Roads not taken: Oder: Es hätte auch anders kommen können 3406800947, 9783406800948

WAS WÄRE GEWESEN, WENN... WENDEPUNKTE DER DEUTSCHEN GESCHICHTE Es hätte auch anders kommen können: Aus dieser Perspekti

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German Pages 288 [289] Year 2023

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Titel
Inhalt
Vorwort — Raphael Gross
Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können. Ein Gespräch mit Dan Diner über das Konzept der Ausstellung
1989
Glücksfall – Revolution Oder: Die Proteste und Demonstrationen werden gewaltsam niedergeschlagen — Julia Franke
1972
Entspannung – Ostpolitik Oder: Willy Brandt wird als Kanzler abgewählt — Stefan Paul-Jacobs
27. April 1972: Rainer Barzel wird Bundeskanzler — Bernd Rother
1961
Furcht – Mauerbau Oder: Die Berlin-Krise löst die atomare Katastrophe aus — Stefan Paul-Jacobs
Im »Regierungsbunker« – die ersten Tage des Dritten Weltkriegs — Jörg Diester
1952
Lockungen – Stalin-Noten Oder: Der Weg in die Wiedervereinigung — Stefan Paul-Jacobs
Bild-Raum und Bild-Zeit einer sozialistischen Utopie. Walter Womackas »Unser Leben« am Haus des Lehrers, Berlin-Alexanderplatz — Oliver Sukrow
1948/49
Systeme – Kalter Krieg Oder: Die Berlin-Blockade führt zum Krieg — Stefan Paul-Jacobs
1945
Davongekommen – Atombombe Oder: Ludwigshafen statt Hiroshima — Stefan Paul-Jacobs
1944
Attentat – 20. Juli Zu spät! Umsturzversuch und Holocaust — Julia Franke
1936
Vabanque – Rheinland Oder: Frankreich verhindert Hitlers Expansion — Stefan Paul-Jacobs
1933
»Ein Wunder« – 30. Januar Oder: Militärdiktatur statt NS-Diktatur? — Lili Reyels
Die vermeidbare Katastrophe: der 30. Januar 1933 — Heinrich August Winkler
1929
Elend – Wirtschaftskrise Oder: Brüning gelingt der Kurswechsel — Lili Reyels
Die wirtschaftspolitische Debatte in der Zeitschrift »Der deutsche Volkswirt« während der Großen Depression — Roman Köster
1918
Ohne Halt? Weimar Oder: Eine Monarchie gibt der demokratischen Verfassung Bestand — Lili Reyels
»Die Firma ... kann ... erhalten bleiben« – die SPD und die Frage: Monarchie oder Republik? — Walter Mühlhausen
1914
Abgrund – August. Oder: Kann die Sozialdemokratie den Krieg verhindern? — Stefan Paul-Jacobs
Straßenproteste gegen den Krieg im Juli 1914 — Stefan Paul-Jacobs
1866
Reich – Mittellage Oder: Ein »Drittes Deutschland« bewährt sich — Stefan Paul-Jacobs
1848/49
Scheitern – Revolution. Oder: Ein Traum wird wahr — Lili Reyels
Karl Biedermanns Bericht über die Reise der Kaiserdeputation — Monika Wienfort
Anhang
Literatur
Autorinnen und Autoren
Leih- und lizenzgebende Institutionen
Dank
Bildnachweis
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Roads not taken: Oder: Es hätte auch anders kommen können
 3406800947, 9783406800948

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Roads not Taken Oder: Es hätte auch anders kommen können

Deutsche Zäsuren 1989–1848

Herausgegeben von Fritz Backhaus, Dan Diner, Julia Franke, Raphael Gross, Stefan Paul-Jacobs und Lili Reyels

C.H.BECK

Inhalt

64 66

Furcht – Mauerbau Oder: Die Berlin-Krise löst die atomare Katastrophe aus Stefan Paul-Jacobs

73

Im »Regierungsbunker« – die ersten Tage des Dritten Weltkriegs Jörg Diester

84 7

Vorwort Raphael Gross

11

Roads not Taken Oder: Es hätte auch anders kommen können Ein Gespräch mit Dan Diner über das Konzept der Ausstellung

24 26

1989

Lockungen – Stalin-Noten Oder: Der Weg in die Wieder­vereinigung Stefan Paul-Jacobs

93

Bild-Raum und Bild-Zeit einer sozialistischen Utopie. Walter Womackas »Unser Leben« am Haus des Lehrers, Berlin-Alexanderplatz Oliver Sukrow

102 104

Glücksfall – Revolution Oder: Die Proteste und Demon­strationen werden gewaltsam niedergeschlagen Julia Franke

1972

46

Entspannung – Ostpolitik Oder: Willy Brandt wird als Kanzler abgewählt Stefan Paul-Jacobs

55

27. April 1972: Rainer Barzel wird Bundeskanzler Bernd Rother

1952

86

116

44

1961

118

132 134

1948/49 Systeme – Kalter Krieg Oder: Die Berlin-Blockade führt zum Krieg Stefan Paul-Jacobs

1945 Davongekommen – Atombombe Oder: Ludwigshafen statt Hiroshima Stefan Paul-Jacobs

1944 Attentat – 20. Juli Zu spät! Umsturz­versuch und Holocaust Julia Franke

152 154

166 168

175

182

1936 Vabanque – Rheinland Oder: Frankreich verhindert Hitlers Expansion Stefan Paul-Jacobs

1933 »Ein Wunder« – 30. Januar Oder: Militärdiktatur statt NS-Diktatur? Lili Reyels Die vermeidbare Katastrophe: der 30. Januar 1933 Heinrich August Winkler

1929

222

1914

224

Abgrund – August Oder: Kann die Sozialdemokratie den Krieg verhindern? Stefan Paul-Jacobs

233

Straßenproteste gegen den Krieg im Juli 1914 Stefan Paul-Jacobs

238 240

254

1866 Reich – Mittellage Oder: Ein »Drittes Deutschland« bewährt sich Stefan Paul-Jacobs

1848/49

184

Elend – Wirtschaftskrise Oder: Brüning gelingt der Kurswechsel Lili Reyels

256

Scheitern – Revolution Oder: Ein Traum wird wahr Lili Reyels

193

Die wirtschafts­politische Debatte in der Zeitschrift »Der deutsche Volkswirt« während der Großen Depression Roman Köster

263

Karl Biedermanns Bericht über die Reise der Kaiserdeputation Monika Wienfort

204 206

215

1918 Ohne Halt? Weimar Oder: Eine Monarchie gibt der demokratischen Verfassung Bestand Lili Reyels »Die Firma ... kann ... erhalten bleiben« – die SPD und die Frage: Monarchie oder Republik? Walter Mühlhausen

275 281 282 283 284 286

Anhang Literatur Autorinnen und Autoren Leih- und lizenzgebende Institutionen Dank Bildnachweis Impressum

Vorwort

Raphael Gross

7

Wir können davon ausgehen, dass der 24. Februar 2022 noch lange als wichtiges Datum erinnert werden wird. Wenn wir nun die Frage stellen, wann hätten – etwa von europäischer oder deutscher Seite aus – Möglichkeiten ergriffen werden können, damit wir uns nicht an den 24. Feb­ ruar 2022 erinnern müssten, dann sind wir unmittelbar im Thema unserer Ausstellung »Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können« und des gleichnamigen Begleitbuchs: Wir fragen uns, wann waren verschiedene Optionen da, wo führten eine Handlung oder das Unterlassen einer Handlung zu einer Zäsur, einer Wegmarke? Angela Merkel hat in einer ihrer letzten Reden über das Jahr 1989 hervorgehoben, dass es auch anders hätte kommen können. Und genau das beschäftigt uns in dieser Ausstellung. Und zwar genau in der Weise, wie die Kanzlerin dies damals meinte: Es lagen zeitgenössisch auch jeweils andere Optionen auf dem Tisch. Tatsächlich waren viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen eher erstaunt, dass im Oktober 1989 das Niederschlagen der Opposition ausblieb – schließlich hatte es in China ein noch junges historisches Vorbild für diese Reaktion gegeben, das zudem von der Führung der DDR offiziell gebilligt worden war. Ein Objekt aus unserer Sammlung zeugt von dieser Ver­mutung eines gewaltsamen Endes: ein Schild der Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 – auf dem steht: »Achtung! Krenz[,] das ist der Himmlische Frieden«. Aber so kam es nicht. Diese Ausstellung und das Begleitbuch, das wir nun vorlegen, regen dazu an, sich 14 vergangene Situationen deutscher Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu vergegenwärtigen und sich zu fragen: Warum ist es so und nicht anders gekommen? Damit wird nun auch das Publikum in einer öffentlichen Ausstellung vor Fragen gestellt, die Historikerinnen und Historiker sich am Schreibtisch im Grunde immer auch stellen, wenn sie auf die Geschichte blicken. Dass es nicht so gekommen ist, aber hätte anders kommen können, ist ein Teil von dem, was für uns als Historiker Geschichte ausmacht. Doch auch in Geschichtsbüchern kommen oftmals die Möglichkeiten zu kurz. Vor allem aber in historischen Ausstellungen sieht man meist nur, wie es letztlich gekommen ist. Hier gehen wir einen anderen Weg. Wir wagen damit ein Experiment: Wir zeigen die Momente, über die man nachdenkt, wenn man

zurück­schaut, und sich wundert: Waren es Entscheidungen, Handlungen, Zufälle, die das Geschehen prägten? Wo war die agency? Damit werden die Möglichkeiten, die in einer besonderen Situation vorhanden waren, hervorgehoben. Während die Ausstellung also einerseits sehr experimentell ist, entspricht sie mit dem Ausstellen dieses Denkens zugleich exakt der Programmatik unseres Hauses: Wir wollen, dass Menschen zu uns kommen, über Geschichte nachdenken und insbesondere lernen, selbst zu urteilen, wie sie ein bestimmtes historisches Geschehen einzuschätzen haben. »Es lagen andere Optionen auf dem Tisch« heißt für uns auch: Es geht nicht um eine kontrafaktische Geschichtserzählung. Uns interessieren die Momente, zu denen uns als historischem Museum Quellen vorliegen. Dies ist besonders eindrücklich dort der Fall, wo es materialisierte Vorstellungen einer nie einge­ tretenen Zukunft gibt: bereits geprägte Münzen zur Erinnerung an Ereignisse, die dann nie stattgefunden haben (etwa eine Krönung), Entwürfe von Schreiben und Ansprachen, die für das Eintreten einer bestimmten Möglichkeit vorbereitet waren (etwa den Abwurf einer Atombombe), aber nie abgesendet wurden, nie gehalten werden mussten. Jede Besucherin und jeder Besucher wird dabei eine andere Ausstellung erleben, und vermutlich werden sie die Möglichkeiten, die wir aufzeigen, infrage stellen. Das gilt hoffentlich auch für die Leserinnen und Leser dieses Begleitbuchs. Diesen Widerspruch wollen wir erzeugen: Es wird auch Diskussionen über womöglich »fehlende« Wendepunkte geben, Gespräche über andere als von uns dokumentierte offene Wege und Ent­wick­ lungen. Wichtig war uns erst einmal, dass wir viele Weg­marken wählen, die auch im öffentlichen Erinnern noch heute eine Rolle spielen. Und solche, die wir für das 20. Jahrhundert und unsere Gegenwart für relevant erachten. Das Subjektive, das Geschichte immer auch prägt, ist dabei natürlich ebenfalls in dieser Auswahl enthalten, die wir wesentlich in der Diskussion mit dem Historiker Dan Diner getroffen haben. Das Subjektive zeigt sich spätestens dort, wo wir uns fragen, wie eine ergriffene oder verpasste Möglichkeit bewertet wird. Und in der Bewertung der Möglichkeiten zeigen sich auch viele Wünsche, wie die Geschichte doch eigentlich hätte anders verlaufen sollen. Uns geht es allerdings gerade nicht um solche Fantasien. Uns geht es um die Geschichte: um das bessere Verständnis von dem, was tatsächlich passiert ist – vor dem Hintergrund der Möglichkeiten, die nicht ergriffen worden sind.

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Dank gebührt an erster Stelle Dan Diner, der das Konzept für die Ausstellung entwickelt und seine Realisierung durch das kura­torische Team intensiv begleitet hat. Diesem gehörten unter der Projektleitung von Fritz Backhaus Julia Franke,

Stefan Paul-Jacobs und Lili Reyels an. Unterstützt wurden sie bei der Umsetzung dieses ungewöhnlichen Konzepts von dem Projekt­assistenten Dijon Menchén. Zeitweise ergänzten das Team der Volontär Maximilian Auth und der Praktikant Tom Tschepe. Danken möchte ich allen Kolleginnen und Kollegen, die »Roads not Taken« mit großer Energie realisiert haben. Besonders danken möchte ich dem Fachbereich Bildung und Vermittlung unter Leitung von Stefan Bresky, mit Cornelius de Fallois, Marvin Keitel, Tillman Müller-Kuckelberg, Daniel Sauer und Andreas Ziepa, die das Projekt von Anfang an engagiert begleiteten, die Inklusionsstationen entwickelten, einen Mediaguide erstellten und ein geschichtsdidaktisches Begleitheft vorbereiteten. Die Registrars Anna Gogonjan und Nina Bätzing waren für den Leihverkehr zuständig. Die Texte dieses Begleitbuchs und bereits die Ausstellungstexte lektorierte Wanda Löwe. Begleitet wurde die Ausstellung von einem Fachbeirat, bestehend aus Moritz Epple, Jan Gerchow, Martin Schulze Wessel und Monika Wienfort. Großer Dank gebührt ebenfalls dem Team der Gamestation Herbst 89 – Auf den Straßen von Leipzig: Niels Hölmer, Ulrike Kuschel und Thabea Lintzmeyer haben unter der Projektleitung von Elisabeth Breitkopf-Bruckschen und Fritz Backhaus eine interaktive Graphic Novel zu den friedlichen Protesten vom 9. Ok­to­ ber 1989 konzipiert und realisiert. Die Gestaltung der Ausstellung hat die chezweitz GmbH, museale und urbane Szenographie, Berlin, übernommen. Detlef Weitz und seinem Team ist es dabei gelungen, die Anforderung zu erfüllen, ein historisches Argument in eine visuelle und räum­liche Darstellung umzusetzen. Für das wissenschaftliche Begleitprogramm zeichnet Nike Thurn verantwortlich. Abschließend gilt unser Dank allen Leihgebern, den Autoren und Autorinnen dieser Publikation, Stefanie Hölscher vom Verlag C.H.Beck sowie Ilka Linz für die engagierte Betreuung dieses Bandes sowie Joana Katte und Torsten Köchlin für seine gelungene Gestaltung. Besonders danken möchte ich auch der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Frau Claudia Roth, für die Unterstützung unseres Hauses sowie der Alfred Landecker Foundation für die finanzielle Förderung des Projekts.

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Roads not Taken Oder: Es hätte auch anders kommen können Ein Gespräch mit Dan Diner über das Konzept der Ausstellung

Fritz Backhaus: Lieber Dan Diner, die Ausstellung »Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können«, beruht auf einem Konzept, dass Sie entwickelt und zusammen mit dem kuratorischen Team des DHM umgesetzt haben. Raphael Gross, Präsident des Deutschen Historischen Museums, hat an Sie die Idee herangetragen, auf das zentrale Thema unseres Museums: die deutsche Geschichte, ins­ besondere die der Moderne, zu schauen und darüber nachzudenken, wie ein neuer, auf das 19. und 20. Jahrhundert gerichtete Blick gestaltet werden könnte. Sie entwickelten dafür eine Konzeption, die vom »Endpunkt« des Jahres 1989 ausgeht und sich rückwärts schreitend bis zum Jahr 1848/49 bewegt, um dabei ausgewählte Zäsuren oder Wendepunkte deutscher Geschichte herauszustellen. Daher eingangs die Frage: Was unterscheidet die hier entwickelte Darstellung von anderen Darstellungen deutscher Geschichte?

Dan Diner: Die Ausstellung stellt wesentlich ein geschichtsphiloso-

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phisches Argument aus. Und dieses geschichtsphilosophische Argument bindet sich an die Frage, ob das, was geworden ist, letztendlich hat auch eintreten müssen. Wirkte sich in der deutschen Geschichte eine Art von unwiderstehlicher Zwangsläufigkeit aus? Eine untergründige, auf die Katastrophe drängende Notwendigkeit, spätestens von der Reichsgründung 1871 bis zum Jahr 1945? Und gibt es umgekehrt eine durchgehend überzeugende Erklärung für die angesichts jener, sich doch eher düster gestaltenden Vergangenheit eine als überaus positiv zu bewertende, zumindest im Westen nach 1945 bzw. nach 1949 günstig verlaufene Geschichte, die mit dem Jahr 1989 sich in eine gesamtdeutsche hinein verlängert?

Was mich darüber hinaus bewegt hat, war die Frage, ob es heute ausreicht, die gewesene Wirklichkeit allein so abzu­bilden, wie sie eingetreten ist. Wäre es nicht aufklärerischer und die Perspektive erweiternd, die deutsche Vergangenheit, oder genauer: deren historische Zäsuren, daraufhin zu befragen, ob die tatsächlich eingetretenen Ereignisse notwendig, die wirklich gewordene Entwicklung gänzlich ohne Alternative war – oder ob sich damals jeweils und in unterschiedlicher Dichte auch andere Möglichkeiten ergeben hätten und inwieweit diese Möglichkeiten den Zeitgenossen, vor allem den verantwortlich Handelnden, bewusst gewesen sind? Dabei gilt es, keine spekulative Geschichte zu betreiben, sondern solche historischen Momente herauszustellen, in denen die Keime einer anderen Entwicklung angelegt gewesen waren. Bei dieser Art des historischen Verstehens und Darstellens sind wir selbstredend der gewesenen Wirklichkeit verpflichtet. Wir halten uns an ihr fest wie an einem Geländer, über das wir uns zwar lehnen, um ganz unten einen Möglichkeitsraum zu erkennen, der in der real gewesenen Zeit keineswegs unwahrscheinlich war, indes nicht wirklich geworden ist. Die wirklich eingetretene Geschichte gibt uns weiterhin Halt und bewahrt uns davor, so etwas wie eine sogenannte kontrafaktische Geschichte zu erzählen. So bewegen wir uns in der eingenommenen historischen Wahrnehmung des Vergangenen auf einem schmalen Grat zwischen Wirklichkeit, Möglichkeit und verschiedene Dichten von Wahrscheinlichkeit und eröffnen, aus ihren Schnittmengen komponiert, einen Geschichtsraum, den wir zum eigentlichen Gegenstand der Ausstellung machen. Sinn dieses Vorhabens ist es, ein Bewusstsein für historisches Urteilen zu schärfen – also Fragen von Verantwortung, dem Abwägen zwischen Alternativen, ja, der konflikthaften Entscheidung für das eine gegen das andere. Damit soll das Vermögen befördert werden zu unterscheiden zwischen richtig und falsch, zwischen moralisch und unmoralisch, zwischen wichtig und weniger wichtig. Diese Befähigung zur Unterscheidung erlaubt uns letztendlich auch zu urteilen. Es geht also um Tugenden der Urteilskraft.

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FB: Schärfung der historischen Urteilskraft ist ein wichtiges Stichwort. Es bildet das Leitmotiv für das Gesamtprogramm des Deutschen Historischen Museums. In diesem Sinne dient auch und gerade diese Ausstellung dazu, in besonderer Weise über Geschichte nachzudenken. Sie haben für dieses Nachdenken 14 Zäsuren, Wendepunkte, ausgewählt. Deshalb die Nachfrage, was zeichnet eine Zäsur aus? Und um die Frage in die Gegenwart zu überführen: Bundeskanzler Scholz hat nach dem Angriff Russlands auf die

Ukraine von einer Zeitenwende gesprochen. Würden Sie, und das ist sicher spekulativ, diese Zeitenwende auch als Zäsur sehen? DD: Durchaus. Und das übertragen wir auf die Vergangenheit:

Wie haben die Menschen in ihrer jeweiligen Zeit eine sich als historisch herausstellende Wende wahrgenommen? Nicht im hindsight, im Nachhinein, so, wie der Historiker oder die Historikerin das Geschehen zu rekonstruieren gehalten sind, um dabei unter Umständen festzustellen, dass sich damals etwas zugetragen hat, was von den Zeitgenossen womöglich kaum bemerkt worden ist, sich indes als von großer Wichtigkeit herausstellen sollte. Der 24. Februar 2022 wird im zeitgenössischen Bewusstsein zweifellos als Wende wahrgenommen, weil an diesem Tag etwas geschehen ist, was die Menschen in ihren lang gepflegten Zukunftserwartungen und Zukunftsplanungen erschüttert und zutiefst verunsichert. Und genau das ist zeitgenössisch unter einer Zäsur zu verstehen: Alle Lebensplanung gerät aus dem Tritt, alle Gewissheit findet sich beschädigt. Und genau auf dieser – bildlich gesprochen – abgründigen Gletscherspalte er­hebt sich die Fragestellung der Ausstellung: Was ist eingetreten, dem der Charakter eines Wendepunkts zukommt? Und mehr noch: Welche Möglichkeiten einer anderen als der eingetretenen Entwicklung nisten an einer solchen Wegscheide? Diese nistenden Möglichkeiten gilt es sichtbar und die dabei in der Wahr­ nehmung aufkommende Spannung zwischen dem tatsächlich Ge­wordenen und dem letztendlich doch nicht Eingetretenen für das historische Bewusstsein fruchtbar zu machen. Diese dramaturgisch, also ausstellungstechnisch inszenierte Spannung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit soll das historische Bewusstsein der Besucher und Besucherinnen herausfordern. Schließlich betritt ein jeder wie eine jede mit gewissen Vorkenntnissen, ja mit histo­rischer Ahnung unterschiedlicher Dichte die Ausstellung. Aber in dieser Ausstellung werden die mitgebrachten historischen Kenntnisse verfremdet. Und sie werden allein schon deshalb verfremdet, als durch die Verkehrung des zu durchlaufenden historischen Rau­mes – also der chronologischen Abfolge der als bekannt erach­teten Ereignisse – diese als über­ raschend erscheinen. Die Anlage der Ausstellung in umgekehrter Zeitfolge, also einer verkehrten Chronologie, soll dazu führen, dass das als bekannt Erwartete auf den ersten Blick den Eindruck von etwas Unbekannten erzeugt, bis es dann als bekannt wiedererkannt wird. Dieser irritierende Effekt trägt dazu bei, das Bekannte aufs Neue zu befragen.

13

FB: Sie haben das Stichwort 1989 genannt. 14 Zäsuren, Wendepunkte, werden in Ihrem Konzept und jetzt auch in der Aus-

stellung dargestellt, organisiert der Fragestellung nach, welche Möglichkeiten sich in den vergangenen Realitäten verbargen. Warum aber gerade diese 14 Wendepunkte, warum beginnt die Ausstellung mit den Ereignissen des Jahres 1989 und warum endet sie mit 1848/49? DD: Dem liegt eine Systematik zugrunde, die als Periodisierung

bezeichnet wird – mithin die Einteilung des Geschichtsverlaufs in Zeitabschnitte, deren Anfang und Ende durch Zäsuren, durch Einschnitte kenntlich gemacht werden, denen der Charakter von Wendepunkten zugeschrieben wird. Gehen wir von 1989 aus, nehmen wir die Vereinigung als Ausgang der Ausstellung in den Blick, dann eröffnet sich deren historischer Kerngehalt: nämlich Freiheit und Demokratie. Und geht man in der Geschichte zurück und sucht eine anfängliche Entsprechung, eine womöglich zurückliegende analoge Zeitzäsur, ein historisches »Gegenüber« sozusagen, dann dürfte sich das Doppeljahr 1848/49 aufgerufen fühlen – das Jahr der gescheiterten demokratischen, der bürgerlichen Revolution in Deutschland bzw. im Bereich des deutschsprachigen Mitteleuropas, aber auch weiter östlich davon. So gesehen treten Anfang- und Endpunkt der Ausstellung – 1989 und 1848/49 – ein in eine Art von Ereignisdialog, in einen Dialog, in dem es um Freiheit und Demokratie in Deutschland geht. FB: Durch die Überlegung der Möglichkeiten eröffnet sich fast automatisch ein neuer Blick auch auf das tatsächlich Geschehene. DD: Unbedingt. Wir stehen immer zwischen mehreren, jedenfalls mindestens zwei projizierten Möglichkeiten. Wir stehen immer vor einer Wahl, sei es als Individuen in Alltagsfragen, aber auch in den höheren Bereichen. In Möglichkeiten zu denken ist nun mal eine anthropologische Konstante der Gattung Mensch. Jeder Mann und jede Frau findet sich im Leben vor Entscheidungen gestellt. Ein jeder Mensch weiß, was Konfliktlagen bedeuten – im Kleinen wie im Großen. Insofern ist das Einfühlen in Fragen historischer Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten verständlich und allgemein zugänglich. Und insofern ist die Fragestellung der Ausstellung universell – eine Frage, die sich anhand der deutschen Geschichte gleichwohl in besonders scharfer Weise stellt. Schließlich gilt die deutsche Geschichte als besonders katastrophisch. Die Frage, ob es so hat kommen müssen, wie es gekommen ist, ist selbstredend keine ausschließlich deutsche Frage, aber doch eine sehr deutsche Frage. 14

FB: Die Aussage »es hätte auch anders kommen können« weist in zweierlei Richtung: entweder dass eine als positiv eingeschätzte Alternative nicht realisiert wurde oder dass im Gegensatz eine negative vermieden werden konnte. Sie haben die gescheiterte Revolution von 1848/49 und die erfolgreiche Revolution, die Friedliche Revolution von 1989 miteinander in Verbindung gesetzt. Liegt der deutschen Geschichte so etwas wie ein verborgenes Telos, eine wie vom Schicksal festgelegte Richtung, zugrunde oder wird eine solche Vorstellung eher infrage gestellt?

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DD: Es ist geradezu Absicht der Ausstellung eine solche teleolo­ gische Vorstellung zu hinterfragen. Es geht – um vielleicht ein hohes Wort für dieses Phänomen zu evozieren – um Kontingenz, das Unerwartete, das plötzlich eintretende, also um das Gegenteil dessen, was unter Telos verstanden wird. Es wird ja gegen die Vorstellung eines notwendigen Eintretens bestimmter Wendungen im Geschichtsverlauf argumentiert. Dabei lässt sich die deutsche Geschichte von der Katastrophe her gesehen in zwei große, voneinander verschiedene Phasen einteilen, womit sich doch wieder so etwas wie eine leicht teleologische Inter­ pretation einschleicht: nämlich die Einteilung in einen eher negativen Teil deutscher Vergangenheit, der mit dem Jahr 1945 endet, und eine positive deutsche Geschichte, die von da an bis in die Gegenwart hinein anhält. Und von der Gegenwart hoffen wir, dass sie auch weiterhin anhält, obwohl eben die Zeitenwende vom 24. Februar 2022 zumindest eine Unterbrechung, vielleicht sogar einen Bruch ankündigt. Wenn in diesem aktuellen Zusammenhang noch eine kurze Ausführung, auch als Hintergrund für die Ausstellung selbst, erlaubt ist: Die Ereignisse des russischen Krieges in und gegen die Ukraine ziehen uns, wie von unsichtbarer Hand gelenkt, zurück in die Muster der ersten Hälfte des 20. – gar in die der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Alle Kategorien, Begriffe und Analogien, die angesichts dieses Krieges aufgeworfen werden, wie Geopolitik, Imperium, Nationalstaat, Grenze, Territorium etc., traten an der Schwelle des 21. Jahrhunderts mit dem Zerfall Jugoslawiens an den Tag, als aufs Neue vom »Balkan« gesprochen wurde, also von einer historischen Landschaft mit allen ins 19. Jahrhundert hinein weisenden Assoziationen – bis hin zu »Sarajewo«, dem Auslöser des Großen Krieges, des später so genannten Ersten Weltkriegs. Der Ukraine-Krieg wiederum ruft die Militärgeografie des Krim-Krieges (1853–56) auf, den Weltkrieg des 19. Jahrhunderts. So erzeugt die Zeitenwende der Gegenwart so etwas wie einen Zeitsog in eine längst für über-

wunden erachtete Vergangenheit – von der fundamentalen, revolutionären Neuerung im 20. Jahrhundert abgesehen: den Nuklearwaffen. Bei all dem geht es nicht um Wiederholung, aber doch um die Rückkehr von Kategorien, Bildern und Deutungszusammenhängen, wie sie in Militärgeografie, Geopolitik und Ethnopolitik wurzeln. Es handelt sich dabei um Wahrnehmungsund Interpretationsmuster von Realität, die weit über die Lebensdauer des Einzelnen hinausgreifen. Das ist zwar ein Nebenaspekt der Ausstellung, wenn auch ein wichtiger: historisches Bewusstsein zu stärken, ein Bewusstsein, das uns erlaubt, unsere aktuelle Lebenswelt besser zu verstehen, um individuell wie kollektiv angemessen zu handeln. Insofern ist die von deutscher Geschich­ te handelnde Ausstellung implizite auch eine hochaktuelle Geschichtsschau über Gegenwart und Zukunft. FB: Sie haben gerade den Begriff der Kontingenz erwähnt, der für diese Ausstellung von zentraler Bedeutung ist: Kontingenz oder Zufall, der Eintritt des Unerwarteten, wenn man es alltagssprachlich ausdrücken will. Historiker und Historikerinnen neigen im Allgemeinen in ihren Darstellungen doch eher dazu, Geschichte so zu erzählen, als ob das, was schließlich ein­ getreten ist, auch habe eintreten müssen. Sie hingegen neigen eher dazu, Kontingenz in den Vordergrund zu rücken. Wie würden Sie die Rolle von Kontingenz für solche Entwicklungen beschreiben, die sich auf die lange Dauer beziehen, auf das Soziale, das Ökonomische und erst recht das Ökologische? Ist Ihnen in der historischen Darstellung von Struktur ein Zuviel an Zwangsläufigkeit angelegt? Wie ist deren Verhältnis zum Ereignis und damit zur Ereignisgeschichte zu verstehen?

16

DD: Menschen suchen allein schon des Dranges nach Voraussehbarkeit und Planbarkeit dem Augenblick, dem plötzlich Eintretenden – jedenfalls im Nachhinein – den Stempel des Notwendigen, gar des Unausweichlichen aufzudrücken. Da ist so etwas wie psychische Gravitation im Spiel. So ist man geneigt, dem Zufälligen, gar Trivialen einen tieferen Sinn abzugewinnen. Und ein solcher gesuchter Sinn kann derart Patina ansetzen, als weise er in eine vorausbestimmte Richtung. So konvertiert Kontingenz in Telos. Der bloße Punkt, genauer: die vielen Punkte, die verschiedene Ereignisse repräsentieren, mutieren in eine Linie. Das hat etwas mit Anthropologie zu tun. Menschen suchen eine das große Ganze umfassende Erklärung, was wiederum Halt und

Orientierung für Zukünftiges gibt. In der deutschen Geschichte oder genauer: in der deutschen Geschichtsschreibung der jüngeren Zeit herrschte die Tendenz vor, eher Struktur als Entscheidung in das Zentrum der Zeitbetrachtung zu rücken – so im Bereich der Gesellschaftsgeschichte. Damit erfährt die Geschichtserzählung aber einen teleologischen Drall, wobei eine Überbetonung der von den handelnden Menschen schwer zu navigierenden Umstände Platz greift. Die Verantwortung des Einzelnen, vor allem der entscheidend an der Herrschaft beteiligten Einzelnen, tritt dabei zurück. Handelnde Personen werden so zu Agenten von Strukturen, die selbst wieder zu historischen Subjekten werden. Mit der Ausstellung soll eine Korrektur versucht werden – eine Korrektur, die den Zufall, die Kontingenz und damit auch die Verantwortung der handelnden Menschen betont, handle es sich dabei nun um Individuen oder auch um Kollektivsubjekte. Wobei wir wieder bei Fragen des Urteilens und der Urteilskraft anlangen. So ist die Ausstellung derart angelegt, dass sie den Moment einer wie auch immer wahrscheinlichen Alternative in den Blick nimmt, sie gleichsam wie unter dem Mikroskop vergrößert, um ihres feinen Gewebes ansichtig zu werden, sie also bewusst zu machen. Indem die Ausstellung auch und gerade das Existenzielle in den Fokus rückt, führt sie das Politische und damit den Konflikt in die Geschichtsbetrachtung zurück und verlebendigt eine Tradition der Geschichtsschreibung, die über Jahrzehnte hinweg doch eher vernachlässigt worden ist. FB: Sie stehen einer Stiftung vor, der Alfred Landecker Foundation, die sich vor dem Hintergrund der Katastrophe des Holocaust für Fragen der Erinnerungsund Geschichtskultur, der Verteidigung und Vertiefung der Demokratie auch und gerade im digitalen Zeitalter sowie der Bekämpfung von Gruppenhass widmet. Für das Museum bietet diese Ausstellung ein wichtiges didaktisches Exempel dafür, wie demokratische Verantwortung, aufgeklärtes Urteilsvermögen und ein Bewusstsein für das Existenzielle für ein breites Publikum präsentiert werden können. Könnten Sie diese allgemeinen Aussagen am Beispiel von ein oder zwei Zäsuren erläutern? DD: Ich möchte zwei Beispiele aus dem Gesamtensemble her­

17

ausgreifen. Das eine Beispiel ist die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch den Reichspräsidenten Hindenburg am 30. Januar 1933. Diese Entscheidung hat die Öffentlichkeit doch eher überrascht. Das hatte der greise Reichspräsident eigentlich

ausgeschlossen. Zudem war die Nazi-Bewegung seit den Novemberwahlen 1932 im Abschwung begriffen. Was damals nur für Fachleute erkennbar war und im Frühjahr dem breiteren Publi­ kum sichtbar wurde, war der Umstand, dass die Talsohle der Wirtschaftskrise offenbar durchschritten war. Angesichts dieser für die NS-Bewegung zunehmenden Widrigkeiten wurde Hitlers Ernennung zum Reichskanzler in der Nazi-Presse als »Wunder« bezeichnet – zwar herbeigesehnt, aber doch unerwartet eingetreten. Die denkbare, gleichwohl nicht eingetretene Alternative war die als Gerücht sich verbreitende Annahme, die Reichswehr würde einschreiten. Damit hätte Deutschland vor folgender Alter­ native gestanden: nationalsozialistischer Führerstaat, wie er sich ja auch durchgesetzt hat – oder eine vorübergehende Militär­ diktatur bzw. ein autoritär verfasster Staat. Nicht Demokratie oder Diktatur hätten damals zur Wahl gestanden, sondern Diktatur und Diktatur. Historisches Urteilen im Nachhinein würde wohl der einen vor der anderen den Vorzug geben. Ein zweites Beispiel: Sollte es so etwas wie ein kollektives Unbewusstes geben, dann ist in dieses die Möglichkeit einer auf Deutschland abzuwerfenden Atombombe eingegangen. Die beiden auf Japan abgeworfenen Atombomben hätten bei einem länger sich hinziehenden Krieg auf dem europäischen Kontinent durchaus auf Deutschland niedergehen können. Da der »Trinity«Test, also der erste US-Atombombenversuch, erst im Juli 1945 erfolgte, der Krieg in Europa aber bereits im Mai durch die deutsche Kapitulation an sein Ende gekommen war, konnten die verheerenden Bomben allein Japan treffen. Dass der Krieg in Europa früher endete, als auf alliierter Seite pessimistischerweise erwartet worden war, dürfte Deutschland vor der Bombe verschont haben. Und dies dürfte nicht zuletzt auch der im Westen, wider alliiertes Erwarten, intakt gebliebenen Brücke von Remagen geschuldet gewesen sein, deren versuchte Sprengung durch die Wehrmacht misslang, sodass die US-Army vom 7. März an bis zu ihrem Einsturz den Rhein unangefochten überqueren und kämpfend ins Ruhrgebiet, ins Herzland des Reiches, einrücken konnten. Hätte sich die Lage auf dem Schlachtfeld anders entwickelt, wäre gar die Ardennen­offensive zeitweise erfolgreich gewesen, hätte der Krieg sich weiter hingezogen, wäre unter Umständen etwa Ludwigshafen zum Zielgebiet eines Atombomben­abwurfs aus­erkoren worden. Dazu ist es nicht gekommen, weil der Krieg »früher« endete – und dies nicht zuletzt auch aufgrund des Drucks, den der Vormarsch der Roten Armee von Osten her ausübte. Was offenbar geblieben ist, ist die in Deutschland stärker als bei anderen Nationen Europas bestehende Atomangst. Diese scheint untergründig das zu reflektieren, was sich als Ahnung oder als Spurenelement dessen im kollektiven Unbewussten niedergeschlagen hat, was nämlich hätte geschehen können, aber nicht geschehen ist. 18

FB: Ich möchte zu einem anderen Bild eine Nachfrage stellen. In unserer Ausstellung eröffnet die Darstellung des Attentats vom 20. Juli 1944 ganz bewusst, im Unterschied zu allen anderen Bildern, keinen Möglichkeitsraum. Dies ist Ausdruck einer konzeptionellen Entscheidung. Diese verbindet das Ereignis des Attentats bzw. seines Scheiterns, dem alle Elemente eines Zufalls eigen sind, mit einem anderen Geschehen, in der Nazi-Sprache: mit der »Endlösung«, für die sich später die Bezeichnung »Holocaust« durchgesetzt hat. Welche Rolle spielt in Ihren Über­ legungen der Holocaust und warum wird für den 20. Juli 1944 in unserer Ausstellung kein Möglichkeitsraum eröffnet?

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DD: Ja, der »20. Juli« ist ein Bild, dem kein Möglichkeitsraum gewährt wird. Und diese Entscheidung ist in der Tat erklärungsbedürftig. Denn kaum ein Ereignis des Zweiten Weltkriegs wird – jedenfalls aus deutscher Sicht – von der Frage begleitet, was wohl geschehen wäre, wäre das Attentat auf Hitler gelungen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die erfolgreich gewordenen Verschwörer des 20. Juli den Krieg unmittelbar darauf beendet hätten – jedenfalls spricht einiges dafür. Für Deutschland, genauer: für die Deutschen wäre dies die beste aller sich damals bietenden Möglichkeiten gewesen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass ein ungewöhnlich hoher Anteil der Wehrmachtsangehörigen, aber auch von Zivilisten in der Zeit zwischen Juli 1944 und Mai 1945 zu Tode kam. Aber hier stößt man an eine Grenze des historisch angeleiteten moralischen Urteilens: Wie soll angesichts des Holocaust der 20. Juli bewertet werden? Denn zum Zeitpunkt des »20. Juli 1944« war das, was wir heute als Holocaust bezeichnen, in seinem Umfang und mit dem am 7. Juli erfolgten Stopp der »Endlösung« in Ungarn wesentlich vollzogen gewesen. Sicher, nach dem Juli 1944 erkennen wir, ihrem Schrecken nach, noch weitere ungeheuerliche Ereignisse. Aber im Kern war der absolute Genozid an den Juden Europas bereits vollzogen. So bleibt der 20. Juli ein doch ausgesprochen deutsches Datum. »Deutsch« in dem Sinne, wie die Nazis diese Zuschreibung verstanden. Nun konnten die Ausstellungsmacher aber nicht davon absehen, dem Holocaust ein Bild zuzuerkennen. Dafür ist das Ereignis nicht nur in der deutschen (Erinnerungs-)Geschichte von einer fundamentalen Wucht. Ein eigenes Bild indes war nicht möglich. Welche denkbare Ereignisalternative, welche Möglichkeit hätte sich angesichts des radikalen Vollzugs jener Wirklichkeit denn anbieten können? Aus Gründen historischer Ethik und Moral waren wir gehalten, den »20. Juli« mit dem Holocaust zu konfrontieren.

FB: Als Nachfrage zum Verständnis: Gibt

es kein Ereignis, das man als Entscheidung zum Holocaust oder gegen den Holocaust hätte anführen können?

DD: Natürlich hätte man den 20. Januar 1942, das Datum der Wannseekonferenz, als Ereignisikone wählen können. Aber das ist eine falsche Wahrnehmung der Wannseekonferenz, weil auf dieser Zusammenkunft ja nichts beschlossen wurde, was nicht bereits im Gange war. Der Holocaust wurde ja nicht von einem konkreten politisch-bürokratischen Beschluss an einem Tag, zu einer Stunde, zu einer Minute in Gang gesetzt, so wie man sich eben Verwaltungshandeln vorstellt, sondern war Teil einer Dynamik, die sich zunehmend steigerte, bis sie jenen Höhepunkt einer industriellen und total durchgeführten Ver­ nichtung erreichte. FB: In Ihren Erläuterungen benutzen Sie sehr häufig, und damit arbeiten wir auch in der Ausstellung, den Begriff des Bildes. Welche Rolle spielen in Ihrer Einschätzung ikonische Bilder im historischen Denken und wie prägen sie unser historisches Gedächtnis? DD: Unsere Vorstellung ist primär bildbehaftet. Für zentrale Ereignisse stellen sich immer ganz bestimmte Bilder ein. Sie setzen sich in unserem Bewusstsein ikonisch fest und bilden um sich ein ganzes Feld von Vorstellungen aus. Es ist letztendlich ein Bild, dem ein über sich hinausweisender sinnstiftender Charakter zukommt. Hier sind natürlich nicht Bilder in einem bloß illustrie­ renden Sinne gemeint, sondern verdichtete, eben ikonische Einprägungen. Dies gilt auch für Bilder als Zeichen, so wie Jahreszahlen, die für ein ganzes Ereignisbündel stehen. Nehmen wir die Jahreszahl 1933. Um diese Jahreszahl herum bildet sich die Vorstellung eines ganzen Ereignisfelds aus – eine Häufung von Ereignissen, von denen wahrscheinlich ein jeder und eine jede irgendwie schon etwas gehört oder gesehen haben. So bringen die Besucher der Ausstellung immer ein Stück, ein Fragment an Vorwissen mit, über das sie sich selbst nicht unbedingt Rechenschaft abgelegt haben müssen. Diese Gedächtnisspuren führen dazu, dass angesichts der ausgestellten »Bilder« Besucher und Besucherinnen Abdrücke dieser Spuren in sich entdecken. Dies ist ein Sandkorn der Erkenntnis, um das herum sich Ahnung in Wissen verwandelt. Und so etwas wird auch mit den Besuchern geschehen, egal, welche Vorinformation auch immer sie mitbringen. 20

FB: Das leitet zur nächsten Frage über: Inwiefern wird das Vorgehen der Aus­ stellung auch Widerspruch auslösen? Was glauben Sie, in welchem Maße und vielleicht zu welchen Punkten lösen wir mit dieser Ausstellung auch Diskussionen aus? DD: Ich glaube, dass die Beantwortung dieser Frage mehrere

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Schichten bereithält. Die eine Schicht ist, dass alle in der Ausstellung dargebotenen Ereignisse, vielleicht außer zweien, irgendwie bekannt sind – ich würde sie als alltagsbekannt bezeichnen. Irgendein Vorwissen oder eine Art der Vorahnung, und dies in welcher Dichte auch immer, kann immer vorausgesetzt werden. Das Bild von der Atombombe ist mit Sicherheit nur wenigen bekannt. Aber es ist, wie bereits gesagt, in einem jeden und einer jeden als Atomangst präsent. Alle anderen Bilder sind irgendwie bekannt und haben auch immer wieder Kontroversen ausgelöst. Insofern schlagen diese Bilder in bereits bestehende Kerben des historischen Bewusstseins und des historischen Wissens ein. Die unternommene Verschiebung von der Wirklichkeit an die Ränder einer faktisch nicht realisierten Möglichkeit wird freilich schon so manchem oder mancher aufstoßen. Dabei bewegt sich historisches Denken ohnehin bewusst oder auch weniger bewusst suchend in einem Möglichkeitsraum. Erst von da aus kann die gewordene Wirklichkeit als solche historiografisch generiert werden. Es gibt kein anderes Vorgehen. Hier, in der Ausstellung, wird es indes offengelegt und dies erlaubt, die eingetretene Wirklichkeit umso dramatischer aufleben zu lassen. Dies war auch ein Aspekt bei der Auswahl der in der Ausstellung ikonisierten historischen Bilder. Nehmen wir das Bild der Rheinlandbesetzung durch die Wehrmacht im März 1936. Dieses Bild schien für das Anliegen der Ausstellungsmacher bei Weitem wichtiger als das Großereignis des Überfalls auf die Sowjetunion, der als solcher gar nicht vorkommt. Denn es geht hier, wie bei den meisten anderen Bildern, um die Darstellung der Nähe der eingetretenen Wirklichkeit zu anderen im Ereignisfeld auch auszumachenden Möglichkeiten. So hat Hitler die Rheinland­ besetzung als gewaltiges Risiko bezeichnet. Hätte Frankreich auf die Vertragsverletzung reagiert und seine Truppen in Marsch gesetzt, wäre das ganze Unternehmen der Rheinlandbesetzung wie ein Kartenhaus in sich zusammen­gefallen. Wahrscheinlich hätte dies zu einer gegen Hitler geführten Reaktion der Wehrmacht geführt, also das, was angesichts der Sudetenkrise 1938 zumindest avisiert, durch den Erfolg Hitlers in München und durch britisches Misstrauen dem preußisch-deutschen Militär gegenüber nicht realisiert wurde. All dies spielte sich im Rahmen des Möglichen ab, ohne wirklich zu werden.

FB: Es geht immer darum, dass die Möglichkeit, die wir aufzeigen, trotzdem Teil der vergangenen Realität gewesen ist. Dieses sich Herantasten an die Möglichkeiten – Sie haben hierfür das schöne Bild des Sich-über-das-GeländerLehnens benutzt – wie unterscheidet sich das von der kontrafaktischen Geschichtsschreibung, die ja durchaus auch ihre Berechtigung hat und für die es gelungene Beispiele gibt? DD: Kontrafaktisch bedeutet, der Geschichte eine andere und

als solche ausgeführte Richtung zu geben als die, die wirklich geworden ist. Der Zugang zur Ausstellung will aber keine andere Geschichte erzählen. Vielmehr geht es im Gegenteil darum, das, was gewesen ist, schärfer wahrzu­nehmen, und zwar dadurch, dass man Anteile, Residuen einer anderen, sich nicht verwirklicht habenden Möglichkeit gewahr wird. Mit diesem Wissen um den Charakter der Dichte der nicht eingetretenen Möglichkeit wendet man sich – und dass will die Ausstellung – der eingetretenen Wirklichkeit anders zu. Deshalb auch das Bild vom Geländer. Das Geländer ist die eingetretene Wirklichkeit. Und daran wird festgehalten. Das Geländer schützt vor dem Fall ins Nichts, also vor dem Weg ins Falsche, in eine falsche, an der eingetretenen Wirklichkeit vorbeiführende Deutung der Vergangenheit. Aber um hierfür den angemessenen Blick zu entwickeln, lehnt man sich über dieses Geländer. Das Festhalten an der gewesenen Wirklichkeit und das sich Hinablehnen in die nicht eingetretene Möglichkeit erzeugt jene historische Spannung, zu der es in der Ausstellung kommen soll. FB: Zum Abschluss eine Frage, die uns zum Beginn des Gesprächs zurückführt: Warum ist die Ausstellung gerade heute besonders relevant?

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DD: Dies ist sie aus zwei Gründen. Zum einen, weil wir uns gegen­ wärtig auf jener Gletscherspalte des Unwägbaren befinden – und dies war vor zwei Jahren, als wir mit der Planung der Aus­ stellung begannen, keineswegs vorauszusehen. Was vor einem Jahr der Zeitgenossenschaft fraglos gültig erschien, ist heute nicht mehr. Und uns ist jeder Einblick in die Zukunft, auch in die am nächsten liegende Zukunft, das unmittelbare Morgen, verwehrt. Das löst beim Publikum Anspannung und Unruhe aus. Das weit­verbreitete behütete Empfinden, in einer in die Zukunft linear verlängerbaren realen Gegenwart zu leben, ist nicht mehr. Die Zukunft hält jedenfalls nichts Bekanntes bereit. Das ist zwar bei jeder Zukunft der Fall, aber die Masse an zukunfts­fähig

Bekanntem nimmt rasant ab. Das ist das eine Moment, in dem wir uns befinden. Zum anderen wird beschämend deutlich, dass leichtfertiges Urteilen über Vergangenes nicht nur heute dazu führen sollte, der Geschichte mit einer gewissen Demut zu begegnen – will heißen: sich vor leichthin getroffenen Urteilen besser zu hüten. Auch diese Erkenntnis entspringt den Tugenden einer wohlverstandenen historischen Aufklärung. FB: Ich danke Ihnen ganz herzlich. Das Gespräch führte Fritz Backhaus.

