die Materialität familialer Pädagogik, in: Dinge und Raum in der qualitativen Bildungs- und Biographieforschung, hg. v. Anja Tervooren und Robert Kreitz, Opladen u. a.: Barbara Budrich, S. 139-156. Latour, Bruno (2007), Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Nietzsche, Friedrich (2014 [1889]), Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. Kritische Gesamtausgabe Bd. 6, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: dtv, S. 55-160. Zinnecker, Jürgen (2000), Kindheit und Jugend als pädagogische Moratorien. Zur Zivilisationsgeschichte der jüngeren Generation im 20. Jahrhundert, in: Bildungsprozesse und Erziehungsverhältnisse im 20. Jahrhundert. Praktische Entwicklungen und Formen der Reflexion im historischen Kontext, hg. v. Dietrich Benner und Heinz-Elmar Tenorth, Weinheim und Basel: Beltz S. 36-68.
Schulbus
Schulbusse sind fahrende Orte. Ähnlich den Schiffen, lassen sie sich auch als Heterotopien verstehen – weit davon entfernt, nur zu sein, was sie zu sein scheinen: ultrabanal und gewöhnlich. Ihre im Alltags- wie im Fachwissen verbreitete Banalisierung spiegelt sich vor allem darin wider, dass ein Stichwort »Schulbus« (ähnlich wie »Schülerbeförderung«) in Lexika wie fachspezifischen Nachschlagewerken meistens fehlt. Schon diesseits abgründiger Spurensuche im Gewirr eines motivationspsychologischen Dickichts fokussierender wie ausblendender Denkstile und disziplintheoretischer Aufmerksamkeiten provoziert sich die Frage nach den Gründen des Übersehens einer im Leben zahlloser Kinder (vor allem aus dem ländlichen Raum) doch so existenziellen RaumZeit, die das regelmäßige Verfrachtet-Werden in Schulbussen bedeutet. Bedenklich ist diese erkenntnistheoretische Brache umso mehr, als sie viel weniger die abstrakte (Uhren-)Zeit betrifft als die gelebte Zeit (im Sinne von Minkowski) sich scheinbar endlos wiederholenden Pendelns. Die pathische Verwicklung in die spürbar dahinrinnende Zeit schreibt sich in die lebenslange Erinnerung ein und hinterlässt die imaginäre Kartographie einer facettenreichen Psycholandschaft überwiegend tumber Hin- und Herfahrerei. Jeder Schultag sogenannter Fahrschüler (wie sie im Jargon des Lehrerkollektivs genannt werden) beginnt mit dem Warten, setzt sich vor dem Rücktransport in einem neuerlichen Warten fort, bevor das immer gleiche Mobilitätsspektakel sein tagtäglich sich wiederholendes Ende findet. Ein Schulbus ist weit mehr als nur ein technisches Medium der Schülerbeförderung; er ist ein auf immersive Weise affizierendes Gehäuse, das in seinem indirekten Zwangscharakter stimmende Macht über Kinder und Jugendliche entfaltet. Das Fahrzeug Ein Schulbus kann viele Gesichter haben. Im engeren Sinne kommt es dabei gar nicht auf den Bus an, sondern das dem Zweck des Schülerinnentransports dienende Personenbeförderungsfahrzeug. Typische Schulbusse (Closed Shops für Bildungsaspiranten) sind sie dann, wenn sie mit einem amtlich normierten Schild
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durch den frühen Morgen fahren. Nicht selten sind sie – als dem öffentlichen Linienverehr nicht zugängliche Gefährte – eher Frachtshuttles als Personenfahrzeuge im engeren Sinne. Im öffentlichen Nahverkehr zerschlissene Busse »reichen« für die Schülerbeförderung oft noch Jahre. Der De-facto-Schulbus ist meistens jedoch ein Linienbus, den jeder benutzen kann. In der dünn besiedelten Peripherie fährt mitunter auch ein Kleinbus und in seltenen Fällen (wo Hase und Igel sich »Gute Nacht« sagen) sogar ein Taxi. Linien(schul)busse der Deutschen Bahn machen oft große Umwege, um im ländlichen Raum – gewissermaßen neben den Erfordernissen der Schüler-Beförderung – ein Minimum an öffentlichem Nahverkehr sicherzustellen. Wer den Linienbus als Schulbus benutzt, kommt in den Genuss von durchschnittlichem Sitz- und Fahrkomfort. Wen dagegen das Schicksal des »reinen« Schulbusses trifft, darf keinen Reisebuskomfort erwarten, weil diese Gefährte im Sinne des Wortes exklusiven Charakter haben. »Normale« Reisende würden freiwillig kaum in ihnen Platz nehmen. Schlagzeilen machen sie, wenn sie in Unfälle verwickelt werden und jemand zu Schaden kommt: »Schulbus kracht in Hauswand« berichtete der Westdeutsche Rundfunk am 21.02.2018 über eine Kollision mit einem PKW. Oft genug wird – allzumal in Zeiten elterlicher Überbehütung – der »Schulbus« individualisiert und personalisiert. Dann kutschieren Mütter ihre Zöglinge mit dem privaten PKW zur Schule. Das bedeutet nicht nur Pluralisierung von Fahrzeugen und Emissionen, sondern auch individualistische Inkubation und Privation. Die falsch verstandene Sorge mündet in die Einbettung der Schützlinge in eine quasi-häusliche wie vertraut-umfriedende Blasenwelt, aber eben auch in die Ausbettung aus dem Öffentlichen Raum einer fahrenden Welt für alle. Die normative Ordnung Busse werden nicht schon dadurch zu Schul-Bussen, dass sie in der Organisation des Zu- und Abflusses der Infanten einfach und effektiv nur funktionieren. In die bürokratische Welt kommen sie erst durch amtliche Weihe. Sie verkehren im Auftrag und auf Kosten der Schulträger, also der Landkreise und kreisfreien Städte – in aller Regel zu Beginn der ersten und zweiten Unterrichtsstunde, auf dem Rückweg nach einem ähnlichen Rhythmus, der an die lokalen Erfordernisse angepasst ist. Für die reinen Schulbusse werden zwischen Schulträger und Beförderungsunternehmen Standards ausstattungsspezifischer Eignung definiert, in Verträgen fixiert und in Satzungen festgeschrieben. Anspruch auf kostenfreien Transport haben Schüler der Allgemeinbildenden Schulen (von Sonderreglungen für andere Schulformen und Privatschulen abgesehen) nur dann, wenn die Entfernung zwischen Wohnung und Eingang der
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nächstgelegenen Schule der gewählten Schulform bei Kindern der Klassen 1-4 mindestens zwei Kilometer beträgt und bei denen der Klassen 5-10 mindestens drei bis (je nach Bundesland) dreieinhalb Kilometer. Bemerkenswert ist die für zumutbar gehaltene Pendelzeit pro Richtungsweg. Sie liegt für Kinder der Primarschulen bei 45 Minuten und für die Schülerinnen der Sekundarstufe I bei 60 Minuten. Die potentiellen Summen illustrieren ökologischen Wahnsinn wie höchst bedenkliche Verschwendung von Lebenszeit: Auf die Zeit der Primarstufe entfallen für viele Kinder 20.000 Schulbus-Kilometer, auf die Zeit in der Sekundarstufe noch einmal 100.000 (= 120.000 Kilometer). Der Umfang verfahrener Lebenszeit potenziert den Aberwitz: In zahllosen Kinderbiographien werden allein in der Grundschulzeit bis zu 1.500 Stunden und in der Zeit der Sekundarstufe (allein bis Klasse 10) noch einmal 5.000 Stunden transportbedingt in Bussen abgesessen (= 270 Tage eines Lebens). Die Zeit der Sekundarstufe II ist gegebenenfalls hinzuzurechnen, ebenso die Wartezeiten an der Haltestelle und die Zeit für die erforderlichen Fußwege. Der Bedarf nach einem geradezu massenhaften Kindertransport ist im Wesentlichen durch die »Innovation« jener Schulzentren entstanden, die vor allem in den 1970er-Jahren in rechnerisch zentraler Lage aus dem Boden gestampft worden sind. Die schnell errichteten, aseptischen Plastik-Architektur-Monster mit Fabrik-Charakter folgten dem Geist der Charta von Athen, wonach Menschen in funktionale Segmente gleichsam zerteilt worden sind. Die Schülerbeförderung gilt in diesem Sinne auch viel weniger Kindern und Jugendlichen, als »Lernern« (wie Schüler und Schülerinnen neudeutsch von Pädagogen gern genannt werden). Am Rande spiegeln solche abstraktionistischen Sprachspiele einen erbarmungslosen Maschinismus im Umgang mit »Humankapital« wider. Der passt ganz zur seelenloser Bürokratie und Praxis zeitgemäßen Schülertransports, der (verklärend und auf der Höhe szientistischer Sprachkultur) ganz »sachlich« auch als systemisch gebotene »Kinderkörper-Logistik« beschrieben werden könnte. Trajektologie Trajektologisch betrachtet ist der Schulbus ein mobiler Strang im zentralen Nervensystem einer apparativen staatlichen Kinderbeschulung. Im Prinzip ist er nur technisches Medium zur Gewährleistung regelmäßiger Stoffkreisläufe, in deren Sinnzentrum der systemerhaltende Tausch von kindlicher Kreativität, Phantasie und Unkonventionalität gegen gesellschaftlich standardisierte Skills wie die normalisierende Generierung des »Man« im Denken und Fühlen steht. Die trajektologische Einspannung des Raumschiffs »Schulbus« in ein Netz entfernter Orte hat eine metrische und eine mythische Dimension. Im tatsächlichen Raum
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geht die Fahrt von A nach B, in einer heterotopologisch rahmenden Welt der Mythen überhöht sie sich mit bildungspolitischem Gewicht, wonach nur gut und wichtig sein kann, was nicht vor der Haustür liegt wie die alte Dorfschule. Erst die raumzeitliche Hürde verleiht dem Ziel aller Pendelei Glanz und wahren Wert. Wie die Bedeutung touristischer Destinationen mit zunehmender Ferne größer wird, so auch der Rang einer Schule. Der Weg zum Ziel zieht daher auch nicht einfach nur eine Spur durch eine weiße, gleichsam bewusstlos »durchflogene« Zeit. Im leiblichen Aushalten mehr oder weniger großer raumzeitlicher Distanzen wird das bildungstechnokratische Frachtgut auf bevorstehende Bildungsperformanzen eingestimmt. Dabei kommt es auf keine intellektuelle Vorbereitung an, sondern auf die Einfädelung in die befindliche Sonderzone eines Übergangs, mag die gelebte Zeit nun von angstoder lustvoller Erwartung gefüllt sein. Jede Richtung des sich scheinbar endlos wiederholenden Mobilitätsdebakels unterliegt einer ganz eigenen Psychologie. Die Fahrtzeit am frühen Morgen – das Ereignis der Schulzeit noch vor Augen – hat einen anderen Vitalton als die am Nachmittag, wenn die Kette teils heiterer, teils finsterer 45-minütiger Belehrungs-, Anregungs-, Warte-, Stress- und Langeweile-Sequenzen in die fahle Erinnerung zurückzufallen beginnt. Am Morgen sediert noch der abgebrochene Schlaf, zugleich gewinnen dunkle Schatten vager wie befürchteter Erwartungen an Macht, mitunter auch leuchtend hoffnungsvolle Wünsche. Die Anfahrt ist die Zeit der informellen Gespräche, des Abschreibens vergessener oder nicht geschaffter Hausaufgaben, des Austauschs von Neuigkeiten aller Art, des Tratsches usw. Dagegen liegt über der Rückfahrt die halbwegs erleichterte Stimmung eines »Endlich geschafft« und »Vorbei«. Trotzdem schleppt sich die heimwärts gerichtete Passage zähl dahin – nun sprechen eher Wenige, die meisten exkludieren sich (gleichsam autistisch) im Verstopfen ihrer Ohren mit Kopfhörern und Betäuben ihrer Augen mit flirrenden Bildern, die auf Smartphone-Screens dahinrennen. Die amtlich inaugurierte Fahrt der Schulbusse bringt disparate Milieus mit je eigenen psychologischen Erregungskurven zur Synthese: Die gewohnte soziale Sphäre des Wohnens und die operative Systemwelt einer Institution. So er-fährt der Bus eine raumzeitliche Brücke zwischen zwei Welten – eine des informellen Zuhause-Seins und eine des formalen Aufenthalts in einer (Bildungs-)Anstalt. Dabei ist die Welt des Wohnens noch nicht einmal a priori das Bergende und Behagende und die Maschinenwelt der Schule das Kalte und Fremde. Noch die formale Sicherheit der Institution bietet sich im Falle dystopischer HeimspielDramen als kompensatorisch wärmendes Refugium regenerativer Ruhe und Entspannung an.
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Der Schulbus transformiert die individuell gelebte Zeit in eine zwangsläufig gemeinsame Zeit. Erfahren wird sie in der Dauer gelebter Zeit und einem Gefühl gestimmten Dahinlebens – entspannt anders als gespannt. Eigenartig ist auch das Verhältnis zum Raum, wird im Draußen der durchfahrenen Gegenden doch alles zur Kulisse. Wie in einem langweiligen Film läuft in einer sich wiederholenden Serialität alles Mögliche an verkratzten, blinden und mit Werbung überklebten Fenstern vorüber: Haltestellen, Bäume links, Höfe rechts, Kreuzung, Ampel, Kreisverkehr, Haltestelle, Krankenhaus usw. Die röhrenartige Raumkapsel verlangt die disziplinierte Unterwerfung unter eine Macht der Dinge. In einem halbwegs voll besetzten Bus kann man nicht herumrennen; die aus der Holzklasse der Billigflieger bekannte Enge der Sitze erzwingt nicht nur eine eigenartige wie typische Sitzordnung, sondern mehr noch eine Kompression der Extremitäten. Die so entstehende Raum-, Sozial- und Erstarrungsordnung stimmt (am Morgen) auf das Gebot der Institution ein – als Szenographie einer Schwelle zwischen zwei ganz unterschiedlich rhythmisierten Zonen. Die ritualisiertmobile und leere Zeit des Hin- und Her erweist sich als das heterotopologische Bindemittel zwischen einer realen Welt des Tagtäglichen und einer mythischen Welt der Belehrung und wohlfeilen Ausbildung, in der die Utopie substanzieller Bildung schon längst vergessen ist. Das Soziotop Nicht zuletzt ist das Gefährt ein hoch komplexes Sozialsystem. Es schreibt seine Spuren in die Biographien all jener Kinder ein, deren Schulleben das automobile Hin und Her verlangt. Aber die gelehrsamen Dauerpendler sind nur Ähnliche und nicht Gleiche, wenn sie von ihrem Fahrzeug auch zu einer Schicksalsgemeinschaft gemacht werden: Junge und Ältere, Kleine und Große, Dünne und weniger Dünne, Laute und Noch-Stumme, Gelassene und Zappel-Philippe, Ängstliche und Zornige; sie alle müssen (mehr oder weniger freiwillig) nebeneinander sitzen. Es gibt kein anderes Format im temporären Aufenthalt. Die Zwangsgemeinschaft wird durch den Fahrer ergänzt, der mal als stoischer Wagenlenker nur fährt, stoppt, Türen öffnet und wieder schließt, dann aber auch sich selbst ins soziale Feld seiner bewegten Fracht einfädelt. Immer öfter kutschieren auch Fahrerinnen. Die Chauffeure sind mitunter mehr, als was sie nur vordergründig tun – sie treiben rege Konversation, begrüßen und verabschieden viele (wenn auch nicht alle), die bei der Haltestelle »Post« oder »Leuchtturm« am Mittag oder Nachmittag wieder aussteigen. Wie in jedem räumlichen Sozialgebilde, so gibt es auch in Schulbussen Stammplätze – neben den »besten« auch solche in Ungunstlagen. Worin Präferenz und Missachtung begründet sind, dürfte sich mehr aus der Gewohnheit als
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aus irgendwelchen objektivierbaren Lage-Merkmalen erschließen. Dass es Quasi-Territorien gibt, bemerkt am ehesten, wer sitzt, wo er nicht sitzen sollte und nichts von heimlichen Belegungen und unausgesprochenen Reservierungen ahnt. Einzig die Pendler der Lebenshilfe, die mit den Schüler und Schülerinnen denselben (Linien-Schul-)Bus benutzen, geben einem das Falsch-Sitzen freundlichunmissverständlich zu verstehen. Ansonsten sind es eher versteckte Gesten beiläufiger Irritation, die sich im Anderswo-Platz-Nehmen spurlos verlieren. Zur Psycho-Topographie der Sitzplätze gehört das Aufeinandertreffen konträrer Welten: Da sind zunächst und vor allem die Bildungsaspiranten auf dem Weg zu ihren Nürnberger Trichtern (die Peergroups, die immer nebeneinander sitzen, die in der Nähe wohnen, die Solitäre, die beim Busfahrer oder ganz hinten sitzen wollen und viele andere). Daneben gibt es frei flottierende Reisende, die (schon weil sie in der absoluten Minderzahl sind und auf unvorhersehbare Weise »Stammplätze« belegen) mit gelassener Skepsis zur Kenntnis genommen werden, manchmal ein paar aus irgendwelchen Gründen Auffällige (Alte am Stock, Leute mit viel Gepäck oder Angetrunkene) und schließlich »systemfremde« Kohorten, die immer mitfahren und nicht mehr registriert werden müssen (Leute, die von einem Dorf zum nächsten wollen). Sie alle fügen sich für die Dauer der Passage (ganz oder für einen Streckenabschnitt) in provisorische Raumordnungen und meist intransparent erscheinende Nachbarschaftsbeziehungen ein. Gleichsam aus dem Nichts bilden sich im Inneren des merkwürdigen Raumschiffs atmosphärische Inseln des »Drinnen« und des »Draußen«. Im Nichts verlieren sie sich auch wieder – spätestens am Ende der Strecke. Ein Schulbus hat viel Ähnlichkeit mit einer Flussfähre. Auch mit ihr fahren immer dieselben (die Pendler) und zugleich immer wieder andere. Sie verkehrt zwischen zwei Ufern, die Anfang und Ende zweiter Welten bedeuten, welche in einem schicksalhaft spannungsreichen wie symbiotischen Verhältnis zueinander stehen. Beide sind sich ferner, als würde sie nur eine Straße oder ein Waldstück trennen, aber auch deutlich näher als läge ein ganzes Meer zwischen ihnen. Jürgen Hasse Literatur Minkowski, Eugène (1971 [1933]), Die gelebte Zeit I. Über den zeitlichen Aspekt des Lebens, Salzburg: Otto Müller. Westdeutscher Rundfunk (2018), Schulbus-Unfall in Dortmund mit 18 verletzten Kindern, www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/schulbus-hauswand-dortmund100.html (Februar 2018).
Schule
Vor einiger Zeit hatte ich einen Termin mit dem Schulleiter eines Berufskollegs. Ich kannte die Schule nur von den Darstellungen auf der offiziellen Homepage, die ich mir in Vorbereitung auf das Gespräch intensiv ansah. Nachdem die elektronische Stimme des Navigationsgerätes mir mitteilte, dass ich »das Ziel erreicht« hätte, stieg ich aus dem Auto und blickte auf das laut GPS-Daten ausgewiesene, sich nun vor mir befindende Gebäude: Als erstes fielen mir die vielen Fenster und Winkel des vermeintlichen Schulgebäudes auf. Vor diesem befanden sich einige geparkte Autos, der Hinweis auf einen Lehrer*innenparkplatz und die schriftliche Warnung, dass »widerrechtlich abgestellte Fahrzeuge kostenpflichtig abgeschleppt« werden. Ich schlug den ersten, sich mir bietenden Weg ein, lief quer über den Parkplatz, schaute mich um, blieb kurz stehen, nahm die erstbeste Tür, die sich mir bot – und hatte mich verlaufen! Die auf den Wänden aufgetragenen Wegweiser bezeichneten Räume oder Gebäude, die numerisch überhaupt nicht zu der mir mitgeteilten Raumnummer passten. Ich fragte die erste mir begegnende Person nach dem Weg und diese stellte fest, dass ich mich »am falschen Ende« des Schulbaus befand und die drei unterschiedlichen – von außen jedoch nicht als solche definierbaren – Gebäudeteile mit je verschiedenen Ziffern und Buchstaben ausgewiesen sind. Diese kurze Szene beschreibt bereits die beiden verschiedenen Raumordnungen, um die es in diesem Beitrag schwerpunktmäßig gehen wird: den materialarchitektonischen und den sozial-interaktiven Raum. Beide wirken, auch das konnte das Beispiel zeigen, aufeinander ein und kreieren so in ihrer Gesamtheit ein komplexes Raumgefüge, innerhalb dessen die schulischen Akteur*innen (re)agieren. Die äußerliche, einheitliche Präsentationsform des Schulbaus löste sich für mich mit Betreten desselben auf und forderte von mir wahlweise eine kommunikativ-interaktive Handlung oder eine räumliche Praktik des »trial and errors«. Auf die Bedeutung schulischer Architekturen, das grundlegende Verständnis von Raum und den Zusammenhang mit dem Raumhandeln der Akteur*innen wird nachfolgend eingegangen.
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Marode Schulen – marode Institutionen? Der Schule kommt als »Raum der Kindheit« – oder vielmehr als »Raum der Kindheit und Jugend« – aus verschiedenen Gründen eine gleichermaßen herausragende wie kontroverse Rolle zu. Schulen sind zentrale Orte, mit denen Unterschiedliches verbunden wird, an denen Erfahrungen gemacht und Ereignisse erlebt werden. Ich habe deshalb Menschen verschiedenen Alters, Geschlechts und unterschiedlicher Herkunft in meinem Umfeld nach ihren spontanen Assoziationen zum Begriff »Schule« gefragt. Die Reaktionen waren sowohl verblüffend als auch wenig überraschend und obwohl es zunächst danach aussah, als seien die Antworten kaum vergleichbar, tauchten doch regelmäßig Ausdrücke wie die folgenden auf: Lernen, Hausaufgaben, Unterricht, Noten, Klasse, Bildung, Lehrer*innen, Zeugnis, Pause, Kinder/Schüler*innen, Toiletten, Hausmeister*in, schwänzen, Klassenarbeiten/Klausuren, Lehrer*innenzimmer, Ferien. Auffällig ist hier insbesondere, dass es sich bei den Aufzählungen wahlweise um Aktivitäten (lernen, lehren, schwänzen), um Personen (Lehrer*innen, Schüler*innen, Hausmeister*innen) oder um Begriffe im Rahmen der institutionellen Leistungsbewertung (Zeugnis, Klassenarbeit, Noten) handelt. Verallgemeinernd werden also hauptsächlich all jene Assoziationen frei, die das schulische Miteinander beziehungsweise das aktive Sozialleben innerhalb der Institution thematisieren. Lediglich rudimentär wurden das Schulgebäude und die einzelnen, sich innerhalb dessen befindenden Räume (Lehrer*innenzimmer, Klasse Toilette) genannt (wobei es sich bei der »Klasse« um ein Homonym handelt und sowohl die Gruppe der Schüler*innen als auch der Raum gemeint sein könnte). Die Tatsache, dass der gebaute Raum nur wenig Beachtung fand beziehungsweise immer schon so deutlich mitgedacht wurde, dass er kaum explizit genannt wurde, ist vor allem aus zweierlei Gründen von Interesse: Erstens besteht in Deutschland eine Schulpflicht, die maßgeblich den regelmäßigen und überdauernden Aufenthalt an einem spezifischen Ort mit sich bringt. So heißt es beispielsweise im Schulgesetz von Nordrhein-Westfalen: »Die Schulpflicht ist grundsätzlich durch den Besuch einer deutschen Schule zu erfüllen.« (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2005) Zweitens werden seit einigen Jahren in verschiedenen Medienformaten die »maroden Schulen« angeprangert, womit sehr deutlich auf die (sanierungsbedürftige) Architektur abgehoben wird. Um nur einige Beispiele zu nennen: »Marode Schulen in Berlin« (Tagesspiegel 2018); »Marode Schulen: 34 Milliarden Euro Sanierungsbedarf« (GEW 2016); »Marode Schulen: Unterricht in Ruinen« (Die Zeit 2015). Folglich – und etwas überspitzt formuliert – wird die Schule als architektonisch-materialer (Bildungs-)Raum immer nur dann (medial) thematisiert oder (individuell) assoziiert, wenn diesem erhebliche Defizite attestiert werden und schulische Architektur le-
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diglich im Blick auf existierende Mängel (fehlende Fachräume, zu wenig Platz) oder Defekte (nicht funktionstüchtige Toiletten) betrachtet wird. Im Rahmen dieses Beitrags wird nunmehr ein Schritt zurückgegangen und der Fokus auf die strukturelle Bedeutung schulischer Architekturen eingestellt. Nur so kann – unabhängig von der reinen Charakterisierung eines Schulgebäudes als »marode« – nachvollziehbar gemacht werden, dass Schule nicht nur die Institution mit ihren Regeln, Normen und Ordnungen, sondern vor allem auch jenen speziellen Ort umfasst (das Gebäude mit seinen vielen einzelnen Räumen), an dem unterschiedliche Aktivitäten stattfinden und innerhalb dessen sich verschiedene Personen an zahlreichen Stunden eines Tages aufhalten (müssen). Bewegte Körper – bewegende Körper Mit dem morgendlichen Schulweg begeben sich Kinder und Jugendliche bereits in einen Transit- und Transformationsraum, der als »verlängerter Arm« des Schulraums bezeichnet werden kann. Hier verwandeln sich Kinder in Schüler*innen, werden Jugendliche zu Lerner*innen und Erwachsene zu Lehrer*innen. Mit Verlassen des Privaten, des familiären Zuhauses, verändern sich Rollenerwartungen und -anforderungen, variieren Verhaltensweisen, sprachliche Ausdrücke und Praktiken; so entstehen auch neue Wege. Kinder trödeln, treffen Klassenkamerad*innen, unterhalten sich, heben Steine und Äste auf, kritzeln »I was here« auf Bushaltestellenschilder oder erledigen in der U-Bahn noch schnell ihre Hausaufgaben. Der Schulweg wird zu einer architektonischen Routine, die im Ankommen an und letztlich in der Schule mündet. Kinder und Jugendliche gehen aber nicht nur »zur« Schule, sie sind »in der« Schule und bewegen sich »durch die« Schule. Sie sitzen »in« Klassen- und Fachräumen und dort »an« Tischen und »auf« Stühlen. Wie die einzelnen Attribute verdeutlichen, handelt es sich um räumliche oder verräumlichte Tätigkeiten, die als »Raumpraktiken« (Herrmann 2014; Herrmann 2018) bezeichnet werden können. Schule wird entsprechend zu einem Raum, der die einzelnen Körper bewegt, platziert und beeinflusst. Umgekehrt entstehen diverse Interaktionsräume, die wiederum Einfluss auf den schulischen Raum haben. Für diese bestehende Interdependenz gibt es viele Beispiele: Eine Schülerin sitzt in der letzten Reihe eines Klassenraums, kann sich also den Blicken der Lehrkraft entziehen und kritzelt einen Songtext auf die Tischplatte. Im Lehrer*innenzimmer gibt es einen eigenen Tisch für die Lehramtsanwärter*innen, der etwas abseits steht. So behalten alle den Überblick über den jeweiligen Status einzelner Personen. Die Schüler*innen müssen, um die Toiletten nutzen zu können, das Gebäude verlassen und über den Schulhof zu den Toilettenräumen gehen. Diese sind von außen schriftlich mit »Mädchen« und »Jungen« gekennzeichnet.
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Wie die Beispiele verdeutlichen, diktiert der Raum einerseits Bewegungsmuster und Handlungsweisen, stellt (An-)Ordnungen her und ermöglicht sprichwörtliche Freiräume. Andererseits nehmen die Akteur*innen den Raum entsprechend ihrer Möglichkeiten, Vorlieben, Abneigungen etc. in Besitz, verändern ihn also und damit dessen Wirkung. Der Songtext wird vielleicht von einem Schüler schriftlich kommentiert, eine Lehramtsanwärterin beschwert sich bei der Schulleitung über die räumliche Segregation, ein*e Transgenderperson wird mit der dichotomen Zuteilung der Toilettenräume konfrontiert und startet eine Petition, um das Einrichten von unisex-Toiletten zu ermöglichen. Der schulische Raum wirkt also in seiner Materialität auf die Subjekte ein, wird jedoch kommentiert und modifiziert, wodurch er die Akteur*innen wiederum beeinflusst. Raumkompetenz als Differenzkriterium So unterschiedlich Schulen entworfen (vgl. Böhme und Herrmann 2011) und gebaut wurden, so ähnlich sind sie sich in ihrer allgemeinen architektonischstrukturellen Verfasstheit: Mit Passieren einer Straße oder eines Tors gelangen die schulischen Akteur*innen zunächst auf das Schulgelände, das oftmals durch einen Schulhof oder eine Pausenhalle markiert wird, sie bewegen sich entlang eines oft als »Hauptgebäude« ausgewiesenen Baus, dessen Eingangstür in das Innere der Schule führt. Das Wissen darum, welcher Weg der »richtige« ist, welche Raumpraktiken also notwendig werden, um die Schule betreten, den richtigen Raum aufsuchen und sich generell zurecht finden zu können, schreibt sich in die einzelnen Körper ein. Ähnlich dem Schulweg handelt es sich hier um eine Raumkompetenz, die manifest ist und die schulischen Akteur*innen von Außenstehenden differenziert. Das Wissen um die Anordnung von und den Zugang zu schulischer Architektur stellt also ein Differenzkriterium dar: Wir hier drin, ihr da draußen! Das Insiderwissen wird im Laufe eines Schullebens immer detaillierter: Wo gibt es Abkürzungen? Welches ist der günstigste Platz im Klassenraum, um ungestört auf das Handy schauen zu können? Welche Umkleideräume bieten am meisten Privatsphäre? Wer trifft sich auf welcher Ecke des Schulhofes mit wem? Welche Räume sind (zum Beispiel für die Schüler*innen) verboten und wo finden größere Versammlungen statt? Der Schulraum stellt demnach (auch) einen Ort dar, an dem subkulturelle Praktiken nicht nur ausgeübt, sondern entwickelt und etabliert werden. Die Schule als Raum aus Räumen Betrachtet man den schulischen Raum auf unterschiedlichen Ebenen (vgl. Herrmann 2014), so wird schnell deutlich, dass es sich um eine labyrinthartige Verschachtelung verschiedener Raumformate handelt. Lässt sich auf der Makroper-
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spektive der Schulraum allgemein vom öffentlichen Raum abgrenzen, so handelt es sich innerhalb einer Schule um diverse kleinere und größere Raumordnungen, die ineinander übergehen, sich widersprechen oder eine Symbiose bilden: Die Flure verbinden als Transiträume Klassen- mit Fachräumen, der Schulhof dient mit Bewegung und Spiel als Kompensationsraum zum Stillsitzen während des Unterrichts, die Turnhalle kombiniert die Parameter von Raum, Bewegung und Unterricht miteinander. Unter Berücksichtigung der Ausführungen Michel Foucaults lassen sich Schulen folglich als sogenannte »Heterotopien« im Sinne »lokalisierter Utopien« (2014 [1966]), S. 10) bezeichnen. Damit gemeint sind all jene Räume, »die vollkommen anders sind als die übrigen Orte, die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen. Es sind gleichsam Gegenräume« (ebd.). Die Institution und das von seiner Umgebung mittels Zäunen und Toren abgegrenzte Schulgelände stellen einen sowohl ideellen als auch realen »Gegenraum« (ebd.) zum gesellschaftlichen Außen dar. Zudem stehen die einzelnen Mikroräume wiederum in heterotopen Beziehungen zueinander, sodass die schulische Architektur selbst zu einem Sammelsurium von Heterotopien wird: Der Klassenraum als formale Architektur, in welcher Kompetenzen erworben werden sollen versus die Schultoilette und der Tisch als Heterotopien, die zu informellen Interaktionsräumen werden. Die Arbeit in Beeten des Schulgartens wird zum Gegenentwurf des lehrer*innenzentrierten Mathematikunterrichts. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, formales und informelles Lernen, Bewegung und Sesshaftigkeit stellen räumliche Ordnungsparameter innerhalb eines zentralen Aufenthaltsortes von Kindern und Jugendlichen dar. Schulisches Leben findet dementsprechend »in einem gegliederten, vielfach unterteilten Raum mit hellen und dunklen Bereichen, mit unterschiedlichen Ebenen, Stufen, Vertiefungen, mit harten und mit weichen, leicht zu durchdringenden, porösen Gebieten« (ebd.) statt. Der Schulraum als enfant terrible Die Schule wird als »Raum der Kindheit« oftmals nur rudimentär oder defizitär thematisiert. Das »Zur-Schule-Gehen« im Sinne eines mehrjährigen Aufenthalts innerhalb dieses zentralen (Bildungs-)Raumes stellt eine Alltäglichkeit dar, die in Bezug auf die tatsächlichen und hier skizzierten Besonderheiten nur stiefmütterlich behandelt werden. Ein interessantes Gedankenexperiment ergibt sich, wenn die räumlichen Besonderheiten, die schulischen Raumpotentiale jenseits von Kompetenzen und Leistung herausgestellt würden und folglich der Heterogenität der schulischen Akteur*innen entsprächen. So wird die »Hinterbühne« (Goffman 2008 [1969]), S. 100 ff.; Zinnecker 2001) zur wichtigen Rückzugsmöglichkeit für die Entwicklung von Kreativität, entsteht in der »bekritzelten«
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Umkleidekabine eine informelle »Offline-Chat-Welt« und verwandelt sich das Klassenzimmer in einen Ort voller Nischenräume mit diversen Möglichkeiten. Wenn also über die Gestaltung, Erforschung oder Rekonstruktion von Lern- und Bildungsräumen nachgedacht und diskutiert wird, so müssen diese Gegen-, Nischen- und im weitesten Sinne informellen Räume sowie die Gestaltung und Bearbeitung derselben durch die Akteur*innen miteinbezogen werden: »Die Umgebung ist ebenfalls ein Lernzusammenhang für Erwachsene und Kinder, und diese Umgebung wird weiterhin jeden Tag von Kindern und Erwachsenen gemeinsam gestaltet. In dieser Umgebung können Kinder sich selbst erkennen. Und sie wird durch alles, was Kinder tun und erschaffen, bereichert. Kinder fühlen sich wie Protagonisten der Umgebung, in der sie leben.« (Spaggiari 2018) Ina Herrmann Literatur Böhme, Jeanette und Ina Herrmann (2011), Schule als Machtraum. Typologie schulischer Raumentwürfe, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Foucault, Michel (2014 [1966]), Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Goffman, Erving (2008 [1969]), Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München und Zürich: Piper. Herrmann, Ina (2014), Vandalismus an Schulen. Bedeutungsstrukturen maskierender Raumpraktiken, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Herrmann, Ina (2018), Szenische Heterochronien. RaumZeitliche Praktiken der Identitätsarbeit, in: Dinge und Raum in der qualitativen Bildungs- und Biographieforschung, hg. v. Anja Tervooren und Robert Kreitz, Opladen, Berlin und Toronto: Barbara Budrich, S. 99-118. Ministerium für Schule und Bildung Nordrhein-Westfalen (2005), Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen, https://www.schulministerium.nrw.de/ docs/Recht/Schulrecht/Schulgesetz/ (Juli 2018). Scherer, Katja (2018), Schuljahr startet neu, Schulen bleiben marode, https:// www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/marode-schulen-nrw-100.html (Juli 2018). Spaggiari, Simona (2016), The Beginning of Life. Folge 3, Netflix (Juli 2018). Zinnecker, Jürgen (2001), Stadtkids. Kinderleben zwischen Straße und Schule, Weinheim und München: Juventa.
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Google Earth
Es läutet zur Pause. Ich liebe den Schulhof – viel mehr als das Klassenzimmer. Denn jeden Tag, exakt um neun Uhr, nimmt hier ein ganz außerordentliches Schauspiel für zwanzig Minuten seinen Lauf. Wenn sich der Vorhang öffnet, ist es zunächst unmöglich, alle Bewegungen auf einmal einzufangen. Die phlegmatische Masse, die soeben noch den Klassenraum träge stimmte, zerfällt von einem Augenblick auf den nächsten in tausend Teile und setzt eine Lebendigkeit frei, die im Unterricht ihresgleichen sucht. Sturzbächen gleich brechen sich die Kinder Bahn aus dem Klassenzimmer, strudeln die Treppen hinunter und fluten den Pausenhof. Mein Platz ist hier am Fenster, im ersten Stock. Ich schaue auf den Schulhof hinunter, wie auf eines der Wimmelbilder von Ali Mitgutsch, die mir bereits als Kind Vergnügen bereiteten. Schon wenn ich damals versuchte, das ganze Bild in einem Blick zu erfassen, glitt ich nur oberflächlich über das Geschehen. Erst im Detail taten sich Geschichten auf, die gerade durch ihre Belanglosigkeit zu fesseln vermochten. Auch auf dem Schulhof nimmt das quirlige Gebräuse langsam erkennbare Formen an und die Klänge des Kindergeschreis finden zu einer Me-
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lodie des Schulhofs zusammen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die erste große Pause einen anderen Farbton habe als die zweite: greller, aufgewühlter erscheint sie mir. Es sind eher Stücke wie Schostakovitschs 5. Sinfonie, die hier gespielt werden, weniger die Morgenstimmung Edvard Griegs. Kein anderer Ort in der Schule hat die Fähigkeit, eine solche Menge an flüchtigen Momenten in sich zu vereinen – der Hof-Akt wird in vielen parallelen Szenen aufgeführt. Meine Augen treiben dem unablässigen Entstehen und Auflösen von Verbindungen hinterher, wenden sich hierhin und dorthin. Ich hefte meinen Blick an einen Schauplatz, an dem etwas zu brodeln beginnt. Eine kleine Gruppe von Schlendrianen wird abrupt von einer galoppierenden Herde aufgewirbelt. Schließlich bricht ein Kind aus und schließt sich dem wilden Pferdegalopp an. Aus der ungestümen Begegnung wird eine Jagd, die sich schwarmhaft über den Schulhof ausbreitet. Unterdessen spazieren – völlig unbeeindruckt vom restlichen Geschehen – zwei Mädchen von Ecke zu Ecke, von Tor zu Tor, schreiten so anmutig wie die feinen Damen bei Hofe, halten sich dabei die Hände und stecken die Köpfe zusammen. Was hier besprochen wird, ist fraglos dringlich. Generell sind die Kinder unablässig unterwegs, kaum eines sitzt mal oder ruht. So bleiben auch die Bänke während der Pause größtenteils verwaist. Es ist aber nicht nur die Konstanz und die hohe Geschwindigkeit der Bewegungen, die so eigentümlich ist. Was mich viel mehr fasziniert und abschreckt zugleich, ist diese Klebrigkeit leiblichen Aufeinandertreffens. Sammeln sich Erwachsene oder Jugendliche auf einem Hof, sind Berührungen die Ausnahme, meist unbeabsichtigt, und werden oft als unpassend oder unangenehm empfunden. Kinder aber kommen auf dem Schulhof zusammen, um gezielt auf Tuchfühlung miteinander zu gehen (was ihnen im Klassenzimmer verwehrt ist). Sie umschlingen sich, verhaken sich geradezu ineinander, ziehen und zerren an sich, reiben sich aneinander und an allem, was der Hof noch zu bieten hat, greifen sich sogar ständig gegenseitig ins Gesicht. Der Pausenhof ist der Ort der Schule, an dem Kinder sich von Mensch und Umwelt berühren lassen dürfen. Man denkt jetzt vielleicht, dass alle Bewegungen auf dem Schulhof der Horizontalen folgen, ist seine große Fläche doch derart aufdringlich, dass sie das Spiel in die Waagrechte zu zwingen scheint. Seine ausgedehnte Beschaffenheit löst bei Kindern allerdings eher das Verlangen aus, ihm seine Zudringlichkeit gehörig auszutreiben. An allen Ecken und Enden nehmen die Kinder den Kampf mit den Naturgesetzen auf und versuchen sich der Anziehungskraft des Schulhofs zu entziehen: Sie entschwinden seinem Magnetismus mithilfe der Schaukeln, springend, hangelnd, auf dem Rücken der anderen, in kühner Kletterei auf alles, was vertikal nach oben weist, oder auch bedachtsam balancierend auf der erhöhten Fensterbank. Seit fünf Jahren hat unser Schulhof ein Klettergerüst in
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seine Mitte genommen. Die Bezeichnung wird der Konstruktion nicht wirklich gerecht. Nur von hier oben sieht man, wie sich aus dem mit Holzhackschnitzeln bedeckten Boden ein regelrechtes Ungetüm herausbricht und – einer Gottesanbeterin gleich – stolz in den Himmel ragt. In jeder Pause wartet diese Fangschrecke nur darauf, kleine Kinder zu fassen zu kriegen und von ihnen erklommen zu werden. Gelegentlich schüttelt sie auch eines mit schmerzlichen Folgen wieder von sich ab. Dann fliegen geschwind kleine Schulhofengel in gelben Westen herbei, die dem Unglücksraben Trost spenden und mit ihm davon humpeln. Andere Kinder wiederum haben sich die Anziehungskraft des Schulhofs für ein sonderbares Spiel zunutze gemacht, hocken und knien salopp im Kreis. Wie besessen, schlagen sie reihum ihre Hände vor sich auf den Boden. Es geht wohl darum, durch eine gekonnte Handwölbe-Technik vor ihnen liegende Spielkarten auf kunstvolle Weise durch die Luft wirbeln und ebenso landen zu lassen. Jeder Flug wird genauestens beäugt und bewertet, jeder Flugfigur ein eigener Name gegeben. Vor dem dichten Regelwerk, das diese Kinder entwickelt haben, muss jede Erwachsene kapitulieren. Zuletzt habe ich in der Zeitung gelesen, dass eine Gruppe niederländischer Physikstudierender die göttliche Formel des »BottleFlips« entdeckt hätte. Hier wird das niemanden mehr interessieren: FlaschenSaltos mussten schon vor einer ganzen Weile anderen Vergnügungen weichen – ähnlich wie die Fidget-Spinner schneller verschwunden waren, als sie sich auf den Fingern der Kinder um sich selbst drehen konnten. Nur wenige Spiele sind auf dem Schulhof von Dauer. Dazu zählt allemal das raumgreifende Fußballspiel, bei dem sich so manche Jungen als Platzhirsche aufspielen und die Mädchen in die Zwischenräume drängen. Und dann gibt es noch Kinder, die penibel darauf achten, keinerlei Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – weil sie in der Unauffälligkeit am glücklichsten sind oder etwas im Schilde führen. Diese Kinder sind selbstredend am schwierigsten von hier oben ausfindig zu machen. Der Schulhof ist ihr Verbündeter; Chamäleon ähnlich verschwimmen sie mit ihrer Umgebung und bleiben so den aufmerksamen Blicken der Lehrerschaft verborgen. Überhaupt wird letztere auf dem Schulhof zumeist mit Missachtung gestraft. Der Schulhof ist ein Ort, in dem Kinder ihr Wesen enthüllen dürfen; sie können hier wenig für uns Erwachsene tun. Und wir für sie. Das wird Eltern jäh bewusst, wenn ihr Kind zu Beginn seiner Schulzeit über die Schwelle des Hofes tritt. Dieser Schritt kann anfänglich sehr wehtun, Kindern und Eltern gleichermaßen, die von nun an über weite Teile des Tages getrennte Wege gehen werden. Eltern ist der Zutritt bei Hofe verwehrt. Ihnen bleibt nur der ängstliche Blick von draußen auf ihre Zöglinge, die nach und nach vom Schulgebäude verschluckt werden. Immerzu schwillt in den
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ersten Wochen nach den großen Ferien morgens rund um das Tor zum Schulhof ein kleiner Tränensee an. Jeden Mittag liegt er indessen wieder trocken, wenn sich beim Wiedersehen freudig in die Armen gesprungen wird. Und irgendwann heißt es: Kiss and Go – mehr an die Eltern als an die Kinder gerichtet. Ich erinnere mich an den Hof, wie er früher aussah, als er noch das technoidbrutalistische Gewand der 1970er-Jahre trug. Da gab es nicht viel: eine rechtwinklige leere Fläche, die keine Nischen und kaum asphaltfreien Boden kannte, zwei Schaukeln, eine große Linde mit sie umrundender Sitzgelegenheit und schließlich die Parkplätze für die Fahrräder und Roller. Als dieser Hof entstand, war in der Schulbau-Architektur von Kindern nur selten die Rede; man sprach von »Nutzern«, deren flächenbezogene Anforderungen mithilfe der planungstechnischen Bezugseinheit »Schülerplatz« mathematisch ermittelt wurden (vgl. Luley 2000, S. 78). Damals planten Pädagog*innen, Architekt*innen und Verwaltung in aufwendig besetzten Arbeitsgruppen und langatmigen Verfahren gemeinsam, wie ein (die Bedürfnisse von Schüler*innen berücksichtigendes) Schulgebäude aussehen solle. Heute nehmen immer mehr die Träger der gesetzlichen Schüler-Unfallversicherung auf die Gestaltung der Schulhöfe Einfluss, indem sie eine Infrastruktur für »Bewegungsanlässe« einfordern, welche die Bedrohlichkeit des kontingenten Spiels in ein kalkulierbares Risiko überführt und zum erwünschten – unfallfreien – Gebrauch anleitet. Weicher ist der Schulhof durch diese Einflussnahme geworden, in seinen Formen und seinen Untergründen. Nur auf den ersten Blick sind Schulhöfe weniger wichtig als ihre Umgebung. So mag ihre ästhetische Gestaltung, ja ihr ganzes Dasein, in Kontrast zum Schulgebäude völlig belanglos erscheinen. Schulhöfe formen jedoch den materiellen Untergrund bildungsinstitutioneller Reproduktionszeit. Sie sind notwendige Fläche, wenn Lernen auf Verhäuslichung trifft – und können daher der Ruhelosigkeit, die sich störend in die Schulstunde einmischt, eine Bleibe bieten: Hier soll sich Bewegung und Kreativität entfalten, hier soll gespielt, getobt, sich ausgeruht, sogar gestritten und gekämpft werden – hier sollen die Kräfte leiblich aufgefrischt werden, die zuvor im Unterricht geistig verausgabt wurden. Gleichwohl sind Schulhöfe nie nur Orte gewesen, an denen Schüler*innen Kinder sein durften. In der Forderung J. A. Comenius’, dass »bei der Schule außen nicht nur ein Lauf- oder Spielplatz liegen [muss], sondern auch ein Garten, in dem man bisweilen die Kinder zur Augenlust an Bäume, Blumen und Kräuter führt«, enthüllt der Schulhof schon früh seine pädagogische Pflicht, gewünschte Wirkungen zu entfalten und Lernprozesse anzubahnen. Dessen moderne Variante – das »Grüne Klassenzimmer« – macht daraus keinen Hehl und schon in seiner Bezeichnung unmissverständlich deutlich, dass der Schulhof nicht frei von Bil-
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dungsansprüchen ist und immer auch erzieherischen Zwecken unterliegt. An anderen Orten in anderen Ländern ist das bisweilen bis heute wesentlich offensichtlicher, wenn während der morgendlichen Zeremonie auf dem Schulhof die Nationalhymne gesungen und die Landesflagge gehisst wird. Wenn ich auf den Schulhof hinunter blicke, wie er just in diesem Augenblick vom Spiel der Kinder belebt wird, hört sich das alles sehr weit weg an, räumlich und zeitlich. Doch auch hierzulande waren die Schulhöfe von der Kaiserzeit bis in die 1950er und frühen 1960er-Jahre Drill- und Exerzierplätze, boten sich ihre freien Flächen als Mittel zur Durchsetzung einer drakonischen Disziplin geradezu an (vgl. Hasse 2010, S. 66). Schulhöfe waren in der Vergangenheit für viele Kinder daher auch Orte der Einschüchterung und Erniedrigung. Was ist dieser Ort aber, wenn er nicht belebt, nicht bespielt wird? Höfe werden aus ihren Rändern gebildet. Sie sind Gehäuse, die eine höchst merkwürdige Beziehung zu den sie umfriedenden Gebäuden und Mauern unterhalten. So stecken sie voller Tücke, da sie den Blick in die Ferne des Himmels lenken und uns dabei doch von der Seite auf den Leib rücken. Sehr klein, minderwertig und einsam kann man sich inmitten eines Hofes fühlen, wenn die Wände hoch sind und die Flächen weit. Und wie eine Närrin muss man sich vorkommen, die sich im Freien wähnt, nur weil sie die Wolken vorbei ziehen sieht oder ihr der Wind um die Nase weht. Kinder wissen um die sinnliche Täuschung des Hofes und machen sich diese klug zunutze, indem sie an seinen Rändern herumschleichen und dadurch das Gefühl heraufbeschwören, nicht mehr so ganz in der Schule zu sein. Denn verlassen dürfen sie diesen Ort selbstverständlich nicht, jedenfalls jetzt noch nicht. Arglistig sind Höfe zudem, da sie ein Außen suggerieren, wo man sich doch stets im Innen befindet. Auch ich mache mir in diesem Moment von meinem Platz am Fenster die Wirkung des Panopticons zu eigen – »die Schaffung eines bewussten und permanenten Sichtbarkeitszustands« (Foucault 1976, S. 258), der Überwachung garantiert, wenn auch ihre Durchführung sporadisch bleibt. Die »sparsame Geometrie eines ›Gewißheitshauses‹« (ebd., S. 260), die auf Gewaltmittel verzichten und ihre Zwingkraft aus einer konzentrierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken entfalten kann, ist gewiss im Gefängnishof perfektioniert. Doch auch jeder andere Hof gibt diesem Prinzip Raum: der Innenhof eines Wohnblocks, auf den die dunklen Fenster tagsüber wie trübe Augen herabblicken, der parkähnliche Hof eines Hospitals, der trotz seiner natürlichen Tarnung kranke Menschen ihre permanente Beaufsichtigung erahnen lässt und eben auch der Pausenhof einer Schule, der Kindern die freiheitliche Belebung dieses Ortes nahelegt und sie dabei doch ständig spüren lässt, dass alle Blicke auf sie gerichtet sind. Das alles rückt die Höfe in ein schlechtes
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Licht, obgleich es doch ihre Helligkeit ist, die auf die Umgebung ausstrahlt. Sie sind riesige Leuchtmittel, die das Licht einfangen, das ihrem Außen fehlt. Schulhöfe sind darum immer auch im Klassenzimmer präsent, wenn ihr Glanz den Raum erhellen lässt. Es läutet zum Pausenende. Was eben noch lose zusammenhielt, gibt sich abrupt und mehr oder weniger freiwillig dem Zerfall preis. Einige Kinder laufen sofort los, andere holen in lässiger Ignoranz noch einmal kräftig Schwung auf der Schaukel. Ich weiß, dass mir noch etwa zwei Minuten Zeit bleiben, bis das Ensemble im Klassenzimmer erneut willkommen geheißen werden möchte. Noch im Unterricht kann ich den Schulhof riechen – den Schweiß, den er den Kindern auf die Stirn und mir in die Nase treibt. Wir öffnen die Fenster und geben ihm seinen Geruch zurück. ... In der nächsten Pause habe ich Aufsicht! Verena Schreiber Literatur Foucault, Michel (1976), Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hasse, Jürgen (2010), Zur heimlich erziehenden Wirkung schulischer Lernräume, in: V. Jahrbuch für Lebensphilosophie: Gelebter, erfahrener und erinnerter Raum, hg. v. Jürgen Hasse und Robert Kozljanič, München: Albuena, S. 59-802. Luley, Michael (2000), Eine kleine Geschichte des deutschen Schulbaus, Frankfurt am Main: Peter Lang.