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1989

1989

»Konsequenz und Härte, nur damit können wir den Sozialismus in der DDR sichern.«

Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit und Mitglied des Nationalen Verteidigungs­ rats, in: Parteiinformation der SED vom 29. September 1989

Glücksfall – Revolution Oder: Die Proteste und Demons­tra­ tionen werden gewaltsam nieder­geschlagen

Julia Franke

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Mit Entsetzen blickte die Welt im Sommer 1989 nach Peking: Am 3. und 4. Juni schlug die chinesische Volksbefreiungsarmee die studentischen Massenproteste  blutig nieder. Über Wochen war zuvor auf dem Tian’anmen-Platz, dem Platz des Himm­ lischen Friedens, für Freiheit und Demo­ kratie demonstriert worden. Insbesondere Studierende hatten im Mai 1989 damit begonnen, das Zentrum Pekings zu besetzen. Sie forderten von der Kommunistischen Partei Chinas ähnliche politische Reformen, wie sie inzwischen in der Sowjetunion, in Polen oder in Ungarn eingeleitet worden waren.1 In den folgenden Wochen demonstrierten auch in anderen chinesischen Städten Hunderttausende. Bald hatten sich weitere gesellschaftliche Gruppen den Protesten angeschlossen. Versuche, den Konflikt im Dialog zu lösen, scheiterten. Am 20. Mai verhängte die Parteiführung das Kriegsrecht und ließ den Tian’anmen-Platz am 3. Juni 1989 durch ihre Streitkräfte gewaltsam räumen. Bei der Niederschlagung der Proteste starben hunderte Demon­strierende, tausende Menschen wurden verletzt.2 Ist dies ein Szenario, das nur wenig später auch in Ost-Berlin, in Leipzig oder in vielen anderen Städten der DDR möglich gewesen wäre? Demonstrativer Schulterschluss mit der KP Chinas In der DDR rechtfertigte die SED-Führung wiederholt das Vorgehen der chinesischen Staatsführung – im Gegensatz zu anderen Staaten, die das Massaker scharf verurteilten und teilweise wirtschaftliche Sanktionen gegen die Volksrepublik China beschlossen. Die Nachrichtensendung Aktuelle Kamera berichtete ab dem 20. April 1989 sporadisch und aus der Perspektive der chinesischen Staatsführung über die Proteste in China. Am 4. Juni 1989 informierte sie über die »Räumung« des Tian’anmenPlatzes – mit der Interpretation, dass »Konterrevolutionäre den Sturz der sozialistischen Ordnung beabsichtigt« hätten. Die heute ikonischen Aufnahmen des Tank Man, also des Mannes, der sich den Panzern entgegenstellte, zeigte sie nicht. Vier Tage später, am 8. Juni, befürwortete die Volkskammer, also das höchste Verfassungsorgan der DDR, das Vorgehen der Verantwortlichen auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Der SED-Abgeordnete Ernst Timm verkündete, dass »sich die Volks-

macht gezwungen [sah], Ordnung und Sicherheit unter Einsatz bewaffneter Kräfte wiederherzustellen«.3 Weitere vier Tage später trafen sich die Außenminister beider Staaten in Ost-Berlin und Oskar Fischer solidarisierte sich gegenüber seinem chinesischen Amtskollegen Qian Qichen stellvertretend für sein Land mit der Volksrepublik China und dem »chinesischen Brudervolk«. Die Geschehnisse in China und die offizielle Haltung der SED-Regierung dazu finden sich zwischen den Zeilen auch in den Worten der Ministerin für Volksbildung Margot Honecker Mitte Juni 1989 wieder. Bei der Eröffnung des IX. Pädagogischen Kongresses sendete sie deutliche Zeichen in Richtung Jugend und forderte den Kampf für den Sozialismus ein, nötigenfalls mit radikalen Mitteln: »Noch ist nicht Zeit, die Hände in den Schoß zu legen, unsere Zeit ist eine kämpferische Zeit, sie braucht eine Jugend, die kämpfen kann, die den Sozialismus stärken hilft, die für ihn eintritt, die ihn verteidigt mit Wort und Tat und, wenn nötig, mit der Waffe in der Hand.«4

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Krise(n) des real existierenden Sozialismus Wie die chinesische Staatsführung sah auch die SED den Reform­kurs des sowjetischen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschow kritisch und stemmte sich mit der ihr möglichen Macht dagegen. Nach seiner Wahl zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) im März 1985 hatte Gorbatschow in Wirtschaft und Gesellschaft Reformen durchgeführt. Die Ablehnung seines Reformprogramms von Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung), das die Reformierbarkeit des staatssozialistischen Systems beweisen sollte, einte die Parteien in Ost-Berlin und Peking. Zeitgleich setzte in den Nachbarstaaten der DDR ein Zerfall des kommunistischen Herrschaftssystems ein, der ganz Ostmitteleuropa ergriff. Innerhalb weniger Monate kollabierten mehrere staatssozialistische Regime unter dem Eindruck von Massendemonstrationen und Streiks. In Polen etwa bat die kommunistische Regierung die Vertreter der 1980 gegründeten, zwischenzeitlich verbotenen und daher im Untergrund arbei­ tenden Gewerkschaft Solidarność im Frühjahr 1989 an einen Runden Tisch. Parallel dazu spitzte sich die Krise in der DDR seit Sommer 1989 noch einmal zu. Nach den Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 konnten Oppositionelle der SED zum ersten Mal Manipulationen nachweisen. In der Bevölkerung sank das noch verbliebene Ansehen der Partei kontinuierlich. Landesweit organisierten sich Bürgerrechtsgruppen mit der Forderung nach politischen und gesellschaftlichen Reformen. Große Teile der SED-Spitze waren sich der Tiefe der gesellschaftlichen Krise und explizit der eigenen Legitimationskrise bewusst. Sie erkannten die in der DDR immer lauter werdenden Forderungen nach einer demokratischen Erneuerung, aber auch die wachsende Zahl der Ausreise-

»Protest gegen den Massenmord in Peking / China ist nicht fern!«  Handzettel mit Aufruf zu einer Solidaritätsdemonstration | Ost-Berlin, Juni 1989 | Papier, Druck; 19,6 × 28 cm | Robert-HavemannGesellschaft/ EP 09

anträge und derjenigen, die aus der DDR flohen, als eine Bedrohung des eigenen Systems. Am 19. August 1989 fand an der österreichisch-ungarischen Grenze das sogenannte Paneuro­ päische Picknick statt. In dessen Verlauf flohen 661 DDR-Bürger­ innen und -Bürger über die Grenze nach Österreich. Allein im Verlauf des Jahres 1989 sollten rund 344 0005 Flüchtlinge und Übersiedler in die Bundesrepublik abwandern.6 Dies waren mehr Menschen als zur Hochphase der deutsch-deutschen Flucht­ bewegung in den 1950er Jahren.7 Insbesondere junge und gut ausgebildete Menschen verließen die DDR.

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»China ist nicht fern!« Die zahlreichen Solidaritätsbekundungen der SED-Regierung mit der chinesischen Staats- und Parteiführung fassten viele Menschen in der DDR als Warnung auf, sie konnten vor diesem Hintergrund als unverblümte Drohgebärden verstanden werden. Es erschien vielen durchaus realistisch, dass das Politbüro einen Militäreinsatz gegen die Demonstrierenden im eigenen Land befürworten könnte. Marianne Birthler, die sich in der Kinder- und Jugendarbeit der evangelischen Kirchengemeinde engagierte,

Martin Jehninchen | Demonstration am Rande des Evangelischen Kirchentags  Leipzig, 9. Juli 1989 | Fotografie | Archiv Bürgerbewegung Leipzig e. V.

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beschreibt die zeitgenössische Spannung wie folgt: »Wir hatten schon verstanden, dass das auch ein Zeichen in unsere Richtung ist: Treibt’s nicht zu weit! […] Wir waren schon sicher, dass sich etwas verändert, aber spätestens seit Juni wussten wir, dass es auch möglich ist, dass die noch mal richtig hart zuschlagen.«8 Oppositionelle organisierten vielgestaltige Solidaritätsaktionen mit der chinesischen Demokratiebewegung, der sie sich verbunden fühlten. »China ist nicht fern!«, mahnte ein Handzettel, der nach dem Massaker in Peking zu einer Protestveranstaltung aufrief.9 In mehreren Kirchen der DDR protestierten Oppositio­ nelle mit einem mehrtägigen »Klagetrommeln« gegen die Nieder­ schlagung der Demokratiebewegung in China und damit zugleich gegen die China-Politik der SED-Führung. Diese lautstarke Protestform sollte neben der Trauer über die Opfer in Peking auch zum Ausdruck bringen, dass die Protestierenden sich durch die Einschüchterungsversuche in Medien und Parlament nicht beeindrucken und nicht zum Schweigen bringen ließen. Ebenfalls im Schutz der Kirche zeigten im Juli Teilnehmende an

Veranstaltungen des Evangelischen Kirchentags in Leipzig ihre Solidarität mit der chinesischen Demokratiebewegung. Und die Rockband »Herbst in Peking« rief ihr Publikum im Juni bei einem Konzert in Brandenburg an der Havel zu einer Schweigeminute auf und wurde daraufhin mit einem Auftrittsverbot belegt. Vom Sommer und frühen Herbst 1989 aus betrachtet, stellte sich der Prozess, für den später der Begriff der »Friedlichen Revolution« geprägt werden sollte, keineswegs als ein zwangsläufig friedlich verlaufender Weg dar. Noch Ende September konstatierte Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit und Mitglied des Nationalen Verteidigungsrats, denn auch: »Konsequenz und Härte, nur damit können wir den Sozialismus in der DDR sichern.« Mit dieser Äußerung vom 29. September 1989 räumte er eine »explosive Lage« ein. Und im Herbst 1989 suchte die SED noch einmal den unmittelbaren Schulterschluss mit den Genossen in China: Nachdem in den Vormonaten bereits Hans Modrow und Günter Schabowski nach Peking gereist waren, flog Ende September eine weitere Regierungsdelegation unter der Leitung des damaligen stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz nach Peking. Anlass waren die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Volksrepublik China. Krenz versicherte den chinesischen Genossen abermals die Verbundenheit und Solidarität der SED.

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Der 40. Jahrestag der Gründung der DDR Wenige Tage nach den Feierlichkeiten in China beging am 7. Oktober 1989 in der DDR die Staats- und Parteiführung den 40. Jahrestag ihrer Staatsgründung. In Erwartung von Protesten wurde ein von Erich Honecker und Erich Mielke bestätigter Maßnahmenplan10 zur Gewährleistung der Sicherheit an diesem Tag aufgesetzt und die Nationale Volksarmee (NVA) vorsorglich für den Zeitraum vom 6. bis zum 9. Oktober 1989 in »erhöhte Gefechtsbereitschaft« versetzt. Bei den Feierlichkeiten und der Parade der NVA auf der Karl-Marx-Allee propagierte die Staatsspitze die Überlegenheit des sozialistischen Gesellschaftssystems. Tatsächlich aber stand das Land vor einem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Den Jahrestag nahmen in Ost-Berlin tatsächlich viele, vor allem junge Menschen zum Anlass, um gegen die Staatsmacht zu demonstrieren. Der sich formierende Demonstrationszug wuchs auf mehrere Tausend Menschen an. Mit großer Brutalität gingen Sicherheitskräfte gegen die Demonstrierenden – und gegen unbeteiligte Passanten – vor.11 Etwa 1200 Menschen wurden festgenommen und zum Teil im anschließenden Gewahrsam misshandelt. Unter ihnen befanden sich auch unbeteiligte Anwohner und SED-Mitglieder. Da die aufgrund des Jahrestags zahlreich vertretene westdeutsche Presse von den Ausschreitungen berichtete, hatten die Erzählungen der in Gewahrsam genommenen Menschen nach ihrer Freilassung eine hohe Überzeugungskraft. In zahlreichen weiteren Städten kam es an diesem Tag

zu Protesten, so in Plauen, Potsdam oder Dresden. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk beschreibt die Situation als einen »Kipppunkt von der Gesellschafts- zur Diktaturkrise«.12 Der Zusammenbruch des politischen Systems hatte begonnen, gleichzeitig setzte die (offene) Revolution gegen das SED-Regime ein. Am nächsten Tag forderte Erich Mielke die konsequente Zurück­ drängung »feindlicher, oppositioneller sowie weiterer feindlichnegativer und rowdy­hafter Kräfte« und ordnete die »volle Dienstbereitschaft« aller Mitarbeitenden des Ministeriums für Staats­­sicher­heit (MfS) an: »Angehörige, die ständige Waffen­ träger sind, haben ihre Dienstwaffe entsprechend den gegebenen Erfordernissen ständig bei sich zu führen.«13

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Die Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 Zwei Tage nach den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR versammelten sich in Leipzig, wie bereits in den Wochen zuvor, zehntausende Menschen in der Innenstadt. Trotz massiver Einschüchterungsversuche und beängstigender Gerüchte über einen bevorstehenden Einsatz bewaffneter Sicherheitsorgane kamen am 9. Oktober in der Leipziger Innenstadt rund 70 000 Menschen zusammen. Der große Protestzug und die Entschlossenheit der meisten Beteiligten zum friedlichen Demonstrieren sollten die vorbereiteten staatlichen Gewaltmaßnahmen vereiteln. Ein Bündnis aus dem Arbeitskreis Gerechtigkeit und den Arbeitsgruppen Menschenrechte wie Umweltschutz rief in einem »Appell zur Gewaltlosigkeit« auf. Und der »Aufruf der Sechs von Leipzig«14, eine von Gewandhauskapellmeister Kurt Masur gesprochene und über die öffentlichen Lautsprecher an die Demonstrierenden auf dem Innenstadtring hörbar gemachte Ansprache, hat seine Wirkung vermutlich auch auf die Sicherheitskräfte vor Ort nicht verfehlt. Dabei hatte es staatlicherseits Vorkehrungen für eine mögliche Gewaltanwendung gegenüber den Demonstrierenden gegeben: Volkspolizei, Betriebskampfgruppen und MfS-Einheiten waren vor Ort. Hundertschaften der NVA wurden in erhöhte Bereitschaft versetzt, blieben aber schlussendlich in den Kasernen. Die Volkspolizei war auf Proteste eingestellt und hatte ein gewaltsames Vorgehen gegen Demonstrierende spätestens seit 1988 bereits geprobt.15 Das Abdrängen, Aufspalten, Einkesseln und die Isolierung sogenannter Rädelsführer war im Vorfeld gezielt geübt worden. Am Mittag wurden Waffen und Munition für die unterschiedlichen Dienstgrade innerhalb der Bereitschaftspolizei ausgegeben. Auch die Leipziger Krankenhäuser hatten Vorkehrungen für gewalttätige Auseinandersetzungen getroffen. Die befürchtete Niederschlagung des Protests blieb dann aller­dings aus. Der tags zuvor mit Berlin abgestimmte »Entschluss des Leiters des VPKA [Volkspolizeikreisamt] Leipzig« vermerkt: »Das Ziel des Einsatzes besteht in der Auflösung einer rechtswidrigen Menschenansammlung und unmittelbar nach­

Heinz Löster | Montagsdemonstration auf dem Leipziger Innenstadtring  Leipzig, 9. Oktober 1989 | Fotografie | Dr. Heinz Löster, Markkleeberg

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folgend in der dauerhaften Zerschlagung gegnerischer Gruppierungen sowie der Festnahme deren Rädelsführer.«16 Nicht zuletzt aufgrund eines Abwägens der Leipziger SED-Bezirksleitung wurde der vorliegende Befehl zur Auflösung von Demonstrationen dann jedoch nicht ausgeführt. Zudem war die Anzahl der Demons­trierenden so groß, dass sich das Sicherheitskonzept nicht wie geplant umsetzen ließ. Die Sicherheitskräfte kapitulierten quasi vor der Überlegenheit der Demonstrierenden. Vor einem Einsatz militärischer Kräfte schreckten die Verantwort­ lichen an diesem Tag zurück. Die Schriftstellerin Christa Wolf, die sich im Herbst 1989 für einen demokratischen Sozialismus aussprach, erfuhr am späten Abend des 9. Oktober in Moskau vom gewaltlosen Verlauf der Demonstration in Leipzig. Rückblickend, im Februar 1990, bezeichnete sie diesen Moment als einen »Augenblick reinen Glücks«17.

Zur Wiederherstellung staatlicher Autorität plante Staats- und Parteichef Erich Honecker, am Tag der nächsten Montagsdemonstration Panzer der NVA zur Abschreckung durch Leipzig fahren zu lassen.18 Die landesweiten Demonstrationen betrachtete er als »konterrevolutionäre Tätigkeiten« und befahl Ende September, diese »im Keim zu ersticken«. Damit konnte er sich aber nicht mehr durchsetzen: Am 17. Oktober 1989 veranlasste das Politbüro seinen Rücktritt. Egon Krenz trat die Nachfolge an. Durch diesen Führungswechsel suchte die SED, ihre Macht zu erhalten. Sie setzte fortan auf Gewaltverzicht anstelle von Eskalation. Durch die innere Lähmung der SED-Führung infolge von Honeckers Sturz und mit den anwachsenden Protestbekundungen an vielen Orten der DDR beschleunigte sich der Machtzerfall der Staatspartei, der den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 nach sich ziehen sollte. Es gibt mehrere Erklärungen dafür, warum es nach dem 7. Oktober 1989 nicht zu weiterer massiver Gewaltanwendung gegen die Protestierenden auf den Straßen kam. Die Gründe liegen zum einen in der gesellschaftlichen Breite der Protest­ bewegung. Obwohl sie sich aus sehr unterschiedlichen Gruppierungen zusammensetzte, einten diese die großen gemeinsamen Ziele nach politischer Partizipation und bürgerlichen Freiheiten. Zum anderen finden sich Belege dafür, dass auch die SEDFührung erkannt hatte, dass eine Gewaltanwendung gegen die eigene Bevölkerung ihre Macht nicht stärken, sondern weiter schwächen würde. Die Querelen um die innerparteiliche Machtablösung banden innerhalb der SED weitere Energien, sodass die erodierende Einheitspartei im Oktober 1989 sehr mit sich selbst beschäftigt war. In diesen Wochen im Herbst 1989 blieb zudem unklar, ob die Exekutive, Polizei und Militär, überhaupt noch handlungsfähig wäre, also ob polizeiliche wie militärische Befehlsketten, die zu einer Niederschlagung der Proteste unerlässlich wären, überhaupt noch Bestand hätten. Die im Herbst 1989 in der Luft liegende Spannung bringt die Autorin Annett Gröschner eindrücklich auf den Punkt: »Dann aber fiel das Ganze einfach in sich zusammen, und ein atemberaubender Monat begann, in dem wir mehrere Jahre auf einmal lebten. Er ging vom 7. Oktober bis zum 9. November. Alles war plötzlich offen, außer der Mauer, aber die war in diesem Moment nur ein Problem am Rande.«19

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Literatur Effner 2020; Kowalczuk 2009; Sabrow 2012. 1  Die Volksrepublik China hatte bereits 1978 beschlossen, Reformen einzuleiten und damit begonnen, die sozialistische Gesellschaft zu verändern und sich zum Westen zu öffnen. Der Tod des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Chinas, Hu Yaobang, war der Auslöser für die Protestbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Hu Yaobang war dem liberalen Spektrum der Partei zuzuordnen und wurde 1987 aufgrund seiner Reformorientiertheit zum Rücktritt gezwungen. Aus den öffentlichen Trauerbekundungen anlässlich seines Todes 1989 erwuchs der politische Protest auf dem Tian’anmen-Platz. 2  Gesicherte Zahlen zu Toten und Verletzten des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens liegen nicht vor. 3  Aktuelle Kamera vom 8. Juni 1989. 4  BArch Ministe­rium für Volksbildung, DR 2 12629. 5  Bei der Zahl handelt es sich um die Anzahl der in Aufnahmeverfahren der Bundesrepublik registrierten geflüchteten und der mit einer Genehmigung der DDR ausgereisten Personen. 6  Vgl. Effner 2020, S. 291. 7  Vgl. ebd., S. 292.

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8  Auszug aus dem Zeitzeuginnen-Interview von Cornelia Thiele mit Marianne Birthler am 27. März 2014, Stiftung Berliner Mauer.

16  StAL20250, Nr. 3929, Entschluss des Leiters des VPKA Leipzig vom 8.10.1989.

9 Robert-HavemannGesellschaft, RHG_ Fak_0649.

18  Vgl. Bröckermann 2012, S. 141.

10  Maßnahmeplan zur Gewährleistung der Sicherheit zum 40. Jahrestag der DDR, 27.9.1989, BStU, MfS, ZAIG, Nr. 7314, Bl. 2–31. 11  Bereits am 4. Oktober 1989 war es am Dresdner Hauptbahnhof zu einem brutal geführten Einsatz von Polizei und NVA gekommen, als diese eine Blockade von etwa 5000 Menschen geräumt hatten, die zu den Zügen aus Prag ins bayrische Hof gelangen wollten. 12  Vgl. Kolwalczuk 2009. 13  BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 6920, Bl. 1. 14  Die sechsköpfige Gruppe bestand aus drei Sekretären der SEDBezirksleitung Leipzig – Kurt Meyer, Roland Wötzel und Jochen Pommert – sowie aus dem Kabarettisten Bernd-Lutz Lange, dem Theologen Peter Zimmermann und Kurt Masur. 15  Vgl. das Interview zu den Vorbereitungen der Bereitschaftspolizei im Herbst 1989 mit dem Historiker Christian Booß vom 10. Oktober 2022, https://www.mdr.de/ geschichte/ddr/politikgesellschaft/volkspolizei/ demonstration-polizistentraining-stasi-filminterview100.html (abgerufen am 14.12.2022).

17  Wolf, Ch. 1990, S. 11.

19  Gröschner 2009, S. 27.

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Die Solidaritätsbekundungen der SEDRegierung mit der chinesischen Staatsund Parteiführung nach dem Massaker in Peking im Juni 1989 fassten Oppositionelle in der DDR als Warnsignal auf. In den folgenden Wochen und Monaten nutzten vor allem Menschen im Schutzraum der evangelischen Kirche die Schriftzeichen 民主 auch in der DDR – auf große Transparente geschrieben, aber auch in kleineren Ausgabeformaten: Mit dieser Kopiervor­ lage aus dem Bestand der Bürgerrechtlerin Marianne Birthler konnte die chine­ sische Losung mit einem erklärenden Zusatz in deutscher Sprache rasch aufs Papier gebracht und vervielfältigt werden. In einzelne Streifen zerschnitten wurde sie dann an Gleichgesinnte verteilt. Auf diese Weise verurteilten Angehörige der Opposition das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens und signalisierten ihre Solidarität mit der chinesischen Demokratiebewegung. Gleichzeitig waren die schmalen Papierstreifen eine opposi­ tionelle Geste an die eigene Staatsführung, denn sie brachten zum Ausdruck, dass man die offizielle Haltung der SED zum Massaker ablehnte. JF

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Matrizen-Modelle für die chinesischen Schriftzeichen 民主 (mínzhǔ, dt.: Demokratie) für die Forderung nach Demokratie Ost-Berlin, 1989 | Polyester, bedruckt; 20,9 × 6,8 cm | RHG/Archiv der DDROpposition/MBi_11_20

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Die unmittelbare Konfrontation zwischen einem Demonstranten und einem uniformierten Vertreter staatlicher Ordnungsmacht thematisierte der Künstler Einar Schleef. Schleef wählte den Blick in das Gesicht des Demonstranten. Den Vertreter der exekutiven Staatsgewalt präsentiert er abweisend von hinten; man erkennt nur den behelmten Hinterkopf und die wie eine Sperre das Bild durchziehende massige Schulterlinie. Das Gemälde versetzt die Betrachtenden in das Ost-Berlin des 7. Oktobers 1989. An diesem Tag feierte die Staatsspitze der DDR den 40. Jahrestag ihrer Gründung. Tausende nutzten ihn, um gegen die Staatsmacht zu protestieren. Der 1944 in Sangerhausen geborene Einar Schleef war 1976 nach einem Auftrag am Wiener Burgtheater nicht mehr in die DDR zurückgekehrt und in die Bundes­ republik übergesiedelt. Im Herbst 1989 lebte er in West-Berlin und verfolgte die explosive Lage am 40. Jahrestag der Gründung der DDR über die Medien. Auch die westdeutsche Presse war in Ost-Berlin vor Ort und dokumentierte die zum Teil äußerst brutalen Übergriffe der Sicher­ heits­­kräfte am Abend des 7. Oktobers 1989. JF

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Einar Schleef | »40. Jahrestag«  West-Berlin, 1989 | Mischtechnik auf Spanplatte; 32 × 42,5 cm (Bildmaß) | Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale), Dauerleihgabe Sammlung Einar Schleef

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Die brutale Niederschlagung der Proteste in China fand im Herbst 1989 auf Demon­ strationsschildern in der DDR ihren Widerhall. Die Aufschrift »Achtung! Krenz[,] das ist der Himmlische Frieden« richtete sich an Egon Krenz, der am 18. Oktober 1989 Nachfolger Erich Honeckers als Generalsekretär des Zentralkomitees der SED geworden war. Ende September war er nach Peking gereist. Dieser demonstrative Schulterschluss mit der Kommunistischen Partei Chinas wurde in oppositionellen Kreisen als kaum verklausulierte Warnung aufgefasst. Das Schild trug ein Demonstrant am 4. November 1989 bei der ersten offiziell genehmigten Demonstration in der DDR, die nicht von der Staatsführung ausgerichtet worden war. An ihr nahmen Hun­ dert­tau­sende auf dem Berliner Alexanderplatz teil. Im Herbst 1989 spielten zahlreiche Transparente und Demonstrationsschilder auf den Namen von Egon Krenz an, so etwa »Unser Wille ist KRENZenlos« oder »KRENZenlose Demokratie«. Krenz galt vielen als politischer Ziehsohn Erich Honeckers, seine Mitverantwortung für Wahlmanipulation und Gewalt gegen Demonstrierende war bekannt. Damit schien er ungeeignet, den SED-Staat grundlegend reformieren zu können. JF

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Demonstrationsschild mit Bezug auf das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking  Ost-Berlin, 4. November 1989 | Pappe, beschrieben, bemalt; 54,7 × 74 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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Die bereits zu einem großen Teil abgebrannte Kerze wurde bei einer Montagsdemonstration in Neustrelitz am 30. Okto­ ber 1989 getragen und – wie einige anhaftende Grashalme und etwas Erde nahelegen – irgendwann auf dem Boden abgesetzt. Die erste Montagsdemonstration fand am 4. September 1989 im Anschluss an ein Friedensgebet – ein sogenanntes Montagsgebet – in der Leipziger Kirche St. Nikolai statt. Bei den Gebeten wurde explizit zu Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit aufgerufen. Das Demonstrationsformat breitete sich über Leipzig hinaus im gesamten Land aus. Der Prozess der Friedlichen Revolution war nicht nur eine Revolution der großen Zentren wie Berlin oder Leipzig, sondern umfasste genauso kleinere Städte wie Halle, Zwickau oder Neustrelitz. Die Friedlichkeit des Protests im Herbst 1989 war ein Kennzeichen der zahlreichen Demonstrationen, die Kerze wiederum ein Symbol dieser Gewaltfreiheit. JF

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Kerze einer Montagsdemonstration Neustrelitz, 30. Oktober 1989 | Wachs, gegossen (?), Baumwolle, geflochten; 8,5 × 7 × 6,5 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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1972

1972

»Der Bundestag spricht Bundeskanzler Willy Brandt das Mißtrauen aus und wählt als seinen Nachfolger den Abgeordneten Dr. Rainer Barzel zum Bundeskanzler der Bundes­republik Deutschland. Der Bundes­ präsident wird ersucht, Bundeskanzler Willy Brandt zu entlassen.«

Antrag der CDU/CSU-Fraktion nach Artikel 67 des Grundgesetzes auf ein konstruktives Misstrauensvotum, 24. April 1972

Entspannung – Ostpolitik Oder: Willy Brandt wird als Kanzler abgewählt

Stefan Paul-Jacobs

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Zwischen dem ikonischen Bild vom Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für die Helden des Warschauer Ghettoaufstands am 7. De­zember 1970 und einem kopf­ schüt­teln­den Rainer Barzel nach dem geschei­ter­ten Misstrauensvotum gegen den Bundeskanzler vergingen gerade einmal anderthalb Jahre. Dieser Zeitraum steht für große Veränderungen, die die Tektonik deutscher Außenpolitik nach­ haltig verschoben.

Flüchtlingspolitik Die Debatten um die Ostpolitik prägten die kurze Kanzlerschaft Willy Brandts, der dieses Amt als erster Sozialdemokrat seit Gründung der Bundes­republik übernahm. Die Auseinander­setzungen um die Aussöhnung mit den öst­lich­en Nachbarn wurden mit großer Heftigkeit geführt und hatten ihre Ursache in den Ereignissen seit dem Kriegsende 1945. Das Ende des Zweiten Weltkriegs führte zu erheblichen Bevölkerungsverschiebungen in Ostmitteleuropa. Grenzen wurden neu gezogen. Der Osten Polens fiel an die Sowjetunion, im Westen des Landes wurde die Grenze bis zu Oder und Neiße verschoben. Insgesamt 12 Millionen Menschen flohen aus den deutschen Ostgebieten oder wurden von dort vertrieben. Im kommunistisch regierten Osten Deutschlands wurden sie »Umsiedler« genannt; in der politischen Öffentlichkeit der DDR spielten sie keine Rolle. Ganz anders im Westen: In der Bundesrepublik entstanden große Vertriebenenverbände. Allein die große Zahl von Flüchtlingen ließ sie als potenzielle Wähler zu einem wesentlichen Faktor in dem parlamentarisch-demokratisch verfassten Gemeinwesen werden. Alle großen demokratischen Parteien traten für die Belange der Heimatvertriebenen ein, zeitweise gab es sogar eine eigene Partei, den »Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten« (BHE). Die Interessenverbände der Geflüchteten waren überaus aktiv. Das 1952 verabschiedete Lastenausgleichgesetz sollte für erlittene Verluste einen finanziellen Ausgleich sichern. Dabei ging es um den Ausgleich der Vermögensschäden für Unternehmen, Immobilien, Fabrikanlagen, Versicherungspolicen und Sparguthaben, die anteilig ausgeglichen wurden. Gemeinden unterstützten Flüchtlinge mit der bevorzugten Zuweisung von Wohnraum. Es wurden zinsbegünstigte Eingliederungsdar­lehen

Ausweis für Vertriebene und Flüchtlinge  Landau, 10. November 1953 | Karton, Druck; 10,5 × 7,3 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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gewährt bzw. Darlehen für den Hausbau, dazu kam eine Unterstützung für eine Grundausstattung für die Einrichtung eines neuen Haushalts. Vertriebene begriffen ihre Präsenz in der Bundesrepublik zunächst als Provisorium, die Hoffnung, in die Heimat zurück­ zukehren, bestand anfangs durchaus. Die politische Entwicklung in Osteuropa und der Kalte Krieg ließen eine Rückkehr zunehmend illusorisch werden. Dazu kam der neu erarbeitete Besitzstand durch das einsetzende Wirtschaftswunder in der neuen Heimat. Nichtsdestotrotz wurde erbittert gegen jede politische Initiative gekämpft, die etwas am Status quo ante (d. h. an der Aufrechterhaltung der Grenzen von Europa aus dem Jahr 1937) ändern wollte.

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Zwischen Kaltem Krieg und Entspannungspolitik Mit Willy Brandt betrat ein Akteur die Bühne, der schon als Regierender Bürgermeister von Berlin neue Wege im Verhältnis zu den Nachbarn im Osten zu gehen bereit war. Der im Oktober 1969 neu gewählte Kanzler der Bundesrepublik war hoch umstritten. In einer beispiellosen Schmutzkampagne wurde Brandt seine nicht eheliche Geburt, vor allem aber seine Flucht aus Deutschland vor den Nationalsozialisten und seine journalistische Arbeit im skandinavischen Exil gegen Deutschland vorgeworfen. Das Bild von Brandt in norwegischer Uniform, die er 1947 für den Dienst in der norwegischen Militärmission in Berlin trug, diente dazu, ihn als Volksverräter zu brandmarken. Dem Kurs der Entspannungspolitik war bei ihm ein langer Lernprozess vorausgegangen, der von Widerständen und Anfeindungen geprägt war. Brandt unterstützte zunächst das Anliegen der Vertriebenen, ihr Recht auf Heimat und Rückkehr. Er wirkte in der Partei Kurt Schumachers, für den die Wiedervereinigung ganz oben anstand – im Unterschied zur Politik der Einbindung der Bundesrepublik in die westliche Gemeinschaft, die mit dem Namen Konrad Adenauer verbunden war. Brandt exponierte sich durchaus gegenüber den Machthabern in Ost-Berlin. Der Mauerbau 1961 ließ ihn allerdings umdenken. Mit insgesamt vier Passierscheinabkommen zwischen 1963 und 1966 gelang es ihm, die Mauer durchlässiger zu machen. In ihm wuchs die Erkenntnis, dass nur eine Entspannung der politischen Großwetterlage eine Verbesserung der Verhältnisse für die Menschen ermöglichen würde, unabhängig von den tiefen ideologischen Gräben, die die Machtblöcke in Europa trennten. Auch seine eigene Partei, die SPD, stand – geprägt durch die Erfahrungen der Weimarer Republik – dem Kommunismus distanziert gegenüber, eine Haltung, die durch die Zwangsver­ einigung der SPD in Ostdeutschland mit den Kommunisten zur SED 1946 noch bestärkt wurde. Dazu kamen Funktionäre von Vertriebenenverbänden wie Herbert Hupka, der Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion war, die sich gegen seine Politik

Karl-Heinz Schubert | Willy Brandt spricht auf dem »Tag der Heimat«  Berlin, 6. September 1959 | Fotografie | Landesarchiv Berlin

stemmten. Als Präsident der Landsmannschaft Schlesien lehnte er den endgültigen Verzicht auf die deutschen Ostgebiete östlich von Oder und Neiße ab. Hupka wechselte im Februar 1972 zur CDU und war einer der Abgeordneten, die beim Misstrauens­ votum gegen Brandt stimmten. In den 1960er Jahren entwickelte Brandt zusammen mit Egon Bahr das Konzept des »Wandels durch Annäherung«, das auch Verhandlungen mit kommunistischen Regimen einschloss, um Erleichterungen für die Menschen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs zu erreichen. Damit trug er langfristig dazu bei, diesen zunächst durchlässiger zu machen und letztendlich die Spaltung des Kontinents erträglicher zu gestalten. Verträge mit der Sowjetunion, Polen, der Tschechoslowakei und der DDR wurden ausgehandelt; Brandt erhielt für seine Poli­tik der Verständigung 1971 den Friedens­nobelpreis.

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Grenzfragen Ein Prüfstein für die deutsche Außenpoli­tik war die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Grenze zwischen Polen und Deutschland. Die Anerkennung des Status quo, die ein zentraler Bestandteil des Ausgleichs mit den Ländern Osteuropas war, war für die Vertriebenen in der Bundes­republik indes ein Sakrileg. Trotz des erheblichen Widerstands der politischen Opposition aus der CDU/CSU und Abweichlern aus der eigenen Partei hielt

Grenzpfahl an der Oder-Neiße-Grenze Foto-Donath (Bildarchiv) | 1951 | Fotografie | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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Marie Marcks | »Geist von Helsinki«  Heidelberg, 1973/1975 | Federzeichnung; 18,2 × 27,1 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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Brandt an seiner Politik fest. Das vermitteln auch die Protokoll­ auszüge, die die erste Beratung der Ostverträge im Bundestag im Februar 1972 dokumentieren. Der damalige Oppositionsführer Barzel versuchte, die Schwächen der Ost­verträge herauszu­ stellen, wobei er befürchtete, dass die Interessen der Deutschen im Osten nicht gewahrt und die Wiedervereinigung als Staatsziel aufge­geben würden.

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Das Misstrauensvotum Im Frühjahr 1972, als die Ostverträge im Bundestag ratifiziert werden sollten, spitzte sich die Situation zu. Einige Abgeordnete der Koalition kündigten dem Bundeskanzler ihre Unterstützung auf. Damit stand die parlamentarische Mehrheit der sozialliberalen Koalition infrage. Die Opposition initiierte ein Misstrauens­ votum, was nach Meinung vieler politischer Beobachter zum Fall des Bundeskanzlers Brandt führen würde. Am 27. April 1972 kam es zur parlamentarischen Kraftprobe: Brandt wurde als Bundes­ kanzler bestätigt. Für die Wahl Barzels zum Bundeskanzler fehlten zwei Stimmen. Wie sich später herausstellte, war das überraschende Votum durch die Bestechung zweier Abgeordneter aus der CDU/CSU-Fraktion mit jeweils 50 000 DM durch die Staatssicherheit der DDR zustande gekommen.1 Die Fernsehübertragung der Abstimmung zeigt den CDU/CSU-Oppositionsführer Barzel, der kopfschüttelnd auf seine unerwartet einge­tre­te­ ne Niederlage reagiert. Im November folgte dann ein triumphaler Wahlsieg Brandts mit einer Kampagne, die ganz auf seine Person zugeschnitten war (»Willy wählen«). Wie hoch die Fallhöhe zwischen der Entspannungspolitik Brandts und einer ideologisch geprägten konservativen Politik eines Bundeskanzlers Barzel gewesen wäre, beschreibt im März 1972 anlässlich der Debatten um die Ostpolitik im Deutschen Bundestag die Chefredakteurin und spätere Herausgeberin der ZEIT, Marion Gräfin Dönhoff:2 Die Verzögerung bzw. die Ablehnung der Verträge würde zu einem erheblichen Vertrauensverlust der Bundesrepublik in West und Ost führen. Das wäre mit der Frage verbunden, wie verlässlich denn die Deutschen noch seien. Sie spricht von einem »naiven Glauben« der CDU-Opposition, wenn diese meine, sie könne die von Brandt entworfenen Vereinbarungen einfach übernehmen. Ein Scheitern der Verträge hätte eine internationa­le Aufwertung der DDR zur Folge, was nicht das Ziel der Partei sein könne, die das Erbe Adenauers verwalte. Die Bundesrepublik gebe dann das Heft des Handelns in der Außenpolitik aus der Hand. Die Alternative, nach einem Misstrauens­ votum als Regierungspartei inhaltliche »Retuschen« an den Verträgen vorzu­nehmen und sie anschließend zu ratifizieren, sei in höchstem Maße unglaubwürdig. Sie wirft der CDU vor, dass es ihr nicht um die Sache, sondern allein um den Machterwerb gehe. Was ihre außenpolitischen Ziele angehe, sei eine klare Linie nicht erkennbar.

Ausblick Willy Brandt eröffnete mit seiner damaligen Politik eine außen­ politische Perspektive, die – hat man die politischen Rahmenbedingungen der 1950er und 1960er Jahre im Blick – utopisch schien. Sein Scheitern hätte das außenpolitische Geschehen verändert. Der Kalte Krieg hätte sich verschärft, viele zivilgesellschaftliche Initiativen in Osteuropa gegen die dortigen Macht­ haber hätten, wenn überhaupt, später eingesetzt oder wären nicht zum Tragen gekommen.

Literatur Bahr 2019; Barzel 1998; Grau 2009. 1  Wolf 1997, S. 261; Grau 2009; Misstrauensvotum gegen Brandt: StasiKarten lüften das letzte Geheimnis, in: Spiegel online vom 22. Dezember 2005 (abgerufen am 20.12.2022). 2  Marion Gräfin Dönhoff, Wenn Barzel Kanzler wäre …, in: Die Zeit vom 24. März 1972.

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27. April 1972: Rainer Barzel wird Bundeskanzler

Bernd Rother

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Vorbemerkung  Der nachfolgende Text geht über die Darstellung einer historischen Möglichkeit an einem Wendepunkt deutscher Geschichte hinaus. Das »Geländer«, an das wir uns in der Darstellung von Möglichkeitsräumen halten, wird hier verlassen, weitergehende kontrafaktische Gesichtspunkte werden hier ausgelotet.

»Von den stimmberechtigten Abgeordneten wurden abgegeben 260 Stimmen, von den Berliner Abgeordneten 11 Stimmen. Von den 260 stimmberechtigten Abgeord­ neten haben für den Antrag – mit Ja – gestimmt 249, mit Nein 8 Abgeordnete; 3 Stimmen sind Enthaltungen. Von den Berliner Abgeordneten haben 10 Abgeordnete mit Ja und 1 Abgeordneter mit Nein gestimmt; keine Enthaltung. Nach Art. 67 Abs. 1 des Grundgesetzes ist als Nachfolger des Bundeskanzlers gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags auf sich vereinigt. Die absolute Mehrheit der stimmberechtigten Abgeord­ neten beträgt, wie Sie wissen, 249 Stimmen. Ich stelle fest, dass der von der Frak­tion der CDU/CSU vorgeschlagene Abgeordnete Dr. Barzel die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestags erreicht hat.« Mit diesen Worten schließt Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel am 27. April 1972 um 13:22 Uhr das erste konstruktive Misstrauensvotum in der deutschen Parlaments­ geschichte ab. Das allseits erwartete Ergebnis ist eingetroffen: Rainer Barzel, Fraktionsvorsitzender von CDU und CSU im Bundestag und Parteichef der Christdemokraten, löst den Sozialdemokraten Willy Brandt als Bundes­kanzler ab. Die bisherige Regierung von SPD und FDP hat vorgesorgt. Kistenweise sind vor der Abstimmung Kopien wichtiger Akten abtransportiert worden, die neue Regierung beklagt sogar, es fehlten an vielen Stellen auch die Originale. Aber das ist das geringste der zahlreichen Probleme, vor denen der neue Kanzler steht. Im Bundestag verfügt er bei offenen Abstimmungen über keine Mehrheit, die Abweichler aus den Reihen der bisherigen Regierungskoalition, die ihm in geheimer Wahl zur Macht verholfen haben, trauen sich nicht aus der Deckung. Der überarbeitete Entwurf des Bundeshaushalts für 1972 scheitert Anfang Mai durch ein Stimmenpatt. Auch außerhalb des Parlaments muss die Regierung um ihr Überleben kämpfen. Barzels Ansehen in der Bevölkerung ist schon seit Jahren schlecht, die dubiosen Umstände des Regierungswechsels mit dem Vorwurf des Stimmenkaufs lassen seine persönlichen Umfragewerte vollends in den Keller rauschen.

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Schon in den drei Tagen zwischen der Ankündigung des Misstrauensantrags und der erfolgreichen Abstimmung haben Hunderttausende aus Protest dagegen und um Willy Brandts Verbleib im Kanzleramt zu erreichen, die Arbeit niedergelegt oder sind auf die Straße gegangen. Nie zuvor hat es in der Bundes­ republik eine derartige Welle politischer Streiks gegeben. Über 400 000 Menschen beteiligten sich. Das war aber nur der Auftakt. Nach dem 27. April tritt ein, was Beobachter vor der Abstimmung befürchteten, sollte Barzel gegen den populären Brandt siegen: Am 1. Mai demonstrieren Millionen, Belegschaften besetzen in diesen Tagen Betriebe und fordern von DGB und SPD den Aufruf zum Generalstreik gegen die Verfälschung des Wahlergebnisses von 1969. Sie erklären, nicht zu ruhen, bis Barzel seinen Rücktritt oder wenigstens Neuwahlen noch vor Jahresende ankündigt. Vergleiche mit der Absetzung der SPD-geführten preußischen Regierung durch den reaktionären Reichskanzler Franz von Papen am 20. Juli 1932 werden angestellt. Die Vorstände von SPD und DGB haben größte Mühe, ihre Mitglieder von illegalen Aktionen abzubringen. Sogar Polizisten solidarisieren sich mit den Protestierenden. Teile der Jusos verlieren den Glauben an den Marsch durch die Institutionen und laufen zur DKP oder zu maoistischen Gruppen über, die Baader-Meinhof-Gruppe nutzt die Vorgänge im Parlament für ihre Aufrufe zum bewaffneten Kampf. Auch außenpolitisch steckt die Minderheitsregierung in einer Sackgasse. Die Sowjetunion, Polen und die DDR verweigern die Neuverhandlung der bereits fertiggestellten Ostverträge, die Barzel vor dem Misstrauensantrag angekündigt hatte. Die Verbündeten der Bundesrepublik sind ebenfalls nicht glücklich über den Regierungswechsel in Bonn. Frankreich, Großbritannien und Italien hatten Brandts Kurs klar begrüßt, die Skandinavier sowieso. Entscheidend aber ist die Haltung der USA. Einerseits schlägt das Herz von Präsident Richard Nixon für die neue Regierung von Barzel; die Republikanische Partei sieht in CDU und CSU ihre natürlichen Partner. Brandt hat er immer misstraut, für den USPräsidenten ist der bisherige Bundeskanzler Sozialist und damit womöglich ein Fellow Traveller der Kommunisten. Andererseits setzen auch Nixon und sein Nationaler Sicherheitsberater Henry Kissinger auf Entspannung in den Beziehungen zu Moskau, stehen damit Brandts Kurs näher als dem von CDU/CSU. Die Weltmacht USA leidet unter einem Imperial Overstretch, ausgelöst durch Vietnamkrieg und Währungskrise, und braucht dringend einen Abbau des Systemkonflikts mit Moskau. Hardliner innerhalb der Union, angeführt vom CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß, wollen die Ostpolitik der Vorgängerregierung gänzlich beenden und lassen sich auch nicht durch Druck aus Washington, Paris und London davon abbringen. Zusammen mit der Springer-Presse (Bild, Welt) setzen sie alles daran, den Versuch des neuen Kanzlers zu torpedieren, eine

andere Ost­politik als Brandt zu betreiben, nicht aber sie gänzlich zu beenden. Ihre Zukunft ist die Vergangenheit, zurück zu Konrad Adenauer. Nach der Sommerpause kommt Bewegung in die politische Szene in Bonn. Angeführt von Hans-Dietrich Genscher, unter Brandt Bundesinnenminister, setzt sich in der FDP der Flügel durch, der bereit ist, Barzel zu tolerieren, sofern er die Ostpolitik im Kern fortsetzt. Der zögerliche Ex-Außenminister Walter Scheel soll im Gegenzug 1974 von Union und FDP zum Bundespräsidenten gewählt werden. Polen und die Sowjetunion sind nach einer Anstandspause aus eigenem Staatsinteresse zu neuen Verhandlungen bereit und zwingen die DDR, sich dem anzuschließen. Die Ergebnisse unterscheiden sich nicht groß von jenen, die Brandts Unterhändler Egon Bahr bereits erzielt hatte. Bundeskanzler Barzel erreicht immerhin, dass die Sowjetunion eine Erklärung der Bundesregierung hinnimmt, die Verträge stünden nicht im Widerspruch zum Streben nach einer friedlichen Wiederver­ einigung Deutschlands. In der CDU lässt sich Helmut Kohl die Unterstützung für Barzel mit dem Parteivorsitz und der Aussicht auf die Kanzlerkandidatur 1977 bezahlen. Aber die CSU kann der Kanzler nicht überzeugen. Die Stimmen der FDP und der CDU reichen nicht aus, nur mit Hilfe der SPD kommen die Verträge durch den Bundestag. Verbittert ob seiner Niederlage zieht sich Strauß aus der Bundespolitik zurück und lässt sich zum bayerischen Ministerpräsidenten wählen. Von dort aus setzt er die Aufkündigung der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU im Bundestag durch und bereitet die bundesweite Ausdehnung seiner Partei vor. In den vorgezogenen Neuwahlen im Frühjahr 1973 wird die SPD erstmals stärkste Partei, erreicht aber nicht die erhoffte absolute Mehrheit. CDU und FDP erleiden starke Verluste, stehen ohne Mehrheit da, die nun in allen Bundesländern präsente CSU wird zum Zünglein an der Waage. Willy Brandt tritt als SPD-Vorsitzender zurück und übernimmt die Präsidentschaft der Sozialistischen Internationale, sein Nachfolger an der Spitze der Partei wird NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn, nachdem sich Helmut Schmidt aus der Politik verabschiedet hat und an die Spitze des Mannesmann-Konzerns getreten ist. Die Bildung einer neuen Regierung erweist sich als äußerst schwierig, die Verhandlungen ziehen sich in die Länge und dauern bei Redaktionsschluss noch an.

Literatur Baring 1982; Rother 2022.