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Mein Interesse an Schultoiletten war anfänglich von dem Gefühl begleitet, womöglich eine gewisse Vorliebe für Ekelerregendes zu haben. Für mich unverständlich, ließ bereits eine beiläufige Erwähnung dieses Ortes Kolleg*innen die Miene verziehen. So entschied ich, das Thema lieber eine Zeit lang für mich zu behalten. Beruhigenderweise kam ich aber bald zu dem Schluss, dass ich an unappetitlichen Phänomenen nicht grundsätzlich Gefallen fand und der Reiz der Schultoilette für mich an anderer Stelle liegen müsse. Was jedoch blieb, war die Erkenntnis, dass die Auseinandersetzung mit diesem Ort stets einer besonderen
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Rechtfertigung bedarf. Seine Anrüchigkeit rückt offenbar auch die Forschung dazu in zweifelhaftes Licht. Die erkenntnistheoretische Aussparung der Schultoilette ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass diese doch zu den am häufigsten aufgesuchten Orten der Kindheit zählt: Jeden Tag aufs Neue finden Kinder in diesen Räumen entweder kurzfristig Erholung vom Unterricht oder setzen sich hier unfreiwillig den materiellen Folgen eines maroden Bildungssystems aus. Die Schultoilette ist einer der ersten und eindrücklichsten Orte, an denen Kinder am eigenen Leib erfahren, dass die Schule vieles vom dem schuldig bleibt, was sie verspricht. In ihrer Struktur und Ausstattung haben sich Schultoiletten seit meiner Kindheit deutlich weniger verändert, als andere Schulräume. Sie sind entweder als separate Klohäuser in den Pausenhof integriert oder als Toilettenräume an den Transitbereichen der Treppenhäuser und Flure platziert. Zusätzlich finden sich kleinere Einheiten meist jüngeren Baujahrs in Sonderbereichen und Anbauten, wie der Sporthalle, der Mensa oder dem naturwissenschaftlichen Trakt. Eine Toilette auf dem Schulareal aufzuspüren, setzt keine größeren Ortskenntnisse voraus. Bereits beim Betreten einer Schule machen die Sanitärbereiche mit Nachdruck auf sich aufmerksam, auch wenn diese noch gar nicht aufgesucht werden wollen. Wo Klassenzimmer oder Fachräume sich olfaktorisch erst in der unmittelbaren Begegnung – hin und wieder sogar wohlriechend – mitteilen, kündigen sich Toiletten bereits aus der Ferne an. Mit einer Melange aus beißendsäuerlichem Uringeruch und Antiseptik dringt das »Eau de Toilette« recht unverfroren in die weitere Umgebung der Flure und manchmal bis in die Klassenzimmer vor. Der Gestank der Sanitärbereiche kann einzelne Trakte über weite Strecken des Tages gar zu Niemandsländern machen. Die Einrichtung von Schultoiletten geht auf die Hygienebewegung zurück, die im ausgehenden 19. Jahrhundert auf die Bedeutung des Wassers zur Vorbeugung von Krankheiten einerseits und auf die von den Schulen selbst verursachten Schäden am kindlichen Körper andererseits aufmerksam machte. Während Schüler*innen vom Lande allerdings noch teilweise bis in die 1970er-Jahre mit einfachen Abtritten (sogenannten Plumpsklos) vorliebnehmen mussten, hatte sich in den Städten längst das Wasserklosett durchgesetzt (vgl. Schrader 2003, S. 31 ff.). Wer heute eine Schultoilette betritt, passiert zunächst einen Vorraum, der wie alle Gemeinschaftsklos den Charme karger Waschbecken- und Spiegelmöblierung versprüht. Von hier aus öffnet sich der Blick auf einen meist deckenhoch gefliesten Gang, an dessen Seiten mehrere Kabinen auf ihre Gäste warten. Während mancher Klassenraum in der Grundschule mittlerweile so heiter daher kommt wie ein Kinderzimmer, lassen die schulischen Sanitärbereiche die Privatsphäre, den Komfort und erst recht die Behaglichkeit vermissen, die
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mitunter das häusliche Badezimmer kennzeichnet. So gaukeln sie Intimität nur vor, wo Trennwände über dem Kopf enden und halbhohe Kabinentüren das Beinkleid zur Schau stellen. Solche »Schamwände« sollen Diskretion gewährleisten, seit man ab dem 16. Jahrhundert anfing, zwischen anständigen und unanständigen Dingen zu unterscheiden und den Gang zur Toilette letzterem zuordnete (vgl. ebd., S. 15 ff.). Aufgrund ihrer multisensorischen Durchlässigkeit sind Schulklo-Zellen als Rückzugsorte für die nunmehr »als peinlich verstandenen biologisch-körperlichen Ausscheidungsprozesse« (Herrmann 2014, S. 184 f.) jedoch auch für Kinder gänzlich ungeeignet. Selbst gesellige Gespräche wollen hier nicht richtig aufkommen – wollte man das »Massenschulklo« tatsächlich in die Nähe der Gemeinschaftslatrine der römischen Antike rücken, wo sich mehrere Personen den Raum teilten, ungezwungen miteinander plauderten und nebenbei vielleicht noch das eine oder andere Geschäft abschlossen. Immerhin: Jüngere Schüler*innen können dieser Zumutung noch etwas Lustvolles abgewinnen und machen sich regelmäßig einen Spaß daraus, die Toiletten von innen zu verriegeln und unter der Tür wieder hinauszukrabbeln. Wenngleich die aufdringliche Beschaffenheit der einzelnen Toilettenzelle nicht grundsätzlich im Widerspruch zu der sie beherbergenden Institution steht, findet der Mythos schulischer »Hygieneerziehung« spätestens im Vorraum sein jähes Ende. Denn während Schüler*innen im Klassenzimmer in die Rituale des ordnungsgemäßen Händewaschens eingeführt werden, suchen sie beim anschließenden Toilettengang vergeblich nach den basalen Hilfsmitteln der Körperhygiene wie Seife und Handtuchspender. Was zunächst wie ein Widerspruch daher kommt, ist aus didaktischer Perspektive nur eine konsequente Umsetzung des handlungsorientierten Unterrichts: So fehlt Vorschulkindern in der Regel noch die Fähigkeit zum Ekeln. Spätestens ab der zweiten Klasse sollten durch die nunmehr einjährige, tagtägliche Benutzung der Toilette jedoch jene abstoßenden Gefühlsregungen gegenüber Orten, Dingen und Substanzen aufgekeimt sein, vor denen es sich zukünftig in Acht zu nehmen gilt. Dass beim Schulklo alles beim Alten geblieben sei, ist gleichwohl nicht ganz richtig. In aktuellen Musterraumentwürfen für Schulneubauten wird auch die Toilette gleich mit in die neuerdings populären »Stammgruppenbereiche« verpflanzt – was für kleinere Nutzergruppen und Verantwortungsübernahme sorgen soll (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2013). Dass die Toilette hier ganz offenkundig zu einem Musterbeispiel für zeitgemäße Responsibilisierungspolitik avanciert, dürfte sich nicht nur Foucault-versierten Leser*innen erschließen. Auch in der Schule endet der kontrollierende Zugriff auf Kinder dort, wo ihre Intimsphäre beginnt – das heißt in den Umkleidekabinen und Toiletten. Sind diese an die schulischen Ränder gelagert, kann auch
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Kontrolle nur randlich erfolgen. Ihre Einbeziehung in die Unterrichtsbereiche rückt nunmehr auch die letzten Rückzugsorte für Schüler*innen in unmittelbare Nähe zu den eigentlichen Lernräumen – es sei ja mittlerweile leider so, hallt es verdrossen aus der Schule in die Elternhäuser, dass auch bei der Toilettennutzung immer mehr Erziehungsarbeit von Seiten der Lehrer*innen geleistet werden müsse. Doch mit der modernen »Stammgruppentoilette« ist es an den meisten Schulen noch weit hin. Wo sich in Altbauten partout kein Verantwortungsgefühl für das Klo einstellen mag, wird auf Anreizsysteme zur Reinhaltung, Schaffung von Schamgefühl und Strategien der Disziplinierung gesetzt. In Frankfurt etwa mussten Kinder zuletzt in einem Pilotprojekt so genannte »Präsenzkräfte« vor den Toiletteneingängen passieren, deren Aufgabenspektrum nicht nur die Reinigung, sondern auch gleich noch die Kontrolle regelkonformer Nutzung mit umfasste. Wie unendlich beschämend ein Gang zum Schulklo sein kann, erfährt schließlich jede, die sich einmal mit Toilettenpapier aus einem Papierspender im Vorraum versorgen musste. Mit der Klo-Misere wird zudem das Verpetzen wieder salonfähig. Wer mit Schüler*innen über Toiletten spricht, kommt in den Genuss detaillierter Schilderungen von Ekel-Erlebnissen – die passenden Namen der Übertäter*innen werden gleich mitgeliefert! Sofern die Anzeige noch nicht erfolgt ist, lautet das einhellige Credo, dass der »Vorfall« umgehend zu melden sei; so wurde es im letzten Klassenrat vereinbart. Wo letztlich auch vermehrte Ansprachen zu weniger Reinhaltung führen, unterzeichnen Kinder Verträge, in denen ein Verhaltenskodex die korrekte Toilettennutzung regelt – oder sie führen gleich eine monatliche Nutzungsgebühr ab. Toilettenräume dagegen durch »KloKunst« aufzuwerten (das meint, Schüler*innen darin zu bestärken, durch Wandbemalung eine positive Beziehung zum Klo aufzubauen), ist eine schon etwas in die Jahre gekommene Aktivierungsstrategie, die sich noch an keiner Schule wirklich bewährt hat. Wer will denn auch ernstlich für die Toilette Verantwortung übernehmen, wenn diese mit der einzige Ort der Schule ist, wo überhaupt Verantwortung übernommen werden darf? Ein Raum für Ausscheidungsvorgänge ist sicherlich nicht der Ort, den sich Kinder hierfür am sehnlichsten gewünscht hätten. Über den aktuellen Zustand deutscher Schultoiletten haben zuletzt mehrere Tageszeitungen in Form umfangreicher »Schulklo-Reports« berichtet (zum Beispiel taz vom Januar 2017); erwartungsgemäß fotoästhetisch angereichert um die verdreckte Klobrille, den trivialen Tag (»shit happens«) oder die feuchte Ecke. Als Sinnbild der deutschen Bildungsmisere taugen Schultoiletten allemal; wer sie jedoch auf ihre Äußerlichkeit reduziert, verkennt den einerseits normativen, andererseits emanzipatorischen Gehalt sanitärer Raumproduktionen. Schulen sind
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Institutionen geschlechtlicher Differenzierung – und Toiletten ihre originärsten Lernorte. So müssen sich Schüler*innen bereits im Flur in aller Öffentlichkeit für die passende Tür, rechts oder links, entscheiden; die unterschiedliche Ausstattung im Inneren tut ihr Übriges. Wo diese Ordnung zu erodieren droht, regt sich Widerstand. Es war im Februar 2017 eine der ersten Amtshandlungen des US-Präsidenten Donald Trump, die von seinem Vorgänger verfügte freie Toilettenwahl für Transgender-Schüler*innen wieder aufzuheben. Was transatlantisch das Weiße Haus umtreibt, beschäftigt hierzulande Schülervertretungen und Eltern: Der Landesschülerausschuss Berlin (vgl. 2017, S. 54) forderte jüngst, den Gedanken von sexueller Identifikation in die Gestaltung der Schule durch den Einsatz von Unisextoiletten einfließen zu lassen. Weiter südlich – in Wiesbaden und Stuttgart – ziehen derweil rechtspopulistische, antifeministische, klerikale, homo- und transfeindliche Gruppen mit dem Slogan »Demo für alle« durch die Straßen, um gegen die Aufnahme des Themas »Sexuelle Vielfalt« in die hessischen und baden‐württembergischen Bildungspläne Stimmung zu machen. Beim institutionellen Übergang von der Kindertagesstätte in die Schule tritt die Frage nach der korrekten geschlechtlichen Zuordnung indessen in den Hintergrund. Im ersten Schuljahr gilt es vielmehr, das Kind als Ganzes an die Anforderungen des Schulbetriebs anzupassen. Ein Schultag dauert vier Stunden, mindestens, und ist strukturiert durch eine klar definierte Abfolge von Unterricht und Pause, von Klassenzimmer und Schulhof, von konzentriertem Stillsitzen und dosiertem Bewegen – von Harndrang-Unterbinden-Müssen und Harndrang-Auslösen-Dürfen; im 45-Minuten-Takt, bei Doppelstunden dann auch länger. Wie weit junge Menschen die Fähigkeit zur Beherrschung des Harndrangs kultiviert haben, zeigen jene, die irgendwann gänzlich damit aufhören, in der Schule aufs Klo zu gehen. Immer wieder lerne ich Kinder kennen, die ihren Durst derart gezähmt und ihre Blase über viele Monate und Jahre solchermaßen trainiert haben, dass sie über einen Zeitraum von mitunter zehn Stunden komplett »dicht halten« können. Diese Kinder führen den leibhaftigen Beweis an, der mir Georg Büchners Woyzeck im Deutschunterricht früher schuldig geblieben ist – dass der musculus constrictor vesicae zu einem guten Stück wohl doch dem freien Willen des Menschen unterworfen sein muss. Die meisten Kinder pflegen jedoch einen vergleichsweise pragmatischen Umgang mit der Toilette und geben ohne jede Hemmungen Preis, was hier genau wie getan wird. Wenn Jungen während der Schulzeit aufs Klo müssen, gehen sie zum Beispiel nicht einfach irgendwo hin. Sie unterscheiden – je nach Bedürfnislage – zwischen »Kack-Toiletten«, an die hohe Sauberkeitsstandards gestellt werden und die sich darum häufig in den wenig frequentierten Bereichen der Schule befinden, von profanen »Pinkel-Toiletten«, die auch im Vorbeigehen
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aufgesucht werden. In einer solchen »Pinkel-Toilette« sind es die Tür-nahen Ecken, die über weitere Angewohnheiten Aufschluss geben. Hier türmen sich mitunter Massen von Papierhandtüchern zu Knie-hohen Haufen auf, während die Abfallkörbe neben den Waschbecken leer bleiben. In einem Gespräch erzählten mir die Schüler, warum das so sei: Den Türgriff würden sie beim Verlassen der Toilette nur mithilfe eines Papiertuchs berühren. Die Herausforderung läge nun darin, schnell genug durch die sich schließende Tür zu schlüpfen, um das Tuch noch durch den Türspalt werfen und in der Ecke neben dem Waschbecken entsorgen zu können. Wenn keine Tücher mehr zur Verfügung stünden, kämen die Füße zum Einsatz, um jedweden Hautkontakt mit der Türklinke zu vermeiden. Hier ist regelrecht akrobatisches Geschick gefordert: »Wir haben beide riesige Füße, und dann machen wir immer den Fuß unter die Türklinke. Du brauchst so fünf, sechs Versuche. Rein kommst du, weil du schieben kannst; aber raus, da musst du ziehen. Das ist ziemlich schwer mit dem Fuß und da musst du so hinterher hüpfen.« Auch Mädchen sind wählerisch. Sie unterziehen die Einzelkabinen jeweils einer gesonderten Prüfung, die Wahl fällt dann meist auf eine der hinteren Toiletten in der Reihe. Auffällige Anhäufungen von Tüchern gibt es dagegen nicht und Türklinken werden doch vergleichsweise sorglos in die Hand genommen. Das mag daran liegen, dass Mädchen sich beim Urinieren im Unterschied zu Jungen nicht anfassen müssen, ihre Hände somit vermeintlich sauberer bleiben und keinerlei Körpersäfte an die Türklinke geraten – nur einmal angenommen, es wäscht sich sowieso niemand die Hände. Toiletten werden von Schüler*innen jedoch nicht nur aufgesucht, um sich zu erleichtern. Im Winter sind sie Wärme-spendende Zufluchtsorte, wenn unbarmherzige Lehrer*innen die Kinder trotz aller Kälte nach draußen in die Pause schicken (während sie selbst nach Möglichkeit hinter den Glastüren im warmen Schulgebäude Aufsicht führen). Während des Unterrichts dann ist das Schulklo meist die einzige Anlaufstelle, wo die Monotonie des Klassenzimmers für einen kurzen Moment durchbrochen werden kann. Da die Lehrkraft penibel darauf achtet, dass der Gang zur Toilette stets alleine erfolgt, ist der hiermit verbundene Freizeitgenuss allerdings begrenzt. Der eigentliche Sinn der Toilette besteht für einige Schüler*innen sowieso in der ihr immanenten Sicherheitslücke, die schon zum Bestehen so mancher Klausur verholfen hat. In den Pausen steigen Schulklos mitunter sogar in den Rang von Verstecken – vor anderen Kindern oder auch Lehrer*innen – und Spielplätzen auf. Was hier gespielt wird, ist nicht nur das zweckfreie Spiel unbeschwerter Kindheit. Zwar werden hier auch Sammel-Karten getauscht (sofern im regulären Schulbetrieb verboten) und Neuigkeiten verbreitet. Der Reiz des sanitären Spielplatzes liegt jedoch in seinem anarchischen Potenzial, die fragile technische Infrastruktur außer Kraft zu setzen.
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Seit es die Spültoilette an Schulen gibt, erliegen Kinder der Verlockung, das Abflussrohr mit Klopapierrollen zu verstopfen – und so zumindest an diesem Ort die immerwährende Zirkulation des Gleichen zu unterbrechen. Bisweilen werden auch die Schließvorrichtungen der Türen verklebt, was einzelne Zellen entweder komplett aus dem Toiletten-Sortiment nimmt oder künftig gemeinschaftliche Klobesuche erforderlich macht. Um an den Anfang zurück zu kehren: Könnte es denn einen besseren Ort als die Toilette geben, um die Beziehung von Kind und Schule zu studieren? Verena Schreiber Literatur Herrmann, Ina (2014), Vandalismus an Schulen. Bedeutungsstrukturen maskierender Raumpraktiken, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Landesschülerausschuss Berlin (2017), Stellungnahme, in: Berlin baut Bildung. Die Empfehlungen der Facharbeitsgruppe Schulraumqualität, hg. v. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, Berlin. Schrader, Mila (2003), Plumpsklo, Abort, Stilles Örtchen, Suderburg-Hösseringen: Edition :anderweit. taz (2017), Der große Schulklo-Report, in: taz vom 21./22.01.2017, S. 20-22.
Seele
Seele, Kindheit und Raum stehen in einem folgenreichen, sich im 18. Jahrhundert verdichtenden Verweisungszusammenhang: der Genese sowohl des neuzeitlichen als auch des modernen Menschenbildes. In den verwickelten historischen Prozessen, in denen die Seele säkularisiert, die Kindheit entdeckt und pädagogische wie zu pädagogisierende Räume erfunden werden, entstehen diese Menschenbilder, die auf Kultivierungen kindlicher Seelen in räumlichen Arrangements fußen. Um sich dem Verhältnis von Kindheit, Seele und Raum zu nähern, ist es dienlich, der begriffsgeschichtlichen Frage nach den wandelnden Seelenkonzeptionen die genealogische vorzuziehen. Diese fragt nach den Modi der Fremd- und Selbstführungen, die auf die eine oder andere Art von einer Seele ausgehen und sie dadurch zugleich hervorbringen. So wird deutlich, dass die Seele als Raum der Kindheit in zweifacher Weise relevant ist: zum einen als pädagogisch-psychologisch geschaffener Raum zur Formung und Führung, Überwachung und Protokollierung des Kindes, zum anderen als Seele im Sinne eines einheitsstiftenden und auszuleuchtenden Innenraums des kindlichen Selbst. Noch in der christlich-mittelalterlichen Welt und bis ins 18. Jahrhundert hinein stellt Kindheit keine eigenständige Lebensphase dar; die Seelenkonzeption ist transzendental. Das heißt, dass bei aller begriffsgeschichtlicher Variabilität die Überzeugung vorherrschend ist, die Seele existiere als unvergängliche Entität und Kraft, »die den Menschen zu einem individuellen Selbst macht, den Körper eines Lebewesens zu einem lebendigen, die Welt zu einer organischen Totalität, in der alles mit allem in Beziehung steht« (Holzhey 1995, Sp. 26). Dies jedoch ändert sich im Prozess der Neuzeit grundlegend. In dem Maße wie eine göttlichtranszendentale, ganzheitliche Ordnung brüchig wird und an Überzeugungskraft einbüßt, nimmt sowohl die philosophisch-gelehrige Aufmerksamkeit gegenüber als auch die ordnungspolitische Relevanz von Kindheit zu. Als Folge der Reformation und Gegenreformation, der konfessionellen Bürgerkriege, der Trennung der christlichen Kirche und der Neuordnung Europas nach dem Westfälischen Frieden 1648 entfachen auch Debatten über Erziehungsreformen. Die Versuche
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einer neuen, nicht weiter metaphysischen Bestimmung des Menschen gehen dabei einher mit Reflexionen und Erprobungen neuer Modi der Führung des Selbst und der anderen, in dessen Zentrum das Problem der Kindheit steht. Die Kinder, diese zukünftigen Bürger*innen, sollen bis zu dem Punkt geführt werden können, an dem sie für die Bürgerschaft nützlich und ihre Seelen von Sünden erlöst sind, sie also ihr Seelenheil erlangt haben und sie sich selbst zu verhalten wissen. In der Aufklärung und dem sukzessiven Aufbau moderner Verwaltungs- und Territorialstaaten gewinnt dieses Problem schließlich gesamtgesellschaftliche Relevanz. Erziehung bleibt dabei zunächst weiter Ganzheitstheorien verpflichtet, so dass eine etwaige kindliche Natur und spezifisch kindliche Entwicklung nicht unabhängig davon gedacht werden. Christliche Erziehungspraxis im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert meint insofern im Wesentlichen »Kinderzucht«, worunter die Versorgung von Leib und Seele verstanden wurde und wozu die Eltern vorbildlich sein und den Katechismus gebrauchen müssen. Kinder sind im Ganzen Christenkinder und es obliegt der Erziehung, ihr Seelenheil in einem Erziehungsraum zu bewirken, der sich im Grunde ungeteilt und nicht weiter spezifiziert auf alle Lebensbereiche erstreckt. Gleichzeitig und im Unterschied dazu ist ein entscheidendes philosophiehistorisches Moment die Vergeistigung der Seele durch René Descartes Mitte des 17. Jahrhunderts, da hier die Seele ihre antiken und christlich-mittelalterlichen Modi der Welterschließung abzustreifen und moderne anzunehmen beginnt: Aus der transzendentalen Seele, die den Einzelnen mit der Welt-Seele organisch verbindet, wird die immanente, biographisch zu erzählende Individualpsyche (vgl. Sonntag 1988, S. 5). Descartes hält dabei am Begriff seelischer beziehungsweise geistiger Substanz fest. Hier setzt dann Ende des 17. Jahrhunderts die sensualistisch-materialistische Psychologie des Calvinisten John Locke an, dessen Erkenntnistheorie die erste europäischer Geistesgeschichte ist, für die Kindheit einen zentralen Stellenwert besitzt. Locke hinterfragt den Begriff der Substanz als solchen und damit die Vorstellung eines für sich und aus sich bestehenden Wesens. Was die Seele stattdessen ausmache, seien empirisch nachweisbare Operationen. Die Kinderseele erscheint ihm daher als »weißes Papier oder Wachs […], das man bilden und formen kann, wie man will« (Locke 1970, S. 268). An die Stelle der res cogitans, der cartesianischen geistigen Substanz, tritt also das empirische Bewusstsein. Das Postulat der zunächst unbeschriebenen Kinderseele, das folglich auch mit der seit dem 5. Jahrhundert vorherrschenden Erbsündelehre bricht, darf indes nicht als ergebnisoffenes Experiment missverstanden werden. Es geht um Tugend und Sittlichkeit, zu der ein jedes Erdenkind durch Formung seiner Seele erzogen werden kann. Der auf einer entsubstantialisierten Seele fußende Sensualismus ist die einflussreichste pädagogische Theorie des 18.
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Jahrhunderts; er verändert grundlegend das Nachdenken über und die Praxis der Erziehung. Ziel ist ein »gesunder Geist in einem gesunden Leib«, wozu »gute Grundsätze und gefestigte Gewohnheiten« in den kindlichen »Geist« zu pflanzen sind (ebd., S. 7, 15). Es geht darum, Gewohnheiten des Denkens und des Verhaltens herzustellen, wozu Gewöhnung und Wiederholung die zentralen technischen Mittel sind. Erziehung ist hier der Aufbau von seelisch-geistigen und körperlichen Gewohnheiten, wobei ein jedes Kind zu bürgerlicher beziehungsweise standesangemessener Sittlichkeit formbar gilt. Diese kontrollierte, vernünftige Formung der kindlichen Seele, die einer idealistisch-pädagogischen Norm folgt, verlangt somit Räume, die eigens für diese Zwecke zu schaffen sind. Der für das deutschsprachige Bürgertum sowie die reformpädagogischen Bewegungen so wichtige Jean-Jacques Rousseau, ebenfalls Calvinist, modifiziert den Sensualismus in entscheidender Weise. Für ihn ist die kindliche Seele nicht wie Wachs beliebig formbar, sondern in der Natur des Kindes und seiner Fähigkeit zur Perfektibilität begründet. Auch Rousseau geht es um das Ausbilden von gewünschten, natürlich-sittlichen Gewohnheiten, wozu der Erziehungsraum den Entwicklungsstufen gemäß herzustellen und das Kind zu überwachen ist; schließlich will die postulierte Natur gemacht sein. Allenthalben entscheidender aber sind zum einen die Imperative an die Eltern zum genauen Beobachten des Kindes und Überwachen aller seelischen wie körperlichen Regungen, um natürliche von widernatürlichen scheiden zu können, wozu es wiederum pädagogischer Expertise bedarf. Relevant sind zum anderen die Imperative der Introspektion, der Selbstbefragung nach zu beichtenden Geheimnissen des Jugendlichen angesichts erwachender Leidenschaften – einer, wie man vor dem Hintergrund von Michel Foucault sagen könnte, Säkularisierung pastoraler Machttechniken. In deutschsprachigen Landen ist es unterdessen zuvorderst der Pietismus, unter dessen Einfluss ab Ende des 17. und vor allem im 18. Jahrhundert die Seele »vom problematischen Erkenntnissubjekt in theoretischen Diskursen zum Ort der Kultivierung des individuellen Gefühlslebens« (Holzhey 1995, Sp. 38) wird. Seelenheil wird nicht weiter nur durch Taufe und Katechismus erreicht, ebenso geht es nicht um die Ausbildung individueller Eigentümlichkeit. Vielmehr wird die Seele zu einem zu kultivierenden, inneren Ort, um den Liebeswillen Gottes in der irdischen Welt aktiv durchzusetzen. Fleiß und Gehorsam sind dabei die Bedingungen wahrer Frömmigkeit – Unaufrichtigkeit und Eigenwilligkeit ihre Gefahr. Um das Ziel dieser neuen moralischen Ordnung von Seele und Gesellschaft zu erreichen, werden neue Prozeduren der Erziehung und Seelsorge geschaffen, die die Seele zu einem »Scharnier zwischen […] Untertan und Staat« (Reiter 1991, S. 201) machen. Die Seele »bietet den Stützpunkt einer bestimmten sozialen Ordnung im Subjekt« und funktioniert sodann als »Organ der Ver-
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gesellschaftung« (ebd.). Die auf Regeln und Ordnung pochende pietistische Lebensform findet ihren sinnbildlichen wie auch institutionellen Ausdruck in den Anstalten August Hermann Franckes sowie der kolonialisierenden Missionierung. Mit deren Hilfe gilt es im Speziellen auch die Seelen der »wilden Kinder« in protestantischer Gottesfurcht zu formen und die Formbarkeit des Kindes und seiner Seele wissenschaftlich zu erproben wie zu beweisen. Ebenso geht die philanthropische Reformbewegung ab Mitte des 18. Jahrhunderts, die der pietistischen in Vielem entgegensteht, im Anschluss an Locke und Rousseau von der Erziehbarkeit und Erziehungsbedürftigkeit des Menschen aus. Anders als bei den Pietisten erfolgen aber beispielsweise Strafen nicht weiter autoritär und repressiv, sondern zielen auf die Einsicht des Kindes, dienen der Ausbildung eines Gewissens und werden mit der natürlich-sittlichen Ordnung begründet. Die Führung der kindlichen Seele durch das Schaffen pädagogischer, inner- wie außerhäuslicher Räume, die Erziehung der Eltern und insbesondere der Mütter im altersgemäßen Einwirken auf Seele und Körper des Kindes, die moralisierenden Kinder-Unglücksgeschichten – all das dient dem Ausbilden gewünschter Gewohnheiten, um bürgerliche Brauchbarkeit und Vernunftgebrauch herzustellen. Dieses 18. Jahrhundert wird zuweilen als das Jahrhundert der Seelenforschung bezeichnet, dokumentiert durch die empirische und rationelle Psychologie, die Experimentalseelenlehre, die Erfahrungsseelenkunde, das Tagebuchschreiben und die mannigfaltigen Versuche, die Seele als wissenschaftliches Erkenntnisobjekt zu konstituieren. Zudem wird es als Jahrhundert der Pädagogik angeführt, dokumentiert wiederum durch die zahlreichen religiös-aufklärerischen Erziehungsreflexionen, Erziehungsratgeber und (Be-)Gründungen pädagogischer Institutionen. In der Parallelität dieser beiden Epochesignaturen erscheint die moderne Anthropologie. Weil die Seele im Laufe dieses Prozesses ihre Transzendenz eingebüßt hat, weil in Folge der Kant’schen Kritiken im 19. Jahrhundert eine Psychologie ohne Seele ausgerufen wird, sehen Religions- und Begriffsgeschichte die Bedeutung der Seele für die moderne Alltagwirklichkeit des 20. Jahrhunderts als erloschen an. Unter genealogischer Perspektive stellt es sich jedoch gegenteilig dar: Gerade in ihrer Säkularisierung und dem Aufkommen der Wissenschaften vom Menschen, liegt ihre Bedeutung gegenwärtiger Welterschließung. »Man sage nicht, die Seele sei eine Illusion oder ein ideologischer Begriff«, heißt es bei Foucault, sie »existiert, sie hat eine Wirklichkeit, sie wird ständig [um den Körper, am Körper, im Körper] produziert« (Foucault 1977, S. 41). An die Stelle der christlichen, schuldbeladenen und strafwürdig geborenen Seele ist somit eine durch pädagogisch-psychologische Prozeduren hervorgebrachte getreten. »Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers.« (Ebd., S. 42)
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Für den Wandel der pädagogischen und psychologischen Prozeduren und Techniken vom 19. zum frühen 20. Jahrhundert, die von einer Seele ausgehen, formuliert Foucault zudem das folgende eindrückliche Bild: »Es sind die Unglücke des kleinen Hans und nicht mehr die von Hänschen Klein, die das Abenteuer unserer Kindheit erzählen.« (Ebd., S. 249) Hänschen Klein ist ein Volks- und Kinderlied, welches der Lehrer Franz Wiedemann 1860 in seinen Samenkörnern für Kinderherzen veröffentlichte. Es sollte dem Zweck dienen, Kindern sowohl die Vorzüge bürgerlicher Heimeligkeit singend nahezulegen als auch die Notwendigkeit, diese als junger Erwachsener zu verlassen, um seine bürgerliche Reifung abzuschließen. Der kleine Hans dagegen bezieht sich auf eine 1909 veröffentlichte Fallgeschichte Sigmund Freuds, in welcher er eine Angstphobie eines fünfjährigen Jungen dokumentiert, der unter Anweisung Freuds von seinem Vater therapiert wurde. Aus abenteuerlichen Irrfahrten und einem in heimeliger Harmonie gebetteten Gefühlsleben wird nun die Einkehr in ein Innenleben und das beichtende Ausleuchten dieses Psyche genannten Innenraums. Dabei fokussiert die Theorie, in diesem Fall der (infantilen) Sexualität, die Suchscheinwerfer. Zentral ist zum einen Freuds folgenreiche Sexualtheorie. Zum anderen und vor allem aber sind es die Prozeduren der Wahrheitsproduktion, die Bekenntnisse, zu denen das Kind bewegt wird, die täglichen Berichte, die der Vater verfasst. Zentral sind also die medizinisch-psychologischen Raster, nach denen die Geständnisse decodiert werden und ferner auch die, mit denen die intelligente Seele von William Stern vermessen wird, in denen »das Normale den Platz des Altehrwürdigen« eingenommen hat und die »Individualität des denkwürdigen Menschen« durch die des »berechenbaren Menschen« (ebd.) verdrängt wurde. Kindheit spielt in diesen normalisierenden Prozessen eine zentrale Rolle: Erstens werden Kinder seit dem 18. Jahrhundert ungleich mehr als Erwachsene disziplinierenden, evaluierenden und vergleichenden Prozeduren unterzogen. Zweitens markieren im 19. Jahrhundert nicht die Pathologien der Erwachsenen, sondern das Konstrukt normaler kindlicher Entwicklung das Auftauchen der Anomalien, der kleinen und großen Verhaltensauffälligkeiten, denen möglichst frühzeitig und umfassend zu begegnen ist. Und drittens wird Kindheit auch allgemein zur Möglichkeit der Psychiatrisierung und Psychologisierung Erwachsener: Zum einen geraten durch die Kindheit des »gefährlichen Individuums« die Familie und ihre Kontexte in den kontrollierenden Blick, zum anderen durch den »kindlichen Onanisten« der Kinderkörper, die Geschwister und ihre Kontexte. Seit William Preyers Studie über die Seele des Kindes von 1881 hat dann die enorme Ver(natur)wissenschaftlichung von Kindheit, Elternschaft und Familie im 20. Jahrhundert dazu geführt, dass ihre Ausgestaltungen nicht weiter durch politische Autoritäten oder religiöse Pflichten geformt werden und auch nicht
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durch idealistisch-pädagogische Normen, sondern durch medizinisch-psychologische Normalitäten, die dem Leben selbst zu entspringen scheinen (vgl. Rose 1999, S. 130). Dieses Leben findet nicht mehr auf der Straße statt. Die einstige Straßenkindheit wurde zur Familien- und schließlich zur Institutionenkindheit, die für jeden seelischen und körperlichen Teil des Selbst einen eigenen medizinisch-psychologisch-therapeutisch-pädagogischen, institutionalisierten Raum bereithält. Derart dominierten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Psychoanalyse und Behaviorismus, die unter freilich umgekehrten Vorzeichen beide von der gesellschaftlichen Zurichtung der Seele ausgehen und dabei die Eltern besonders in die Pflicht nehmen, sowie im weiteren Verlauf des Jahrhunderts Stufenmodelle kindlich-kognitiver und psychosozialer Entwicklung. In der Spätmoderne sind diese Räume nun Konzeptionen kulturell wie individuell formbarer, im Grunde unabschließbarer seelischer Entwicklung verpflichtet. Diese Konzeptionen entgrenzter Entwicklungspotentialitäten zwischen Pränataldiagnostik und »Lebenslangem Lernen« wurzeln sowohl in den Neurowissenschaften und der Versozialwissenschaftlichung von Kindheit als auch in den sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre. So hat sich in der Spätmoderne unter dem alltagssprachlichen, metaphorischen, aus der Romantik stammenden Gebrauch des Begriffs Seele als emphatischer »Widerspruch gegen die Kälte eines rational regulierten Lebens« (Holzhey 1995, Sp. 51) eine zunehmende Individualisierung und eigenverantwortliche Machbarkeit der eigenen seelischen Verfasstheit durchgesetzt. Christoph T. Burmeister Literatur Foucault, Michel (1977 [1975]), Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Holzhey, Helmut (1995), »Seele [IV. Neuzeit]«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel: Schwabe, Sp. 26-52. Locke, John (1970 [1693]), Gedanken über Erziehung, Stuttgart: Reclam. Reiter, Michael (1991), »Pietismus«, in: Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, hg. v. Gerd Jüttemann, Michael Sonntag und Christoph Wulf, Weinheim: Psychologie Verlags Union, S. 198-213. Rose, Nikolas (1999), Governing the Soul. The Shaping of the Private Self. Second Edition, London und New York: Free Association Books. Sonntag, Michael (1988), Die Seele als Politikum. Psychologie und die Produktion des Individuums, Berlin: Reimer.
Spielplatz
Mit dem schnellen industrialisierungsbedingten Wachstum der Städte kamen die Spielplätze in den öffentlichen Raum. In der uns heute bekannten Form gibt es sie seit den 20er-Jahren des 19. Jahrhunderts. Zum städtebaulichen Standard wurden sie rund 100 Jahre später. Schon die prekäre Lebensqualität im Moloch der Metropolen erzwang ihre Anlage geradezu. Ihr vorderstes Ziel war damals aber nicht die kreative und freie Entwicklung der Persönlichkeit. Unzureichende Hygiene, schlechte und viel zu kleine Wohnungen, Enge, Gestank, Lärm und andere Mängelsituationen städtischen Wohnens verlangten nach einem Ausgleich.
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Spiel-Plätze Spielplätze sollten – mehr utopisch als tatsächlich – der gesunden körperlichen Entwicklung des Kindes zugutekommen. Ganz andere Vorläufer gab es schon in den ersten Jahrzehnten des dreizehnten Jahrhunderts (vgl. Grimm und Grimm 1991, Bd. 16, Sp. 2413 f.) in der aristokratischen Welt, in den Burganlagen der Rittersitze sowie auf großen Edelhöfen. Das waren aber sozial exkludierte Zonen und keine jedermann zugänglichen Orte, wie wir sie in der Gegenwart kennen. Heute schreiben die Bauordnungen der Länder die Anlage öffentlicher Spielplätze vor, sobald mehr als sechs Wohnungen errichtet werden. Bei größeren Wohnanlagen sollen auch für ältere Kinder (meistens bis zu 14 Jahren) geeignete Einrichtungen geschaffen werden (vgl. Bauordnung Berlin 2007). Üblich ist eine zonale Gliederung mit Bereichen für freie Bewegungs- und Laufspiele, Spielgeräte, Kommunikation, ruhebetonte Spiele (samt Spielhäuschen und Sitzecke) und Sand- und Matschspiele. Das Spiel mit Matsch und Dreck ist nicht einfach nur archaisch; es kommt übermäßigem Hygienewahn zuvor, wie es spätmodernaseptische Lebensweisen in synthetischen Umgebungen prophylaktisch in Grenzen verweist. Digitale Immaterialität und selbstreinigender Plastik gelten zwar als sauber; »Allergien« evozieren sie aber auf ganz andere Weise. Auf größeren kommunalen Plätzen sind die Spielgeräte nach Altersgruppen differenziert: Rutschen, Schaukeln, Wippen, Sandkästen, Kletterhäuser und -gerüste, nicht zuletzt ein Wichtelhaus für die ganz Kleinen. Für Fun und Fitness im Gelände sorgen Kletternetze, Spieltürme, Turmrecks und Seilbahnen. An Mutige (mehr unter den Eltern als »tollkühnen« Kindern) wendet sich der Erlebnis- und Abenteuerspielplatz, vor allem dann, wenn er viel »Rohes« bietet, das die kreative Selbsterprobung herausfordert (wie ein stillgelegter Oldtimer-LKW, offenes Feuer und fließendes Wasser). Nicht nur die »Outdoor-Spielplätze«, sondern auch »Indoor«-Typen gehen in der Art ihrer Ausstattung mit der Zeit. Letztere bieten sich idealerweise schon deshalb für Kindergeburtstage an, weil es unter »Dach und Fach« kein Wetter gibt – kein Regen, Hagel, Blitz und Sturm. Sie sind gewissermaßen das Gegenteil der Matschspielplätze; reine Retortenwelten mit Hüpfburg, Klettergerüst, Wellenrutsche, Wackelbrücke, Autoscooter und Märchenwelt als begehbare Milieus der Imagination. Bewegungsangebote, die nicht zuletzt dem Lifestyle entsprechen, werden immer wieder neu erfunden; zum Beispiel in Gestalt von Skateranlagen, mit denen in Rollschuhzeiten noch nichts anzufangen gewesen wäre. Nur auf den ersten Blick dienen Spielplätze allein der Förderung der freien Bewegung, der Emanzipation und Belebung der Kreativität; ganz am Rande ist der Nebeneffekt willkommen, »störende Choreographien« aus dem öffentlichen (Verkehrs-)Raum herauszufiltern.
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Auch auf dem Land gibt es Spielplätze. Meistens sind sie nur semiattraktiv, weit vom eigenen Zuhause entfernt, oft leer und öde, weil nur selten jemand da ist. So konkurrieren sie mit dem Zeitvertreib an Bildschirmen, an die schon Vorschulaspiranten weggesetzt werden, wenn Eltern ihre Ruhe haben wollen. Schließlich ist der in den Garten integrierte private Spielplatz (über kontrollfreundliche Sichtbeziehungen ins zeitgemäß panoptische »smart home« eingebunden) schon lange Ausdruck standes- wie exklusionsbewusster Häuslebauer. Spiel-Räume »Spielplätze« sind nicht nur jene speziell eingerichteten Orte im engeren Sinne, die den Vorgaben der Bauordnungen entsprechen, sondern im Prinzip alle Orte, an denen (was und wie auch immer) gespielt wird – Tempel, Bühne, Gerichtshof (vgl. Huizinga 1956 [1938], S. 17) und im Leben von Kindern wie Jugendlichen insbesondere der Schauplatz der Schule – wenn er auch zugleich der »erste« Ort unbedingten institutionellen Ernstes ist. Nicht jedes Milieu, in dem Spiele gespielt werden, ist ein Spielplatz: weder die antiken Leichenspiele, noch das Theater oder die oft genug abgründige soziale Welt der Familie mit ihren nie endenden Rollenspielen. Viele Spiele dienen außerdem der zivilisatorischen Einübung sozial erwünschten Verhaltens, also nicht dem Spaß und auch nicht der Bildung. Spielen im engeren Sinne ist »vor allem ein freies Handeln. […] Das Kind und das Tier spielen, weil sie Vergnügen daran haben, und darin eben liegt ihre Freiheit« (ebd., S. 15). Es hat etwas Performatives, ist durch die Verkettung von Augenblicks-Situationen gekennzeichnet, nicht Produkt linearer Planung, auch dann nicht, wenn es Regeln folgt und sich in einer pädagogisierten Gerätewelt ereignet. Spielplätze sind nur vordergründig dafür geschaffen, »auf Balken zu schaukeln und auf Brettern zu schwingen« (Grimm und Grimm 1991, Bd. 16, Sp. 2414). Viel wichtiger ist die Gewährung von Spielraum, damit Kinder auf zwanglose Weise zu sich finden können. Deshalb mag der verwilderte Hang trotz akuter Rutschgefahr auch der beste (Abenteuer-) Spielplatz sein. In vorderster Reihe bester »Spielplätze«, die eigentlich keine sind, stehen somit Brache, Ödland, Baustelle – und noch die rückseitige Kehrichtecke des Supermarktes, wo das Leergut steht und ab und zu eine Ratte vorüberhuscht. Johan Huizinga sagt, ein Spiel spielt sich ab, »und in einem bestimmten Augenblick ist es ›aus‹« (ebd., S. 17). Spielplätze, die zum Spielen einladen, müssen Spielräume für die Findung eigener Vorlieben der Bewegung bieten – des Springens, Tanzens und Sich-fallen-Lassens. Aber sie müssen auch geeignet sein, berechtigte Ängste bewusst zu machen; erst dann kann das Kind spielerisch lernen, Grenzen des Möglichen zu respektieren. Die normative Überregulierung
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der Benutzung kommunaler Spielplätze macht Spielräume eher zunichte. Gängelnde Vorschriften stehen dem »freien« Bilden und ursprünglichen Geschehen im Wege. Oft genug hat die Bezeichnung »Spiel«-Platz deshalb einen euphemistischen Charakter. Dann wird nur vorgetäuscht, dass Spielplätze persönlichkeitsgestaltende Spielräume bieten; sie werden dann allzu leicht zu Orten der Ruhigstellung von Kindern im Modus der Bewegung. Spiel-Programme Am Beginn der Idee des förmlich eingerichteten und institutionalisierten Spielplatzes steht ein Paradoxon: Kinder sollen sich frei, ungelenkt und selbstbestimmt bewegen und dabei ihren Neigungen nachgehen. Dabei werden sie von Zwecken und Programmen gefangen und von raumzeitlichen Grenzen eingefasst. Was auf Spielplätzen geschieht, wird durch Benutzungsordnungen zumindest auch gelenkt. Ein öffentlicher Spielplatz für Kleinkinder stellt sich im Unterschied zu einem Abenteuerspielplatz als eine ganz eigene Welt dar. Was hier wie dort sein soll, bedarf aber keiner expressiv verbis formulierten Regeln; es ist vielmehr über Bewegungssuggestionen ins verortete Spielzeug eingeschrieben. Auf einer Schaukel wird schon deshalb (überwiegend) auch tatsächlich geschaukelt, weil ihre Gestalt zum Schaukeln »überredet« und nicht zum Klettern. Im Unterschied dazu lassen herumliegende Reste von Baumaterial alles Mögliche zu, erst recht wenn Feuer und Wasser die Phantasie ins Kraut schießen lassen. »Platzordnungen« definieren schließlich die Zeit des »freien« Spiels, und dies in zweidimensionaler Hinsicht. Zum einen über die tageszeitlich erlaubten Nutzungskorridore (im Allgemeinen von morgens 7 bis abends 20 Uhr). Zum anderen über biographische Zeitfenster: Spielplätze sind (je nach Ausstattung und Programm) für Lebensabschnitte von Kindheit und Jugend reserviert (bis zur Erreichung des 12., 14. oder 16. Lebensjahres). Erwachsene ohne Kinder hier gelten schnell als sozial auffällig, wenn nicht sogar verdächtig. Das Arrangement kindlichen Spiels fügt sich – auch auf Spielplätzen – in historisch je anerkannte Bedeutungsordnungen. Nach dem kaiserzeitlichen Motto Joseph Göttlers, »Gut beschäftigt ist mehr als halb erzogen!« (Göttler 1932 [1915], S. 132), wurde die Figuration der Bewegungen programmatisch in bedenklicher Weise gelenkt. Das als »frei« verklärte Spiel geriet dabei nicht zuletzt unter die herrschende sexualpädagogische Norm der »Verhütung vorzeitigen Erwachsens des Geschlechtstriebes« (ebd. S. 261). »Freie« Bewegung auf Spielplätzen galt zugleich als Prophylaxe gegen die dunklen Triebe des Begehrens. Schon aus Sorge um den finsteren Einfluss zu kurz geratener Röcke auf die Blicke lüsterner Knaben reklamierte sich auch hier soziale Überwachung. Wo vor hundert Jahren das freie Bewegungsspiel dem Kampf gegen das verfrühte
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Wachwerden der Lüste unterstand, soll es in der Gegenwart computerbedingte Bewegungsstarre kompensieren. Während es in der »militärischen Jugenderziehung« (ebd., S. 127) zur Kaiserzeit um »Abhärtung« zur Stärkung der physischen Widerstandskraft« (ebd., S. 131) ging, sind es in der Gegenwart zeitgemäße Ordnungszwänge, denen Kinder im »freien Spiel« auf unbemerkte Weise unterworfen werden: Der Frankfurter Airport bewirbt seine in der Nähe der Gates gelegenen (Indoor-)Spielplätze – zur Schonung der Flieger wie zum »Schutz« der Fluggäste vor Unruhe – mit dem Slogan: »Vor dem Fliegen nochmal richtig auspowern! Auf das bevorstehende lange Sitzen im Flugzeug können Sie Ihr Kind am besten vorbereiten, indem Sie es noch einmal richtig toben lassen.« Die programmatische Regulierung der Bewegungsabläufe auf Spielplätzen ist aus amtlicher Sicht schon deshalb geboten, weil in Folge »falschen« Spielens eintretende Körperschäden an Kopf, Arm und Bein durch anspruchsbewusste Eltern vorhersehbar zur monetären Regulierung angemeldet werden könnten – zum Schaden der Kommunen. Vielleicht werden auch deshalb selbst auf manchen Abenteuerspielplätzen »gefährliche« Aktivitäten sozialpädagogisch begleitet (zum Beispiel Holzsägen und Feuermachen). Der Abenteuerspielplatz ist ein in besonderer Weise programmatisch konzeptionierter wie pädagogisch überwölbter Raum. Historisch stellt er sich als szenische Antwort auf die Macht der Bezwingung des Kindes durch bürgerlichen Disziplinierungswahn dar, denn ein gut erzogenes Kind musste lange (stumm) an der elterlichen Tafel sitzen können. Es warf nichts um sich, zappelte nicht und bewegte sich langsam. In gewisser Weise ist der Abenteuerspielplatz bis heute das Andere des ganz gewöhnlichen öffentlichen Kinder-Spielplatzes am Rande des Wohngebiets. Kein Wunder, dass er in der Zeit der Studentenbewegung Ende der 1960er-Jahre in Deutschland experimentelle Frei- und kreative Spielräume erobern sollte. Charakteristisch war weniger die Form und Ausstattung dieser Plätze als das, was sich auf ihnen diesseits sozial ubiquitärer Regulierungssucht frei und experimentell entfalten durfte. Für den, der sich beim wilden Klettern überschätzt, steht (sobald Gefahr durch jähen Absturz im Verzug ist) die eigene Unversehrtheit auf dem Spiel. Das Spiel ist dann vorbei – und damit auch das entlastend Andere unbedingten Lebensernstes. Alternative Räume abenteuerlicher Spiellust gibt es in vielen Städten – oft genug bekämpft wie die Wagenburgen, sind sie beide doch ein Stachel im Fleisch der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer hyperadretten Ordnungshygiene. Spiel-Verderber Auf dem Spielplatz meiner Kindheit kreuzten am frühen Nachmittag immer wieder Ältere auf, die die Macht ihrer angstvoll lähmenden Ausstrahlung an
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Kleineren ausprobierten, sie schließlich drangsalierten und vertrieben. Zu den unerwünschten, dennoch aber erwarteten Spielverderbern gehörten die städtischen Parkwächter. Auf ihre Weise griffen sie intervenierend ins freie Treiben ein, disziplinierten die einen und drohten den anderen mit dem »Aufschreiben« ihrer Namen. Wirkliche Gründe hatten sie weder für das eine noch das andere. Ihr »Spiel« ging aber schon deshalb auf, weil fast jeder Angst vor ihnen hatte. Aber nicht alle Wächter waren gleich; es gab scharfe Hunde unter ihnen und solche, die keine Lust am Kinder-Quälen fanden. Mit beinahe pünktlicher Regelmäßigkeit tänzelte an fast jedem Nachmittag ein äußerst kräftiger und beeindruckender Dalmatiner auf den Platz. Auch er trieb mit den Kindern sein Spiel. Überaus gefährlich sah er aus, stand aber doch nur einfach da und wartete ab, wer als erster die Nerven verlor. Wer abhaute hatte verloren; den trieb er dann laut kläffend vor sich her. Es gab auch noch andere Spielverderber. Sie alle gehörten irgendwie dazu, denn dieser Ort war keine Oase und keine Insel der Glückseligkeit. Eher ein ganz gewöhnlicher Platz. Während sich (im Unterschied zur Schule) der Spielplatz für Falschspieler nicht anbietet, wird er zum idealen Biotop für ganz andere Spielverderber. Diese sind schon da, bevor es im tatsächlichen Raum überhaupt einen Platz gibt. Sie sind die Schlimmsten: die administrativen Verfasser und Herausgeber der DINVorschriften für Gestaltung und Aufstellung von zulässigem und den Ausschluss von verbotenem Spielgerät. Indem sie die Phantasie einschränken, zerbrechen sie die »Zauberwelt« (Huizinga 1956 [1938], S. 19) des Spiels. Die Berliner Ausführungsvorschrift zur Bauordnung nennt gleich sechs allein deutsche Industrienormen, die bei der Anlage von Spielplätzen zu beachten sind. Sie machen gleich, was auch ganz anders sein könnte. Der Panik sicherheitsphobischer Eltern kommen sie zuvor, indem sie mit akribisch planender Hingabe unter anderem Spielplatzböden sicher machen. Dabei geht es neben Tragfähigkeit insbesondere um den sturzkraftmindernden Dämpfungseffekt federnder Fallschutzmatten aus gummiartigem Kunststoff oder (ökologisch korrekt) Hackschnitzel aus heimischen Wäldern. Eine spezielle EU-Norm legt selbst die Parameter für die Verfahren der »Aufprallprüfung fest, mit denen die Stoßdämpfung von Böden durch Messung der beim Aufprall auftretenden Beschleunigung ermittelt werden kann« (Bundesverband). Materialvorschriften disponieren noch das sich zwischen dem Blech der Rutsche und dem darauf hinunterflitzenden Kinderhintern bildende Gleitgefühl. Versteckte Normen drosseln den im Prinzip möglichen kindlichen Experimentiergeist aus Angst vor Schadenshaftung und setzen so dem freien Spiel nach DIN 18034 »ordnende« Grenzen. Amtlich kodifizierte Regelwerke kennen sogar gerätespezifische »Spielwerte«, auf dass Kinder mit Rutsche und Wippe auch »richtig« ihr Vergnügen haben können.
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Zu in gewisser Weise meta-ludischen Spielverderbern werden Mütter und Väter, wenn sie den Ort des Spiels mit ihren darauf herumtollenden Lieben für Imagegewinn und Exklusionslüste gleich mehrfach nutzen. Vor allem in den metropolitanen Wohnquartieren Besserverdienender mutieren die gut frequentierten Kinderspielplätze allzu gerne zu Distinktions-Sphären sogenannter (Porsche-)Cayenne-Mütter (manchmal auch -Väter). Diesseits spielpädagogischer Bemühungen sehen sie im Milieu kindlichen Spielens und Treibens ein nutzbares Feld zur Generierung familienpolitischer Wettbewerbsvorteile: der Steigerung von Geltung, Erhöhung von Bekanntheitsgraden, nachhaltigen Vernetzung in exklusiven Gemeinschaften usw. In solchen Zweifachverwertungen eines sozialen Raumes drückt sich indes keine typische Ekstase neoliberalen Hochmuts aus, vielmehr nur eine von vielen Spielarten sozialer Segregation. Spielplätze waren stets autopoietische Subwelten, die auf gleichsam zähflüssige Weise mit fragilen urbanen Soziotopen korrespondiert. So sind sie ebenso Ausgleichs- und Begegnungswelten für alle, die ohne sie in ihren Wohnungen festsäßen, sich dem Trubel der City zwar entziehen aber dennoch eine Dosis frische Luft in kindlichquirlender Lebendigkeit schöpfen wollen. Spielplätze für Kinder sind auch Schauplätze im gelebten Kosmos der Stadt. Jürgen Hasse Literatur Bundesverband der Spielplatzgeräte- und Freizeitanlagen-Hersteller e.V. (Hrsg.), Wir schaffen Spielräume, https://www.bsfh.info/index.php?id=180 (September 2018). Frankfurt Airport (Hrsg): Spielplatz. Vor dem Fliegen noch mal richtig auspowern, https://www.frankfurt-airport.com/de/reisen/am-flughafen.detail.suffix. html/service/am-flughafen/kinderspielflaechen.html (September 2018). Göttler, Joseph (1932 [1915]), System der Pädagogik, München: Josef Kosel & Friedrich Pustet. Grimm Jacob und Wilhelm Grimm (1991), Deutsches Wörterbuch, München: dtv. Huizinga, Johan (1956 [1938]), Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg: Rowohlt. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung (Hrsg. 2007), Bauordnung für Berlin, Fassung vom 16.01.2007, Ausführungsvorschriften zu § 8 Abs. 2 und 3, https://www.stadtentwicklung.berlin.de/service/gesetzestexte/de/download/b auen/20070116_av_kindersppl.pdf (September 2018).
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Bewegung ist ein fundamentales Medium der Welt-Begegnung: Liegend, sitzend, krabbelnd, stehend und gehend wird die unmittelbare Umwelt ertastet, erfahren, erprobt, erschlossen und beantwortet. Im Nachahmen anderer Personen bilden Kinder allmählich eine in ihrer Welt übliche »soziale Motorik« (Gebauer 2002, S. 63) aus, geben sich eine (an)erkennbare soziale Form und bilden innere Instanzen der Verhaltenssteuerung aus. Sie spielen sich so in die zugleich materielle und soziale Ordnung ihrer Umwelt hinein, werden darin handlungs- und mitunter auch kritikfähig. Gebaute Anordnungen, Mobiliare, Dinge wie Kinderwagen, Essbesteck, Spielzeuge, Sportgeräte oder Smartphones präfigurieren die körperlich basierten Bildungsprozesse: Sie wirken daran mit, dass aus zunächst ungeordneten, »unbedingt-reflektorischen« (A. N. Leontjew) Bewegungen nach und nach gerichtete, auf die räumlich-materiellen Bedingungen sich einstellende Könnensbewegungen werden. Umgekehrt erschließen sich in der Bewegungspraxis die Geschichte und die sachlich-sozialen Bedeutungen, die in diesen Bedingungen vergegenständlicht sind. Die Differenzierung der modernen Gesellschaft in »relativ autonome« gesellschaftliche Felder bedeutet nun auch eine zeitliche und räumliche Differenzierung von Tätigkeiten, für die großenteils zweckbestimmte Räume aufgesucht werden: Geschäfte, Büros, Schulen, Universitäten, Wohn-, Fernseh-, Schlaf-, Bade- und Spielzimmer usw. In diesem Prozess werden auch Orte geschaffen, an denen die Bewegungsaktivität stimuliert werden soll: Auf Spielplätzen, in Schwimmbädern, Sporthallen, Kindergärten und Schulen soll zum einen die Bewegungsarmut des technisierten modernen Lebens kompensiert werden – ein Anliegen, das die historisch kontingente anthropologische Annahme eines natürlichen menschlichen Bewegungsbedürfnisses voraussetzt. Zum anderen wird das Sich-Bewegen an diesen Orten durch räumlich-dingliche Arrangements so strukturiert, dass es einen eigenen Bildungswert verspricht. In den mittleren und oberen sozialen Klassen gelten gerade die Stätten des etablierten, organisierten Sports als ausgezeichnete Orte kindlicher Erziehung, Bildung und Sozialisation.
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Auf das Üben, Trainieren und Spielen auf dem Sportplatz, in der Schwimmoder in der Turnhalle richtet sich ein nahezu grenzenloses Spektrum an pädagogischen Erwartungen: die Entwicklung motorischen Geschicks, die Förderung eines positiven Selbstkonzepts, das Einüben von Sozialkompetenz, die Ausschöpfung genetischer Potenziale, Krankheitsprophylaxe, Intelligenzentwicklung und vieles mehr. In historisch-soziologischer Perspektive gehören Sportstätten damit zu den Architekturen einer Kindheit (vgl. Bühler-Niederberger 2003), die – so wissen wir spätestens seit Philippe Ariès’ Studie über die »Geschichte der Kindheit« – in Europa erst seit dem 17. Jahrhundert als eine vorbereitende Zeit betrachtet wird. Für diese Lebensphase werden nun eigene Räume institutionalisiert und gestaltet. Mit der Trennung von Erwachsenen- und Kinderwelt korrespondiert eine wertende Sortierung: Als gute, kindgerechte Orte gelten fortan Räume, die vor den negativen Einflüssen der Erwachsenenwelt geschützt sind. Andere Orte – das Bahnhofviertel, das dunkle Gebüsch im Stadtpark, die Straße – geraten hingegen unter den Verdacht, gefährlich und verderblich für die kindliche Entwicklung zu sein. Die historisch-soziologische Perspektive bringt somit die Kontingenz der heute selbstverständlichen Vorstellung in den Blick, es gebe eine vom Erwachsensein klar unterschiedene Kindheit. Und sie lässt erkennen, wie sich Spiel- und Sportstättenkonzepte in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Strukturen, Einstellungen und Grundannahmen verändern: An der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert richten die Philanthropen in Deutschland Turnplätze ein, ausgestattet mit »Reitmaschinen«, Schwebebalken, Klettergerüsten, Kombinationen aus Stangen, Leitern, Balken und Seilen, Armhebeln und eigens neu entwickelten Geräten wie Reck, Bock, Kasten und Barren. Unter Berücksichtigung der Klientel – ausschließlich Jungen – sowie zeitgenössischer politischer und pädagogischer Diskurse lässt sich gut plausibilisieren, dass auf dem Turnplatz das Idealbild eines wagemutigen, aufrechten und vor allem tüchtigen männlichen Bürgers eingeübt und buchstäblich verkörpert werden sollte. Bereits damals beantwortete dieses Idealbild eine Krisendiagnose: Es richtete sich gegen die »entnervende Verzärtelung« und »luxuriöse Verweichlichung« des Lebens »draußen«, so jedenfalls der Philanthrop Johann Christoph Friedrich GutsMuths in seiner »Gymnastik für die Jugend« von 1793. Aus dem philanthropischen Turnplatz wird im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Schulturnhalle: Per Dekret erklärt Württemberg das Turnen am 1. März 1845 zu einem unerlässlichen Bestandteil des Unterrichts an höheren Schulen. Hier wandelt sich das Turnen zu einem System von Exerzierübungen, das die männlichen Schüler mit militärischen Strammheitszumutungen konfrontiert, um sie zu
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untertänigen Gliedern einer wehrhaften nationalen Gemeinschaft zu machen. Parallel dazu entwickelte Konzepte des »Mädchenturnens« schließen bestimmte Bewegungen und Geräte wie das Voltigieren, das Bockspringen oder das Turnen an Barren und Reck aus: Sie schadeten dem »nach unten geöffneten« und muskulär vergleichsweise schwächlichen weiblichen Körper nur und vermännlichten ihn. So müsse der Kopf »hoch« und die Beine hätten »unten und geschlossen« zu bleiben: die Turnhalle als Ort einer das System der Zweigeschlechtlichkeit am Körper reproduzierenden Bewegungssozialisation, in der kulturelle Muster von Männlichkeit und Weiblichkeit im geschlechtsnormgerechten Sich-Bewegen performative Evidenz erlangen und naturalisiert werden. Am Ende des 19. Jahrhunderts etabliert sich dann, ausgehend von England, der moderne Sportplatz auch in Deutschland, hier unter anderem als ein Gegenraum zur Turnhalle. Er sieht ganz andere Formen der Bewegung, der Wahrnehmung, der Sozialbeziehungen und des Subjekts vor als die Stätten turnerischen Zucks und Rucks: Genormte Laufbahnen, Sprung- und Wurfanlagen bedingen die Herstellung objektiv messbarer Leistungen. Sie präfigurieren Körperpraktiken des Wettbewerbs, der Überbietung und des Vergleichs und legen damit das Einüben einer auf die moderne Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft verweisenden Subjektform nahe, in der sich die Identität und der Wert des Individuums maßgeblich nach seiner im Wettbewerb mit anderen erbrachten, quantifizierbaren Leistung bemessen. Die moderne Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft benötige keine fügsamen Untertanen, sondern energische und unternehmerische Männer, die sich beherzt durchzusetzen und in jeder Lebenslage selbst zu helfen wüssten, argumentierte prominent etwa der Franzose Pierre de Coubertin (vgl. Alkemeyer 1996). Im Laufe des 20. Jahrhunderts entfaltet das Modell des modernen Sports Hegemonie über andere Bewegungs- und Spielkulturen, strukturiert diese nach ihrem Muster um und erlangt schließlich globale Bedeutung. DIN-genormte Zweckbauten für alle möglichen Sportarten erlauben nun einen weltweiten Leistungsvergleich. In Schulsporthallen mit standardisierter Geräteausstattung materialisiert sich die Orientierung auch des Schulsports am Kanon des klassischen Wettkampfsports und damit an der bildungspolitischen Leitidee, Schulsport solle vor allem dazu befähigen, kompetent im Feld der gesellschaftlich etablierten Sportarten zu handeln. Ähnlich wie Shopping Malls, Autobahnen, Bahnhöfe oder Flughäfen lassen sich diese, besonders in den 1970er-Jahren erbauten Hallen auch als »Nicht-Orte« (Marc Augé) charakterisieren, denen, so ihre Kritiker, jede Beziehung zur Umgebung, zu Geschichte und Identität fehlen. Spätestens für eine moderne- und folglich (leistungs-)sportkritische Nach68er-Bewegung reduzierten solche Sportstätten nicht nur die Vielfalt der in einer
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offenen, multikulturellen Gesellschaft möglichen Bewegungspraktiken, sondern schränkten auch das anarchische Tun und die freie Entwicklung des Kindes unzulässig ein. »Neue Spiele« (New Games) werden erfunden; parallel geführte Debatten um humanökologisch orientierte Sportstätten fließen in Sportraumkonzepte ein, deren Ausstattung mit flexiblen, von den Nutzern umgestaltbaren Raumstrukturen, modularen Turn- und Spielgerätesystemen und möglichst heimischem Holz atmosphärisches Wohlbefinden vermitteln, sinnlich anregen und den Bewegungs- und Spielvorlieben unterschiedlicher Nutzergruppen entgegenkommen soll. Aus der Vogelperspektive pädagogikkritischer, gern an der Disziplinartheorie Michel Foucaults orientierter Zugänge lassen sich alle diese Räume als Schauplätze einer Regierungskunst dechiffrieren, der es darum ging, möglichst reibungslos in die jeweilige historische Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sich einpassende Sozialcharaktere zu produzieren: den folgsamen Untertanen (Turnen), das fordistische Leistungsindividuum (Wettkampfsport), das flexible Kreativsubjekt des postfordistischen Kapitalismus (Neue Spiele). Solche Sozialisationstheorie muss Spiel- und Sportstätten für Mikrokosmen der Gesellschaft halten, also eine Ähnlichkeit zwischen ihnen und ihrer gesellschaftlichen Umwelt behaupten, ohne dass allerdings immer ganz klar wird, was die Vergleichspunkte sind. Die sich hier bewegenden Menschen werden unter diesem Blickwinkel vornehmlich als Objekte, allenfalls als schwache Akteure thematisiert, nicht jedoch als aktive, die Vorgaben eigensinnig umdeutende oder, besser, umlebende Nutzer*innen. Um auch deren Kreativität einzufangen, müssen auch die in ihren Handlungen sich artikulierenden partikularen Interessen und (Sinn-) Perspektiven mitvollzogen werden, wie bereits in den Studien von Martha Muchow über die Lebensräume des Großstadtkindes (Muchow und Muchow 1998 [1935]). Diese und nachfolgende Untersuchungen begreifen »das Kind« als ein produktiv realitätsverarbeitendes, mithin aktives und starkes Subjekt der Raumaneignung. Wenn Aneignung jedoch mit Besitzergreifung identifiziert wird, erwächst das Problem, eine eingeschliffene Subjekt-Objekt-Dichotomie zu reproduzieren und so den befremdenden ethnografischen Blick für das wechselseitige Konstitutionsverhältnis beider Seiten zu verstellen, also auch dafür, wie in Praktiken des Sich-Bewegens sowohl ein konkreter Bewegungsraum als auch ein konkretes Bewegungssubjekt in Erscheinung treten. Unter einem Bewegungsraum verstehe ich dabei einen Raum, der in der Praxis nicht nur in relationale Anordnungen von Menschen und Dingen gegliedert, sondern auch mit Sinn, Erinnerungen, Träumen und Affekten aufgeladen wird. Beides, die materielle Gliederung und die imaginär-affektive Aufladung, muss an bereits gegebene Ortsqualitäten anschließen. Die performative Verfertigung von Bewegungsräu-
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men (spacing) ist mithin stets durch eine bereits eingerichtete materiellsymbolische Ordnung bedingt, aber es lässt sich doch Unterschiedliches aus dieser Ordnung machen. So können am gleichen Ort durchaus verschiedene Bewegungsräume entstehen, einander überlagern und miteinander konkurrieren (vgl. Löw 2001, S. 260-265). Ein prominentes Beispiel ist »die Straße«. Wer hier spielt und Sport treibt, möchte an den vielfältigen materiellen, sozialen, affektiven und sinnlichen Qualitäten des öffentlichen Raums teilhaben. Sportstadien und Sporthallen eliminieren das Besondere und Zufällige öffentlicher Orte; sie schneiden Bewegungen aus dem sinnlichen Gewebe des städtischen Lebens heraus und geben ihnen artifizielle sport(art)spezifische Gestaltungsformen. Kulturkritiker*innen sehen darin eine Verarmung und werten demgegenüber entweder die Natur oder die Straße als bessere Räume des Lernens und der Sozialisation auf. So attestieren phänomenologisch orientierte Reformpädagog*innen der »verhäuslichten« Kindheit ein Fehlen elementarer Erfahrungen, die ausschließlich im Durcheinander der alltäglichen Praxis zu machen seien. Freilich vergisst solche Kritik, dass gerade die artifiziellen räumlichtechnischen Arrangements moderner Sportstätten Körpertechniken und somit auch Erfahrungen bedingen, die außerhalb dieser Stätten so nicht zu haben sind. Das Problem liegt womöglich weniger in einer Verarmung der Erfahrung als in den Übergriffen einer produktivistischen Verwertungslogik, die neben Sportauch Kinderspielplätze dann regiert, wenn diese (sport-)wissenschaftlich fundiert als »Outdoor-Fitness-Studios« angelegt werden, die Kinder spielend zum Trainieren verführen sollen.1 Offenbar macht die Sportifizierung der Gesellschaft, die in den 1970er-Jahren in der vom Deutschen Sportbund ausgerufenen »Trimm-Dich-Bewegung« mit dem Umbau von Waldwegen zu Trimm-DichPfaden volle Fahrt aufnahm, auch vor den Orten des Kinderspiels nicht halt. Im Kreuzzug gegen die Schreckbilder von Bewegungsmangel und Fettleibigkeit kann das Trimmen für Einige nicht früh genug beginnen. Ein empirischer Anhaltspunkt für die aktuelle Aufwertung »der Straße« sind jene vorwiegend jugendlichen »Asphaltkulturen« (Bette 1999) von Skateboardern, Fixed-Gear-Radfahrern oder Parkour-Artisten, welche die Stadt zu einem Spiel-Raum machen, indem sie Garagenauffahrten, Mauervorsprünge, Treppengeländer, Bänke, Litfaßsäulen, Zäune und Pfosten als Optionen wahrnehmen, denen sie – oft erfinderisch, virtuos und spektakulär – immer wieder neue und andere als die üblichen Umgangsqualitäten entlocken. Auch dann, wenn man diese Straßen-Spiele nicht gleich als eine widerspenstige Form der Rückeroberung des urbanen Raumes romantisieren möchte, kann man doch anerkennen, dass sie einen eigenen Beitrag zur Gestaltung und Wiedergewinnung von Urbanität leisten: Sie zeigen, dass in der Stadt noch Anderes möglich ist als Autofah-
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ren, Shoppen und Konsumieren. Und sie tragen zum Leben einer urbanen Öffentlichkeit bei, auf deren Bühnen sich verschiedene soziale Gruppen, Milieus und Szenen begegnen, darstellen und um Aufmerksamkeit konkurrieren. Am bewegungspraktischen Hervorbringen von Spiel- und Sporträumen an Orten, die dafür gerade nicht vorgesehen sind, lässt sich besonders gut zeigen, dass sowohl (Bewegungs-)Räume als auch die Identität ihrer Produzenten allererst in Handlungsvollzügen entstehen. Plakativ formuliert: Der popkulturelle Straßensport begegnet dem »Angestelltensubjekt« der organisierten Moderne mit dem Aufführen des »konsumtorischen Kreativsubjekts« der »Postmoderne« (vgl. Reckwitz 2006). Folgt man dieser Annahme einer Performativität auch der handelnden Subjekte, lässt sich auch nicht länger in totalisierendem Singular eine originäre Perspektive »des Kindes« behaupten. Vielmehr stellt sich dann die Frage nach den historisch wandelbaren Konzepten »des Kindes«, die in die Inszenierung vermeintlich kindgerechter Welten wie etwa »Bewegungsbaustellen« eingehen: Verschiedene Materialien – Baukästen, Bretter, Balken, Rundhölzer, Seile, Bälle, Drainagerohre, Decken, Umzugskartons, LKW-Schläuche – sollen vier- bis zwölfjährigen Kindern hier die Gelegenheit bieten, »Bewegungsanlässe selber zu schaffen«, und damit die »kindliche Phantasie und Gestaltungskraft« bewahren und entwickeln.2 Was sich auf der Folie eines essentialisierten KindKonzeptes als kindgerecht darstellt, mag sich hingegen in kulturtheoretischer Perspektive nicht nur als historisch kontingent, sondern auch als unwillentlich sozialkonformistisch erweisen. So etwa auch das Konzept einer »Bewegten Schule«. Es fußt unter anderem auf der Annahme, dass Stillsitzen den natürlichen Bewegungsdrang von Kindern unterdrücke, die Konzentrationsfähigkeit mindere und so die Wissensaufnahme behindere. Die Befreiung von schulischen Disziplinarzwängen der Vergangenheit bedeutet in solcher Argumentation zugleich eine politische Neubesetzung des Körpers durch den – je nach theoretischer Orientierung – entweder als neoliberal oder aber als neosozial charakterisierten Leitwert der Beweglichkeit. Immerhin erwartet der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus von seinen Bürger*innen, verlässlich mit jeder Unzuverlässigkeit fertig zu werden. Aber vielleicht nutzen Kinder auch die sozio-materiellen Anordnungen der »Bewegten Schule« mitunter ganz anders als geplant – und bleiben schlicht sitzen. Zum Schluss: Ob formell oder informell – Sportstätten wird gern eine integrative, die Schranken zwischen den sozialen Klassen und den »Kulturen« überwindende Kraft zugeschrieben. Empirisch haltbar ist dies kaum: Im informellen Sport distinguieren sich weitgehend homogene soziale Milieus. Und die Stätten des organisierten Sports werden von den Sprösslingen aus Mittel- und Oberklassen deutlich häufiger besucht als von Kindern aus den sogenannten un-
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teren sozialen Klassen: Ihre Eltern verfügen über mehr finanzielle Mittel, die in Sportkurse, Mitgliedsbeiträge oder Freizeitexkursionen investiert werden können; sie pflegen häufiger einen gesundheitsorientierten Lebensstil und legen deshalb einen großen Wert auf die sportliche Betätigung ihrer Nachkommen; und sie sind häufiger selbst sportlich aktiv als Eltern aus den »unteren« Klassen (vgl. Schmiade und Mutz 2012). Thomas Alkemeyer Anmerkungen 1 https://www.professionalplastics.com/de/Playground-Equipment.html (August 2018). 2 https://www.bewegungsbaustelle.org/ (Oktober 2018). Literatur Alkemeyer, Thomas (1996), Körper, Kult und Politik. Von der »Muskelreligion« Pierre de Coubertins zur Inszenierung von Macht in den Olympischen Spielen von 1936, Frankfurt am Main und New York: Campus. Bette, Karl-Heinrich (1999), Asphaltkultur. Zur Versportlichung und Festivalisierung urbaner Räume, in: Systemtheorie und Sport, hg. v. dems., Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 192-220. Bühler-Niederberger, Doris (2003), Natürliche Räume oder Architektur der Kindheit. Die Verortung der Kinder zwischen generationalem Ordnen und Individualisierung, Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik 33(2), S. 171-187. Gebauer, Gunter (2002), Sport in der Gesellschaft des Spektakels, St. Augustin: Academia. Löw, Martina (2001), Raumsoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Muchow, Martha und Hans Heinrich Muchow (1998 [1935]), Der Lebensraum des Großstadtkindes, hg. v. Jürgen Zinnecker, Weinheim und München: Juventa. Reckwitz, Andreas (2006), Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück. Schmiade, Nicole und Michael Mutz (2012), Sportliche Eltern, sportliche Kinder – Die Sportbeteiligung von Vorschulkindern im Kontext sozialer Ungleichheit, Sportwissenschaft 42(2), S. 115-125.
Straße
»Straße« als Chiffre für alles gesellschaftlich Un-geordnete, Un-kontrollierte, Nicht-integrierbare zu nutzen, ist uns geläufig. Den realen Ort »Straße« jedoch ins Auge zu fassen und zu lernen, was dieser für Kinder und Jugendliche bedeutet und bedeuten kann, dieses Interesse ist nicht sonderlich ausgeprägt. Sehr zu Unrecht; denn (ganz unabhängig von aktuellen, zeitgebundenen Kindheits- und Jugendkrisen): Keine Altersgruppe benutzt diesen gesellschaftlichen Raum so viel und so intensiv, wie es die Jüngeren tun; und was die Kinder und Jugendlichen an diesem Ort alles lernen und erleben, lässt sich in seiner Bedeutung durchaus den Lern- und Lebensorten »Schule« oder »Familie« gleichsetzen (vgl. Höfflin 2015). Das gilt für die Vergangenheit wie für die Gegenwart. Vorab müssen wir kurz klären: Wie grenzen wir den Ort Straße am besten ein? Wenn uns die Summe der Sozialisationsvorgänge an diesem Ort interessiert, die Erlebnisqualität, dann sollten wir die angrenzenden Räume und Gebäude, die öffentlichen Aufgaben dienen oder auch einfach öffentlich zugänglich sind, einbeziehen. Straße und städtische Öffentlichkeit fallen gewissermaßen in eins. Al-
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lerdings: Straße umfasst ausschließlich die lokal gebundene Öffentlichkeit, die durch die Präsenz der TeilnehmerInnen am gleichen Ort vermittelt ist. Seit 1900 ist Straßenkindheit ein Thema in der Pädagogik und Kindheitsforschung. Galten die Debatten um 1900 vor allem der pädagogischen Qualität der Straße als Ort für Kinder, hat sich zur Gegenwart hin eine ethnografische kindzentrierte Forschung entwickelt (vgl. Zinnecker 2001; Behnken 2006). Straße als Lernort, der pädagogische Blick In der Hochphase der Straßenkindheit dominierte der pädagogische Blick die Betrachtung der Straße als Lebensraum für Kinder: Hochphase der Straßenkindheit um 1900 – Mit der Entstehung des europäischen Städtesystems seit dem späten Mittelalter bildet sich an diesen Orten ein Typus von Kindheit heraus, der sich als »Straßenkindheit« charakterisieren lässt. Die stärkste Entfaltung der »Gassenkinder« ist mit der Hochphase der Industrialisierung und Urbanisierung (west-)europäischer Gesellschaften vor und um 1900 verknüpft, die zu einer Zuwanderung von Menschen aus ländlichen Regionen führte und in den Städten eine hoch verdichtete Bebauung in Mietshausquartieren zur Folge hatte. Anstelle der zu knapp bemessenen und übervölkerten Wohnräume bildeten Quartierstraßen und daran angrenzende städtische Raumzonen das bevorzugte Raummedium für Kinder. Dabei erwiesen sich die Straßen der Quartiere als Lernorte und Lernmöglichkeiten, die im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend verlorengehen. Hildegard Hetzer (1929, S. 45 f.) beobachtet diese Entwicklung in Wien und fragt nach der Bedeutung der Straßengemeinschaft für das einzelne Kind: »Schon die Enge der elterlichen Wohnung, aus der man das Kind vorübergehend wegen Platzmangel […] in den Hof, auf die Straße herunterschickt, das nahe Beisammensein mit anderen Kindern, denen man […] beständig begegnet, macht es dem [Arbeiterkind] leicht, mit Spielkameraden in Kontakt zu treten. Viel von dem, was ihm die Familie schuldig bleibt, gewährt ihm die Spielgruppe. In ihr findet es Gesellschaft, Anregung, Spielkameraden, Verständnis für seine Interessen […].« In der pädagogischen Literatur wird diese Entwicklung kontrovers diskutiert: Der pädagogische Blick – Die Straße als Ort für informelle Treffen und als Erlebnisraum für Kinder war und ist umkämpft. Es gibt Orte, die in pädagogischen Diskursen als ausgewiesene Orte für Kinder anerkannt sind, und Orte, wie die Straße, die als gefährdende Orte gelten. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts blickt die Pädagogik fasziniert und irritiert auf diesen Lebensort, auf die Erlebniswelt Straße, besonders die der großen Städte. Dieser »pädagogische Blick« entwirft zwei kontrastierende Bilder der Straße. In der einen Perspektive erscheint der Straßenraum als anti-pädagogisches Milieu. Vor unseren Augen entfaltet sich
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das Schreckensgemälde einer Umwelt, in der Bemühungen der ErzieherInnen in Frage gestellt und wo Kinder ins Verderben gestürzt werden. Zum anderen betrachten PädagogInnen die Straße als gesellschaftliches Lernfeld. Es fasziniert die Beobachtung, in welchem Maß der öffentliche Straßenraum Kindern Generation um Generation zum persönlichen Erlebnis wird. Viele Autobiografien oder biografische Gespräche legen Zeugnis hierüber ab. In der pädagogischen Literatur finden wir diese Kontroverse wieder: Straße als Ort des Verderbens – Der Schulpädagoge Adolf Rude beruft sich auf Erfahrungen von Lehrern und auf Belege durch die Kriminalstatistik: »Jeder Jugendund Volkserzieher weiß aus Erfahrung, welche große Gefahr der Jugend erwächst, wenn sie unbeaufsichtigt sich selbst überlassen bleibt. […] Wenn der Unterricht beendet ist, dann halten sich die Kinder zumeist auf der Straße auf […]. Und was sie auf der Straße von verdorbenen Altersgenossen oder älteren Personen an tollen Streichen und an Schlechtigkeiten lernen, davon wissen die Lehrer aus Erfahrung viel zu berichten. Die ›Straßenjungen‹ sind leider sehr oft ›Rekruten des Bettelvolks, der Trinkerschar, des Verbrecherheeres‹. Die Kriminal-Statistik zeigt ein erschreckendes Bild der Verdorbenheit vieler Kinder.« (Rude 1915, S. 299 f.) Die Polemik gegen die Straße ist keineswegs nur Sache der konservativrestaurativen Pädagogik im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Was ihnen Mahnzeichen für die Auflösung der patriarchalischen Ordnung ist, dient sozialistischen Pädagogen als Beleg für die zerstörerischen Wirkungen des Kapitalismus auf das Leben der großstädtischen Proletariermassen. Otto Rühle beschreibt die Straße unter der Überschrift »Wege zum Laster« als »Schule der Unmoral und des sittlichen Verderbs« (1922, S. 176 ff.). Straße als Erzieherin – Zur gleichen Zeit nehmen Vertreter der Reformpädagogik eine kontrastierende Perspektive ein. Ziel dieser »Großstadtpädagogik« oder »Pädagogik der Straße« ist es, so Johannes Tews (1911) »die Straße als Erzieherin« in den Unterricht zu integrieren. Die Schule erkennt an, dass die Straße »eine Lehrmeisterin ersten Ranges« ist. »Die Straße der Großstadt erweitert den Blick des Kindes weit über das hinaus, was das häusliche Leben und oft auch die Schule bietet.« (Tews 1911, S. 108) Entsprechend den reformpädagogischen Überzeugungen soll die Schule »im alltäglichen Leben des Kindes« wurzeln. Über die Straße erschließt der Lehrer »dem Anschauungsunterricht ein neues Gebiet«. Die Straße erscheint dem pädagogischen Blick jetzt als »ein Museum, ein Theater, ein Buch […]. Das Schaufenster der Großstadt ist geradezu ein Schulbuch, ein Schulbuch mit Tausenden von Illustrationen in einer Farbenpracht und einer Naturtreue, wie sie die größte Kunst nicht hervorzurufen vermöchte. Denn dieses Schulbuch enthält die Dinge selbst« (Tews 1911, S. 111 f.).