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Der kleine Zettel mit der grünen Schrift ist eine Hinterlassenschaft aus dem Erbe einer Frau, die aus einer katholischen Familie vom Niederrhein stammt. Der Leser des handgeschriebenen Zettels staunt über ein »Glaubensbekenntnis«, das außer in der äußeren Form wenig mit dem christlichen Glaubensbekenntnis zu tun hat. Es ist eine Schmähschrift gegen Bundeskanzler Willy Brandt. Aber auch andere Sozialdemokraten wie Bundes­präsident Gustav Heinemann und der Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner werden wenig schmeichelhaft dargestellt. Entgegen der ersten Annahme ist dieser Text kein Einzelstück aus einem christlichkonservativen Milieu. Es gibt mindestens zwei weitere Nachweise mit einem jeweils leicht veränderten Text: einmal als ma­schi­ nenschriftliches Manuskript, einmal als kartoniertes Papier. Das »Glaubens­ bekenntnis« scheint also auf den unterschiedlichsten Wegen Verbreitung ge­funden zu haben, quasi als analoges Social-Media-Produkt. Verfasser und genaues Datum sind nicht bekannt. Auf der maschinenschriftlichen Variante steht die Jahresangabe »1970«, d. h. ein Jahr, nachdem Brandt zum Bundeskanzler gewählt wurde. SPJ

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»Deutsch-Katholisches Glaubensbekenntnis der Wähler 1970«  Bundesrepublik Deutschland, um 1970 | Papier, Tinte, hand­ geschrieben; 13,5 × 10,5 cm | Privatbesitz

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Sichtlich bewegt nahm Willy Brandt am 10. Dezember 1971 den Friedensnobelpreis in Oslo entgegen. Der Festakt war für den 57-jährigen SPD-Politiker eine Preisverleihung der besonderen Art, die ihn nach Norwegen zurückführte, wo er 1933 nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten als junger Sozialist Zuflucht gefunden hatte. Als Bürgermeister, Außen­ minister und Bundeskanzler – so das Nobelpreiskomitee in seiner Begründung  – habe Brandt im Namen des deutschen Volkes wichtige Impulse für eine fried­liche Annäherung zwischen Ost und West gesetzt. Neben seiner neuen Ostpolitik, die auf Abrüstung und Aussöhnung zielte, würdigte das Komitee Brandts Aktivitäten zur Förderung des europäischen Gedankens. Die Porträtmedaille mit Lorbeerzweig erinnert an den vierten und bislang letzten Friedensnobelpreisträger aus Deutschland, für den Frieden »so wenig wie die Freiheit ein Urzustand [war], den wir vorfinden«. LSG

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Helmut Diller | Medaille zum Nobelpreis Bundesrepublik Deutschland, 1971 | Silber, geprägt; Durchmesser 4 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

Die Verträge mit den osteuropäischen Nachbarn waren wichtige Meilensteine im Zuge der neuen Ostpolitik der SPD unter Willy Brandt. Der Ratifizierung durch den Bundestag im Mai 1972 gingen massive politische Auseinandersetzungen voraus, an der sich auch Klaus Staeck – Grafiker, Rechtsanwalt und SPD-Mitglied – mit einer selbst finanzierten Plakataktion beteiligte. Staeck, politischer Künstler in der Tradi­ tion von John Heartfield, verwendete für sein Plakat eine Fotografie von Harry Oakes vom April 1945 aus dem Konzen­tra­ tionslager Bergen-Belsen kurz nach der Befreiung durch britisch-kanadische Truppen. Die Aufnahme zeigt Mike Lewis – wie Oakes Mitglied der britischen Army Film & Photography Unit – mit einem Bulldozer Leichen in ein Massengrab schiebend. Bereits bei seiner Veröffent­lich­ ung an Anschlagsäulen in Heidelberg und Bonn löste das Plakat heftige Reak­­­tio­ nen aus. Heute ist diese Form der Instrumentalisierung grausamer Verbrechen und menschlichen Leidens im Zuge einer politischen Kampagne aus Gründen der Menschenwürde nur noch schwer vorstellbar. MS

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Klaus Staeck | »Wir sind für die Ostverträge, Herr Barzel!«  Fotografie: Peter Popp | Bonn, 28. März 1972 | picture-alliance / dpa

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1961

1961

»Daraus folgt, daß ich Ihnen die Situation einmal sehr klar darstellen muß, die so ist, daß, wenn es um Berlin zu kriegerischen Handlungen kommen sollte, sie vom ersten Augenblick an mit nuklearen Waffen ausgefochten werden müssen, wenn der Westen überhaupt eine Aussicht haben soll, dort zu siegen.«

Bundeskanzler Konrad Adenauer, Protokoll der Sitzung des Engeren Bundesvorstands, 7. Februar 1962

Furcht – Mauerbau Oder: Die BerlinKrise löst die atomare Katastrophe aus

Stefan Paul-Jacobs

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Am 13. August 1961 begann der Bau der Berliner Mauer. Sie war die steingewordene Manifestation der Auseinandersetzung zwischen Ost und West im Kalten Krieg. Der Mauerbau war eine Reaktion der DDR-Regierung auf die wachsende Abwanderung von Arbeitskräften in den wirtschaftlich prosperierenden Westen. Um diese zu stoppen, wurden an der Sektoren­ grenze zwischen Ost- und West-Berlin zunächst provisorische Grenzsperren und dann eine feste Mauer errichtet. Mitten in Berlin wurde die Ost-West-Konfrontation so unmittelbar sichtbar. In der geteilten Stadt standen sich US-amerikanisches und sowjetisches Militär wenige Meter voneinander getrennt gegenüber. Es war ihre erste direkte Konfrontation seit der Luftbrücke 1948/49, als die Sowjetunion die Zugangswege nach West-Berlin blockiert hatte. Der Erfolg der Luftbrücke ließ 1949 die Sowjets schließlich einlenken. Eine militärische Eskalation wurde vermieden. Die politischen Krisen während des Kalten Krieges in den 1950er und 1960er Jahren erfolgten vor dem Hintergrund einer nuklearen Bedrohung. Seit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki befürchteten die Zeitgenossen den Einsatz atomarer Waffen. Renommierte Wissenschaftler, Politi­ ker, aber auch Bürger wandten sich in Briefen, Petitionen und Demonstrationen gegen diese apokalyptische Aussicht. Das Jahr 1961 war aber auch das Jahr, in dem in Deutschland das erste kommerziell genutzte Atomkraftwerk ans Netz ging. Die neue Technologie wurde als Möglichkeit gefeiert, langfristig die Energieversorgung zu sichern. Die Atomkraft übte auf die Zeitgenossen gleichzeitig Faszination und Schrecken aus. Der erste Satz des Godesberger Programms der SPD vom November 1959 bringt diese Ambivalenz eindrucksvoll auf einen Nenner: »Das ist der Widerspruch unserer Zeit, daß der Mensch die Urkraft des Atoms entfesselte und sich jetzt vor den Folgen fürchtet.«1 Checkpoint Charlie Nur wenige Bilder lassen die Gefahr einer Eskalation zwischen den Supermächten so greifbar erscheinen wie die inzwischen ikonische Fotografie vom 27. Oktober 1961, die an der Grenzübergangsstelle Checkpoint Charlie entstand. Sie zeigt, wie sich sowjetische und amerikanische Panzer direkt gegenüberstehen.

Wäre diese fast 16 Stunden andauernde angespannte Situation eskaliert, hätte dies den Beginn eines dritten Weltkriegs be­ deuten können. Die Entsendung des luftbrückenerfahrenen Generals Lucius D. Clay durch den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy nach Berlin war ein deutliches Zeichen dafür, dass die Vereinigten Staaten nicht bereit waren zurückzustecken. In seinen ersten Äußerungen regte Clay an, Bulldozer einzusetzen, um die Mauer in Teilen einzureißen. Vorbereitungen auf einen Atomkrieg Nach dem Ersteinsatz von Atombomben in Japan 1945 wurde diese neue Waffe weiterentwickelt. Sie sollte nicht nur strategisch einsetzbar, sondern auch taktisch verwendbar sein. Ein begrenzter lokaler Einsatz von kleineren landgestützten atomaren Geschossen sollte konventionelle Gefechtsfeldwaffen ergänzen. In der Heeresdienstvorschrift 100/2 der Bundeswehr aus dem Jahr 1959 heißt es: »Das Bild des Krieges ist ständigem Wandel unterworfen. Neue Kriegsmittel geben ihm immer wieder veränderte Formen, doch bleiben Wesen und Gesetze des Krieges stets die gleichen.«2 Ausgangspunkt der Betrachtungen war der Einsatz eines 20 Kilotonnen schweren »Atomkörpers« mit einem Sprengpunkt in 600 Meter Höhe, wobei darauf hingewiesen wurde, dass es noch keine praktischen Erfahrungen mit dieser Form des Krieges gebe. In einem konventionellen Krieg wären die Vereinigten Staaten unterlegen gewesen.3 Dies sollte durch Nuklearwaffen kompen­ siert werden. In einem der US-amerikanischen Szenarien ging man von einem luftgestützten Atomwaffeneinsatz gegen 70 Städte und Industriezentren der Sowjetunion aus, falls es zu einem Angriff aus dem Osten gekommen wäre. Wohin dies hätte führen können, zeigt das Luftwaffenmanöver »Carte Blanche« im Jahr 1955. Nach einem von der Sowjetunion auf deutschem Boden vorgetragenen Angriff war eine atomare Abwurfzone von Hamburg bis München geplant. Das Szenario ging von 1,7 Millionen Toten aus. Das Manöver sorgte in der westdeutschen Öffentlichkeit für große Unruhe. Auch in der DDR richtete sich das Militär auf einen Nuklearkrieg ein. In der Publikation Taktik des allgemeinen Gefechts im Kernwaffenkrieg, einer Übersetzung aus dem Russischen, wird die Wirkung der »Kernwaffe« ausführlich beschrieben. Ähnlich wie im Westen werden die enormen »Einsparungen« an konven­ tionellen Waffen wie Geschützen, Granaten, Sprengbomben und nicht zuletzt von Soldaten beschrieben, die der Einsatz von Atomwaffen ersetzen könne. »Der Einsatz von Kernwaffen ermöglicht es, dem Gegner in kurzer Zeit eine entscheidende Niederlage zuzufügen, Breschen und Lücken in seine Gefechtsordnungen zu schlagen und mit den eigenen Truppen zügig vorzustoßen.«4 68

Panzer am Checkpoint Charlie  Berlin, 27. Oktober 1961 | Fotografie | dpa

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Einen festen Frontverlauf gäbe es nicht mehr, die Kampffläche weite sich aus. Das Gefecht werde »komplizierter, tiefer, dynamischer«.5 Wie sich die militärstrategischen Überlegungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt hatten, zeigt die Empfehlung amerikanischer Stabschefs 1958, bei einer erneuten Blockade der Zufahrtswege nach Berlin Nuklearwaffen einzusetzen. Nach dem Mauerbau wurde diese Option unter dem Präsidenten John F. Kennedy verworfen, weil er befürchtete, dass die Situation eskalieren könnte. Wäre die Mauer noch in der Amtszeit seines Vorgängers Dwight D. Eisenhower hochgezogen worden, wäre die Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen wahrscheinlicher gewesen.6

Regieren im Atomkrieg – der »Regierungsbunker« Um im Falle eines Atomkriegs handlungsfähig zu sein, gab die Regierung den Bau eines Atombunkers rund 20 Kilometer südlich von Bonn entfernt in Auftrag. Der »Regierungsbunker« sollte der deutschen Bundesregierung als »Ausweichsitz der Verfassungsorgane des Bundes« und als unterirdische Führungsanlage im Verteidigungsfall (»V-Fall«) dienen. Der Bunker entstand unter großer Geheimhaltung in den Jahren 1962 bis 1972. In zahlreichen Übungen wurde bis in die 1980er Jahre der Ernstfall geprobt. Bis zu 1000 Teilnehmer aus den Leitungsstäben der obersten Bundesbehörden nahmen an diesen Übungen teil. Das Szenario wirkt befremdlich: Aus einem unterirdischen Bunker wird ein zerstörtes und nuklear verseuchtes Land regiert. In den Akten der Übung »Fallex 66« findet sich sogar eine Rede des Bundespräsidenten, die nach der Ausrufung des Ernstfalls gehalten worden wäre.7 Zivilschutz – »Überleben im Atomkrieg« Die Bevölkerung wurde auf den Krieg vorbereitet, unter anderem durch Informationen zum zivilen Luftschutz. Gleichwohl wirkten angesichts der Folgen eines nuklearen Krieges die empfohlenen Selbstschutzmaßnahmen eigentümlich unangemessen: Die vorgeschlagenen Maßnahmen waren zum Teil erschreckend konventionell. Sie orientierten sich an den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, wofür die »Aktion Eichhörnchen« steht. So wurde eine 1961 vom deutschen Bundesernährungsministerium ins Leben gerufene Initiative genannt, die Privathaushalte zum Anlegen eines Nahrungsmittelvorrats bewegen sollte, um den nächsten Krieg überleben zu können. Die Furcht vor einem Atomkrieg war allgegenwärtig. Schon 1951 veröffentlichte Arno Schmidt die Erzählung Schwarze Spiegel. Sie spielt im Jahr 1960. Dort hat die Atomkatastrophe fünf Jahre vorher stattgefunden. Der vermeintlich einzig Überlebende irrt durch die entvölkerte norddeutsche Landschaft, ohne sich zurechtzufinden. Im Jahr 1977wurde das Spiel Fulda Gap – The First Battle of the Next War aufgelegt: Das atomare Schlachtfeld liegt in Mittelhessen, die Spielgestalter orientierten sich an Karten und Handbüchern der NATO. 1983 erschien das äußerst erfolgreiche Jugendbuch von Gudrun Pausewang Die letzten Kinder von Schewenborn, das die atomare Apokalypse ausmalte.

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Kuba-Krise Unmittelbarer war die Gefahr eines Atomkriegs 1962 während der Kuba-Krise, jenem Kipppunkt zwischen der drohenden nukle­ aren Vernichtung und einer langsam sich einstellenden Ent­ spannung in den 1970er Jahren. In der Kuba-Krise blickte die Welt in den Abgrund. Die Amerikaner richteten eine Seeblockade um Kuba ein und waren bereit, sowjetische Schiffe, die sich der Insel

»Jeder hat eine Chance«  Bundesamt für zivilen Bevölkerungsschutz | Bonn, November 1961 | Papier, Druck; 21 × 14,5 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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näherten, an der Weiterfahrt zu hindern. Ein Frachter wurde von vier sowjetischen U-Booten begleitet, die mit nuklearen Sprengköpfen bestückte Torpedos bereithielten. Als die Amerikaner die U-Boote mit Wasserbomben zum Auftauchen zu zwingen suchten, drängten die U-Boot-Kapitäne auf ihren Einsatz, was ihnen aber von der höheren Kommandoinstanz verweigert wurde. Auch auf amerikanischer Seite wurde Zurückhaltung geübt. So wurden parallel amerikanisch-sowjetische Geheimverhandlungen geführt, in denen der Rückzug der Sowjets aus Kuba und als Gegenleistung dafür der Abzug US-amerikanischer Raketen vom Gebiet der Türkei vereinbart werden konnte. Für die Kuba-Krise findet im Bewusstsein der Zeitgenossen das Wort »um Haaresbreite« Verwendung. Die Einrichtung eines »heißen Drahts« zwischen Moskau und Washington sollte in Zukunft die Gefahr eines Atomkriegs aus Missverständnissen und damit »aus Zufall« heraus verhindern.

Literatur Dorn 2002. 1  Zit. n. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, November 1959, S. 5. 2  Zit. n. Hammerich 2006, S. 93. 3  Hammerich 2006, S. 100. 4  Reničenko 1971, S. 75. 5  Ebd., S. 82. 6  Hammerich 2006, S. 110. 7  Vgl. »Kriegstagebuch III. Korps« (BArch Freiburg BMVg. BH 7-3/854).

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Im »Regierungsbunker« – die ersten Tage des Dritten Weltkriegs

Jörg Diester

Das Schriftstück aus dem Bundesarchiv ist unscheinbar: ein dünnes Thermopapier mit blassen, durchscheinenden Buchstaben. Es handelt sich um eine Rede des Bundespräsidenten an die deutsche Bevölkerung nach Ausbruch des Dritten Weltkriegs. Diese Rede sollte vom sogenannten Regierungsbunker aus gehalten werden, der zwischen 1962 und 1972 in einer riesigen Tunnelanlage etwa 20 Kilometer südlich von Bonn eingerichtet wurde. Die Planungen für den Bunker reichen bis ins Jahr 1950 zurück. Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung hatte 1966 zwei Reden für die NATO-Übung »Fallex 66« vorbereitet, die bei Ausbruch von Kampfhandlungen durch den Bundeskanzler und den Bundespräsidenten gehalten werden sollten. Die Rede des Bundespräsidenten ist Teil des sogenannten Kriegstagebuchs des III. Korps der Bundeswehr.1 Der vermeintliche Krieg, über den dort berichtet wird, ist nie ausgebrochen. Das unscheinbare Schreiben wird zwar als »offen« klassifiziert, aufgrund der Aufnahme in das geheime Kriegstagebuch blieb es aber fast 50 Jahre unter Verschluss – wie alle Unterlagen, die mit den dort beschriebenen Übungen des Ernstfalls in Zusammenhang stehen. Die militärische Lage wird im Kriegstagebuch des III. Korps zu Beginn der Übung folgendermaßen beschrieben: »43–46  Orange-Divisionen befinden sich westlich der Spurwechsel­ zone.« Gemeint ist ein Angriff von Truppen des Warschauer Pakts, angeführt von der Roten Armee (Codename »Orange«) auf Deutschland. Der Ablauf des Manövers (üb = übungshalber), bei dem der Beginn des Dritten Weltkriegs und die im Regierungsbunker eingeleiteten Maßnahmen durchgespielt werden, kann anhand der Akten genau rekonstruiert werden: 17. Oktober 1966. Die Bundesregierung und oberste Bundes­ behörden werden aus der Bundeshauptstadt Bonn in den geschützten »Ausweichsitz der Verfassungsorgane des Bundes« im Ahrtal verlegt.

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Um 9:15 Uhr betreten die Mitarbeiter des Bundeskanzleramts den Bunker, um 10 Uhr diejenigen des Bundespräsidialamts. Das Notparlament, der Gemeinsame Ausschuss, verlässt Bonn um 10:15 Uhr. Um 13 Uhr erreicht Dr. Heinrich Krone die unterirdische Anlage. Als Bundesminister für die Angelegenheiten des Bundes­ver­ teidigungsrats übernimmt er die Aufgabe des »Bundespräsi­ denten (üb)«. Den »Bundeskanzler (üb)« stellt das Bundes­ innenministerium mit seinem Minister Dr. Paul Lücke. An seine Stelle rückt im Regierungsbunker Staatssekretär Dr. Werner Ernst als »Bundesinnenminister (üb)«. Zwischen 15:30 Uhr und 16:55 Uhr findet die erste Sitzung des   Gemeinsamen Ausschusses (üb) statt, an dessen Tisch unter anderem Helmut Schmidt (späterer Bundeskanzler), Annemarie Renger (spätere Bundestagspräsidentin), Manfred Wörner (späterer Verteidigungsminister und NATO-General­sekretär)   und Wolfram Dorn (späterer Staatssekretär im Bundesinnen­ ministerium) als Abgeordnete des Deutschen Bundestags sitzen. Den Vorsitz hat Ernst Benda (späterer Bundesinnenminister). 17. Oktober, 21 Uhr. Aus dem Bunker in Ahrweiler wird der »Zustand der äußeren Gefahr« verkündet. Im Anschluss an die Nachrichtensendungen von Rundfunk und Fernsehen verliest der Bundeskanzler einen Aufruf an die Bevölkerung. Das Kriegstagebuch des III. Korps vermerkt dazu: »Mit Beginn des Angriffs kann für die frühen Morgenstunden des 19. Oktober gerechnet werden.« 18. Oktober, 0 Uhr. Laut NATO-Drehbuch überfallen »Orange«Truppen Österreich. Um 5 Uhr beginnt der Einmarsch in Griechen­land, um 7:15 Uhr in der Türkei. Die Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses erfahren erst vormittags aus der Zeitung von den Kampfhandlungen. 18. Oktober. Ab 11:05 Uhr gibt es auch »offizielle« Informationen im Bunker, unter anderem von Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel. Fatal: Zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Kampfhandlungen tagte der Gemeinsame Ausschuss und hätte durchaus über die Verschärfung der internationalen Lage samt Besetzung des Nachbarlands Österreich durch »Orange« informiert werden können. Tatsächlich ist der Ausschuss mit Flüchtlingsbewegungen innerhalb der Bundes­republik beschäftigt. Obwohl der Regierungsbunker bestens an Nachrichtennetze angeschlossen ist, werden bei »Fallex 66« weder Radio- noch Fernsehgeräte im Bunker aufgestellt, was durch das Notparlament bemängelt wird. Als Entscheidungsgrundlage dienen ausschließlich die bei den Lagebesprechungen vorgelegten Informationen. Mit dem verspäteten Eintreffen wichtiger Nachrichten wird der Gemeinsame Ausschuss zum nachträglichen »Abnicken« wichtiger Beschlüsse degradiert. 18. Oktober, 19:30 Uhr. Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (üb), im Bunker einquartiert im Bauwerk 22

Rede des Bundespräsidenten  1966 | Thermopapier, maschinenschriftlich | BArch Freiburg BMVg. BH 7-3/854

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in direkter Nachbarschaft eines WDR-Radiostudios, veröffent­ licht eine Verlautbarung des Bundeskanzlers (üb): »Mit der Verkündung des Zustandes der äußeren Gefahr ist die Befehls- und Kommandogewalt auf Grund des Artikels 65 a des Grundgesetzes auf mich übergegangen. In dieser ernsten Stunde erwarte ich von allen Angehörigen der Bundeswehr, daß sie ihre Pflichten gegenüber dem deutschen Volk treu erfüllen. Zusammen mit unseren Verbündeten hat die Bundeswehr die Aufgabe, Deutschland und die freie Welt vor einem Angriff zu schützen. Wir wollen den Frieden. Die Bundesregierung und alle verantwortungsvollen politischen Kräfte in Deutschland unternehmen alles, um ihn zu erhalten. Dieser Wille zum Frieden und zur Bereitschaft zur Verteidigung sind unteilbar.«

19. Oktober, frühe Morgenstunden. Der Angriff von »Orange«Streitkräften auf das Territorium der Bundesrepublik hat begonnen. 19. Oktober, 9:30 Uhr. Die eingangs genannte Rede des Bundes­ präsidenten wird an Presseagenturen sowie an Radio- und Fernsehanstalten weitergegeben. Über der Rede finden sich im Adressfeld Begriffe wie »Hirnschale«, »Netzbruch« oder »Aderlass«, die als Beschreibung getarnter Einrichtungen der Bundeswehr dienen. 19. Oktober, 12:34 Uhr. Bundeskanzler Ludwig Erhard nimmt an einer Sitzung des Gemeinsamen Ausschusses im Regierungsbunker teil, in der über die militärische und zivile Lage informiert wird. Es ist der bis heute einzige bekannte Fall, dass ein amtierender Bundeskanzler »seinen« Bunker betritt. Er raucht – und schweigt. 19. Oktober, nach 13 Uhr. Dem Gemeinsamen Ausschuss wird während der laufenden Sitzung die längst im Kriegstagebuch abgeheftete Rede des Bundespräsidenten vorgelegt – dreieinhalb Stunden nach der Übergabe an die Presse! Das ZDF und mehrere Rundfunkanstalten senden längst – übungshalber. Bei den Mitgliedern des Gemeinsamen Ausschusses löst die verspätete Vorlage der Rede massive Kritik an der Öffentlichkeits­ arbeit der Bundesregierung aus. Wiederholt erfolgt die Informa­ tionsversorgung ziviler Übungsteilnehmer im Bunker mit starker zeitlicher Verzögerung. Am selben Nachmittag debattiert das Notparlament über den Einsatz von Kernwaffen, die aus dem Bestand der NATO auf bundesdeutschem Gebiet gezündet werden sollen. Doch während im Bunker noch diskutiert wird, ist der Dritte Weltkrieg draußen längst im Gange. Für die »Bundesregierung üb« ist es der erste Testlauf im Regierungsbunker. Elf weitere werden folgen. Zwölf Mal findet im Bunker der Dritte Weltkrieg – übungshalber – statt, über 20 000 Teil­ nehmer sind an den Übungen beteiligt.

Literatur Diester 2009.

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1  Das 1957 eingerichtete, 1994 aufgelöste III. Korps der Bundeswehr war u. a. für Übungen des   Vertei­ digungsfalls zuständig. In den »Kriegstage­ büchern« werden diese Übungen und die Maßnahmen von Kommandos, Behörden und Dienst­ stellen detailliert  beschrieben. Sofern nicht

anders nachgewiesen, stammen die folgenden Zitate alle aus dem »Kriegstage­buch III. Korps« (BArch Freiburg BMVg. BH 7-3/ 854). – Der vorliegende Beitrag basiert auf einem 2015 im Internet erschienenen Text (https://archiv. ausweichsitz.de/content/ view/233/ 39/index.html) sowie auf weiteren Recherchen des Autors zum Thema.

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Unterhalb der Weinberge des Ahrtals entstand ab 1962 ein 17,3 Kilometer langer Bunkerbau, der der Regierung der Bundes­ republik im Falle eines (Atom-)Kriegs einen sicheren Aufenthaltsort bieten sollte: Nahe Bad Neuenahr-Ahrweiler, etwa 20 Kilo­meter südlich der damaligen Hauptstadt Bonn gelegen, plante und baute das Innenministerium den sogenannten Ausweichsitz der Verfassungs­ organe des Bundes im Krisen- und Verteidigungsfall zur Wahrung von deren Funktionstüchtigkeit (AdVB). Neben nüchtern-funktional ausgestatteten Küchen, Waschräumen und Opera­ tionssälen umfasste die 1971 fertiggestellte unterirdische Anlage auch eine Suite für den Bundespräsidenten. Ihr Mobiliar stand in starkem Kontrast zu den kahlen Wänden des Bunkers: Die Raumausstatter wählten ein Ensemble mit fuchsiafarbenen Bezügen aus. Die leuchtende Farb­ gebung lässt den zeitgenössischen Einfluss der Pop Art in die atomsichere Welt des höchsten Amtes im Staat erkennen. In Kenntnis seines Verwendungszwecks wirkt der spielerisch-dekorative Aspekt des Mobiliars heute geradezu bizarr und bringt doch das Paradox des Atom­ zeit­alters auf den Punkt. JF

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Zweisitzer aus der Präsidentensuite im Regierungsbunker in Bad NeuenahrAhrweiler  Bundesrepublik Deutschland, um 1970 | Holz, Metall, Textilfaser, bespannt, geklammert, gesteckt, geschraubt; 72 × 160 × 80 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

Der Schweizer Maler und Grafiker Hans Erni hat mit diesem eindrücklichen Plakat eine Ikone der Antikriegsbewegung geschaffen. Für die »Schweizerische Bewegung für den Frieden« entwickelte er das Motiv eines Totenkopfs, auf dem sich Umrisse von Kontinenten finden und aus dem ein Atompilz nach oben schießt. Ein ebenso einfaches wie eindrückliches Bild, das die Angst vor einem Atomkrieg einfängt, die sich auch auf anderen zeitgenössischen Plakaten findet, die mit ähnlichen Symbolen arbeiten. Das hier vorliegende Plakat ist als Material für den Schulunterricht aufgearbeitet worden. Hans Erni wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Anerkennung in der Schweiz versagt, weil ihm Sympathien für den Sozialismus vorgeworfen wurden. Mit seinen Motiven stellte er ein wirkmächtiges Bildarsenal für progressive Reformbewegungen bereit. Er setzte sich künstlerisch für das Frauenstimmrecht (1946), die Rettung des Waldes (1983) und den Kampf gegen den Klimawandel (1991) ein. SPJ Literatur: Giroud 1993.

Hans Erni | »Atomkrieg Nein«  Stuttgart, 1954 | Offsetdruck; 72,2 × 57,4 cm | © 2022 Werke Hans Erni bei Nachlass Hans Erni, Luzern

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Die Firma Mestemacher, seit 1871 Groß­ bäckerei für Vollkornbrote und internatio­ nale Brotspezialitäten, freute sich 1961 über die steigende Nachfrage nach ihren Produkten. Die vom Bonner Bundes­ ministerium für Ernährung ins Leben gerufene »Aktion Eichhörnchen« empfahl den Haushalten in der Bundesrepublik das Anlegen von Vorräten, mit denen sie zwei Wochen über die Runden kommen könnten. Die Aktion war eine Reaktion auf die Zuspitzung des Kalten Krieges durch den Mauerbau, der Kriegsängste weckte. In dieser Situation entwickelte die Firma eine Blechdose, die sogenanntes Vorratsbrot enthielt. Diese Dose war mit einer Banderole versehen, die das Logo eines Eichhörnchens mit einer Nuss zwischen den Vorderpfoten zeigt. Die Kampagne des Bundes wurde mit einem erheblichen finanziellen Aufwand betrieben. Fernsehspots wurden geschaltet und Broschüren wie Der König auf dem Hafersack in hoher Auflage verteilt. SPJ

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Brotdose für »Mestemacher Vorratsbrot« der »Aktion Eichhörnchen«  Mestemacher K. G. | Gütersloh, 1961 | Blech, Papier; 25,2 × 9,3 × 9,3 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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1952

1952

»Die Wiedervereinigung in einem neutralisierten und damit isolierten Gesamtdeutschland wäre eine Wiedervereinigung unter kommunistischen Vorzeichen.«

Bundeskanzler Konrad Adenauer in einem Interview mit der »Politisch-Sozialen Korrespondenz« (5. Jg., Nr. 1, S. 3), erschienen am 1. Januar 1956

Lockungen – Stalin-Noten Oder: Der Weg in die Wieder­ vereinigung

Stefan Paul-Jacobs

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Am 10. März 1952 unterbreitete die Sowjet­ union den westlichen Bestatzungsmächten eine Note »Über den Friedensvertrag mit Deutschland«. Dies war gegen die Westintegration der Bundesrepublik Deutschland gerichtet. Das Angebot Stalins an die westlichen Besatzungsmächte, über ein mögliches Gesamtdeutschland zu verhandeln, war herausfordernd. Dabei sollte ein solch vereinigtes Deutschland auf jegliche Bündniszugehörigkeit verzichten. Zugestanden wurde die Aufstellung einer ihrem Umfang nach eingeschränkten Armee. Die Form dieses Staatswesens war in der Note offengelassen worden. Die Einberufung eines gesamtdeutschen Beirats sollte das Vorhaben begleiten. Seither wird darüber gestritten, wie die Deutschland-Noten Stalins zu verstehen seien: als ernst gemeintes Angebot oder als geschicktes Propagandamanöver?1 War die Sowjetunion ernsthaft an einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten interessiert, um einen »neutralen« Puffer in Mitteleuropa in der Konfrontation mit den westlichen Alliierten zu etablieren, oder hatte die Initiative Stalins das Ziel, die Einfluss­ sphäre der Sowjetunion zu erweitern? Europa oder deutsche Wiedervereinigung? 1952 war ein wichtiges Jahr in der Geschichte der jungen Bundesrepublik: Galt es die Westbindung des Landes zu vertiefen mit der Folge, dass die Einheit Deutschlands zurückzustehen habe – oder sollte der Einladung Stalins gefolgt werden, unter dem Verzicht auf eine Bündniszugehörigkeit ein vereintes Deutschland herbeizuführen? Der Zeitpunkt der Stalin-Noten war nicht zufällig gewählt. Die Bundesrepublik und ihre Partner in Westeuropa erwogen vor allem angesichts des 1950 ausgebrochenen Korea-Krieges die Begründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Die Verhandlungen zur Gründung der EVG setzten Ende 1950 ein. Konrad Adenauer verband mit dem Beitritt zu einer solchen Gemeinschaft die Absicht, eine volle Souveränität der Bundes­republik zu erlangen und das Besatzungsstatut abzulösen. So wurde parallel dazu über einen »Deutschlandvertrag« ver­ handelt. Kurz vor der Unterzeichnung des Vertragswerks über die EVG drohte mit den Stalin-Noten eine Verzögerung des Verhandlungsprozesses einzutreten. Obwohl die Note nicht an die

Bundesrepublik Deutschland gerichtet war, sondern an die westlichen Besatzungsmächte, folgte eine prompte Ablehnung des sowjetischen Vorschlags durch Bundeskanzler Adenauer. Ihm ging es darum, eine innenpolitische Debatte über eine derartige Vereinigung abzuwenden, um die (West-)Integration der Bundesrepublik nicht zu gefährden. Der EVG-Vertrag wurde 1952 zwar unterzeichnet, scheiterte aber 1954 am französischen Parlament, das das Abkommen nicht ratifizierte. Damit war das Projekt einer gemeinsamen westeuropäischen Armee gescheitert. Ausgleich mit Israel Ein weiteres zentrales außenpolitisches Anliegen Adenauers war die Aussöhnung mit Israel. Parallel zu den Stalin-Noten fanden im März 1952 in den Niederlanden die Verhandlungen über Wiedergutmachungsleistungen der Bundesrepublik an Israel und das jüdische Volk statt.2 Im Unterschied zur Bundesrepublik weigerte sich die DDR, finanzielle Forderungen Israels anzuerkennen. Dies, zumal der »erste sozialistische Staat auf deutschem Boden« sich nicht in der rechtlichen Nachfolge des Deutschen Reiches sah. Nach schwierigen Verhandlungen wurde das Luxemburger Abkommen zwischen der Bundesrepublik und Israel am 10. September 1952 unterzeichnet. Die DDR als Staat der deutschen Einheit Damals sah sich die DDR als Vorreiter einer deutschen Einheit. Die von Johannes R. Becher verfasste Nationalhymne begann mit den Zeilen: »Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, laß uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland.« In zahlreichen Flugschriften wurde der gesamtdeutsche Anspruch der DDR unterstrichen. Die Hinwendung der jungen Bundesrepublik zum Westen wurde aufs Heftigste attackiert. Dieser Irrweg, so hieß es, würde die Spaltung Deutschlands vertiefen und den »imperialistisch-kapitalistischen« Kräften zugutekommen. Der Frieden wäre damit dauerhaft gefährdet. Die Reaktion in der Bundesrepublik Die Reaktion in der Bundesrepublik Deutschland auf das Angebot Stalins war gemischt. Dabei nahm der Arbeitnehmer-Flügel der CDU eine durchaus offene Haltung ein:

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»Wir sehen in der Note der Sowjetunion vom 10. März 1952 einen Erfolg der Politik der Bundesregierung, da damit ein Gespräch zwischen den Mächten veranlaßt wird, auf denen

»Europäische Einheit / so oder so«  Fürth, 1952 | Offsetdruck; 84 × 59,5 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

Kariel Gardosh (Dosh) | »Verzeiht mir! …« Die Vergangenheit (rechts) In: Tages­zeitung »Ma’ariv« | Israel, 14. Mai 1965 | Papier, Druck | Familie Gardosh

»Heute: Deutsche Nationalarmee / Morgen: Deutsche Sowjetrepublik«  Befreiungskomitee für die Opfer totalitärer Willkür e. V. | Frankfurt am Main, 1952 | Farboffsetdruck; 59,2 × 42 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

die Verantwortung für die Teilung Deutschlands ruht. Wir bitten die Bundesregierung, bei ihren Beratungen mit den Westmächten sich dafür einzusetzen, daß auch diese nichts unversucht lassen, das von ihnen gleichfalls bejahte Ziel der deutschen Wiedervereinigung zu verwirklichen.«3

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Noch Jahre nach dem Eingang der Stalin-Noten wurde im Bundes­ tag heftig darüber gestritten, ob von der damaligen Regierung Adenauer eine historische Chance verpasst worden sei. In einer großen außenpolitischen Debatte im Januar 1958 hielten die Abgeordneten Thomas Dehler von der FDP und Gustav Heinemann

von der SPD der damaligen Bundesregierung Versagen vor. Da beide als Bundesminister dem ersten Kabinett Adenauer angehört hatten, wurden ihre Äußerungen mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Dehler warf dem Bundeskanzler vor, er habe die Wiedervereinigung nicht »ernsthaft erstrebt«. Dabei fasste er zusammen, welche Chancen die Stalin-Note geboten hätte: »Stalin hat uns damals angeboten: gesamtdeutsche freie Wahlen unter Viermächtekontrolle, Freiheit der Presse […], Friedensvertrag, Abzug aller Truppen innerhalb eines Jahres, nationale Bewaffnung des wiedervereinigten Deutschlands – von 300 000 Mann war die Rede –, eine Rüstungsproduktion für diese 300 000 Mann […], keine Neutralisierung – nicht Neutralität war die Bedingung, sondern es war lediglich gefordert, daß Deutschland nicht in eine Militärallianz eintritt –, Einverständnis damit, daß eine gesamtdeutsche Regierung sofort, wenn sie gebildet ist, in Beziehungen zu allen anderen souveränen Völkern tritt. […] Was war damals die Gegen­ bedingung? Verzicht auf EVG!«4 Die SPD, die der Politik Adenauers ohnehin misstraute, wollte das von Stalin vorgeschlagene Procedere ändern. Die Durchführung freier Wahlen sollte unabdingbare Voraussetzung für alles Weitere sein. Die SPD hatte das Menetekel der Zwangsvereinigung vor Augen, als ihre Partei in der DDR 1946 mit der KPD zur SED verschmolzen wurde. Bundeskanzler Adenauer, der sich der Initiative Stalins von Anfang an verweigerte, fürchtete eine Entwicklung, die zu einer kommunistischen Übernahme des westlichen Teils Deutschlands führen werde: die »Sowjetisierung« des neuen Staates (Parteidiktatur, Verfolgung der Opposition, Einführung der Planwirtschaft). Dass in der DDR durchaus solche Vorstellungen bestanden, machte Ministerpräsident Otto Grotewohl in einer Rede vor der Volkskammer vier Tage nach der Veröffentlichung der StalinNote deutlich. Er gehe davon aus, dass sich die Wirtschaft eines wiedervereinigten Deutschlands nicht am westeuropäischen Schuman-Plan beteiligen werde, sondern entsprechend den Grundsätzen des Fünfjahresplans der DDR organisiert werde.5

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Ein gesamtdeutscher Staat? Geht man von der weiteren Entwicklung der DDR aus, wäre dieses wiedervereinigte Land womöglich vom Bild eines »neuen sozialistischen Menschen« (Walter Ulbricht)6 geprägt worden ebenso wie von Plattenbauten, Stalin-Denkmälern und Kampfgruppen. Im Westen des Landes wäre die Grenze zu Frankreich zunehmend undurchdringlicher geworden. Eine zeitlose künstlerische Intervention, kreiert 16 Jahre nach den Stalin-Noten, spürt dieser Art fiktiver Zukunft nach. Den Mittelpunkt eines experimentellen studentischen Filmprojekts

des Regisseurs Gerd Conradt bildet eine rote Fahne: Studenten tragen sie durch die Magistralen der (West-)Berliner Stadtteile Steglitz, Friedenau und Schöneberg in einer Art Staffellauf parallel zum laufenden Verkehr ins Rathaus Schöneberg. Zielpunkt und Schlussbild ist der geschichtsträchtige Balkon des Rathauses, an dem eine rote Fahne angebracht wird.7 Im Jahr 1952 gründete die Regierung der DDR das Museum für Deutsche Geschichte in Ost-Berlin. Es erhielt die Aufgabe, eine marxistische Darstellung der deutschen Geschichte in ihrer Gesamtheit zu entwickeln und zu präsentieren. Das neue Museum, dem keine vergleichbare Institution in der Bundesrepublik gegenüberstand, demonstrierte damit den Anspruch der DDR, das Ziel der Einheit für ein künftiges Gesamtdeutschland zu vertreten. Die Sammlung des Museums befindet sich heute im 1987 in West-Berlin gegründeten Deutschen Historischen Museum und bietet einiges an Relikten sozialistischer Zukunftsentwürfe aus den 1950er und 1960er Jahren: Wandbilder, Plakate, Münzen, Broschüren, Modelle von landwirtschaftlichen Musterbetrieben bis hin zu Holzbaukästen, mit denen Kinder die sozialistischen Architekturvisionen nachbauen konnten. Die Textzeile aus der Nationalhymne »Und der Zukunft zugewandt« ist staatliches Programm und steht in Kontrast zu den eher pessimistischen Zukunftserwartungen auf westlicher Seite in den frühen Jahren der Bundesrepublik.8

Literatur Bonwetsch 2008; Diner 2015b; Meyer 1970; Radkau 2017; Zarusky 2002. 1  Vgl. Bonwetsch 2008; Zarusky 2002; Meyer 1970. 2  Vgl. Diner 2015b. 3 Evangelischer Arbeitskreis der CDU, März 1952, zit. von Gustav Heinemann in der Bundestagsdebatte vom 23. Januar 1958, vgl. Protokoll Deutscher Bundestag – 3. Wahlperiode – 9. Sitzung, 23. Januar 1958, S. 401f. 4  Vgl. ebd., S. 392f. (Hervorhebung im Original).

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5  Vgl. Tägliche Rundschau, 15. März 1952.

6  Vgl. »10 Gebote für den neuen sozialistischen Menschen«, verkündet von Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag am 10. Juli 1958. 7  Farbtest. Die Rote Fahne (1968) ist ein Übungsfilm von Gerd Conradt, der im Kameraseminar von Michael Ballhaus entstand. Das auf dem Lehrplan stehende Thema war »Farbe«. 8  Vgl. Radkau 2017, S. 58f., 297–299.

Bild-Raum und Bild-Zeit einer sozialistischen Utopie Walter Womackas »Unser Leben« am Haus des Lehrers, BerlinAlexanderplatz Oliver Sukrow

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Anlässlich des 15. Jubiläums der Staatsgründung der DDR wurde 1964 nach dreijähriger Bauzeit an einer wichtigen städtebaulichen Stelle Ost-Berlins das Ensemble von Haus des Lehrers und Kongresshalle eröffnet. Die architektonische Planung stammte von Hermann Henselmann (1905–1995), auf dessen Betreiben hin der Berliner Künstler Walter Womacka (1925–2010) mit der Gestaltung des Wandbilds Unser Leben am Haus des Lehrers beauftragt wurde. Womacka war erst kurz zuvor zum Leiter der Malereiabteilung an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst BerlinWeißensee ernannt worden, hatte aber bereits Erfahrungen mit architekturbezogener Kunst sammeln können, etwa in der Planstadt Eisenhüttenstadt in den 1950er Jahren.1 Das Ensemble von Haus des Lehrers und Kongresshalle markiert die Verbindung der Prachtmagistrale Karl-Marx-Allee mit dem politischen Repräsentationsraum rund um den Alexanderplatz, der mit den Kaufhäusern, dem Fernsehturm und dem Marx-Engels-Forum die Kulisse für ein damals noch geplantes und später als »Palast der Republik« ausgeführtes »Zentrales Gebäude« die Ost-Berliner Mitte besetzen sollte.2 Die Architektur Henselmanns – einige Kritiker sehen darin eine Rezeption von Oscar Niemeyers Kongressgebäude in Brasília (1958–1960) – repräsentiert aber nicht nur einen städtebaulichen Meilenstein, sondern gilt gemeinhin auch als ein Monument des Übergangs des stalinistischen Historismus der 1950er Jahre zur »internationalen Moderne« der 1960er Jahre.3 Der stilistische Umbruch hatte künstlerische Konsequenzen, mussten doch nun neue Wege gegangen werden, um politische und/oder funktionale Botschaften an die Betrachterinnen und Betrachter zu vermitteln. Ist beispielsweise noch bei den Gebäuden am ersten Bauabschnitt der Karl-Marx-Allee zwischen Frankfurter Tor und Strausberger Platz der Einsatz von Bauplastik und klassischen Architekturelementen wie Säulen oder Ornamenten zu beobachten, so mussten in der funktionalistischen Architektur Wandbilder als Applikationen

Walter Womacka | Mosaik »Unser Leben« am Haus des Lehrers  Ost-Berlin, 1964 | Steinfliesen; 7 × 125 m | dpa

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angebracht werden.4 Die Architektur Henselmanns stand für den Aufbruch in die poststalinistische Zeit und fungierte im wahrsten Sinne des Wortes als Bedeutungs-Träger, nämlich als Bildfläche für Womackas riesiges Kunstwerk, das aus 800 000 Mosaik­ steinen besteht; eine Technik, die nicht nur für großes handwerkliches Können steht, sondern auch für den Außenstandort witterungsangepasst ist. Unser Leben umschließt das Haus des Lehrers auf allen vier Seiten auf Höhe des dritten und vierten Geschosses. Hinter dem Wandbild befanden sich die (fensterlosen) Magazinräume der bedeutenden pädagogischen Zentralbibliothek. Durch die quadratische Grundfläche von 44 × 15 Metern ergeben sich zwei lange und zwei kürzere Bildflächen. Da es keinen Bildanfang und kein Bildende und damit keine dominante Erzählrichtung gibt, kann das 125 Meter lange Werk von allen vier Seiten her gelesen

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werden. Die künstlerisch-politische Aussage des Bildes hängt eng mit der Funktion des Hochhauses für die Lehrerinnen- und Lehrerausbildung zusammen: Dargestellt wurde die sozialistische Wunschvorstellung einer Welt, die durch polytechnische Bildung geprägt und zumeist von der »Jugend« gestaltet ist.5 Vor dem geschichtlichen Hintergrund der frühen 1960er Jahre steht Womackas Bild für den Beginn eines »utopischen Jahrzehnts« in der DDR, denn auffälligerweise häufen sich zwischen Mauerbau 1961 und dem Machtwechsel von Walter Ulbricht auf Erich Honecker 1971 gesellschaftliche und technokratische Zukunftsvorstellungen. Auch Unser Leben passt in diese Entwicklung. Als Spezifikum weist das Wandbild eine starke Nähe zu Zeitutopien auf, in denen nicht ein Ort in der Zukunft (Raumutopien), sondern zumeist eine gesellschaftliche Ordnung in einer fernen Zukunft beschrieben wird.

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Auf der Nordseite (Karl-Marx-Allee) werden die physikalischchemischen Wissenschaften und ihre Anwendungsgebiete durch Wissenschaftler in charakteristischen Posen repräsentiert. Der Bildhintergrund ist abstrakt-geometrisch. Zusätzliche Entfremdung erfährt das Bild durch den collagehaften Einsatz anderer Materialien wie Metall und Plastik, die Gegenstände darstellen und plastisch aus dem Mosaikhintergrund hervortreten. Die längere Ostseite (Jacobystraße) ist von links nach rechts betrachtet den Themen »Völkerfreundschaft«, dem Einsatz von Jugendlichen für den Staat – etwa als Erntehelferin oder als Soldat – und der Freizeitgestaltung gewidmet, wobei der Künstler hier eigene Werke zitiert, etwa sein Gemälde Am Strand (1962). Die Inhalte der Südseite (Vorplatz Kongresscenter) sind der industriellen Produktion in einem Eisenwerk entlehnt. An dieser Stelle treffen körperliche und geistige Arbeit, symbolisiert durch einen malenden Künstler an der Leinwand, zusammen und bilden dadurch das Ideal der Einheit von »Künstler und Volk« ab, wie es beim kulturpolitischen Programm des »Bitterfelder Weges« ab 1959 von der SED gefordert wurde. Dazu passt auch die Dialog­ situation zweier Arbeiter und einer Arbeiterin mit dem Künstler, die auf der Südseite zu sehen ist. Schließlich verdichten sich auf der Westseite (Alexanderstraße), die aufgrund ihrer städtebaulichen Ausrichtung die Hauptansichtsseite ist, die Motive und Symbole zur angesprochenen Zeitutopie einer sozialistischen Bildungs- und Wissensgesellschaft. Zu sehen sind eine Mutter bei der Erziehung im Garten, ein Lehrer vor Schülerinnen und Schülern im polytechnischen Unterricht (Astronomie, Geografie, Mathematik, Chemie, Biologie), zwei Kosmosmodelle und ein in Metall gearbeitetes Atommodell, das das zentrale Paar mit der Friedenstaube in der Mitte der Komposition rahmt, schließlich nach rechts eine Gruppe von diskutierenden Arbeitern über einer Zeitung sowie ein Paar aus der Landwirtschaft, das unter einer strahlenden Sonne die reichen Früchte seiner Arbeit präsentiert. Dabei bleibt auf allen vier Seiten der Bild-Raum, also der Ort der Geschehnisse, indifferent und entzieht sich der genauen Bestimmung. Man kann mit Alfred Doren (1927) von einer »Wunschzeit« sprechen, die zeitliche Ebene steht im Vordergrund, das »Wo« der Bildutopie, der »Wunschraum«, ist unwichtig.6 Das Wandbild hat mehrere Ansichtsseiten, wobei ganz bestimmte Fixpunkte im Stadtraum eine besonders gute Betrachtung ermöglichen. Womackas Künstlerkollege und Zeitgenosse, der mit dem mexikanischen Muralismo vertraute spanische Künstler Josep Renau, kritisierte diese Art von Formalismus in der Wandbildrezeption, weil sie, so Renau, mit einem überholten Betrachterbild operiere. Der moderne Mensch bewege sich dynamisch im Stadtraum, folglich müssten auch die Werke der architekturbezogenen Kunst mehrere Blickpunkte und Sicht­ achsen zulassen.7 In der Tat lässt sich Womackas Bild nur schwer im Vorbeilaufen oder -fahren aufnehmen. Es verlangt nach

einer konzentrierten Betrachtung und unterstreicht damit seine würdevolle Aura. Die sozialistische »Wunschzeit« wird hier in anspielungsreicher Ikonografie inszeniert, die im Einklang mit den politischen Vorstellungen einer langsamen Entwicklung des Sozialismus im eigenen Land und mit den ästhetischen Prämissen von Henselmanns in sich ruhender skulpturaler Archi­tektur steht. Insofern ist Womackas Unser Leben eine hervor­ragende zeitgeschichtliche Quelle und eines der zentralen Werke der architekturbezogenen Kunst der DDR, die zwar nicht am ästhetischen Status quo rüttelte, aber ikonische Bekanntheit entwickeln konnte.8

Literatur Doren 1924–1925 (1927); Flierl 2008; Kossel 2022; Kuhirt 1964; Mehnert 1965; Reimann 1969; Renau 1972; Weidner 1965; Womacka 2004. 1  Womacka 2004. 2  Reimann 1969. 3  Flierl 2008. 4  Weidner 1965. 5  Kuhirt 1964; Mehnert 1965. 6  Doren 1924–1925 (1927). 7  Renau 1972. 8  Kossel 2022.

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Unter der Marke »Mentor« gab die 1938 gegründete Herstellerfirma Häuser-, Dorfund Stadtbaukästen heraus. In den 1950er Jahren kam ein Baukasten mit dem programmatischen Slogan »Wir bauen auf!« hinzu. Aus den rund 300 Bauteilen aus Buchenholz ließen sich nach den beiliegenden Vorlagen eine Schule, eine Sporthalle, ein Bahnhofsgebäude, ein Theater oder ein Wohnblock errichten. Unübersehbar ist der Bezug zur damaligen Baudoktrin und zu dem Prestige-Bauprojekt der DDR, der Berliner Stalinallee (ab 1961 Karl-Marx-Allee): Die 1950 formulierten 16 Grundsätze des Städtebaues, die sozialistische Ideale mit nationaler Bautradition zu verbinden suchten, lagen den bis Mitte des Jahrzehnts entstandenen Bauten des Prachtboulevards zugrunde. Die Fassa­ den orientierten sich an sowjetischen Vorbildern, gepaart mit Motivanleihen bei älteren Architekturstilen, insbesondere dem preußischen Klassizismus. Die Wohn­ ungen dieser »Arbeiterpaläste« boten vergleichsweise hohen Komfort. SW Literatur: Grundsätze des Städtebaues 1950.

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Mentor-Holzbaukasten »Wir bauen auf!« Baukastenfabrik Hugo Fritzsche KG | Nordhausen-Krimderode/Thüringen, 1953 | Karton, Druck, ca. 300 Bauteile aus Buchenholz; 21,2 × 30,5 × 5,2 cm (Verpackung) | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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Mit dem sich verschärfenden Ost-WestKonflikt, der sich ab 1950 in Korea kriegerisch entlud, gewann auch die Frage der militärischen Einbindung der Bundesrepublik Deutschland an Dringlichkeit. Dass die Bundesrepublik einer kontinentalen westlichen Defensivallianz angehören sollte, zog in der DDR heftige Reaktionen propagandistischer Art nach sich. Eine Schießscheibe mit der Zweckumschrift »Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung der Heimat« illustriert die Ablehnung einer Wiederbewaffnung Westdeutschlands im Rahmen einer Europäischen Verteidigungs­gemeinschaft (EVG). Zu sehen sind zwei junge DDR-Bürger, die munter auf einen westdeutschen Soldaten in einer Trommel einschlagen. Seine Uniform, die mit Zielmarkierungen ver­ sehen ist, weist ihn als Nationalsozialisten aus. Die Staatsflaggen der UdSSR und der DDR mit Friedenstaube sollen dagegen die brüderliche Verbundenheit der RGWStaaten in ihrem Kampf um Frieden darstellen. Der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) wurde 1949 in Reaktion auf den Marshallplan gegründet. Zwar scheiterten die EVG-Pläne 1954, doch folgte 1955 alternativ die Aufnahme der BRD in die Westeuropäische Union (WEU) und in die NATO. LSG Literatur: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1990.

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Schießscheibe mit patriotischen Motiven gegen den EVG-Vertrag  Deutsche Demokratische Republik, um 1954 | Sperrholz, gebeizt; Durchmesser 50,5 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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»Die Berliner Situation ist Krieg, ein Showdown.«

Robert A. Lovett, stellvertretender Außenminister der USA, 10. Dezember 1948 (zit. n. Arnold Offner, Another Such Victory. President Truman and the Cold War. 1945–1953, Stanford 2002, S. 267)

Systeme – Kalter Krieg Oder: Die BerlinBlockade führt zum Krieg

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Die Teilungen Deutschlands und Koreas galten als Parallelereignisse. Jedenfalls insoweit, als beide Länder infolge des Zweiten Weltkriegs von sowjetischen und US-amerikanischen Truppen besetzt worden waren. Was in Europa »West« war, hieß in Asien »Süd«; was in Europa »Ost« hieß, war in Asien »Nord«. Sowohl auf dem europäischen Kontinent wie auf der koreanischen Halbinsel entstanden im Jahr 1948 zwei Staaten, die sich in ihrem sozialen und politischen System entgegenstanden. Beide suchten die (Wieder-)Vereinigung unter dem jeweiligen gesellschaftlichen Vorzeichen und beide wurden von der jeweiligen weltpolitischen Führungsmacht – der Norden durch die Sowjetunion, der Süden durch die USA – unterstützt. Auf der koreanischen Halbinsel brach mit dem am 25. Juni 1950 erfolgten Angriff des Nordens auf den Süden ein entsetzlicher Krieg aus, dem insgesamt an die vier Millionen Menschen zum Opfer fielen und der territorial am 27. Juli 1953 an seinem Ausgangspunkt als Waffenstillstandslinie endete. Wie kam es, dass auf der koreanischen Halbinsel der Gegen­ satz zwischen Ost und West zu einem »heißen Krieg« führte, während es an der deutsch-deutschen Demarkationslinie trotz des Krisenjahrs 1948/49 beim Kalten Krieg blieb? Der Kalte Krieg setzte 1947 ein. Die zuvor verbündet gewesenen Mächte USA und Sowjetunion waren zu Gegnern geworden. Grundlage der Feindschaft war der Systemkonflikt zwischen Kapitalismus und Kommunismus, der durch die Anti-Hitler-Koalition überlagert worden war. Mit der Truman-Doktrin bekräftigte der damalige amerikanische Präsident 1947 das Prinzip, »freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen«. Dies war gegen die Sowjetunion, bald auch gegen China und die von diesen unterstützten kommunistischen Bewegungen gerichtet. Die Auseinandersetzungen um die globale Herrschaft wurden nicht nur in Europa und Asien, sondern auch in Afrika sowie in Süd- und Mittelamerika ausgetragen.1

Währungsreformen in Ost und West Die Berlinkrise in den Jahren 1948/49 wurde durch die in den westlichen Besatzungszonen am 21. Juni 1948 herbeigeführte Währungsreform ausgelöst. Unter größter Geheimhaltung vor­

Henry Ries | Ein »Rosinenbomber« im Anflug auf Tempelhof  Berlin, 17. Oktober 1948 | Fotografie | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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bereitet, wurde anstelle der bis dahin gültigen Reichsmark die D-Mark eingeführt. Drei Tage später folgte die sowjetische Zone mit der Einführung einer eigenen Währung. Damit war eine künftige Eigenstaatlichkeit der drei westlichen Zonen sowie der östlichen Besatzungszone eingeleitet. In Reaktion auf die Ausdehnung der Währungsreform auf die westlichen Sektoren Berlins blockierten die Sowjets die Zufahrtswege nach WestBerlin und schränkten auch die Gas- und Stromversorgung der Westsektoren erheblich ein. Mit einer gewaltigen logistischen Kraftanstrengung, der Luftbrücke, gewährleistete der Westen mit einer riesigen Flugzeugflotte die Versorgung der auf dem Landweg isolierten Stadt. Die Luftbrücke war nicht nur eine logistische Herausforderung. Sie wurde zu einer Ikone des Kalten Krieges. Daran hatten die West-Berliner einen großen Anteil. Anfang September 1948 wurde eine Massenkundgebung vor dem Berliner Reichstag mit 300 000 Teilnehmern abgehalten. Auf dieser Kundgebung richtete der damalige Regierende Bürgermeister Berlins, Ernst Reuter, seine legendären Worte an die Weltgemeinschaft: »Ihr Völker der Welt! Ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, daß ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft, nicht preisgeben könnt!«2

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Zwei neue deutsche Staaten bei eingeschränkter Souveränität Gut zehn Tage nach der Währungsreform übergaben die Besatzungsmächte die sogenannten Frankfurter Dokumente an die Ministerpräsidenten der Länder. Sie führten zur Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949. Im Oktober folgte die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Die staatliche Spaltung Deutschlands war vollzogen. Die beiden deutschen Staaten waren jedoch in ihrer Souveränität beschränkt. In einer der ersten Amtshandlungen, die Bundeskanzler Konrad Adenauer am 21. September 1949 vornahm, stellte er auf dem Bonner Petersberg den drei Vertretern der westalliierten Besatzungsmächte sein Kabinett vor. Von da an galt das Besatzungsstatut. Die soge­nannte Alliierte Hohe Kommission (AHK) löste damit die bisherige Militärregierung ab. Dies bedeutete für die Bundesrepublik, dass in auswärtigen und militärischen Angelegenheiten die Alliierten eingreifen konnten, Änderungen am Grundgesetz bedurften ihrer Zustimmung und sie behielten sich Kontrollen in Verwaltung und Wirtschaft vor. Theoretisch konnten sogar alle bisherigen Rechte der Besatzungsmächte wieder an diese zurückgehen. Erst mit den Pariser Verträgen im Mai 1955 wurde das Besatzungsstatut vollständig aufgehoben, aus Besatzern wurden Verbündete. Am 10. Oktober 1949 empfing in Berlin-Karlshorst, dem Ort, an dem mit der Unterzeichnung der Kapitulation das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa besiegelt worden war, nunmehr Sitz der Sowjetischen Militär-Administration (SMAD), der Vertre-

Antrittsbesuch von Konrad Adenauer bei den Vertretern der westlichen Besatzungsmächte Bonn, 21. September 1949 | Fotografie | dpa

Funktionsübergabe von der Sowjetischen MilitärAdministration in Deutschland (SMAD) an die DDR-Regierung  ADN Zentralbild | Berlin-Karlshorst, 10. Oktober 1949 | Fotografie | BArch, Bild 183-S89742

ter der sowjetischen Besatzungsmacht den Ministerpräsidenten der drei Tage zuvor gegründeten DDR, Otto Grotewohl. Die militärische Verwaltung des Landes wurde in eine Sowjetische Kontroll­kommission (SKK) verwandelt. Im September 1955 erkannte die Sowjetunion juristisch der DDR Souveränität zu. Militärische Gesichtspunkte Die westlichen Bodentruppen waren Ende der 1940er Jahre der sowjetischen Übermacht im Falle eines Krieges konventionell unterlegen.3 So setzten die Vereinigten Staaten auf eine atomare Kriegsführung. Dabei waren sie ihrerseits mit einem angewachsenen atomaren Arsenal der Sowjetunion bei Weitem überlegen, die erst im August 1949 ihre Verfügung über diese Waffe bei einem Atombombenversuch demonstrierte.4 Bis 1949 stellten die USA 170 dieser Bomben her, bis 1951 sollten 270 dazukommen, zehn Jahre später waren es 12 300. Die Sowjetunion konnte nur einen Bruchteil davon produzieren (65 Bomben bis 1951). Dazu kam unterlegenes Fluggerät. Der Langstreckenbomber TU-4 konnte keines der strategisch wichtigen Ziele in den USA erreichen, demgegenüber besaßen die Vereinigten Staaten 521 atombombentüchtige Flugzeuge. Der Einsatz der Atombombe galt als letztes Mittel der USA, um sich der starken konventionellen Truppen der Sowjetunion, insbe­ sondere in Europa, erwehren zu können.

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Korea und Deutschland Zwischen den Ereignissen auf der koreanischen Halbinsel und in Mitteleuropa bestanden Gemeinsamkeiten wie Unterschiede. Während sich in Europa auf deutschem Boden die Mächte direkt gegenüberstanden, hatten die USA und die Sowjetunion die koreanische Halbinsel von ihren Truppen geräumt, was den kommunistischen Norden offenbar einlud, den Süden zu überfallen. Wie es um das Verhältnis der beiden Konflikträume – Deutschland und Korea – stand, erläuterte 1951 der amerikanische General MacArthur, Oberbefehlshaber der internationalen Truppen in Korea, einem Mitglied des US-Kongresses: »[…] dass wir hier mit Waffen Europas Krieg führen, während sich die Diplomaten dort mit Worten begnügen. Sollten wir in Asien den Krieg gegen den Kommunismus verlieren, wird Europa zwangsläufig fallen. Doch wenn wir siegen, wird Europa höchstwahrscheinlich dem Krieg entgehen und dennoch seine Freiheit bewahren. Wie Sie richtig sagen, müssen wir siegen. Es gibt keine Alternative.«5 In der DDR sah man die Dinge ähnlich, wenn auch umgekehrt. Walter Ulbricht, Generalsekretär des Zentralkomitees der SED, zog den Vergleich zwischen der Bundesrepublik und Südkorea und erklärte im August 1950: »Korea lehrt, dass eine solche Marionettenregierung wie die in Südkorea – oder man kann auch nennen die in Bonn – früher oder später doch vom Willen des Volkes hinweggefegt wird. Korea lehrt: Es ist nicht so fein gesponnen,

»Gestern Dresden / heute Korea / Morgen ganz Deutschland? / Nein! Deutsche an einen Tisch!« Deutsche Demokratische Republik, 1949 | Offsetdruck; 86 × 60,5 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

es kommt doch ans Licht der Sonnen. Das heißt: Die Bevölkerung, die den Frieden will, wird mithelfen, jede Kriegsvorbereitung rechtzeitig aufzudecken. Da aber die Völker den Frieden erhalten wollen, wird jede Kriegsaggression imperialistischer Mächte die Mehrheit jedes Volkes gegen sich haben. Und von den patriotischen Kräften des Volkes wird mit aller Kraft der Kampf geführt werden, um die Nester der Kriegsprovokation zu liquidieren, wie das in Südkorea gegenwärtig geschieht.«6 Die Befürchtung, die kriegerischen Ereignisse auf dem fernöstlichen Kriegsschauplatz könnten auf Europa übergreifen, ist reichhaltig dokumentiert. Plakate, Vortragsveranstaltungen, Propagandaaktionen, ja sogar Kinderlieder7 und Hellseherinnen8 künden davon, wie stark das Stichwort »Korea« die Öffentlichkeit im Osten und im Westen Deutschlands bewegte.

Literatur Buhite 1973; Klessmann/ Stöver 2008; Mastny/ Schmidt 2003.

1  Vgl. Mastny/Schmidt 2003, S. 36. 2  Vgl. Ranke, W. u. a. 1990, S. 240. 3  Vgl. Mastny/Schmidt 2003, S. 76ff. 4  Dass die Triebwerke dieses erfolgreichen Flugzeugs, das über mehrere Jahrzehnte im weltweiten Einsatz auch bei vielen Verbündeten der Sowjetunion war, ein Nachbau von legal importierten britischen Rolls-Royce-Triebwerken waren, ist eine kleine Volte der Geschichte. 5  Zit. n. Buhite 1973, S. 401. 6  Walter Ulbricht vor dem Parteiaktiv der SED am 3. August 1950, vgl. https://www. deutschlandfunk.de/ von-der-besatzung-zurkooperation-100.html (abgerufen am 22.12.2022).

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7  Ein Kinderlied lautete frei nach einem beliebten Schlager: »Ei ei ei Korea / der Krieg kommt immer näher / ham se keine Amis mehr / dann nehm se Europäer.« 8  Eine stadtbekannte Berliner Hellseherin konstatierte, »daß die Auseinandersetzung in Nordkorea einen  absoluten lokalen Charakter behalten werde«. Das Jahr 1952 sei ohne Gefahr für Europa, Deutschland und Berlin, »mit einem endgültigen Frieden auch in ideologischer Hinsicht« sei zu rechnen. Vgl. Berliner Montags­ echo vom 3. Juli 1950.

Auf der Titelseite des Magazins TIME wurde William H. Tunner als »Airlifter« gefeiert. Er war der »Vater« dreier Luft­ brücken, die im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit wesentliche strategische Bedeutung für das Vorgehen der Vereinigten Staaten hatten. Auf dem chinesisch-burmesisch-indischen Kriegsschauplatz richtete Tunner 1942 bis 1945 den Lufttransport von Indien nach China ein. Diesem Muster nach konnte Turner auch die Berliner Luftbrücke 1948/49 organisieren. Dabei wurden Millionen West-Berlinerinnen und West-Berliner über den Luftweg versorgt. Während des Koreakriegs im darauffolgen­den Jahr richtete Turner eine weitere Luft­brücke diesmal von Japan aus ein. Heute erinnert eine kleine Straße auf dem Gelände der ehemaligen Kaserne McNair Barracks im Berliner Stadtteil Lichterfelde an ihn. SPJ Literatur: Harrington 1998.

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»General Tunner, Airlifter«  In: TIME, Bd. 56, Nr. 25 | New York, 18. Dezember 1950 | Papier, Druck; 28 × 21 cm | Privatbesitz

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Als Abfangjäger für US-amerikanische Bomber gedacht, wurde die MikojanGurewitsch (MiG-15) zum sowjetischen Schreckgespenst am Himmel über Korea. Im Zweiten Weltkrieg konnten die Bomber aufgrund ihrer Flughöhe nur schwer bekämpft werden. Im Koreakrieg waren die propellergetriebenen Flugzeuge den düsengetriebenen Jägern jedoch unter­ legen. Die MiG-15 flog höher und erreichte beim Herabstürzen eine Geschwindigkeit, bei der die die Bomber begleitenden US-Jäger nicht mehr mithalten konnten. Die B-29-Verbände erlitten dadurch schwere Verluste. Dagegen ist die Douglas C-48 Skytrain, auch bekannt als »Rosinenbomber«, alles andere als ein Schreckgespenst: 1948/49 versorgte sie die Westberliner Bevölkerung während der vom sowjetischen Staatschef Josef Stalin verhängten BerlinBlock­ade über eine Luftbrücke mit Lebens­ mitteln und Gütern des täglichen Bedarfs. Ihren Spitznamen erhielt die Militärmaschine aufgrund von kleinen, mit Süßigkeiten gefüllten Fallschirm-Päckchen, die ver­mutlich auch Rosinen enthielten. DM

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Modelle des Jagdflugzeugs MiG-15 und eines »Rosinenbombers« (Douglas C-48 Skytrain)  Leipzig, um 2011 | Kunststoff, Lack; 7,6 × 21,3 × 21,3 cm (MiG-15), 12,7 × 41,1 × 61,4 cm (C-48 Skytrain) | Privatbesitz

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»Sollte der Krieg in Europa noch nicht zu Ende sein, wenn unsere ersten Bomben fertig sind, dann, so ließ mich Präsident Roosevelt wissen, sollten wir bereit sein, die Bomben in Deutschland einzusetzen.«

General Leslie R. Groves, Leiter des »Manhattan-Projekts«, Anfang Februar 1945 (zit. n. Leslie R. Groves, Now It Can Be Told, New York 1962, S. 184)

Davongekommen – Atom­bombe Oder: Wird 1945 eine Atombombe über Deutschland abgeworfen? Eine bloße Vorstellung, Ludwigs­hafen in der Tat, und doch weniger abwegig, als dies auf den ersten Blick erscheinen mag. statt Noch im Februar 1945 gab es Überlegungen auf amerikanischer Seite, eine Hiroshima Atombombe über Deutschland abzu-

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werfen, sollte sich der Krieg in Europa noch weiter hinziehen. Die Entwicklung der Atombombe war in den Vereinigten Staaten eingeleitet worden, um Deutschland darin zuvorzukommen. Deutschland war führend in der Forschung zur Kernspaltung gewesen, so in den 1920er Jahren an deutschen Universitäten und Forschungsinstituten in Göttingen, Berlin und München. Ein reger internationaler Austausch verband Physiker, Chemiker und Mathematiker untereinander. Mit der Vertreibung jüdischer Wissenschaftler aus Deutschland und dem faschistischen Italien fand ein »Wissenstransfer« in die Vereinigten Staaten statt, der dem Bau einer Atombombe zugute kam. Diese Wissenschaftler kannten den Stand der deutschen Atomforschung und waren entsprechend alarmiert.

Die militärische Lage Nach der alliierten Invasion in der Normandie versuchte die Wehrmacht um die Jahreswende 1944/45 mit der sogenannten Ardennenoffensive die militärische Initiative zurückzugewinnen. Operatives Ziel war der Hafen von Antwerpen. Damit sollte der alliierte Nachschub abgeschnitten und der Vormarsch gestoppt werden. Der Angriff begann kurz vor Weihnachten 1944, wobei die Wehrmacht zunächst erhebliche Geländegewinne erzielen konnte. Insgesamt waren auf beiden Seiten über eine Million Soldaten an der Schlacht beteiligt. Die Amerikaner hatten ihre größten Verluste in einer Landschlacht im Zweiten Weltkrieg hinzunehmen. Letztendlich scheiterte dieses letzte Aufbäumen der deutschen Wehrmacht. Die deutsche Gegenoffensive veranlasste den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, den militärischen Leiter des »Manhattan-Projekts«, des amerikanischen Atombombenprojekts, Leslie R. Groves, anzuweisen, einen Atombombenabwurf über Deutschland zu erwägen: »Bei einer Besprechung von Kriegs­ minister Stimson und mir mit Präsident Roosevelt kurz vor seiner

»Deutsche Offensive im Westen«  In: Völkischer Beobachter (Berliner Ausgabe), Nr. 340 | Berlin, 19. Dezember 1944 | Papier, Druck; 54 × 45 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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Abreise – ich denke, es war der 30. oder 31. Dezember 1944 – zeigte sich der Präsident bestürzt wegen der Ardennenoffensive. Er erkundigte sich bei mir, ob ich sowohl Deutschland als auch Japan bombardieren könne.«1 Auch Fachhistoriker sehen einen möglichen Zusammenhang zwischen einer möglicherweise erfolgreich gewordenen deutschen Gegenoffensive und dem Einsatz der Bombe. Der ehemalige Leiter des Forschungsbereichs »Zeitalter der Weltkriege« des Militärgeschichtlichen Forschungsamts, Karl-Heinz Frieser, äußerte sich wie folgt: »Die Beantwortung dieser Frage erfordert nicht viel Fantasie und lässt den Historiker erschaudern: Dann wäre wohl die erste Atombombe nicht auf Hiroshima, sondern auf eine deutsche Stadt abgeworfen worden.«2 Ein anderes militärisches Indiz für eine zeitliche Verlängerung des Krieges war die spätere Querung des Rheins durch die alliierten Truppen. Die deutschen Verteidiger suchten die Alliier­ ten daran zu hindern, wobei die strategisch wichtige Eisenbahnbrücke von Remagen gesprengt werden sollte. Nachdem dies jedoch scheiterte, gelang es den Amerikanern am 7. März 1945, den Rhein zu überqueren und einen Brückenkopf am östlichen Rheinufer zu errichten, was schließlich dazu führte, dass 300 000 deutsche Soldaten im Ruhrgebiet eingekesselt wurden. Die Kämpfe in Remagen schwächten die deutschen Truppen an anderen Stellen des Rheins, wo weitere Flussübergänge alliierter Soldaten möglich wurden.3 Zeitgenössische Beobachter vermuteten, dass die Eroberung der Brücke den amerikanischen Vormarsch erheblich verkürzte. General Eisenhower sprach von einem »Wunder«. Pessimistischerweise gingen die Alliierten davon aus, dass der Krieg womöglich bis Herbst 1945 dauern könnte. Angesichts eines solchen Zeithorizonts hätten die Amerikaner auch über den Einsatz einer Atombombe nachdenken können, um den Krieg in Europa zu verkürzen. Edward Teller, ein am »ManhattanProjekt« beteiligter Physiker und einer der Väter der Wasserstoffbombe, äußerte sich eindeutig: »Wenn der Krieg Deutschlands sich ein Jahr länger hingezogen hätte, dann hätten wir wahrscheinlich die Atombombe auf Deutschland geworfen.«4

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Atomphysiker im Kriegsdienst Nach der Machtübertragung an Hitler 1933 zwangen die Natio­ nalsozialisten viele Wissenschaftler in die Emigration. Der Nobelpreisträger Albert Einstein verblieb in den USA. In Deutschland waren weiterhin unter anderem tätig Otto Hahn, Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker und Manfred von Ardenne. Ende 1938 gelangen Otto Hahn und Fritz Straßmann die Spaltung von Atomen. Damit war der Bau von Kernkraft­ werken und neuartigen Bomben möglich geworden. Auf Initiative des Reichs­erziehungsministeriums gründete sich im Frühjahr 1939 die »Arbeitsgemeinschaft für Kernphysik«, der sogenannte

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Uran­verein, um die praktische Nutzung der Atomkraft weiter zu er­forschen. Der Physiker Siegfried Flügge veröffentlichte zwei Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in der Deutschen Allgemeinen Zeitung den Artikel Die Ausnutzung der Atomenergie. Darin schildert er eindrucksvoll, was die Spaltung eines Uran­ atoms für »phantastische Energien« freisetzen könne: Die Energie genüge, »um einen Kubikkilometer Wasser 27 Kilometer hoch zu heben, d. h. also etwa den Wasserinhalt des Wannsees bis in die Stratosphäre emporzuschleudern!«5 Bereits im Juli 1939 warnten vier aus Europa in die USA emi­ grierte Atomwissenschaftler, dass Nazi-Deutschland in der Lage sein könnte, eine Atombombe zu bauen. Die Physiker Leo Szilard, Eugene Wigner, Eduard Teller und John von Neumann hatten in Deutschland studiert, geforscht und gelehrt. Alle vier waren später am Bau der amerikanischen Atombombe beteiligt.6 Sie kannten die deutsche Atomforschung und die beteiligten Personen aus eigener Anschauung und wussten, dass die Deutschen Zugriff auf die Uranvorkommen in Belgisch-Kongo und in Böhmen hatten. Mit der Unterstützung von Einstein erreichte die Warnung der Wissenschaftler schließlich den amerikanischen Präsidenten Roosevelt. Auch die nach Großbritannien emigrierten Physiker Otto Frisch und Rudolf Peierls wurden von der Sorge umgetrieben, dass Deutschland eine nukleare Waffe entwickeln könnte. Sie verfassten im März 1940 an der Universität Birmingham eine Denkschrift über die Möglichkeit des Baus einer »Super-Bombe« durch Ausnutzung der bei der Kernspaltung freiwerdenden Energie. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs begann in Deutschland die Arbeit an der Entwicklung einer nuklearen militärischen Technologie. Auf Initiative des Heereswaffenamts entstanden mehrere Forschungsgruppen zur Atomtechnik. Im September 1941 traf der Physiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg seinen Lehrer Niels Bohr in Kopenhagen. Dabei ließ Heisenberg, der ein Jahr später das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Berlin leiten sollte, wo er führend am sogenannten Uranprojekt beteiligt war, durchblicken, dass Deutschland an einer kriegstauglichen Verwendung von Atomenergie arbeitete.7 Im Laufe des Jahres 1942 zeichnete sich allerdings ab, dass für die Fortentwicklung einer solchen Technologie erhebliche finanzielle und personelle Kapazitäten nötig wurden. Das Projekt verlor an Dringlichkeit, weil der Kriegsverlauf zu diesem Zeitpunkt für Deutschland noch günstig war. Gleichwohl setzte man die Arbeit an der Entwicklung eines Atomreaktors fort. Die zunehmenden Luftangriffe der Alliierten zwangen einige Forschungsgruppen in die schwäbische Provinz. Am Ende des Krieges fanden sie ein neues Domizil im Felsenkeller in Haigerloch in der Nähe von Tübingen. Dort versuchten die deutschen Wissenschaftler noch im März 1945, den Reaktor ans Laufen und eine kontrollierte Kettenreaktion in Gang zu bringen. Doch es fehlte

J. Robert Oppenheimer (l.) und General Leslie R. Groves auf dem Testgelände Alamogordo, New Mexico, September 1945 | Fotografie | Los Alamos National Laboratory (LANL)

an der notwendigen Menge Uran. Deutschland wäre vermutlich in der Lage gewesen, eine Atombombe zu bauen, wäre dies wie in den Vereinigten Staaten mit entsprechender Dringlichkeit betreiben worden.

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Das »Manhattan-Projekt« Nach dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbor im Dezember 1941 wuchs in den Vereinigten Staaten der Druck, den Bau einer Atombombe voranzutreiben. Dabei ging es zunächst mehr um den Besitz einer solchen Waffe zur Abschreckung Deutschlands als um einen konkreten Einsatz. Die Befürchtungen, führende deutsche Atomforscher wie Heisenberg und Hahn arbeiteten bereits am Projekt einer nuklearen Bombe, hatten sich durch Berichte wie die von Bohr verstärkt. Die wissenschaftliche Leitung des »Manhattan-Projekts« in den USA hatte J. Robert Oppenheimer inne, die Gesamtleitung General Leslie R. Groves.8 Zeitweise arbeiteten bis zu 150 000 Mit-

Luftbild der IG Farben-Werke in Ludwigshafen  1945 | Fotografie | National Archives, Washington, D.C., Bild 342-FH_001840

arbeiter an dem Projekt, davon 3000 bis 4000 Wissenschaftler. Das Unternehmen verschlang über zwei Milliarden Dollar und war erfolgreich: Die erste Atombombe wurde am 16. Juli 1945 getestet. Am 6. August 1945 warf ein amerikanisches Flugzeug eine Atombombe über der japanischen Stadt Hiroshima mit ca. 250 000 Einwohnern ab. 80 000 Einwohner waren sofort tot. Weitere 90 000 starben bis Ende 1946. Drei Tage später, am 9. August 1945, folgte der Abwurf einer zweiten Atombombe auf Nagasaki. Dort wurden etwa 70 000 Menschen getötet, 75 000 weitere verletzt. Am 15. August 1945 erklärte der japanische Kaiser die Kapitulation.

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Ziele in Deutschland? Was hätte ein mögliches Ziel für die amerikanische Atombombe in Deutschland sein können? Politisch hätte sich die Reichshauptstadt Berlin angeboten. Ein wichtiges militärisches Ziel wäre die Schwächung der deutschen Rüstungsindustrie gewesen, hier die Werke der IG Farben in Ludwigshafen, der »Stadt der Chemie«,

die von erheblicher Bedeutung für die Rüstungsproduktion war. Auch bei der Auswahl des Zieles für den zweiten Atombombenangriff auf Japan war die Schwächung der Rüstungsindustrie ein nicht unerheblicher Grund: In Nagasaki waren die Anlagen der Firma Mitsubishi angesiedelt. In Ludwighafen wurden etwa Stickstoffe produziert, die zur Herstellung von Sprengstoffen genutzt wurden. Außerdem sollte die IG Farben Rohstoffe ersetzen. Eines der bekanntesten Produkte war »Buna«, ein synthetischer Kautschukersatz, der die Abhängigkeit bei der Gummiproduktion minimieren sollte. Außerdem wurde auch synthetisches Benzin aus Kohle, ebenso Kampfmittel wie der Nervenkampfstoff Tabun produziert. Welche strategische Bedeutung Ludwigshafen hatte, lässt sich auch an den Aktivi­ täten der alliierten Bomberflotte ablesen. Erste Bombardierungen der Stadt begannen bereits im Juni 1940. Bei insgesamt 124 Luftangriffen wurden 80 Prozent der Innenstadt zerstört. Die Stadt Ludwigshafen hatte während des Zweiten Weltkriegs ca. 170 000 Einwohner. Wäre eine Atombombe auf Ludwigshafen gefallen, hätte das unmittelbar ca. 50 000 Tote verursacht, weitere 50 000 wären bis 1946 an den Folgen gestorben, nimmt man die Todeszahlen in den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki als Maßstab. Im Friedenspark von Ludwigshafen befindet sich heute ein Gedenkstein mit einem Zitat des ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann, das wie ein Echo auf ein solches Szenario wirkt: »Nicht der Krieg ist der Ernstfall[,] in dem der Mann sich bewähren muss – wie wir es früher hörten –, sondern der Frieden ist der Ernstfall[,] in dem wir uns alle zu bewähren haben, weil es hinter dem Frieden keine Existenz mehr gibt!«9

Literatur Auer 1995; Beevor 2016; Groves 1965; Powers 1993; Rhodes 1988; Teller/ Kubbig 1995. 1  Vgl. das Interview von Leslie R. Groves mit Fred Freed (o. D., ca. 1963) in: National Archives and Records Administration, RG 200, Box 4, »Groves, Leslie«, zit. n. http://blog. nuclearsecrecy.com/ (abgerufen am 22.12.2022). 2  Interview mit Karl-Heinz Frieser in: DIE WELT vom 5. Januar 2015.

3  Vgl. Congressional Record Volume 141, Number 42 (Tuesday, March 7, 1995), p. H2782– H2784 (https://www.gpo. gov/) (abgerufen am 22.12.2022). 4  Vgl. Teller/Kubbig 1995, S. 28. 5  Siegfried Flügge, Die Ausnutzung der Kernenergie, in: Deutsche Allgemeine Zeitung vom 15. August 1939, S. 4. 6  Hargittai 2006. 7  Powers 1993. 8  Groves 1965.

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9  Auf dem Gedenkstein wird ein Satz aus der Antrittsrede »Dem Frieden dienen« des neu gewählten Bundespräsidenten Gustav Heinemann vom 1. Juli 1969 zitiert.

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Den Wettlauf mit Deutschland um die Entwicklung einer Atombombe konnten die USA für sich gewinnen. Mit dem »Manhattan-Projekt«, geleitet von dem Physiker J. Robert Oppenheimer, waren die Arbeiten daran ab 1942 intensiviert worden. Am 16. Juli 1945 fand in New Mexiko der erste Kernwaffentest statt. Über Ausmaß und Folgen einer atomaren Kriegführung scheint man sich weniger Gedanken gemacht zu haben. Anders lässt es sich kaum erklären, dass der Abwurf zweier Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 noch im selben Jahr zum Thema eines Geschicklichkeitsspiels wurde. Simpel in der Herstellung, aber explizit gestaltet, verlangt das Spiel nicht mehr als etwas Geduld und eine gewisse Fingerfertigkeit, um die beiden Kugeln alias »Atomic Bombs« zu platzieren. Ein Nuklearschlag als Zeit­vertreib, auf kaum mehr als 8 × 10 Zenti­metern. SW Literatur: Diggele/Mischkulnig 2016, S. 212, 246f.

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Geschicklichkeitsspiel »Atomic Bomb« The A. C. Gilbert Company | New Haven, Conn. (USA), 1945 | Eisenblech, Karton, bedruckt, Glas, Metallkugeln in Kunststoffhülsen; 2,2 × 8,4 × 10,9 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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Am 7. März 1945 erreichte eine Vorhut der 9. US-Panzerdivision unter Führung des deutschstämmigen Lieutenants Karl H. Timmermann die noch intakte über den Rhein führende Ludendorff-Eisenbahn­ brücke. Zwei Sprengversuchen von deutscher Seite zum Trotz wurde sie nach wenigen Stunden eingenommen. Auch in den Folgetagen stattfindende weitere Anläufe der Wehrmacht, die Brücke durch Granatenbeschuss und den Einsatz von Kampfschwimmern zu zerstören, schlugen fehl. Bis zum 17. März 1945 überquerten 25 000 alliierte Soldaten den Rhein über die Brücke von Remagen. Dann stürzte sie – vermutlich wegen Überlastung – ein. Die Westoffensive der amerikanischen Truppen wurde dank der Brücke beschleunigt. Heute beherbergt die Ruine das Friedensmuseum Brücke von Remagen. DM

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Stein von der Brücke von Remagen Remagen, 1918 | Basalt; 20,5 × 18 × 6,7 cm | Friedensmuseum Brücke von Remagen

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Dieser Uranwürfel ist ein Überbleibsel des deutschen Atomprojekts, das vom Heereswaffenamt gefördert wurde. Er steht für den letzten vergeblichen Versuch deutscher Kernphysiker am Kriegsende, einen Atomreaktor zu betreiben. Im Frühjahr 1945 hängten deutsche Forscher im süddeutschen Haigerloch 664 Uranwürfel an 76 Drahtseile und tauchten das Gebilde in einen Tank mit schwerem Wasser. Dann beschossen sie diesen Testreaktor mit Neutronen, in der Hoffnung, so eine Ketten­ reaktion anzustoßen. Doch die Masse des eingesetzten Urans reichte nicht aus. In Deutschland arbeiteten seit der Entdeckung der Kernspaltung 1938 mehrere Gruppen an der Nutzung dieser Erfindung. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs förderte das Militär dieses Vorhaben. Als die Amerikaner den Reaktor 1945 erreichten und demontierten, nahmen sie die Uranwürfel mit, die vorher von den deutschen Wissen­schaftlern vergraben worden waren. Heute existieren in Deutschland nur noch drei dieser Würfel. SPJ Literatur: Walker 1990.

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Uranwürfel  Haigerloch, 1945 | Uranmetall; 5 × 5 × 5 cm | Atomkeller Museum Haigerloch, LUBW / Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg

1944

1944

»Die Nachrichten, die wir … über … das gescheiterte Attentat auf Hitler erhielten, haben immer wieder eine Flut trügerischer Hoffnungen hervorgerufen. … konkret sind Hunger und Trostlosigkeit, alles Übrige ist irreal: … Für uns ist die Geschichte stehengeblieben.«

Primo Levi, Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht, München 2010, S. 112f.

»Die Befreiung durch eine Beseitigung Hitlers war für einen kurzen Moment so nahe gerückt und dann doch gescheitert. Doch dann dachte ich: Es ist gut so. Die Offiziere, die dieses Attentat geplant hatten, hatten Hitler nie übelgenommen, dass er den Krieg begonnen hatte; sie nahmen ihm jetzt nur übel, dass er ihn verlor. … Deutschland sollte vollständig besiegt werden«

Marie Jalowicz Simon, Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940–1945, Frankfurt am Main 2014, S. 322

Attentat – 20. Juli Zu spät! Umsturzversuch und Holocaust

Julia Franke

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Die Überlebenden des Holocaust Primo Levi und Marie Jalowicz Simon beschrieben nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre zeitgenössische Wahrnehmung des Attentats vom 20. Juli 1944. Der italie­ nische Chemiker und spätere Schriftsteller Primo Levi war zum Zeitpunkt des Staatsstreichversuchs im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz inhaftiert. Dort leistete er für die IG Farben in den BunaWerken in Auschwitz-Monowitz Zwangs­ arbeit. Die Berlinerin Marie Jalowicz, späte­re Simon, die seit 1940 bei der Firma Siemens Zwangsarbeit leisten musste, war 1942 untergetaucht. Die künftige Altphilo­ login und Philosophiehistorikerin erfuhr im Untergrund vom gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler. Das zeitgenössische Urteil über das Attentat vom 20. Juli 1944 fiel nicht zuletzt aufgrund der ungleichen existenziellen Notlagen, in denen sich die beiden jungen Menschen befanden, sehr unterschiedlich aus. Doch beide Positionen eint, dass sie dem heute in der Erinnerung ikonischen Datum keine große Bedeutung beimessen.1 Der Staatsstreichversuch vom 20. Juli 1944 Am 20. Juli 1944 ist der Zweite Weltkrieg militärisch schon entschieden und ein deutscher Sieg bereits ausgeschlossen. Seit Juli 1943 hatten die Alliierten zunächst Sizilien, dann Süditalien erreicht und hatten schließlich am 4. Juni 1944 die italienische Hauptstadt Rom eingenommen. Zwei Tage später, am 6. Juni 1944, waren britische, US-amerikanische und kanadische Truppen im Rahmen der »Operation Overlord« in der Normandie gelandet und am 22. Juni hatte eine Großoffensive der Roten Armee begonnen. Diese Großoffensive mit dem Decknamen »Bagration« zerschlug die deutsche Heeresgruppe Mitte und zwang die rest­ lichen Truppenteile, sich westwärts zurückzuziehen. Angesichts dieses aus ihrer Sicht verheerenden militärischen Geschehens entschieden sich hohe Militärs der Wehrmacht sowie Mitglieder ziviler Widerstandskreise, ein Attentat auf Adolf Hitler – Reichskanzler und Oberbefehlshaber der Wehrmacht – zu verüben. Damit wollten sie das Deutsche Reich vor der absehbaren militärischen Niederlage bewahren. Ziel des geplanten Staatsstreichs war die Beendigung des Krieges, der sich für die Wehrmacht als zunehmend verlustreich darstellte.2 Das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) kalkulierte während des Zweiten Weltkriegs die Entwicklung der eigenen Truppenstärke

Heinrich Hoffmann | Zerstörter Besprechungsraum im »Führerhauptquartier Wolfschanze«  Nahe Rastenburg/Ostpreußen, heute Kętrzyn (Polen), 20. Juli 1944 | Fotografie | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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angesichts etwaiger zukünftiger Verluste durch Tod, Verwundung oder Gefangennahme.3 Allerdings sollten sich die Todeszahlen deutscher Soldaten für das Jahr 1944 als weit höher als im Vorfeld berechnet herausstellen, denn diese stiegen ab dem Sommer enorm an: Nachdem im Januar 1943 erstmals mehr als 180 000 deutsche Soldaten gestorben waren, nahmen die monatlichen Verluste ab Juni 1944 kontinuierlich zu. Im Juni 1944 kam es nach Berechnungen des Militärhistorikers Rüdiger Overmans zu 182 178 Todesfällen aufseiten der Wehrmacht, im Juli waren es 215 013 Gefallene und im August 1944 sogar 348 960.4 Nach seinen Berechnungen war das Jahr 1944 das verlustreichste Jahr des Krieges für die Wehrmacht: Fast 34 Prozent aller deutschen Gefallenen starben in diesem Jahr.5

»Unternehmen Walküre« Am 1. Juli 1944 wurde Claus Schenk Graf von Stauffenberg zum Oberst befördert und zum Chef des Stabes beim Befehlshaber des Ersatzheers ernannt. Dadurch erhielt er Zugang zu den militärischen Lagebesprechungen mit Adolf Hitler. Ursprünglich für den 15. Juli 1944 geplant wurde das »Unternehmen Walküre«6 am 20. Juli 1944 ausgelöst. An diesem Tag sollte Stauffenberg im sogenannten Führerhauptquartier Wolfschanze nahe Rastenburg im damaligen Ostpreußen (heute Kętrzyn, Polen) zum Stand der Planungen für die deutsch-sowjetische Front vortragen. Obwohl es Stauffenberg gelang, die Aktentasche mit dem Sprengsatz in der Nähe Hitlers zu platzieren, scheiterte das Attentat an einer Kette von Zufällen.7 Da die Besprechung kurzfristig um eine halbe Stunde vorverlegt wurde, blieb ihm nicht ausreichend Zeit, um die Zünder beider vorgesehenen Sprengkörper zu aktivieren. Während der Schärfung der Sprengsätze wurden Stauffenberg und sein Adjutant Werner von Haeften zudem unerwartet gestört und so weiter zur Eile gedrängt. In der Folge konnte Stauffenberg die Aktentasche mit der Sprengladung zwar in der Nähe Hitlers am Besprechungstisch abstellen. Nachdem er den Raum ver­­las­ sen hatte, schob allerdings ein anderer Teilnehmer der Lage­­be­ sprechung die Tasche weiter unter den Tisch, sodass die massive Tischplatte schließlich die Wucht der Explosion dämpfte. Vier der insgesamt 24 Teilnehmer der Besprechung starben infolge der Explosion, Hitler indes überlebte das Attentat mit leichten Verletzungen.8 Somit ging der Krieg weiter. Die sich daran anschließende Frage aus der Perspektive des Nachhinein mag ungewöhnlich sein, ist heute aber aus ethischen und mo­ralischen Gründen zwingend. Hätte ein Kriegsende im Sommer 1944 für die größte Opfer­gruppe von NS-Verbrechen, die europäischen Jüdinnen und Juden, überhaupt einen Unterschied gemacht?

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Holocaust: europaweite Deportationen Ab 1938 gerieten immer mehr jüdische Menschen in Europa unter deutsche Herrschaft. Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 begann der organisierte Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Europas. Etwa 2,2 Millionen Frauen, Männer und Kinder wurden ab Sommer 1941 in der Nähe ihrer Wohnorte erschossen, vor allem in den besetzten sowje­ tischen Gebieten. Im Laufe des Jahres 1942 wurde der Großteil der polnischen Juden in eigens errichteten Vernichtungslagern ermordet. Ab Frühjahr 1942 deportierten die Deutschen auch Jüdinnen und Juden aus anderen europäischen Staaten in die Vernichtungslager und zu den Mordstätten in den besetzten polnischen und sowjetischen Gebieten, ab Juli 1942 vorrangig nach Auschwitz-Birkenau. Aus dem gesamten deutschen Herrschaftsbereich fuhren Deportationszüge in Richtung Osten. In Personenwagen oder Güterwaggons der Deutschen Reichsbahn waren die Menschen oft tagelang auf engstem Raum

zusammen­gepfercht. Zehntausende erfroren, erstickten oder verdursteten schon während der Deportationen. Die Deutschen und ihre Helfer ermordeten insgesamt etwa 5,8 Millionen Menschen, die sie als Juden definierten. Über 90 Prozent von ihnen hatten zuvor im östlichen Europa gelebt. Auch diejenigen, die dem Tod entgingen, litten an den Folgen der Verfolgung. Zum Zeitpunkt des Attentats vom 20. Juli 1944 aber war der Holocaust als solcher im Wesentlichen bereits erfolgt, denn der überwiegende Teil der jüdischen Bevölkerung Europas war bis 1943 ermordet worden. Im Sommer 1944 traf dies auch die letzte große Gruppe europäischer Jüdinnen und Juden, die bis dahin in Ungarn überlebt hatte.

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Holocaust in Ungarn Ungarn war ab 1940 ein Verbündeter des Deutschen Reiches. Zwar hatte die Regierung dort auch zuvor eine antijüdische Poli­tik betrieben, die eine Entrechtung, Ausbeutung und Iso­lierung der jüdischen Bevölkerung zum Ziel hatte. Systematische Ermor­dun­ gen hatte es allerdings nicht gegeben, sodass das Land angesichts der Verfolgung und Ermordung der Juden in benachbarten Staaten zu einem Zufluchtsort insbesondere für jüdische Menschen aus der Tschechoslowakei, Rumänien und Polen wurde.9 Angesichts des Kriegsverlaufs – insbesondere der Offensiven der Roten Armee in der Ukraine – war deutscherseits befürchtet worden, Ungarn könnte, ähnlich wie Italien, das Anfang September 1943 kapituliert hatte, das Bündnis mit dem Deutschen Reich aufkündigen. Daher wurde unter dem Decknamen »Operation Margarethe« der Einmarsch der Wehrmacht in Ungarn am 19. März 1944 angeordnet. Nach der Besetzung des Landes drangen die deutschen Besatzer auf einen Austausch der Träger der wichtigsten Regierungs- und Verwaltungsämter. Dies war entscheidend für die nur kurze Zeit darauf durchgeführten Massendeportationen der jüdischen Bevölkerung. Zwar verblieb der vorherige sogenannte Reichsverweser Miklós Horthy an der Staatsspitze, mit Döme Sztójay wurde allerdings ein »unbedingter Anhänger NS-Deutschlands«10 Ministerpräsident und auch das ungarische Innenministerium folgte der nationalsozialistischen und antijüdischen Agenda der Besatzer. Nunmehr waren Jüdinnen und Juden im Land unmittelbar bedroht. Innerhalb extrem kurzer Zeit bereitete ein von Adolf Eichmann geleitetes »Sondereinsatzkommando« in Abstimmung mit ungarischen Stellen Deportationen vor. Bereits Ende April erfolgten zwei Transporte aus den Lagern Kistarcsa und Topoly nach AuschwitzBirkenau, am 15. Mai begannen dann die systematischen Deportationen.11 Bis Anfang Juli 1944 wurden etwa 437 000 Menschen verschleppt, die überwiegende Mehrheit von ihnen, etwa 330 000 Menschen, nach Auschwitz-Birkenau. Dort ermordete die SS vor allem die Frauen, Kinder und älteren Menschen innerhalb weniger Stunden nach ihrer Ankunft.