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Der Lernort Straße gilt diesen Pädagogen als Sozialisationsinstanz in politischer Bildung: »Die Straße der Großstadt ist ihm eine Schule demokratischer und sozialer Weltanschauung. Hier lernt es die Gleichberechtigung in der ausgeprägtesten Form kennen.« (Ebd., S. 105, 109) Der Schulpädagoge A. Simon führt diesen Gedanken aus und zeichnet ein Bild von der Straßengemeinschaft, die mit ihrer Ordnung inmitten der politischen Machtkämpfe in der Weimarer Zeit der Demokratie vorlebe: »Das Kind sieht und fühlt sich auf der Straße als vollberechtigtes Glied der großen Straßengemeinschaft. Es ahnt und erlebt hier, eingegliedert mit allen übrigen in die Ordnung der Straße, das, was wir Demokratie und sozialen Ausgleich nennen.« (Simon 1926, S. 502) Fassen wir zusammen: Was einer restaurativen Fürsorgepädagogik als Schreckensvision erscheint, sieht die progressiv-liberale Pädagogik als erwünschte und notwendige Lerngelegenheit für junge BürgerInnen an. Die Straße ist der öffentliche Raum, wo gesellschaftliche Zustände und Auseinandersetzungen wie nirgends sonst studiert und beurteilt werden können. Sie ist ein privilegierter Lernort für gesellschaftlichen Anschauungsunterricht. Die dort möglichen unverstellten Erfahrungen sind als Lernchancen zu begreifen. Die aufgeklärte Pädagogik projiziert ihr Bild von bürgerlicher Gesellschaft auf den Straßenraum: Hier gehen selbst bestimmende BürgerInnen in freier und gleicher Weise miteinander um; hier ist die tauschende Gesellschaft – ohne Ausbeutung und Herrschaft – bei sich selbst. Betreten Kinder und Jugendliche diesen Raum, fallen die pädagogischen Abhängigkeiten von ihnen ab, unter denen sie ansonsten stehen. Sie erleben ein Stück weit, was es heißt, als Gleicher mit Gleichen zu verkehren. Beide Perspektiven sind nach wie vor gegenwärtig in unseren Diskursen unterschwellig lebendig. Straße als Erlebnisraum heute, der ethnografische Blick Zur Gegenwart hat die kontrovers geführte Debatte in der Pädagogik an Brisanz verloren: Prozesse der Verhäuslichung bestimmen die langfristige Entwicklungsrichtung heutiger Kindheit, bildungspolitische Konzepte bevorzugen ein institutionalisiertes ausgedehntes pädagogisches Moratorium, der öffentliche städtische Raum dient zunehmend ausschließlich dem Verkehr und ökonomischen Interessen. Allerdings, unter dem Motto Kampf um den öffentlichen Raum als Ort für Kinder, setzt die Kontroverse um die Straße neue Impulse: In einem Bündnis kämpfen StadtplanerInnen, KindheitsforscherInnen und PädagogInnen alternativer Reformbewegungen gegen die Vernichtung der Außenräume als Aufenthaltsorte für Kinder (vgl. Blinkert et al. 2015; Richard-Elsner 2017). Gefragt sind eine Forschung mit Kindern sowie die ethnografisch orientierte Beobachtung der Straßenöffentlichkeit und seiner jungen NutzerInnen. Was bietet ihnen
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die Straßenöffentlichkeit? Wofür nutzen sie den Raum? In Orientierung an die Überlegungen in der Pädagogik seit nunmehr über 100 Jahren zur Bedeutung von »Erlebnis« für die kindliche Lebenswelt und für Bildungsprozesse befragen wir die Straßenöffentlichkeit nach ihrem Erlebnisgehalt. Eigenschaften des öffentlichen Raumes, die Kindern Erlebnismöglichkeiten bereitstellen: Der öffentliche Raum ist auf Mobilität hin angelegt und öffnet die Grenzen des nahen Lebensraumes. Diese Ausrichtung kommt Kindern als Gegenmilieu zur eingrenzenden, abschließenden Welt der Familie und anderer pädagogischer Einrichtungen gelegen. Hier erfahren sie Individualisierung von Raumaneignung und Mobilität: allein und ohne pädagogischen Schutz auf Entdeckungsreise gehen. Kinder sind nicht nur Lernende in Sachen Bewegung und Beweglichkeit, sie verfügen auch über besondere Kompetenzen in diesem Bereich. Auf der Straße können sie ihre Geschicklichkeit sich und einem staunenden Publikum beweisen, ihre Kunstfertigkeit im Umgang mit Bewegungsgeräten demonstrieren. Keine Altersgruppe hat mehr Vergnügen am Fahrrad als Schulkinder. Der öffentliche Straßenraum ist möbliert. Bekanntes und überall vorfindliches Straßenmobiliar sind zum Beispiel: Verkehrsschilder, Ampelanlagen, Haltestellenhäuschen, Bänke, Treppengeländer, Automaten. Das Mobiliar ist zwar für bestimmte Zwecke gedacht, es ist aber mehr oder weniger leicht auch für andere Ziele zu nutzen (vgl. Muchow und Muchow 2012 [1935]). Für Kinder ist die kostenlose Zugänglichkeit dieses Mobiliars von besonderer Bedeutung. Im Vergleich zu Erwachsenen sind Kinder vergleichsweise besitz- und mittellos. Das Straßenmobiliar und der Straßenraum lassen sich als Treffpunkt nutzen, was unter Umständen in den begrenzten Privaträumen nicht oder nur unter besonderer Elternkontrolle möglich wäre. Im öffentlichen Straßenraum kommen viele unterschiedliche Menschen zusammen: Bekannte und Fremde; verschiedene ethnische Gruppen; Junge und Alte; physisch Behinderte und psychisch Verstörte; Fremde und Feinde; traditionell Gekleidete und modische Avantgarde oder Subkultur. Es heißt: Sehen und gesehen werden. Der Straßenraum als öffentlicher Laufsteg, als Treffpunkt, als Raum flüchtiger Begegnungen und kurzer Augenblicke, als Platz unfreiwilliger direkter physischer Konfrontationen von Menschen. Die Straßenöffentlichkeit ist dazu angetan, dass Kinder ihre Menschenkenntnis über den Kreis der Menschen hinaus erweitern, die Elternhaus und andere pädagogische Einrichtungen bieten.
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Der öffentliche Straßenraum ist Schauplatz von Ereignissen aller Art: Aufmärsche, Demonstrationen, Straßenschlachten, Feste und Feiern, Ausstellungen, Märkte, Straßenmusik. Diese Ereignisse sprechen alle Sinne an, simultan und vielschichtig. Man erlebt zusammen mit anderen in einer »gleichgestimmten Menge«. Diese soziale Zusammenkunft vieler gibt Kindern die Gelegenheit, ihre Schaulust zu befriedigen. Das Netzwerk sozialer Kontrollen ist im öffentlichen Straßenraum weniger engmaschig als im Bereich privater, verhäuslichter Räume. Zwar finden sich hier Ortskontrolleure (Polizisten, Geschäftsinhaber, Passanten), die das Geschehen auf der Straße beobachten, kommentieren und bei Gelegenheit auch eingreifen. Gleichwohl ist diese Kontrolle lückenhaft, es lassen sich kontrollarme Raumnischen ausfindig machen und ausnutzen. Das soziale Leben in den urbanisierten Straßenräumen ist keineswegs »ungeregelt«. Vielmehr folgt es spezifischen Zwängen. Es gilt eine Etikette, wie man in der Öffentlichkeit zu gehen, sich zu kleiden oder sich zu treffen hat (vgl. Goffman 1971; Goffman 1973). Wenn Kinder die soziale Etikette des öffentlichen Lebens verletzen, so wird dieses mit einer gewissen Nachsicht behandelt. Das gilt für die Zurschaustellung von Neugier ebenso wie für Gefühlsausbrüche oder für irreguläres Verhalten als PassantIn. Seitens der Kinder lässt sich diese Nachsicht für ihre Zwecke ausbeuten. Das Verhalten der Jüngeren in Warenhäusern mag als Beispiel dienen, wie Kinder es bewerkstelligen, den an sich begrenzten Erlebnischarakter dieses Ortes zu steigern (vgl. Muchow und Muchow 2012 [1935]).
Wie geht es weiter – die Straße als Ort für Kinder? Es ist derzeit nicht möglich, eine definitive Einschätzung vorzunehmen. Gelingt es, den Straßenraum auch als Ort zum Verweilen, als Erlebnisort für Kinder zu bewahren und zu gestalten? Ihn als Sozialisationsinstanz neben Familie und Schule zu etablieren? Oder werden die ökonomischen Interessen oder die Angst vor unkontrollierten Einflüssen, das Sicherheitsrisiko, das Gesicht der Stadt beherrschen? Imbke Behnken und Jürgen Zinnecker †
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Literatur Behnken, Imbke (2006), Urbane Spiel- und Straßenwelten. Zeitzeugen und Dokumente am Anfang des 20. Jahrhunderts, Weinheim und München: Beltz Juventa. Blinkert, Baldo, Peter Höfflin, Alexandra Schmider und Jürgen Spiegel (2015), Raum für Kinderspiel! Berlin: Lit. Goffman, Erving (1971), Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum, Gütersloh: Bertelsmann-Fachverlag. Hetzer, Hildegard (1929), Kindheit und Armut. Psychologische Methoden in Armutsforschung und Armutsbekämpfung, Leipzig: Hirzel. Muchow, Martha und Hans H. Muchow (2012 [1935]), Der Lebensraum des Großstadtkindes, Weinheim und Basel: Beltz Juventa. Richard-Elsner, Christiane (2017), Draußen spielen, Weinheim und Basel: Beltz Juventa. Rude, Adolf (1915), Schulpraxis. Unter besonderer Berücksichtigung der neueren Bestrebungen und Einrichtungen, Leipzig: Zickfeldt. Rühle, Otto (1922), Das proletarische Kind. Eine Monografie, München: Albert Langen. Simon, A. (1927), Großstadtkind und Straße, Die Schulpflege 33, S. 502 ff. Tews, Johannes (1911), Großstadtpädagogik. Vorträge, gehalten in der Humboldt-Akademie zu Berlin, Leipzig: B.G. Teubner. Zinnecker, Jürgen (2001), Stadtkids. Kinderleben zwischen Straße und Schule, Weinheim und München: Beltz Juventa.
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In der Folge »Arcangel« der Science-Fiction-Serie »Black Mirror« lässt eine Mutter ihrer Tochter einen Chip implantieren, der ihre Ortung und Überwachung in Echtzeit erlaubt. Fortan kann die Erziehungsberechtigte auf dem Tablet mitverfolgen, wo ihre Tochter was treibt und was sie dort zum Besten gibt. Die Folgen des technologischen Gesamtpakets sind für beide Seiten äußerst unangenehm. Noch ruft Tracking, also die Ortung und Verfolgung der Bewegung eines Kindes, bei vielen Eltern ein Unbehagen hervor (vgl. Verbraucherzentrale 2018) – zugleich ist es nichts, was nicht bereits, zumal technisch problemlos möglich, diskutiert und erprobt worden wäre. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Tracking von Kindern. Gemeint ist damit im engeren Sinne die Verfolgung der Position ohne Zeitversatz, während für die zeitversetzte Verfolgung auch der Begriff »Tracing« (»Hinterherspionieren«) verwendet wird (wobei letzteres ein Nebenprodukt des Tracking ist, das implizit mitgedacht werden muss). Tracking stellt sich als reizvolle Begrifflichkeit für diesen Band dar, da es sich um eine Überwachungsmethode handelt, die einerseits der elterlichen Aufsichtspflicht zu Gute kommt, andererseits im Sinne von Location/Spatial Privacy (vgl. Armstrong und Ruggles 2004) einen immanenten Eingriff in die Intimsphäre darstellt und die Frage nach der Bedeutung der unbeobachteten Bewegungsfreiheit von Kindern im Rahmen ihrer Entwicklung aufwirft. Das Spannungsfeld aus elterlicher Angst, realer Bedrohung, Technologiemarkt und Bildung zur Selbstständigkeit wird im Folgenden ausgelotet. Technologie, Funktion und Markt Überwachung beginnt mit dem Babyfon, oft genutzt, wenn Eltern sich außer Hör-/Schrei-Weite des schlafenden Nachwuchses bewegen möchten. Die geographische Ortung spielt hierbei noch keine Rolle – im Gegenteil, durch gemeinsame Frequenznutzung sind durchaus Verwechslungen mit Nachbars Kindern (und das unfreiwillige Mithören) möglich. Neuere Geräte liefern ein Maximum an Information zur Überbrückung der (zugegeben kurzen) Distanz, vom Video
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bis hin zur Atemfrequenz des Kindes. Hacker-Zugriffe sowohl auf die Daten als auch auf die Steuerung der Geräte sind bereits bekannt, etwa die beliebte Pressemeldung, dass ein Hacker in Ohio per Ansage unflätiger Begriffe versuchte, das Baby aufzuwecken. Nun ist die Möglichkeit Eltern mitzuteilen, dass ihr nahezu immobiles Kind Hilfe oder Trost braucht, legitim und die prompte elterliche Reaktion auf derartige Anforderungen für die frühkindliche Entwicklung absolut notwendig. Interessant wird es, wenn Produkte auf ältere Kinder abzielen. Niedlich mutet die damals noch ironisch-dystopisch gemeinte Zukunftsvision von »Google Bee« an, die Aktivist*innen im Rahmen der re:publica 2014 erdachten: Mit diesem »little friend in the sky«, einer kleinen Drohne, könne man seine Kinder überwachen, wenn man keine Zeit habe, und erhalte am Ende des Tages darüber noch ein schönes Video. Technisch unrealistisch ist das mittlerweile überhaupt nicht mehr, aber ein paar rechtliche Restriktionen für die Steuerung von Drohnen stehen dem im Wege. Auch in der Debatte um »Google Glass« (jetzt geht es um ein einst tatsächlich genutztes Produkt) wurde von einigen Nutzer*innen die Möglichkeit diskutiert, ob Eltern nicht nur die Position, sondern auch den Blick ihrer Google Glass-tragenden Kinder mitverfolgen könnten, sozusagen als Beobachter*innen der Beobachter*innen. Diese datenschutzrechtlich (und auch medizinisch) äußerst spannende Frage dürfte sich zumindest in Bezug auf Google Glass nun erledigt haben. Praktisch realisiert werden hingegen Apps, die die Position der Smartphones von Kindern an die Mobiltelefone der Eltern übermitteln, sowie GPS-Tracker für Kinder, die noch kein Smartphone mit sich herumtragen. Die Geräte nutzen in der Regel GPS, aber auch WLAN- und Funkzellenortung. Tracking über Gesichtserkennung durch öffentliche Überwachungskameras ist mancherorts in der Erwachsenenwelt bereits in Erprobung, spielt aber für das Tracking von Kindern noch keine Rolle. Die Tokioer Nahverkehrsbetriebe nutzen wiederum den Chip eines Schülertickets, um Eltern auf Wunsch eine Nachricht zukommen lassen, wenn ihr Kind die Sperre an einer Station durchquert. Im Fall der Apps sind Ortung und Weitergabe der Daten bereits durch die Smartphone-Hardware gesichert. Tracker für jüngere Kinder beinhalten in der Regel einen GPS-Empfänger und eine SIM-Karte für die Datenübertragung. Die Geräte sind als Anhänger, Kindertelefon oder Armbanduhr gestaltet (mit so netten Namen wie »Fröschli«). Als Zusatzfunktion erlauben einige per Knopfdruck das Absetzen eines Notrufs und das Anklingeln oder Anrufen des Kindes (sollten die Eltern außergewöhnliche Bewegungsmuster festgestellt haben und nachfragen wollen). Selbstverständlich liefern Bewegungsdaten auch Informationen über die Geschwindigkeit des Kindes (»Bummeln«). Viele Geräte erlauben Geofencing wie bei einer elektronischen Fußfessel, indem ein Bereich (etwa der Schulweg) gesetzt werden
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kann, bei dessen Verlassen die Eltern einen Alarm erhalten. Damit wird der vorgesehene Aktionsradius des Kindes definiert, innerhalb dessen es sich »frei« bewegen darf. Manche Armbanduhren melden gar, wenn das Kind die Schnalle öffnet, um das Gadget abzulegen. Zudem erlauben es einige Geräte auch – datenschutzrechtlich brisant – das Kind ohne weitere Vorwarnung zu belauschen. Diese Funktion ist seit dem Jahr 2017 in Deutschland verboten; der Besitz der dazu fähigen Geräte ebenfalls. Die App »Schutzranzen« setzt ebenfalls auf Ortung von Kindern, teilt diese Daten aber nicht nur mit Eltern, sondern auch mit anderen Nutzer*innen. Eltern können wie gehabt die Position ihrer Kinder abfragen; Autofahrer*innen sollen laut Hersteller (ohne Angabe personenbezogener Daten des Kindes) gewarnt werden, wenn ein Kind im Umkreis von 150 Metern auftaucht oder eine Schule in der Nähe ist. Auf welche Weise damit tatsächlich Unfälle verhindert werden, wie es die Firma zur Legitimation ihres Produkts anführt, ist nicht geklärt. Gesellschaft, Erziehung und Praktiken Dass es einen Absatzmarkt für entsprechende Geräte gibt, hängt auch damit zusammen, dass Tracking von Erwachsenen zunehmend ein Normalfall ist. Abgesehen von Kuriosa wie der App »Girls around me«, die einst mit Hilfe von Foursquare ein Mashup zur Lokalisierung von Frauen (und Männern) samt Facebook-Profil-Informationen bot, ist es selbstverständlich, dass der OrientierungSuchende von Google (Maps), der Autofahrer vom Navigationssystem und der Uber-Fahrer von der App lokalisiert wird. Jede*r kann sehen, wo das erwartete Paket gerade ist, und Firmen mit Mitarbeiter*innen im Außendienst überwachen deren Positionen, um sie effizienter einsetzen zu können. Das Tracking von Kindern zielt nun weniger auf eine erwartete Serviceleistung ab, sondern auf die archaische und darin verständliche Sorge der Eltern um das Wohlergeben ihrer Kinder. Die Begriffe »Sorge(recht)« und »sich sorgen« hängen etymologisch eng zusammen. Im Jahr 2017 lebten etwa 9,9 Millionen 0 bis 13-Jährige in Deutschland, wobei das Bundeskriminalamt 8.234 Vermisstenfälle in dieser Altersklasse notierte, von denen über 95 % aufgeklärt wurden. Die übrigen etwa 400 schließen auch zu großen Teilen nicht mehr behördlich erfasste unbegleitete Flüchtlinge sowie durch einen Elternteil entzogene Kinder ein (vgl. BKA 2018). Die wenigen Vermisstenfälle, auf die Tracking primär abzielt, sollen hier freilich in ihrem Schrecken und in ihrer Tragik nicht bagatellisiert werden. Doch ob Tracking eine konkrete Hilfe sein kann, ist nicht geklärt. Täter*innen würden die ohnehin nicht unauffälligen Geräte mit gewisser Wahrscheinlichkeit entsorgen. Bleibt natürlich auch die Sorge in einer nicht für die Bedürfnisse und Fähigkeiten von Kindern konstruierten, automobilen (Stadt-)
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Welt. Rund 15.500 Kinder verunglückten in Deutschland als Fußgänger*innen oder Radfahrer*innen im Straßenverkehr (vgl. Statistisches Bundesamt 2016). Die Eingriffsmöglichkeiten ins Geschehen sind aus der Distanz aber begrenzt. Tracking kann als Ersatz für die Überwachung durch die (dörfliche) Nachbarschaft verstanden werden, die allerdings oft im Sinne des Berichts an die Eltern etwas vom Tracing hat(te). Juristisch gesehen dürfen Eltern in Deutschland ihre Kinder tracken. Sie haben als Sorgeberechtigte in der Regel das Aufenthaltsbestimmungsrecht, zumal Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre formal nicht selbst über ihren Aufenthaltsort bestimmen dürfen. Vermisst wird ein Kind, wenn es seinen »gewohnten Lebenskreis verlassen hat, [und … sein] derzeitiger Aufenthalt unbekannt ist« (BKA 2018). Im Falle des Tracking wäre der Aufenthalt stets bekannt, aber die Abweichung vom gewohnten Lebenskreis würde deutlich öfter erkennbar sein. Würde dies den Vermisstenbegriff obsolet machen? Tatsächlich weiß ohne Tracking in der Regel nicht jede*r Sorgeberechtigte zu jeder Zeit sicher, wo sich das Kind gerade genau aufhält. Tracking schließt die Lücken zwischen Alltagsroutinen und Absprachen mit dem Kind. Es ist hingegen nicht Teil des Vertrauensverhältnisses, das Kinder und Jugendliche durchaus dehnen, das in jener Absprache liegt. Tracking ist eine rigorose Durchsetzung des elterlichen Aufenthaltsbestimmungsrechts. Zugleich steht Tracking in Relation zur Aufsichtspflicht. Diese dient dem »Schutz der Minderjährigen vor Schäden aller Art, die ihnen durch sie selbst oder durch Dritte entstehen können, und [… dem] Schutz außen stehender Dritter vor Schäden, die diesen von den Kindern zugefügt werden können« (BAG 2014). »Aufsichtspflichtige Personen müssen ständig wissen, wo sich die ihnen zur Aufsicht anvertrauten Kinder und Jugendlichen befinden« (ebd.) – was für Tracking spräche, da Kinder sich bekanntermaßen selbstständig bewegen können und Eltern (oder andere potentiell Aufsichtspflichtige) zumindest ab einem gewissen Alter des Nachwuchses nicht ständig in dessen Nähe weilen. Zugleich aber finden sich an dieser Stelle der die Tracking-Utopien störende Satz »Aufsichtspflicht bedeutet nicht unbedingt, dass ein Überwachen des Kindes durch ständige Kontrolle erforderlich ist« (ebd.) und das Resümee: »Die Aufsichtspflicht steht also in einem Spannungsverhältnis zu dem Recht des Kindes auf Entfaltung seiner Persönlichkeit.« (Ebd.) Auch ist zu sagen, dass das aus der Aufsichtspflicht resultierende Eingreifen sich angesichts der Distanz im Zuge von Tracking etwas schwierig gestalten dürfte. Pädagog*innen betonen, dass Kinder eine sukzessive Ausweitung der Freiräume benötigen, wozu es gehört, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen und über gewisse Zeiträume eigenständig zu agieren. Die Relevanz der durch aktive Handlung (und Bewegung) gekennzeichneten Raumaneignung
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für kindliche Entwicklung beschreibt unter anderen Daum (2006). Tracking ist letztendlich, in Abwägung verschiedener Altersklassen, ein Instrument des Helicopter-/Over-Parenting. Der Eingriff in die Selbstbestimmung im Zuge dieses Erziehungsstils wird nicht nur im Feuilleton karikiert, sondern auch als entwicklungsschädigend auf Grund der Beschneidung von Freiräumen herausgestellt. Subversion, Freiwilligkeit und Didaktik In einer Umfrage unter Eltern von Kindern zwischen 3 und 14 Jahren können sich 46 Prozent für eine zukünftige Nutzung dieser Technologie erwärmen, 48 Prozent sind dagegen (vgl. Verbraucherzentrale 2018). Letztere sehen keinen Mehrwert für die Sicherheit und/oder sorgen sich um die Verarbeitung der Daten seitens der Anbieter. Acht Prozent nutzen bereits Tracking an ihrem Kind (ebd.). Die auf die Zukunft ausgerichteten Zahlen lassen erwarten, dass die Aushandlungen zwischen Kindern und Eltern um die Bewegungsfreiheit, um die Verpflichtung zum fernmündlichen Kommunizieren (»Ruf an, wenn du da bist.«) bald auch um die komplexen Grenzziehungen um Beobachtungsfreiheit zwischen Verantwortung, Vertrauen und Verselbstständigung ausgeweitet werden können (vgl. Albrechtslund und Lauritsen 2018). Es ist auch zu erwarten, dass Kinder subversive Praktiken entwickeln werden. In der bekannten Cartoonserie »The Simpsons« macht Bart dies bereits vor: Er bindet das Device einem Vogel ans Bein und schickt damit seine Familie auf eine lange, Tablet-gestützte Verfolgungsjagd, um den vermeintlich verlorenen Sohn einzufangen. Allerdings kann der Drang zur Subversion auch dann enden, wenn die Anforderungen internalisiert werden. Die Konstruktion der Kindheit mit dem magischen Endpunkt »18« suggeriert erwachsene Mündigkeit und kindliche Unmündigkeit, mit der wir Eingriffe in die Autonomie von Kindern durch Tracking legitimieren (vgl. Giesinger 2006). Dabei vergessen wir, dass wir selbst im Bereich des »Participatory Tracking« wenig mündig und zugleich Kindern ein potentiell wirksames Vorbild sind. Wir sammeln beständig Daten, um unsere Terminplanung zu managen, unser Training zu optimieren, uns mit anderen vergleichen zu können und Prämien zu erhalten. Dabei lassen wir es zu, dass eine App uns sogar den schönen (mütter-/väterlichen) Vorschlag macht, dass man doch noch ein Geburtstagsgeschenk für häufig angewählten Kontakt »Soundso« kaufen könne, wenn man schon hier im Einkaufszentrum und der nächste Termin in fünfzehn Minuten nur fünf Fußminuten entfernt sei. Auch Kinder werden zunehmend subtiler eingebunden: Ein skandinavischer Outdoor-Bekleidungshersteller verfolgt einen Ansatz des Selbst-Tracking. In der angebotenen Kinderkleidung befindet sich eine kleine Tasche für einen Sensor, mit dem Kinder per
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Smartphone ihre körperlichen Aktivitäten auf einer kindgerechten App verfolgen können, um, nach Herstellerangabe, zu mehr Bewegung angeregt zu werden. Trackingtechnologien können aber auch didaktisch genutzt werden, um ein Bewusstsein über diese selbst zu schaffen. Beim GPS-Drawing, das räumliche Orientierung technikgestützt – freilich ganz offensichtlich im Sinne eines SelbstTracking – trainiert, wird sichtbar, dass mittels GPS zu jeder Zeit der eigene Ort prinzipiell beobachtbar ist. Projekte, in denen Schüler*innen gegenseitig ihre getrackten Pfade auslesen und interpretieren, legen offen, wie viel Information in raumzeitlichen Koordinaten in ihrem Zusammenspiel mit weiteren Ortsinformationen steckt. Diese Erkenntnisse bringen die Technologie nicht aus der Welt, ermöglichen es aber, zusammen mit einem komplexen Wissen ihren Mehrwert zu beurteilen und eine bewusstere Nutzungsentscheidung zu treffen. Inga Gyrl Literatur Albrechtslund, Anders und Peter Lauritsen (2018), Childhood, Intimacy and Surveillance Practices, http://projects.au.dk/chip/ (September 2018). Armstrong, Marc P. und Amy J. Ruggles (2005), Geographic information technologies and spatial privacy, Cartographica: The International Journal for Geographic Information and Geovisualization 4, S. 63-73. Bundesarbeitsgemeinschaft Mehr Sicherheit für Kinder (2014), Was verlangt die elterliche Aufsichtspflicht? www.kindersicherheit.de/kinderunfaelle-vermeiden/ artikel/was-verlangt-die-elterliche-aufsichtspflicht.html (September 2018). Bundeskriminalamt (2018), Die polizeiliche Bearbeitung von Vermisstenfällen in Deutschland, https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Ermittlungsunter stuetzung/Vermisstensachbearbeitung/vermisstensachbearbeitung_node.html (September 2018). Daum, Egbert (2006), Raumaneignung. Grundkonzeption und unterrichtspraktische Relevanz, GW Unterricht 103, S. 7-16. Giesinger, Johannes (2006), Paternalismus und Erziehung. Zur Rechtfertigung pädagogischer Eingriffe, Zeitschrift für Pädagogik 52(2), S. 265-284. Jeffrey, Craig (2012), Geographies of children and youth II: Global youth agency, Progress in Human Geography 36(2), S. 245-253. Statistisches Bundesamt (2017), Verkehrsunfälle, Kinderunfälle im Straßenverkehr 2016, https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Transport Verkehr/Verkehrsunfaelle/UnfaelleKinder5462405167004.pdf?__blob=publi cationFile (September 2018).
Unterwegssein
Unterwegssein kann vieles bedeuten, das zeigt bereits ein Blick in den Duden: sich auf dem Weg irgendwohin befinden, auf der Reise sein, draußen, nicht daheim, außer Haus sein, auswärts, fort, nicht hier, sondern auf Achse sein. Es geht um körperliche Bewegung, um räumliches Mobilsein – nicht in privaten Innenräumen, sondern in öffentlichen Außenräumen. Im übertragenen Sinne schwingt begrifflich jedoch auch »sich entwickeln«, »sich im Übergang befinden« mit. Aufzuwachsen bedeutet in modernen Gesellschaften, wie der unseren, sich mit einer differenzierten sozialen Umwelt und einer Vielfalt von räumlichen Bezügen auseinanderzusetzen, was es notwendig macht, mobil zu sein. Im Prozess der Sozialisation eignen sich Kinder so nicht nur eine Vielzahl von Räumen an, sondern auch Wissen, Fertigkeiten und Normen. Sie erwerben spezifische Mobilitätskompetenzen, wie Rad oder U-Bahn zu fahren oder über Ländergrenzen hinweg zu reisen, und entwickeln mobilitätsbezogene Einstellungen und Präferenzen (vgl. Tully und Baier 2018). Die Formen und Möglichkeiten des Unterwegsseins von Kindern verändern sich im Verlauf ihrer Entwicklung mit zunehmenden motorischen, audiovisuellen und kognitiven Fähigkeiten. Babys und Kleinkinder sind oft unterwegs, obwohl sie sich selbst körperlich gar nicht vorwärts bewegen, sondern an einem Ort sitzen oder liegen bleiben. Sie werden von einem Elternteil, transportiert, sei es, dass sie im Tuch getragen, im Kinderwagen geschoben oder im Auto, im Kindersitz festgeschnallt, gefahren werden. Die Alltagsmobilität ihrer Eltern bestimmt insofern weitgehend das Unterwegssein von Säuglingen und Kleinkindern – zumindest so lange, wie Klein-Susi nicht fordert, aus dem Buggy auszusteigen, ihn selbst zu schieben und damit kräftig Einfluss auf das Tempo, die Richtung und den Rhythmus des Spaziergangs zu nehmen. Unterwegs zu sein während der eigene Körper relativ passiv in einem Transportmittel ruht (movement whilst staying in place, Casey 1996), ist nämlich nur eine von mehreren Formen von körperlichen Bewegungen im Raum.
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Im Alter von wenigen Monaten beginnen Babys sich zu drehen, zu rollen oder durch den Raum zu krabbeln. Ab etwa einem Jahr sind sie – zunächst auf tapsigen und mit der Zeit mit immer geschickteren Beinen – unterwegs. Damit starten Kinder, sich selbstständig innerhalb von Orten, wie der Wohnung, einem Spielplatz, dem Innenhof oder einem Garten, zu bewegen (moving within a place). Ihre Möglichkeiten der Raumaneignung erweitern sich enorm, auch wenn diese kindlichen Bewegungs-Orte in der Regel durch Wände, Zäune oder anderweitig beschränkt sind. Zwischen verschiedenen Orten – gemeint ist von zu Hause, zur Kita oder Schule, zu Freunden*innen, zur Musikschule oder die Reise zu den Großeltern andernorts (moving between places) – sind Kinder im Vorschulalter fast ausnahmslos in Begleitung von Erwachsenen oder großen Geschwistern und damit unter Aufsicht unterwegs. In Deutschland scheint die Vorstellung normativ fest verankert zu sein, dass Kinder erst mit Erreichen des Grundschulalters selbständig »Fuß-Verkehrs-tauglich« sowie ab etwa zehn Jahren fähig sind, alleine mit dem Fahrrad auf der Straße unterwegs zu sein. Das gilt zumindest für urbane Räume und spiegelt sich in den zahlreichen Ratgebern und pädagogischen Angeboten zur Verkehrserziehung wider. Kinder unter elf Jahre haben heute im Vergleich zu den 1970er-Jahren sogar weniger Möglichkeiten, unbeaufsichtigt draußen zu spielen und selbstbestimmt mobil zu sein (vgl. Shaw et al. 2013). Statt zu Fuß zu gehen oder mit dem Rad zu fahren, kutschiert das Elterntaxi den Nachwuchs immer öfter. Ein elterliches Motiv hierfür ist der Schutz vor mutmaßlichen Gefahren der Straße, wie dem Verkehr, aber auch Belästigungen. Ein anderes ist, im oft stressigen Alltag mit Familie und Erwerbstätigkeit wertvolle Zeit mit den Kindern zu verbringen. Gesetzlich sind Eltern in Deutschland nach § 1631 BGB im Rahmen der Ausübung der Personensorge zwar verpflichtet, ihr Kind vor Gefahren zu schützen sowie zu beaufsichtigen. Klare Altersangaben, bis wann Kinder auf Ihren Wegen begleitet werden müssen, finden sich jedoch nicht. Über die Straßenverkehrsordnung ist im Hinblick auf die Beförderung von Kindern in Fahrzeugen seit 1993 die Kindersitzpflicht über das Alter (zwölf Jahre) sowie die Größe von Kindern (150 cm) genau geregelt. Darüber hinaus finden sich dort altersbezogene Vorschriften zur Nutzung von Fahrbahnen und Gehwegen durch Rad fahrende Kinder. Nicht umsonst sprechen wir heute von der »Generation Rücksitz«. Kinder im Grundschulalter legen mehr als ein Drittel, Vorschulkinder sogar mehr als die Hälfte all ihrer Wege als Mitfahrende im Auto zurück. Elf bis 17-Jährige fahren ebenfalls noch häufig im Auto mit, nutzen jedoch zunehmend öffentliche Verkehrsmittel und fahren mehr selbst mit dem Rad (vgl. BMVI 2018). Das Auto
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sowie Bus, Tram und S-Bahn sind für Kinder nicht einfach Transportmittel, um von A nach B zu kommen. Fahrzeuge sowie Mobilitätsinfrastrukturen, wie Bushaltestellen oder Bahnhöfe sind vielmehr bedeutende alltägliche Handlungs- und Erfahrungsräume (vgl. Barker 2009): Orte für Spiel, Kommunikation, Entspannung, Hausaufgaben, Freundschaften oder Essen. Die Haltestangen in U-Bahnen werden erklettert, sie eignen sich auch hervorragend, um Karussell zu spielen: mit einer Hand halten und ganz schnell im Kreis laufen, dabei nach außen lehnen und die Fliehkraft spüren. Die eigene Standfestigkeit lässt sich im Bus stehend erproben (ohne sich festzuhalten), wenn der Bus an der Haltestelle bremst und wieder losfährt. Die spezifische »Vorder- und Rücksitz-Geographie« von Autos (Laurier et al. 2008, S. 12) führt im Familienalltag häufig zu Diskussionen zwischen Eltern und Kindern. Während denen, die ein Fahrzeug lenken, ein klarer Sitzplatz zugewiesen ist, stehen den Passagieren mehrere Optionen zur Verfügung, die je verschiedene Vor- und Nachteile haben sowie symbolisch unterschiedlich belegt sind. Wer darf im Auto vorne – auf dem Platz für Große mit guter Aussicht und Zugang zum Autoradio – sitzen? Und wer muss auf der Rückbank mit eingeschränkter Sicht Platz nehmen? Vorne sitzen zu dürfen, während Mama, Papa oder die jüngeren Geschwister hinten Platz nehmen, wird von Kindern oftmals als Triumph und Statusgewinn empfunden. Autos sind demnach Orte, an denen widerstreitende Machtverhältnisse zwischen Eltern und Kindern sowie zwischen Geschwistern ausgehandelt werden. Spricht man mit acht- bis zwölfjährigen Kindern über ihr Unterwegssein, fahren manche gerne mal mit dem Auto und heißen die Begleitung durch Erwachsene gut, die ihnen Sicherheit gibt. Andere äußern sich jedoch durchaus kritisch zu den Taxi-Diensten ihrer Eltern. »Mein Vater holt mich immer mit dem Auto ab. Ich würde lieber zu Fuß gehen, weil der Rainer und meine Freunde erleben immer coole Sachen am Heimweg, und das versäum’ ich dann.« (Tom, zehn Jahre, erzählt von seinem Schulweg.) »Zu Fuß gehen mag ich, weil man da viel mehr sieht, wie mit dem Auto, weil mit dem Auto fährt man schnell vorbei und zu Fuß kann man auch mal kurz anhalten und schauen, was da so ist, wenn man will.« (Verena, zehn Jahre, erzählt von ihrem Schulweg.)
Kinder schätzen es meist, gemeinsam mit anderen unterwegs zu sein, sich draußen mit Kamerad*innen zu bewegen. Gemeinsam um die Blöcke zu ziehen, auch ohne konkretes Ziel, ist oftmals ein wichtiges Moment von Freundschaften.
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Kinder weisen in ihren Erzählungen auf die besonderen Vorteile hin, die ihnen das Zufuß-Gehen gegenüber dem Autofahren bietet: Sie betonen zuvorderst soziale Aspekte, wie die Möglichkeit Freund*innen zu treffen, neben gesundheitlichen und umweltschonenden Aspekten. Überdies heben sie die höhere Erlebensqualität und Entscheidungsautonomie hervor, die ihnen Fußwege bieten. Letztere ist jedoch – selbst wenn die Kinder ohne Eltern unterwegs sind – im Allgemeinen dennoch durch elterliche Regeln beschränkt (vgl. Horton et al. 2014). Diese bestimmen unter anderem räumliche und zeitliche Grenzen, innerhalb derer sich die Kinder ohne Erwachsene in Außenräumen bewegen dürfen und knüpfen die Erlaubnis alleine unterwegs zu sein oftmals an die Bedingung, erreichbar zu sein. Erlaubt ist, bis zum nahe gelegenen Spielplatz im Park zu gehen, aber nicht über die große Straße. Und: Bevor es dunkel wird, heißt es, wieder zu Hause zu sein. Oder es ist okay, um den Häuserblock des eigenen Wohnquartiers zu ziehen, aber nur eine halbe Stunde lang – und bei eingeschaltetem Handy. Darüber hinaus kann man den Schilderungen von Kindern entnehmen, dass sie sich Warnungen der Eltern, vor gefährlichen Verkehrssituationen oder vor Fremden, sowie die in pädagogischen Angeboten erlernten Regeln zur Verkehrssicherheit, zu Eigen gemacht haben. Sie erzählen davon, dass sie selbstverständlich immer nach links und rechts schauen und Zebrastreifen nutzen würden, wenn sie eine Straße überqueren; dass sie nie in ein fremdes Auto einsteigen würden, selbst nicht, wenn man ihnen ein Eis verspräche; dass sie durch den Park einen Umweg zur Schule gingen, weil auf dem direkten Weg eine gefährliche Straße zu überqueren wäre. Was Kinder auf ihren Wegen als gefährdend empfinden, ist für uns Erwachsene oft schwer nachzuvollziehen: »Mama, heute hat uns eine Autofahrerin fast überfahren. Sie ist losgefahren, obwohl wir noch auf dem Zebrastreifen waren.« Oder: »Ich konnte nicht weitergehen, sondern musste warten, bis die Bande vom Leo den Weg frei gemacht hat.« Die Wahrnehmung von Gefahren und das Bewusstsein präventiv zu handeln, entwickeln sich im frühen Lebensverlauf erst langsam. Kinder eignen sich in der Auseinandersetzung mit Gefahrensituationen eigene Sicherheitsstrategien an: Sie gehen in Gruppen; würden lauthals schreien, wenn sie jemand zwingen würde, ungewollt mitzukommen; sich Hilfe bei der Verkäuferin in der kleinen Bäckerei am Eck holen, bei der sie morgens regelmäßig ihr Taschengeld in eine gemischte Süßigkeiten-Tüte umwandeln. Unterwegssein – alleine oder gemeinsam mit anderen, zu Fuß oder mithilfe verschiedener Verkehrsmittel – ist bedeutungsvoll und keineswegs verschwendete, untätige Zeit. Kinder gestalten und nutzen ihr Mobilsein auf eigene Weise. Auf regelmäßig zurückgelegten Wegen, wie dem zur Schule oder zum entfernt
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wohnenden Elternteil, etablieren Kinder Routinen. Manche Aktivitäten, wie das stete Spielen eines bestimmten Spiels am »Handy« nach dem Besteigen der UBahn oder das Kaufen einer Brezel am Bahnhof vor Besteigen des Zuges, können sogar als Übergangsrituale von der einen in eine andere Alltagswelt gedeutet werden. »Und sonst sitzen wir im Zug und reden, was wir so in den zwei Wochen alles erlebt haben und so, und was passiert ist. Ja, und dann reden wir, dann essen wir und trinken wir so’n bisschen. Und spielen Karten.« (Paul, elf Jahre, fährt zusammen mit seiner neunjährigen Schwester jedes zweite Wochenende zwischen den Wohnorten seiner getrenntlebenden Eltern drei Stunden Zug.)
Unterwegssein bietet Kindern überdies Begegnungen und Erlebnisse mit anderen und wird sinnlich erfahren. Auf dem Weg ist es laut oder ganz still, heiß oder kalt, man schwitzt oder friert, es riecht gut aus der Bäckerei am Eck oder es stinkt, wenn man den Müllcontainer passiert. Der Weg strengt an, tut gut, macht Angst oder Spaß, birgt Herausforderungen und manchmal Konflikte oder Unsicherheiten, mit denen man umgehen muss, Erfahrungen, dass man solche Dinge gut bewältigen kann. »Auf dem Weg, da ist im Winter immer ganz viel Eis, da ist eine riesige Eisfläche und wenn es regnet, ist da eine riesige Pfütze. Da springen wir hinein und im Winter schlittern wir halt drüber, wenn wir Zeit haben.« (Sara, zehn Jahre, erzählt von ihrem Schulweg.)
Alltagsmobilität beinhaltet immer gleichzeitig Momente körperlicher Bewegung wie des Still-Sitzens oder Stehens, des Wartens und des Eilens und ist somit mit Aufenthalten und Querungen von unterschiedlichen Räumen, wie Straßen, Plätzen, Grünflächen, Bahnhöfen oder Zügen, verbunden. Diese Zwischen-Räume sind keine bedeutungslosen Transiträume zwischen einem Ausgangsort und einem Ankunftsort, sondern je spezifische Erfahrungs-, Kommunikations- und Handlungsräume mit eigenständigen sozial-räumlichen wie physisch-materiellen Qualitäten, die Möglichkeiten für Aktivitäten bieten, manchmal umstritten sind und Restriktionen aufweisen. Auf ihren Wegen eignen sich Kinder die durchquerten Räume an, indem sie sich kreativ deren Veränderungs- und Umnutzungsmöglichkeiten bedienen (vgl. Deinet 2014). »Ja, wir gehen oft Umwege, die haben wir selbst gefunden, weil wir einmal was Neues finden wollten und nicht immer den gleichen Weg gehen wollten.« (Leyla, elf Jahre, erzählt von ihrem Schulweg.)
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Statt – wie von Planer*innen vorgesehen – auf den Gehwegen zu laufen, werden Geheimwege als Trampelpfade durchs Gebüsch gebahnt, Verstecke als Orte für Treffen außerhalb der Blicke von Erwachsenen angelegt. Statt den in Schulwegplänen oder von Eltern vorgesehenen Schulweg zu gehen, werden Abkürzungen durch Hinterhöfe erkundet und Umwege eingeschlagen, um die Freundin nach Hause zu begleiten. Michaela Schier Literatur Barker, John (2009), Driven to Distraction? Children’s Experiences of Car Travel, Mobilities 4(1), S. 59-76. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (Hrsg. 2018), Mobilität in Deutschland 2017: Kurzreport, Bonn. Casey, Edward (1996), How to Get from Space to Place in a Fairly Short Stretch of Time, in: Senses of Place, hg. v. Steven Feld und Keith Basso, Santa Fe: School for Advanced Research Press, S. 13-52. Deinet, Ulrich (2014), Das Aneignungskonzept als Praxistheorie für die Soziale Arbeit, sozialraum.de 6(1), https://www.sozialraum.de/das-aneignungskonzept -als-praxistheorie-fuer-die-soziale-arbeit.php (September 2018). Horton, John, Pia Christensen, Peter Kraftl und Sophie Hadfield-Hill (2013), ›Walking … just walking‹. How children and young people’s everyday pedestrian practices matter, Social & Cultural Geography 15(1), S. 94-115. Laurier, Eric, Hayden Lorimer, Barry Brown, Owain Jones, Oskar Juhlin, Allyson Noble, Mark Perry, Daniele Pica, Philippe Sormani, Laura Watts und Alexandra Weilenmann (2008), Driving and ›Passengering‹. Notes on the Ordinary Organization of Car Travel, Mobilities 3(1), S. 1-23. Shaw, Ben, Bjorn Frauendienst, Andreas Redecker, Tim Jones und Mayer Hillman (2013), Children’s independent mobility: a comparative study in England and Germany (1971‐2010), London: Policy Studies Institute. Tully, Claus und Dirk Baier (2018), Mobilitätssozialisation, in: Verkehrspolitik. Eine interdisziplinäre Einführung, hg. v. Oliver Schwedes, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 225-241.