Bernhard Walter, Ernst Hoffmann (SS) | Ankunft von aus Ungarn deportierten Jüdinnen und Juden im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau Birkenau (heute Brzezinka [Oświęcim], Polen), 27. Mai 1944 | Fotografie | Yad Vashem Photo Archive, Jerusalem

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Am 7. Juli 1944 ließ der ungarische Reichsverweser Horthy die Deportationen stoppen. Die USA, Schweden und der Vatikan  üb­ten Druck auf die ungarische Regierung aus. Da Horthy beabsichtigte, Verhandlungen mit den Westalliierten aufzu­nehmen, lag es in seinem Interesse, die ungarische Beteiligung am Massenmord zu beenden. Dessen ungeachtet verließen noch am 9. und am 14. Juli Deportationszüge das Land in Richtung Auschwitz. Nur die jüdische Einwohnerschaft der Hauptstadt Budapest war bis dahin weitgehend verschont geblieben. Am 25. August 1944 entschied Heinrich Himmler, als Reichs­führer SS einer der Hauptverantwortlichen für den Holocaust, dass weitere Deportationen aus Ungarn einzustellen seien.12 Das »Sonder­ kommando« unter der Leitung Eichmanns wurde aufgelöst. Mit den Deportationen aus Ungarn war die letzte große Gruppe von Jüdinnen und Juden in Europa ermordet worden. Auch für sie sollte der 20. Juli 1944 zu spät kommen.

Alliierte Kriegführung Seit Januar 1943 war das alliierte Kriegsziel klar definiert: die bedingungslose Kapitulation Deutschlands und seiner Verbündeten Italien und Japan. Die Vereinbarungen der Alliierten auf der Konferenz von Casablanca liefen den Hoffnungen des militärischen Widerstands um Claus Schenk Graf zu Stauffenberg damit also klar entgegen. Bereits 1942 hatten sich 26 kriegführende Staaten auf den gemeinsamen Kampf gegen das Deutsche Reich und seine Verbündeten verständigt. Parallel dazu begann auch die internationale Beweissicherung der deutschen Verbrechen: Die Sowjetunion richtete 1942 eine Außerordentliche Staatliche Kommission ein und im Oktober 1943 gründeten 17 alliierte Staaten in London die United Nations War Crimes Commission mit dem Ziel der Dokumentation der Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands sowie Italiens und Japans. Im Sommer 1944 sammelte die Anti-Hitler-Koalition infolge der großen Geländegewinne im Osten und Westen Beweise, die der späteren Ahndung der Verbrechen dienen sollten. Mitte des Jahres 1944 häuften sich in den alliierten und in den neutralen Staaten die Presseberichte über das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz.13 Am 23. Juli 1944, drei Tage nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler, erreichte die Rote Armee das Konzentrationslager Majdanek im polnischen Lublin und befreite die letzten dort verbliebenen Häftlinge. In den folgenden Wochen berichtete die internationale Presse ausführlich über das Vernichtungslager und die dort verübten Verbrechen. Auch der juristische Rahmen für den Umgang mit dem Deutschen Reich nach einem Sieg der Anti-Hitler-Koalition war im Sommer 1944 bereits abgesteckt: Im Herbst 1943 hatten sich die Außenminister der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion in Moskau auf die Behandlung des Deutschen Reiches nach einem Sieg der Alliierten verständigt. Neben der geplanten Besetzung Deutschlands durch alliierte Truppen wurde vereinbart, die Hauptkriegsverbrecher vor ein gemeinsames Militärgericht zu stellen.

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Nach dem 20. Juli Nach dem Scheitern des Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 führte das nationalsozialistische Deutschland den Krieg ohne Aussicht auf Erfolg weiter. Ein Ende des Krieges im Sommer 1944 hätte viele Morde verhindert, die die Deutschen noch in den letzten Kriegsmonaten begingen. Die Verbrechen bei den Rückzügen der Wehrmacht aus den vormals besetzten Gebieten und in der Endphase des Krieges bedeuteten noch einmal eine enorm hohe Zahl von Todesopfern. Zu ihnen zählen insbesondere Häftlinge und Kriegsgefangene, die in den letzten Monaten und Wochen des Krieges aus den Lagern heraus und auf »Todesmärsche« gezwungen worden waren. Der Historiker Dieter Pohl schätzt allein die Anzahl der Toten in der Phase der Räumung der Lager auf etwa eine Viertelmillion Menschen.14

Plakat zur Anti-Hitler-Koalition  Entwurf: Leslie Ragan | Herausgeber: Division of Public Inquiries, Office of War Information | USA, 1943 | Offsetdruck; 70,7 × 50,5 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

Fazit: Ein Erfolg des Attentats des 20. Juli hätte mit einem in der Folge eingetretenen Kriegsende vor allem die deutsche Bevöl­ kerung vor den größten Verlusten, die sie im Kriege erlitt, bewahren können. Hätte der Krieg 1944 infolge eines geglückten Staatsstreichversuchs am 20. Juli geendet, wären deutlich weniger Wehrmachtssoldaten, aber auch Zivilistinnen und Zivilisten gestorben. Dies gilt ebenso für die Soldaten der alliierten Truppen und die Zivilbevölkerungen an allen Kriegsschauplätzen. Für die jüdische Bevölkerung Europas hätte ein erfolgreiches Attentat dagegen kaum noch einen Unterschied gemacht. Für sie wäre ein Kriegsende im Sommer 1944 mehrheitlich zu spät gekommen. Zum Zeitpunkt des Attentats hatten die Deutschen und ihre Helfer die meisten von ihnen bereits im Rahmen einer historisch beispiel­losen Verfolgungs- und Mordpolitik ermordet. Für die größte Opfergruppe von NS-Verbrechen wäre der 20. Juli 1944 demnach von einer nur geringen Relevanz gewesen. Davon zeugen nicht zuletzt die eingangs zitierten Erinnerungen von Primo Levi und Marie Jalowicz Simon.

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Literatur Ausst. Kat. Dresden 2014; Ausst. Kat. Dresden 2019; Overmans 1999; Pohl 2022; Steinbacher 2020; Tuchel/Neumärker 2021.

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1  In der Nachkriegszeit verbanden beide deutsche Staaten mit der Erinnerung an den Widerstand gegen den Natio­ nalsozialismus auch politische Ziele. Die Rezep­tion des Staatsstreichversuchs vom 20. Juli 1944 war demzufolge unterschiedlich gelagert. In der DDR wurden die Attentäter des 20. Juli zunächst primär unter dem Vorzeichen des Klassenkampfs beurteilt und als reaktionär bürgerlich oder aristokratisch herabgewürdigt. Erst ab den 1980er Jahren begann eine differenziertere Bewertung des Staatsstreichversuchs vom 20. Juli. In der bun­ des­republikanischen Nachkriegszeit sahen sich die überlebenden Beteiligten oder ihre Familien weiterhin dem Vorwurf des Verrats ausgesetzt. Dies änderte sich erst allmählich, als das nationalsozialistische Deutschland 1952 im viel beachteten Prozess gegen den früheren Wehrmachtsoffizier Otto Ernst Remer als Unrechtsstaat bewertet wurde. Remer wurde aufgrund seiner Verunglimpfung der Attentäter des 20. Juli wegen übler Nachrede und der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener angeklagt und zu einer Haftstrafe verurteilt. Das Urteil des Braun­ schwei­ger Landgerichts unter der Ägide des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer vom 15. März 1952 rehabilitierte die Verschwörer des 20. Juli 1944. Heute gehört der 20. Juli zu den offiziellen erinnerungs­politi­ schen Gedenktagen in Deutschland.

2  Die Beendigung der nationalsozialistischen Verbrechen stellte kein vorrangiges Ziel der Gruppe dar. Wie der Historiker Christian Gerlach zeigt, waren einige Mitglieder des Verschwörerkreises um Stauffenberg – wie etwa Henning von Tresckow – sogar daran beteiligt, vgl. Gerlach 1999. 3  Oberkommando der Wehrmacht, Berechnung der voraussichtlichen Truppenstärke für das Jahr 1944, Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation, Moskau, 500/12450/71, Bl. 20R. 4  Overmans 1999, S. 238.

8  Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Werner von Haeften, Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim und Friedrich Olbricht wurden noch in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1944 im Berliner Bendlerblock erschossen. Darüber hinaus ließ die NS-Führungsspitze in den Folgemonaten noch 104 weitere Personen hin­ richten und im Rahmen der sogenannten Aktion Gewitter etwa 5000 Menschen, die während der Weimarer Republik politisch tätig gewesen waren, in Konzentrationslager einliefern. 9  Vgl. Pohl 2022, S. 257. 10  Pohl 2022, S. 257.

5 Ebd.

11  Vgl. Pohl 2022, S. 260.

6  Der Tarnname »Unternehmen Walküre« wurde dabei von den Verschwörern umgenutzt: Ursprünglich bezeichnete er einen Wehrmachtsplan zur Unterdrückung von befürchteten Aufständen in der Zivilbevölkerung sowie von Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen.

12  Im Oktober 1944 sollte die Verfolgung der ungarischen Jüdinnen und Juden dann nach dem Sturz Horthys unter der neuen Regierung der Pfeilkreuzler unter Ferenc Szálasi noch einmal beginnen und bis zur Befreiung der ungarischen Hauptstadt am 13. Februar 1945 andauern.

7  Vgl. Tuchel/ Neumärker 2021, S. 189, 192 und 199.

13  Vgl. Steinbacher 2020, S. 93. 14  Vgl. Pohl 2022, S. 305.

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Die Verschwörer des 20. Juli bereiteten mehrere Dokumente für die geplante Machtübernahme vor. In verschiedenen Aufrufen wollten sie sich an die Wehrmacht und die deutsche Bevölkerung wenden, um diese über ihre politischen Pläne in Kenntnis zu setzen. Ein Macht­ vakuum sollte vermieden, ein neuer Staat aufgebaut werden: Reichskanzler sollte der frühere Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler, vorübergehen­ des Staatsoberhaupt der frühere General­ stabschef des Heeres Ludwig Beck werden. Neuer Oberbefehlshaber der Wehrmacht sollte künftig Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben sein. In dem »Aufruf an das deutsche Volk« erklärten die Verfasser es als vordringliche Aufgabe, »den Krieg von seinen Entar­­­­ tungen zu reinigen und die verheerenden Vernichtungen von Menschenleben, Kultur- und Wirtschaftswerten hinter den Fronten zu beenden«. Ihre Ziele waren »die Wiederherstellung einer gerechten feierlichen Ordnung«, »Ehre und Freiheit« sowie die Beendigung staatlicher Willkür. Die Massenverbrechen an der jüdi­ schen Bevölkerung Europas und an anderen Gruppen – an denen einige der Verschwörer beteiligt waren – werden nicht explizit genannt. JF Literatur: Pahl/Wagner 2019.

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»Aufruf an das deutsche Volk«  Entwurf von Ludwig Beck mit Ergänzungen von Carl Friedrich Goerdeler | Berlin (?), 1944 | Rekonstruktion nach Unterlagen der »Gestapo-Sonderkommission 20. Juli 1944« (Abschrift) | BArch, NS 6/6, fol. 67

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Die beiden Frauen in der Bildmitte blicken am 16. Oktober 1941 den Fotografen – und damit auch die heutigen Betrachtenden  – direkt an. Der Fotograf Johannes Hähle, Bildberichter bei der Propagandakompag­ nie (PK) 637 der Wehrmacht, kniete, um diese Nahaufnahme zu machen. Kurze Zeit später wurden die abgebildeten Frauen, Männer und Kinder von den Ange­ hörigen des »Sonderkommandos 4a«, einem mobilen Mordkommando, erschossen. An diesem Tag wurden 1865 Menschen im 200 Kilometer östlich von Kiew gelegenen Lubny ermordet. Ab Ende Juli 1941 begann die deutsche Besatzungsmacht in den besetzten sowjetischen Gebieten, nicht nur jüdische Männer im wehr­fähigen Alter, sondern auch jüdische Frauen, Kinder und ältere Menschen in der Nähe ihrer Wohnorte zu erschießen. Mit diesen Massenerschießungen nahm der Holocaust seinen Anfang. JF Literatur: Geimer 2021; https://www.his-online.de/ archiv/bestaende/fotos-johannes-haehle/ (abgerufen am 03.01.2023).

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Johannes Hähle (PK) | Jüdische Frauen, Männer und Kinder kurz vor ihrer Ermordung durch das Sonderkommando 4a Lubny (Sowjetunion, heute Ukraine), 16. Oktober 1941 | Fotografie | Hamburger Institut für Sozialforschung

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Im Frühjahr 1944 arbeitete der jüdische Maler Felix Nussbaum in einem Versteck in Brüssel an einem Werk mit dem Motiv des Totentanzes: Darin triumphiert der Tod über die in Trümmern liegenden Errungen­ schaften in Wissenschaft, Technik und Kunst. Mit Verwendung dieser Allegorie steht das Gemälde in der Tradition (christlicher) Weltgerichtsdarstellungen und den Danses macabres. Die dargestellte Katastrophe und die Zerstörung vermeintlich sicher geglaubter Werte können retrospektiv als künstlerischer Ausdruck für den Zivilisa­tionsbruch des Holocaust gelesen werden. Felix Nussbaum und seine Frau, die Malerin Felka Platek, hatten Deutschland verlassen und lebten seit 1935 an wechselnden Orten. Als die Deutschen Belgien besetzten, tauchten sie in Brüssel unter. Am 20. Juni 1944 wurden sie denunziert und anschließend in das Durchgangslager Mechelen gebracht. Sechs Wochen später deportierten die Deutschen sie nach Auschwitz-Birkenau und ermordeten sie dort. Das Gemälde gilt als Nussbaums letztes überliefertes Werk. JF Literatur: Ausst. Kat. Osnabrück 1995; Ausst. Kat. Osnabrück 2005.

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Felix Nussbaum | Triumph des Todes (Die Gerippe spielen zum Tanz)  Brüssel, 1944 | Öl auf Leinwand; 105 × 148,5 × 2 cm (Bildmaß), 120,5 × 169 × 12,5 cm (Rahmenmaß) | Felix-Nussbaum-Haus im Museumsquartier Osnabrück, Leihgabe der Niedersächsischen Sparkassenstiftung

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1936

1936

»... damals habe ich viel riskiert. Wenn Frankreich damals marschiert wäre, wären wir gezwungen gewesen, uns zurück­ zuziehen.«

Adolf Hitler zu dem österreichischen Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg, 12. Februar 1938

Vabanque – Rheinland Oder: Frankreich verhindert Hitlers Expansion

Stefan Paul-Jacobs

Am 7. März 1936 marschiert die deutsche Wehrmacht unter Brechung völkerrechtlicher Verträge in das entmilitarisierte Rheinland ein. Dieses Ereignis geht im Reigen der aggressiven außenpolitischen Manöver Hitlers zwischen Machtübernahme 1933 und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 oft unter – und dies vermutlich, weil die Besetzung ohne Reaktion blieb. England und Frankreich nahmen diesen Rechtsbruch widerstandslos hin. Gleichwohl ist es lohnend, sich angesichts dieses Vorgehens die Frage zu stellen, ob Hitler damals hätte gestoppt werden können.

Die Besetzung des Rheinlands nach dem Ersten Weltkrieg Im Gefolge des Ersten Weltkriegs wurden die Gebiete westlich des Rheins von alliierten Truppen besetzt. Der Friedensvertrag von Versailles 1919 und die Verträge von Locarno 1925 ratifizierten diesen Status, nämlich die Entmilitarisierung der linksrheinischen Gebiete des Deutschen Reiches und eines ca. 50 Kilometer breiten Streifens auf dem rechten Rheinufer. Die Besetzung wurde in den 1920er Jahren nach und nach aufgehoben, das Gebiet blieb aber bis 1930 unter französischer Verwaltung. 7. März 1936 – die Wehrmacht marschiert Dies änderte sich mit dem besagten 7. März 1936. Zwar waren an der Militarisierung des Rheinlands an die 30 000 Soldaten beteiligt, indes blieben die Truppen auf dem rechtsrheinischen Ufer stehen. Nur drei Bataillone, also knapp 3000 Soldaten und Polizeieinheiten, überquerten tatsächlich den Fluss. Diese Aktion war mit einem hohen Risiko verbunden. Über die Ratschläge seiner führenden Militärs, die zur Zurückhaltung und Vorsicht rieten, setzte Hitler sich gleichwohl hinweg. Aber Paris reagierte nicht auf diese flagrante Vertragsverletzung. Dabei war Frankreich Deutschland damals militärisch bei Weitem überlegen gewesen. Paris verfügte über die stärkste Kontinentalarmee in Europa. Mit einem vergleichsweise geringen militärischen Aufwand hätte Frankreich sich dem Einmarsch deutscher Truppen entgegenstellen können. Entsprechend laute­ te der Befehl an die deutschen Truppen, sich auch bei geringer französischer Gegenwehr sofort zurückzuziehen.1

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Die Militarisierung des Rheinlands war ein erster Schritt in der nach außen gerichteten Expansion des NS-Staates, mochte dieser auch noch in den Grenzen des eigenen Staatsgebiets erfolgt sein. Dass Hitler einen für die damaligen Umstände derart riskanten Schritt wagte, war Folge zweier außenpolitischer Ereignissen: der im Februar 1936 erfolgten Ratifizierung der 1935 abgeschlossenen franko-sowjetischen Militärkonvention durch die französische Nationalversammlung sowie einer grundlegenden Veränderung der internationalen Konstellationen, die durch den Überfall des faschistischen Italiens auf das Kaiserreich Äthiopien herbeigeführt worden war. Mussolini hatte den »AbessinienKrieg « im Oktober 1935 vom Zaun gebrochen und damit eine schwere internationale Krise verursacht. Die durch diesen Krieg ausgelöste Entfremdung zwischen England und Frankreich auf der einen und Italien auf der anderen Seite trieb diese drei Mächte auseinander, die sich im April 1935 in der Stresa-Front gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands zusammengeschlossen hatten. Parallel zum Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland hielt Hitler in der Berliner Krolloper eine Rede, die er an die »Männer des Reichstages« richtete und die auch im Rundfunk übertragen wurde. Der komplette Redetext wurde in einem Sonderdruck des nationalsozialistischen Parteiverlags Franz Eher unter dem Titel Um den Frieden der Welt veröffentlicht. In seiner Rede beteuerte der »Führer« und Reichskanzler seine Friedensabsichten, griff den Versailler Vertrag an und behauptete, die 1935 geschlossene sowjetisch-französische Übereinkunft stelle eine Verletzung des Vertrags von Locarno dar. Der Reichstag reagierte enthusiastisch auf diese Rede, Reichstagspräsident Hermann Göring verkündete anschließend die Abhaltung von Neuwahlen im März.2

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Die Reaktion im Ausland Die politische Reaktion Englands und Frankreichs war verhalten. Frankreich befand sich in einer innenpolitischen Krise, die Briten sahen sich ohnehin nicht in der Lage, militärisch gegen Deutschland vorzugehen. Zudem herrschte in beiden Ländern eine pazifistische Stimmung, Dies wird deutlich in der Rede, die der britische Außenminister Anthony Eden in der Parlamentssitzung vom 26. März 1936 hielt und in der er drei Ziele formulierte: die Bannung der Kriegsgefahr, Bedingungen zu schaffen, in denen Verhandlungen stattfinden könnten, und damit die kollektive Sicherheit in Europa zu stärken.3 Der widerstandslose Einmarsch deutscher Truppen in das entmilitarisierte Rheinland bei Bruch völkerrechtlicher Verträge bestärkte den Reichskanzler und »Führer« Hitler darin, seine expansionistischen Pläne weiter in die Tat umzusetzen. Im Rückblick charakterisierte er sein Handeln als überaus »riskant«: Der österreichische Kanzler, Kurt von Schuschnigg, berichtete

Georg Hoffmann | »Der Rhein / Deutschlands ewiger Strom«  Deutsches Reich, 1941 | Lithografie; 74,5 × 50,9 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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von einer Besprechung mit Hitler, in der dieser 1938 formuliert hatte: »Ja, vor zwei Jahren, als wir mit einer Handvoll Bataillone ins Rheinland einmarschierten – damals habe ich viel riskiert. Wenn Frankreich damals marschiert wäre, wären wir gezwungen gewesen, uns zurückzuziehen.«4 Diese Auffassung teilte auch der englische Botschafter in Berlin, Sir Neville Henderson. Er meinte, Hitler hätte in den Jahren 1935/36 noch leicht gestoppt werden können. Der Zeitpunkt zum Eingreifen wäre bereits im März 1935 gewesen, als Hitler verkündete, nicht mehr an den Versailler Vertrag gebunden zu sein, die allgemeine Wehrpflicht wiedereinführte und unter dem Schlagwort »Kanonen statt Butter« aufrüstete.5 Der französische Generalkonsul in Berlin Jean Dobler schickte einen Tag nach der Besetzung des Rheinlands ein Telegramm an den französischen Außenminister Pierre-Étienne Flandin und

»Zug um Zug zerriß Adolf Hitler das Diktat von Versailles!«  Plakat über die Volksabstimmung in Österreich | Deutsches Reich, 1938 | Druck; 126 × 95 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

schlug eine sofortige und scharfe Reaktion Frankreichs auf den Einmarsch vor. Hitler, dessen Ansehen in Deutschland durch die von der Aufrüstung verursachte Wirtschaftskrise gesunken sei, werde weiter an Popularität im eigenen Volk verlieren, wenn Frankreich reagiere und Deutschland sich zurückziehen müsse. Hitler hatte Vabanque gespielt – und dabei gewonnen. Seine Strategie, aggressiv zu handeln, aber permanent seinen Friedens­willen zu beteuern, fand auch anlässlich der Rheinland­ besetzung Anwendung. Auch in anderer Hinsicht nutzte Hitler das Momentum der erfolgreichen Rheinlandbesetzung: Er setzte am 29. März 1936 Reichstagswahlen an, die zugleich eine Art nachträgliche Volksabstimmung über die Rheinlandbesetzung war. Zugelassen war allein eine Einheitsliste der NSDAP. Wie kalkuliert das Einmarschdatum ausgewählt war, zeigt auch die zeitliche Nähe zum »Heldengedenktag« am 8. März. Dieser neu eingeführte Feiertag, mit dem die Nationalsozialisten seit 1934 den »Volkstrauertag« vereinnahmt hatten, versprach eine große propagandistische Wirkung. Hitler hatte die politische Annäherung Frankreichs und Russlands genutzt, um vor einer vorgeblichen »Einkreisung« Deutschlands zu warnen. Der Künstler und Grafiker John Heartfield kommentierte Hitlers Rhetorik in den Jahren 1935/36 mit einigen Collagen, die in der im Prager Exil herausgegebenen ArbeiterIllustrierten-Zeitung (AIZ) erschienen: die Versorgungskrise in Deutschland im Dezember 1935 mit »Hurrah, die Butter ist alle!« und dem Göring-Zitat »Erz hat stets ein Reich stark gemacht, Butter und Schmalz haben höchsten ein Volk fett gemacht«. Ironisch ist auch die Collage, die nach der Rheinlandbesetzung im Mai 1936 entstanden ist: Hier steht der »Metzger« Hitler hinter einem gallischen Hahn und wetzt das Messer. Die lapidare Bildunterschrift lautet: »Nur keine Angst, er ist Vegetarier.«

Literatur Giro 2015; Kershaw 1998; Kershaw 2016. 1  Ausst. Kat. Stuttgart 1941, S. 357. 2  Vgl. Hitler 1936. 3  »Our objectives in all this are threefold – first, to avert the danger of war, second, to create conditions in which negotiations can take place and third, to bring about the success of those negotiations so 159

that they may strengthen collective security, further Germany’s return to the League and, in a happier atmosphere, allow those larger negotiations on econom­ ic matters and on matters of armaments which are indispensable to the appeasement of Europe to take place. I assure the House that it is the appeasement of Europe as a whole that we have constantly before us.« Vgl. https:// api.parliament.uk/

historic-hansard/ commons/1936/mar/26/ european-situation# column_ 1446 (abgerufen am 22.03.2022). 4  Schuschnigg 1946, S. 43, zit. n. Giro 2015, S. 78. 5  Henderson 1949, S. 309f.

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Wie die Fotos seiner Rednerposen durch seinen »Leibfotografen« Heinrich Hoffmann veranschaulichen, überzeugte Hitler als Redner nicht nur durch sein von Zeit­ genossen als charismatisch empfundenes Auftreten, sondern auch dank einer bewussten Inszenierung. Er verwandte viel Zeit darauf, seine Außendarstellung zu perfektionieren. Der »Bluff« gehörte zum politischen Repertoire eines Politikers, der oft bereit war, ins Risiko zu gehen. Viele ließen sich von seiner Mischung aus  Drohgebärden und Friedensversprechungen täuschen. Hitler war schon früh bewusst, dass inszenierte Bilder ein wichtiges Instrument seiner Herrschaft waren. Ein markantes Beispiel sind seine Auftritte auf den Reichsparteitagen der NSDAP. Die aufwendig produzierten Filme dieser Veranstaltungen setzten den »Führer« spektakulär in Szene, sodass der Kult um seine Person in den Wochenschauen der Kinos weite Verbreitung fand. SPJ Literatur: Schmölders 2000.

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Heinrich Hoffmann | Rednerposen Adolf Hitlers  1927 | Fotografien | BArch, Bild 102-10460

Der Künstler John Heartfield gehörte zu den engagierten politischen Künstlern der Weimarer Republik. 1918 trat er in die neu gegründete Kommunistische Partei ein. 1934 wurde er ausgebürgert und arbeitete fortan im tschechischen Exil. Die Außenpolitik Hitlers des Jahres 1936 kommentierte er in mehreren Collagen. In dieser Montage steht die behauptete Furcht Hitlers im Zentrum, von feindlichen Mäch­ ten umzingelt zu sein. Hinter­grund ist der französisch-sowjetische Beistandspakt, der die Furcht vor einer Einkreisung Deutschlands verstärkte. Das Plakat, das den Titel »Hitler erzählt Märchen« trägt, spielt mit der Bildsprache von Waffen und  Zinnsoldaten, die um Hitler einen geschlosse­nen Kreis bilden. Der Witz besteht darin, dass die Waffen nicht auf Hitler, der hier als klagendes Kind mit Zipfelmütze dar­gestellt wird, zeigen, sondern dass die Mündungen nach außen weisen. SPJ Literatur: Ausst. Kat. Berlin u. a. 2020.

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John Heartfield | Collage »Zu Hilfe, zu Hilfe, ich bin eingekreist!«  Aus: ArbeiterIllustrierte-Zeitung (AIZ), Jg. 15, Nr. 10 | Prag, 5. März 1936 | Papier, Druck; 38 × 27 cm | © The Heartfield Community of Heirs / VG Bild-Kunst, Bonn 2023

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Ende März 1936, drei Wochen nach dem Eimarsch der Wehrmacht ins Rheinland, wurde ein neuer Reichstag gewählt. Die Wahl diente auch zur Legitimierung der Militarisierung des Rheinlands. Die Titelzeile auf dem Stimmzettel steht für die propagandistische Ausrichtung dieser Aktion: »Reichstag für Freiheit und Frieden«. Zur Wahl stand lediglich der Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) Adolf Hitler. Der Stimmzettel hatte nur ein Feld, in dem die Wähler und Wählerinnen ihr Kreuz setzen konnten. Für eine andere Partei oder gar mit »Nein« zu stimmen, war nicht vorgesehen. Das Ergebnis fiel dementsprechend aus: Die Liste der NSDAP erreichte offiziell 98,8 Prozent der Stimmen bei einer angeblichen Wahlbeteiligung von 99 Prozent. 722 Abge­ordnete der NSDAP zogen in den Reichstag ein, der jedoch keinerlei Mit­ wirkungsrechte an politischen Entscheidungen hatte. SPJ  Literatur: Stepanek 2014.

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Stimmzettel aus dem Wahlkreis Ober­ bayern-Schwaben für die Reichstagswahl 1936  Deutsches Reich, 29. März 1936 | Papier, Druck; 14,4 × 20,8 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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»Wenn nicht bis elf Uhr eine neue Regierung gebildet ist, marschiert die Reichswehr. Eine Militärdiktatur unter Schleicher und Hammerstein droht.«

Franz von Papen, ehemaliger Reichskanzler und Beauftragter des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg für die Koalitionsgespräche der zukünftigen Regierung, 29. Januar 1933

»Ein Wunder« – 30. Januar Oder: Militär­diktatur statt NS-Diktatur?

Lili Reyels

»Kamarilla1 am Werke! Es kriselt in der Wilhelmstraße – Hitler und Papen als Kanzlerkandidaten – Schleicher wackelt«, titelte die SPD-Parteizeitung Vorwärts am 27. Januar 1933. Tatsächlich hatten in den Berliner Zirkeln aus Presse und Politik in den letzten Januarwochen 1933 vermehrt Gerüchte die Runde gemacht, Reichspräsident Paul von Hindenburg wolle den ehema­li­ gen Kanzler Franz von Papen erneut in die Reichskanzlei berufen.2 Gleichzeitig war klar, dass eine Regierung ohne Beteiligung der Nationalsozialisten kaum möglich sein würde. Der Vorwärts brachte es am 27. Januar 1933 ironisch auf auf den Punkt: »Entweder also der Faschings­kanzler Hitler oder die Wiederkehr des Herrenreiters von Papen, dessen Politik im Volke Stürme der Entrüstung hervor­gerufen hat.«

Das »Planspiel Ott« Dabei war Papen gerade erst von Kurt von Schleicher gestürzt worden. Diesem war es gelungen, mit dem »Planspiel Ott«, einer am 25. und 26. November im Reichswehrministerium am grünen Tisch abgehalte­nen Übung, deutlich zu machen, dass die Reichswehr einen gleichzeitigen Aufstand von Kommunisten und Nationalsozia­list­en nicht werde niederhalten können. Die Übung hatte die konkreten Chancen der Reichswehr in einer gewalt­ samen Auseinandersetzung im Zuge eines militärischen Staatsstreichs ausgelotet – ein veritables Planspiel für die Etablierung eines autoritären Obrigkeitsstaats also, mit einem konkreten »Merkblatt für den militärischen Ausnahezustand«3. Ohne Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten, so die Folgerung, werde es zu Generalstreik und Ausnahmezustand kommen. Eine Beteiligung Adolf Hitlers aber würde die Linke auf die Barrikaden bringen. Die Gesamtlage schien aussichtslos.4 Papens Einfluss auf Hindenburg blieb dennoch groß. Auch Hitler erkannte nach einer Unterredung mit Papen am 4. Januar 1933: Wenn er sich mit ihm zusammentäte, könnte er darauf hoffen, den Einfluss des Ex-Kanzlers auf den Reichspräsidenten für seine Zwecke zu nutzen.

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Kurt von Schleicher verliert die Regierungsmacht So musste Schleicher bereits am 23. Januar 1933 Hindenburg um eine Unterredung bitten. Er wollte erfahren, ob der Reichspräsident noch zu ihm stehe. Schleicher hatte sich in den Kopf gesetzt, Hindenburg um die Auflösung des Reichstags zu bitten – jedoch ohne dann innerhalb der von der Verfassung vorgeschriebenen Frist Neuwahlen anzuberaumen, was einem Verfassungsbruch gleichkam. Diese Bitte schlug Hindenburg ihm aus. Am 28. Januar 1933 informierte Schleicher sein Kabinett, dass der Reichspräsident seinem Wunsch nicht entsprochen hatte. Schon die Gerüchte um den Verfassungsbruch – um ihn zu rechtfertigen, erwäge Schleicher die Ausrufung des Notstands – ließen die Sozialdemokraten und die Zentrumspartei empört reagieren. So blieben die Parteien, die bisher das Bollwerk der Weimarer Republik dargestellt hatten, auf die in ihren Augen bedrohlichste Gefahr fixiert: auf einen Bruch der Verfassung durch Schleicher, oder, für den Fall seiner Ablösung, durch Papen. So gebannt waren sie von dieser erwarteten Gefahr, dass sie die eigentliche Bedrohung, nämlich die einer nationalsozialistischen Diktatur unter Adolf Hitler, dem angeblich bloßen »Faschingskanzler«, nicht erkannten. Schleicher wollte keineswegs eine Militärdiktatur etablieren. Aber seine Hoffnung war geschwunden, noch länger Kanzler bleiben zu können. Nun konzentrierte er seinen verbliebenen Einfluss darauf, Papen zu verhindern, selbst wenn dies bedeuteten würde, dass Hitler Reichskanzler würde. Andere einflussreiche Personen drängten den Reichspräsidenten in die gleiche Richtung. So hatte der Chef der Heeres­ leitung, Kurt von Hammerstein-Equord, gemeinsam mit dem Chef des Heerespersonalamts, Erich von dem Bussche-Ippenburg, am 22. Januar 1933 an der wöchentlichen Besprechung mit Hindenburg teilgenommen. Die Generäle warnten ihn, eine Rückkehr Papens in die Reichskanzlei werde die Gefahr eines Bürgerkriegs heraufbeschwören. Die Reichswehr werde ein zweites Kabinett ohne die Beteiligung der Nationalsozialisten unter keinen Umständen tolerieren. Obwohl der Reichspräsident Hammerstein und Bussche-Ippenburg das Gegenteil versicherte, war Hindenburgs Widerstand gegen eine Ernennung Hitlers mittlerweile schon deutlich schwächer geworden.

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Kurt von Hammerstein sondiert die Lage Am 28. Januar 1933 beauftragte Hindenburg Papen mit der Sondierung für eine neue Regierung. Bald schon ging es darum, wer welchen Posten in einem Kabinett Papen–Hitler besetzen würde. Dies sah vor allem auch die Absetzung Schleichers als Reichswehrminister vor. Ein vergleichsweise »unpolitischer General« sollte an seine Stelle treten.5 Daher sah dieser in einem Reichskanzler Hitler die einzige Möglichkeit, selbst die Kontrolle über die Reichswehr zu behalten. Schleicher stellte sich dabei

General Kurt von Schleicher (l.) mit General Kurt von Hammerstein-Equord bei einer Veranstaltung der Reichswehr in Berlin  Berlin, 1932 | Fotografie | bpk

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nicht gegen den Reichspräsidenten, denn Befehlsautomatismen des Kaiserreichs kamen auch in der demokratischen Republik zum Tragen: »Ich bin General, Hindenburg ist Feldmarschall. Ich habe gehorchen gelernt.«6 In einem Geheimtreffen mit Hitler am Nachmittag des 29. Januar 1933 sondierte Hammerstein, ob sich dieser auf die Seite der Reichswehr ziehen ließe. Dabei erkundigte sich Hammerstein, ob der von Hindenburg beauftragte Papen ernsthaft mit ihm, Hitler, über die Kanzlerschaft verhandle, worauf dieser sich –

trotz der bereits fortgeschrittenen Verhandlungen – bedeckt hielt. Unter Verkennung der Umstände bot Hammerstein Hitler noch an, seinen Einfluss in der Reichswehr zugunsten der Nationalsozialisten geltend zu machen. Am selben Abend berieten Schleicher, Hammerstein und Werner von Alvensleben, ein einflussreicher Verbindungsmann konservativer Kreise, wie weiter zu verfahren sei. Später traf Alvensleben bei Goebbels auf Hitler und Göring, die sich über den Fortgang der Kabinettsverhandlungen informierten. Als er ohne klare Antwort zurückkehrte, rief Hammerstein Hitler an, um ihn vor einem Kabinett Papen ohne Beteiligung der Nationalsozialisten zu warnen. Aus Tagebuchaufzeichnungen wissen wir, dass Hammerstein die perspektivlose Lage der konservativen Militärs vermutlich realistisch einschätzte, zumal die Gefahr eines Generalstreiks, wenn nicht gar eines Bürgerkriegs drohte. Nach einem letzten Gespräch mit Hitler fuhr Hammerstein zu einem Reitturnier weiter – trotz der dramatischen Lage sah er es offensichtlich nicht mehr als aussichtsreich und daher als nicht nötig an, weiter zu verhandeln.

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Die Macht eines Gerüchts Das Zusammentreffen mit Alvensleben alarmierte Hitler, Göring und Goebbels jedoch. Das Gerücht, die Reichswehrführung stünde jederzeit bereit, militärisch gegen ein ihren Vorstellungen nicht entsprechendes Kabinett vorzugehen, hatte Hitler aufgeschreckt. Sollte ein putschendes Militär in letzter Sekunde seine Pläne vereiteln? Vorsorglich versetzte man die Berliner SA in Alarmbereitschaft. Das Putschgerücht war haltlos, aber es  verbreitete sich schnell und erleichterte es Papen, auf ein Präsidialkabinett unter Hitlers Führung und auf die Entmachtung Schleichers im Reichswehrministerium hinzuarbeiten. Als das Gerücht Hindenburg erreichte, wurde Schleicher von dessen Sohn Oskar als Verräter bezeichnet. Niemand überprüfte das Gerücht auf seinen Wahrheitsgehalt, aber Papen erkannte, dass ihm die Krisenstimmung das entscheidende Momentum bot: Er legte Hindenburg seine Ministerliste vor. Am 29. Januar 1933 abends erhielt er die Zustimmung des Reichspräsidenten zur Vereidigung eines von Hitler geführten Kabinetts. Da die Vereidigung des neuen Kabinetts eilig für den nächsten Morgen angesetzt wurde, fehlte die Zeit für weitere Koalitionsverhandlungen. Die Besetzung des Justizressorts war noch offen – dadurch entstand bei Hindenburg der Eindruck, dieses Ministerium werde später durch Verhandlungen mit dem zur Koalition hinzustoßenden Zentrum besetzt werden.7 Die finale Dynamik bekam das Putschgerücht schließlich durch die Anreise des Generalleutnants Werner von Blomberg aus Genf. Bei seiner Ankunft am Bahnhof warteten zwei Offiziere auf ihn: Einerseits Hammerstein, der ihn davor warnen wollte, in einem Kabinett Hitler–Papen Reichswehrminister zu werden,

Heinrich Hoffmann | Erste Aufnahme Hitlers als Reichskanzler an seinem Schreibtisch in der Reichskanzlei  Berlin, 30. Januar 1933 | Fotografie | bpk / Bayerische Staatsbibliothek / Heinrich Hoffmann

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andererseits Oskar von Hindenburg, der ihn abholen wollte, um in die Reichskanzlei zu fahren – denn er war als Minister vorgesehen. Blomberg entschied sich für Hindenburg. Als in der Reichskanzlei bekannt wurde, ein vom Reichswehrministerium entsandter Offizier habe Blomberg zu Schleicher bringen wollen, verlieh das den Gerüchten eines unmittelbar bevorstehenden Militärputschs neue Glaubwürdigkeit. Der Eindruck, dass angesichts dieser Gefahr die politische Lage so rasch wie möglich geklärt werden müsste, wurde übermächtig. Vorbeugend ernannte Hindenburg

Blomberg um kurz vor neun Uhr zum neuen Reichswehrminister und entzog Schleicher jegliche Befehlsgewalt über die Reichswehr. Das war ein Verfassungsbruch: Die Weimarer Verfassung sah vor, dass Kabinettsmitglieder vom Reichspräsidenten nur nach ihrer Nominierung durch den Reichskanzler vereidigt werden konnten. Das Putschgerücht ist auch später noch perpetuiert worden, so von Göring bei den Nürnberger Prozessen: »Es drohte damals, was wenig bekannt war, ein Putsch seitens Schleicher–Hammerstein mit der Potsdamer Garnison.«8 Und Theodor Duesterberg, damals noch Vorsitzender des paramilitärischen Stahlhelmbunds, zitierte Papen 1949 folgendermaßen: »Wenn nicht bis elf Uhr eine neue Regierung gebildet ist, marschiert die Reichswehr. Eine Militärdiktatur unter Schleicher und Hammerstein droht.«9 Der 30. Januar 1933 markierte also keineswegs den Tag einer »Machtergreifung«, vielmehr wurde Adolf Hitler die Macht regelrecht in den Schoß gelegt.

Literatur Bracher 1957; Diner 2015a; Herbert 2016; Keil/ Kellerhoff 2017; Orth/Pyta 2021; Pyta 1992; Turner 1997. 1  Unter Kamarilla versteht man eine Perso­ nengruppe, die nicht offiziell zur Regierung gehört, aber Einfluss auf die Entscheidung der Regierenden hat. Der Begriff wird von Zeitge­ nossen und in der Geschichtsschreibung auch für das Umfeld von Reichspräsident Paul von Hindenburg verwendet, vor allem in der kritischen Zeit um die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler. 2  Turner 1997, S. 174. 3  Pyta 1992, S. 426ff. 4 

Bracher 1957, S. 639.

5  Vgl. den Tagebuch­ eintrag vom 5. Februar 1933 des Reichsfinanz­ ministers Lutz Graf Schwerin von Krosigk über die Vorgänge in Berlin am 29. und 30. Januar 1933 und über die Bildung des Kabinetts Hitler (Akten der Reichs­ kanzlei online: Das Kabinett von Schleicher [1932/33], Dok. Nr. 79 vom 05. Februar 1933, https:// www.bundesarchiv.de/ aktenreichskanzlei/19191933/10a/vsc/vsc1p/ kap1_2/para2_79. html#d8e40) und die darauf gestützte, z. T. kommentierte Darstellung der Ereignisse bei Schwerin von Krosigk 1974, S. 166ff. 6  Treviranus 1968, S. 347f. 7  Vgl. Diner 2015a, S. 182. 8  Vgl. Keil/Kellerhoff 2017, S. 24. 9  Duesterberg 1949, S. 39.

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Die vermeidbare Katastrophe: der 30. Januar 1933

Heinrich August Winkler

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Das »große Wunder«1, von dem Goebbels sprach, war die Machtübertragung an Hitler am 30. Januar 1933 nicht. Die größte Katastrophe der deutschen und der europäischen Geschichte hätte bis zuletzt verhindert werden können. Der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg war nicht genötigt, den Führer der stärksten Partei zum Reichskanzler zu ernennen, denn von einer Mehrheit im Reichstag war Hitler weit entfernt. Hindenburg war auch nicht gezwungen, den riskanten Weg zu gehen, den ihm der amtierende Reichskanzler, der General Kurt von Schleicher, vorgeschlagen hatte: den Reichstag auf­zulösen und unter Verletzung der Reichsverfassung Neuwahlen nicht innerhalb von 60 Tagen, sondern erst nach einer Beruhigung der Lage im Herbst 1933 anzuordnen. Er hätte auch Schleicher, falls der Reichstag diesem das Misstrauen ausgesprochen hätte, geschäftsführend im Amt belassen oder einen nicht polarisierenden Nachfolger ernennen können. Bei der letzten Reichstagswahl am 6. November 1932 hatten die Nationalsozialisten gegenüber der vorangegangenen Wahl vom 31. Juli 1932 über zwei Millionen Stimmen verloren. In Deutschland wie im Ausland hielten damals viele Hitler für politisch erledigt. Hitler selbst kündigte Anfang Dezember 1932 vor Vertrauten an, wenn die Partei einmal zerfalle, mache er »in drei Minuten mit der Pistole Schluss«2. Aber Hitler musste noch nicht alle Hoffnung fahren lassen. Die Verluste der NSDAP waren das eine Merkmal der November­ wahl. Das andere waren die Gewinne der Kommunisten, die gegenüber dem Juli rund 700 000 Stimmen zulegten, auf die magische Zahl von 100 Reichstagssitzen kamen und nur noch 3,5 Prozentpunkte hinter der größten Arbeiterpartei, der SPD, lagen. Die KPD propagierte die proletarische Revolution und die Errichtung eines »Sowjetdeutschlands«. Ihr Erfolg schürte die Angst vor dem Bürgerkrieg, und diese Angst wurde zu Hitlers wichtigster Verbündeten. Zwei Wochen nach der Novemberwahl wandte sich eine Gruppe von Großgrundbesitzern, Bankiers und Großindustriellen in einer Eingabe an Hindenburg und bat ihn, den Mann an die

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Spitze der Regierung zu berufen, der die größte nationale Gruppe führe: Adolf Hitler. Doch Hindenburg hatte Hitler im Verdacht diktatorischer Absichten und weigerte sich deshalb, den Führer der Nationalsozialisten zum Reichskanzler zu ernennen und ihm die geforderten außerordentlichen Vollmachten nach Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung zu gewähren. Erst im Januar 1933 begann der Reichspräsident, seine Haltung gegenüber Hitler zu ändern. Das lag an mehreren Faktoren. Zum einen machte der Reichslandbund, in dem der ostelbische Rittergutsbesitz großen Einfluss ausübte, gegen den General von Schleicher mobil, dem er wie schon seinem Vorvorgänger Heinrich Brüning vom katholischen Zentrum eine »agrarbolschewistische« Politik unterstellte. Zum anderen gerieten Hindenburg und sein Sohn Oskar in negative Schlagzeilen, als der Haushaltsausschuss des Reichstags mit Enthüllungen zum »Osthilfeskandal« aufwartete und in diesem Zusammenhang auch Steuer­ manipulationen um Hindenburgs Gut Neudeck in Ostpreußen publik wurden – Meldungen, denen die Regierung Schleicher nach Meinung des Reichspräsidenten nicht energisch genug entgegentrat. Schließlich verwandte sich auch Schleichers Vorgänger im Kanzleramt, der hochkonservative Franz von Papen – ein Mann, den Hindenburg außerordentlich schätzte und der seinerseits der Vertrauensmann eines Kreises von Schwerindustriellen war – auch in deren Namen beim Reichspräsidenten für eine »nationale Regierung« mit Hitler als Reichskanzler und ihm, Papen, als Vizekanzler mit einer Mehrheit von konservativen Kabinettsmitgliedern. Es war diese »Krisenlösung«, für die sich Hindenburg zuletzt entschied, weil sie ihm am ehesten geeignet erschien, den Bürgerkrieg zu verhindern. Den hätte er auch nach Einschätzung der Reichswehrführung befürchten müssen, wenn er jenes reaktionäre, von den monarchistischen Deutschnationalen beherrschte »Kampfkabinett« berufen hätte, von dem in den letzten Januar­ tagen in Berlin gerüchteweise viel die Rede war. Eine konserva­ tive Regierung mit einem Rückhalt in den »nationalen Massen« als Ausweg aus der Sackgasse, in die Deutschland nach 1930 geraten war: Es war kein Zufall, dass sich diese (vermeintliche) Option im Januar 1933 durchsetzte. Die parlamentarische Demokratie war im März 1930 gescheitert, als die letzte Mehrheits­regierung an einem Streit um die Sanierung der Arbeitslosen­versicherung zerbrach. Es folgte ein halbautoritäres Präsidialregime, das mit Notverordnungen des Reichspräsidenten regierte. Von der Ausschaltung des Reichstags, die teilweise eine Selbstausschaltung war, profitierten die antidemokratischen Parteien, obenan die NSDAP. Hitler konnte nunmehr einerseits an die verbreiteten Ressentiments gegenüber dem angeblich undeutschen System von Weimar, der Staatsform der Siegermächte des Ersten Weltkriegs, appel-

lieren, andererseits an den seit Bismarcks Zeiten verbrieften Teilhabeanspruch des Volkes in Form des allgemeinen gleichen Reichstagswahlrechts, das seit 1930 weithin ins Leere lief. Bei den beiden Reichstagswahlen des Jahres 1932 gab es in Deutschland eine Wählermehrheit gegen die Demokratie – eine negative Mehrheit in Form der Stimmen für NSDAP und KPD. Zur Vorgeschichte des 30. Januar 1933 gehört aber auch der politische Einfluss der vom Kaiserreich geprägten »alten Eliten«, obenan der ostelbischen Rittergutsbesitzer, auf den vom Volk direkt gewählten Reichspräsidenten, der ebendiesem Milieu eng verbunden war. Die Machtübertragung an Hitler wäre nicht erfolgt, wenn Hindenburg an seinem bis Ende 1932 immer wieder geäußertem Misstrauen gegen den »Führer« festgehalten hätte. So gesehen, war der 30. Januar 1933 weder ein zwangsläufiges Ergebnis der vorangegangenen deutschen Geschichte noch ein »Betriebsunfall«. Es war eine lange Vorgeschichte, die dieses Ereignis möglich machte. Wäre Hitler Anfang 1933 nicht zum Reichskanzler ernannt worden, wäre das nicht die Rettung der Demokratie von Weimar gewesen; die war bereits gescheitert. Eine Regierung des Generals von Schleicher hätte sich zu einer verdeckten Militärdiktatur entwickeln können. Den Rechtsstaat hätte Deutschland unter seiner Führung aber schwerlich abgeschafft. Ein faktisch von der Reichswehr geführtes Deutschland hätte die Aufrüstung vorangetrieben, wohl auch eine nationalistische Außenpolitik, besonders gegenüber Polen, betrieben, aber nicht die große Konfrontation mit der Sowjetunion gesucht, mit der man insgeheim im Rüstungssektor seit Langem eng zusammenarbeitete. Und ohne einen Reichskanzler Hitler wäre Deutschland gewiss nicht zum Land der systematischen Entrechtung und schließlich der Ermordung der Juden geworden. Dass es so kam, wie es kam, lag an denen, die die Macht hatten, die Katastrophe zu verhindern, sich aber anders entschieden.

Literatur Blasius 2005; Turner 1997; Winkler 2018, S. 557ff. 1 In: Der Angriff, 2. Januar 1932, S. 1. 2  Goebbels 1934, S. 220 (Eintrag vom 8. Dezember 1932).

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In der zweiten Januarhälfte 1933 war das politische Berlin eine brodelnde Gerüchteküche. Reichskanzler Kurt von Schleicher sollte nach weniger als zwei Monaten im Amt am 28. Januar zurücktreten. Seine Strategie einer »Querfront«, die wesentlich die Vertreter von Arbeitnehmerorganisa­ tionen sich politisch feindlich gegenüberstehender Parteien zusammenführen sollte, war gescheitert. An seinem Sturz war, wie der sozialdemokratische Vorwärts einen Tag zuvor berichtet hatte, der einflussreiche Zirkel um den Reichsprä­si­den­ ten Paul von Hindenburg beteiligt. Diese »Kamarilla«, so das SPD-Zentral­organ, arbeite auf ein Kabinett des »Herren­reiters von Papen« oder eines »Faschings­ kanzler[s] Hitler« hin. LSG

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Artikel über Gerüchte eines Rücktritts Kurt von Schleichers  In: Parteizeitung »Vorwärts«, Jg. 50, Nr. 45 | Berlin, 27. Januar 1933 | Papier, Druck; 47 × 32 cm | Bibliothek im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

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Heinrich Hoffmann, Fotograf und National­ sozialist der ersten Stunde, prägte seit 1923 mit seinen Bildern die öffentliche Wahrnehmung Adolf Hitlers. Seine Aufnahmen des frisch vereidigten Kabinetts Hitler knüpfen an traditionelle deutschnationale Repräsentationsformen an. Betont bürgerlich nimmt die Gruppenaufnahme Hitlers mit seinen neuen Kabinettskollegen Bezug auf die Ikonografie ihrer Vorgängerregierungen. Die Bilder hatten zum Ziel, das Vertrauen in die Regierungs­ fähigkeit der Nationalsozialisten zu stärken. »Wir rahmen also Hitler ein«, meinte der Vorsitzende der DNVP, Alfred Hugenberg, angesichts von lediglich zwei wei­ teren nationalsozialistischen Ministern neben Hitler. Mit der unmittelbar folgen­ den Reichstagsauflösung und dem ein­ setzenden Terror war dieses Vorhaben Makulatur. Innerhalb weniger Wochen hatte die neue Regierung die Weimarer Republik faktisch zerstört. Bildmotive von Hitler als Teil einer Koalitionsregierung gab es von da an nicht mehr. LR Literatur: Herz 1994.

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Heinrich Hoffmann | Das Kabinett Hitler Berlin, 30. Januar 1933 | Fotografie | Agentur Scherl, BArch, Bild 183-H 28422

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»… an den letzten hundert Metern vor dem Ziele ...«

Heinrich Brüning, deutscher Reichskanzler, am 11. Mai 1932 im Reichstag

Elend – Wirtschaftskrise Oder: Brüning gelingt der Kurswechsel

Lili Reyels

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»[H]undert Meter vor dem Ziele« stehe seine Deflationspolitik, beschwor Reichskanzler Heinrich Brüning am 11. Mai 1932 den Reichstag.1 Schnell wurde der Halbsatz zum geflügelten Wort. Brünings wissenschaftlich und politisch heiß umkämpfte Finanz- und Geldpolitik blieb unvollendet: Noch im Mai 1932, kurz vor dem avisierten Ziel, wurde er von Reichspräsident Paul von Hindenburg entlassen. Acht Monate später ernannte dieser Adolf Hitler zum Reichskanzler. Hätte sich dieses Verhängnis vermeiden lassen, wenn Brünings »Lauf« nicht abgebrochen, sondern bis ins Ziel fortgesetzt worden wäre? Wurde im Mai 1932 also eine womöglich chancenreiche Alternative, eine »road to be taken«, verkannt und verfehlt? Trotz ihrer kurzen Dauer gehört die zwei­jährige Regierungszeit Brünings zu den umstrittensten Abschnitten der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der erfahrene Zentrumspolitiker hatte die Kanzlerschaft im April 1930 angetreten, als das politische System Deutschlands bereits höchst instabil war. Die Wirtschaft litt unter massiven Strukturproblemen, so waren die Sozialkosten in schwindelerregende Höhen geschnellt. Es drohte ein gewaltiges Staatsdefizit. Radikale Kräfte von rechts wie von links stellten, von der Presse jeweils unterstützt, die Weichen für die end­gültige Zerstörung der demokratisch-parlamentarischen Republik von Weimar. Es gilt als unumstritten, dass die Deflations­politik die Krise verschärfte. Ob sie jedoch vermeidbar war, ist umstritten. Inwieweit kann also von einer Verantwortung der Regierung Brüning für die katastrophale Verschärfung der Finanzkrise zur politischen Systemkrise die Rede sein? Die Deutschen standen seit den 1920er Jahren unter dem Ein­ druck einer der schlimmsten Geldentwertungen der Geschichte. Das traumatisierende Erlebnis der Inflation lag erst sechs Jahre zurück. Im November 1923, auf dem Höhepunkt der galoppieren­ den Inflation, kostete 1 Dollar 4 200 000 000 000 (4,2 Billionen) Reichsmark (RM). Gemessen am Geldwert von 1914 waren die auf 164 Milliarden RM festgesetzten Kriegsschulden des Deutschen Reiches nur noch 16 Pfennige wert. Erst mit der Währungs­ reform 1923/24 wurde das Deutsche Reich international wieder kreditwürdig. Die »Lösung« der Reparationsfrage, also die Be­ endi­gung der drückenden deutschen Zahlungspflichten, blieb aber auf Jahre ein dominantes Thema.

Effiziente Fließbandproduktion von Motor/Getriebeeinheiten des Opel 1,2 Liter im Werk Rüsselsheim Rüsselsheim, 1931 | Fotografie | Opel Automobile GmbH, Rüsselsheim

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Von der »Dollarscheinblüte« zum Börsencrash Zwischen 1924 und 1929 flossen umfangreiche ausländische Kredite und Investitionen nach Deutschland, mit dem geflügelten Wort der »Dollarscheinblüte« bezeichnet. Das ausländische Engagement war aber vor allem Ausdruck des sich wiederbelebenden und stärker verschränkenden Welthandels. So kaufte etwa General Motors aus Detroit im Jahr 1928 die Adam Opel AG in Rüsselsheim, was das deutsche Unternehmen vor dem Untergang bewahrte.2 Wirtschaftlich-technische Modernisierung und Rationalisierung in Deutschland führten dazu, dass der Export beinahe wieder das Vorkriegsniveau erreichte. Zur gleichen Zeit baute sich eine gefährliche Finanzblase in den USA auf. Gleichwohl bekräftigte Anfang Oktober 1929 etwa Irving Fisher, ein renommierter Ökonom an der Universität Yale, die herrschende Ansicht, dass die Kurse an der New Yorker Börse anscheinend ein dauerhaft stabiles Hoch erreicht hätten.3 Umso unerwarteter traf der Einbruch der Aktienkurse am 24. Oktober

die Investoren. Wie eine Lawine rollte in der Folge die Finanzkrise über die ganze Welt. Die amerikanischen Banken und Investoren zogen sich aus Europa und insbesondere aus Deutschland zurück. Anderthalb Jahre später, im Mai 1931, brach die finanzwirtschaftlich wichtige Darmstädter und Nationalbank (DanatBank) zusammen. Der darauffolgende Sog riss immer mehr Banken und Unternehmen in die Zahlungsunfähigkeit. Eine Folge waren Massenentlassungen. 1932 gab es in Deutschland mehr als sechs Millionen Arbeitslose. Da die Geschäfte mangels zahlungskräftiger Kundschaft immer weniger verkaufen konnten, sanken die Preise. Statt den Warenkreislauf anzukurbeln, hielten die Unternehmer Investitionen in der Erwartung zurück, alles werde noch billiger werden. Der Preisverfall (Deflation) machte aus der Rezession eine Depression. Brüning animierte nicht dazu, mehr Geld auszugeben, um die Konjunktur wieder in Schwung zu bringen. Im Gegenteil: Noch im Februar 1932 gab er die Prägung von Kupfermünzen zum Nennbetrag von 4 Reichspfennig in Auftrag.4 Um die Bevölkerung zu mehr Sparsamkeit zu bewegen, sollte ein Teil der Gehälter in ebendiesen 4-Pfennig-Stücken gezahlt werden. Entsprechend taufte sie der Volksmund »Brüning-Taler« und »Armer Heinrich«. Mit vier großen Notverordnungen »zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen« hatte Brüning seine einschneidende Spar- und Deflationspolitik vorangetrieben. Die Verordnungen auf Grund­ lage des Verfassungsartikels 48 ersetzten zunehmend die Gesetze. Während Brünings nur zweijähriger Regierungszeit unterschrieb Reichspräsident Hindenburg mehr als 60 derartige Notverordnungen.

4 Reichspfennig (»Brüning-Taler«)  1932 | Kupfer, geprägt; Durchmesser 2,8 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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Deflationskonsens bis Herbst 1931 Bis zum Herbst 1931 konnte sich Brüning in Deutschland auf einen breiten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Deflationskonsens berufen. Hinter der Vorstellung, man müsse die Wirtschaft »gesundschrumpfen«, stand die Überzeugung, dieser Kurs werde für die Strukturprobleme der deutschen Wirtschaft eine bereinigende Wirkung entfalten. Die Beseitigung struktureller Mängel, so die überwiegend geteilte Meinung, sei Voraussetzung für die konjunkturelle Erholung.

Auch weil es bis dahin Konsens unter den Wirtschaftswissenschaftlern der verschiedensten Richtungen war, dass sich eine Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit irgendwann von selbst auflösen würde, wurde Brüning zum »Hungerkanzler«5: Die Löhne sollten so lange sinken, bis es sich für die Unternehmer wieder lohnen würde, Arbeitskräfte einzustellen. Die Preise sollten so lange fallen, bis ein Marktgleichgewicht wiederhergestellt sei. Dahinter stand die Vorstellung, die Krise sei insgesamt ein eher heilsamer Prozess, weil »untüchtige« Betriebe im harten Wettbewerb nicht überleben könnten. Diese Politik wurde auch von der SPD unterstützt, namentlich von ihrem Chefstrategen Rudolf Hilferding. Dieser sah es als aussichtslos an, die gesetzmäßig ablaufenden Krisen im Kapitalis­mus zu beeinflussen. Brünings Maßnahmen zielten, wie vom YoungPlan vorgeschrieben, primär auf Sicherung der Geldwertstabilität. Auch außerhalb der SPD herrschte weitgehend Ein­ver­nehmen darüber, dass das Deutsche Reich seine regelmäßig ablaufenden Haushaltsdefizite nicht nach Bedarf mit Krediten decken könne und dass die Regierung zum Sparkurs gezwungen sei.

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Wirtschaftliches Umdenken durch die Weltwirtschaftskrise Die Weltwirtschaftskrise veränderte das Verhältnis von Staat und Wirtschaft jedoch nachhaltig. Unter dem Eindruck der drama­tischen Situation setzte unter Ökonomen weltweit ein Umdenken ein. Potenziell inflationsfördernde Maßnahmen wurden nun trotz der Erfahrung der Hyperinflation gesellschaftlich immer breiter unterstützt. In Deutschland waren vielen Fach­leuten die Aufsätze des bekanntesten Wirtschaftstheoretikers, John Maynard Keynes, unter anderem in den entsprechenden Zeitschriften Wirtschaftsdienst und Der deutsche Volkswirt geläufig. Seit den späten 1920er Jahren hatte Keynes propagiert, dass der Staat in schlechten Zeiten das private Nachfragedefizit durch kreditfinanzierte öffentliche Aufträge ersetzen sollte. Keynes war in Deutschland nicht zuletzt wegen seiner Kritik an den Repara­ tionsbestimmungen des Versailler Vertrags hoch angesehen. Spätestens seit Herbst 1931 waren die ökonomisch-technischen Bedingungen für eine Neuorientierung der deutschen Finanz-, Wirtschafts- und Geldpolitik gegeben. Pläne und Programme für staatliche Gegenmaßnahmen zur bisherigen Deflationspolitik wurden aus allen Richtungen an die Regierung Brüning herangetragen, meist verbunden mit Vorschlägen für eine aktive Konjunkturpolitik. Leopold Schwarzschild beispielsweise publi­ zierte als Reaktion auf die Notverordnung vom 5. Juni 1931 den Artikel Die Notverordnung, die nicht kam6. Auch der bekannte Frankfurter Bankier und Geldtheoretiker L. Albrecht Hahn setzte sich für monetäre Gegenmaßnahmen zur Sparpolitik ein. In Auseinandersetzung mit Keynes A Treatise on Money entwickelte der Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium Wilhelm Lautenbach7 ein besonders interessantes Reform-

Emil Stumpp | Bildnis des Politikers Rudolf Hilferding Berlin, 1931 | Druckgrafik; 46 ×32,4 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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Emil Stumpp | Bildnis des Politikers Heinrich Brüning Berlin, 1931 | Druckgrafik; 46,2 ×32 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

konzept. Es fußte unter anderem auf der Idee, dass öffentliche Arbeiten mit Steuergutscheinen bezahlt werden sollten, die später als Steuerzahlungen an das Reich verwendet werden konnten, wo sie dann voraussichtlich aus erhofften Budgetüberschüssen bezahlt würden. Selbst die Spitzenverbände der Wirtschaft plädierten nun für eine zumindest partielle Aufgabe der Deflationspolitik.8 In gemeinsamen Eingaben drängten der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) und der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) Reichsbank und Reichsregierung dazu, die ins Ausland abgeflossenen Gelder durch eine innere Kreditschöpfung aus­ zugleichen. Ein wichtiges weiteres Indiz für diesen Konsens war der vom Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund im Januar 1932 vorgelegte »WTB-Plan«. Er hatte seinen Namen von den drei Autoren Wladimir Woytinsky, Fritz Tarnow und Fritz Baade. Vorgesehen war, rund eine Million Arbeitslose mit öffentlichen Arbeiten zu

beschäftigen. Fritz Tarnow, Vorsitzender des Holzarbeiterverbands und eine der führenden Personen im Bundesvorstand des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds, prägte auf dem Leipziger Parteitag der SPD am 1. Juni 1931 den Satz: »Wenn der Patient röchelt, hungern die Massen draußen.«9 Gemeint war der erkrankte Kapitalismus. Selbst Brünings Staatssekretär im Reichsfinanzministerium, Hans Schäffer, notierte am 2. September 1931 in Bezug auf den bereits erwähnten Lautenbach-Plan: »Kann man es verantworten, an einer richtigen und zweckmäßigen Lösung, die sozial entlastend und politisch beruhigend wirkt, aus taktischen Gründen vorbeizugehen?«10

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Deflationspolitik und Reparationszahlungen Das »Taktieren« bezog sich auf die riskante Instrumentalisierung der Deflationspolitik zugunsten einer Verminderung der drückenden Reparationspflichten aus dem Ersten Weltkrieg. Aus dieser Perspektive war Brünings Politik der gescheiterte Versuch, Devisen zu beschaffen, um die Reparationsforderungen zu einem spürbaren Teil zu begleichen. Der Weg der Geldabwertung, um den Export anzukurbeln, war dem Deutschen Reich eigentlich grundsätzlich verwehrt: Der Young-Plan und der gesetzliche Zwang zur Geldwertstabilität verhinderten derartige Manipulationen. »Die Situation der deutschen Finanzen und Wirtschaft stehen klar vor den Augen der Welt. Das ist die seltsamste Waffe, über welche die Verwaltung verfügen kann«,11 äußerte Brüning. Andererseits hatten die Bestimmungen des Young-Plans und des Reichsbankgesetzes seit der Bankenkrise vom Mai 1931 an Bedeutung verloren – sie konnten einfach nicht mehr eingehalten werden. Im Herbst 1931 schien Deutschland dann den Bruch des Young-Plans riskieren zu können, zumal Brüning seit dem HooverMoratorium nun zu einer expansiven Konjunkturpolitik hätte übergehen können. Der Reichskanzler jedoch zeigte sich unnachgiebig und reagierte höchst empört auf den ohne Absprache mit der Regierung in einem öffentlichen Pressetermin geäußerten Vorstoß des Leiters des Statistischen Reichsamts, Ernst Wagemann, zu einer moderaten Ausweitung der Geldmenge und zu Strukturreformen im Bankenwesen. Im April 1932 stellten sich 32 Ökonomen öffentlich gegen die Vorschläge Wagemanns. Eine aktive Konjunkturpolitik schien aufgrund der schlechten Lage des Staatshaushalts in der Praxis freilich kaum umsetzbar. Die Erklärung der zurückgetretenen Regierung Brüning vom 6. Juni 1932 hat den Eindruck festschreiben wollen, man sei ganz am Ende der Amtszeit, zumindest teilweise, vom bisherigen Sparkurs abgerückt. Von einem bereits sorgfältig ausgearbeiteten konkreten Arbeitsbeschaffungsprogramm für 600 000 Menschen war hier die Rede.12 Tatsächlich zeigen die Akten der Reichskanzlei, dass eine neue Notverordnung zur Wirtschaftsund Sozialpolitik vorbereitet war: die fünfte »zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen«. Bis zum 21. Mai 1932 stand ihr Inhalt

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im Wesentlichen fest.13 Auf der einen Seite waren erneut tiefe Einschnitte in die Sozialleistungen vorgesehen, auf der anderen Seite wurde für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eine Summe von 135 Mio. RM eingeplant. In jedem Ministerium waren baureife Investitionsprojekte zu Programmen zusammengefasst, vor allem im Bereich Straßen- und Wasserbau. Träger der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sollte der »Freiwillige Arbeitsdienst« sein – eine kostensparende Lösung, da dieser Dienst den Erwerbslosen Löhne weit unter Tarifniveau und größtenteils in Naturalien zahlen durfte. Es ist fraglich, ob das Programm eher als Ruhigstellungsstrategie für die Not leidende Bevölkerung gesehen werden kann, um die weitere Tolerierung der Deflationsund Reparationspolitik zu erreichen, oder als echte soziale Maßnahme zur Arbeitsbeschaffung. Zur Finanzierung dieser Maßnahmen plante man – und das war das eigentlich Neue – eine innere Kreditausweitung und hoffte nach Abschluss der Konferenz von Lausanne im Juli 1932 auf erneute (langfristige) Kredite aus dem Ausland.14 In gewisser Weise kam Brüning mit diesem finanz-, wirtschafts- und sozialpolitischen Vorhabenpaket wieder zurück auf den Anfang seiner konjunkturpolitischen Maßnahmen. Am Beginn seiner Amtszeit, im März 1930, hatte das bis dahin größte Kreditprojekt seit der Stabilisierung der Reichsmark, die YoungAnleihe, gestanden, kombiniert mit ausgreifenden Arbeitsbeschaffungsplänen. Die Maßnahmen für die Notarbeiten sollten nun, im Mai 1932, durch eine Form des Geldschöpfens durchgeführt werden, die es erlaubte, öffentliche Schulden gewissermaßen zu verstecken. Mit Gründung der »Deutschen Gesellschaft für öffentliche Arbeiten« (»Öffa«), die kein Eigenkapital besaß, hatte diese Methode seit Anfang August 1930 eine gewisse institutionelle Basis.15 Alleiniger Aktionär der Gesellschaft war das Reich. Durch Gewährung von Darlehen (5 Prozent Zinsen, 20 bis 25 Jahre Tilgungsdauer) sollte die Finanzierung von Notstands­ arbeiten gefördert werden. 1932 gab die Regierung für öffentliche Arbeiten »Öffa-Wechsel« heraus, um die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der geplanten fünften Notverordnung zu finanzieren. Unternehmen, die öffentliche Aufträge zur Arbeitsbeschaffung ausführten, zogen mit diesem System Wechsel auf die Öffa, die die Reichsbank rediskontierte. Auf diesem Wege wurden Wechsel in Höhe von insgesamt 1,26 Mrd. RM in Umlauf gebracht, die in späteren Haushaltsjahren beglichen werden sollten. Letztlich scheiterte Brünings Idee, alle wirtschaftlichen Maßnahmen in der fünften Notverordnung zu bündeln, am von den Nationalsozialisten initiierten Einspruch des Reichsschuldenausschusses – also des Gremiums, das für die Ausstellung von neuen Kreditermächtigungen zuständig war. Immerhin konnte Brüning im Reichstag noch das »Reichsschuldengesetz« durchbringen. Es ermächtigte den Reichsfinanzminister, bis zum 15. November 1933 einen Kredit von 540 Mio. RM aufzunehmen.

Brüning hatte es geahnt: »Wir müssen unbedingt bis zum Frühjahr 1933 durchhalten, und wenn wir Betrug anwenden sollten!«16 Tatsächlich war die Talsohle bereits im Sommer 1932 durchschritten. Aber der von Brüning aus den verschiedensten Gründen enttäuschte und von seinem Umfeld ganz einseitig beeinflusste Reichspräsident Hindenburg wollte keine weiteren Notverordnungen mehr unterzeichnen. So entzog er Brüning »hundert Meter vor dem Ziele« das Vertrauen. »Road not Taken?« Im Interesse Deutschlands hätte es Brünings Deflationspolitik womöglich »verdient« gehabt, auch die letzten »hundert Meter« zurückzulegen, um im Lauf des Jahres 1932 in eine geordnete aktive Konjunkturpolitik überzugehen. Mit der Streichung der Reparationen auf der Konferenz von Lausanne war der Weg zur Kreditexpansion frei. Den Nationalsozialisten hätte dies zumindest einen Teil des Windes aus ihren mächtig geblähten Segeln genommen. Es bleibt allerdings umstritten, ob dies dazu beigetragen hätte, die noch größere Katastrophe zu verhindern.

Literatur Büttner 1989; James 1988; Köhler 1969; Piper 2007; Winkler 2018. 1  In: Verhandlungen des Reichstags 1932, S. 2602 (63. Sitzung, »Dritte Beratung des Entwurfs eines Schuldentilgungsgesetzes«).

5  Menne 1943, S. 60.

13  Vgl. AdR, Dok. Nr. 757, Ministerbesprechung vom 19. Mai 1932, 16.30 Uhr; ebd., Anlage 1, Bericht über einen endgültigen Plan zum Arbeitsbeschaffungsprogramm, betreffend Straßen- und Wasserstraßenbau (Abdruck der geplanten Notverordnung in: BArch R 43 I/1456, S. 167–171).

6 In: Das Tagebuch, 13. Juni 1931, S. 923–935.

14  Ritschl, A. 2002, S. 172–176.

7  Lautenbach 1952. 8  Büttner 1979, S. 353–355.

15  Syrup 1957. Vgl. BArch R2/18615 (Akten des Reichsfinanzminis­ teriums).

9  Tarnow 1931, S. 46.

16  Schulz 1992, S. 513.

2  Piper 2007, S. 155. 3  Schäfer 2009, S. 264. 4  Böring 1979.

10  Vgl. Winkler 2018, S. 442. 11  Brüning 1968, S. 76.

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12  Erklärung des zurückgetretenen Kabinetts Brüning vom 6. Juni 1932, in: Horkenbach 1933, S. 174.

Die wirtschaftspolitische Debatte in der Zeitschrift »Der deutsche Volkswirt« während der Großen Depression Roman Köster

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Wirtschaftskrisen stellen einschneidende Ereignisse für moderne Gesellschaften dar. Zahllose Menschen verlieren ihre Arbeit und häufig noch sehr viel mehr: ihre Wohnung, ihren Lebensstandard, ihre Selbstachtung. Zugleich stellen Wirtschaftskrisen aber auch »mysteriöse« Ereignisse dar. Auch wenn sie selbstverständlich intensiv in der Politik, in den Medien oder im Alltag debattiert werden, so bestehen über ihre Ursachen üblicherweise eine Vielzahl an unterschiedlichen Ansichten und Theorien. Das war bei der Finanzkrise 2007/08 nicht anders, wo wahlweise »die« Banker, »die« Geld­ politik der Zentralbanken, fahrlässige Politiker, sorglose Konsumenten oder der Kapitalismus als Ganzes für die Krise verantwortlich gemacht wurden. In der Weltwirtschaftskrise, die 1929 begann, verschärfte sich das noch, weil sie in vielerlei Hinsicht eine viel größere Wirkung als die genannte Finanzkrise hatte: Allein in Deutschland sank die Wirtschaftsleistung innerhalb weniger Jahre um etwa 30 Prozent. Offiziell waren auf dem Höhepunkt der Krise 1932 über sechs Millionen Menschen arbeitslos, was die tatsächlichen Verhältnisse aber noch nicht einmal angemessen beschreibt. Weder die grassierende Kurzarbeit noch diejenigen, die sich aus lauter Verzweiflung überhaupt nicht mehr arbeitslos meldeten, wurden in der Statistik erfasst. Schätzungen zufolge war etwa die Hälfte der Erwerbsbevölkerung während der Großen Depression mit Arbeitslosigkeit konfrontiert. Um die Ursachen der Krise und die Frage, was die Politik unter­nehmen konnte, um sie zu bekämpfen, kreisten die Debat­ ten in der wichtigsten Zeitschrift für praktische volkswirtschaft­ liche Fragen, dem von Gustav Stolper herausgegebenen Deutschen Volkswirt. Der Österreicher Stolper hatte seit 1914

den Österreichischen Volkswirt mit herausgegeben, der sich in der Ausrichtung stark am englischen Economist orientierte. 1925 nach Berlin übergesiedelt, etablierte er dort eine neue Wochenzeitschrift, die bald zu einer wichtigen Stimme in den wirtschaftspolitischen Debatten wurde.1 Zu Beginn wurde die Krise im Deutschen Volkswirt vor allem als Problem der Staatsfinanzen behandelt. Das war insofern wenig überraschend, weil der deutsche Staat eigentlich immer zu wenig Geld hatte und der Haushaltsabschluss jedes Jahr ein Drama mit ungewissem Ausgang darstellte. Der im Herbst 1929 sich bemerkbar machende Einbruch der Konjunktur führte zu sinkenden Steuereinnahmen, was die Finanzprobleme noch vergrößerte. »Sparen« schien deshalb das Gebot der Stunde, worüber aber sehr kontrovers debattiert wurde. Sowohl von rechts wie von links wurde scharfe Kritik an Ausgabenkürzungen geübt. Stolper selbst meldete sich in mehreren Leitartikeln zu Wort, in denen er sich deutlich für Sparmaßnahmen aussprach und forderte, den Staat so zu organisieren, dass er dauerhaft nur das Geld ausgab, was er auch einnahm.2 Diesen wirtschaftsliberalen Ansatz behielt der Deutsche Volkswirt bis in das Jahr 1931 bei. Der Bankier Felix Somary, der als einer der wenigen bereits während der 1920er Jahre hellsichtig vor der Krisenanfälligkeit der deutschen Volkswirtschaft gewarnt hatte, schrieb im März 1930 eine lange Analyse der internationalen Wirtschaftskrise. Rhetorisch fragte er, was all die sozialpolitischen und konjunkturstabilisierenden Maßnahmen während der 1920er Jahre gebracht hätten, wenn die Wall Street allein in zwei Wochen so viel Geld verlor, wie die gesamte Staatsschuld Englands betrug.3 Der Ausweg wurde in einer Finanzreform gesehen, die die Handlungsfähigkeit des Staates in der Krise wiederherstellte. Solang der Staat aber nur mühsam ein Loch nach dem anderen stopfte, war an eine aktive Krisenpolitik nicht zu denken. Stolper schrieb: »Der Kampf um die Finanzreform ist in Wirklichkeit der Kampf um neue oder alte Lebensformen des deutschen Staates.«4 Von dieser Fokussierung auf die Fragen der öffentlichen Finanzen begann sich der Deutsche Volkswirt seit dem Sommer 1930 jedoch langsam wegzubewegen – und auch der streng wirtschaftsliberale Ansatz wich einem zunehmenden Meinungspluralismus. So erklärte der bekannte Volkswirt Alexander Rüstow im Juli 1930 beispielsweise, warum die Senkung von Löhnen und Preisen nicht geeignet war, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen – eine Frage, über die anschließend in mehreren Beiträgen kontrovers debattiert wurde.5 Im August 1930 erschien das erste Mal ein Artikel, der sich explizit mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschäftigte, was in der Folgezeit zu einem zentralen Thema wurde.6 194

Titelbild Der deutsche Volkswirt. Zeitschrift für Politik und Wirtschaft, Nr. 3 | Berlin, 16. Oktober 1931 | Papier, Druck

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»Die Zeit ist aus den Fugen, wird das Jahr 1931 sie wieder einrenken?« Diese Frage stellte Stolper an Weihnachten 1930 in einer langen Bestandsaufnahme der aktuellen Situation.7 Die Hoffnung erwies sich bald als trügerisch, denn das Jahr 1931 brachte im Juli mit der europäischen Bankenkrise eine weitere Verschärfung der Depression, die alles Vorherige in den Schatten stellte. Das spiegelte sich auch im Deutschen Volkswirt wider. Diskutiert wurde die Frage, ob sich die Krise durch geldpolitische Mittel in den Griff bekommen ließ. Hier zeigte sich die große Angst vor einer Inflation, wie sie die Weimarer Republik zu Beginn der 1920er Jahre erschüttert hatte.8 Vor allem aber wurden staatlich finanzierte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen intensiv diskutiert. Auch wenn die meisten Autoren die Ansicht vertraten, der Staat könne sich das nicht leisten, gab es auch – teilweise aus dem sozialis­ tischen Lager stammende – Stimmen, die ihn aufforderten, über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aktiv in die Wirtschaft einzugreifen.9 Insgesamt zeigen die Debatten im Deutschen Volkswirt einen Lernprozess: Anfangs hielt man die Krise noch für einen – wenn auch scharfen – Konjunkturabschwung. Das war in den 1920er Jahren mehrfach vorgekommen und stets hatte sich die Wirtschaft von allein wieder erholt. Entsprechend forderten die Beiträge im Deutschen Volkswirt Maßnahmen, die aus ihrer Sicht die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft stärken sollten. Wenig überraschend wurde in diesem Zusammenhang auch immer wieder die Forderung nach einem Abbau der Reparationen erhoben.10 Von radikalen Eingriffen in die Wirtschaft war jedoch unbedingt abzusehen. Stolper qualifizierte Alternativvorschläge sogar als »Messianismus« ab und pochte auf ein realistisches Handeln der verantwortlichen Politiker.11 Im Lauf des Herbstes 1930 wurde jedoch eines zunehmend klar: Es handelte sich keineswegs um eine »normale« Krise, die sich schnell überwinden ließ, sondern um den schwersten wirtschaftlichen Einbruch des Industriezeitalters. Das freilich warf grundsätzliche Fragen nach wirtschaftspolitischen Alternativen auf. Die anfangs noch eindeutig wirtschaftsliberale Zeitschrift wurde zunehmend zu einer Plattform für kontroverse Debatten über Ursachen der Krise und mögliche Maßnahmen, sie zu bekämpfen, sei es durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, sei es durch Investitionen oder Zinssenkungen. Insbesondere der Anfang 1932 vorgestellte Plan des Leiters des Statistischen Reichsamts, Ernst Wagemann, die Krise durch eine Ausweitung der Geldmenge zu bekämpfen, wurde intensiv diskutiert.12 Auch Pläne für eine Neuordnung des Welthandels oder der internatio­na­len Finanzbeziehungen wurden im Blatt prominent behandelt.13 Hinsichtlich gewisser Punkte blieb sich der Deutsche Volkswirt jedoch treu. Mit der in der politischen Debatte weitverbreiteten »antikapitalistischen Sehnsucht« (Stolper) konnten die Autoren des Blattes nichts anfangen.14 Stets war die Angst präsent,

Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen könnten zu einer Wieder­ holung der großen Inflation von 1923 führen. Carl Landauer, einer der wichtigsten Beiträger, forderte im Januar 1932 darum auch vehement: »Hände weg von der Währung!«15 Dieser »Konservativismus« trug dazu bei, dass die wirtschaftspolitischen Debatten im Deutschen Volkswirt nicht zu klaren Empfehlungen führten. Viel eher dominierten Verzweiflung und Ratlosigkeit. Damit stand die Zeitschrift in der Krise allerdings keineswegs allein, denn allerorten führte Letztere auch zu einer Krise des ökonomischen Wissens. Die Schlussfolgerung lautete am Ende, der Staat müsse eine viel aktivere Rolle in der Wirtschaft übernehmen, er könne die Dinge nicht einfach laufen lassen. Auf welche Weise er dies freilich tun sollte und wie sich die für solche Interventionen nötigen Finanzmittel mobilisieren ließen, dafür wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg stabile Lösungen gefunden.

Literatur Klausinger 2001; Köster 2011. 1  Köster 2011, S. 65f.; Klausinger 2001. 2  Stolper, G. 1929. 3  Somary 1930. 4  Stolper, G. 1930a, S. 44. 5  Rüstow 1930. 6  Landauer 1930. 7  Stolper, G. 1930b. 8  Landauer 1932. 9  Z. B. Neisser 1931. 10  Ritschl, H. 1931. 11  Stolper, G. 1929. 12  Hahn 1932. 13  Stern 1931; Stolper, T. 1932. 14  Stolper, G. 1932. 15  Landauer 1932.

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Der Karikaturist Emil Kneiß zeichnete Reichskanzler Heinrich Brüning als Arzt, der dem Patienten – dem deutschen Michel – die »Medizin« Notverordnung einflößt. Die Arzthelferin Germania – als Personifikation Deutschlands – kommentiert in bayerischer Mundart: »I moan, Herr Dokta, die scharfe Medizin hilft mein Michel oa nimmer«. Links neben dem Patienten beobachtet der bayerische Löwe die Szene. Die Karikatur erschien am 13. Juni 1931 in einer Münchner Zeitung aus Anlass der Verabschiedung einer weiteren Notverordnung zur Sicherung der Wirtschafts- und Finanzlage durch Reichspräsident Paul von Hindenburg. 1931 waren die Auswirkungen der Welt­ wirt­schafts­krise in weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung zu spüren. Reichskanzler Heinrich Brüning versuchte dieser Entwicklung mit einer Herabsetzung der Sozialleistungen, durch Erhöhung der Steuern und mit einer Drosselung der Importe entgegenzuwirken, vergrößerte damit aber das soziale Elend. LR Literatur: Kurz 2018.

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Emil Kneiß | »Die neue Notverordnung« In: Bayerischer Zeitungsblock, Nr. 133 | München, 13. Juni 1931 | Tuschezeichnung; 29 × 41 cm | Vanessa Wittmann, Privatbesitz

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Als Meisterschülerin der Dresdner Akade­ mie der bildenden Künste und ab 1926 Mitglied der KPD hat die jüdischstämmige Malerin und Grafikern Lea Grundig zeitlebens soziale Verwerfungen thematisiert. Das Blatt Beim Arzt entstand als Reaktion auf die Notverordnung vom Juli 1930, in deren Folge eine ärztliche Behandlung nur noch gegen Bezahlung von 50 Pfennig erfolgte. Die Fünfergruppe verkörpert stellvertretend die von der Verordnung am härtesten getroffenen Bevölkerungsschichten. Fast körperlich vermittelt sich das dumpfe, resignative Warten in dem überfüllten Wartezimmer. Die technischen Möglichkeiten des Hochdruckverfahrens Linolschnitt virtuos nutzend, umreißt Grundig ihre Figuren mit expressiver, betont ungelenker Linienführung und führt sie durch den ihrem Werk eigenen Moment des Einfühlens künstlerisch über die oft stereotypen »Elendsdarstellungen« der sozialkritischen Gebrauchsgrafik hinaus. WCo

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Lea Grundig | »Beim Arzt (Notverordnung)« Aus dem Zyklus »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« | 1930 | Linolschnitt; 44 × 57 cm (Blattmaß), 23 × 34 cm (Bildmaß) | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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Am 1. Juni 1931 hält der Sozialdemokrat, Gewerkschafter und Reichstagsabgeord­ nete Fritz Tarnow (1880–1951) auf dem SPD-Parteitag in Leipzig das Hauptreferat. Er analysiert nicht nur die wirtschaftliche Krisensituation in Deutschland, sondern auch die ambivalente Rolle, die die SPD einnehmen muss: einerseits das »altersschwache« kapitalistische System zu beseitigen, andererseits dem siechenden »Kapitalismus« an seinem »Krankenlager« beizustehen. John Heartfield, Erfinder der politischen Fotomontage und seit 1930 regelmäßig mit ihr in der KPD-nahen Arbeiter-Illustrierten-Zeitung vertreten, spitzt Tarnows Aussagen ironisiert zu. Er erweitert sie – ohne dass dies bei Tarnow zu finden ist – vom Kapitalismus auf den Nationalsozia­lismus und die NSDAP und bringt so die beiden politischen Hauptgegner der KPD in einer Bild-Text-Montage zusammen: einen Tigerkopf mit gefletschten Zähnen, montiert auf eine Fotografie eines beleibten Mannes (vermutlich Hermann Göring, zu dieser Zeit Reichstagsabgeordneter der NSDAP), auf der Krawatte ein Haken­ kreuz, darunter paraphrasierte oder zu­ geschriebene Aussagen. MS Literatur: Heartfield 1974; Tarnow 1931, S. 44–46.

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John Heartfield | »Zum Krisen-Parteitag der SPD«  In: Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ), Nr. 24 | Berlin, 15. Juni 1931 (abgedruckt in: John Heartfield, 33 Fotomontagen, Dresden 1974, Bl. 5) | Kunstdruck nach einer Foto­montage; 38 × 27 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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»Ich bin dafür, dass die deutsche Monarchie bestehen bleibt. Deutschland ist nicht reif für eine Republik.«

Friedrich Ebert, Vorsitzender der SPD, 31. Oktober 1918 (Zitat überliefert von Ernst Jäckh, Der goldene Pflug. Lebensernte eines Weltbürgers, Stuttgart 1954, S. 448, hier zit. n. Mühlhausen 2007, S. 98)

Ohne Halt? Weimar Oder: Eine Monarchie gibt der demokra­tischen Verfassung Bestand

Lili Reyels

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Ein Mann im Anzug hält sich an der Balus­ trade eines Balkons fest, er lehnt sich weit hinaus, in Richtung der Menschenmassen, die unter ihm stehen. Er schwingt den rechten Arm nach oben, um die Dramatik der Worte, die er ausruft, und damit den historischen Moment, zu unterstreichen. Beschrieben ist das bekannte Bild des öffentlichen Auftritts des SPD-Politikers Philipp Scheidemann am Reichstagsgebäude. Der als »Staatssekretär ohne Portefeuille« am Morgen des 9. November zurückgetretene Scheidemann rief an diesem Tag um 14 Uhr vom Reichstag aus die Republik aus. Dieser Auftritt wurde oft als entscheidender Moment beim System­ wechsel von Monarchie zu Republik angesehen. Am 9. November 1918 ereignete sich in Berlin wahrhaft Epochales. Die Erinnerung daran ist überaus präsent. Tatsächlich wissen wir aber nur wenig Gesicher­tes über das, was sich an diesem Tag im Einzelnen hinter den Kulissen abgespielt hat. Vieles, etwa der Prozess der Übergabe der Amts­ geschäfte von Reichskanzler Max von Baden an Friedrich Ebert am 9. Novem­ber, geschah hinter verschlossenen Türen. Schon für die Zeitgenossen waren die einschlägigen Zeugnisse von solcher Brisanz, dass diese teilweise im Nachgang vernichtet oder durch persönliche Erzählungen verfälscht wurden. Nach der doppelten Ausrufung der Republik – der Sozialdemo­ krat Scheidemann am Reichstag um 14 Uhr und der Spartakist Karl Liebknecht am Schloss um 16 Uhr – setzte sich bekanntlich nicht die Räterepublik, sondern die demokratische Republik als künftige Staatsform in Deutschland durch. Jedoch konnten bisher weder der Inhalt von Scheidemanns Rede noch der Ablauf der Ereignisse im Zusammenhang mit seinem Auftritt abschließend rekonstruiert werden. Als Quellen stehen einerseits widersprüchliche Zeitungsberichte über den Wortlaut seiner Ansprache zur Verfügung, andererseits nachträglich aufgezeichnete Tonaufnahmen, in die Scheidemann seine späteren Erfahrungen einfließen ließ. Schließlich existiert historisches Fotomaterial, wobei die Authentizität des berühmten Proklamationsfotos von Scheidemann umstritten ist.1

Erich Greiser | »Der historische Augenblick: die erste Verkündung der neuen Regierung durch Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichstagsgebäudes aus«  In: Berliner Illustrierte Zeitung (BiZ), Nr. 47 | Berlin, 24. November 1918 | Papier, Druck; 37,4 × 27,6 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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Deutschland als parlamentarische Monarchie? Wir erinnern uns: Seit dem Spätsommer 1918 steckte das Deutsche Reich in seiner schwersten Krise. Das Kaiserreich war unfähig zur Reform, die militärische Niederlage unabwendbar. Erst knapp 50 Jahre zuvor hatte das Bismarck-Reich die politische Bühne als neue Großmacht in Europas Mitte betreten. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war es nahezu unvorstellbar gewesen, dass die Monarchie nur vier Jahre später am Ende sein sollte. Friedrich Ebert hatte die Frage der künftigen Staatsform – parlamentarische Monarchie oder demokratische Republik – einer Verfassungsgebenden Nationalversammlung überlassen wollen. Die SPD hatte die bald in eine Revolution umschlagende Gärung im fünften Kriegsjahr nicht entschieden genug genutzt, aus dem damit verbundenen Prozess der Selbstbeschädigung der alten Eliten – der bisherigen Gegner der Sozialdemokraten – politisches Kapital zu schlagen und sich an die Spitze der Bewegung zu stellen. Bis November 1918 besaß die Partei weder den Willen zur radikalen Überwindung der Monarchie, noch verfolgte sie das Ziel einer demokratischen Republik. Vermutlich erhofften sich ihre Anhänger von einer »vernunftmonarchischen« Lösung eine stabilisierende Wirkung. Noch am 5. November 1918 erläuterte die Parteizeitung Vorwärts, die SPD habe auf die bloße Staatsform nie ent­scheidenden Wert gelegt. Hatte die Staatsform einer »parlamentarische Monarchie« in diesen Tagen vielleicht doch eine Chance? Jedenfalls versuchten Friedrich Ebert und Max von Baden eine gewaltlose, möglichst breit legitimierte »Revolution von oben«: Gemeint war der demokratische Ausbau einer parlamen­tarisch-demokratischen Monarchie nach westlichem Muster mit dem badischen Prinzen als monarchischem Treu­händer und dem Arbeiterführer Ebert als Chef einer sozialdemokratisch geführten Koalitionsregierung. Formal trat die Verfassungsänderung am 28. Oktober 1918 in Kraft. Max von Baden konnte sich durch diese sogenannte Oktoberreform von nun an auf das Mehrheitsprinzip im Reichstag stützen, er und die Staatssekretäre – wie die Reichsminister seinerzeit genannt wurden – waren jetzt aber auch vom Vertrauen der parlamentarischen Mehrheit abhängig. Vor allem aber ging es ihm und seiner Regierung um einen baldigen Frieden zur Beendigung des Weltkriegs. Dafür berief er sich auf die bereits 1917 von den demokratischen Mehrheitsparteien ausgehandelte Friedensresolution des Reichstags, die einen Verständigungs­ frieden auf den Weg bringen wollte. Doch angesichts der allgemeinen revolutionären Dynamik quer durch das Reich, die in den Novembertagen 1918 die Monar­ chie an den Rand des Untergangs trieb (und schließlich zu deren Sturz führte), war an eine parlamentarische Monarchie nicht mehr zu denken. Sie war wohl auch schon vorher kein Pfad gewesen, der von Erfolg gekrönt gewesen wäre. Die deutschen Fürsten hatten den Zeitpunkt für eine Reform unter monarchi-

Staatsminister Erzberger im Salonwagen mit seinem Sekretär Dr. Hemmer auf dem Weg zu den Waffenstillstandsverhandlungen  Vermutlich A. & E. Frankl | 1919 | Fotografie | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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schen Vorzeichen längst verpasst. Hier unterschied sich der Kriegsverlierer Deutschland wesentlich von einigen anderen europäischen Staaten, denen die Regierungsform der parlamentarischen Monarchie nach 1918 Stabilität zu geben vermochte. In Deutschland kam es anders. Eine revolutionäre Welle spülte die Kronen fort, am 10. November bildete sich der Rat der Volksbeauftragten, die provisorische Regierung aus je drei Vertretern der Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) und der unabhängigen Sozialdemokraten (USPD). Einen Tag später unterzeichnete Matthias Erzberger für die deutsche Seite den Waffenstillstand im französischen Compiègne. Wiederum einen Tag später verabschiedete die Revolutionsregierung grundlegende Reformen, unter anderem im Wahlrecht, wo die Verhältniswahl eingeführt wurde. Zudem erhielten die Frauen das Stimmrecht – ein Meilenstein der Demokratisierung. Angeknüpft werden konnte dabei an das rund ein halbes Jahrhundert zuvor eingeführte allgemeine (Männer-)Wahlrecht zum Reichstag. Insofern ging es zunächst nicht um eine totale Umwälzung, sondern vornehmlich um einen Ausbau der politischen Partizipation. Das Frauenwahlrecht hatte bereits zuvor auf der Agenda gestanden. Mit der Ankündigung von Wahlen »nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen« hatten die Frauen ihr wichtigstes Ziel erreicht. Zum ersten Mal konnten Frauen reichsweit am 19. Januar 1919 wählen. In der in Weimar tagenden Nationalversammlung stellten die Frauen 37 von insgesamt 423 Abgeordneten. Damit lag ihr Anteil bei 8,7 Prozent. Er sollte sich während der ganzen Weimarer Republik nicht wesentlich erhöhen und unter 10 Prozent bleiben. Mit der zentralen Verfügung des Frauenwahlrechts galt dieses auch in den Einzelstaaten, die durchweg auf das Prinzip der parlamentarischen Verantwortung der Regierungen setzten. War damit formalrechtlich der Weg in das Neue beschritten worden, so ließen sich Mentalitäten und Anhänglichkeit an die Vergangenheit nicht einfach tilgen. Monarchische Denkhaltungen und Obrigkeitsgläubigkeit überdauerten in Militär, Justiz und Verwaltung. Eine nach wie vor vorhandene Skepsis gegenüber dem demokratisch-parlamentarischen Parteienstaat trug auch dazu bei, dass die Nationalversammlung in der im Juli 1919 verabschiedeten Reichsverfassung das Amt eines Reichspräsidenten als neue Staatsspitze schuf, der eine Art republikanischen Ersatzkaiser darstellte, indem man ihm eine umfassende Machtfülle zuwies.