Utopie
Es gibt viele Definitionen von »Utopie«. Wir müssen uns zuerst auf eine einigen, um weiter über die Utopie von Kindern schreiben zu können. Ich schlage vor, mit der Definition von Karl Mannheim zu beginnen. In seinem Buch Ideologie und Utopie definiert er Utopie als ein Bewusstsein, das sich mit der Wirklichkeit (mit dem umgebenden Sein) »nicht in Deckung befindet« (Mannheim 1995, S. 169). Im Unterschied zu den Ideologien, die auch in diesem Bereich der Unwirklichkeit zu verorten sind, sind Utopien bestrebt, »die bestehende historische Seinswirklichkeit durch Gegenwirkung in der Richtung der eigenen Vorstellung zu transformieren« (Mannheim 1995, S. 172). Anhand dieser Definition wird deutlich, dass die Utopie nach Realisierung, nach Verwirklichung strebt. Sonst wäre sie keine Utopie, sondern reine Ideologie oder Fantasie beziehungsweise ein Hirngespinst. Utopien wollen Realität werden und sind daher oft auch mit einem Plan ihrer Realisierung verbunden. Der Architekt Yona Friedman spricht deswegen gleich von »machbaren Utopien«, um deren Ausführbarkeit mit einem Adjektiv zu verstärken und sie klar
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von Träumereien zu unterscheiden. Begleitet von einfachen Zeichnungen entwirft er in seinem Buch Machbare Utopien verschiedene Möglichkeiten, Utopien zu verwirklichen. Er beginnt mit einem einfachen Modell, indem er ein Strichmännchen zeichnet, das heute unzufrieden ist und morgen, so die Utopie, zufrieden: Herr X heute (unzufrieden) wird zu Herr X morgen (zufrieden) – dank der Ausführung eines Plans, der die Utopie des Zufrieden-Seins verwirklicht. Die Zeichnungen werden immer komplexer, aber die Hauptmomente (Herr X heute, Herr X morgen, Plan und Ausführung) sind immer vorhanden. Die Elemente, die die Zeichnungen immer komplexer gestalten, sind andere Strichmännchen, die Herr X überreden soll, an der Realisierung der Utopie teilzunehmen. Die Skizzen von Friedman erinnern an Kinderzeichnungen oder an Situationen, in denen Kinder gemeinsam spielen und sich auf bestimmte Spielsituationen einigen. Diese spielerischen Situationen können als die machbaren Utopien von Kindern gelesen werden. Stellen wir uns ein Beispiel vor: Eine Gruppe von Kindern entwirft eine Schlacht mit verschiedenen Figuren und Elementen. Im Laufe des Spiels gewinnen die Guten und alle leben in Freiheit und glücklich miteinander. Oft kommen die Kinder aber nicht zu diesem friedlichen Zustand, weil dann das Spiel zu Ende wäre, und eigentlich wollen sie nur weiterspielen. Ein anderes Beispiel: Eine Gruppe von Kindern spielt das Leben auf einem Bauernhof nach, wo alle Tiere ihren Platz haben und die Mitglieder der Familie in ihren Aufgaben perfekt miteinander harmonieren. Es wird lange gespielt, um die Kulisse und die Bedingungen für diese Situation aufzubauen. Man hat hier auch den Eindruck, das Spiel würde eigentlich darin bestehen, einen Rahmen für das Leben auf dem Bauernhof zu erschaffen. In Prinzip folgen diese zwei Beispiele bekannten stereotypen Spielarrangements, die von Marken wie Lego oder Playmobil bedient werden. Haben wir es hier mit Ideologien zu tun, die uns als Utopien verkauft werden? Das ist vielleicht so, aber bemerkenswert ist, dass die Kinder mit den »Utopien«, die sie von der Kulturindustrie und von den Erwachsenen vorgesetzt bekommen, spielen, diese aber nicht »bis zum Ende« oder immer wieder neu spielen. In diesem Nicht-bis-zum-Ende-Spielen besteht das Charakteristische der Utopien von Kindern – ein Verständnis von Utopie, von dem wir Erwachsene viel lernen könnten. Wenn wir zu unserer anfänglichen Definition von Utopie zurückkehren, müssen wir sogleich einige Justierungen vornehmen: Die Utopien der Kinder spielen mit den ideologischen »Utopien« der Erwachsenen. Die Verstrickung von Utopien und Ideologien wird hier insofern deutlich, als jede Ideologie eine eigene Utopie produziert, sodass wir nicht von einer Utopie, die alle haben,
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sprechen können. Mannheim selbst erkannte dieses Problem und versuchte auch »die Utopien« aller politischen Ideologien seiner Zeit zu analysieren – in der Hoffnung, eine Verständigung beziehungsweise Synthese zwischen den utopischen Bestrebungen zu finden. So als würde man aus allen Religionen die gemeinsame Bestrebung nach Transzendenz hervorheben, um die Unterschiede zu relativieren und eine Einigung zu erreichen. In diese synthetisierende Richtung bewegen sich die Utopien von Kindern nicht. Die Kinder arbeiten mit den »Utopien« der Erwachsenen, weil diese die Wunschbilder sind, die sie zur Verfügung bekommen, um sie spielerisch zu entfalten. Aber der Prozess der Realisierung ist viel wichtiger als deren Vollendung. Das lässt sich besonders bei Spielen mit Bausteinen beobachten. Spieldesigner haben Spiele in der gesamten Breite der »Utopien« der Erwachsenen entworfen: Es gibt Bauspiele, die das traditionelle Dorf oder die Altstadt – »so schön wie diese früher war« – darstellen. Und wir haben die Spiele der Architekten der Moderne, die die Stadt der Zukunft imaginieren. Wieder andere Spiele bedienen traditionelle Geschlechterrollen, andere brechen damit usw. Man könnte sagen, dass wir in der Spielwelt ganz grob zwei Extreme von Utopien Erwachsener vorfinden: die »konservativen« und die »progressiven«. Obwohl beide utopischen Landschaften den Kindern vermutlich je nach ideologischen Vorlieben der Familie zur Verfügung stehen, spielen sie mit diesen Dingen alle in mehr oder weniger gleicher Weise: Sie wollen hauptsächlich bauen. Deswegen ist die kindliche Utopie nur als Prozess des Erschaffens denkbar. Kinder liefern uns Erwachsenen hier eine klare Botschaft: Eigentlich ist das Wichtigste der Utopie das Entwerfen eines Plans und die Teilhabe am Spiel, während die Ergebnisse nicht mehr wichtig sind. Sogar noch mehr: Die Ergebnisse – das Gebaute – bedeuten schon das Ende des Spiels und, so könnte man sagen, das Ende der Utopie. Ein ähnliches Konzept von Utopie wird heute von einigen TheoretikerInnen des Postmarxismus vertreten. Die Idee einer radikalen Demokratie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, wonach eine homogene, harmonische und versöhnte Gesellschaft nicht die Utopie einer linken Politik sein kann, weil damit die Demokratie, nämlich das Prinzip der Differenz und die Idee, dass immer wieder neue emanzipative Bewegungen entstehen können, zerstört wäre. Eine vollendete Demokratie ist unerwünscht, so wie ein abgeschlossenes Spiel keines mehr ist, weil es schon aufgehört hat. Deswegen schlagen Laclau und Mouffe auch vor, zwecks Entwurfs einer radikalen Demokratie stets offen für neue »Artikulationen« zu bleiben. Ähnlich wie Friedman zeichnen sie Modelle, in denen »Elemente« (Strichmännchen) durch artikulatorische Strukturen zu »Momenten« der Demokratie (Agenten, die einen Plan durchführen) werden können. Die Knoten,
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die diese »Artikulationen« bilden, sind variabel und müssen immer mit Einverständnis (»Hegemonie«) zwischen den Momenten (Agenten) hergestellt werden. Die meisten Spiele der Kulturindustrie sind nicht nach diesen offenen Artikulationen angelegt, sondern werden mit einem klar definierten Ende konzipiert, indem es einen Gewinner gibt oder eine bestimmte Schlusssituation hergestellt werden soll. Um die Utopien der Kinder besser zu verstehen, müssten wir offene Spiele in den Blick nehmen, d. h. solche, die weder zeitlich beschränkt, noch mit klaren Anweisungen strukturiert sind, sondern die im Laufe des Spiels von den Kindern selbst imaginiert werden. Solchen offenen Spielen könnten wir andere interessante Merkmale von Kinderutopien entnehmen. Ein wichtiges Merkmal ist die zeitliche Einstellung: Ein offenes Spiel hat immer einen Anfang, aber das Ende bleibt offen, sodass zum Beispiel »das SichBeeilen« nicht möglich ist. Ich mache oft mit meinen Kindern einen Witz, wenn ich sie zum Spielplatz oder zu Freunden bringe und mit Ironie sage: »Spielt schnell, da wir gleich gehen müssen.« Diese zeitliche Einschränkung steht im kompletten Widerspruch zur Spieleinstellung, weil sie verlangt, dass man sich Zeit nimmt. Meine Kinder merken sofort, dass ich einen Witz mache, und fangen an zu spielen, ohne sich zu beeilen. Ein anderes Merkmal ist das Einverständnis zwischen allen Spielern: Wenn ein Spiel vorgeschlagen wird, müssen alle einverstanden sein und außerdem freiwillig oder mit gewissem Einverständnis eine Rolle übernehmen. Wenn das nicht passiert, läuft das Spiel nicht gut oder kann in einem Streit sogar abgebrochen werden. Kinder wissen in dieser Hinsicht ganz genau, welche Bedingungen diese spielerische Utopie (ein gutes Spiel, bei dem alle glücklich sind) funktionieren lassen. Sehr oft höre ich deswegen folgenden Kommentar: »Mit ihm/ihr will ich nicht mehr spielen, weil er/sie will immer bestimmen.« Aufschlussreich ist auch die Beobachtung, dass Widersprüche und negative Momente mit totaler Selbstverständlichkeit in dieses offene Spielen integriert werden – als wüssten die Kinder, dass eine ideale Situation nicht glatt in einem harmonischen Prozess verläuft, sondern man auch mit Abweichungen fertig werden muss. Krankheit, Streit, Traurigkeit, unglückliche Liebe: Alle diese Momente werden mitgespielt, als gehörten sie selbstverständlich zur Utopie. Ebenso bemerkenswert bei diesen offenen Spielen ist, dass die Rollen getauscht werden können. Und es sind nicht nur Rollen von Personen. Kinder spielen auch gerne Tiere, um ihre Möglichkeiten des Seins in der entworfenen Welt zu erweitern. Von diesen Metamorphosen könnten wir Erwachsene im Sinne der HumanAnimal Studies auch viel lernen. Wir könnten zusammenfassend sagen: Die Utopien von Kindern entstehen in Momenten des Spiels, indem alle Spielenden bestimmte Situationen entwerfen,
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die nicht zu Ende gespielt werden. In diesen Situationen können sogar Tiere oder Gegenstände gespielt werden und sich als handelnde Agenten beweisen. Außerdem muss zwischen diesen Agenten immer wieder Einverständnis verhandelt werden. Besonders die Aspekte der Dynamik und des Unvollendeten sind zentrale Säulen kindlicher Utopien. Diese stehen im Kontrast zu den meisten Utopien der Erwachsenen, die an Vollendung ausgerichtet sind – als könnte man einen idealen Zustand erreichen oder sich diesen auch nur vorstellen. In Reaktion auf solche Utopie-Bestrebungen der Erwachsenenwelt erhoben sich viele Gegenstimmen. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule zum Beispiel plädierte für ein Utopie-Verbot, besonders nachdem durch die Erfahrung des realen Sozialismus deutlich geworden war, dass sich gewünschte Utopien schnell in falsche Utopien verwandeln können (vgl. Barboza 2010, S. 173-175). Diese Haltung des UtopieVerbots erinnert an die Haltung der Melancholie: Weil man weiß, dass man nicht in der Lage ist, einen utopischen Zustand zu erreichen, verzichtet man darauf, ihn zu verfolgen, und gerät in eine Art Lethargie. Der Künstler Albrecht Dürer hat diese Haltung der Melancholie in einer Radierung gut getroffen (»Melencolia I«, 1514): Auf der rechten Seite des Dürerstichs sehen wir die Figur der Melancholie, die in einem lethargischen Zustand verharrt, weil alle Instrumente der Erkenntnis nicht in der Lage sind, einen vollkommenen utopischen Zustand zu erreichen. Deswegen hat die Melancholie alle Instrumente auf den Boden geworfen. Statt an einer machbaren Utopie zu arbeiten, wird die Unmöglichkeit einer Utopie inszeniert. Dürer zeichnet aber auch einen möglichen Ausweg aus diesem Zustand: In der Mitte des Bildes sitzt neben der Melancholie ein Kind (Putto). Es scheint sich von dem Chaos auf dem Boden nicht ablenken zu lassen und arbeitet eifrig weiter, indem es auf einem Papier zeichnet. Das Kind zeigt, dass es sich lohnt, ziellos weiter zu entwerfen, indem es sich ganz konzentriert dem Gekritzel widmet, ohne sich Gedanken zu machen, wohin dies führen wird. Ob Dürer sich hier mit der Haltung der Kinder beschäftigte und diese als eine Hoffnung gegen die Melancholie sah? Der Künstler Lucas Cranach d. Ä. scheint diese Kraft der Utopien von Kindern erkannt zu haben, als er eine ganz andere Melancholie malte (»Melancholia«, 1532): Die Figur der Melancholie hält einen Stock in der Hand und scheint diesen zu bearbeiten. In ihrer Nähe sind Kinder (Puttos), die mit verschiedenen Dingen (Ball, Ring und Stöcken) spielen. Man hat den Eindruck, dass sich Cranachs Melancholie über das Spiel der Kinder amüsiert und daraus Hoffnung schöpft, dem komplett melancholischen Zustand zu entkommen. Als würde die Botschaft lauten: Eine Utopie werden wir Menschen nie vollkommen denken können, aber der Weg dahin lohnt sich, vor allem wenn er spielerisch
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und mit den Prinzipien der kindlichen Offenheit verfolgt wird. Ob dies die Botschaft war, die Cranach uns vermitteln wollte? Wir können hier nur spekulieren. Aber dafür haben wir die Bilder der Kunst, um uns viel Raum zum Spekulieren zu lassen. Um das Thema »Utopien der Kindheit« weiter behandeln zu können, wäre zu untersuchen, welche Rolle Kinder in den Utopien der Erwachsenen spielen. Ein erhellendes Beispiel ist die Utopie von Charles Fourier. Er entwarf das Bild einer idealen Wohngemeinschaft (»Phalansterium«) und plante alles, was dazugehörte: Nicht nur die Architektur, sondern auch die Tätigkeiten und die Rollen, die den Menschen zugeteilt wurden, waren gut durchdacht. Faszinierend ist, dass Fourier den Kindern eine vielgestaltige Sonderrolle zugestand. Nach Fourier sollten sich Kinder nützlich machen, indem sie ihren Neigungen spielerisch nachgehen. Sie wurden in kleine Horden aufgeteilt: Die ordentlichen Kinder sollten die öffentlichen Gärten überwachen, die anderen den Müll auf den Straßen kehren. Er integrierte die Kinder in seiner Utopie in einer Form, die die Differenz und das Spielen zulässt. Interessant wäre es zu fragen, wie andere Utopisten mit den Kindern in ihren Entwürfen umgingen. Vielleicht könnten wir feststellen, dass die Kinder in den Utopien der Erwachsenen mit einer Art Augenzwinkern zeigen, dass Utopien ein unendliches Spiel sein sollen, in das Differenz, Verhandlungen, Metamorphosen, Dissens, Konkurrenz und Widerstände integrierbar sind – Utopien wie ein Spiel offener Möglichkeiten, die nicht zweckorientiert, sondern wie »unvollendete Projekte« gespielt werden. Projekte, die sich nicht schnell spielen lassen. Amalia Barboza Literatur Barboza, Amalia (2010), Zwei Frankfurter Schulen: Wissenssoziologie versus Kritische Theorie? In: Soziologie in Frankfurt, hg. v. Felicia Herrschaft und Klaus Lichtblau, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 161-203. Friedman, Yona (1983), Machbare Utopien, Frankfurt am Main: S. Fischer. Fourier, Charles (1966), Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen, hg. v. Theodor W. Adorno, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt. Laclau, Ernesto und Chantal Mouffe (2015), Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen Verlag. Mannheim, Karl (1995), Ideologie und Utopie, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann.
Verkehrsübungsplatz
Der Verkehrsübungsplatz ist die Raumwerdung von Verkehrserziehung. Verkehrserziehung klingt ziemlich angestaubt, autoritär und entmündigend; wir erziehen unsere Kinder doch nicht mehr, wir begleiten sie auf dem Weg ins Erwachsenenleben. In unserer Kindheit wurden wir aber, zumindest in der Schule, noch »verkehrserzogen«. Im Kindergarten, am Zebrastreifen – und den Eltern dudelt der Liedermacher Rolf Zuckowski im Ohr, wenn der Herr Wachtmeister erklärt: »Ich stell’ mich an das blaue Schild, damit man sieht, was ich hier will. Ich hebe deutlich meine Hand und seh’ genau die Autos an. Und bremst ein Wagen, dann schau ich dem Autofahrer ins Gesicht und bleibt er stehn, dann guck’ ich bloß, ob alle halten, dann geht’s
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los. Zebrastreifen, Zebrastreifen, mancher wird dich nie begreifen. Zebrastreifen, Zebrastreifen, doch ich weiß Bescheid.« (Rolf Zuckowski: »Zebrastreifen«, in: »Rolfs neue Schulwegparade«, 1992)
Etwa 800 Verkehrsübungsplätze mit überdachten Schulungsräumen finden sich in Deutschland auf Schulhöfen, in Parks oder anderen öffentlichen Räumen (vgl. Deutsche Verkehrswacht e.V. 2018). In der Regel sind sie verlassen, wirken wie aus der Zeit gefallen. Das scheint verständlich, existieren dort doch nur Miniaturstraßen, -schilder und -ampeln und dazwischen keine gebaute Umwelt, keine Passant*innen und nur selten angelegtes Grün. Ein gebauter lost space. Nur eben ohne Natur, die sich den Ort zurückerobert. Wenn sich die Natur nun aber doch den Ort zurückgeholt hat oder die klammen Kommunen eine solche dauerhafte Einrichtung nicht stemmen können oder wollen, dann tritt die mobile Verkehrsschule auf den Plan und errichtet Parcours, damit 95 Prozent aller Viertklässler*innen stolz mit ihrem Fahrradpass wedeln können. Offen bleibt die Frage, was mit den anderen fünf Prozent ist. Können sie nicht Rad fahren? Wollen, dürfen sie nicht? Oder haben sie die Prüfung nicht bestanden? Oder aber gibt es Schulen, an denen eben keine Radfahrprüfung stattfindet? Auch vor den Verkehrsübungsplätzen macht die Digitalisierung nicht halt, denn sie ermöglicht eine Verlagerung ins risikofreie Klassenzimmer. Der Übungsplatz wird so vielleicht gar nicht mehr gebraucht, ebenso die mobile Verkehrsschule nicht, sondern – ganz zweipunktnull – kommt der »Fahrradfahrsimulator zur Verkehrserziehung« (Herpers et al. 2014) zum Einsatz; hier gibt es kein schlechtes Wetter und keine schlechte Kleidung. Und sogar Fahrradfahren muss das Kind dazu nicht mehr können, einzig auf einem fest montierten und hochgebockten Fahrrad sitzen und auf Leinwände blicken, die Gefahrensituationen im Straßenverkehr simulieren – das schon. Ganz so risikoarm wie das Fahren im Simulator geht es auf dem Verkehrsübungsplatz nicht zu, dennoch ist dieser als Schonraum im Miniaturformat konzipiert (vgl. Polizei Hessen 2018, o.S.), für Miniaturmenschen, die vielleicht tatsächlich (noch) geschont werden müssen. Dem gegenüber stehen Beobachtungen, die den Gedanken eines Schonraums absurd erscheinen lassen. So flitzen Dreijährige mit ihren kleinen Laufradgeschossen durch die Straßen, wissen sehr genau – meistens – dass an der nächsten Kreuzung stopp zu machen ist und achten manchmal sogar auf Ausfahrten. Sie werden mobilitätstechnisch ins kalte Wasser der harten Verkehrsrealität geworfen, ganz ohne Schonraum im Miniaturformat. Ist also ein Verkehrsübungsplatz gar nicht mehr state of the art? Oder verzerrt hier mein eigenes Großwerden in ländlicher Idylle, meine Mobilitätssozialisation, den heutigen Blick als »Großstadt-Mutti«?
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Doch bevor wir zur Mobilitätssozialisation kommen, erscheint es nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines chronologischen Aufbaus angemessen, einige Worte zur Verkehrserziehung zu verlieren. Diese wurde erst nötig, seitdem es Verkehr gibt. Zwar existierten erste Verkehrserziehungsansätze schon im frühen 20. Jahrhundert. Richtig gefährlich und mengenmäßig relevant wurde der Stadtverkehr aber erst mit der Massenmotorisierung nach dem Zweiten Weltkrieg. In den deutschen Städten war viel zerstört und die Eisen- und Straßenbahn lag durch die arbeitsintensive Rekonstruktion des Schienennetzes im Nachteil, sodass es bereits 1948 mehr Lkw und 1952 mehr Pkw in Deutschland gab als vor dem Krieg. Mit entsprechenden Folgen für die Unfallstatistik, was dann 1957 in die erste Geschwindigkeitsbegrenzung – innerhalb von Ortschaften auf 50 km/h – mündete. Erst Anfang der 1970er-Jahre übrigens, und längst angekommen in der städtebaulich-autogerechten Stadt, sollte angesichts einer geschockten Öffentlichkeit durch die Rekordzahl von 19.000 Toten im Straßenverkehr, davon 2.167 Kinder unter 15 Jahren (1970), die Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h auf Landstraßen politisch konsensfähig werden (vgl. Kopper 2016). Obwohl die Motorisierungsrate bekanntermaßen auch nach 1970 weiter anstieg, ja auch heute noch steigt, lag die Zahl der im Straßenverkehr Getöteten 2017 bei »lediglich« 3.180 Personen. Gerade die Anzahl der getöteten Kinder ist mit 61 Kindern, wovon etwa ein Drittel im Pkw saß, drastisch gesunken (vgl. Statistisches Bundesamt 2018). In den 1950er-Jahren bestand Verkehrserziehung aus Belehrung, Ermahnung und Abschreckung durch die Schilderung drastischer Unfälle sowie durch die Androhung strafrechtlicher Konsequenzen. Im Handbuch »Verkehrserziehung – Empfehlungen für Erzieher« von Wolfgang Vonolfen (1954) wurde etwa vorgeschlagen, Spielen, Rennen o. ä. auf der Fahrbahn und dem Gehweg zu untersagen, um den reibungslosen Ablauf des Verkehrs zu gewährleisten. Ein erster Schritt war getan in der Verdrängung von Kindern aus dem öffentlichen Raum und »ihre Verbannung in umzäunte Spielplätze oder pädagogisch begleitete Situationen« (Weihrauch 2014, S. 14) angelegt. Die Kultusministerkonferenz gab ihre ersten verkehrlichen Empfehlungen im Zuge des Höhepunkts der Todesfälle im Straßenverkehr 1972 als »Empfehlung zur Verkehrserziehung in der Schule«. Für den Primarbereich stellen sie heute schwerpunktmäßig Schulwegtraining und die Radfahrausbildung in den Fokus. Mit den Überarbeitungen aus den Jahren 1994 und 2012 rücken zunehmend gesellschaftlich relevante Aspekte ins pädagogische Blickfeld: die Stärkung des Klimaschutzes, die Grenzen der ökologischen Belastbarkeit unserer Erde, die Endlichkeit von Ressourcen, Gesundheit und Fitness, die Bedeutung des sozialen Miteinanders, gegenseitige Rücksichtnahme und eine verantwortungsvolle Ver-
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kehrsmittelnutzung. Dabei spiegelt sich das gewandelte Bild der Verkehrserziehung im moderneren und nicht nur begrifflich angepassten Wort der »Mobilitätsbildung« wider. Auch in der praktischen Umsetzung scheinen sich Veränderungen bemerkbar zu machen. So erfolgt die »Beschulung […] zu Beginn auf Schulhöfen oder Übungsplätzen im sogenannten ›Schonraum‹. Anschließend erfolgt zum Großteil eine Beschulung der Viertklässler im sogenannten ›Realverkehr‹ auf der Straße« (Polizei Hessen 2018, o.S.). Auf Verkehrsübungsplätzen werden Fußgängerdiplome und Fahrradführerscheine angeboten, in der Regel von der Verkehrswacht e.V., die mit der Polizei zusammenarbeitet. Selbst ist sie aber keine Institution der öffentlichen Hand. Sie zählt sich zu den ältesten und größten Bürgerinitiativen Deutschlands und strebt dem Ziel der Erhöhung der Sicherheit und der Verminderung von Unfällen zu. Nach eigenen Angaben arbeitet der Verein mit mehr als 60.000 ehrenamtlich Engagierten. Die nicht-öffentliche Trägerschaft zeigt sich nicht zuletzt dadurch, dass auf den Internetseiten aktiv kommerzielle »Partner« beworben werden. Zu den Beworbenen zählt der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft, ein Kinder-Fahrradhersteller und ein Helm- und Schlossanbieter. Inwiefern diese Produktplatzierung kindliche Mobilität beeinflusst, sei einmal dahingestellt. Ich bin aber schon überrascht angesichts dessen, dass Kinder Werbung noch nicht so leicht reflektieren können und die Schule ein Ort (Schonraum) sein sollte, an dem sie eben jener nicht ausgesetzt werden sollten. Im Rahmen der Mobilitätssozialisation orientieren sich Kinder an »Sozialisationsagenten«. Für Jugendliche ist das meist die Peergroup, die im Wesentlichen aus Mitschüler*innen, Freundeskreis und sicher auch Youtube-Influenzer*innen besteht; die Kleineren, für die die Verkehrsübungsplätze gebaut wurden, lernen noch am meisten von ihren Eltern. Und das wirkt sich auf das spätere Mobilitätshandeln aus (vgl. Haustein et al. 2009; Limbourg et al. 2000). Fraglich ist, was die kleinen Großwerdenden wohl lernen, wenn sie mit dem SUV täglich vor dem Kindergarten oder der Schule abgesetzt werden. Dass die eigene Sicherheit vorgeht? Dass Klimawandel nur in der Theorie, nur im globalen Süden und eben nur für die Anderen ein Problem darstellt? Dass nur die cool sind, deren Eltern sich – als Zweitwagen – einen Cayenne leisten können? Reden wir nicht vom Wertewandel in der Mobilitätsforschung und der Abkehr vom Auto als Statussymbol und dem Bedürfnis nach funktionaler Mobilität – wie passt da der SUV dazu, das Segment mit den mit Abstand höchsten Zuwachsraten im deutschen Automobilbestand? Und ist die Laufradflitzerei eben nur eine Freizeitbeschäftigung, ein Hobby, aber im wahren Leben, da geht ohne Auto nichts? Oder spiele ich die Karte der Moral hier zu heftig aus und zeigt dieser Ausschnitt einer Bringsituation vor der Schule nicht vielmehr, dass die Zeit morgens knapp ist,
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dass Mutti danach nicht wieder heim fährt und »das bisschen Haushalt« erledigt, sondern pünktlich auf der Arbeit erscheinen, das Geschwisterkind ebenfalls noch zu einer zweiten Bildungs- oder Betreuungseinrichtung bringen und später auch noch die Einkäufe erledigen muss? Und welche Konsequenzen ergeben sich für unseren Verkehrsübungsplatz? Müssen die Straßen vielleicht noch etwas breiter aufgemalt werden? Oder ein paar SUV-Dummies aufgestellt werden, die die Sicht auf andere, vor allem auf kleinere Verkehrsteilnehmer*innen versperren? Oder aber ist das Konzept der Verkehrserziehung/Mobilitätsbildung gar nicht nur auf die Kinder ausgerichtet, sondern zielt durchaus auch auf deren Eltern ab, die sich beim Abendessen anhören müssen, was für eine »Dreckschleuder« sie fahren, dass nicht-motorisierte Verkehrsmittel deutlich gesünder und platzsparender sind und überhaupt, wie der öffentliche Raum aussehen könnte, wären da nicht die vielen Straßen mit den vielen parkenden und fahrenden Autos. Und was soll Mutter oder auch Vater dann denken, die nach einem langen Tag bezahlter und unbezahlter Arbeit im Job, im Haushalt und in Pflege und Erziehung einfach nur müde sind und froh, wieder einen Tag geschafft zu haben? Annika Busch-Geertsema
Literatur Deutsche Verkehrswacht e.V. (2018), Jugendverkehrsschulen, https://www.deutscheverkehrswacht.de/home/dvwprojekte/kinder/jugendverkehrsschulen.html (Oktober 2018). Haustein, Sonja, Christian A. Klöckner und Anke Blöbaum (2009), Car use of young adults: The role of travel socialization, Transportation Research Part F: Psychology and Behaviour 12(2), S. 168-178. Herpers, Rainer, David Scherfgen, Sandra Felsner und Timur Saitov (2014), Entwicklung eines Fahrradfahrsimulators zur Verkehrserziehung und zum Verkehrssicherheitstraining für verschiedene Altersklassen, Technical Report 3, hg. v. Wolfgang Heiden. Kopper, Christopher (2016), Der Durchbruch des motorisierten Straßenverkehrs. www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/deutschland-in-daten/221008/ motorisierter-strassenverkehr (Oktober 2018). Limbourg, Maria, Antje Flade und Jörg Schönharting (2000), Mobilität im Kindes- und Jugendalter, Opladen: Leske + Budrich.
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Polizei Hessen (2018), Jugendverkehrsschulen (JVS), https://www.polizei.hessen .de/icc/internetzentral/nav/dfb/broker.jsp?_ic_uCon=aef30feb-d902-f951-6d40-6 f67ef798e7b&uTem=20470d14-3169-f841-ab27-2006165474d5&uMen=dfb565 86-b578-c11c-5ec3-f12109241c24 (Oktober 2018). Statistisches Bundesamt (Hrsg. 2018), Unfallentwicklung auf deutschen Straßen 2017, https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressekonferenzen/2018 /verkehrsunfaelle_2017/Pressebroschuere_unfallentwicklung.pdf (Oktober 2018). Vonolfen, Wolfgang (1954), Der Verkehrsunterricht. Handbuch für Erzieher, Dortmund: Verkehrs- und Wirtschaftsverlag. Weihrauch, Sarah (2014), Entwicklung der Verkehrserziehung an Schulen in der Bundesrepublik Deutschland anhand von bildungspolitischen Empfehlungen, in: Mobilität für die Zukunft. Interdisziplinäre und (fach-)didaktische Herausforderungen, hg. v. Michael Otten und Steffen Wittkowske, Bielefeld: Bertelsmann, S. 11-19.
Versteck
Es ist ein Kinderspiel, das nie langweilig zu werden scheint: »Guck-guck«, die Hände vors Gesicht und dann wieder ein verstohlener Blick. Ein entzücktes Lachen, wenn der Blickkontakt wieder hergestellt ist. Freude und Erleichterung stellen sich ein. Die Freude entsteht in der gegenseitigen Bestätigung im Spiel. Dort bist du, hier bin ich. Ich bin noch da, auch wenn wir uns zwischendurch nicht gesehen haben. Psychoanalyse des Versteckspiels Das Spiel des versteckten Blicks geht in der frühkindlichen Phase (bis zwei Jahre) mit der Ausbildung einer sensorisch-motorischen Intelligenz einher. In dieser Phase bildet sich ein – vor allem von Piaget beschrieben – Verständnis von Objektpermanenz aus. Solche Spiele, darauf haben Psychoanalytiker*innen wie Anna Freud, Melanie Klein oder Donald W. Winnicott hingewiesen, sind wichtige Erfahrungen in der Entwicklung des Kindes. In kreativen Spielen wird die Grenzlinie zwischen Subjekt und dem was objektiv wahrgenommen werden kann ausgelotet. Durch das Verstecken wird vor allem die räumliche Welt entdeckt. »Der Blick des Andern«, so schreibt Sartre (2009, S. 480), »verleiht mir Räumlichkeit. Sich als erblickt erfassen heißt sich als verräumlicht-verräumlichend erfassen.« Hierin liegt die existenzielle Mikrogeographie des Versteckspielens. Das Versteckspiel ist ein institutionalisiertes Spiel, das heißt eine spielerische Aktivität mit Regeln. Die psychoanalytische Entwicklungstheorie des Kindes von Winnicott (1971) begreift Spielen als Erfahrung, die zwischen Realität und Phantasie angesiedelt ist. Diesen intermediären Bereich bezeichnet er als Übergangsraum. Während bei Kleinkindern das Übergangsobjekt – das erste Nicht-Ich-Objekt kann zum Beispiel die Mutter oder der Teddy darstellen – eine erste Begegnung mit dem Übergangsraum darstellt (ebd., S. 10 ff.), so findet das Versteckspielen in einem potentiellen Übergangsraum zwischen Individuum und Umwelt statt (ebd., S. 116). Die intensive Erfahrung des kindlichen Versteck-
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spiels entsteht im »Erleben des eigenen Ich (›es gibt nichts außer mir‹) und dem Erleben von Objekten und Phänomenen außerhalb des Selbst und dessen omnipotenter Kontrolle« (ebd.). Das Versteckspiel ermöglicht die kreative Erfahrung des Aufspürens von »versteckten« Objekten und die Erfahrung, als »verstecktes«, begehrliches Objekt aufgefunden zu werden. Winnicott (ebd., S. 115 ff.) bezeichnet diese Zusammenhänge von Übergangsphänomenen und Spiel als »kulturelle Erfahrung«, und öffnet damit seine Psychoanalyse für anthropologische Überlegungen, indem er danach fragt, wo sich dieses Erleben ereignet. Zu einer ähnlichen Frage gelangt Gaston Bachelard in seiner »Poetik des Raumes« (2007 [1957]). Er kritisiert die Psychoanalyse dahingehend, dass diese das Unbewußte ausquartiere (ebd., S. 37). Bachelard wirbt für eine phänomenologische »Topo-Analyse« als das »systematische psychologische Studium der Örtlichkeiten unseres inneren Lebens« (ebd., S. 35). Das Versteck ist ein solcher Ort, dessen Analyse weder ausschließlich von »innen« noch von »außen« beginnen kann. Phänomenologische Untersuchungen zum (Versteck-)Spiel bieten wertvolle Anregungen. Was kann uns eine phänomenologische Topo-Analyse über das Versteck eröffnen? Topo-Analyse des Verstecks Ich erinnere eine verwilderte Gärtnerei in meiner Kindheit. Ein Ort mit einer besonderen »Ästhetik des Versteckten« (Bachelard 2007 [1957], S. 27). Zerfallene Gewächshäuser, Bretterverschläge, undurchdringliche Büsche, verschlungene Pfade zwischen leerstehenden Gebäuden, die erschreckende Wuchtigkeit eines alten Gastanks – ein Ort voller Geheimnisse. Ward (1977, S. 70) beschreibt diese Orte: »Der im Entstehen begriffene Ort, die unfertige Siedlung ist für das Kind reich an Erlebnissen und Abenteuern, ebenso wie das Niemandsland, [...] Da gibt es geheime Plätze zwischen Unkraut und Erdhügeln, Löcher, in denen das Grundwasser steht, improvisierte Sport- und Spielplätze«. Ein Hort an möglichen Verstecken; »O Kind, Dir ist kein Raum zu klein / Und jeder Raum ein Himmel!«, heißt es in einem Kindergedicht, welches Franz Bonn (1830-1894) zugeschrieben wird. Das Versteck bietet Schutz vor der Welt und öffnet eine eigene Welt für sich. Langeveld (1966 [1960]) grenzt das Versteck des Versteckspiels von den »geheimen Orten« ab, die eine noch viel tiefere Bedeutung in sich bergen. Die Einbildungskraft schafft sich einen Ort, der blickdichte Geborgenheit bietet, und in dieser Zuflucht ermöglichen sich versunkene Träumereien: »Niemand sieht, wie ich mich verändere. Aber wer sieht mich denn? Ich bin mein Versteck.« (Bousquet 1952, zitiert in Bachelard 2007 [1957], S. 102) Es ist ein Ort, an dem keine Worte nötig sind, sondern der von einer Atmosphäre der Vertraulichkeit,
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der Intimität und der friedlichen Ruhe durchzogen ist (vgl. Langeveld 1966 [1960], S. 85). Das Versteck ist ein Ort, um die Welt und sich selbst zu entdecken: »Das Versteckte im Menschen und das Versteckte in den Dingen unterstehen der gleichen Topo-Analyse.« (Ebd., S. 103) Das Versteck hinter dem Vorhang, die dunklen Winkel des Hauses, die Bude, das Baumhaus – es sind Zufluchts- und Rückzugsorte in einer herausfordernden Welt. Das Versteck befreit von den Zugriffen einer von Erwachsenen dominierten Welt, ein eskapistisches Nimmerland aus James M. Barries »Peter Pan« von 1904. Die ludischen Räume der Kinder regten manche Erwachsene zur Nostalgie an. So fragten sich die Folklorist*innen Iona und Peter Opie (1969, zit. in Ward 1977, S. 96), ob Kinder beim Spielen nicht von einem »geheime[n] Impuls des Protestes« angetrieben werden. Wieviel Anarchismus steckt im kindlichen Spiel? Im Versteck gibt es die Freiheit zu sein, wie und wer man möchte (vgl. Huizinga 1991 [1938], S. 16). Das Versteck ist eine Höhle, in der das Kind im Spiel erneut zur Welt kommt. Kinder sind Troglodyten und ihr Proto-Wohnen findet im Schutzraum des Verstecks statt. Es wird gebaut aus Kissen, Decken, Brettern oder Ästen. Es wird eingerichtet, möbliert, inventarisiert. Es bewahrt wertvolle Geheimnisse: »Ohne Ende geht die Arbeit des Verborgenen vom Wesen, das verbirgt, zum Wesen, das sich verbirgt.« (Bachelard 2007 [1957], S. 102) Im Versteck träumt man »im Kerker seines eigenen Geheimnisses« (ebd.). Verstecke, so offenbart eine Phänomenologie des Betretens, werden umfriedet von Schwellen. Nicht jeder hat Zutritt, es gibt Zugangsregeln. Es gibt einen geheimen Eingang oder ein Codewort, vielleicht sogar ein Schibboleth, um das Versteck zu betreten. Der Spielraum des Verstecks ist von einer Heimlichkeit umgeben, und »in der Sphäre eines Spiels haben die Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung« (Huizinga 1991 [1938], S. 21). Das Versteck ist eine Abweichungsheterotopie, denn in ihnen stecken die »Individuen, deren Verhalten abweichend ist im Verhältnis zur Norm« (Foucault 1992 [1967], S. 40). Das Versteck bietet Schutz auf der Flucht vor den Normen der Erwachsenen. Langeveld (1966 [1960], S. 86) betont die pädagogische Bedeutung der geheimen Orte, in der Kinder die Erlaubnis haben ihre Interaktionen mit der Welt der Erwachsenen ruhen zu lassen. Das Versteck ist Kompensationsheterotopie, denn dort herrscht eine eigens geschaffene Ordnung (Huizinga 1991 [1938], S. 19). Das Versteck ist schließlich Illusionsheterotopie, die »den gesamten Realraum, alle Plazierungen (sic), in die das menschliche Leben gesperrt ist, als noch illusorischer denunziert« (Foucault 1992 [1967], S. 45). Im Versteck werden nicht nur Geheimnisse aufbewahrt, in ihm wird eine Welt erträumt: »Welches Privileg der Tiefe gibt es in den Kinderträumereien! Glücklich das Kind,
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das seine einsamen Stunden besessen hat, wirklich besessen!« (Bachelard 2007 [1957], S. 42) Das Versteck ist ein Traumgebäude, das in uns fortlebt: »Wenn all diese Verstecke für uns die Bestimmung hatten, Träume zu beherbergen, so kann man sagen, [...] daß für einen jeden von uns ein Traumhaus existiert, ein Haus der Traum-Erinnerung, verloren im Schatten eines Jenseits der wahren Vergangenheit.« (Ebd., S. 41) Die Heimlichkeit des Verstecks lebt in den Träumen als mystischer und realer Sehnsuchtsort fort. Ein abgeschiedener Ort der inneren Einkehr (vgl. Langeveld 1966 [1960], S. 83), und doch nicht bloß ein Gedankenreich, sondern immer auch ein reeller Schauplatz (vgl. Fink 1957, S. 37). So wie Fink (ebd., S. 15) das Spiel als »Daseinsmitte« des Kindes beschreibt, so ist das Versteck als Proto-Wohnplatz ein Zentrum, eine »imago mundi«, und damit ein Ort, der durch seine Schwellen geheiligt wird. Letztlich aber nur, wenn dieser Ort frei gewählt werden kann, und seine Umfriedung respektiert wird (Langeveld 1966 [1960], S. 88). Ambiguität des Verstecks Fink (1957, S. 27) weist darauf hin, dass die Spiellust »die tiefe Trauer und das abgründige Leid in sich aufnehmen kann, sie kann das Entsetzliche noch lustvoll umklammern«. In der Tat ist die Geborgenheit des Verstecks für den »homo ludens« (Huizinga 1991 [1938]) mitunter nicht immer zu erreichen. So findet sich in der Heidelberger Zeitung von 1903 folgende Notiz mit dem lapidaren Titel »Totgedrückt«: »Im alten Friedhof der Peterskirche ereignete sich gestern ein bedauerliches Unglück [...]. Um 6 Uhr spielten eine Anzahl Knaben dort Versteckens. Dabei stiegen zwei an einem Grabstein, welcher an die Mauer gelehnt war, hinauf, um aus dem Friedhof herauszukommen. Der 8 Jahre alte Karl Deckert wollte jene Beiden fangen und kletterte nach. Als er sich aber an dem Grabstein festhalten wollte, fiel dieser auf ihn und zerdrückte ihn zu einer unförmlichen Masse. [...] Es bedurfte der Anstrengung von 6 Mann, um den Stein zu heben und den Jungen hervorzuziehen. [... Man] brachte [...] ihn ins Akademische Krankenhaus, wo aber lediglich der Tod festgestellt werden konnte.« Doch es ist nicht nur die Gefahr und das Unglück, die ins Spiel gewaltsam einbrechen können. Das Entsetzliche im Spiel umklammern: Dies wird deutlich in den Beschreibungen der Kinderspiele im jüdischen Ghetto in Wilna (heute Vilnius in Litauen) durch George Eisen (1990). Er beschreibt eine Variante des Versteckspiels, welches von den Kindern »Blockade« genannt wurde (ebd., S. 119 f.). Dazu teilten sich die Kinder in drei Gruppen auf: die Gruppe »Polizei« beziehungsweise »Gestapo«, die Gruppe »Deutsche« und die Gruppe »Juden«. Letztere mussten sich an Orten verstecken, die im Spiel »Bunker« darstellten. Wenn die »Polizei«
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nun »Juden« fand, so mussten diese an die »Deutschen« übergeben werden. Diese und ähnliche von Eisen beschriebenen Spiele zeigen tragische Geographien der Kindheit an und machen die Bedeutung des Verstecks deutlich. Im Spiel wird das »Antlitz des Gorgo verklärt« (Fink 1957, S. 28). Doch der zudringliche Blick, der die Verstecke aufspüren will, löst diese auf: »Mich als gesehen erfassen heißt ja mich als in der Welt und von der Welt aus gesehen zu erfassen«, schreibt Sartre (2009 [1943], S. 475). Gibt es das perfekte Versteck? Die Potentialität des Verstecks erfasst sich im Anderen: »die Potentialität des dunklen Winkels einfach dadurch gegebene Möglichkeit, mich in dem Winkel zu verstecken, daß der Andere sie auf seine Möglichkeit hin überschreiten kann, mit seiner Taschenlampe in den Winkel hineinzuleuchten. Sie ist da, diese Möglichkeit, ich erfasse sie, aber als abwesend, als im andern, durch meine Angst und durch meinen Entschluß, auf dieses Versteck zu verzichten, das ›wenig sicher‹ ist« (ebd., S. 475 f.). Hierin zeigt sich die Ambiguität des Verstecks. Das Versteck wird im Anderen wahrgenommen. Der Geborgenheitswert des Verstecks ist stets in Gefahr durch den auflauernden Blick, die Möglichkeit der Entdeckung ist leiblich zudringlich. Mit Verweis auf ein Gedicht von Michaux schreibt Bachelard in seiner Dialektik des Drinnen und Draußen: »Die Angst ist hier das Sein selbst. Wohin dann aber fliehen, wo Zuflucht suchen? In welches Draußen könnte man fliehen? In welchem Asyl könnte man sich bergen? Der Raum ist nur ein einziges ›fürchterliches Drinnen-undDraußen‹.« (Michaux 1952, zitiert in Bachelard 2007 [1957], S. 217) Diese dramatische Ambiguität wird nirgends deutlicher als in den Berichten über versteckte jüdische Kinder im Dritten Reich. Das wohl bekannteste und am besten dokumentierte Versteck ist das des jüdischen Mädchens Anne Frank. Ihre Tagebucheinträge geben in beklemmender Weise Aufschluss über die existenziellen Mikrogeographien des Versteckens. Für sie wurden »Untertauchen und Verstecken« (Frank 2007 [1947], S. 176) zu normalen Begriffen, und sie versuchte das Verstecken als »ein gefährliches Abenteuer, das romantisch und interessant ist« (ebd., S. 267) zu deuten. »Niemand kann seinem Schicksal entkommen, wenn er sich nicht versteckt«, schrieb Anne Frank (ebd., S. 78). Doch das andauernde Leben im Versteck war von brutalem Ernst und endete schließlich mit dem Schrecken der Entdeckung, der Deportation und dem Mord durch die Nationalsozialisten. Simon Runkel
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Literatur Bachelard, Gaston (2007 [1957]), Poetik des Raumes, Frankfurt am Main: S. Fischer. Eisen, George (1990), Spielen im Schatten des Todes. Kinder und Holocaust, München und Zürich: Piper. Fink, Eugen (1957), Oase des Glücks. Gedanken zu einer Ontologie des Spiels, Freiburg im Breisgau und München: Karl Alber. Foucault, Michel (1992 [1967]), Andere Räume, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hg. v. Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Richter, Leipzig: Reclam, S. 34-46. Frank, Anne (2007 [1947]), Tagebuch. Fassung von Otto H. Frank und Mirjam Pressler, Frankfurt am Main: S. Fischer. Huizinga, Johan (1991 [1938]), Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Langeveld, Martinus J. (1966 [1960]), Die Schule als Weg des Kindes. Versuch einer Anthropologie der Schule, Braunschweig: Westermann. o. A. (1903), Totgedrückt, Heidelberger Zeitung vom 18. November 1903, 45. Jg., No. 270, 2. Blatt, online archiviert unter: http://digi.ub.uni-heidelberg. de/diglit/hdz1903a/1000 (Oktober 2018). Sartre, Jean-Paul (2009 [1943]), Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Ward, Colin (1977), Das Kind in der Stadt, Frankfurt am Main: S. Fischer. Winnicott, Donald W. (1971), Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart: Ernst Klett.