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Johann Carl Wilhelm Aarland | »Die Führerinnen der Frauenbewegung in Deutschland«  In: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt, Nr. 15 | Leipzig, 1894 | Papier, Druck; 20,8 × 21,7 cm (ganze Seite) | Archiv der deutschen Frauenbewegung, Kassel

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Die neue Volksregierung Vor dem Hintergrund der sich überstürzenden Ereignisse und der aufgebrachten Massen war ein demonstrativer Bruch mit dem alten System also unausweichlich. Es war deutlich geworden, dass die Monarchie Krieg und Militarismus, Hunger und politische Unterdrückung symbolisierte. Republik – das versprach hingegen Frieden, wirtschaftlichen Wiederaufbau, politische Freiheit und vor allem Demokratie. Jegliche Planspiele für eine parlamen­ta­ rische Monarchie waren nun Makulatur. Die Mindestforderung lautete jetzt Republik als künftige Staatsform. Anders konnte das drohende Machtvakuum kaum mehr abgewendet werden. Folgt man diesem Narrativ, dann gab Philipp Scheidemann am 9. November 1918 einem großen Teil der Bevölkerung, was in diesem Augenblick von den Sozialdemokraten erwartet wurde. An diesem Tag meldete sich auch Friedrich Ebert zu Wort und machte unmissverständlich klar, dass die entscheidende politi­sche Frage keineswegs die Staatsform war, sondern ein für Deutschland möglichst günstiger Friedensschluss. In seiner allerersten Proklamation als neuer Reichskanzler »An die deutschen Bürger!« vom 9. November verkündete er: »Die neue Regierung«, so zitiert ihn der Vorwärts vom 10. November 1918, »wird eine Volksregierung sein. Ihr Bestreben wird sein müssen, dem deutschen Volke den Frieden schnellstens zu bringen und die Freiheit, die es errungen hat, zu befestigen.«2 Auch die Russische Revolution von 1917 warf ihre Schatten auf Deutschland. Aber wie anders stellte sich die Situation in Deutschland dar! Tradierte Kontinuitäten bremsten den revo­ lutionären Schwung. Die meist unblutige, ja geradezu wie ein verwaltungsmäßiger Akt erfolgende Verabschiedung der deutschen Monarchen und die widerstandslose Preisgabe der Vorrechte seitens des Adels machten deutlich, dass das alte System morsch und nicht mehr lebensfähig war. Gleichwohl überdauerten demokratiefeindliche Tendenzen aus der Zeit des Kaiserreichs – ein enormer Ballast für die junge Republik. Was an jenem 9. November 1918 begann und mit der Reichsverfassung vom August 1919 festgeschrieben wurde, endete am 30. Januar 1933 in der Katastrophe. Die Weimarer Republik scheiterte auch daran, den Grundwiderspruch des Kaiserreichs nicht überwunden zu haben: den Gegensatz zwischen wirtschaftlicher und kultureller Modernität auf der einen und partieller Rück­ ständigkeit des politischen Systems auf der anderen Seite. »Dass sie den alten Staatsapparat fast unverändert übernahm, war der schwerste Fehler, den die während des Krieges desorientierte deutsche Arbeiterbewegung beging«,3 urteilte der Chef-Stratege der SPD und zeitweilige Reichsminister Rudolf Hilferding rück­ blickend im Jahr 1934. Ein Ausdruck jener »Kontinuität« waren die weitreichenden Zuständigkeiten des »Ersatzkaisers«: des dann 1925 aus unmittelbarer Volkswahl hervorgegangenen, fast gänzlich unabhängig

neben den Reichstag gestellten Reichspräsidenten. Im Horizont dieser dualistischen Konstruktion räumte Artikel 48 der Reichsverfassung von 1919 dem Staatsoberhaupt ein Notverordnungsrecht ein, das ab 1930 ein zentrales »parlamentsfreies« Steu­e­ rungsmittel wurde. Ein Reichspräsident mit solcher Machtfülle konnte das Parlament aushebeln, wenn es sich, wie eingetreten, selbst blockierte.

Literatur Gallus 2019; Hamann 2018; Machtan 2008; Machtan/Brandt 2015; Mühlhausen 2019a; Wienfort 2020; Winkler 1999; Winkler 2018. 1  Vgl. die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages: https:// www.bundestag.de/ resource/blob/575240/ c32108ddfaa77a08b0c bea8a6b14a788/ wd-1-034-18-pdf-data.pdf sowie Hamann 2018. Die Originalaufnahme des berühmten Ausrufungsbilds gehört zur foto­ grafischen Sammlung Ullstein. Vgl. hierzu Ludger Derenthal anlässlich des Sympo­ siums zur Ausstellung Berlin in der Revolution 1918/19: https://www. axelspringer-syndication. de/artikel/ausrufung-derrepublik-1918 (abgerufen am 16.12.2022). Siehe auch Mühlhausen 2022, S. 5ff. 2  Vorwärts, Nr. 310, 10. November 1918 (Hervorhebung im Original), Digitalisat der Friedrich-Ebert-Stiftung: https://fes.imageware.de/ fes/web/index.html? open=VW35309. 3  Prager Manifest, Rudolf Hilferding in: Vorwärts, Nr. 33, 28. Januar 1933.

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»Die Firma ... kann ... erhalten bleiben« – die SPD und die Frage: Monarchie oder Republik?

Walter Mühlhausen

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Im Herbst 1918 erodierte die innenpoliti­ sche Lage im deutschen Kaiserreich: Ende September gestand die militärische Spitze die bis dahin kaum für möglich gehaltene Niederlage ein. Am 2. Oktober wurde mit Prinz Max von Baden ein neuer Reichskanzler berufen, dessen Regierung erstmals auch Vertreter der lange Zeit ausgegrenzten SPD – Gustav Bauer und Philipp Scheidemann – angehörten. Der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert hatte seine Partei zur Beteiligung gedrängt, obwohl es gewichtige Stimmen dagegen gab. So mahnte Otto Wels, Mitglied im SPD-Parteivorstand, den Scherben­ haufen nach vier Jahren Krieg jenen zu überlassen, die ihn zu verantworten hatten. Ebert war sich durchaus bewusst, dass der Regierungseintritt »ein großes Opfer« für die Partei sei, gar ein »gewagtes Spiel«1 darstelle – aber es sei »verdammte Pflicht und Schuldigkeit« der SPD, sich »in die Bresche zu werfen«.2 Die Entscheidung der SPD für eine Regierungsbeteiligung stand ganz im Zeichen der Bemühungen, den ersehnten Frieden herbeizuführen und die längst überfällige Demokratisierung durchzusetzen. Die Ende Oktober erlassenen Verfassungsreformen, mit denen die konstitutionelle in eine parlamentarische Monarchie umgewandelt wurde, waren für die Mehrheitssozialdemokraten ein entscheidender Schritt in Richtung Demokratie. Anders sah es die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), die sich Ostern 1917 aus Ablehnung der von der Mehrheit in der SPD verfolgten Burgfriedenspolitik von der Mutterpartei abgespalten hatte. In ihr sammelten sich vornehmlich die radikaleren Kräfte (noch unter Einschluss des revolutionären Spartakusbunds), denen die von der (Mehrheits-) SPD verfolgte Reformpolitik innerhalb des Systems zu wenig war. Das Ganze erschien ihr – so der Vorsitzende Hugo Haase – wie »ein Flicken auf dem absolutistischen, militaristischen Mantel«.3 In die Jubelarie vom »Geburtstag der deutschen Demokratie« (Ebert am 22. Oktober)4 wollten die Unabhängigen schon gar nicht einstimmen. Sie prangerten die Mehrheitssozialdemokraten

als »Regierungssozialisten« an und setzten auf den radikalen Schnitt: auf die Republik. Damit erkannte die USPD im Gegensatz zur SPD die Zeichen der Zeit, denn die Verfassungsreformen wirkten nicht mehr dämpfend auf die rapide wachsende revolutionäre Gärung. Die USPD hatte ihr Ohr näher an den Massen als die SPD. Um die Frage Monarchie oder Republik drehte sich auch eine Zusammenkunft am 31. Oktober beim Berliner Vertreter der Hamburger HAPAG-Reederei. Der um seine Einschätzung gebetene SPD-Vorsitzende Ebert, für den die neue Regierung nur »der Anfang eines Übergangs« sein konnte, bekannte sich zum Fort­be­ stand der Monarchie: »Deutschland ist nicht reif für eine Republik.«5 Noch nicht, so ist zu ergänzen. Aber der Kaiser müsse gehen, um die Monarchie zu retten, denn seit der dritten Note des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson vom 22. Oktober sei klar, dass die Sieger nicht mit ihm Frieden schließen würden. Dessen war sich auch Ebert bewusst. Dennoch: »Die Firma aber kann und muss erhalten bleiben.«6 Die (Mehrheits-)SPD wollte in der dramatischen Lage die Monar­chie erhalten, aber nur, wenn diese sich zu einer vollen Demokratie mit einem lediglich repräsentativen gekrönten Staatsoberhaupt entwickeln würde. Wilhelm II. war für sie nicht mehr tragbar, Friedrich Ebert machte das im Gespräch mit Prinz Max von Baden am 6. November deutlich. Hier bezeichnete er sich selbst als einen überzeugten Republikaner. Nichtsdestotrotz wollte er sich mit einer »Monarchie mit sozialem Einschlag unter parlamentarischem System«7 einverstanden erklären. Das speiste sich aus der Erwartung, dass nach dem verlorenen Krieg ein radikaler Verfassungswandel die Lage noch zusätzlich verschärfen würde. Ebert schwebte eine Reichsverweserschaft vor, etwa durch eine Persönlichkeit wie Prinz Max von Baden. Doch es war zu spät. Die revolutionären Massen wollten die Monarchie überwinden. Am selben Tag fiel – nach den überlieferten Quellen – in der SPD-Fraktionssitzung wohl erstmals das Wort »Republik«. Es kam vom Gründervater und Vorstandsmitglied Hermann Molkenbuhr, der das Zwittergebilde »Regentschaft« oder »Reichverweser« ablehnte und den radikalen Wandel ins Spiel brachte.8 Drei Tage später waren die Würfel gefallen. Die Abdankung des Kaisers wurde verkündet, Prinz Max von Baden übergab dem einen SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert die Reichskanzlerschaft, der andere Vorsitzende Philipp Scheidemann rief vom Reichstag die »Republik« aus – ein Akt mit hoher Signalwirkung. Die Weichen in die Republik stellte schließlich die am 19. Januar 1919 gewählte und am 6. Februar in Weimar zusammentretende National­ versammlung.

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Literatur Die Regierung des Prinzen Max von Baden; Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozial­ demokratie; Jäckh 1954; Lappenküper/Ohnezeit 2018; Max von Baden 1968; Miller 1978; Mühlhausen 2007; Mühlhausen 2019b; Mühlhausen 2021. 1  So Ebert am 21. September 1918 im Interfraktionellen Ausschuss: Der Interfraktionelle Ausschuß, Teil 2, S. 642. 2  Am 23. September 1918: Die Reichstagsfraktion der deutschen  Sozial­ demokratie, Teil 2, S. 442. 3  Am 23. Oktober 1918 im Reichstag: Verhandlungen des Reichstags 1919, Bd. 314, S. 6189. http://www.reichstags protokolle.de/Blatt_k13_ bsb0000 3418_00045. html. 4  Ebd., S. 6161. http:// www.reichstagsproto kolle.de/Blatt_k13_ bsb0000 3418_00017. html. 5  So geschildert vom Journalisten Ernst Jäckh, der an der Besprechung teilnahm, in seinem Brief an den ehemaligen Staatssekretär des Innern, Clemens von Delbrück, vom 31. Oktober 1918; abgedruckt bei Jäckh 1954, S. 448. 6 Ebd.

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7  Aufzeichnung Max von Badens über ein Gespräch mit Ebert am 6. November; zit. n. Max von Baden 1968, S. 560. 8  Die Reichstagsfrak­ tion der deutschen Sozialdemokratie, Teil 2, S. 511.

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Der Bildhauer Harald Haacke (1924–2004) überließ den Torso dem Deutschen Histo­ rischen Museum 1996 mit dem Hinweis, diesen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf dem Platz vor dem Reichstags­ gebäude vorgefunden zu haben. Das Standbild Kaiser Wilhelms I., das der Bildhauer Johannes Pfuhl ausgeführt hat, war 1905 im Kuppelsaal der Wandelhallen­ rotunde des Berliner Reichstags aufgestellt worden, und zwar an symbolträchti­ ger Stelle am Eingang zum Plenarsaal. Abweichend von der Realität – für die Reichsverfassung galt kein eidliches Gelöbnis – zeigte das Standbild den Kaiser mit auf die Reichsverfassung gelegter Hand. Von Beginn der Revolution an bis ins Frühjahr 1919 waren im Reichstag Soldaten einquartiert. In der Folge musste das Gebäude zwar renoviert werden, doch hat trotz des politischen Systemwechsels kein flächendeckender Bildersturm auf die Symbole des Kaiserreichs stattgefunden. Die starken Zerstörungen des Objekts stammen aus dem Zweiten Weltkrieg und zeigen gezielte Einschusslöcher, Arme und Kopf sind abgeschlagen. Dennoch lässt sich noch die bis 1909 getragene Galauniform eines Generals erkennen, ebenso das Johanniterkreuz auf der Brust sowie der Ansatz eines Mantelüberwurfs an der Schulterpartie. LR Literatur: Ausst. Kat. Berlin 2010, S. 334; ReichstagsHandbuch, IV. Wahlperiode (1928), S. 141.

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Johannes Pfuhl | Fragment eines Standbilds von Kaiser Wilhelm I. (Torso) aus dem Kuppelsaal des Reichstags in Berlin  Berlin, 1894 | Marmor; 90 × 84 × 75 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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Einen Tag nach der Ernennung Prinz Max von Badens zum Reichskanzler präsen­ tierte sich dessen Kabinett in einem Sonderdruck selbstbewusst als »Die neuen Männer«. Während bürgerlichkonservative Kräfte auch seine Regierung dominierten, bot sie doch ein Novum: Mit Philipp Scheidemann und Gustav Bauer waren erstmals zwei Sozialdemokraten als Staatssekretäre berufen worden. Der als liberal geltende neue Regierungschef, ein Cousin des letzten Kaisers, vollzog den Übergang von einer konstitutionellen zu einer parlamentarischen Monarchie. Die Reformen seines Kabinetts, das kein Frauenwahlrecht vorsah, geschweige denn weibliche Mitglieder, wurden kurz darauf durch die Novemberrevolution obsolet. Mit ihr erlangte das Deutsche Reich eine demokratische Grundlage, dessen Parlamente auch »neue Frauen« kannten. LSG

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Illustrierter Sonderdruck mit Abbildungen der Mitglieder des Kabinetts Prinz Max von Badens  Berlin, 4. Oktober 1918 | Papier, Druck; 45 × 28,8 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

1914

1914

»… mit aller Energie die latente Macht des Proletariats in Bewegung zu setzen, eine so nachdrück­ liche Massenaktion gegen den Krieg zu organisieren …«

Rosa Luxemburg, Sozialdemokratin und Antikriegsaktivistin, 28. Juli 1914

Abgrund – August Oder: Kann die Sozialdemokratie den Krieg ver­hindern?

Stefan Paul-Jacobs

Für eine Analyse der Gründe für den Ausbruch des Krieges 1914 spielt die Verfasstheit des deutschen Kaiserreichs eine wichtige Rolle. In der Diskussion um deutsche Verfassungswirklichkeit wird einerseits das für europäische Verhält­ nisse moderne allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht (allerdings nur für Männer) hervorgehoben. Auf der anderen Seite gestand die Verfassung des Kaiserreichs der parla­men­tarischen Vertretung nur eingeschränkte Mitwirkungsmöglichkeiten zu. Die Möglichkeiten, die Politik des Kaisers zu ändern, waren aus parlamentarischer Sicht gering. Der Reichstag hatte zwar das Recht, am Haushalt mit­ zu­wirken, das galt freilich nicht für Teile des Militäretats. Die Regierung war nicht den Volksvertretern, sondern dem Kaiser gegenüber Rechenschaft schuldig, konnte von ihm ein- und abgesetzt werden. Zudem kamen lange vor dem Ausbruch des ersten großen Krieges Innen- und Außenpolitik auf unheilvolle Weise zusammen, als 1888 Kaiser Wilhelm II. den Thron bestieg. Der Garant für eine maßvolle europäische Außenpolitik, der »Lotse« Otto von Bismarck, wurde 1890 von Bord geschickt. Wilhelm II. nutzte die weitreichenden Befugnisse, die die Reichsverfassung von 1871 ihm an die Hand gab. Sein autoritäres Vorgehen in wichtigen politischen Fragen prägte den Begriff »persönliches Regi­ment«. Die Verfassung bestimmte den deutschen Kaiser zum alleinigen Entscheider über Krieg und Frieden. Aufrüstungspläne, insbesondere das Wettrüsten auf dem Gebiet der großen Kriegsschiffe gegen Großbritannien, wurden von ihm gefördert. Die Armee wurde im Kaiserreich zu einer Institution, in der Milli­onen junger deutscher Männer sozialisiert wurden. Gehorsam war ein zen­ traler Leitwert und der vom Schriftsteller Heinrich Mann beschriebene, auch im zivilen Bereich gelebte »Unter­tanengeist« war ein Ergebnis dieser Entwicklung. Außenpolitik 1914 standen sich zwei Bündnisse in Europa gegenüber: auf der einen Seite der »Dreibund« mit dem Deutschen Reich, ÖsterreichUngarn und dem Königreich Italien, auf der anderen Seite die »Entente«, zu der das Vereinigte Königreich Großbritannien, Frankreich und Russland gehörten.

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»Der Soldat ist der schönste Mann im ganzen Staat« Um 1910 | Papier, Druck; 9 × 13,9 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

Theodor Zasche | »Das europäische Gleichgewicht 1914«  1914 | Papier, Druck; 9 × 13,9 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

Deutschland hatte sich eng an Österreich-Ungarn angelehnt. Dieses Bündnis, von Reichskanzler Bernhard von Bülow 1908 markant als »Nibelungentreue«1 charakterisiert, prägte die politischen Entscheidungen. Was Bismarck immer vermeiden wollte, trat ein: die Festlegung auf einen Bündnispartner, dem man bei außen­politischen Abenteuern folgen musste. Die deutsche Bevölkerung maß dem tödlichen Attentat im Juni 1914 auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo zunächst keine große Bedeutung zu. Selbst nach dem österreichischen Ultimatum an Serbien hatten viele Deutsche wohl noch die Hoffnung, dass der Krieg vermieden werden könnte, hatte die serbische Regierung doch weitgehende Zugeständnisse gemacht.2 Doch die österreichischen Bündnispartner sorgten für eine Eskalation des Konflikts. Kaiser Wilhelm II. versuchte das drohende Ungemach auf verwandtschaftlichem Wege abzuwenden – der englische König war sein Cousin und der russische Zar der Ehemann seiner Cousine. Seine Telegramm-Diplomatie zielte darauf ab, seine Verwandtschaft zum Einlenken zu bewegen. Bei seinen in der Verfassung festgelegten Vollmachten wäre das auch möglich gewesen. Wie aus Sicht des deutschen Kaisers der Krieg hätte verhindert werden können, zeigt ein Auszug aus einem Telegramm an den russischen Zaren, das kurz vor Kriegsbeginn aufgegeben wurde: »In Bezug auf die herzliche und zärtliche Freundschaft, die uns beide seit langem mit festen Bindungen verbindet, setze ich daher meinen größten Einfluss darauf, die Österreicher zu einem ehrlichen Umgang zu bewegen, um zu einer zufriedenstellenden Verständigung mit Ihnen zu gelangen. Ich hoffe zuversichtlich, dass Sie mir bei meinen Bemühungen helfen werden, eventuell noch auftretende Schwierigkeiten zu beseitigen.  Dein sehr aufrichtiger und ergebener Freund und Cousin, Willy«3

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Die Sozialdemokratie als entscheidender Faktor? Aber hätte es, wenn der Krieg nicht »von oben« verhindert wurde, andere Handlungsoptionen gegeben? Ein anderer wichtiger Akteur auf der politischen Bühne des Kaiserreichs war die Sozial­ demokratie. Die SPD verzeichnete nach der Wirtschaftskrise der 1870er Jahre einen starken Zulauf an Wählern. Sie war die mitgliederstärkste Partei (mit über einer Million Mitgliedern) und stellte im Reichstag seit 1912 mit 110 von 397 Abgeordneten die größte Fraktion. Hätte die Partei 1914 all ihre Kräfte aufbieten und sich gegen den Krieg stellen können? Nach dem Attentat von Sarajewo rechneten die Sozialdemo­ kraten noch nicht ernsthaft mit einem Kriegsausbruch. Das änderte sich ein paar Wochen später nach dem Ultimatum

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Österreich-Ungarns an Serbien abrupt. Am 25. Juli formulierte der Parteivorstand einen Aufruf an die Reichsregierung, in dem diese aufgefordert wurde, »ihren Einfluß auf die österreichische Regierung zur Aufrechterhaltung des Friedens aus[zu]üben, und, falls der schändliche Krieg nicht zu verhindern sein sollte, sich jeder kriegerischen Einmischung [zu] enthalten«.4 Außerdem rief er zu Massenversammlungen gegen den Krieg auf, die bei der Parteibasis auf großen Widerhall stießen. Entgegen der gängigen Erzählung von einem erhebenden »August-Erlebnis« 1914, einer weitverbreiteten Kriegsbegeisterung in der Bevölkerung vor allem nach der Mobilmachung, bleibt doch festzuhalten, dass die Sozialdemokraten in diesen Tagen nicht in die allgemeine Kriegseuphorie einstimmten. Sie verurteilten die Tat des serbischen Nationalisten und wandten sich zugleich gegen die »österreichischen Kriegstreiber«.5 Insgesamt fanden in der letzten Juliwoche 1914 mindesten 288 Antikriegsversammlungen in 163 Städten und Gemeinden statt. Weit mehr als 500 000 Menschen beteiligten sich an den Protesten.6 Nach der Ausrufung des Belagerungszustands am 31. Juli 1914 durch Kaiser Wilhelm II. konnten viele der Versammlungen nicht mehr durchgeführt werden. Der Höhepunkt des sozialdemokratischen Protests gegen die Kriegsgefahr wurde am 28. Juli 1914 erreicht. An diesem Tag rief allein die SPD in Berlin in proletarisch geprägten Vororten wie Rixdorf und Wedding zu 32 Demonstrationen gegen den drohenden Waffengang auf. Trotz eines polizeilichen Verbots nahmen in der Hauptstadt mehr als 100 000 Menschen an diesen Versammlungen teil, in ganz Deutschland waren es weitere 100 000.7 Die beiden Hauptprotagonisten der sozialistischen Friedensbewegung waren Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Vertreter des linken Flügels der Sozialdemokratie, dessen Einfluss nach der ersten russischen Revolution von 1905 zwar stetig zunahm, aber innerhalb der Partei in der Minderheit blieb. Der Anwalt Liebknecht, Sohn der Parteigründers Wilhelm Liebknecht, machte sich schon früh als Pazifist einen Namen. Für die Jugendarbeit der SPD veröffentlichte er 1907 die Schrift Militarismus und Antimilitarismus, was ihm wegen Vorbereitung zum Hochverrat eineinhalb Jahre Festungshaft einbrachte.8 1908 wurde er Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, obwohl er noch nicht aus der Haft in Glatz in Schlesien entlassen worden war. Er gehörte zu den ersten acht Sozialdemokraten, die trotz des die SPD stark benachteiligenden Dreiklassenwahlrechts ein Mandat im Preußischen Landtag errangen. Im Januar 1912 zog er als einer der jüngeren SPD-Abgeordneten in den Reichstag ein. Als der Reichstag am 1. August, dem Tag der Verkündung der Mobilmachung und der Kriegserklärung an Russland, für den 4. August zusammengerufen wurde, stand für Liebknecht noch außer Frage, dass »die Ablehnung der Kriegskredite für die Mehrheit der Reichstagsfraktion selbstverständlich und zweifellos

»Die Armee des Friedens«  In: Parteizeitung »Vorwärts« (Extra-Ausgabe), Nr. 206a | Berlin, 3. September 1911 | Papier, Druck; 31,6 × 23,6 cm | Friedrich-Ebert-Stiftung, Bibliothek, Bonn

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sei«.9 Doch da irrte er sich: Am Nachmittag des 4. August stimmte die sozialdemokratische Fraktion auf Druck des Parteivorstands im Reichstag geschlossen für die Bewilligung der Kriegskredite, deren Annahme die Fraktion am Tag zuvor mit 78 gegen 14 Stimmen beschlossen hatte. Die Gründe hierfür waren vielschichtig; wesentlich war die Ansicht, dass es sich um einen Verteidigungskrieg gegen das autokratische Zarenreich handelte. Und da galt immer noch das Wort des 1913 verstorbenen charismatischen Parteivorsitzenden August Bebel: Dieser hatte auf dem Parteitag 1907 bekundet, bei einer Aggression des zaristischen Russlands, des »Feind[es] aller Kultur und aller Unterdrückten«, sei er »als alter Knabe noch bereit, die Flinte auf den Buckel zu nehmen und in den Krieg gegen Russland zu ziehen«.10 Liebknechts Mitstreiterin Luxemburg zählte zu den profiliertesten Vorkämpferinnen der linken Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg. 1912 reiste sie als Vertreterin der SPD zu europäischen Sozialistenkongressen. In Paris veranlasste sie zusammen mit Jean Jaurès die europäischen Arbeiterparteien zu einer feierlichen Verpflichtung, beim Kriegsausbruch zum Generalstreik aufzurufen. Als der zweite Balkankrieg im Sommer 1913 sich zu einem Weltkrieg auszuweiten drohte, organisierte sie Demonstrationen gegen den Krieg. Im September rief sie vor einer riesigen Menschenmenge zu Kriegsdienst- und Befehlsverweigerung auf: »Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen oder anderen ausländischen Brüder zu erheben, so erklären wir: ›Nein, das tun wir nicht!‹«11 Sie wurde wegen der »Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze und Anordnungen der Obrigkeit« angeklagt und im Februar 1914 zu 14 Monaten Gefängnis verurteilt. Vor dem Haftantritt konnte sie Ende Juli noch an einer Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros teilnehmen. Dort musste sie erkennen, dass in den europäischen Arbeiterparteien, vor allem auch in der deutschen und der französischen, der Nationalismus stärker ausgeprägt war als die internationale Solidarität. Was das weitere Vorgehen anging, äußerte sich Luxemburg am 28. Juli 1914 eindeutig: »Und ebenso besteht die einzige wirkliche Garantie des Friedens für Deutschland wie für Frankreich darin, ohne Verzug mit aller Energie die latente Macht des Proletariats in Bewegung zu setzen, eine so nachdrückliche Massenaktion gegen den Krieg zu organisieren, dass die lauen ›Friedenswünsche‹ der Regierungen in einen heißen Schreck vor den unabsehbaren Konsequenzen eines Krieges gewandelt werden.«12 Die schärfste Waffe der Sozialdemokratie wäre ein General­ streik gewesen. Dieses letzte Mittel war lange Zeit Gegenstand innerparteilicher kontro­verser Debatten. Luxemburg erblickte im Massenstreik ein offensives und effizientes Mittel der politischen Auseinander­setzung. Anders sah es das Parteizentrum um den Vorsitzenden Bebel. Für ihn war der Massenstreik

nur ein »Verteidigungsmittel«, ein Mittel gegen die Beschneidung von Rechten. Konkreter war es bereits 1907 geworden, als es auf dem Internationalen Sozialistenkongress um die Frage ging, wie sich die Sozialdemokratie bei einem möglichen Kriegsausbruch verhalten wollte. Während die französischen Teilnehmer für den Streik als Mittel zur Kriegsverhinderung votierten, gab sich der deutsche Parteivorsitzende verhaltener, weil er um den Zusammenhalt der SPD fürchtete. Es bleibt die Frage, ob ein flächendeckend organisierter und befolgter Massenstreik die Mobilmachung in Deutschland unmöglich gemacht, vielleicht sogar den Krieg verhindert hätte. Für den Fall einer starken oppositionellen Bewegung standen Repressionen der Staatsmacht bis hin zum militärischen Einsatz gegen die Streikenden im Raum, sodass bürgerkriegsähnliche Zustände gedroht hätten. Die SPD stimmte den Kriegskrediten zu. Auch die 14 Abgeordneten, die sich dagegen ausgesprochen hatten, beugten sich der Fraktionsdisziplin. Während des Krieges regte sich gleichwohl zunehmend Widerstand gegen die weitere Unterstützung der Kriegsführung. Bei den 1914 und 1915 folgenden Abstimmungen über weitere Kriegskredite wuchs die Zahl der Gegner, die sich aber in ihrer Mehrzahl noch weiter der Fraktionsdisziplin beugten, vor den Abstimmungen das Plenum aber verließen. Die Konflikte innerhalb der SPD mündeten im März 1916 in die end­gültige Spaltung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion durch die Gründung der »Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft«, die unter der Führung des bisherigen Partei- und Fraktionsvor­ sitzenden Hugo Haase gegen den im Reichstag beratenen »Not-Etat« plädierte. Im April 1917 folgte die Gründung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), zu der zu diesem Zeitpunkt noch die Spartakusgruppe um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gehörte. Ihr standen die Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) entgegen. Gleichsam »nach­ge­ holt« wurde der Widerstand gegen den Krieg in der Frage der Spaltung der Sozialisten weltweit. Wer sich gegen den Krieg gestellt hatte, durfte der 1919 gegründeten III., der Kommu­nis­ti­ schen Internationale beitreten. Die anderen verblieben in der II., der Sozialistischen Internationale. Zwischen ihnen herrschte von nun an nicht nur in Deutschland Feindschaft – bis hin zum Bürgerkrieg.

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Literatur Döring 2009; Kruse 1994; Mühlhausen 1994; Mühlhausen 2014; Röhl 2018; Wroblewski 2016.

10  Zit. n. Mühlhausen 2014, S. 178. Zu den Motiven der SPD, die Kredite zu bewilligen, vgl. Mühlhausen 1994.

1  Bernhard von Bülow, Zettelsammlung im Nachlass, Oktober 1911, zit. n. Rumpler 1996, S. 434.

11  Vgl. Laschitza 1996, S. 437.

2  Wilhelm II. – Gottlieb von Jagow (Staatssekretär im AA) (28. Juli 1914): »Ich bin der Überzeugung, dass im Großen und Ganzen die Wünsche der Donaumonarchie erfüllt sind«, dadurch »entfällt jeder Grund zum Krieg«. Zit. n. Röhl 2018, S. 1117. 3  Telegramm Kaiser Wilhelms II. an Zar Nikolaus, 29. Juli 1914. Zit. n. Röhl 2018, S. 1130. 4  Zit. n. Kruse 1994, S. 30. 5  Zitat des Partei­ vorstands aus dem Vorwärts vom 25. Juli 1914: »Kein Tropfen Blut eines deutschen Soldaten darf den Machtkitzel der österreichischen Gewalthaber, den imperialistischen Profitinteressen geopfert werden.« 6  Kruse 1994, S. 31. 7  Ebd., S. 39. 8 Hochverratsprozeß gegen Liebknecht 1907. 9  Zit. n. Liebknecht 1982, S. 214.

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12  Luxemburg 1973, S. 479.

Straßenproteste gegen den Krieg im Juli 1914

Stefan Paul-Jacobs

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Am 28. Juli 1914 marschierten mehrere tausend Arbeiter in Berlin in Richtung des Treptower Parks, um gegen den drohenden Krieg zu demonstrieren. Straßendemonstrationen hatten zu dieser Zeit noch keine lange Tradition. Denn das »Kulturmuster ›friedliche Straßendemonstration‹«1 entwickelte sich erst im preußischen Wahlrechtskampf seit 1908. Der spätere Bundespräsident Theodor Heuss schreibt in seinen Lebenserinnerungen, während dieser Zeit sei »die Demonstration für Deutschland erfunden« worden.2 Schaut man sich Bilder von den Teilnehmern an der Demonstration an, fällt zunächst auf, dass die Arbeiter im Anzug auftraten. Damit sollte gezeigt werden, dass das Bild des Lumpenproletariats keine Berechtigung hatte. Zugleich dokumentiert sich darin auch die Ernsthaftigkeit dieser neuen Form des Widerstands. Auffällig ist auch die Abwesenheit von Frauen auf den wenigen Bildern der Demonstrationen. Die Form des Protests hatte sich bereits 1910 etabliert. Friedrich Naumann, Pfarrer und liberaler Reichstagsabgeordneter, formulierte es so: »Das Volk hat sich eine neue Art geschaffen, in der es sich mit den Herrschenden unterhält.«3 Der Polizei waren die zunehmenden Demonstrationen suspekt. Der damalige Berliner Polizeipräsident Traugott von Jagow ließ 1910 Bekanntmachungen anschlagen, die sich gegen die steigende Anzahl von Versammlungen richteten: »Es wird das Recht auf die Straße verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige.«4 1914 versuchten auch die Sozialdemokraten, den Behörden durch diszipliniertes Verhalten keinen Anlass für Einschränkungen zu geben. Zahlreiche Ordner sorgten für einen ruhigen und friedlichen Ablauf der Demonstrationen. Die Parteiführung hatte zuerst nur schleppend auf das Attentat von Sarajewo am 28. Juni reagiert. Sie fuhr stattdessen in den Sommerurlaub. Die Vielzahl von außenpolitischen Krisen in den Jahren 1912/13 hatte zu einem Gewöhnungseffekt geführt. Das änderte sich am 24. Juli 1914 mit dem Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien. Die SPD rief zu Massenversammlungen auf. Im Gegensatz zu verbreiteten Auffassungen beteiligten sich sehr viele Menschen an diesen Demonstrationen. Der Historiker Wolfgang Kruse,

Protestbewegungen gegen den Krieg in Deutschland Ende Juli 1914 Protest movements against the war in Germany at the end of July 1914

Königsberg

Kiel Danzig Lübeck

Bremerhaven Hamburg Wilhelmshaven Vegesack Harburg-Wilhelmsburg Rüstringen Bremen Delmenhorst Hemelingen

Stettin Velten

Berlin Brandenburg

Hannover

Braunschweig

Bielefeld Mülheim

Luckenwalde

Münster Essen

Düsseldorf

Forst

Hagen

Elberfeld Solingen Aachen

Potsdam

Görlitz

Köln

Leipzig

Halle a.d.S.

Mühlhausen

Jena

Gotha Erfurt

Reichenbach Chemnitz Greiz

Zittau

100 50 25

10 1

Teilnehmerzahl (in Tausend) Number of participants (in thousands)

Höchst

Frankenthal Ludwigshafen

Dresden

Mannheim Fürth

Stuttgart Esslingen

München Freiburg

Quelle | Source: Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1994, S. 31–36

Protestbewegungen gegen den Krieg in Deutschland Juli 1914 | Grafik | Quelle: Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1994, S. 31–36

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der alle Demonstrationsbewegungen im Deutschen Reich rund um den 28. Juli 1914 dokumentiert hat, bewertet den Einwand, dass die Demonstrationen keine Massenwirksamkeit erreicht hätten, so: »Die sozialdemokratische Antikriegs­bewegung in der letzten Juliwoche zeichnete sich im Gegenteil durch eine breite Massenbewegung, eine intensive Ablehnung des Kriegs und nicht zuletzt auch durch eine hohe Bereitschaft von Teilen der Basis zu entschiedenen Protestaktionen aus.«5

Kruse zählt zwischen dem 26. und 31. Juli 1914 288 Antikriegsversammlungen in 163 Städten und Gemeinden. 183 Versammlungen kann er mit Zahlen belegen und kommt so auf fast 500 000 Menschen, die demonstrierten.6 Letztendlich geht er von mindestens 750 000 Demonstranten im gesamten Reichs­ gebiet aus. Die Karte zeigt, wo die Schwerpunkte der Kundgebungen lagen: In Sachsen mit seinen vielen Industrieansiedlungen kam es zu zahlreichen Versammlungen. In Leipzig, der Gründungsstadt der SPD, nahmen mindestens 100 000 Demonstranten teil, in Dresden 35 000 Teilnehmer, in Chemnitz 8000. Ein Gewerkschaftsfest in Leipzig wurde kurzerhand zur Friedensdemonstration umgewandelt, dazu kamen noch andere Antikriegsversammlungen. Der zweite Schwerpunkt lag in Berlin mit mehr als 100 000 Teilnehmern. Im Westen bildeten die Rheinprovinz (vor allem Köln und Düsseldorf) und das Ruhrgebiet lokale Schwerpunkte der Aktivitäten, im Norden Bremen und Hamburg. Hier demonstrierten zwischen 10 000 und 20 000 Menschen gegen den Krieg. Bemerkenswert ist die Zurückhaltung der sozialdemokratischen Führung, die offenbar von der Stärke der Demonstrationen überrascht wurde. Von der Berliner Parteispitze der SPD ist überliefert, dass sie einen kleinen Demonstrationszug in der Berliner Innenstadt, die eigentlich von der Polizei abgeriegelt war, zur Umkehr bewegen wollte. Die Demonstranten äußerten sich in drastischen Worten gegenüber ihrer Führung.7 Eine Ausweitung der Antikriegsbewegung hin zu einem Massenstreik, wie es radikale Sozialdemokraten wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht forderten, war für die Parteiführung keine Option. Im Gegenteil: Die regionalen SPD-Organisationen versuchten, offene Demons­ trationen einzuhegen und Versammlungen gegen den Krieg in geschlossenen Räumen abzuhalten. Der Vorsitzende der SPD, Friedrich Ebert, stellte im September 1914 nach Ausbruch des Krieges fest: »Wir haben uns in unserer Auffassung auch nicht von der Stimmung der Massen leiten lassen.«8

Literatur Ausst. Kat. Tübingen 1986; Kruse 1994.

4  Zit. n. Davis 2011, S. 91.

1  So der Untertitel des von Hans Jürgen Warneken heraus­ gegebenen Ausst. Kat. Tübingen 1986.

6  Vgl. ebd., S. 31.

2  Vgl. Ausst. Kat. Tübingen 1986.

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3  Zit. n. Warneken 1986, S. 64.

5  Vgl. Kruse 1994, S. 30.

7  Vgl. ebd., S. 42. 8  Zit. n. Kruse 1994, S. 33.

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Spielzeug, Karten- und Würfelspiele schlugen bereits vor 1914 bellizistische Töne an. Sie sind damit »Echo wie Lautsprecher der Kriegsbegeisterung in Europa« (Ernst Strouhal). Die Mehrzahl der Spiele variier­ te fortan das Thema Krieg, so auch dieses Quartett. Es betont die Waffenbrüderschaft zwischen dem Deutschen Reich und der k.-u.-k.-Monarchie: Auf dem Cover der Spielschachtel marschieren ein öster­ reichischer und ein deutscher Infanterist fröhlich Hand in Hand. Die Mehrzahl der ursprünglich 40 Spielkarten zeigt die Gegner Frankreich, Russland, England und deren »Hilfstruppen« und damit das globale Ausmaß des Krieges: Serben, Montenegriner, französische Hilfstruppen, indische und andere fremdländische Einheiten. Deren farbenprächtige Uniformen waren nicht nur im Medium Kartenspiel weitaus attraktiver als das Feldgrau der Mittelmächte. SW Literatur: Scheffknecht/Schädler 2016, S. 162f.; vgl. Ausst. Kat. Wien 2012, S. 420, Abb. S. 141.

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»Weltkrieg-Quartett«  Deutsches Kaiserreich (?), um 1915 | Karton, bedruckt; 13 × 16 × 2,8 cm (Verpackung) | Deutsches Historisches Museum, Berlin

1866

1866

»Nur bei vollkommener und wirklicher Gleichberechtigung aller Volksstämme ist eine befriedigende Bundes-Verfassung denkbar; jede andere solche Verfassung ist eine Verletzung der untergeordneten Stämme …«

Moritz Mohl, Mahnruf zur Bewahrung Süddeutschlands vor den äußersten Gefahren. Eine Denkschrift für die süddeutschen Volksvertreter, Stuttgart 1867, S. 13

Reich – Mittellage Oder: Ein »Drittes Deutschland« Der britische Historiker John Robert Seeley schrieb Ende des 19. Jahrhunderts, das bewährt sich Ausmaß an Freiheit in einem Gemein­

Stefan Paul-Jacobs

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wesen sei umgekehrt proportional zu dem Druck, den seine territorialen Nachbarn von außen ausübten.1 Unter diesem Gesichtspunkt stand Deutschland mächtig »unter Druck«. Vieles resultierte aus seiner besonderen geografischen Lage in Europa, der sogenannten Mittellage. So hatte Deutschland nach der Reichsgründung 1871 insgesamt acht Nachbarstaaten: Dänemark, Österreich, die Schweiz, Frank­reich, Luxemburg, Belgien, die Niederlande und Russland. Damit war es das euro­päische Land mit den meisten Nachbarstaaten. Nicht weniger galt diese Mittel­lage für den 1815 auf dem Wiener Kongress gegründeten Deutschen Bund. Er bestand aus 35 souveränen Fürsten­tümern und vier Freien Städten und bildete einen losen »völkerrechtlichen Verein«, der die Nachfolge des 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reiches antrat. Er verfolgte den Zweck, die äußere und innere Sicherheit der Mitgliedsstaaten zu gewährleisten und verfügte über ein Bundesheer, das aus von diesen beschickten Kontingenten bestand. Spätestens seit den Karlsbader Beschlüssen 1819 mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit, der Pressezensur und weiteren repressiven Maßnahmen ging es vor allem darum, revolutionäre Bestrebungen in den Bundesstaaten zu unterdrücken. Im Bund war die Rivalität zwischen den beiden Führungsmächten Preußen und Österreich notorisch – der sogenannte deutsche Dualismus. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 wurde der Bund erneut zu einem Instrument der Unterdrückung revolutionärer Tendenzen. Mit der Schlacht von Königgrätz im Jahr 1866 zwischen Preußen und Österreich fand sich die »kleindeutsche« Lösung durchgesetzt und damit das Ende des Deutschen Bundes besiegelt. Wie kam es zu dieser Entscheidung? Preußen und Österreich Im Verlauf der preußischen Verfassungskrise zwischen Parlament und König, die sich an der von König Friedrich Wilhelm IV. geforderten Vergrößerung des Heeres entzündet hatte, wurde Otto von Bismarck 1862 zum Ministerpräsidenten berufen.

Sein politisches Programm skizzierte er mit wenigen, aber sehr eindrücklichen Worten: »[…] nicht durch Reden und Majo­ri­täts­ beschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen –, sondern durch Eisen und Blut.«2 Dem widersprach Rudolf Löwenstein, ein Abgeordneter der Berliner Fortschrittspartei, und äußerte sich im Oktober 1862 optimistisch: Eine nationale Einheit Deutschlands werde so sicher »wie ein Naturgesetz mit Nothwendigkeit sich erfüllen müsse[n]; freilich nicht durch Eisen und Blut, sondern vielmehr durch Eisen und Kohle«.3 In den im Wiener Frieden 1814 Preußen zuerkannten Territorien an Rhein, Ruhr und Saar erfolgte bereits eine dynamische Industrialisierung. Ein zentraler Faktor war der Einsatz der Dampfmaschine und der in den in 1830er Jahren beginnende rasche Ausbau des Eisenbahnwesens. Preußen entwickelte sich zu einer aufstrebenden Industriemacht, die auch ihr Heer beständig modernisierte. Österreich reduzierte zur Stabilisierung der Staatsfinanzen demgegenüber seinen Militärhaushalt zu Beginn der 1860er Jahre erheblich. Im Unterschied zum ethnisch relativ homogenen Preußen war es zudem mit konfliktreichen Nationalitätenfragen belastet.

242

Die Schlacht bei Königgrätz 1866 trafen die beiden so unterschiedlichen deutschen Staaten als Rivalen um die Vorherrschaft in Deutschland aufeinander. Schon die verschiedenen Bezeichnungen des Krieges zeigen die unterschiedlichen Deutungen, die dem Konflikt beigegeben wurden. Der Krieg wurde als »Deutscher Krieg«, »Deutscher Bruderkrieg«, aber auch als »Deutsch-Deutscher Krieg« oder »Preußisch-Österreichischer Krieg«, gar als »zweiter deutscher Einigungskrieg« bezeichnet. Eigentlich handelte es sich um einen Krieg zwischen dem Deutschen Bund unter Führung Österreichs auf der einen und Preußens sowie dessen Verbündete auf der anderen Seite. Auslöser war ein lokaler Konflikt: Im Juni 1866 marschierten preußische Truppen in das Herzogtum Holstein ein, das von Österreich verwaltet wurde. Preußen verstieß damit gegen die 1865 vereinbarte »Gasteiner Konvention«, nach der Schleswig unter preußischer und Holstein unter österreichischer Verwaltung stehen sollte. Österreich schaltete daraufhin den Deutschen Bund ein, um gegen die Vertragsverletzung Preußens vorzugehen. Allerdings waren nicht alle Mitglieder des Bundes bereit, an der Seite Österreichs gegen Preußen zu kämpfen. Bayern und Hannover verlegten sich darauf, nur das eigene Territorium zu schützen. Die sächsischen Truppen verbanden sich dagegen mit dem österreichischen Heer. Der Ausgang dieser Auseinandersetzung war zunächst offen. An der Schlacht in der Nähe von Königgrätz, einer zu Österreich gehörenden böhmischen Stadt, waren ca. 400 000 Soldaten

Georg Schreyer | »Humoristische Karte von Europa im Jahre 1870«  Berlin, 1870 | Radierung; 36,5 × 51,2 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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Wilhelm Alexander Meyerheim | Reiterattacke preußischer Roter Husaren gegen österreichische Dragoner in der Schlacht bei Königgrätz  Berlin, 1866 | Öl auf Leinwand; 70 × 100 cm | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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beteiligt. Rein zahlenmäßig war die österreichische Armee der preußischen überlegen. Mehrere Faktoren führten jedoch zum Sieg Preußens, der an den Verlustzahlen sichtbar wird. Während Österreich 43 000 Verluste beklagte, darunter ca. 6000  Gefallene, waren es auf preußischer Seite nur 9000, darunter ca. 2000 Gefallene. Ein Grund für den Erfolg in der Schlacht war die technische Überlegenheit der preußischen Armee. Der Einsatz der Eisenbahn verlieh den militärischen Aktionen eine größere Dynamik, weil Truppen schneller herangeführt werden konnten. Bei der entscheidenden Schlacht manövrierte der damalige Generalstabschef Helmuth von Moltke dadurch die österreichische Armee aus. Der andere Erfolgsfaktor lag auf dem Gebiet der Rüstungstechnik: das Zündnadelgewehr. Dieses neue Gewehr wurde erstmals 1839 in der damaligen preußischen Provinz Sachsen präsentiert. Den Namen erhielt es von der Nadel an der Spitze eines Schlagbolzens, die anstelle der früheren Zündhütchen die Treibladungen zur Explosion brachte. Das Zündnadelgewehr wurde ab 1858 bei fast allen preußischen Einheiten eingeführt. In der Treffsicherheit auf große Entfernungen war es seinem österreichischen Äquivalent unterlegen, zeichnete sich aber durch eine erhöhte Schussfrequenz aus: Pro Minute waren fünf gezielte Schüsse möglich. Nachladen war auch im Liegen möglich. 1866 waren die meisten preußischen Truppen mit dem Zündnadelgewehr ausgerüstet. Bei seinem österreichischen Pendant, dem Lorenzgewehr, musste sich der Schütze aus seiner Deckung erheben, um eine Patrone zu laden. Auch war die Schussfolge nicht einmal halb so hoch wie beim Zündnadelgewehr. Der wechselvolle Verlauf der Schlacht, bei der zeitweise die österreichische Armee im Vorteil zu sein schien, zeigt jedoch, dass der preußische Sieg nicht zwangsläufig war.

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Das Ende des Deutschen Bundes Mit der Entscheidung bei Königgrätz fand der Deutsche Bund sein Ende. Preußen annektierte Schleswig-Holstein, Hannover, Kurhessen, Nassau und die Freie Stadt Frankfurt und bereitete die Gründung eines norddeutschen Bundesstaats vor. Österreich wurde aus der Mitte Europas verdrängt und richtete sich stärker nach Osten aus. 1867 wurde nach dem Ausgleich mit Ungarn die österreichich-ungarische Doppelmonarchie begründet. Als Vielvölkerstaat verlor sie jedoch zunehmend an innerer Kohäsion und geriet, vor allem auf dem Balkan, in eine schwelende Kon­ kurrenz zu Russland. Aus heutiger Sicht scheint der Weg zum deutschen Kaiserreich vorgezeichnet. Die kleindeutsche Reichseinigung unter preußischer Führung war jedoch nicht zwingend.4 Eine zeitgenössische Karikatur mit einer kopflosen Germania, die in einem Bildhaueratelier auf ihren Kopf wartet, zeigt Alternativen, wie ihr Haupt hätte bestückt werden können. Sie reichen von der alten

Habsburgerkrone (Das alte Reich) über einen preußischen Helm bis hin zu einem preußisch-österreichischen Doppelgesicht und schließlich zu einem vielnasigen Gesicht, das die Geltung der kleinen und mittleren Staaten in Deutschland hervorhebt. Den letzten Kopf, der für den alten Deutschen Bund steht, bedeckt eine Schlafmütze.