Virtuelle Räume
Der Plural im Titel dieses Beitrags ist Programm. Er soll auf die Tatsache verweisen, dass es analoge und digitale virtuelle Räume gibt. Obwohl ein neues Raumdenken auch eine Antwort auf Medienexpansion und Digitalisierung ist, sind virtuelle Räume kein Spezifikum des digitalen Zeitalters, und es wäre falsch, virtuell mit digital gleichzusetzen und so das Virtuelle zu einem vergleichsweise neuartigen Phänomen zu machen. Wie sich das Virtuelle für Kinder verändert (hat), wird im Folgenden mit Bezug auf zwei Begriffe, den der »Heterotopie« und den der »funktionalen Äquivalenz«, diskutiert. Das Konzept der Heterotopie stammt von Michel Foucault. Seine Ausführungen zur Virtualisierung des elterlichen Ehebetts geben einen ersten Einblick in die Bedeutung von Heterotopien im Kinderleben. »Auf diesem Bett«, schreibt Foucault, »entdeckt man das Meer, weil man zwischen den Decken schwimmen kann. Aber das Bett ist auch der Himmel, weil man auf den Federn springen kann. Es ist der Wald, wenn man sich darin versteckt. Es ist die Nacht, weil man unter den Laken zum Geist wird. Und es ist schließlich die Lust, denn wenn die Eltern zurückkommen, wird man bestraft werden« (Foucault 2005 [1966], S. 10). Als Heterotopie bezeichnet man in der Medizin die Bildung von Gewebe am falschen Ort. Entsprechend will Foucault die Heterotopie als das Andere in der Gesellschaft verstanden wissen. Heterotopien sind Gegenentwürfe zu den bestehenden (Alltags)Welten: »Andere Räume«. Anders als bei den Utopien, die per definitionem Nicht-Orte sind, geht es hier um »wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien« (Foucault 2001 [1967 bzw. 1984], S. 26 f.). Foucault liefert mit dem elterlichen Ehebett nicht nur ein Beispiel einer Kinderheterotopie, sondern betont ausdrücklich die feste Verankerung von Heterotopien in den Praktiken und im Bewusstsein von Kin-
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dern: »Die Kinder kennen solche Gegenräume, solche lokalisierten Utopien, sehr genau.« (Foucault 2005 [1966], S. 10) Während das Heterotopie-Konzept in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Raumdiskussion der letzten Jahrzehnte nahezu inflationär diskutiert wurde, spielen die »Gegenräume« von Kindern in dieser Diskussion keine besondere Rolle.In den Heterotopien, die Sara McNamee (2000) sowie Claudia Mitchell und Jacqueline Reid-Walsh (2002 und 2004) analysiert haben, werden die virtuellen Praktiken anders als in Foucaults im analogen Zeitalter notiertem Beispiel in der digitalen Welt angesiedelt. Für McNamee trägt das Computerspiel von Jungen heterotope Züge. Die Wahl dieses Mediums leuchtet insofern ein, als das definierende Element in Computerspielen fraglos die räumliche Dimension ist, die im Sinne Foucaults als Heterotopie beschrieben werden kann. Mitchell und Reid-Walsh entdecken heterotope Kinderaktivitäten in einer Sphäre, die ebenfalls räumliche Assoziationen weckt: im Cyberspace. Die Beschäftigung mit Computerspielen, schreibt Sara McNamee, ermöglicht die Schaffung eines geheimen Raums: Die spielenden Kinder halten sich an einem realen Ort (im Kinderzimmer) auf und bedienen eine reale Maschine (den Computer). Aber der Raum, den sie beim Spielen produzieren, in dem sie ihre Abenteuer erleben, existiert nicht real, sondern virtuell, in einem von Foucaults »other spaces«. Sich in einer solchen Heterotopie aufzuhalten ist stimulierend, weil es die Möglichkeit eröffnet, aus der kontrollierten Alltagswelt, den Kindern in der Gesellschaft zugewiesenen Räumen, auszubrechen. Heterotopien dieses Typs sind Kompensationsräume im Sinne Foucaults. Claudia Mitchell und Jacqueline Reid-Walsh sind von Sara McNamee inspiriert, wählen aber mit dem Cyberspace einen anderen Raum und setzen andere Akzente. Sie sind der Auffassung, Foucaults Konzept der Heterotopie biete sich grundsätzlich für Analysen von Erkundungen und Konstruktionen im Cyberspace an. Vorstellungen vom virtuellen Raum als einer unaufhörlich expandierenden Welt, so ihre Interpretation, gleichen denen der europäischen Entdecker und Seefahrer in der frühen Neuzeit, denen die Welt, in die sie aufbrachen, als unendlicher und unendlich offener Raum erschien. Im Begriff des Surfens wird beides – analoge und digitale Praktiken heterotoper Konstruktionen – zusammengebracht. Das Schiff (für Foucault »die Heterotopie schlechthin«), ein »Ort ohne Ort«, der aus sich selbst lebt, in sich geschlossen und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres ausgeliefert ist, evoziert das Bild eines Menschen am Computer, der mit einer Maus eine imaginäre, virtuelle See, das Web, durchquert. In diesem endlos erscheinenden Raum kann die Konstruktion von Homepages, auf die sich Mitchell und Reid-Walsh in ihrer Studie konzentrieren, als Versuch betrachtet werden, einen idealen Raum zu schaffen, der auf die Weise
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kompensatorisch ist, in der Foucault die Anstrengungen religiös motivierter Kolonisten beschrieben hat. Die Quintessenz ihrer Analyse besagt, dass sich Mädchen durch die Konstruktion einer persönlichen Website, wie beengt auch immer ihre physischen Lebensbedingungen sein mögen, ein eigenes virtuelles Kinderzimmer schaffen können. Analog zu ihren physischen Räumen betrachten Mitchell und Reid-Walsh diese Websites als semiprivate Orte von Kreativität und Sozialität sowie als »sites of bedroom culture« (vgl. Mitchell und Reid-Walsh 2004). Mit der Analogisierung von Schiff und Cyberspace wird die Heterotopie ein Stück weit entkindlicht. Mitchell und Reid-Walsh sehen im Internet einen kulturellen Raum, der an traditionellen binären Oppositionen rüttelt. Die Grenzen zwischen privat und öffentlich, zwischen Produktion und Konsum, von männlich und weiblich, sowie von Kindheit und Erwachsenheit, verschwimmen. Auch wenn wir es hier mit Momentaufnahmen zu tun haben, die im Übrigen nicht auf dem letzten Stand der Digitalisierung sein können: Mitchell und ReidWalsh werfen am Beispiel räumlicher Entgrenzungen Fragen auf, die zentrale Aspekte des Wandels von Kindheit und generationaler Ordnung in einer digitalisierten Welt betreffen. In diesem Beitrag interessieren die Übereinstimmungen und Unterschiede, die Veränderungen des Realen, die mit dem Wandel von analoger zu digitaler Virtualität einhergehen. Mitchell und Reid-Walsh machen deutlich, wie sehr das Virtuelle auch unter Bedingungen der Digitalisierung von der realen Welt geprägt ist. Sie zeigen an den virtuellen Kinderzimmern in den »guestbooks« auf den Websites, wie sehr diese realen, physischen Kinderzimmern gleichen. Mitchell und Reid-Walsh demonstrieren außerdem an den Prozessen der Gestaltung der Homepages, dass diese auf Erfahrungen basieren, die die Mädchen bereits im Umgang mit materiellen Spielzeugen gesammelt haben. Auch so wird deutlich, dass das Virtuelle (Mythische, Imaginäre, Erwünschte, Gefühlte) immer (noch) real geerdet, eine Spielart des Realen ist. Zuordnen kann man die skizzierten Veränderungen einer raumbezogenen Konvergenzthese. Diese besagt, dass unter Bedingungen raschen und umfassenden Medienwandels (und der Digitalisierung im Besonderen) alte Räume nicht einfach durch neue ersetzt werden. Vielmehr kommt es zu neuen Konfigurationen und »mixed realities«. Das soll im Folgenden mit einer Akzentverschiebung von den Spuren des Realen in der digitalen Welt zu den Spuren des Medialen in realen Räumen verdeutlicht werden. Für die deutsche Kindheits- und Kinderkulturforschung war der Wandel der Kinderräume im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ein zentrales Thema. Der forschungsleitende Begriff einer Vielzahl von Arbeiten war »Verhäuslichung«. Neben »Verhäuslichung« wurden »Verinselung« und eine zunehmende »Institutionalisierung« von Kindheit diskutiert. Jürgen Zinnecker (2001), ein Vertreter
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der Verhäuslichungsthese, hat davor gewarnt, diese als bloße Verlustthese zu (miss-)deuten. Folgt man Zinnecker, dann ist die Verarmung vieler (städtischer) Wohnumwelten im Zuge der Modernisierung zwar ein Faktum, aber nicht die ganze Wahrheit über die Veränderung. Er sieht Äquivalente, Erlebnisräume, die diesen historischen Verlust kompensieren. Zum einen ist er der Auffassung, Straßenkindheit finde heute vielfach innerhalb der Schule statt, weil Schulen unfreiwillig auch die Gesellschaft der Gleichaltrigen organisieren. Ein weiteres funktionales Äquivalent sieht er in neuen Bewegungsspielen, in den künstlichen Erlebniswelten der Vergnügungsparks, in virtuellen Straßenerlebnissen, die die Populärkultur in das häusliche Fernsehen hineinträgt, sowie in Simulationsspielen am Computer. Außerdem erkennt Zinnecker ein funktionales Äquivalent in den modernisierten Kinderzimmern »mit teilweise beträchtlicher Ausstattung«. In Zinneckers Skizze werden diese funktionalen Äquivalente nur benannt. Ganz anders werden die Akzente in Arbeiten zur englischsprachigen Kinderkulturforschung gesetzt. Die Autoren und – vor allem – Autorinnen der einschlägigen Arbeiten konstatieren seit der Jahrtausendwende so etwas wie eine Verstraßung der Kinderzimmer, die sie nicht zuletzt deren Mediatisierung und Virtualisierung zuschreiben. Es ist die Rede von »media-rich bedrooms«, »digital bedrooms« und »virtual bedrooms«. Die mit immer mehr Medien und (pop)kulturellen Requisiten ausgestatteten Kinderzimmer sind, so die vorherrschende Lesart, für immer mehr Kinder »ihre« Zimmer, Orte, die ihnen nicht einfach zugewiesen werden, sondern über deren Gestaltung sie mitbestimmen, die sie in ihren Praktiken zu ihren Räumen machen. Sie werden von ihren Bewohnern unter anderem dazu verwendet, Raumgrenzen im traditionellen Verständnis zu überwinden. Die modernisierten Kinderzimmer sind Räume, die auf zweierlei Weise die Teilhabe an Gleichaltrigenkulturen ermöglichen: Man kann dort »real« mit Freunden zusammen sein, und man kann »virtuell« die Verbundenheit mit der Peergroup erleben und kultivieren, wenn man allein ist, indem man sich mit Medienangeboten und Spielzeugen beschäftigt, die bei den Peers hoch im Kurs stehen. Sie ermöglichen darüber hinaus Entgrenzungen von männlicher und weiblicher Raumaneignung. Nicht nur wegen verschlechterter Bedingungen für Straßenkindheit, sondern auch – und vor allem – wegen der zunehmenden Ausstattung der Zimmer mit Medien, sind diese auch für Jungen attraktiv geworden. Insofern wird ex- und implizit davon ausgegangen, dass die zeitgenössische Kinderzimmerkultur als funktionales Äquivalent der traditionellen männlichen Straßenkultur betrachtet werden kann, auch wenn Gestaltung und Nutzung der Kinderzimmer – wie die der »virtual bedrooms« – weiterhin in hohem Maße geschlechtsspezifisch geprägt sind.
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Man kann es im Zusammenhang mit Straßenkindheit nicht bei Aspekten der Verstraßung von Kinderzimmerkultur belassen. Es gibt eine Straßenkultur, an der auch neuartige Formen der Virtualisierung erkennbar sind. Aufmerksamkeit verdienen vor allem die neuen Räume des Sports, die vor ein paar Jahrzehnten weltweit entstanden sind. Sie haben zu einer Neuentdeckung der Straße in neuen Bewegungsspielen geführt. Neuartig sind diese Bewegungsspiele, weil die Akteure die institutionalisierten Räume des Sports verlassen. In den neuen Bewegungsspielen konvergieren aktuelle Formen der Verstädterung, Versportung, Mediatisierung und Kommerzialisierung. Es entstehen virtuelle Gemeinschaften. Die Hauptakteure sind Kinder und Jugendliche. Aber die Entwicklung strahlt auch auf junge Erwachsene aus. Sie ist im Übrigen in einen breiten Trend der Festivalisierung der Städte eingebettet. Skateboarder, Inlineskater, Mountainbiker und BMX-Radler haben die Öffentlichkeit der Städte als Handlungsräume und Bühnen für spielerische Bewegungsformen entdeckt. Die Massenmedien haben bei der Neuentdeckung der Straße für enttraditionalisierte Bewegungsspiele eine bedeutsame Rolle gespielt. In Filmen wie Steven Spielbergs »E.T.« oder Robert Zemeckis’ »Back to the Future« sind bereits in den 1980er-Jahren BMX-Räder und Skateboards als »Waffen« jugendlicher Helden im Straßenkampf gegen die Erwachsenenwelt höchst wirksam in Szene gesetzt worden. Die weltweite Attraktivität der in Rede stehenden Scripts – oder, in Foucaults Begrifflichkeit, der »Imaginationsarsenale« (die er Schiffen zuschreibt) – ist nicht zuletzt ein Beleg dafür, dass die Vorstellung von einer Verlagerung der Identitätsarbeit in den Cyberspace zumindest vorschnell ist, der eigene Körper Kindern und Jugendlichen nach wie vor näher ist als das Netz. Allerdings gibt es keinen Grund, Sportwelten und Medienwelten als getrennte Sphären zu betrachten. Zwei Funktionen der Medien sind für die Etablierung und Ausübung der neuartigen Bewegungsspiele konstitutiv. Die Medien präsentieren sportive Praktiken als jugendliche, abenteuerliche Phänomene und als alternative Konzepte des Zusammenlebens. Aber mindestens so bedeutsam sind die auf das jeweilige Script bezogenen »Lern«-Medien, die Magazine und Videos, sowie zunehmend das Internet. Online-Medien sind integrale Elemente der Konstruktion von szenetypischen Wissensbeständen. Im Zusammenhang mit der Raumdimension ist der Hinweis wichtig, dass die neuen Sportarten zwar lokal ausgeübt, aber gleichzeitig global praktiziert werden. Für Skateboarder, das betont Iain Borden (2001) in seiner Studie, sind der Skatepark, die Straße, die Fachzeitschriften und das Internet ein einziges weltweit geknüpftes Netz. Wie eingangs notiert, ist dies kein Beitrag, in dem die digitale Virtualisierung der kulturellen Räume der Kinder zentrale Bedeutung hat. Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Wie neuere Untersuchungen zeigen, beginnt
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der Umgang mit neuen Medien, mit dem Internet und dem Smartphone, in sehr frühen Jahren. Mehr als die Hälfte der Achtjährigen ist hierzulande regelmäßig online. Ein Drittel der Sechsjährigen geht ins Internet und immerhin jeder zehnte Dreijährige. Und es steht außer Frage, dass auch Kinder, die noch nicht schreiben und lesen können, in der Lage sind, Symbole zu erkennen und selbständig Internetseiten aufzurufen. In der neueren Medienforschung wird das Smartphone als konvergente Medientechnologie par excellence gehandelt, weil es sich immer mehr Funktionen, mediale Anwendungen und ein immer größeres Unterhaltungsrepertoire einverleibt hat. Mobiltelefone sind kleine, bewegliche, portable technische Apparate. Anders als stationäre Medien können sie in ganz unterschiedlichen räumlichen Zusammenhängen eingesetzt werden. Zwar beeinflussen physisch-räumliche Gegebenheiten und Machtstrukturen den Umgang mit Mobiltelefonen erheblich. Sie werden durch Mobilkommunikation aber auch transformiert. Raumgefüge müssen deshalb neu bestimmt und Grenzen neu ausgehandelt werden. Heinz Hengst Literatur Borden, Iain (2001), Skateboarding, space and the city. Architecture and the body, Oxford und New York: Berg. Foucault, Michel (2005 [1966]), Die Heterotopien, in: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Berlin: Suhrkamp, S. 9-22. Foucault, Michel (2001 [1967 bzw. 1984], Andere Räume, in: Short Cuts, Frankfurt am Main: Zweitausendeins, S. 20-38. Hengst, Heinz (2013), Kindheit im 21. Jahrhundert. Differenzielle Zeitgenossenschaft, Weinheim und Basel: Beltz Juventa. McNamee, Sara (2000), Foucault’s heterotopia and children’s everyday lives, Childhood 7(4), S. 479-492. Mitchell, Claudia und Jacqueline Reid-Walsh (2002), Researching children’s popular culture. The cultural spaces of childhood, London: Routledge. Mitchell, Claudia und Jacqueline Reid-Walsh (2004), Girls’ web sites: A virtual ›room of one’s own‹? in: All about the girl. Culture, power, and identity, hg. v. Anita Harris, New York und London: Routledge, S. 173-182. Zinnecker, Jürgen (2001), Stadtkids. Kinderleben zwischen Straße und Schule, Weinheim und München: Juventa.
Warten
Warten habe ich als Kind spielend gelernt. Wie oft bin ich da rausgeflogen, als wir Mensch ärgere dich nicht gespielt haben. Immer rausgeflogen, mehr als die anderen; da bin ich sicher. Da standen dann meine vier gelben Männchen, standen und warteten ewig auf ihren Plätzen, das waren aufgeklebte Kupferpfennige. Und es kam und kam keine Sechs und wenn doch, dann hat mich oft gleich wieder einer rausgeworfen. Ich erinnere mich gut. Die »Männchen« waren angemalte Knöpfe, den Spielplan hatten wir auf den Karton von Persil gezeichnet. Und mein Großvater sagte: »Du kommst schon auch mal wieder dran.« Was hab ich in meinem Leben warten gelernt, Geduld aufbringen müssen, bis auch ich mal wieder dran war. Großvater war Schneider, nicht immer gute Aufträge hatte er, mehr aber noch säumige Kunden. Die haben sich Zeit gelassen mit dem Bezahlen. Nie hat er Mahnungen verschickt. »Ärger dich nicht, Bub«, sagte Großvater, »abwarten kann auch sein Gutes haben. Nächstes Mal hast Du mehr Glück.« Das Leben – ein Wartezimmer? In einem Gedicht von Victor Hugo steht der wundervolle Satz: »Rêver, c’est le bonheur; attendre c’est la vie«, womit das Warten dem Leben und seinen Realitäten, das Glück hingegen dem Reich der Träume zugeordnet wird. Man kann den Satz als eine Definition lesen, die nicht von einem zeittheoretischen Konzept, sondern von der Erfahrung der Lebenswelt aus gedacht ist; diese Sichtweise kommt meinen Beispielen (siehe unten) nahe. Warten als Unterbrechung und Leerstelle in einem als linear gedachten Zeitkontinuum zu sehen, ist einem Denken verbunden, dessen Leitidee immer Zeit, Tempo oder Leistung heißt. Wobei der Raum in einer globalisierten Welt zunehmend an Bedeutung verliert gegenüber der Zeit. In der Wissenschaft sind Warten und Pünktlichkeit beliebte Vergleichskriterien für ganze Kulturen. Als Feldforscher bin ich skeptisch, denn den statistisch ermittelten kollektiven Mentalitäten steht empirisch ein riesiger Kosmos individueller Zeit-Erfahrung ge-
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genüber. Kontraste à la »mediterrane Lockerheit« versus »calvinistische Leistungsethik« sind allzu plakativ. Meine Beispiele habe ich gewissermaßen auf einer Ebene unterhalb von Theorien und Modellen gefunden – auf dem konkreten Level alltagskulturellen Handelns hauptsächlich von Kindern. Auch Erwachsene kommen vor. Ich sehe Warten nicht als etwas, das ist, sondern als etwas, das erlebt wird, geschildert als geschenkte oder dem Leben weggestohlene Zeit. Warten hat keinen guten Ruf in einer Welt, die mehr auf Effizienz als auf Bedachtsamkeit oder gar Muße Wert legt. Man möchte beim Reisen gern schnell ankommen und beim Arzt schnell drankommen. Das Wartezimmer ist ein Territorium der Passage. Warten als ein Phänomen der Alltagswelt besitzt eine diffuse Bedeutungsaura aus Sachzwang und Schicksal. Dennoch: Gut warten zu können gilt manchem als Tugend. Die derzeit angesagte »Entschleunigung« als reflektierte TempoVerzögerung bestimmter Lebensbereiche setzt als Anti-Hektik-Konzept durchaus auf ein reflektiertes Warten. Anthropologisch gedacht kann man Warten als Schwellenphase sehen und genauer betrachten, was in dieser Phase eines Übergangs geschieht. Dem liegt durchaus die Vorstellung einer systematischen Zeitkontinuität, einer »Passage« zwischen Geburt und Tod (des einzelnen Menschen) sowie der zyklischen Zeit (zwischen Aussaat und Ernte) zugrunde. Betrachte ich die »Schwellen« des Übergangs näher, dann stoße ich auf das Prinzip des Nicht-mehr-und-noch-Nicht(-Wieder). Die Orientierung auf Kommendes kann auch als eine Zeit der Erwartung verstanden werden. Der Blick auf die liminalen, scheinbar »stillen« Phasen des Abwartens, des Verharrens, gehört für mich zum Spannendsten in der Anthropologie, wie auch die Frage: Was passiert an der Grenze und im zeitlichen Niemandsland? Zwar gilt Warten auf ein Noch-Nicht als universales Alltagsphänomen, doch erst die Warte-Praxis macht es kulturell bedeutsam. Dazu gehören die – alles andere als alltäglichen – Rituale am Ende gemeinsamen Wartens zum Beispiel auf den Beginn einer neuen Lebensphase, auf das Ergebnis einer Prüfung oder eines Wettbewerbs. Das Verhältnis von Dynamik und Statik im Leben entspricht keineswegs dem Rhythmus einer Uhr, bei der dem (hörbaren) Ticken der Unruhe stets die (lautlose) Hemmung folgt; so heißen tatsächlich Teile der Uhr, zuständig für Gound-Stop. Ein »gleichmäßiges« Leben unter Langweiligkeitsverdacht kann durchaus von den Turbulenzen etwa der körperlichen Reifungsprozesse während der Adoleszenz begleitet werden.
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Die Hälfte des Lebens Los Angeles International Airport, kurz LAX. Wartezone. Vier Menschen nebeneinander in einigen dieser Sitzschalen der globalen Schalensitzwelt. Sie ziehen um nach draußen auf den Bürgersteig. Die Familie, eingerahmt von Koffern, wartet. Wenn nicht auf ein Taxi, worauf denn dann? Zwei Kinder, die Schwestern Lina und Saki, acht und sechs Jahre alt, Mom und Daddy. Rundherum die Geschäftigkeit rastloser Passagiere. Die Stimmung der Familie auf Null. Passanten bleiben plötzlich stehen, eingefangen von hellen Mädchenstimmen. Was singen Lina und Saki da in Los Angeles auf dem Sidewalk vor LAX? »Half of my life l’m waiting, waiting […]. Half of my my life, we’re waiting, waiting.« Das Lied haben sie im Kindergarten in Sydney stundenlang gesungen. Gehört hatten sie es in einer Sendung à la Sesamstraße. Aus Australien kommt die Familie jetzt, die Reise ging über Jakarta, Singapur, Frankfurt. Nun endlich ist man am Ziel in Los Angeles und doch nicht ganz angekommen. Warum es nicht weitergeht? Es fehlt einzig noch ein kleiner Koffer. Moms Beautycase ist weg, einfach »abhandengekommen« oder gestohlen. Wichtig darin sind nicht Haarspray und Rouge, wichtig sind die Schlüssel für alle anderen Koffer. Inzwischen lässt LAX nachforschen. »Half of my life I’m waiting, waiting […]«. Kein lustiger Gesang, eher eine gelangweilte, trotzige Beschreibung der eigenen Situation. Warten ist etwas, das sich im Menschen abspielt. Daddy ruft den alten Freund Roger im nahen Riverside an. Roger rät, zunächst das Ergebnis der offiziellen Suche des Airports abzuwarten, dann dort die allfälligen Protokolle zu unterschreiben, drittens ein Auto anzumieten, ins Hotel zu fahren und dort auf Roger zu warten. Er wollte inzwischen alle verfügbaren Schlüssel bei Freunden und Kollegen zwischen Riverside und LA aufsammeln und ins Hotel kommen. Und tatsächlich: Irgendein Universal-Schlüsselchen hat wirklich in die Kofferschlösser gepasst. Nun konnte der Kalifornien-Trip seinen geplanten Verlauf nehmen. Das Leben ging weiter. Regelmäßig Frau S. erzählt von ihrer Tochter: »Heute beginnt das ja bei einigen schon mit zehn Jahren. Bei meiner Tochter, Franziska ist jetzt 19, brach damals unter den Mädchen in der Klasse ein regelrechter Wettbewerb aus, wer ›es‹ schon hatte. Sie hat nicht unbedingt brennend darauf gewartet wie die anderen, sie war fast 14 bei ihrer ersten Periode. Als die dann da war kam sie zu mir und hat gesagt: ›Mutti, ich war so gespannt darauf, aber sowas brauch ich nun wirklich nicht‹.«
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Einfach drüber hinwegfliegen »Worauf ich warte?« Anna-Mia ist neun Jahre alt und in der 3. Klasse. Sie wiegt den Kopf hin und her, »also, dass wir morgen endlich in die Ferien fahren«. Das ist das Naheliegende. Und worauf wartet sie noch? »Also, ich warte auf den Geburtstag natürlich, auf Weihnachten und so. Wenn wir Geburtstag haben, dann sind wir nicht nur auf die Geschenke gespannt, wir freuen uns natürlich auch, wie die Mama sie verpackt hat, mit tollem Papier immer und mit Bändern, und wie sie die Päckchen auf dem Sofa ausgestellt hat wie in einem Schaufenster, und an der Wand steht dann ›Happy Birthday – Anna-Mia wird 9‹.« Wir – zu Anna-Mia gehört natürlich Pila, ihre Schwester. Vor kurzem stand »Pila wird 7« mit großen ausgeschnittenen Buchstaben an der Wand. »Wir wünschen uns natürlich vorher immer was. Und was nicht dabei ist, das liegt später unterm Weihnachtsbaum. Am Tag vor Weihnachten sind wir immer so gespannt, da liest uns die Mama das Gedicht vor: ›Die Nacht vor dem heiligen Abend, da liegen die Kinder im Traum. Sie träumen von schönen Sachen und von dem Weihnachtsbaum‹.« »Warten? Hhm, ja: Wenn wir in Urlaub fahren und auf der Autobahn kommt dann im Radio ›Stau-Stau-Stau‹, dann sagt der Papa: ›Bis wir dort sind, hat sich der Stau aufgelöst. Wir fahren nicht Umleitung.‹ Und wenn wir dann dort sind ist immer noch Stau und wir sind ganz zuletzt in der Schlange. Ja, und dann wünsch’ ich mir, unser Auto könnte fliegen, und – schwupps – wir fliegen über alle Autos, die vor uns stehen, fliegen wir über den Stau weg und fahren dann ohne Stau weiter. So was denk ich mir aus. Jetzt sind ja Ferien, und morgen fahren wir wieder nach Briol. ›Wenn wir früh losfahren‹, sagt Papa, ›dann gibt es vielleicht gar keinen Stau‹.« Die leiernde Frage der Kinder: »Wann sind wir endlich daa-a-ah?«, bleibt während der Fahrt dieser Familie aus, denn die Geschwister haben sich, wie zuhause auch, immer ganz ganz viel zu erzählen, wobei sie manchmal sogar – pst! – im Auto tuscheln. Oder sie machen Rätselraten, denken sich phantastische Geschichten aus, gerade »in« sind Gespenstergeschichten. Und bereden die Landschaft, die draußen vorbeizieht oder einen gelben Heißluftballon hoch oben am Himmel. Die Fahrt nach Briol dauert zwar lange, doch langweilig wird es Anna-Mia und Pila nicht. Niemals bisher. Eigentlich vergeht so ihr Warten auf das Ankommen am Ziel wie im Flug. Und Staus überfliegt man einfach – schwupp – in der Phantasie. Ein verwartetes Leben Viktor Kral ist 70 Jahre alt. Er erzählt von seinem Leben, einem Leben auf gepackten Koffern. Es ist ein verwartetes Leben. Die Kinder Karl, Katharina, Mathilde und Johann haben stets mit-gewartet.
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Geboren wurde Viktor Kral 1925 in Saratow an der Wolga. Viele Deutsche, so auch seine Vorfahren, waren 1764 nach Russland migriert. Dem Ruf der Zarin Katharina II. folgend siedelten sie sich als freie – nicht leibeigene – Bauern an. Im Jahre 1941, nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die Sowjetunion wird die Familie mehrmals deportiert; 18-jährig wird Viktor Kral zur Zwangsarbeit nach Sibirien verbannt, dann in ein Bergwerk im Ural. Die nächste Station ist 1947 Kasachstan; 1956 endlich die Rückkehr an die Wolga, wo Kral, nunmehr 31 Jahre alt, eine eigene Familie gründet. Die vier Kinder kommen dort auf die Welt. Das »Papieremachen« beginnt 1970, so heißt es, wenn Ausreiseanträge gestellt werden. Die Kinder wachsen heran, jetzt sind sie im Alter zwischen 13 und 8 Jahren. »Sie erleben alles mit, wie wir immer wieder Papiere machen, die Schikanen in der Schule, dass ihre Sparbücher gesperrt werden. Oftmals müssen sie zur Polizei oder anderen Ämtern zum Verhör. Man versucht, Kinder gegen die Eltern aufzuhetzen. Nachbarn sticheln gegen die Kinder: ›Warum wollt ihr unbedingt weg?‹ Briefe aus und nach Deutschland werden konfisziert«, erinnert sich Viktor Kral. Ein Machtspiel? Jahrelang sitzt die Familie auf gepackten Koffern; Spielsachen passen da meist nicht rein. Als Karl volljährig ist, reist er 1980 als erster aus nach Deutschland, die anderen Geschwister folgen. Und warten hier nun ihrerseits jahrelang darauf, dass die Eltern nachziehen. Doch die Eltern können sich nicht lösen. »Kommt doch endlich«, drängen die Kinder, »wir haben eine günstige Wohnung für Euch. Wartet nicht länger«. Erst als die Sowjetunion als Staat zusammenbricht, entschließen sich die Eltern und verlassen Russland. In Deutschland gibt es die günstige Wohnung längst nicht mehr. So leben sie einige Kilometer entfernt von Karl im Vogelsberg, aus dem der Urvater einst nach Russland zog. Ein Zimmer in einem Haus am Dorfrand ist ihr Zuhause. Viktor Kral geht zum Fenster, deutet zum Kirchturm: »Dort ist auch der Friedhof. Das wird dann die letzte Adresse in unserem Leben sein.« Warten in Lönneberga Immer wenn Michel Svensson etwas angestellt hat, wird er zur Strafe in den Tischlerschuppen gesperrt. Der höhere Sinn der Maßnahme muss nicht erklärt werden. Die Begründung dieser Art zu strafen, zu erziehen und vor weiterem Fehlverhalten zu warnen liefert ja die Tradition. Einsperren gehört zu den Selbstverständlichkeiten der Erziehung, wie es auch der Film »Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte« (2009) drastisch illustriert. Die MichelGeschichten spielen in eben jener Zeit, Anfang des 20. Jahrhunderts. Auch in
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Schweden gehörte Einsperren zum ritualisierten Handlungsrepertoire, war Kulturgut. Die Autorin Astrid Lindgren bricht mit vielen Konventionen und gibt auch dem Leben auf dem småländischen Bauernhof Katthult augenzwinkernd eine aufklärerische Note, ironisiert tradierte Werte. Nein, auf Katthult gibt es keine drakonische Erziehung. Wartet Michel? Wartet er das Ende des Arrests ungeduldig ab? Wenn man die Perspektive umdreht: Ist denn die Zeit im Tischlerschuppen nicht eine Phase kreativ-produktiven Schaffens, wenn Michel Holzmännchen schnitzt? Dreihundertneunundsechzig dieser Holzmännchen hat er schon hergestellt. Und wäre es nicht denkbar, dass nicht Michel auf das Ende seines Engesperrt-Seins wartet, sondern dass – andersherum – die Außenwelt auf das dreihundertsiebzigste Holzmännchen wartet? Möglich auch, dass Michel endlich jenes Männchen ändert, das dem Herrn Pfarrer so ähnlich sieht? Michels Mutter mag nämlich ausgerechnet dieses Holzmännchen gar nicht. Heinz Schilling Literatur Hall, Edward T. (1983), The Dance of Life. The Other Dimension of Time, Garden City und New York: Anchor Books. Levine, Robert (1999), Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen, München: Piper. Schilling, Heinz (Hrsg. 2002), Welche Farbe hat die Zeit? Recherchen zu einer Anthropologie des Wartens, Frankfurt am Main: Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie. Schwartz, Barry (1975), Queuing and Waiting. Studies in Social Organization of Access and Delay, Chicago: University of Chicago Press.
Wildnis
Kulturgeschichtlich betrachtet ist Wildnis ein Konzept. Wildnis ist nicht einfach da. Wildnis ist in ihrer Geltung für den Menschen da. Die herrschende Bedeutung von Wildnis sagt nichts über sich, aber viel über die deutende Gesellschaft. Ob als »diffuser Raum des Schreckens« (Hass et al. 2012, S. 108) bei Eliade oder in der frühromantischen Ambivalenz von unerreichbar fern und bedrohlich nah (ebd., S. 115), die Bedeutung und Funktion von Wildnis veränderte sich mit dem Wandel des kulturellen Hintergrunds der mentalen und materiellen Welterschließung. In diesem Sinne lässt sich dann auch gesellschaftsdiagnostisch fragen: Wie kommt Wildnis heute daher? Welche Wildnis erzeugt Gesellschaft, besser: erzeugen welche Segmente von Gesellschaft?
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Wildnis ist für weite Teile des globalen Nordens heute, besonders in ihrer schnell geknüpften Verbindung mit Natur, ein Defizit (vgl. Louv 2011), ein Verlust, ergo ein Desiderat und Sehnsuchtsort (vgl. Hass et al. 2012). Wiederzugewinnen ist dabei, pädagogischen Diskursen folgend, die Wildnis in besonderem Maße als Raum der Kindheit. Wildnisschulen bieten Wildnispädagogik nach dem Vorbild des coyote-teaching. Wildniserfahrung soll zur Persönlichkeitsbildung dienen, zur Dehnung der Aufmerksamkeitsspanne und zur Nutzung innerer Bilder. Beim »umsichtigen Wildpflanzensammeln« soll sie zur moralischen Anstalt werden (Louv 2011, S. 214). Eine zentrale Zielsetzung des Wildnisprogramms: Kompetenz statt Hierarchie (vgl. Kuhlmann 2007). Doch welche Kompetenz ist gut und richtig? Dass Kinder ab dem achten Lebensjahr heute mehr Pokémon-Karten identifizieren können als heimische Tiere und Pflanzen (vgl. Balmford et al. 2002) wird als Störung diagnostiziert. Auch und gerade urbanisierte Eltern wünschen sich heute mehr naturbezogene Wildnis für ihre Kinder. Dabei schwanken sie helikopternd zwischen romantischer Nostalgie und (Über-) Besorgnis. Oft bleibt es beim Picknick im Stadtpark oder der Anmeldung beim Fußballverein. Und die Kinder? Für die ist Wildnis lange überhaupt kein Konzept. Kinder blicken ins Jetzt, manchmal ein wenig vorwärts. Der nostalgische Rückblick auf das unbeobachtete, unbeschränkte, ungeregelte Spiel im undurchdringbaren dorfnahen Wald kommt später. Wildnis als Sehnsuchtsort ist ein Raum der Erwachsenen. Sie steht auch für den sehnsuchtsvollen Rückblick auf die Kindheit. Räume von Wildnis Aus der Perspektive von erwachsenen Wissenschaftler*innen lassen sich verschiedene Räume der Wildnis sehen, die in ihrer Abstraktion allerdings weit weg von der kindlichen Beobachtung und dem kindlichen Erleben sind. Hass et al. (2012, S. 118) finden vier wesentliche geographische Typen von Wildnis als »Zusammenspiel von physischen Eigenschaften und intersubjektiven symbolischen Bedeutungen«: Berg, Dschungel, Wildfluss, Stadtbrache. Wildnis nimmt dabei vordergründig als ein containerartiger Draußenraum Gestalt an, eng verbunden mit dem sich in ihm befindlichen, nicht-menschlichen Organischen und dem landläufig »Grünen«. In jedem Falle ist so verstandene Wildnis eine Gegenwelt zu einer reglementiert erlebten gesellschaftlichen Realität. Am Beispiel der Stadtbrache deutet sich jedoch an, dass Wildnis auch mitten in dieser Realität als »unaufgeräumter Ort« der freien Entfaltung Bestand hat (ebd., S. 132). Im Gegensatz zu kulturell vermittelten Räumen von Wildnis, etwa dem Zoo, ermöglicht dieser Ort direkte Erfahrungen von Kontingenz und Unbestimmbarkeit; Er-
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fahrungen, die heute als höchst bedeutsam für die kognitive, soziale und moralische Entwicklung von Kindern diskutiert werden (vgl. Melson 2013, S. 108 ff.). Was aber zeigt die Betonwüste? Als Raum der Kindheit wirkt sie – aus pädagogischer Sicht – abschreckend, entwicklungshemmend: Sinnbild für Trostlosigkeit und Monotonie. Dennoch kann sie, anders betrachtet, Wildnis bergen: »Beton – es kommt drauf an, was man draus macht« war ein Slogan der 1980erJahre. Ich drehe ihn handlungstheoretisch weiter: Auf das »Machen mit Beton« kommt es an, auf die Praktiken der Aneignung von Raum. Mit einem Begriff von Wildnis als dem Minimum an Vor-Strukturiertheit kindlichen Spiels werden auch Asphaltdschungel und Betonwüste zu Draußenräumen möglicher wilder Kindheitserfahrungen. Doch lassen sich auch Innenräume des Wilden finden. Wildnis, nun zumindest prinzipiell entkoppelt vom Grünen und Belebten und reduziert auf Attribute des Ungeordneten, Ungeregelten, Zwanglosen, kann sich dann etwa auch im Kinderzimmer finden. Ein ganz anderer Innenraum der Wildnis findet sich heute beim Erwerben von Bekleidung, die für das Erleben von Wildnis bestmöglich wappnen und so gleichzeitig auch den Zugang zu ihr ermöglichen soll. Beim Eventshopping im Outdoor-Ausrüster sind gerade auch die Kinder angesprochen. Im zweiten Stock sollen oder dürfen sie Gold waschen, eine Treppe höher in der Kältekammer den zu kaufende Daunen-Hoody testen, bei Bedarf geht’s auf das Abenteuer-WC. Wildnis kann man hier betreten und verlassen. Durch die Tür. Sie währt, solange die Eltern Zeit haben. Ein Raum für die Kinder der konsumierenden Erwachsenen, der aus Kindern Konsument*innen machen soll. Kein Raum der Kindheit. Mediale Wildnis An den vermeintlichen Wildnis-Bildungsräumen »Kinderzimmer« und »Kältekammer« lässt sich aus pädagogischer Warte die fehlende Kontingenz und Responsivität eines lebenden Gegenübers bemängeln. Ähnlich lässt sich in Bezug auf die bild-textlich vermittelte Wildnis, etwa in der Werbung, aber auch in Tierdokumentationen argumentieren. Wildnis wird hier passiv konsumiert und damit zahm. Der einst von Jack London, jüngst auch von Leonardo di Caprio als »the revenant« ausgesendete »Ruf der Wildnis« verhallt vorm Display. Und doch gibt es neurowissenschaftlich begründete Hinweise, dass auch die bildlich vermittelte Wildnis in »virtuellen Realitäten« Erfahrungswert besitzt und emotionale Berührtheit erzeugen kann (vgl. Melson 2013, S. 102). Durch den gezielten Einsatz kinästhetischer Effekte, also durch die vor allem visuelle Einwirkung auf die leiblichen Betrachter*innen, versuchen nicht zuletzt auch Werbeschaffende, zahlungskräftige Mitglieder der urbanen Erlebnisgesellschaft zurück in
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die Wildnis zu ziehen. Wenn solche Kommerzialisierung von Wildnis funktioniert, verkauft sich die entsprechende Ausrüstung oder das neueste AllradModell. Und für die Kinder gilt: Ob beim virtuellen Mitfahren in Grzimeks gestreiftem Jeep zu den Löwen der Serengeti oder beim Mitverfolgen der Flucht eines animierten Indianerjungen namens Yakari vor einem (später freundlichen) Grizzly auf dem Rücken des Wildpferds »Kleiner Donner«: »[A]ll forms of engagement with wild animals, even the seemingly most mediated and symbolic, may nonetheless be powerful experiences.« (Ebd.) Gängige Affekte von Sentimentalität und Sympathie zu durchbrechen, scheint allerdings sinnvoll, etwa um einen kritischen Blick auf asymmetrische Darstellungsweisen der Mensch(Wild-)Tier-Beziehungen zu bilden. Und was nützt pädagogisch gesehen das Hervorrufen von Gefühlen durch Sinneswahrnehmung, ohne deren Herkunft auf den Grund zu gehen und dabei Selbstreflexion anzuregen? Experimentelle Filme mit ästhetischem Spiel, unkonventioneller Erzählstruktur und counter-Perspektiven erschüttern jedenfalls den wohligen Wildnis-Konsum und setzen stattdessen auf eine (kindliche) Neugier auf das nicht-menschliche wilde Andere. So kann kritische visuelle Wildnis-Bildung entstehen, sei es in unkommentierten Bildern zuweilen wieder allzu menschlich erscheinender tanzender Quallen oder in Versuchen, die Welt durch das Auge einer Eule abzubilden (vgl. Lorimer 2015, S. 133 ff.). Wilde Kinder Die Befunde der Inszenierung und medialen Vermittlung von Umwelt-Erlebnissen bieten Argumente dafür, Wildnis zu de-lokalisieren, von einer festen physisch-räumlichen Verortung und Materialisierung zu entbinden. Nicht von »den« Wildnis-Räumen, geschweige denn »den« Wilden wäre dann zu sprechen. Wildnis wäre keine Zuschreibung, sondern aufgehoben im wilden Tun, Denken und Fühlen. Ein solches Konzept führt dann schon eher zu einer Wildnis der Kindheit aus Sicht der Kinder und quert dabei die etablierte Dualität von Natur und Kultur und deren »spatial fix« außerhalb und innerhalb der menschlichen Gesellschaft (Whatmore 2002, S. 10). Wildnis entsteht dann in Praktiken, mit denen Räume angeeignet und gleichermaßen geschaffen werden. Dazu gehören auch und gerade scheinbar zwecklose und unproduktive Praktiken wie das Streifen, Streichen und Streunen. Dass sich aus ihnen durchaus Fähigkeiten mit sozialem Wert ergeben können, lässt sich zuweilen übrigens selbst den visuellen Medien entnehmen. In Wes Andersons jüngst preisgekröntem stop-motion Film »isle of dogs« ist es die Kompetenz des Streuners, die die Gemeinschaft der Verbannten gegen das faschistische Regime anzuführen vermag.
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Erfahrungsbezogen gedachte Wildnis lenkt den Blick aber auch auf deren identitätsstiftende Funktion, auf die (kindliche) Identifikation mit ihren Räumen ebenso wie mit ihren Eigenschaften. Damit eng verbunden ist die Inkorporierung, also die Einverleibung von Wildnis, welche im Zuge ihrer räumlichen Aneignung und damit verbundenen Praktiken des »Wildnis-machens« geschieht. Das Gefühl von Selbstbestimmtheit und damit auch vom Entfliehen vor Fremdbestimmtheit wie es Huckleberry Finn ausdrückt, wenn er in der Tonne am Fluss schlafen und Ratten braten will, verweist auf die leibliche Aneignung von Wildnis als Gefühl von Freiheit. Insbesondere ist das eine angestrebte Freiheit von zivilisatorischen Zwängen, wie sie oft der Frühromantik zugeordnet wird (vgl. Hass et al. 2012, S. 115), aber bis heute lebt. Kinder zieht es in die Wildnis, in das Gebüsch hinter den Rutschen und Klettertürmen des Spielplatzes, das sie den elterlichen Kontrollen entzieht. Wenn sie wieder herauskommen, tragen sie noch ein Stück Wildnis in sich, haben sich einen inneren Raum der Freiheit, Unabhängigkeit und Eigenständigkeit geschaffen. Doch dieser innere wilde Raum ist flüchtig. Sobald das Korsett zivilisierten Kindseins dann wieder eng wird, wenn Einkaufen, Verwandtschaft, Schulaufgaben anstehen, ist er schnell vergessen. Oder er verwandelt sich in eine Sehnsucht nach dem konkret erlebten äußeren Raum der Wildnis, in dem das innere Gefühl der Freiheit und des Abenteuers lokalisiert und damit bei Betreten garantiert scheint. Einigen aber gelingt die räumliche Entkopplung, sie müssen nicht zurück ins Gebüsch, sondern bringen durch ihre Unabhängigkeit und ihr Selbst-Sein ein Stück Wildnis in jeden Raum, Mädchen wie Jungs. »Wilden Mädchen« und Frauen, die ihr Wildes-Kind-Sein bewahrt haben, wird dabei mehr Aufmerksamkeit geschenkt, waren doch gesellschaftliche Konventionen noch mehr gegen sie. Bildbände wie »women travelers« (Mouchard 2007) oder »strong is the new pretty« (Parker 2017) zeigen dies. Wilde Zeiten Die Wildnis der Kindheit ist eine zeitgebundene, flüchtige Erfahrung. Wie kommt man dahin zurück? Wie lässt sie sich erhalten? Diese Frage interessiert Erwachsene, die sie als Verlust empfinden und, in doppelter Weise, erwachsene Wissenschaftler*innen, die sich mit Wildnis als Raum der Kindheit befassen. Eine gängige Strategie ist deren Konservierung in angestammten, zumindest scheinbar zivilisatorisch abseitigen Räumen. Familienurlaub im Bayrischen Wald oder in Lappland mit Zelt und Kocher. Kindheitsträume der Erwachsenen. Nimmt man die Zeit- und weniger die Raumgebundenheit von Wildnis ernst, dann heißt deren Rückgewinnung aber vor allem eines: Erinnern. Und nimmt man Wildnis als raumbezogene Erfahrung und damit verbundene Sinneswahrnehmung ernst, dann gilt es, kindliche Erfahrungen nicht rückwärtsgewandt zu
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rekonstruieren, sondern sie (erneut) zu evozieren. Dass sich damit auch ein neues Programm für die Geographie ergibt, meinen Whatmore (2002, S. 8) oder Thrift und Dewsbury (2000, S. 427), wenn sie von »geography as craft« beziehungsweise »geography as an art of evocation« sprechen. Dieses Evozieren mag zum Beispiel durch äußere Bilder gelingen, aber auch literarisch lassen sich innere Bilder des kindlichen Erfahrungsraums erzeugen, welche die vergangenen Gefühle revitalisieren, lässt sich somit gegen das Vergessen angehen und dem Phänomen der Kindheit nähern. Walter Benjamin hat das versucht (vgl. Jornitz 1999). In seinem Buch »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« zeichnet er mit der »Schmetterlingsjagd« kindliche Innenperspektiven des Erlebens in der und des Wiederauftauchens aus der Wildnis nach. So nutzt er Erinnerung als Zugang zu den Wahrnehmungsweisen der Kindheit, lässt sprach-gestalterisch noch einmal die »heißen Jagden« entstehen, die ihn »so oft von den gepflegten Gartenwegen fort in eine Wildnis gelockt hatten« (ebd., S. 34). Es ist eine Wildnis, in die sich der Garten des Sommerhauses für das fangende Kind verwandelt, das sich so in seinem Tun als Jäger und Bezähmer zugleich sehen kann. Das Zähmen der Wildnis indes ist bei Benjamin kein gewalttätiger, sondern ein »mimetischer Akt« und vollzieht sich im zwischenleiblichen Verschmelzen der Bewegung des Fängers mit der des Schmetterlings (ebd., S. 36). So deutet schließlich noch einmal vieles darauf hin, dass die Wildnis als Raum der Kindheit quasi »vor« der gesellschaftlich so tief verankerten Trennung von Natur und Kultur liegt, und damit auch vor der (spät-)modernen Kategorie »Wildnis« als einem begrenzten Raum des Ursprünglichen, Nicht-Menschlichen. Sollen diese Kategorien überwunden werden, wie es Lorimer (2015) stellvertretend für viele »Post-Dualisten« fordert, ist also von den Kindern zu lernen. Angesichts der vielfachen gesellschaftlichen Reproduktion, Institutionalisierung und damit Verwirklichung des Natur-Kultur-Dualismus scheint dessen Bewältigung derzeit allerdings nur schwerlich umsetzbar und seine kategoriale Verneinung auch nicht der vorherrschenden gesellschaftlichen Wirklichkeit des Einhegens, Strukturierens und Zähmens zu entsprechen. Wenn Lorimer konstatiert »Risky, endearing, charismatic, and unknown, wildlife persists in our postNatural world« (Lorimer 2015, S. 7), geht es aber vielleicht auch erst einmal darum, die wilden Momente im alltäglichen Erleben zu erkennen. Das aufmerksame Betrachten der vielzitierten Blume im Asphalt gehört ebenso dazu, wie das Durchspringen eines Laubhaufens, das Wackeln an der Dosenpyramide im Supermarkt oder das Verfolgen eines plötzlich auftauchenden absurden Gedankens. Kinder können das. Antje Schlottmann
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Literatur Balmford, Andrew, Lizzie Clegg, Tim Coulson und Jennie Taylor (2002), Why conservationists should heed Pokémon, Science 295(5564), S. 2367-2367. Hass, Anne, Deborah Hoheisel, Gisela Kangler, Thomas Kirchhoff, Simon Putzhammer, Markus Schwarzer, Vera Vicenzotti und Annette Voigt (2012), Sehnsucht nach Wildnis. Aktuelle Bedeutungen der Wildnistypen Berg, Dschungel, Wildfluss und Stadtbrache, in: Sehnsucht nach Natur. Über den Drang nach draußen in der heutigen Freizeitkultur, hg. v. Thomas Kirchhoff, Vera Vicenzotti und Annette Voigt, Bielefeld: transcript, S. 107-142. Jornitz, Sieglinde (1999), Walter Benjamin und das Erleben in der Kindheit, Pädagogische Korrespondenz 24, S. 32-42. Kuhlmann, Swantje (2007), Wildnispädagogik, www.waldzeichen.net/ueber/ Konzept_Wildnispaedagogik.pdf (Juni 2018). Lorimer, Jamie (2015), Wildlife in the Anthropocene. Conservation after nature, Minneapolis: University of Minnesota Press. Louv, Richard (2011), Das letzte Kind im Wald. Geben wir unseren Kindern die Natur zurück, Weinheim und Basel: Beltz. Melson, Gail F. (2013), Children and Wild Animals, in: The rediscovery of the wild, hg. v. Peter H. Kahn und Patricia H. Hasbach, Cambridge: The MIT Press, S. 93-118. Mouchard, Christel und Alexandra Lapierre (2007), Women travellers. A century of trailblazing adventures 1850-1950, Paris: Flammarion. Parker, Kate T. (2015), Strong is the new pretty. A celebration of girls being themselves, New York: Workman publishing. Thrift, Nigel und John-David Dewsbury (2000), Dead Geographies − And How to Make Them Live. Environment and Planning D: Society and Space 18(4), S. 411-432. Whatmore, Sarah (2002), Hybrid Geographies. Natures, cultures, spaces, London, Thousand Oakes und New Delhi: Sage.
Zaun
Für gewöhnlich werden Zäune als Mittel zum Ausschluss von Personen und als Trennung von privaten und öffentlichen Räumen verwendet. Diese dem Zaun zugeschriebenen Funktionen sind nicht falsch, aber sie greifen zu kurz. Um das zu verdeutlichen, sei an die Dinganalyse Martin Heideggers erinnert, die er unter anderem an einem Hammer veranschaulicht: Wenn wir mit einem Hammer einen Nagel in die Wand schlagen, denken wir in der Regel nicht an den Hammer, sondern womöglich an das Bild, das an den Nagel gehängt werden soll. Heidegger argumentiert, dass das charakteristisch für Dinge sei, mit denen wir alltäglich umgehen. Er nennt solche Dinge »Zeug«; sie seien nicht »vorhanden«, sondern »zuhanden« (Heidegger 2006 [1927], S. 68 ff.). Heute bezeichnen wir umgangssprachlich einen Gebrauchsgegenstand als Zeug. Nach Heidegger denken wir häufig aber erst dann an Gebrauchsgegenstände, wenn sie defekt sind oder fehlen. In diesen Momenten würden sie »auffallen« und »aufdringlich« werden. Wenn sie unsere Handlungen erschwerten, drängten sich uns die Gebrauchsgegenstände sogar auf – sie seien »aufsässig« (ebd.). Diese Aufsässigkeit ist ambivalent: Einerseits stört sie den alltäglichen Umgang mit diesen Dingen, andererseits ist sie Bedingung dafür, unser Wollen zu realisieren – vielleicht realisieren wir sogar etwas, an das wir vorher nicht gedacht haben. Diese Aufsässigkeit und ihre Ambivalenz möchte ich am Gebrauchsgegenstand »Zaun« verdeutlichen und ihren Einfluss auf das Leben von Kindern ver-
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anschaulichen. Dazu zwei Thesen: Erstens ist die Aufsässigkeit kein Mangel des Zauns, sondern etwas, das das Leben von Kindern bereichert. Zweitens ist sie die Voraussetzung dafür, dass Räume hervorgebracht werden. Ich diskutiere die Thesen in zwei Schritten: Zuerst beschreibe ich, wie sich die Aufsässigkeit des Zauns zeigt und was ich meine, wenn ich sage, dass die Aufsässigkeit des Zauns das Leben von Kindern bereichert. Im Anschluss werde ich darauf hinweisen, dass in der Untersuchung der Aufsässigkeit des Zauns offenkundig wird, dass dieser, zusammen mit anderen Dingen, Kindern und weiteren Personen, etwas zu der Hervorbringung von Räumen beiträgt. Beiden Thesen vorausgegangen sind Beobachtungen des Verhaltens von Kindern in einem umzäunten Garten einer Kindertagesstätte in Berlin. Auf dem etwa fünf mal fünfzehn Meter großen Grundstück bewegen sich zwischen sieben und zehn Kinder. Sie sind um die zwei Jahre alt, zwischen 70 und 90 Zentimeter groß. Der Zaun ist fast 110 Zentimeter hoch, er reicht also Erwachsenen etwa bis zur Hüfte. Er ist aus Holz, nichts Außergewöhnliches. An den Pfosten wurden waagerecht Latten befestigt und an diesen wiederum senkrecht handbreite, farbig gestrichene Bretter. Der Zaun beeinträchtigt die Sicht Wenn die Kinder auf dem Boden stehen, können sie nicht über den Zaun schauen. Die freie Sicht auf den Bürgersteig, die Straße und die anschließenden Bereiche vor dem Garten wird durch den Zaun verhindert. Manchmal hüpft ein Kind auf der Stelle und versucht dadurch, über den Zaun zu blicken, was nur mäßig gelingt. Aber der Zaun hat Zwischenräume, weil die vertikalen Bretter mit einer Handbreit Abstand an den Latten befestigt wurden. Durch den Zwischenraum schauen die Kinder durch den Zaun. Einige blicken nacheinander an verschiedenen Stellen durch den Zaun – so, als würden sie ausprobieren, welcher Durchblick der beste sei. Erst als ein Kind von Zwischenraum zu Zwischenraum läuft, werden besonders die jüngsten Kinder auf die Möglichkeit des Blicks durch den Zaun aufmerksam. Andere Jungen und Mädchen bemerken den Zwischenraum erst in dem Moment, in dem sie selbst durch den Zaun blicken. Manche Kinder beschäftigen sich noch intensiver mit diesem Zwischenraum. Sie versuchen, ihn zu füllen: mit Ästen, die im Garten herumliegen, oder mit Spielzeug, das aus dem Gebäude herangeschafft wird. Zusammenfassend: Erst dadurch, dass der Zaun die Sicht beeinträchtigt, werden Kinder auf ihn und seine Zwischenräume aufmerksam. Sobald die Kinder die Zwischenräume wahrnehmen, fühlen sie sich offenbar zur Bewegung und zum Spielen motiviert. Damit trägt der Zaun dazu bei, Handlungen anzuregen.
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Der Zaun erschwert das Klettern Andere Jungen und Mädchen stellen ihre Füße in den Zwischenraum, um auf den Zaun wie auf eine Leiter zu klettern. Dadurch schaffen es manche Kinder, doch über den Zaun zu schauen. Einige scheitern dabei, weil die Abstände zwischen den horizontalen Balken des Zauns größer sind als bei einer Leiter. Außerdem müssen sich die Kinder beim Klettern von Brett zu Brett immer wieder von neuem mit den Händen festhalten und dabei den Stand ihrer Füße korrigieren. Auch wenn das Klettern an dem Zaun mühsam zu sein scheint, bleiben einige Kinder auf dem Zaun länger stehen. Es macht den Eindruck, als wollten sie den Boden nicht mit den Füßen berühren, sondern möglichst auf dem Zaun halten. Dabei fordern manche Kinder andere Kinder gestisch (winkende Armbewegung) und verbal (»Auch!«) auf, es ihnen gleichzutun. Einige jüngere, die weder klettern noch sicher laufen können, ziehen sich an dem Zaun hoch oder stützen sich beim Gehen an ihm ab. Das passiert, obwohl die Pfähle, Latten und Bretter des Zauns von Kinderhand nicht umgriffen werden können. Außerdem ist das Holz kantig und an einigen Stellen aufgeraut. Zusammenfassend: Die dingliche Struktur des Zauns erschwert den Kindern das Hochklettern. Weil das Klettern erschwert wird, müssen die Kinder in dieser Fertigkeit geschickt sein, das heißt hier: ihre körperliche Bewegung koordinieren. Damit trägt der Zaun zum Erwerb von Körperwissen bei. Der Zaun schränkt die Bewegung ein Der Zaun trennt den Garten vom Bürgersteig, von der Straße und von sich daran anschließenden Bereichen. Die Trennung verhindert, dass die Kinder den Garten verlassen können. Im Garten hingegen können sie sich mehr oder weniger frei bewegen, das heißt, sie sind nicht – wie häufig außerhalb des eingezäunten Areals – auf dem Arm oder an der Hand von Erwachsenen, sitzen nicht im Kinderwagen, nicht im Kindersitz auf dem Fahrrad oder im Auto. Zudem beeinflusst der Zaun die Art der Bewegung im Garten. Er ist rechteckig und etwa dreimal so breit wie tief. Das führt dazu, dass die Kinder zumeist die längere Seite des Gartens zum Wettrennen nutzen. Hinzu kommt, dass sie dabei nicht direkt am Zaun entlang laufen, sondern in der Mitte des Gartens, also wenige Meter vom Zaun entfernt. Die Kinder wissen offenbar, dass sie vom Zaun Abstand halten müssen, um sich nicht an den vorstehenden Pfosten zu stoßen. Zusammenfassend: Indem der Zaun den Bewegungsradius von Kindern einschränkt, ermöglicht er ihnen eine freie Bewegung. Da es diese freie Bewegung gibt, können die Kinder – unabhängiger von Eltern und Erziehenden – zum Beispiel Kontakte mit anderen Kindern aufnehmen oder bewusst vermeiden. Damit trägt der Zaun zur persönlichen Emanzipation bei.
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Der Zaun stört Begegnungen Wenn es eines der älteren Kinder einmal schafft, komplett auf den Zaun zu klettern, um auf ihm zu sitzen oder ihn sogar zu übersteigen, wird es zweifach bestraft: Das Sitzen auf dem Zaun ist unbequem, da die Bretter keine ausreichend große Sitzfläche bilden. Außerdem wird das Kind schnell durch die Erziehenden vom Zaun heruntergenommen und nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, nicht noch einmal hinauf zu klettern. Es gibt nur einen Ort am Zaun, an dem sich die Kinder und andere Personen (darunter besonders die Eltern) gut begegnen und auch körperlich berühren können: am Tor, an einer Ecke des Zauns. Aber nur Erwachsene dürfen das Tor schließen und öffnen. Allein das Berühren des Metallriegels durch ein Kind zieht Ermahnungen der Erziehenden nach sich. Manchmal weisen auch die älteren Kinder die jüngeren verbal (»Nein, nein, nein!«) und gestisch (die flache Hand wird auf den Riegel gelegt) darauf hin, das Tor nicht zu öffnen. Auch wenn die Kinder das Tor nicht öffnen dürfen, wissen sie, dass sie am Nachmittag am Tor von den Eltern abgeholt werden. Denn wenn ein Kind am Nachmittag einen Elternteil auf der gegenüberliegenden Straßenseite durch den Zaun hindurchblickend sieht, bleibt es nicht an seinem Ort stehen, sondern bewegt sich zum Tor. Zusammenfassend: Indem der Zaun Begegnungen stört, teilweise verhindert und Zugänge reguliert, schützt er die Kinder vor Gefahren außerhalb des Gartens (wie Autoverkehr) und regt zur gegenseitigen Beobachtung des Verhaltens und der Orientierung im Umfeld an. Damit trägt der Zaun dazu bei, dass Kinder Machtverhältnisse kennenlernen und merken, dass es in ihrem Umfeld nicht nur beliebige Stellen, sondern auch bedeutsame Orte gibt. Wie die Aufsässigkeit des Zauns Kinder zu Handlungen motiviert Die erste oben formulierte These dieses Textes lautet, dass die Aufsässigkeit von Zäunen im Umfeld von Kindern kein Mangel des Zauns ist, sondern etwas, das das Leben der Kinder bereichert. Nach den vorangegangenen Beobachtungen kann die These zusammenfassend bestätigt werden, dabei sei an die von Heidegger formulierte und eingangs erwähnte Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit von Gebrauchsgegenständen erinnert: Der hier beobachtete Zaun fällt nicht auf, weil er beschädigt wäre. Er ist auch nicht aufdringlich, weil er fehlte. Vielmehr ist er aufsässig, weil er Handlungen erschwert. So beeinträchtigt er die freie Sicht aus dem Garten. Außerdem ist es für die Kinder mühsam, an ihm zu klettern. Ferner schränkt er ihre Bewegungen ein und beeinträchtigt die Begegnung mit den Eltern. Schließlich ruft er Schmerz oder Ermahnung hervor, wenn ein Kind sich auf ihn hinsetzen oder ihn überklettern will. Beobachtet man aber den Umgang der Kinder mit dem Zaun, ist unübersehbar, dass dessen Aufsässig-
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keit die Kinder zum Beispiel zu Handlungen motiviert. Dinge können nicht nur Kinder, sondern alle Menschen zu etwas motivieren. Darauf hat zum Beispiel die Gestalttheorie hingewiesen – unter anderen Kurt Lewin mit dem Begriff vom »Aufforderungscharakter« der Dinge (vgl. Lewin 1926). In der Pädagogik hat zum Beispiel auch Martinus J. Langeveld auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht (vgl. Langeveld (1968 [1956]). Zwar trifft dies bei dem beobachteten Zaun auch zu, aber hier geht es deutlich über das Auffordern oder Appellieren hinaus, denn man kann beobachten, dass den Kindern der Zaun tatsächlich »im Wege liegt« (Heidegger 2006 [1927], S. 73). Er ist also beim Handeln hinderlich, er ist ein Hindernis, das für die Kinder herausfordernd ist, was sich in unterschiedlichen Handlungsweisen zeigt. Das heißt, das Hindernis schädigt die Kinder nicht, sondern es bereichert ihr Leben. Wie die Aufsässigkeit des Zauns dazu beiträgt, Räume hervorzubringen Die zweite oben formulierte These ist, dass die Aufsässigkeit des Zauns die Voraussetzung dafür ist, dass Räume hervorgebracht werden. Nach den vorangegangenen Erläuterungen kann auch diese These zusammenfassend bestätigt werden: Weil der Zaun die Sicht beeinträchtigt, das Blickfeld also einschränkt, werden die Kinder motiviert, durch den Zaun zu blicken. Was sie sehen, ist etwas Äußeres, das sich von einem Inneren unterscheidet, dessen Teil sie sind. Außen und innen sind unterschiedliche Qualitäten, die wahrgenommen werden. In diesem Sinne bringt nicht der Zaun, bringen nicht andere Dinge und bringt auch nicht das wahrnehmende Kind oder andere Personen alleine Raum hervor. Vielmehr ist es ein Zusammenwirken dieser Entitäten, das Raum hervorbringt. Der Zaun verhilft aber nicht nur dazu, dass ein Innen- und ein Außenraum hervorgebracht werden. Der Zaun trägt auch dazu bei, dass es einen »Handlungsraum« und einen »Anschauungsraum« gibt (Waldenfels 2005 [1985], S. 184). In dem Innenraum als Handlungsraum kann sich das Kind mehr oder weniger frei bewegen. Außerhalb des Zauns kann es sich nicht in dieser Weise frei bewegen, weil der Außenraum eher ein Anschauungsraum ist. Der Handlungsraum ist aber nicht gleichmäßig aufgebaut: Ein Kind klettert am Zaun. Dabei hat es gestischen Kontakt mit einem anderen Kind, das auf der einige Meter entfernten Treppenstufe steht, von der es über den Zaun blicken kann. Der Zaun, das kletternde Kind, das auf der Treppe stehende Kind und die Treppe bringen hier gemeinsam einen Raum hervor, der sich wiederum von dem Handlungsraum, in dem alle Kinder agieren, unterscheidet. Auf der Grundlage dieser Beobachtung ist es unzutreffend nur von einem Handlungsraum zu reden; man sollte besser von einer Vielzahl unterschiedlicher Handlungsräume sprechen.
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Konkrete Räume Die Zaun-Beobachtung macht ebenso deutlich, dass Dinge auch für Kinder keine neutralen Körper sind. Sie haben durchaus eine Eigenheit, die das Leben beeinflusst. Dinge sind aber keine Wesen, die aktiv in das Leben der Kinder eingreifen, auch wenn ich in diesem Text Formulierungen wähle, die den Eindruck erwecken, als agierten Dinge. Auf der Grundlage der Beobachtungen ist es stattdessen angemessener, davon zu sprechen, dass die Kinder auf »Ansprüche« des Zauns in vielfältiger Weise »antworten« (vgl. Waldenfels 2006) und dass diese Antworten wiederum Auswirkungen auf die Ansprüche anderer Dinge, auch anderer Kinder und sonstiger Personen haben. Würden diese wechselseitigen Beeinflussungen zwischen Zaun, anderen Dingen, individuellen Kindern, Erziehenden, Eltern und weiteren Personen weiter beobachtet und beschrieben werden, gewänne man ein Verständnis davon, dass die Differenz von Innen- und Außenraum, Anschauungs- und Handlungsraum sowie Differenzierungen innerhalb des Handlungsraums Spiegel verschiedener Räume unterschiedlicher Qualität sind. Durch solche Beobachtungen gewinnt man ein konkretes Verständnis davon, was häufig generalisierend als »Konstitution eines relationalen Raums« bezeichnet wird. Sebastian Feldhusen Literatur Heidegger, Martin (2006 [1927]), Sein und Zeit, Tübingen: De Gruyter. Langeveld, Martinus J. (1968 [1956]), Studien zur Anthropologie des Kindes, Tübingen: De Gruyter. Lewin, Kurt (1926), Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie. I. Vorbemerkung über die psychischen Kräfte und Energien und über die Struktur der Seele, Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften 7, S. 294-329. Waldenfels, Bernhard (2005 [1985]), In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Waldenfels, Bernhard (2006), Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Zoo
Ein Besuch im Zoo gehörte bereits im 19. Jahrhundert zum etablierten Repertoire der Ausflüge städtischen Bürgertums. Trotz steigender Kritik an den Haltungsbedingungen und einzelner Skandale, wenn etwa Tiere aus ihren Gehegen ausbrechen, Menschen von Tieren angegriffen werden oder Tiermisshandlungen bekannt werden, scheint die Popularität des Zoos beim Publikum, insbesondere bei Familien mit kleinen Kindern, ungebrochen. Zoologische Gärten gelten als Erholungs- und Bildungsort gleichermaßen. Sie laden ein zum Flanieren in einer für Kinder sicheren Parklandschaft mit Bänken, Spielplätzen, Cafés und Restaurants und vermitteln nebenbei kleine Einblicke in die Artenvielfalt der Erde. Nicht umsonst bewirbt etwa die ZOOM Erlebniswelt in Gelsenkirchen einen Besuch als »Weltreise an einem Tag«. Jenseits der Erholungsfunktion und der zoologischen Bildung, Wissenschaft und Forschung sehen heutige Zoos ihre Aufgaben in der Werbung für Natur- und Umweltschutz und in dem Erhalt der Biodiversität. Hierunter wird sowohl der Zoo als »Arche Noah« bedrohter Tierarten als auch dessen Beteiligung an Auswilderungsprojekten gefasst. Dabei ist der Zoo als bürgerlich-städtische Bildungs- und Erholungseinrichtung zunächst aus der Not geboren. Bevor es Zoos gab, war der Besitz von als
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»exotisch« geltenden Tieren überwiegend dem Adel vorbehalten, der diese als Zeichen seines Herrschaftsanspruches ausgewählten Gästen präsentierte. Neben diesen höfischen Tierhaltungen erfreuten sich Wandermenagerien als schaustellerisches Spektakel großer Beliebtheit. Als im Rahmen der Französischen Revolution auch die Menagerie Versailles’ als Symbol des Ancien Régime zerschlagen werden sollte, stellte sich die praktische Frage, was mit den dort gehaltenen Tieren geschehen sollte. Hatten einige zunächst die Vorstellung, auch die Tiere aus der Sklaverei absolutistischer Herrschaftsstrukturen befreien zu können, stellte dies nicht zuletzt bei Großraubtieren wie Löwen ein praktisches Sicherheitsproblem dar (vgl. Spickernagel 2010, S. 49-51). Mit der Verlegung der Tiere in den Jardin des Plantes in Paris und der Angliederung an das neu gegründete Muséum National d’Histoire Naturelle als wissenschaftlicher Institution war der erste bürgerliche Zoo entstanden, dessen Vorbild 1828 London, 1838 Amsterdam, 1843 Antwerpen und 1844 Berlin folgten. Die Einrichtung eines eigenen städtischen Zoos war zum nationalen wie bürgerlich-städtischen Prestigeobjekt geworden (vgl. Macho 2005, S. 160). Bereits in dieser frühen Phase waren mit der Förderung zoologischer Forschung, der Popularisierung naturwissenschaftlichen Wissens und Schaffung einer gärtnerisch-gestalteten Anlage zur Rekreation für das städtische Bürgertum und für Fremde Ziele formuliert, denen sich die meisten Zoologischen Gärten in ihrer Satzung auch heute noch verpflichtet fühlen. Dabei wird von Anfang an deutlich, dass der Zoo schon damals sowohl wissenschaftsnahe Bildungseinrichtung als auch Erholungsraum und Freizeitdestination gleichermaßen sein sollte (vgl. Steinkrüger 2013, S. 144). Allerdings stellte sich damals – und in gewisser Hinsicht bis heute – die Frage nach dem wissenschaftlichen und didaktischen Mehrwert eines lebenden Zootieres gegenüber den verstorbenen und präparierten Artgenossen in den Sammlungen Naturhistorischer Museen, an die viele der frühen Zoologischen Gärten angegliedert waren. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts war die Taxonomie zentrales Erkenntnisinteresse der Zoologie. Der hierfür nötige Vergleich kleinster Variationen bedurfte vieler Exponate, die im Ideal tot und präpariert waren und zum visuellen Vergleich nebeneinander gezeigt werden konnten (vgl. Ritvo 1996, S. 44-46). Zwar wurden auch im Zoo verwandte Arten nebeneinander präsentiert, es konnte aber nicht die Vielfalt dargestellt werden, die zur taxonomischen Bestimmung der Artenstammbäume notwendig war. Mit wenigen Ausnahmen blieb eine Forschung am lebenden Objekt eher Legitimationsgrundlage des Zoos als wirklich elaboriert. Und zugleich gerieten die hierfür oft engen, stickigen Gehege auch schon im 19. Jahrhundert in die Kritik. Entgegen selbsterklärter Ideale war eine »naturnahe« Gestaltung von Gehegen mehr Wunsch als Realität. Die Haltungsbedingungen im Zoo waren sogar
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von zweitrangiger Bedeutung, da die Tiere der Forschung lebend wie tot genügten. Großflächige Gehege waren sogar eher hinderlich, nahmen sie doch Platz für weitere Tierarten weg. Die meisten Gehege waren im sogenannten Menageriestil gestaltet, also den Käfigen des Ancien Régimes nachempfunden, von denen man sich ursprünglich abgrenzen und aus denen man die Tiere liberalisieren wollte. Raubtiere hielt man in Zwingern, während Pflanzenfresser tagsüber in umgitterten Ausläufen und nachts in engen Innenställen untergebracht waren. Größere Vögel hatten Volieren, wohingegen kleinere Tiere oft in überheizten, dunklen Tierhäusern und engen, mitunter auch noch übereinandergestapelten Käfigen gezeigt wurden. Als Treffpunkt der bürgerlichen Gesellschaft hingegen sollte der Zoologische Garten Erholungsraum sein. Dem Stil des Englischen Gartens verpflichtet, sollte der Park als idealisierte (Natur-)Landschaft gestaltet zum Verweilen einladen. Aus Ermangelung der Möglichkeit, auch die Tiere in diese »naturnahe« Landschaft zu integrieren, entstand im 19. Jahrhundert die Mode, die Gehege in ihrer äußeren Architektur entsprechend der »Kultur« ihrer Heimatregionen zu gestalten. Tierhäuser wurden Tempeln, Pagoden, Moscheen, Burgen, Berg- und Strohhütten nachempfunden (vgl. Steinkrüger 2013, S. 180181). All dies konnte jedoch nicht über jenes Unbehagen der Haltungsbedingungen hinwegtäuschen, welchem Rainer-Maria Rilke in seinem Gedicht Der Panther. Im Jardin des Plantes, Paris (1902) Ausdruck verlieh: »Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe/ und hinter tausend Stäben keine Welt.« Eine paradigmatische Wende der Gehegegestaltung wurde durch Carl Gustav Hagenbeck mit seinem 1896 patentierten Naturwissenschaftlichen Panorama eingeleitet. In seiner Arbeit als Tierhändler und Zirkusdirektor hatte er in den 1870er-Jahren angefangen, die Sprungkraft verschiedener Tierarten zu erfassen, um hierdurch die Weite von Gräben und Stufen für gitterlose Gehege zu bestimmen. Das eigentliche Patent lag jedoch weniger in der Gestaltung einzelner Gehege als vielmehr in der Anordnung dieser hintereinander, sodass aus Perspektive der Besucher*innen der Eindruck einer geteilten »natürlichen« Landschaft entstand. Obwohl mit weniger Tierarten als die etablierten Zoos seiner Zeit belebt, wurde Hagenbecks 1907 eröffneter Tierpark zum Publikumserfolg. Während es Hagenbeck selbst wohl eher um eine ästhetische Revolution ging, wurde diese neue Gehegegestaltung von seinem Mitarbeiter, dem Zoologen Alexander Sokolowsky, als Übergang eines morphologisch-systematischen Zugangs zu einem tiergeographisch-ökologischen Zugang in der Zoogestaltung gedeutet (vgl. Steinkrüger 2013, S. 199). Auch wenn sich Hagenbecks Patent zunächst nicht durchsetzen konnte – sein Ideal widersprach weiterhin dem Anspruch etablierter Zoologischer Gärten, so viele Tierarten wie möglich zu präsentieren –, so hat sein Verzicht auf Gitter und
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die Inszenierung von Tieren in einer für sie gestalteten, künstlichen Landschaft langfristig das Bild eines Zootieres von dem eines Gefangenen zu dem eines Geretteten verändert (vgl. Rothfels 2002, S. 216). Spätestens seit der durch die Naturschutzbewegung ausgelöste Krise Zoologischer Gärten in den 1980er- und 1990er-Jahren, waren es ähnliche Konzepte wie die Hagenbeck´schen, auf die zurückgegriffen wurde. Auch die neue Generation verschreibt sich dem Ideal einer »naturnahen« Gestaltung. Damit prägte Hagenbeck ein neues Narrativ des Zoos. Er wird zur Arche Noah, die die Tiere vor der Sintflut in Form menschlicher Umweltzerstörung rettet und ihnen ein schöneres, gesünderes und sichereres Leben als in der »Wildnis« bietet. Auf paradoxe Weise klären Zoologische Gärten heute über die zerstörerische Kraft der Menschheit auf, während sie zugleich zeigen wollen, wie durch den »zivilisatorischer Fortschritt« die Tiere innerhalb des Zoos besser leben als außerhalb und der Fortbestand der Arten dank ihrer Hilfe gesichert ist (vgl. Rothfels 2002, S. 216 f.). Jenseits des Naturschutzgedankens war es vor allem die krisenhafte Lage öffentlicher Kassen, die dazu führte, dass die städtischen Zoos nicht mehr im selben Maße unterstützt werden konnten. In der Folge gerieten sie ab den 1990erJahren finanziell in Bedrängnis. Stärker als bislang mussten sich Zoos in Konkurrenz zu anderen Freizeiteinrichtungen für Familien wie Vergnügungsparks positionieren und eine erlebnisorientierte Klientel für sich gewinnen. Zusätzlich zur Gehegegestaltung und neuen Formen der Begegnung mit Tieren übernahmen Zoos Strategien der Inszenierung von Themenparks, indem eben auch die Bereiche außerhalb der Gehege als Habitat Immersion entsprechend der Thematisierung der Gehege gestaltet werden (vgl. Beardsworth und Bryman 2001, S. 90). So sind heute in vielen Zoos die Restaurants Lodges und Tempeln nachempfunden. Zugleich wird durch Schnuppertage Interesse an der Arbeit der Tierpfleger*innen geweckt; Zoodokumentation sollen eine engere Bindung an das menschliche, wie tierliche Leben im Zoo ermöglichen und damit zugleich Empathie für die Arbeit im Zoo erzeugen. Nicht leugnend, dass sich die Haltungsbedingungen etwa durch die Zunahme an Fläche und Beschäftigungsanreizen für die präsentierten Tiere seit den ersten Zoogründungen erheblich verbessert haben, stellt sich die Frage, inwieweit eine »naturnahe« Gehegegestaltung hinreichend oder notwendig für eine artgerechte Haltung sein sollte. Denn wie soll ein in Gefangenschaft geborener Löwe Erfahrung von Savanne haben, um in den Kunstfelsen und der Vegetation das Verbreitungsgebiet seiner Artgenossen wiederzuerkennen? Es scheint eher den Erwartungen der Besucher*innen geschuldet, die eben mit dieser malerischästhetischen Inszenierungen einen Wert für die gehaltenen Tiere assoziieren (vgl. Spotte 2006; Steinkrüger 2013).
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Zugleich rechtfertigen Zoologische Gärten solche Inszenierungen mit einem didaktischen Mehrwert: »In einem klassischen, altmodischen Zoo kann jeder einfache Tatsachen erlernen, wie z.B. dass Giraffen lange Hälse haben und Elefanten große graue Tiere sind, dazu wird man unbewußt Geräusche und Gerüche wahrnehmen und abspeichern mithin lernen. Dass der Löwe in der Savanne vorkommt und ein Orang-Utan im Regenwald lebt, wird man in einem gefliesten Tiergehege wohl eher nicht mitnehmen können.« (Hagenbeck 2002, S. 182)
Doch auch hier stehen fragwürdige Grundannahmen dahinter. Einerseits wird das Verhalten eines einzelnen Tierindividuums, das zudem in Gefangenschaft sozialisiert ist, als Repräsentant des Verhaltens einer ganzen Spezies angesehen. Andererseits wird die nach menschlichen Vorstellungen designte Savanne als Repräsentation von »realen« Savannen herangezogen (vgl. Spotte 2006); zumal Löwen nicht ausschließlich in Savannen und entgegen populärer Vorstellungen nicht ausschließlich auf dem afrikanischen Kontinent leben; ganz zu schweigen von den vielen Tieren, die nicht in der »Wildnis«, sondern in Gefangenschaft in Zoos, Zirkussen und Privathaushalten leben. Um als Löwe in der Savanne erkennbar zu sein, beruht die Darstellung auf gesellschaftlich etablierten Bildern von Savanne. Die Popularität heutiger Zoos begründet sich gerade unter anderem aus ihrem Doppelcharakter als Erholungs- und Bildungseinrichtung. Wie gezeigt wurde, müssen Zoos, um heute ökonomisch erfolgreich zu sein, stark auf die Erwartungen und Bedürfnisse ihrer Besucher*innen eingehen. Dabei kann ein Wandel von einer bildungsbürgerlichen Klientel zu (zahlungskräftigen) Familien mit Kindern festgestellt werden, der sich auch in entsprechenden Infrastrukturen für Kinder niederschlägt. Die Inszenierung der Gehege und Anlagen ist allerdings weniger den Tieren als vielmehr dem ästhetischen Erlebnis der Besucher*innen geschuldet und erfolgt vor allem auf Basis gesellschaftlicher Vorstellungen der »Herkunftsregionen«. Selbst die beste Inszenierung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Tiere dort vor allem zum Zwecke der Unterhaltung von Menschen gehalten werden. Zugleich kann aber auch der Bildungsanspruch hinter der Inszenierung hinterfragt werden. Denn was lehren Zoos? Und warum halten wir die Begegnung mit als »exotisch« geltenden Tieren für so wichtig in der Kindererziehung? Zugleich reproduzieren Zoos als Heterotopien der »Wildnis« in der »Zivilisation« die Trennung von Natur und Kultur, etablieren ein zoologisches Blickregime der Asymmetrie zwischen Mensch und Tier, in dem Tieren innerhalb der
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Kultur ein Ort zugewiesen wird, der sie damit gleichzeitig außerhalb der Kultur positioniert (vgl. Beardsworth und Bryman 2001, S. 85). »Wildnis« ist in der »Zivilisation« gebannt, indem man sie an einen Ort bindet. Dem anthropozentrischen Blick panoptisch unterstellt, dient das Tier dort kontrolliert und überwacht aber weiter als Exponat und als Beweis der Unterschiedenheit von »Wildnis« und »Zivilisation«, »Mensch« und »Tier«. Geht man der Frage nach, was Kinder in einem Zoo lernen können, dann ist es weniger der Sachverhalt, dass die Spezies Löwe in der Savanne lebt, als vielmehr die Einsicht, dass Tiere woanders hingehören – auf andere Kontinente und in ihre ökologische »Nische«. Dabei leben viele Tiere unter und mit uns; in der Stadt, im eigenen Garten und manchmal selbst im Kinderzimmer. Jan-Erik Steinkrüger Literatur Beardsworth, Alan und Alan Bryman (2001), The wild animal in late modernity. The case of the Disneyization of zoos, Tourist Studies 1(1), S. 83-104. Hagenbeck, Carl Claus (2002), Emotionales Lernen durch Thematisierung? In: Lernen in Erlebniswelten. Perspektiven für Politik, Management und Wissenschaft, hg. v. Wolfgang Nahrstedt, Dieter Brinkmann, Heike Theile und Guido Röcken, Bielefeld: IFKA, S. 182-183. Macho, Thomas (2005), Zoologiken. Tierpark, Zirkus und Freakshow, in: Anthropometrie. Zur Vorgeschichte des Menschen nach Maß, hg. v. Gert Theile, München: Fink, S. 155-177. Ritvo, Harriet (1996), The Order on Nature. Constructing the Collections of Victorian Zoos, in: New worlds, new animals. From menagerie to zoological park in the nineteenth century, hg. v. Robert J. Hoage und William A. Deiss, Baltimore: Johns Hopkins University Press, S. 43-50. Rothfels, Nigel (2002), Immersed with Animals, in: Representing animals (= Theories of Contemporary Culture 26), hg. v. dems., Bloomington: Indiana University Press, S. 199-223. Spickernagel, Ellen (2010), Der Fortgang der Tiere. Darstellungen in Menagerien und in der Kunst des 17.-19. Jahrhunderts, Köln: Böhlau-Verlag. Spotte, Stephen H. (2006), Zoos in Postmodernism. Signs and simulation. Madison: Fairleigh Dickinson University Press. Steinkrüger, Jan-Erik (2013), Thematisierte Welten. Über Darstellungspraxen in Zoologischen Gärten und Vergnügungsparks, Bielefeld: transcript.
Zuhause sein
»Zuhause sein« ist ein Gefühl. Nahe Bezugspersonen wie die Eltern oder Geschwister können in der Kindheit für dieses Gefühl zwar maßgeblich sein, doch der Ausdruck benennt zunächst einmal eine besondere Ortsbeziehung. Dieser Ort steht ideell für eine räumliche Zentrierung in der Welt, bis hin zu Metaphern der »Verwurzelung« im späteren Alter, eine Verwobenheit von Biografie und Topografie. Die räumlichen Begebenheiten sind nicht nur vertraut, sondern als Ausgangsbasis des alltäglichen Erlebens verinnerlicht. So kann auch eine lange zurückliegende Kindheit anhand der altvertrauten Umgebung in erinnerten Bildern und Szenen vergegenwärtigt werden. Diese erste Annäherung ist nicht losgelöst von einem spezifischen Erfahrungsraum des Aufwachsens, denn die Erfahrungshintergründe des Wohnens können sich sehr unterscheiden. Sie variieren in zeitlicher und räumlicher Hinsicht zwischen Beständigkeit und Brüchen, etwa aufgrund von Umzügen oder transnationaler Migration. Sie sind durch mehr oder weniger stabile oder dynamische Raumverhältnisse geprägt, etwa bei mehreren Wohnsitzen, die phasenweise bewohnt werden, oder bei mobilen Wohnstätten wie einem Campingwagen. Je nach Lebenssituation unterscheiden sich auch die Perspektiven auf ein Zuhause, zum Beispiel als Ortsbezug der eigenen Herkunft oder als Gestaltungsaufgabe und Anforderung sich einzuleben (sich ein Zuhause schaffen; »sich endlich zuhause fühlen«). Nicht zuletzt unterscheiden sich die sozialen und materiellen Verhältnisse und die damit verbundenen Gefühlsqualitäten (zum Beispiel auch: sich ein anderes Zuhause wünschen). Da Kinder in der Regel nicht alleine leben, sind Bezugspersonen mehr oder weniger dauerhaft in einen gemeinsamen Rahmen des Zusammenlebens involviert, wobei Kinder zwar überwiegend, aber nicht ausschließlich in verwandtschaftlichen Wohnverhältnissen aufwachsen. Sie können ebenso in Pflegefamilien oder Kinderheimen leben. Wenn vom »Zuhause« die Rede ist, so bewegen wir uns außerdem letztlich in einer spezifischen, einer westeuropäischen Gefühlslandschaft. Weder müssen die konkreten Erfahrungs- und Vorstellungswelten, die in der deutschen Sprache mit dem Wort »zu-
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hause« aufgerufen werden, universell geteilt werden, noch sind sie unabhängig von historischen Entwicklungen – das Wort hat selbst auch eine Geschichte. Seit einigen Jahren ist das Zuhause verstärkt zu einem fokussierten Thema in der sozialwissenschaftlichen Diskussion geworden, gerade auch mit Blick auf Kinder. So wird beispielsweise die Selbstverständlichkeit einer vermeintlichen Eindeutigkeit der Ortsbeziehung hinterfragt, die sich erst mit dem modernen Leitbild der häuslichen »Kernfamilie« verfestigt hatte. Eine während der vergangenen Jahrzehnte wieder zugenommene Vielfalt an Formen des Zusammenlebens hat seit etwa zehn Jahren zu einer verstärkten Beachtung multilokaler Wohnformen geführt (vgl. BBSR 2009). Darunter werden Lebensweisen verstanden, die über mehrere Wohnorte verteilt stattfinden, sei es aufgrund von erwerbsbedingter Mobilität oder Beziehungsmodellen, in denen Kinder beispielsweise abwechselnd mit ihren nächsten Bezugspersonen zusammenleben. In historischer Perspektive verweist das Wortgefüge »zu Hause« auf die Zugehörigkeitsordnung des »ganzen Hauses«, das vorrangig als Wirtschaftsgemeinschaft organisiert war. Dieser häuslichen Gemeinschaft gehörten ebenso Mitglieder ohne Verwandtschaftsbeziehung an und die Größe konnte sich je nach wirtschaftlicher Lage ändern; in Westeuropa war es bis ins 19. Jahrhundert auch üblich, Kinder als Dienstpersonal an andere Häuser zu geben (vgl. Herlihy 1985; Freitag 1988). Die für unsere Gegenwart typischen emotionalen Bande im exklusiven Kreis einer »Kernfamilie« entstanden erst aus den Wandlungsprozessen der Moderne, in deren Verlauf der persönlichen Zuwendung, gerade gegenüber Kindern, immer mehr Bedeutung zukam. Jürgen Zinnecker hat diese Einkapselung mit dem Konzept der Verhäuslichung nach Peter Gleichmann aufgegriffen. Dieser hatte in Hinblick auf den Wandel des Schamgefühls hervorgehoben, dass die aus heutiger Sicht intimen »leiblichen Vitalfunktionen« zunehmend in separierten Binnenräumen verborgen wurden, wodurch sich das Verhältnis zum eigenen Körper und die Regulierung der Affekte grundlegend veränderte (Gleichmann 2006, S. 63, 77). Zinnecker sieht in den Wechselwirkungen von architektonischer Abschirmung und Verhaltensregulierung eine allmähliche »Domestizierung«, da sich Kinder historisch verfeinerte Verhaltensstandards aneignen, deren Einübung von einer vergleichsweise dichten pädagogischen Kontrolle begleitet ist (Zinnecker 2001, S. 27 f.). Für das bürgerliche Familienleben der Moderne mit seiner sehr geregelten Ordnung steht sinnbildlich das Zusammensein bei Tisch. Hier verdichtete sich das Zusammenleben bei gemeinsamen Mahlzeiten auf einen Interaktionsraum, in dem Verhaltensweisen besonders fein aufeinander abgestimmt und diszipliniert wurden. Mit Blick auf die Gegenwart kommt dem Tisch im europäischen Familienleben zwar auch weiterhin eine zentrale Funktion für Zusammenkünfte zu,
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doch die Verhaltensreglements sind dynamischer und flexibler geworden; die Anlässe und Orte des Beisammenseins sind auch vielfältiger und weniger strikt vorgegeben. Gerade spontane Kontakte einer eher beiläufigen Interaktion werden als Möglichkeitsräume für eine vertraute Zugewandtheit wahrgenommen. Ein Gefühl von Verbundenheit hängt aus Sicht vieler Kinder auch gar nicht unbedingt an der Regelmäßigkeit gemeinsamer Mahlzeiten, wie eine britische Studie zu 10 bis 12-jährigen Kindern darlegt, sondern kann schon aus der Gewissheit entstehen, dass andere Familienmitglieder gleichfalls »da« sind. Feste Reglements wie gemeinsame Mahlzeiten werden von den Kindern vor allem als eine gewohnte Ordnungsstruktur erlebt. Das wiederkehrende Aushandeln zur räumlichen und zeitlichen Strukturierung des Zusammenlebens prägt einen Sinn für die familienspezifische Differenzierung von Gemeinsamem und Eigenem (vgl. Christensen, James und Jenks 2000, S. 146 f.). Diese Ordnung endet nicht vor der Haustür, sondern setzt sich außerhalb des Wohnbereichs auf gemeinsamen Wegen (besonders auch im Auto als Erweiterung des Häuslichen) und an anderen gemeinsamen Aufenthaltsorten fort – allerdings in einer offeneren Dynamik, da der gewohnte räumliche Rahmen als Stabilisator der Verhaltensweisen entfällt. In den Wohnbereichen der europäischen Gegenwart sind die Raumverhältnisse nach verschiedenen Graden der Privatheit komplex geordnet, denn das moderne Konzept des Privaten ist nicht nur auf die Abschirmung des Familienlebens nach außen bezogen, sondern auch auf ein individuelles Rückzugsbedürfnis vor den anderen im Wohnbereich, auf räumliche Grenzziehungen für das Verhältnis zu sich selbst (vgl. Rössler 2001, S. 258 ff.). Dabei schaffen die verschiedenen medientechnologischen Kanäle (insbesondere die relativ neuen digitalen Kommunikationstechnologien) ihre je eigenen dynamischen Öffnungen. Doch auch der architektonisch vorgegliederte Raum ist nicht völlig statisch, sondern wird durch kulturelle Konventionen und temporäre Inanspruchnahmen in der konkreten Praxis geordnet. Ein Zimmer oder ein unscharf umgrenzter Raumbereich, wie das Areal um einen Tisch oder eine Spielecke, können zum Beispiel für wechselnde Phasen individuell beansprucht werden. Besonders markant und erst im Verlauf der Moderne etabliert: die Toilette als fester Funktionsbereich innerhalb des Wohnraums kann einerseits für alle (einschließlich Gäste) offenstehen, andererseits sehr strikt exklusiv »besetzt« sein. Kleinere, materiell abgegrenzte Raumeinheiten wie Schränke, Schubladen und andere Behälter sind wiederum auch in den öffentlicheren Bereichen des Wohnraums relativ dauerhaft »privat« – was sie für kindliche Erkundungen besonders interessant macht. Der Wohnbereich ist in typische, mehr oder weniger personalisierte Raumzonen aufgeteilt, in persönliche Zimmer und andere, unterschiedlich dauerhafte
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persönliche Bereiche, die nicht immer für jeden erkennbar abgegrenzt sind (zum Beispiel in miteinander geteilten Zimmern). Die Raumzonen wandeln sich im Verlauf des Wohnens, zum Beispiel indem Abschnitte »altersangemessen« neu arrangiert und individuell wachsende Raumansprüche zuerkannt werden. Auch ausgewiesene Orte des Gemeinsamen wie der Essbereich sind nicht für alle in gleicher Weise beanspruchbar, sondern durch Regelungen bestimmt, die ausgehandelt bzw. mehr oder weniger wirksam durchgesetzt werden (so müssen Spielsachen eventuell weggeräumt oder dürfen gar nicht erst ausgebreitet werden; das Wohnzimmer gilt spät abends als »kinderfreie« Zone etc.). Das trifft auch auf die persönlich zugeordneten Bereiche wie Spielecken oder Kinderzimmer zu – letztere sind erst seit dem 20. Jahrhundert überhaupt schichtübergreifend verbreitet –, die ebenfalls Reglementierungen durch Erwachsene unterworfen sind (aufräumen; Lautstärke reduzieren; Licht ausmachen; nicht die Wände, Möbel oder den Teppich bemalen etc.), und im Unterschied zum elterlichen Schlafzimmer gelten andere Zutritts- und Eingriffsrechte in die persönliche Sphäre. Zwar wird über das Kinderzimmer auch von Erwachsenen bestimmt, doch die materielle Abgrenzung durch Wände und Türen räumt nichtsdestotrotz eine abgeschirmte Handlungssphäre des Eigenen ein. Grundsätzlich durch typische Funktionsbereiche untergliedert (Schlafplatz, Spielflächen, Aufbewahrungsplätze für Kleidung und Spielzeug, Sitzbereiche etc.) und von Erwachsenen zumeist ästhetisch mitgestaltet (Einteilung der Funktionsbereiche, Auswahl von Möbeln, eventuell von Wandfarben und Teppich), schaffen sich Kinder ihre eigene räumliche Umgebung mit ihren eigenen Dingen (vgl. Buchner-Fuhs 2014). Zum Privatbereich werden solche Räume nicht erst durch die Kontrolle darüber, wer sie wann betreten darf, so Beate Rössler (2001, S. 257), »sondern auch dadurch, dass ich sie für mich selbst inszenieren kann, dass die Gegenstände in diesen Räumen eine bestimmte Anordnung haben und dass es bestimmte Gegenstände sind, die sich hier finden, dass also durch die Inszenierung des Interieurs eine Bedeutung ganz für mich, eine private Bedeutung konstituiert wird«. Die Platzierung von Dingen bildet eine eigensinnige Ordnung, die an verschiedenen Stellen unterschiedlich intensiv in Bewegung ist und mehr oder weniger »heiße« oder »kalte« Aktivitätszonen herausbildet. Dabei zeichnen sich in die Materialität der Umgebung Spuren der alltäglichen Aktivitäten ein. Kinder haben auch ein implizites Wissen über graduelle Abstufungen von Öffentlichkeit und Privatheit innerhalb ihres eigenen Bereichs, sodass sie sich zum Beispiel Verstecke schaffen. Dieses Wissen zur Raumaneignung beziehungsweise Raumproduktion ist nicht auf das Kinderzimmer oder den Wohnbereich beschränkt, es dehnt sich auf die weitere häusliche Umgebung aus: Trep-
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penhäuser, Dachböden etc. In dieser räumlich nur unscharf eingegrenzten Umgebung changieren die individuellen Bewegungsweisen zwischen routinierter Orientierungssicherheit, Gestaltungspraktiken und explorativen Erkundungen. Eine Vertrautheit der räumlichen Umgebung ist nicht bereits durch Anwesenheit gegeben, sondern setzt ein »Sich-Einleben« voraus, das sich im Alltag en passant vollzieht. Deshalb kann nach langer Abwesenheit, wie etwa nach einer Reise, für den ersten Augenblick ein Schleier des Entrückt-Seins über der eigentlich vertrauten Szenerie liegen. Im alltäglichen Durchlaufen von Wegen und Routinen, im physischen Kontakt und Gebrauch der Materialitäten, wird sich dieser Umgebung im Alltag beiläufig vergewissert – ein subtiler, unmerklicher Prozess des ständigen Vertraut-Machens. Lenelis Kruse hat aus leibphänomenologischer Perspektive von einem mentalen »Lageschema« geschrieben, das auf der Grundlage von Wahrnehmungs- und Bewegungsroutinen allmählich in Fleisch und Blut übergehe, wodurch »im Wohnen das Bewohnte zum Gewohnten« werde (Kruse 1974, S. 52). Den Bereich des »Gewohnten« fasst sie allerdings »als das Gesamt der Plätze und Wege, denen sich der Mensch besonders zugehörig fühlt, die ihm bekannt und vertraut sind«, da die sprachgeschichtliche Herkunft des Wortes »wohnen« nicht auf einen häuslichen Bereich reduziert sei (ebd., S. 40 f.). Im alltäglichen Sprachgebrauch zeigt sich dieser weitläufigere Sinn im Wort »zuhause«: als Verweis auf ein vertrautes, ein als »heimisch« empfundenes Terrain. Gerade aus der Ferne ist das nicht unbedingt ein Wohnbereich, sondern kann auch ein Stadtviertel, eine Region, ein Land sein. Im Wohnen bildet sich nicht nur ein Gefühl für den Raum, sondern auch eine Beziehung zum Raum, eine persönliche Verbundenheit. So kommt es, dass die dreijährige Anna mehrere Wochen nach einem Wohnungsumzug nochmals nachfragt, wann sie denn alle zusammen wieder in die bisherige Wohnung zurückkehren. Das Gefühl zuhause zu sein stellt sich in der Ablösung vom bisher bewohnten Raum nur allmählich ein und ist trotz des Vertraut-Werdens mit der Umgebung nicht voraussetzungslos, weil es das Verhältnis zu sich selbst berührt. Wohnungsumzüge in der Kindheit werden deshalb häufig als Einschnitt erlebt beziehungsweise so erinnert. Eine neue, ungewohnte Wohnumgebung irritiert nicht nur die »eingeschliffenen« Wahrnehmungs- und Bewegungsroutinen und erfordert ein körperliches, auch emotionales »Sich-Einlassen« auf neue Raumverhältnisse. Auch die weitere (sozial-)räumliche Umgebung ist dann unter Umständen ganz anders beschaffen. Bei transnationaler Migration, auch bei überregionalen Wohnungsumzügen, können daher Verhaltensweisen und Umgangsformen, Sprachgebrauch, Verwaltungs- und Verkehrsabläufe der Umgebung entsprechend als befremdend erlebt werden, sodass eine Sphärendifferenz zwischen häuslicher Familien- und Außenwelt mehr als zuvor hervortritt. An einem Ort
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zuhause zu sein, sich zuhause zu fühlen, gründet sich daher auf Möglichkeitsbedingungen, die nicht nur das häusliche Binnenleben betreffen, sondern auf vielschichtige Weise auch das Verhältnis zum gesellschaftlichen Raum. Sebastian Schinkel Literatur BBSR (Hrsg. 2009), Informationen zur Raumentwicklung, Heft 1/2: Multilokales Wohnen, Bonn: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung. Buchner-Fuhs, Jutta (2014), Das Kinderzimmer und die Dinge. Von Normalitätsentwürfen und heterotopen Orten in der Kinderkultur, in: Kinder und Dinge. Dingwelten zwischen Kinderzimmer und FabLabs, hg. v. Christina Schachtner, Bielefeld: transcript, S. 149-173. Christensen, Pia H., Allison James und Christ Jenks (2000), Home and Movement: Children Constructing »Family Time«, in: Children’s Geographies: Playing, Living, Learning, hg. v. Sarah L. Holloway und Gill Valentine, New York: Routledge, S. 139-155. Freitag, Winfried (1988), Haushalt und Familie in traditionalen Gesellschaften. Konzepte, Probleme und Perspektiven der Forschung, Geschichte und Gesellschaft 14(1), S. 5-37. Gleichmann, Peter R. (2006), Soziologie als Synthese. Zivilisationstheoretische Schriften über Architektur, Wissen und Gewalt, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Herlihy, David (1985), Medieval Households, Cambridge und London: Harvard University Press. Kruse, Lenelis (1974), Räumliche Umwelt. Die Phänomenologie des räumlichen Verhaltens als Beitrag zu einer psychologischen Umwelttheorie, Berlin und New York: de Gruyter. Rössler, Beate (2001), Der Wert des Privaten, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Zinnecker, Jürgen (2001), Stadtkids. Kinderleben zwischen Straße und Schule, Weinheim und München: Juventa.
Zur-Welt-Kommen
Wo sind Kinder eigentlich, bevor sie zur Welt kommen? Die naheliegende Antwort auf diese nur scheinbar naive Frage lautet: im Bauch der Mutter. Folgt man diesem Verständnis, stellt das Zur-Welt-Kommen einen biologischen Vorgang der räumlichen und organischen Veränderung mit präzise angebbarem Ort, Datum und Uhrzeit dar. Eine umfassende Schwangerschafts-Industrie begleitet diesen Prozess, wobei das Ungeborene gleichsam schon Teil der eigentlichen Welt ist, denn es wird mit Mozart beschallt, mit dem Namen angesprochen, mit Licht gelockt und vieles dergleichen. Das Hervorkommen ist dann selbst ein gleichwohl dramatisches, sachlich jedoch nur graduell neuartiges In-die-WeltKommen. Dieser Akt, so emotional und normativ aufgeladen er für die Eltern auch sein mag, ist ein kleiner Schritt. Das Kind muss sich seine Welt durch ein zweites Zur-Welt-Kommen erst noch erobern. »Dies […] In-Erscheinung-treten eines grundsätzlich einzigartigen Wesens beruht, im Unterschied von dem Erscheinen des Menschen in der Welt durch Geburt, auf einer Initiative […].« (Arendt 1981, S. 165) Der neugeborene Mensch ist nicht schon, wie im ersten Verständnis, Teil einer gemeinsamen, geteilten Welt, sondern wird als außerhalb dieser stehend gedacht. Das Kind scheint weltlos zu sein, nur passiv, in sich selbst verharrend, abgekapselt. Es bedarf mutigen Engagements, die Welt sich zu eigen zu machen. Ein Kind kommt in diesem Sinne mehrfach zur Welt und war vorher jeweils woanders. Die Weisen des Hervortretens unterscheiden sich signifikant und werden gesellschaftlich abweichend normiert. Beim Zur-Welt-Kommen als Geburt im medizinischen Sinne wird das Kind als Spielball heterogener Interessen in den Blick genommen. Es treffen sich die mütterlichen, väterlichen, ärztlichen, gesellschaftlichen und zahlreiche weitere Perspektiven (vgl. zur Geburt und der Rolle verschiedener Perspektiven zum Beispiel Gahlings 2006, S. 498 ff.). Alle haben dabei durchaus den Anspruch, auch die dem Kind unterstellten Ansprüche realisieren zu wollen. Gleichwohl ist dieses erste Zur-Welt-Kommen ein notwendigerweise zutiefst heteronomes Geschehen. Das Kind ist nicht autarker Ak-
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teur, es wird vielmehr – oft nicht nur metaphorisch – auf die Welt »geholt« oder »gebracht«. Noch sein erster Schrei erfolgt gegebenenfalls durch nötigende Fremdstimulation. Auffällig ist die hohe Professionalisierung und Abgesondertheit dieses Welteintritts in der westlichen Kultur. Es gibt zahlreiche Spezialisten, die den Prozess schon Monate vorab begleiten und anleiten, zudem gibt es fest ritualisierte Prozeduren und gesonderte Orte. Die Absonderung geht dabei jedoch explizit nicht mit einem Alleinlassen von Kind und Gebärender einher, weshalb »man […] erstaunt ist, wenn man in den Medien zuweilen von Fällen hört, wo eine Mutter ihr Kind allein in einer Toilette geboren hat, ohne dass ihr oder dem Kind Schaden entstanden ist« (Gahlings 2006, S. 499). Das Kind kommt geführt und begleitet zur Welt – im für die westliche Kultur regelhaften Fall. Wann genau dabei der Welteintritt erfolgt, wird zwar einerseits mit großer Akribie von Eltern wie ärztlichem Personal protokolliert, erweist sich jedoch bei genauerer Betrachtung als ethisch umstritten. Womöglich ist das erste Zur-WeltKommen schon längst im Mutterbauch – oder unter Umständen im Reagenzglas im Kontext einer medizinischen Prozedur – erfolgt? (Vgl. zur Frage des Beginns von Leben im ethisch relevanten Sinne Hoerster 2013.) Jedenfalls aber kommt das Kind hier in die Welt als der Sphäre des alltäglichen Aufenthalts. Es kommt in einen Raum, in dem ihm Familie und Gesellschaft direkt begegnen können. Durch sein Eintreten erfährt es zugleich eine grundlegende Identifikationsstiftung – über Ausweispapiere und andere Formulare werden Ort und Datum des Zur-Welt-Kommens lebenslang erinnert und von anderen abgefragt. Das zweite Zur-Welt-Kommen ist weit weniger ein punktuell dramatisches Geschehen, in seinen Folgen aber schwerwiegender. Es erfolgt sukzessive durch Sozialisation. Das Kind kommt zur Welt dabei als einer bestimmt gearteten, normativ geprägten Situation, nicht einer bloßen Aufenthaltssphäre. Hintergrund dieses Welteintritts ist das anthropologische Weltoffenheits-Theorem: »Der Mensch ist weltoffen heißt: er entbehrt der tierischen Einpassung in ein Ausschnitt-Milieu. […] Der Mensch ist also, um existenzfähig zu sein, auf Umschaffung und Bewältigung der Natur hin gebaut, und deswegen auch auf die Möglichkeit der Erfahrung der Welt hin […]. Der Inbegriff der von ihm ins Lebensdienliche umgearbeiteten Natur heißt Kultur, und die Kulturwelt ist die menschliche Welt.« (Gehlen 1958, S. 37 ff.) Menschen brauchen ihrer eigenartigen Struktur gemäß eine durch Engagement, durch Initiative, durch Arbeit gestaltete, gegliederte Welt. Deren Hervorbringung ist für die Kinder immer schon geschehen, sie werden daher in eine solche schon bestehende Kulturwelt hinein sozialisiert (vgl. zur Sozialisation Berger und Luckmann 2010, S. 140-157). Dieser Prozess hat zwei Dimensionen, einerseits kommt das Kind in die kulturell geformte Welt, andererseits eignet es
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sich diese Welt auf besondere Weise, spezifisch, idiosynkratisch an. Es besteht individueller Gestaltungsspielraum des Kindes durch Auslassungen, Schwerpunktsetzungen und ähnliches, den es implizit und – mit zunehmendem Alter – auch explizit ergreift. Speziell die zweite Form setzt Eigeninitiative voraus. Gleichwohl wird in der aktuellen Erziehungswirklichkeit gerade die Dimension des selbsttätigen Weltaneignens vor dem Hintergrund des virulenten (Ab-) Sicherungsbedürfnisses und des »helicopter-parenting« zunehmend übersehen. Das zeigt sich schon daran, dass der Raum, in dem die Aneignung geschieht, nicht mehr die Welt im Ganzen ist, sondern gleichsam eine Ansammlung von Reservaten. Es gibt Teilwelten für Kinder, die geprägt sind von zumeist kinderferneren Interessen – seien es elterliche Fürsorgeansprüche, gesellschaftliche Normierungen, religiöse Differenzierungsbestrebungen usw. So gibt es »Tobeland«, »Spielewelt«, »Småland« und vieles mehr – immer sind es Reservate eines angeleiteten, heteronom strukturierten, nur sehr mittelbaren Weltkontaktes. Schon der Spielplatz als Ort kindlichen Weltaneignens zeigt diese Struktur, insofern er pädagogische, ökonomische, rechtliche usw. Perspektiven architektonisch realisiert und als Reservat sich von der restlichen, vermeintlich kinderinadäquaten Welt abscheidet. Kinder sind weltbeschränkte Wesen, weil ihnen einerseits durch Dritte die Welt nur häppchenweise zugemutet wird, zum anderen aber auch deshalb, weil sie sich selbst die Welt erst erobern müssen. Sie lernen sie zunächst motorisch und sinnlich, später kognitiv, grundlegend aber immer leiblich kennen (vgl. dazu grundlegend Piaget 2005 und, im Hinblick auf die oft übersehene leibliche Dimension des Welteintritts, Wolf 2016). Als weltoffene und damit in gewissem Sinne zunächst weltlose Wesen besteht für sie die Notwendigkeit, sich die Kulturwelt spezifisch zu eigen zu machen. Die Welt als die Sphäre dessen, worin man lebt, erfährt so eine individuelle, einmalige Nuancierung und Ausgestaltung. Dinge, die dem einen Kind wichtig sind, sind einem anderen gleichgültig, ein drittes hat ihr Vorkommen womöglich nie bemerkt. Kinder entwickeln im Laufe ihres Aufwachsens Distanz zu dem, was ihnen begegnet, während ihnen bis dahin alles zunächst als bedeutsam erschien. In diesem Sinne geht das »Ichbewußtsein […] aus der Dissoziation der Wirklichkeit, so wie sie das ursprüngliche Bewußtsein auffaßt, und nicht aus der Assoziation bestimmter Inhalte hervor« (Piaget 2005, S. 120). Indem sich das Kind zu Begegnendem aus der kulturell geprägten Welt verhält, kommt es in spezifischer und vielleicht dritter Weise noch einmal zur Welt, und zwar zu seiner eigenen. Diese ist eine ganz eigenartige, unverwechselbare Struktur: »Alles, was durch Abfallen der Subjektivität für einen Bewussthaber an Bedeutungen neutral und an Sachen fremd geworden ist, bildet seine persönliche Fremdwelt; ihr gegenüber steht seine persönliche Ei-
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genwelt, bestehend aus allen Sachen, für die der […] Sachverhalt, dass sie existieren, für den Bewussthaber subjektiv ist. Persönliche Eigenwelt und persönliche Fremdwelt machen zusammen die persönliche Welt einer Person aus.« (Schmitz 2010, S. 100, im Original abweichende Hervorhebungen) Was Kinder für subjektiv, für bedeutsam, für sie angehend halten, aber auch, was sie für gleichgültig, irrelevant, egal halten, macht zusammen ihre Welt aus, zu der sie durch Auseinandersetzung mit der Kulturwelt kommen. Das Zur-Welt-Kommen geschieht für Kinder also auf dreifachem Wege, zum einen als Geburt, zum anderen als Sozialisation, zum dritten schließlich als Aneignung, wobei die letzteren beiden Weisen nur dialektisch verbunden auftreten. Doch die spezifische Weise, in der dies gegenwärtig in westlichen Kulturen geschieht, zeitigt Entwicklungen, über deren Konsequenzen nachzudenken lohnt. Wenn die Geburt immer häufiger in ganz spezifischen, medizinisch geprägten Umgebungen erfolgt, bedingt das im Hinblick auf leibliche Prägungen (vgl. einige Bemerkungen dazu bei Wolf 2016, S. 91-103) – bis hin zu Geburtstraumata – und auf die mit Geburtsort und -zeit einhergehenden Identitätsbahnungen Einseitigkeiten. Es ist noch ganz offen, was es mit Menschen macht, wenn sie gehäuft in Krankenhäusern und durch medizinische Eingriffe – Kaiserschnitt – zur Welt kommen. Die Hausgeburts-Bewegung setzt hier normativ einen Gegenpol. Das Krankenhausumfeld befriedigt ein kulturelles Bedürfnis, welches in der Gegenwart omnipräsent scheint – jenes nach Sicherheit und Kontrolle. Der Umstand, dass ein Zur-Welt-Kommen außerhalb eines streng geordneten, »reinen« Umfeldes möglich ist, wird der Gegenwart immer unvorstellbarer. Sprächen die Kinder, die es betrifft, wie sicher könnte man sein, dass es auch ihr Interesse ist? Noch seltsamer mutet das Kontroll- und Sicherheitsbestreben an, wenn man sich verdeutlicht, wie sehr es in den Sozialisations- und Aneignungsprozess eingreift, der das Zur-Welt-Kommen als zweite, als kulturelle Geburt auszeichnet. Pädagogik, Rechtsprechung, Polizei und dergleichen zeigen ein Interesse daran, die Weltaneignung von Kindern nicht unreglementiert und frei vor sich gehen zu lassen, sondern im Interesse von Rationalisierung, Optimierung, Sicherheit und anderem planerisch zu gestalten. Was jedoch wird dann aus dem Zur-WeltKommen? Es wird ein Zur-Welt-Kommen nach Vorstellung anderer. Sicher richtig ist, dass Kinder immer schon in die Welt derjenigen traten, die vor ihnen da waren, es gibt keine kulturelle Tabula rasa, aber durch den planerischen Impuls der Gegenwart gewinnt die heteronome Vorprägung neues Gewicht, da die Intentionen jetzt viel stärker und fokussierter anmuten. Das spontane, freie Element des Zur-Welt-Kommens geht verloren zugunsten einer handhabbar gemachten, einer der Technik zur Verfügung gestellten Weltaneignung.
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Gleichwohl aber verfügen Kinder über eine Gabe, diesen Zugriff zu unterlaufen. Widerstand, Aufbegehren, Nicht-Hören-Wollen – auch das prägt die Weltaneignung und damit das spezifische Zur-Welt-Kommen. Indem Praktiken und Ortsbesuche vollzogen werden, die in der gesteuerten Planung nicht vorkommen – S-Bahn-Surfen, Abbruchhäuser, Parkanlagen bei Nacht usw. –, kommt die Initiative der Kinder ungefiltert zum Ausdruck. Der Vorteil dieses Vorgehens für ihre Entwicklung liegt darin, dass sie selbst die Grenzen ihrer Initiative und damit die Grenzen der Welt, die die ihre sein soll, festlegen können und müssen. In den Reservaten ist der Grenzübertritt aus der Welt, die von anderen als die relevante definiert wurde, unter Strafe verboten. Beim Spiel der freien Initiative der Welteroberung lernt das Kind, die Welt zu seiner zu machen – und damit auch, sich selbst die Grenze zu setzen. Das geht freilich nur, weil die Gefährlichkeit des Zur-Welt-Kommens ungehindert aufleuchtet. Zur-Welt-Kommen ist immer riskant, denn der Mensch ist von sich her das konstitutionell riskierte Wesen. Wenn man das Zur-Welt-Kommen wie angedeutet versteht, ließe sich abschließend fragen, was die Norm für ein gelingendes Welteintreten sein könnte. Wann ist ein Kind »gut« zur Welt gekommen? Jede der drei unterschiedenen Formen erfordert eine andere Antwort – und es zeigt sich, dass die Norm zumeist geprägt ist durch sozial bedingte Werte. Ob eine Geburt »erfolgreich« war, wird in der Regel am gültigen Maßstab für Gesundheit bemessen. Ob ein Kind »erfolgreich« sozialisiert wurde, zeigt sich zumeist daran, inwiefern es die Werte der Gesellschaft internalisiert hat und befolgt. Ob ein Kind sich die Welt »erfolgreich« angeeignet hat – das wiederum zeigt sich weniger leicht. Hier kommen Fragen der Ethik im Sinne einer Lebenskunstlehre in den Blick, wie sie in der antiken Philosophie aufgeworfen wurden. Passt die angeeignete Welt zu den Lebensentwürfen, zu den Talenten, zum Charakter usw.? Sind dem Kind seine Möglichkeiten klar oder ist sein Blick beengt? In diesem Sinne erweist sich letztlich – aus je verschiedener Perspektive – das Zur-Welt-Kommen als ein Prozess, in dem das Kind erst spät als es selbst zu sich und zur Welt kommt (vgl. Gehlen 1958, S. 33, 36). Steffen Kluck
408 | Räume der Kindheit
Literatur Arendt, Hannah (1981), Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper. Berger, Peter L. und Thomas Luckmann (2010), Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main: S. Fischer. Gahlings, Ute (2006), Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrung, Freiburg im Breisgau und München: Karl Alber. Gehlen, Arnold (1958), Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Bonn: Athenäum-Verlag. Hoerster, Norbert (2013), Wie schutzwürdig ist der Embryo? Zu Abtreibung, PID und Embryonenforschung, Weilerswist: Velbrück. Piaget, Jean (2005), Das Weltbild des Kindes, München: dtv. Schmitz, Hermann (2010), Bewusstsein, Freiburg im Breisgau und München: Karl Alber. Wolf, Barbara (2016), Kinder lernen leiblich. Praxisbuch über das Phänomen der Weltaneignung, Freiburg im Breisgau und München: Karl Alber.
Autorinnen und Autoren
Albrecht, Thorsten | Dr. phil. | Kunstreferent der ev.-luth. Landeskirche Hannovers und Honorar-Professor an der HAWK Hildesheim | Arbeitsschwerpunkte: Kirchenausstattung, Möbelforschung, Raumausstattung, Kulturgeschichte ev. Glauben. Alkemeyer, Thomas | Dr. phil. habil. | Universitätsprofessor für Soziologie und Sportsoziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg | Arbeitsschwerpunkte: Soziologie des Körpers und des Sports, soziologische Praxistheorien, Subjektivierungsforschung und Genealogie der Gegenwart. Barboza, Amalia | Dr. phil. | Junior-Professorin für Theorien und Methoden der Kulturwissenschaften an der Universität des Saarlandes | Arbeitsschwerpunkte: Kultur- und Wissenssoziologie, Gestaltungstheorie, künstlerische Forschung. Bauer, Itta | Dr. rer. nat. | Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geographie an der Universität Zürich | Arbeitsschwerpunkte: Kinder- und Jugendgeographien, Geographiedidaktik, geographies of education, ANT und empirische Unterrichtsforschung. Bauer, Katrin | Dr. phil. | Wissenschaftliche Referentin im LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte | Arbeitsschwerpunkte: Erinnerungskulturen, Jugendszenen, Ritualforschung und kulturelles Erbe. Behnken, Imbke | PD Dr. | ehemals Leiterin des Archivs Kindheit und Jugend, Universität Siegen; zuletzt: Seniorprofessur an der Goethe-Universität Frankfurt, Schwerpunkte: Theorien und Forschung zum Wandel von Kindheit, Biografieforschung. Bollig, Sabine | Dr. phil. | Vertretungsprofessorin im Fach Erziehungs- und Bildungswissenschaften an der Universität Trier | Schwerpunkte: Kindheitsforschung, Sozialpädagogische Institutionenforschung, Methoden qualitativer Sozialforschung, Praxistheorien.
410 | Räume der Kindheit
Brinkmann, Dieter | Dr. phil. | Lektor an der Hochschule Bremen | Arbeitsschwerpunkte: Informelle Bildung, erlebnisorientierte Lernorte, Freizeitsoziologie und wissenschaftliches Arbeiten. Bühler-Niederberger, Doris | Dr. phil. | Universitätsprofessorin für Soziologie an der Universität Wuppertal | Arbeitsschwerpunkte: Soziologie der Kindheit und der generationalen Verhältnisse, ungleiche Kindheiten, Institutionen und Professionen der Kindheit, Generationenverhältnisse und Globalisierung. Burmeister, Christoph T. | M.A. | Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder | Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Theorie, insb. Subjektivierung, Sozial- und Selbsttechnologien, Emotionen und Affekte; Soziologie und Geschichte der Kindheit. Busch-Geertsema, Annika | Dr. phil. | Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Humangeographie an der Goethe-Universität Frankfurt | Arbeitsschwerpunkte: Mobilitäts- und Verkehrsforschung, Einstellungen und Verhalten in Längsschnittperspektive, digitale Transformation und Mobilität. Cappellini, Benedetta | PhD | Senior Lecturer in Marketing and Consumer Behaviour at Royal Holloway, University of London | research interests: food consumption, material culture, family consumption and motherhood and consumption. Chales de Beaulieu, Susan | Filmemacherin, Autorin, Dozentin | Arbeitsschwerpunkte: Das Leben des Denkens und der Sprache, Räume und Klänge, Landschaften in Bewegung. Dafft, Gabriele | M.A. | Volkskundlerin und Wissenschaftliche Referentin im LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte in Bonn | Arbeitsschwerpunkte: Beheimatungsstrategien, interkultureller Alltag, urbane Alltagskulturen und Genderforschung. Daum, Egbert | Dr. rer. nat. | Universitätsprofessor i.R. für Sachunterricht an der Universität Osnabrück | Arbeitsschwerpunkte: Raumaneignung, Heimat, Subjektive Kartographien und Raumrelevanz des eigenen Lebens. Dickel, Mirka | Dr. rer. nat. | Universitätsprofessorin für Didaktik der Geographie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena | Arbeitsschwerpunkte: Phänomenologische Hermeneutik, Kulturelle und Visuelle Räumlichkeiten, Wissenschaftskritik, Reflexive Grounded Theory.
Autorinnen und Autoren | 411
Dollinger-Rauch, Viola | M.A. | Doktorandin am Institut für Europäische Ethnologie der HU Berlin und Kuratorin am Museum Neukölln | Arbeitsschwerpunkte: Stadtethnografie, Identifikationen und gesellschaftliche Ungleichheit, Museumsforschung. Dörpinghaus, Sabine | Dr. rer. cur. | Professorin für Hebammenkunde | Arbeitsschwerpunkte: Geburtshilfe und ihre phänomenologischen Zugänge, neophänomenologische Fachdidaktik in Pflege und Hebammenkunde, Forschungsleib. Duveneck, Anika | Dr. phil | Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Futur der Freien Universität Berlin | Arbeitsschwerpunkte: Kommunale Bildungslandschaften, Stadtentwicklung, Infrastruktur, Jugend. Feldhusen, Sebastian | Dipl.-Ing. | Doktorand am Fachgebiet Landschaftsarchitektur Entwerfen der Technischen Universität Berlin und Mitinhaber von Feldhusen Landschaftsarchitektur | Arbeitsschwerpunkte: Architekturphänomenologie, Raumtheorie, Entwurfs- und Wissenschaftstheorie. Freericks, Renate | Dr. phil. | Professorin für pädagogische Freizeit- und Tourismuswissenschaft an der Hochschule Bremen | Arbeitsschwerpunkte: Freizeittheorie, Informelle Bildung, Pädagogik des Reisens und Inklusion. Ghafoor-Zadeh, Dana | M.A. | Akademische Mitarbeiterin am Institut für Geographie und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg | Arbeitsschwerpunkte: Geographische Forschung zu Kindheit, Stadt und Digitalisierung. Gryl, Inga | Dr. phil | Universitätsprofessorin für Didaktik des Sachunterrichts an der Universität Duisburg-Essen | Arbeitsschwerpunkte: Spatial Citizenship, digitale Lernumgebungen, Raumaneignung von Kindern, Innovativität. Haller, Melanie | Dr. phil. | Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Textil an der Universität Paderborn | Arbeitsschwerpunkte: Mode-, Körper- und Bewegungssoziologie, Gender Studies, Subjekttheorie, populäre Tanzkulturen (Tango Argentino, Salsa, Swing) und qualitative Methoden. Harman, Vicki | PhD | Senior Lecturer in Sociology at University of Surrey | research interests: family life in contemporary Britain and social divisions including gender, social class and ethnicity. Hartmann, Tina | Dr. phil. habil. | Akademische Rätin für Literaturwissenschaft berufsbezogen an der Universität Bayreuth | Arbeitsschwerpunkte: Librettoforschung (Librettologie), Literatur des 18. Jahrhunderts (Goethe und Wieland), Gender und Diversity, Transkulturelle Literatur.
412 | Räume der Kindheit
Hasse, Jürgen | Dr. rer. nat. habil. | Universitätsprofessor für Geographie und ihre Didaktik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main | Arbeitsschwerpunkte: Phänomenologische Raumforschung, Mensch-Natur-Verhältnisse, Stadtforschung und Sepulkralkultur. Heinzel, Friederike | Dr. phil. habil. | Universitätsprofessorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Grundschulpädagogik an der Universität Kassel | Arbeitsschwerpunkte: Interaktionen im Grundschulunterricht, Verbindung von Kindheits- und Grundschulforschung, Methoden der Kindheitsforschung, Fallarbeit in der Lehrer*innenbildung. Hengst, Heinz | Dr. phil. habil. | Professor für Sozial- und Kulturwissenschaften an der Hochschule Bremen (i.R.) | Arbeitsschwerpunkte: zeitgenössische Kindheit und Generationenverhältnis unter besonderer Berücksichtigung der Medien, des Konsums und des internationalen Vergleichs. Herrmann, Ina | Dr. phil. | Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg | Arbeitsschwerpunkte: (Post-)Adoleszente Identitätsforschung, Körper und Identität, Macht und Raum in pädagogischen Kontexten, Biographieforschung, Bildrekonstruktion. Höhne, Katrin | M.A. | Leitungsteam der Kunstschule »Gärtnerei« Karlsruhe, Lehrbeauftragte für Ästhetische Bildung an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe | Arbeitsschwerpunkt: Ästhetische Bildung in der frühen Kindheit. Hutta, Jan Simon | Dr. phil. (PhD) | Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl Kulturgeographie der Universität Bayreuth | Arbeitsschwerpunkte: Politiken der Bürgerschaft, Geographien der Gewalt, Stadtforschung, Affekte und Emotionen. Janssen, Angela | Dr. phil. | Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Allgemeine Pädagogik an der Eberhard Karls Universität Tübingen | Arbeitsschwerpunkte: Subjektivierungspraktiken, Bildungstheorien, Genderforschung und Wissenschaftstheorie. Kelle, Helga | Dr. phil. | Universitätsprofessorin für Allgemeine Pädagogik an der Universität Bielefeld | Arbeitsschwerpunkte: ethnografische Kindheitsforschung, Praxis- und Kulturanalyse von Entwicklungsdiagnostik und Prävention. Kluck, Steffen | Dr. phil. | Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Rostock | Arbeitsschwerpunkte: Phänomenologie, Philosophische Anthropologie, Antike Philosophie.
Autorinnen und Autoren | 413
Kluge, Markus | M.A. | wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft, Arbeitsbereich Pädagogik der frühen Kindheit an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster | Arbeitsschwerpunkte: ontologische und epistemologische Fragen der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung, Wissenschaftsforschung. Knodt, Reinhard | Dr. phil. | Lehrstuhlvertretungen und Dozenturen an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, HDK Kassel, Universität der Künste Berlin im Bereich Philosophie und Korrepondenzphilosophie | Arbeitsschwerpunkte: Atmosphären, Architektur, Raumphänomene. König, Gudrun M. | Dr. rer. soz. habil. | Universitätsprofessorin für Kulturanthropologie des Textilen an der Technischen Universität Dortmund | Arbeitsschwerpunkte: Analyse materieller Kultur, Historische Anthropologie, Museologie, Mode- und Konsumgeschichte. Köpfer, Andreas | Dr. phil. | Junior-Professor für Inklusive Bildung und Lernen an der Pädagogischen Hochschule Freiburg | Arbeitsschwerpunkte: Inklusive Bildung/Inclusive Education, Be-Hinderungen des Lernens, Rekonstruktive Inklusionsforschung. Lambrix, Philip | M.A. | Promotionsstipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes, Johannes Gutenberg-Universität Mainz | Arbeitsschwerpunkte: Alter(n), Kindheit, Körper, Ethnografie. Lippok, Marlene | M.A. | Promotionsstipendiatin des Cusanuswerks, Lehrstuhl Europäische Ethnologie/Volksunde an der Universität Augsburg | Arbeitsschwerpunkte: Friedhofs-, Bestattungs- und Erinnerungskultur, Ritualtheorien. Lippok, Michael | M.A. | Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Pädagogik mit sozialpädagogischem Forschungsschwerpunkt an der Universität Augsburg | Arbeitsschwerpunkte: Medienpädagogik, Sozialisationsforschung, Subjektivierungs- und Diskursforschung. Müller, Oliver | M.A. | Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung Kulturanthropologie der Universität Bonn | Arbeitsschwerpunkte: Kulturwissenschaftliche Raumforschung, Mensch-Natur-Verhältnisse, Partizipative Stadt- und Regionalentwicklung. Nöthen, Eva | Dr. phil. | Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Geographie und ihre Didaktik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main | Arbeitsschwerpunkte: Visuelle Geographien, Kunstbasierte Forschung, Medienund Umweltbildung.
414 | Räume der Kindheit
Perler, Laura | M.A. | Doktorandin an der Universität St. Gallen | Arbeitsschwerpunkte: Medizinanthropologie, Science Technology Studies, Genetik und transnationale Reproduktion, feministische Theorie und Methodologie. Pütz, Robert | Dr. rer. nat. habil. | Universitätsprofessor für Humangeographie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main | Arbeitsschwerpunkte: Stadtforschung, Migrationsforschung, Geographien von Mensch-Tier-Verhältnissen. Reutlinger, Christian | Dr. phil. habil. | Professor für Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit am Institut für Soziale Arbeit und Räume der Hochschule für Angewandte Wissenschaften St. Gallen | Arbeitsschwerpunkte: Wohnen und Nachbarschaften, Sozialgeographie der Kinder und Jugendlichen, Bildungsräume und pädagogische Orte. Rieger-Ladich | Dr. phil. habil. | Professor für Erziehungswissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen | Arbeitsschwerpunkte: Bildungsphilosophie, Sozialtheorie, Ästhetik, Kritik. Rodriguez Drescher, Celina | Dr. phil. | selbständig im Netzwerk »Transfer« | Arbeitsschwerpunkte: psychodynamische Beratung und Coaching, Kriseneinsätze (Luftfahrt, humanitäre Einsätze). Rose, Lotte | Dr. phil | Professorin an der Frankfurt University of Applied Sciences sowie Leitung des Gender- und Frauenforschungszentrums der Hessischen Hochschulen | Arbeitsschwerpunkte: Gender Studies, Kindheits- und Elternschaftsforschung, Human Animal Studies, Food Studies, Fat Studies. Runkel, Simon | Dr. rer. nat. | Vertretungsprofessor für Humangeographie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg | Arbeitsschwerpunkte: Politische Sozialgeographie, phänomenologische Raumforschung, Gesellschaftstheorie und Geographie, Risiko- und (Un)Sicherheitsforschung. Scherr, Albert | Dr. phil. habil. | Professor für allgemeine Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg | Arbeitsschwerpunkte: Migrationssoziologie, Diskriminierung, Rassismus, Gesellschaftstheorie. Schier, Michaela | Dr. phil. | Geschäftsführerin des Münchner Forum e.V., Lehre und Forschung am Institut für Geographie der Universität Innsbruck | Arbeitsschwerpunkte: Geographische Familien- und Kindheitsforschung, Multilokales Wohnen, Alltagsmobilität, Gender- und Alltagsforschung.
Autorinnen und Autoren | 415
Schilling, Heinz | Dr. phil. habil. | apl. Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main | Arbeitsschwerpunkte: Alltagskulturen und Globalisierung. Schinkel, Sebastian | Dr. phil. | Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen | Arbeitsschwerpunkte: Kindheits- und Familienforschung, Sozialisationsforschung, Kultursoziologie des Alltags. Schlottmann, Antje | Dr. rer. nat. | Professorin für Geographie und ihre Didaktik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main | Arbeitsschwerpunkte: Gesellschaftliche Naturverhältnisse, Visuelle Geographien, Raumbezogene Kommunikation, Regionale Identität. Schreiber, Verena | Dr. phil. | Junior-Professorin für Geographie und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg | Arbeitsschwerpunkte: Geographische Kindheitsforschung, Stadtforschung, Machttheorien und Feministische Pädagogik. Schultheis, Klaudia | Dr. phil. habil. | Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt | Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische Kinderforschung, leibliche Grundlagen des Lernens und Erziehens, Internationalisierung/Professionalisierung der Lehrerbildung, Digitale Medien im Grundschulunterricht. Schurr, Carolin | Dr. rer. nat. | Universitätsprofessorin für Sozial- und Kulturgeographie an der Universität Bern | Arbeitsschwerpunkte: Globale Geographien der Intimität und transnationale Reproduktion, Intersektionalität und critical race studies, feministische Theorie und Methodologie. Sitter, Miriam | Dr. phil. | Soziologin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Stiftung Universität Hildesheim | Arbeitsschwerpunkte: Wissenssoziologische (Trauer-)Forschung, Partizipatives Forschen mit Kindern, Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen. Steets, Silke | Dr. phil. habil. | Soziologin und Heisenberg Stipendiatin am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig | Arbeitsschwerpunkte: Stadt- und Raumsoziologie, wissenssoziologische Architekturforschung, Religion und Qualitative Methoden. Steinkrüger, Jan-Erik | Dr. phil. | Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geographischen Institut der Universität Bonn | Arbeitsschwerpunkte: Historische und Kul-
416 | Räume der Kindheit
turgeographie, Freizeit- und Tourismusgeographie, Human-Animal Studies und Postcolonial Theory. Thiemer, Nicole | Dr. phil. | Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Philosophie der Technischen Universität Kaiserslautern | Arbeitsschwerpunkte: Narrative Philosophie, Technikphilosophie, Wissenschaftstheorie und Ethik. Wolff, Mechthild | Dr. phil. | Hochschulprofessorin für erziehungswissenschaftliche Aspekte Sozialer Arbeit an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Landshut | Arbeitsschwerpunkte: Erziehungswissenschaftliche Grundlagen, Kinder- und Jugendhilfe, Schutzkonzepte und Kinderschutz in Organisationen. Wucherpfennig, Claudia | Dr. phil. | Pädagogische Mitarbeiterin bei Umweltlernen in Frankfurt e.V. und Lehrbeauftragte am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt | Arbeitsschwerpunkte: Feministische Geographien, Raumtheorien, Gesellschaftliche Naturverhältnisse und Kritische Politische Bildung. Zimmer, Renate | Dr. phil. | Professorin für Sportwissenschaft an der Universität Osnabrück. Erziehungswissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Frühe Kindheit. Arbeitsschwerpunkte: Psychomotorik, Sprache und Bewegung, Sinneswahrnehmung. Zinnecker, Jürgen † | Dr. phil. | Professor em.; ehemals Leiter des Siegener Zentrums für Kindheits-, Jugend- und Biografieforschung, Universität Siegen; zuletzt: Leiter der Studiengruppe »Kinder des Weltkrieges« am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen.
Abbildungsnachweise Bildraum: Jürgen Hasse | Buch: Jürgen Hasse | Freizeitpark: Jürgen Hasse | Friedhof: Jürgen Hasse | Fußboden: Jürgen Hasse, Verena Schreiber | Haltestelle: Jürgen Hasse | Höhle: Jürgen Hasse | Keller: Jürgen Hasse | Kinderarztpraxis: Berliner Leben 1906, Ausg. 4, S. 11 | Kinderbett: Jürgen Hasse, Verena Schreiber | Kinderwagen: Berliner Leben 1914, Ausg. 8, S. 196 | Kinderzimmer: Historische Postkarte | Kiosk: Jürgen Hasse | Küche: Susan Chales de Beaulieu | Loch: Jürgen Hasse, Verena Schreiber | Lunchbox: Jürgen Hasse, Verena Schreiber | Matsch: Jürgen Hasse | Pferderücken: Robert Pütz | Schreibtisch: Jürgen Hasse, Verena Schreiber | Schulhof: Google Earth (04.07.2018) | Schultoilette: Verena Schreiber | Spielplatz: Jürgen Hasse | Straße: Jürgen Hasse | Utopie: Jürgen Hasse, Verena Schreiber | Verkehrsübungsplatz: Jürgen Hasse | Wildnis: Jürgen Hasse | Zaun: Jürgen Hasse | Zoo: Jürgen Hasse
Soziologie Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018
Februar 2019, 246 S., kart. 24,99 €(DE), 978-3-8376-4474-6
Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)
Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7
Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf
Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2
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Soziologie Gianna Behrendt, Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Fakten 2018, 166 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4362-6 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4362-0
Heike Delitz
Kollektive Identitäten 2018, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3724-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3724-7
Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 €(DE), ISBN 978-3-8394-4073-5
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