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Das Dritte Deutschland Die kleinen und mittleren Staaten werden auch als »Drittes Deutschland« bezeichnet. Sie standen im Schatten Preußens und Österreichs. Zu einer gemeinsamen kraftvollen Politik waren sie nicht in der Lage. Sie lehnten sich in unterschiedlicher Weise an die großen »deutschen« Staaten im Osten und Süden an, die vornehmlich in dynastischen Verbindungen der Herrscherhäuser untereinander begründet waren. Nach der Revolution von 1848/49 fanden die Ideen eines Dritten Deutschlands dann stärkeren Anklang. Im Februar 1850 kam es zum Abschluss des sogenannten Vierkönigsbündnisses aus Bayern, Sachsen, Hannover und Württemberg, das den Deutschen Bund stärker bundesstaatlich zu strukturieren beabsichtigte. 1854 kamen die Mittelstaaten angesichts der Gemeinsamkeiten Preußens und Österreichs im Krimkrieg überein, ihre Außenpolitik zu koordinieren. Auch hielten sie an den gemäßigt-liberalen Reformplänen für den Deutschen Bund fest. Der politische Einfluss der Mittelstaaten auf die deutsche Politik vor der Reichsgründung 1871 blieb jedoch insgesamt eher schwach. Auch fehlte es diesen Staaten an herausragende Persönlichkeiten, die einerseits die unterschiedlichen Interessen hätten ausgleichen und andererseits dem dominanten preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck hätten entschlossen gegenübertreten können. Einzelne Vorkämpfer für jenes Dritte Deutschland waren etwa Friedrich Ferdinand von Beust aus Sachsen oder der Württemberger Moritz Mohl, der sich für eine großdeutsche Perspektive einsetzte. Sein Mahnruf zur Bewahrung Süddeutschlands vor den äußersten Gefahren aus dem Jahr 1867 bekämpfte den Anschluss der süddeutschen Staaten an den Norddeutschen Bund. Nach 1871 war er bemüht, Kompetenzerweiterungen des neuen deutschen Kaiserreichs zu verhindern. Bei der Abwägung von möglichen Alternativen lohnt sich der Blick auf die Landkarte. Hätten die österreichischen Truppen die preußische Armee geschlagen, wäre es bei einem Friedensschluss vermutlich zu Gebietsabtretungen an Österreich gekommen; die Mittelstaaten im westlichen Deutschland hätten an territorialer und politischer Bedeutung gewonnen. So wären Staaten wie Bayern, Hannover, Baden, Württemberg und Sachsen durch eine preußische Niederlage gestärkt worden. Eine Art cordon sanitaire wäre aus den Mittelstaaten hervorgegangen. Frankreich wäre wohl als Garantiemacht der kleineren deutschen

Carl Eduard Biermann | Borsig’s MaschinenbauAnstalt zu Berlin  Berlin, 1847 | Öl auf Leinwand; 110 × 161,5 cm (Bildmaß) | Stiftung Stadtmuseum Berlin

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»Wie weit wir einig sind«  In: Kladderadatsch. Humoristisch-satyrisches Wochenblatt | Berlin, 13. Oktober 1861 | Papier, Druck; 30 × 23 cm | Universitätsbibliothek Heidelberg

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Staaten angetreten. Eine direkte militärische Konfrontation, wie sie 1870 zwischen Frankreich und Preußen stattfand, wäre vermieden worden. Letztendlich scheiterten alle Visionen eines Dritten Deutschlands an der Machtpolitik Bismarcks, der sich ganz auf die vor ihm liegenden Herausforderungen konzentrierte und diese so formulierte: »Eine Rechnung mit Faktoren, die in einer für jetzt ganz unbekannten Zukunft liegen, ist zu trügerisch, um ihr das entscheidende Gewicht für die Politik der Gegenwart bei­ zumessen.«5

Literatur Green 2011; Jahr 2020; Kolb 1993; Langewiesche 2020; Walser-Smith 2021; Winkler 2000. 1  Seeley 1896, S. 131. 2  Zit. n. Winkler 2000, S. 154. 3  Zit. n. Jahr 2020, S. 94. 4  Dazu eindrücklich: Langewiesche 2020, S. 73–102. 5  Zit. n. Kolb 1993, S. 33.

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Es war ständiger Wunsch des Militärs, Schuss­waffen zu enwickeln, die sich von hinten laden lassen. Nach unzähligen Versuchen und verbesserter Feinmechanik gelang es erst Nikolaus Dreyse 1825 in Sömmerda/Thüringen, einen gasdichten Verschluss zu konstru­ieren: In einer verriegelten Pulverkammer wird eine Papierpatrone mit Zündpille so von einer Nadel gezündet, dass sie von vorn nach hinten abbrennt und das Projektil rückstandsfrei nach vorn treibt. Zünd­nadel­ gewehre waren nicht leistungsfähiger und schneller als Vorderlader, aber der Schütze musste fortan seine Deckung zum Laden nicht mehr verlassen. Bis 1863 beschaffte Preußen geheim 300 000 solcher Gewehre. Eine verbesserte Schießausbildung und der Kampf in offenen Schützenschwärmen brachten unter anderem 1866 bei Königgrätz die Wende. Erstmals war Preußen auch technisch überlegen. Innerhalb kür­zester Zeit rüsteten alle  maß­geblichen Armeen auf Hinter­ lader um. SL Literatur: Wirtgen 1991, S. 240.

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Zündnadelgewehr M1862  Spandau, 1864 | Gussstahl, Eisen, Messing, Holz, graviert; 134,5 cm (Gesamtlänge), 84,2 cm (Lauf), 1,543 cm (Kaliber) | Deutsches Historisches Museum, Berlin

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Die Folgen der preußischen Hegemonie für die im Deutschen Krieg von 1866 unterlegenen Klein- und Mittelstaaten zeigt diese britische Karikatur aus einer Serie von insgesamt zwölf Blättern mit anthropomorphen, nationale Stereotypen reproduzierenden Landkarten: Die Leibesmitte zur grotesken Wespentaille geschnürt ringt die beidseitig von preußischem Terri­ torium flankierte blonde Maid Germany tänzelnd um Gleichgewicht. Das Patchwork ihrer farbenfrohen Tracht bilden die durch die militärische Niederlage und die Auflösung des Deutschen Bundes nun gänzlich marginalisierten Verbündeten Preußens bzw. Österreichs, darunter beide Mecklenburgs, Hannover, SachsenMeiningen, Kurhessen, Hessen-Darmstadt, Baden, Württemberg und Bayern. Zu der Serie gehört unter anderem auch das Blatt Prussia, das als Ergänzung hinzugedacht werden muss. Wie der unter dem Pseudonym »Aleph« publizierende Journalist William Harvey in seinem ironischen Vorwort der gedruckten Erstaus­ gabe glauben machen will, hatte eine 15-jährige Schülerin den Atlas ersonnen; die jüngere Forschung schreibt die Grafiken der Künstlerin Elizabeth Lilian Lancaster (1852–1939) zu. WCo

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William Harvey / Elizabeth Lilian Lancaster (?) »Germany«  Aus: »An Atlas of Geographical Fun. Being Humorous Outlines of Various Countries […]« | London, o. J. [1868] | Druck, Chromolithografie; 27,5 × 32,2 cm (Blattmaß), 24 × 20 cm (Bildmaß) | Deutsches Historisches Museum, Berlin

1848

1848

»Durch die Lande wird es klingen: Frankfurt holt den Kaiser ein.«

Ernst Moritz Arndt, Dichter, Parlamentarier und Mitglied der Kaiserdeputation, Auszug aus dem Gedicht »Die Ausfahrt zur Heimholung des Deutschen Kaisers«, Frankfurt am Main, 17. Mai 1849

Scheitern – Revolution Oder: Ein Traum wird wahr

Lili Reyels

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Ernst Moritz Arndt beschreibt in seinem Gedicht, was er selbst als Abgeordneter für Preußen miterlebt hatte: Am 30. März 1849 machte sich eine 32-köpfige Delega­ tion der Nationalversammlung unter deren Präsidenten Eduard Simson von Frankfurt am Main aus über Köln, Düssel­dorf, Hannover, Braunschweig und Magde­burg nach Berlin auf, um dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. am 3. April 1849 im Rittersaal des Berliner Stadtschlos­ ses die deutsche Kaiserkrone offiziell anzutragen.1 Vorangegangen war die Februarrevo­ lution 1848 in Paris. Auch überall im Bereich des Deutschen Bundes war es ab März 1848 zu revolutionären Erhebungen gekommen. Gefordert wurden konstitutionelle Einschränkungen der absoluten Fürstenmacht, politische Teilhabe, Grundrechte und ein Ende der sozialen Not. Es kam zur Wahl zur Nationalversammlung, dem ersten deutschlandweit gewählten Parlament, das in der Frankfurter Paulskirche zusammentrat. Von Mai 1848 an tagte dort das Parlament aus 600 gewählten Abgeordneten aus den Staaten des Deutschen Bundes. Am 28. März 1849 war die Verfassung von 409 Abgeordneten unterzeichnet worden und sollte die Gründung eines geeinten deutschen Nationalstaats mit Freiheits- und Grundrechten festschreiben. Das Reich sollte als »kleindeutscher« National­ staat, also bei Ausschluss Österreichs, konstitutionell verfasst sein.

Friedrich Wilhelm IV. von Preußen als Kaiser der Deutschen? »Gott sei mit Deutschland und seinem neu gewählten Kaiser!«, kommentierte Eduard Simson an diesem Tag die knappe Wahl Friedrich Wilhelms IV. zum Kaiser der Deutschen. Nach langem Ringen hatten sich die Abgeordneten für einen Bundesstaat ohne Österreich und auf ein künftiges Oberhaupt festgelegt. Sie versprachen sich davon die Verschränkung des monarchischen Gedankens mit dem parlamentarisch-demokratischen System. »Es wird kein Haupt über Deutschland leuchten, das nicht mit einem vollen Tropfen demokratischen Öls gesalbt ist«, so der Dichter und Abgeordnete Ludwig Uhland.2 Konnte die Paulskirche zu diesem Zeitpunkt noch realistischer­ weise davon ausgehen, dass Friedrich Wilhelm IV. ihr Werk vollenden und die deutsche Kaiserkrone annehmen würde? Die Stadt Frankfurt hatte bereits einen Doppelgulden geprägt,

der die Wahl Friedrich Wilhelms IV. zum Kaiser feierte. Noch war nichts verloren – und die Äußerungen des Monarchen waren in sich widersprüchlich. Ihre viertägige hoffnungsvolle Reise traten die Abgeordneten zunächst mit dem Schiff an, ab Köln reisten sie per Eisenbahn. Als schnelles Transportmittel für Menschen, Briefe und Zeitungen spielte dieses neue Fortbewegungsmittel bereits in der Revolution von 1848 eine Rolle. Der Kaiserdeputation ermöglichte es die rasche und bequeme Reise durch Deutschland einschließlich zahlreicher Zwischenhalte, um für Zustimmung zu werben. Im Gepäck hatten die Parlamentarier die Verfassungsurkunde des Deutschen Reiches. Die Reisenden stammten aus verschiedenen deutschen Wahlkreisen und Regionen, unter anderem waren für Sachsen Albert August Wilhelm Deetz, Wilhelm Loewe, Friedrich Karl Gustav Stieber und Karl Biedermann dabei, für Baden Alexander von Soiron, für Thüringen Moritz Adolph Briegleb, für Berlin Friedrich von Raumer und für Hessen Theodor Reh. Die Reise wurde von den Zeitgenossen und der Presse aufmerksam verfolgt und mit Bildern und Berichten dokumentiert. Der Parlamentarier Karl Biedermann, der 1863 für die Zeitschrift Gartenlaube einen Bericht über seine Reise mit der Kaiserdeputation verfasste, erinnert sich etwa an die Ankunft der Gruppe in Berlin: »[...] in einigermaßen gehobener Stimmung langten wir am Abend des 2. April in der preußischen Hauptstadt an. Wir wurden in dieser Stimmung befestigt durch die vielen Mitglieder beider Kammern, die uns, nebst einer Deputation des Magistrats von Berlin, auf dem Bahnhofe empfingen.«3 Friedrich Wilhelm IV. lehnte jedoch eine vom Volk ausgehende politische Ordnung ab: »Ein ächter Reichsfürst«, so meinte er, »ist aber 10 000 mal zu gut, um eine erfundene, aus Dreck und Letten [Lehm] gebackene Krone anzunehmen, die ihn zum Knecht des Prinzips, einer Nationalversammlung […] macht.« Eine solche Ordnung trage nicht den »Stempel Gottes«. Dieses Bild – ein imaginärer Reif »aus Dreck und Letten [Lehm]« – spiegelt den erneut aufgebrochenen Gegensatz zwischen Gottesgnadentum und Volkssouveränität wider.4

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Das Nachwirken des Berliner Barrikadenaufstands vom März 1848 Fast genau ein Jahr zuvor, am 21. März 1848, hatte sich Friedrich Wilhelm IV. noch gezwungen gesehen, den Revolutionären nachzugeben. Die Kämpfe des Berliner Barrikadenaufstands am 18. und 19. März 1848 sollen bis hinein ins Berliner Schloss zu hören gewesen sein. Eine dramatische Situation, in der die Krone das Gesetz des Handelns zu verlieren drohte. Die Regierung hatte versuchte, die Turbulenzen einzudämmen: Der König hatte zum Schein einen Kurswechsel eingeleitet, in dem er sich an die Spitze der Revolution stellte. Er gab bekannt, sich in den Dienst eines gesamtdeutschen Parlaments zu stellen. Seine »An mein

»S. M. Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen, verkündet in den Straßen seiner Hauptstadt die Einheit der deutschen Nation«  Das merkwürdige Jahr 1848. Neuruppiner Bilderbogen Nr. 2034 | Neuruppin, 1848 | Papier, Druck; 34,5 × 41,9 cm (Blattmaß), 26,6 × 33,1 cm (Bildmaß) | Landesarchiv Berlin

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Volk und die deutsche Nation«5 gerichtete Ankündigung besagte, Preußen werde fortan in Deutschland aufgehen.6 In Wahrheit fehlte es ihm an der Möglichkeit, eine von der Bürgerbewegung unabhängige Politik zu betreiben, ebenso am Willen, die vorhandene Militärmacht einzusetzen. Ein Neuruppiner Bilderbogen zeigt den König am 21. März 1848 mit einer schwarz-rot-goldenen Armbinde durch Berlin reitend. Ein in Zivil gekleideter Offizier trägt eine schwarz-rot-goldene Fahne voraus. Diese Farben, ursprünglich als die Nationalfarben in den Uniformen des Lützower Freikorps in den Freiheitskämpfen 1813 verehrt, standen symbolisch für den deutschen Einheitsgedanken. Immer wieder beteuerte Friedrich Wilhelm IV. in improvisierten Reden seine angebliche Unterstützung für die deutsche Einheit. Obwohl Ernst Moritz Arndt Friedrich Wilhelm IV. versichert hatte, die Parlamentarier stünden einer solchen Revolution, einer »königslosen Willkürherrschaft des Volkes fern«, begründet der Monarch bereits am 15. März 1849 seine Ablehnung der Krone mit seiner Vorstellung des Gottesgnadentums: »Die Revolution ist das Aufgeben der göttlichen Ordnung, […], das Beseitigen der rechten Obrigkeit, sie lebt und atmet ihren Todeshauch, so lange unten oben und oben unten ist.«7 Sein Selbstverständnis als Monarch ließ sich mit einem parlamentarisch fundierten Kaisertum nicht vereinbaren. Ausschlaggebend war also letztlich seine persönliche Entscheidung.8 Zu den Parlamentariern äußerte sich Friedrich Wilhelm IV. zunächst höflich, aber zurückhaltend. Er sei bereit anzunehmen, jedoch nicht ohne das Einverständnis der anderen deutschen Fürsten: »An den Regierungen der einzelnen Staaten wird es jetzt sein, zu untersuchen, ob die Verfassung dem Ganzen frommt, ob die mir zugedachten Rechte mich in den Stand setzen werden, die Geschicke Deutschlands zu leiten und die Hoffnungen der Völker wahr zu machen.«9 Die Parlamentarier sowie die beobachtenden Zeitgenossen, namentlich die Illustrirte Zeitung, hatten die Absage indes verstanden: »Nichts gleicht der Bestürzung, womit die der Frankfurter Abordnung ertheilte königliche Antwort von der berliner kaiserlichen Partei aufgenommen worden ist. […] Die treuesten Anhänger des Königs […] wenden sich jetzt ab von einer Regierung, die so muthwillig die mühevollen Arbeiten und schönen Hoffnungen zerstörte. Wie zierlich auch die Redensarten sind, in welche die abschlägige Antwort des Königs eingewickelt ist, so kann man sich doch über den eigentlichen Sinn nicht täuschen. Die vom frankfurter Parlament beschlossene Verfassung wird als ein reiner privatentwurf betrachtet, welcher erst durch die Vereinbarung, oder wie man jetzt lieber sagt, durch die Verständigung zwischen den deutschen Fürsten und freien Städten gesetzliche Kraft erhielte.«10 Für die Parlamentarier gehörten jedoch Verfassung und Kaisertitel unauflöslich zusammen.

Die Ablehnung der deutschen Kaiserkrone durch den preußischen König – Scheitern und Fortleben der Verfassungsideale Die Ablehnung der deutschen Kaiserkrone durch den preußischen König setzte ein deutliches Zeichen gegen die bürgerlich-revolutionären Forderungen. In der Folge wurden die bürgerlichen Hoffnungen auf eine konstitutionelle Monarchie durch die königlichen Soldaten blutig niedergeschlagen. Berühmt geworden ist das antidemokratische Zitat von Friedrich Wilhelm IV. an den Londoner Gesandten Christian Carl von Bunsen: »Das mach’ ich mit meines Gleichen ab; Jedoch zum Abschied die Wahrheit: Gegen Demokraten helfen nur Soldaten.«11 Die Kaiserdeputation war zwar nicht erfolgreich, die Abgeordneten erreichten nicht ihr politisches Ziel. Die Revolution wirkte aber weiter. Die Paulskirchenverfassung wurde zwar in vielen Staaten ratifiziert, trat aber nicht in Kraft. Ihre historische und verfassungspolitische Bedeutung steht gleichwohl außer Frage. Die Verfassung enthielt einen detaillierten Grundrechtskatalog, der in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 und im Grund­ gesetz von 1949 aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Insbesondere gehörte zu den schon 1849 garantierten Grund- und Freiheitsrechten der Schutz des Einzelnen vor dem willkürlichen Zugriff des Staates. Auch die Religions-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sollten staatliche Macht einschränken. Soziale Rechte und die Gleichberechtigung der Frau fanden hingegen keine Aufnahme in die Paulskirchenverfassung. Dennoch hätte die ausstrahlungsstarke, so modellhaft wirkende Frankfurter Reichsverfassung, wäre sie in Kraft getreten und umgesetzt worden, Deutschland zu einem der fortschrittlichsten Verfassungs­ staaten Europas gemacht. Die deutsche Revolution von 1848/49 steht somit sowohl für einen Anfangs- als auch für einen Endpunkt deutscher Geschichte. Ein Anfang war sie insofern, als 1848/49 eine demokratischkonstitutionelle Möglichkeit am politischen Horizont aufschien, die mit starker Prägekraft formuliert wurde. Hätte sich diese gesamtstaatliche Ordnung durchgesetzt, hätte die deutsche Geschichte möglicherweise eine andere Richtung genommen. Die Revolution von 1848/49 ist zugleich auch ein Endpunkt, die Ablehnung der ihm angetragenen Krone durch Friedrich Wilhelm IV. setzte zunächst ein deutliches Zeichen gegen die bürgerlichrevolutionären Ziele. Das, worauf die Forderungen und Träume der Abgeordneten auf ihrer Reise von Frankfurt nach Berlin zielten, sollte sich schließlich – 1949 zum Teil, 1989 zur Gänze – erfüllen: ein geeintes, freies und demokratisches Deutschland.

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Literatur Ausst. Kat. Berlin/ Frankfurt 1998; Best 1996; Blasius 1992; Hein 2019; Huber 1961; Kroll 1990; Langewiesche 2017; Wienfort 2019 1  Ernst Moritz Arndt ist als Vorreiter des deutschen Nationalismus und wegen seiner antifranzösischen Ressentiments heute umstritten. 2  Ludwig Uhland in einer Rede vor der deutschen National­ versammlung im Frankfurter Parlament am 22. Januar 1848, in: Uhland o. J. [1893], S. 337. 3  Biedermann 1863, S. 571. 4  Zitate in diesem Absatz siehe Ranke, L. von 1887, S. 493f. 5  Huber 1961, S. 365f. (Proklamation des Königs über die deutsche Politik Preußens, 21. März 1848). 6  Blasius 1992, S. 130f. 7  Antwortbrief Friedrich Wilhelms IV: an Ernst Moritz Arndt vom 15. März 1849, in: Friedrich Wilhelm IV. von Preußen 1930, S. 392. 8  Vgl. Hein 1998, S. 120. 9  Antwort Friedrich Wilhelms IV. an die Deputation der Frankfurter Nationalversammlung, in: Königlich privilegierte Berlinische Zeitung, 4. April 1849, S. 1. 10 In: Illustrirte Zeitung, 28. April 1849. 11  Siemann 1985, S. 203.

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Karl Biedermanns Bericht über die Reise der Kaiserdeputation Über das Scheitern oder Nicht-Scheitern

Monika Wienfort

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der Revolution von 1848/49 ist lange ge­ stritten worden. Das Ziel – ein deutscher Natio­nal­staat mit geschriebener Verfassung und kompetenzstarkem Parlament – wurde nicht erreicht. Das bedeutet aber nicht, dass die Revolution wirkungslos blieb: Die Anfänge von Arbeiter- und Frauen­bewegung, der Beginn des modernen Parteienwesens und eine Kommunika­ tionsexplosion in Flugblättern, Karikaturen und Zeitungen wiesen konservative Vorstellungen einer Restauration der ständischen Welt für immer in das Reich der Träume. Aber wann überhaupt war die Revolution von 1848/49 in Deutschland beendet? Ein mögliches Ende der Revolution kann im April 1849 gesehen werden, als der preußische König Friedrich Wilhelm IV. die ihm von der Frankfurter Nationalversammlung angetragene Kaiserkrone ablehnte. Hätte diese Entscheidung auch anders ausfallen können? Das ist wenig wahrscheinlich: In persönlichen Briefen hatte der König schon im Dezember 1848 deutlich gemacht, dass er nicht daran denke, eine »Krone aus Dreck und Letten [Lehm]«, ein Kaisertum aus der Hand eines deutschen Parlaments, anzunehmen. Das war vermutlich bereits eine Reaktion auf die Wende der Revolution im Herbst 1848, als sich mit der Verhängung des Belagerungs­ zustands für Berlin die Gewichte in Preußen hin zu Monarchie, Regierung und Militär verschoben hatten. Den Mitgliedern der Kaiserdeputation, die sich Ende März 1849 von Frankfurt am Main auf die Reise nach Berlin machte, waren die Hindernisse durchaus bewusst. In der Frankfurter National­versammlung standen Interessen von »Großdeutschen« und »Kleindeutschen«, Katholiken und Anhängern eines protestantischen Hohenzollernreichs, Republikanern und Anhängern der Monarchie gegeneinander. Manche Bürger der mittelgroßen Staaten teilten die Befürchtungen ihrer Fürsten, im neuen Reich marginalisiert zu werden. Um diese Nachteile auszugleichen, gab man sich Mühe: Die 32 Männer kamen aus den größeren deutschen Staaten einschließlich der freien Städte. Die Kaiserwahl erschien so als ein föderales Projekt. Auf der Reise herrschte wohl eine ambivalente Stimmung: Einerseits empfand man

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Euphorie und badete in dem Gefühl, endlich Fortschritte zu machen auf dem Weg zur deutschen Einheit. Auf die Unterstützung eines bürgerlichen und konstitutionellen Mainstreams in den verschiedenen Staaten meinte man zählen zu können; andererseits machte sich aber auch Skepsis breit über den Widerstand von Demokraten und Republikanern und die Haltung mancher Mitgliedsstaaten und ihrer Bevölkerung. Vor allem Hannover und Sachsen schienen schwierig, über die distanzierte Haltung Österreichs machte man sich keine Illusionen und die internationale Akzeptanz in Großbritannien, Russland und Frankreich schien unsicher. Die Quelle, die über die Reise der Kaiserdeputation zum preußischen König Anfang April 1849 berichtet, wurde erst Jahre später veröffentlicht. Der Autor konnte aber aus erster Hand berichten: Karl Biedermann aus Leipzig war selbst Mitglied der Deputation gewesen. Er veröffentlichte 1863 einen Artikel in der populären Familienzeitschrift Die Gartenlaube. Sein Beitrag erschien ausgerechnet im Zusammenhang des Frankfurter Fürstentags, bei dem wieder einmal die 1849 gescheiterte deutsche Einheit als Ziel aufschien. Diesmal hatte der österreichische Kaiser Franz Joseph die deutschen Fürsten symbolträchtig nach Frankfurt am Main eingeladen. Die 1850er Jahre hatten der Nationalbewegung wenig Hoffnung gemacht. Und auch jetzt bewegte sich nicht viel: Preußen hatte die Einladung gar nicht erst angenommen. Biedermann schrieb nostalgisch und pathetisch in einem Medium, das sich als weitverbreitetes illustriertes Blatt mit einer Auflage von mehr als 100 000 Exemplaren oft unpolitischliterarisch gab und doch national und liberal wirkte. Der sächsische Nationalliberale und Professor für Philosophie betätigte sich vor allem als Politiker und Publizist, laut Selbstbezeichnung als »Mann des öffentlichen Lebens«. Biedermann leitete seinen Beitrag mit einem im Mai 1849 entstandenen Gedicht von Ernst Moritz Arndt ein, der das populärste Mitglied der Deputation gewesen war. Sein Reisebericht erscheint als ein Szenario wachsender öffentlicher Zustimmung. Während in Köln wenig Begeisterung spürbar war (die zeitgenössischen Zeitungen berichteten gar von »Katzenmusiken« der Demokraten) wurde die Stimmung in Düsseldorf und dann in den welfischen Staaten Hannover und Braunschweig besser, also dort, wo viele Gegner eines Hohenzollernreichs vermutet wurden. Endlich erreichte die Deputation das preußische Kernland: die Städte Magdeburg, Potsdam und schließlich Berlin, wo viel Zustimmung registriert wurde. Biedermann beschreibt die Fahrt wie die Reise eines regierenden Monarchen, der jeweils von jubelnden Empfangskomitees aus den Honoratioren der Stadt und zahlreichen Einwohnern begrüßt wurde. Nun sollte so der Parlamentsbeschluss öffentlich bestätigt werden. Das alles hatte freilich keinen Erfolg: Der Bericht schildert die »fast betäubende Seelenerschütterung«

Titelbild  Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt, Nr. 36 | Berlin, 1863 | Papier, Druck; 22,4 × 31 cm | Bayerische Staatsbibliothek München

Karl Biedermann | »Aus jüngstvergangenen Tagen. 1. Die Frankfurter Kaiserdeputation im Jahre 1849« In: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt, Nr. 36 | Berlin, 1863 | Papier, Druck; 22,4 × 31 cm | Bayerische Staatsbibliothek München

bei den ablehnenden Worten des Monarchen und die Beschwörung des Nichtaufgebenwollens. Und am Schluss steht eine Audienz beim Prinzen und bei der Prinzessin von Preußen, also bei König Wilhelm I. und Königin Augusta, die seit 1858 bzw. 1861 in Preußen regierten. Hier bekannten sich beide zur nationalen Aufgabe Preußens. Die Hoffnung starb also zuletzt. Der politische Professor aus Sachsen konnte nicht wissen, dass sich seine Hoffnung auf den Nationalstaat 1870 erfüllen würde. Und auch der Gartenlaube sollte die Reichseinigung viel Auftrieb geben.

Literatur Biedermann 1863.

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Der Jurist und Parlamentarier Jacob Ludwig Theodor Reh (1801–1868) war ein Mitglied der Kaiserdeputation. Mit anderen Abgeordneten des Paulskirchenparla­ ments reiste er vom 30. März bis zum 2. April 1848 von Frankfurt am Main nach Berlin, um dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone anzutragen. Seine liberale politische Überzeugung trug er mit der in schwarzrot-goldenen Farben durchwirkten Weste sozusagen direkt an der Brust auch äußerlich zur Schau. In seiner Heimatstadt Darmstadt war Reh ab 1822 als Hofgerichtsadvokat tätig. In der Paulskirche vertrat er als Abgeordneter den Wahlkreis Offenbach und war Teil der Fraktion der gemäßigten demokratischen Linken. In den letzten Wochen ihres Bestehens, vom 12. bis zum 30. Mai 1849, stand Reh an der Spitze der ersten deutschen Nationalversammlung. LR Literatur: Ausst. Kat. Berlin/Frankfurt 1998, S. 365.

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Schwarz-rot-gold eingefasste Herrenweste von Theodor Reh  Deutsches Reich, 1848 | Kariertes Leinen mit schwarz-rot-goldenen Streifen; 60 × 45 cm | Regionalmuseum des Geschichts- und Museumsvereins, Alsfeld

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Viele Zeitungen begleiteten die Reise der Kaiserdeputation mit Berichten und entsprechenden Bildern. Nicht am 1. April jedoch, wie die Illustrirte Zeitung schrieb, sondern am 2. April 1849 kamen die Abgeordneten aus Frankfurt am Main in Berlin an. Sie fuhren von Frankfurt, dem Ort der Nationalversammlung, zunächst mit dem Schiff nach Köln, dann per Eisenbahn über Hannover, Braunschweig und Magdeburg nach Berlin. An vielen, jedoch nicht an allen Orten wurde die Delegation begeistert empfangen, teilweise wie hier im Bild in prunkvollen Kutschen abgeholt. Der Parlamentarier Karl Biedermann, der 14 Jahre später für die Zeitschrift Gartenlaube einen Bericht über diese Reise verfasste, erinnert sich: »Die Stadt Berlin ehrte uns als ihre Gäste und hatte für unsere Einquartierung in den ersten Hotels gesorgt. Die Bevölkerung begleitete uns mit Zeichen sichtbarer Theilnahme, als wir in den für uns bereit gehaltenen Wagen dorthin fuhren.« LR Literatur: Biedermann 1863, S. 571.

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»Empfang der Kaiserdeputation in Berlin am 1. April 1849«  In: Illustrirte Zeitung, Nr. 304 | Leipzig, 28. April 1849 | Holzstich | bpk

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Als Ort der Kaiserwahl und der Krönungszeremonie war Frankfurt am Main über Jahrhunderte ein zentraler Ort deutscher Verfassungsgeschichte. Um der entstehenden Nation 1848/49 einen unabhängigen Sitz zu geben, schien die freie Stadt einer sich selbst verwaltenden Bürger­ gemeinde ideal. Wichtige Zäsuren des Parlamentsbetriebs wurden traditionell in Gedenkmünzen der Stadt dokumentiert. So zeigt die Prägung dieses Doppelguldens im Jahr 1849 die Wahl Friedrich Wilhelms IV. zum »Kaiser der Deutschen d. 28. März 1849« durch die Abgeordneten. Auf der Rückseite des Doppelguldens ist ein doppelköpfiger Reichsadler zu sehen. Mit diesem Symbol sollte die Silbermünze an die Tradition des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation anknüpfen. Das Geldstück verweist auf die Hoffnungen der Parlamentarier. Nach der Ablehnung der ihm angetragenen Kaiserkrone durch den preußischen König dokumentiert das Objekt das Scheitern dieser Träume der Paulskirchenmehrheit. LR Literatur: Arnold u. a. 2003, Nr. 40; Ausst. Kat. Berlin/ Frankfurt 1998, S. 381; Joseph/Fellner 1896, S. 439.

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Doppelgulden auf die Kaiserwahl König Friedrich Wilhelms IV.  Frankfurt am Main, 1849 | Silber, geprägt; Durchmesser 3,6 cm | Historisches Museum Frankfurt

Anhang

Literatur

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Autorinnen und Autoren

Dr. Lisa Sophie Gebhard (LSG) ist wissenschaft­ liche Volontärin am Deutschen Historischen Museum. Prof. Dr. Raphael Gross ist Präsident des Deutschen Historischen Museums. PD Dr. Roman Köster ist Privatdozent und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Dr. Sven Lüken (SL) ist Sammlungsleiter Militaria am Deutschen Historischen Museum. Dijon Menchén (DM) ist Projektassistent am Deutschen Historischen Museum.

Fritz Backhaus ist Direktor der Abteilung Sammlungen am  Deutschen Historischen Museum. Dr. Wolfgang Cortjaens (WCo) ist Sammlungs­ leiter Angewandte Kunst und Grafik am Deutschen Historischen Museum. Jörg Diester ist Leiter der Dokumen­ tationsstätte im ehemaligen HVA-Bunker in Gosen bei Berlin. Prof. Dr. Dan Diner lehrt Moderne Geschichte an der Hebräischen Universität, Jerusalem. Er ist o. Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Er steht der Alfred Landecker Foundation vor. Julia Franke (JF) ist Sammlungs­leiterin Alltagskultur am Deutschen Historischen Museum. 281

Prof. Dr. Walter Mühlhausen ist außerplanmäßiger Professor für Geschichte an der TU Darmstadt und war bis zum 31. März 2023 Geschäftsführer und Vorstandsmitglied der Stiftung FriedrichEbert-Gedenkstätte in Heidelberg. Stefan Paul-Jacobs (SPJ) ist Historiker und Kurator. Dr. Lili Reyels (LR) ist Sammlungsleiterin Finanz- und Wirtschaftsgeschichte am Deutschen Historischen Museum. Dr. Bernd Rother ist Senior Research Fellow der BundeskanzlerWilly-Brandt-Stiftung. Matthias Struch (MS) ist Sammlungsleiter Plakate am Deutschen Historischen Museum.

Dr. Oliver Sukrow ist Architektur- und Kunsthistoriker an der Techni­ schen Universität Wien. Prof. Dr. Monika Wienfort ist Professorin für Brandenburgisch-Preußische Geschichte an der Universität Potsdam. Prof. Dr. Heinrich August Winkler lehrte bis zum Beginn seines Ruhestands 2007 Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dr. Sabine Witt (SW) ist Sammlungsleiterin Alltags­kultur am Deutschen Historischen Museum.

Leih- und lizenzgebende Institutionen

Bibliothek Hör- und Sprachgeschädigten­ wesen, Leipzig Bibliothèque de documentation internationale contemporaine (BDIC), Nanterre bpk-Bildagentur Bund der Vertriebenen, Bonn Bundesarchiv DDR Museum Berlin Deutsches Rundfunk­ archiv, Potsdam dpa picture alliance Felix-Nussbaum-Haus im Museumsquartier Osnabrück Familie Gardosh, Jerusalem

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Atomkeller-Museum Haigerloch, LUBW Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg

Jüdisches Museum Prag

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Kulturstiftung SachsenAnhalt, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale)

Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München Beeldbank WO2 282

Geschichts- und Museums­verein e. V., Stadtmuseum Alsfeld

Konrad-AdenauerStiftung, Berlin

Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Rudolstadt

Heinz Löster

Hans Peter Stiebing

Los Alamos National Laboratory

Stiftung Deutsches Technik­museum Berlin

Achim Meurer, Bad Neuenahr-Ahrweiler

Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn

Militärhistorisches Museum Dresden Sheindi Miller-Ehrenwald, Jerusalem MSA Safety Services GmbH, Berlin Museum für Stadt­ geschichte Templin National Archives, Washington, D.C. Niedersächsisches Landes­archiv – Abteilung Wolfenbüttel Österreichische Nationalbibliothek, Wien Presse- und Informations­ amt der Bundesregierung PROGRESS Film GmbH, Halle (Saale) Robert-HavemannGesellschaft/Archiv der DDR-Opposition, Berlin

Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig Stiftung Stadtmuseum Berlin Sven Simon SWR Media Services GmbH, Stuttgart ullstein bild Universitäts- und Stadt­ bibliothek Köln Universitätsbibliothek Heidelberg Walter-Ballhause-Archiv, Plauen Wehrgeschichtliches Museum Rastatt Wien Museum

Sammlung Otto Wolff

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Dank

Zentral- und Landes­ bibliothek Berlin Zentrum für Militär­ geschichte und Sozial­ wissenschaften der Bundeswehr, Potsdam

Für Rat und Unterstützung danken wir: Matthias Andree, Stefan Benz, Frank Berger, Dorlis Blume, Sarah Bornhorst, Heiner Bröckermann, Katrin Bomhoff, Sylvie Cavalier, Gerd Conradt, Christoph Dieckmann, Johannes Eberhardt, Barbara Heimbach, Niels Hölmer, Andrea Kamp, Hermann Kurz, Jürgen Matthäus, Dan Michman, Stefan Mörz, Carola Niedenthal, Dieter Pohl, Babette Quinkert, Nicole Schmidt, Philipp Springer, Christian Stoess, Sievert von Stülpnagel, Matthias Uhl, Georg Graf von Wallwitz, Lisa Weber sowie den Kolleginnen und Kollegen am Deutschen Historischen Museum

Bildnachweis

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S. 89 unten  Dosh (Kariel Gardosh) mit freundlicher Genehmigung der Familie Gardosh, in: Ma’ariv, 14.5.1965, The National Library of Israel

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S. 130  © DHM/ Sebastian Ahlers und Indra Desnica

S. 166/167  Bayerisches Armeemuseum Ingolstadt

S. 132/133, 150/151  Foto: Museumsquartier Osnabrück, Fotograf Christian Grovermann; Felix-Nussbaum-Haus im Museumsquartier Osnabrück, Leihgabe der Niedersächsischen Spar­kassen­stiftung

S. 171  bpk

S. 138  © DHM/ Heinrich Hoffmann S. 141  Foto: Bernhard Walter, Ernst Hoffmann (SS), Birkenau, heute Brzezinka (Oświęcim), Polen, 27. Mai 1944, Yad Vashem Photo Archive, Jerusalem. 4522 S. 143  © DHM/ Sebastian Ahlers und Indra Desnica S. 146  BArch, NS 6/6, fol. 67 S. 148/149  Johannes Hähle (PK), Hamburger Institut für Sozialforschung S. 152/153  bpk / RMN – Grand Palais / Gérard Blot © Raoul Chabrol/VG Bild-Kunst, Bonn 2023 S. 157  © DHM/ Sebastian Ahlers und Indra Desnica

285

S. 173  bpk / Heinrich Hoffmann S. 178/179  Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung S. 180/181  Bundes­archiv, Bild 183-H28422, o. Ang. S. 182/183  © DHM/ Sebastian Ahlers und Indra Desnica S. 186  © Opel Auto­ mobile GmbH S. 187  © DHM/ Sebastian Ahlers und Indra Desnica S. 189 links  © DHM/ Sebastian Ahlers und Indra Desnica S. 189 rechts  © DHM/ Sebastian Ahlers und Indra Desnica S. 195  Zentral- und Landesbibliothek Berlin S. 198/199  Privatsammlung Vanessa Wittmann, Künstler / Emil Kneiß S. 200/201  © DHM/ Sebastian Ahlers und Indra Desnica / © Lea Grundig/VG Bild-Kunst, Bonn 2023

S. 210  © DHM/A. & E. Frankl (vermutlich)

S. 247  Inv.Nr.: GS 07/35 GM Sammlung Stiftung Stadtmuseum Berlin, Reproduktion: Oliver Ziebe, Berlin Erworben mit Unterstützung der Kunststiftung der Länder, der Ernst von Siemens Kunststiftung, des Verein der Freunde und Förderer des Stadtmuseums Berlin und weiterer Partner

S. 212  Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt, 1894, Nr. 15, S. 257; Bestand AddF – Archiv der deutschen Frauen­ bewegung, Kassel, Sign.: A-F1-00373; Künstler: Johann Carl Wilhelm Aarland

S. 250/251  © DHM/ Sebastian Ahlers und Indra Desnica

S. 218  © DHM/ Sebastian Ahlers und Indra Desnica

S. 259  Neuruppiner Bilderbogen Nr. 2034, Landesarchiv Berlin

S. 222/223  © ARE / Harry Walter

S. 265  Bayerische Staatsbibliothek München, 2 Per. 6-1863,2, S. 362

S. 226 oben  © DHM/ Sebastian Ahlers und Indra Desnica S. 226 unten  © DHM/ Sebastian Ahlers und Indra Desnica S. 229  Bibliothek im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung S. 234  DHM/chezweitz S. 236/237  © DHM/ Sebastian Ahlers und Indra Desnica S. 238/239, 248 Universitäts­bibliothek Heidelberg, https://doi. org/10.11588/diglit.2242# 0188 S. 243  © DHM/ Sebastian Ahlers und Indra Desnica S. 244  © DHM/ Sebastian Ahlers und Indra Desnica

S. 252  © DHM/ Sebastian Ahlers und Indra Desnica S. 254/255  bpk

S. 266  Bayerische Staatsbibliothek München, 2 Per. 6-1863,2, S. 569 S. 268  Geschichtsu. Museumsverein Alsfeld e. V. Stadtmuseum Alsfeld S. 270/271  bpk S. 272  Historisches Museum Frankfurt

Impressum

Ausstellung

Roads not Taken Oder: Es hätte auch anders kommen können

Gesamtleitung Raphael Gross Abteilungsdirektorin Ausstellungen Ulrike Kretzschmar Idee und Konzeption Dan Diner Projektleitung Fritz Backhaus Kuratorinnen und Kurator Julia Franke, Stefan Paul-Jacobs, Lili Reyels Projektsteuerung Julia Franke, Stefan Paul-Jacobs, Lili Reyels Projektassistent Dijon Menchén Wissenschaftlicher Berater Werner Konitzer Fachbeirat Moritz Epple, Jan Gerchow, Martin Schulze Wessel, Monika Wienfort Wissenschaftlicher Volontär Maximilian Auth

Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums 9. Dezember 2022 bis 24. November 2024

Gefördert von

In Zusammenarbeit mit

((Logo Landecker Stiftung))

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Ausstellungsgestaltung chezweitz GmbH, museale und urbane Szenographie Sonja Beeck und Detlef Weitz mit Ines Linder, Fin Morten Ohlsen, Hans Hagemeister, Alexander Butz Ausstellungsgrafik chezweitz GmbH, museale und urbane Szenographie Sonja Beeck und Detlef Weitz mit Leila Tabassomi, Luiz Dominguez, Antonia Gaida, Anja Rausch, Jaroslav Toussaint, Carlotta Markötter, Siyu Mao, Darius Samek Möglichkeitsbilder Jaroslav Toussaint, Detlef Weitz, Ines Linder Filmische Exponate: Ideenreise 1849, Trailer Stefan Hurtig mit Franziska Junge, Jaroslav Toussaint

Audiocollage 1933 Carsten Golbeck, Jeff Burrell, Timur Isik, Astrid Kohrs, Marty Sander, Thomas Schendel, Darren Smith (Spreche­ r­innen und Sprecher) Carsten Golbeck (Wort­regie), track@once, Uwe Janßenharms (Tonstudio) Registrars Nina Bätzing, Anna-Maria Gogonjan Mediengestaltung und Medientechnik Sebastian Rau Praktikant Tom Tschepe Medieninstallation Eidotech GmbH, Berlin Visuelle Beratung Mason Leaver-Yap Bildarchiv Anne-Dorte Krause, Claudia Küchler Fotoarbeiten Sebastian Ahlers, Indra Desnica Grafikproduktion Digidax Kreativ- und Produktionsagentur Oschatz visuelle Medien GmbH & Co KG Lentiprint / Spectrum CreaDecor GmbH Ausstellungslektorat Wanda Löwe Übersetzungen John Berwick, Stephen Locke Konservatorische Betreuung Martina Homolka (Leitung), Michaela Brand, Elke Enzmann, Julia Garve, Juliane Girndt, Barbara Haussmann, Ulrike Hügle, Antje Nützmann, Matthes Nützmann, Hannah Pesch, Anne Ristau, Theresa Schlagheck, Claartje van Haaften, Judith Zimmer

Passepartourierung/ Rahmung Sabina Fernández-Weiß Ausstellungsaufbau/ Werkstätten Nicholas Kaloplastos (Leitung), Jens Albert, Sven Brosig, Christin Elle, Anette Forkert, Susanne Hennig, Torsten Ketteniß, Kai-Evert Kriege, Katrin Kunze, Holger Lehmann, Jörg Petzold, Ralf Schulze, Thomas Strehl, Stefan Thimm, Gunnar Wilhelm Malerarbeiten Malermeister Antosch, Berlin Kulissen Wandbilder Walhalla (Bild 13) und Zugwaggon (Bild 14) Atelier Witzmann: Burkhard Witzmann, Julia Zukowski, Titus Jany Tischlerarbeiten Max Leppinius GmbH Messebauten, Berlin Objektmontage Abrell & van den Berg – Ausstellungsservice GbR, Berlin Sammlungen Fritz Backhaus (Abteilungs­direktor), Sabine Beneke, Wolfgang Cortjaens, Julia Franke, Thomas Jander, Carola Jüllig, Sven Lüken, Matthias Miller, Brigitte Reineke, Lili Reyels, Matthias Struch, Thomas Weißbrich, Sabine Witt Dokumentar Objektdatenbank APS Phillip Meyer Kommunikation Stephan Adam, Christina Behrendt, Ina Frodermann, Laura Groschopp, Desirée Hennecke, Jenny Jakubik, Henning Koch,

Daniela Lange, Ilka Linz, Jana Nawrot, Berit Pohns, Nicola Schnell, Peter Schützhold, Oliver Schweinoch, Sonja Trautmann Abteilungsdirektorin Zentrale Dienste Tania Lipowski IT Gerhard Schmitt (Leitung), Sven Bienge, Björn Eichberg, Jan Dirk Kluge, Uwe Naujack, Magnus Wagner Controlling Lina Lassak Beschaffung Karola Brumme, Timur Akogul, Josefa Boll Bildung und Vermittlung Stefan Bresky (Leitung), Cornelius de Fallois (Vermittlungsprogramm), Marvin Keitel (digitale Vermittlung), Tillman MüllerKuckelberg (Begleitheft), Daniel Sauer (Mediaguide­redaktion), Andreas Ziepa (Inklusion); Ines Baginski, Andrea Schenk (Besucherservice) Mediaguide und Hörstationen Nathanael Kuck (Autor Hörführung), John Berwick (Übersetzung); John Berwick, Jaron Löwenberg, Marieke Oeffinger, Lilli Ray, Dulcie Smart, Marlen Ulonska (Sprecherinnen und Sprecher); K13 Studios Berlin GmbH; shoutr labs UG Berlin

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Inklusion und Barrierefreiheit Christine Rieger, Roswitha Röding (ABSV Berlin); dzb lesen; Charlotte Röttger; Sylvia Schalley Design Neuss; Gregor Strutz; Tactile Studio, Berlin; Stefan Thimm (Stations­bau); Zentrum für Leichte Sprache Donauwörth; voxelwerk GmbH; werk5 – newcraft GmbH; yomma GmbH, Berlin

Herbst 89 – Auf den Straßen von Leipzig

Kommunikations­ kampagne und -design Julia Volkmar & Studio Bens

Bartosz Bludau (Sound Design), Kyra Levine und Emma Defty (Übersetzung) Mitarbeit Drehbuch Agnes Schruf Lektorat Wanda Löwe Audioaufnahmen K13 Studios Berlin GmbH Sprecherinnen Bibiana Beglau, Dulcie Smart Visuelle Beratung Ulrike Kuschel

Entwickelt im Rahmen von

Filmreihe Mathias Barkhausen, Jörg Frieß

[Logo dive_in] Programm für digitale [Logo Interaktionen Kultur] Neustart

Wissenschaftliches Programm Nike Thurn Besonderer Dank an Dorlis Blume, Nico Geisen, Ilka Linz, Stephanie Neuner, David Schwalbe, Philipp Springer, Brigitte Vogel-Janotta

Gesamtleitung Raphael Gross Projektleitung Fritz Backhaus, Elisabeth BreitkopfBruckschen Wissenschaftlicher Mitarbeiter Niels Hölmer Projektassistentin Ulrike Kuschel Studentische Mitarbeiterin Thabea Lintzmeyer Wissenschaftliche Beratung Gundolf S. Freyermuth, Philipp Bojahr, Werner Konitzer, Sascha Lange, Stefan Paul-Jacobs Spielentwicklung in Koope­ra­tion mit Playing History, Berlin Anne Sauer und Michael Geithner (Game Design), Martin Thiele-Schwez (Game Producer), Alexander Roncaldier (Illustration), Elisabeth Schunck (Interface Design), Martin Seidel (Programmierung),

Gefördert durch

Der vorausgegangene Prototyp »Leipzig 89 – Revolution reloaded« wurde entwickelt im Verbundprojekt museum4punkt0. Gefördert von der Beauftragten der  Bundes­ regierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestags. Gefördert von

[Logo BKM] [Logo museum4punkt0] [Logo Neustart Kultur]

Begleitpublikation Roads not Taken Oder: Es hätte auch anders kommen können Deutsche Zäsuren 1989–1848 Herausgegeben von Fritz Backhaus, Dan Diner, Julia Franke, Raphael Gross, Stefan Paul-Jacobs und Lili Reyels für das Deutsche Historische Museum Redaktion Julia Franke, Stefan Paul-Jacobs, Lili Reyels Bildredaktion Dijon Menchén Lektorat Wanda Löwe Fotografien Sebastian Ahlers, Indra Desnica Herstellung Ilka Linz Projektleitung C.H.Beck Stefanie Hölscher Herstellung C.H.Beck Cornelia Horn Layout, Satz und Umschlag­gestaltung Joana Katte und Torsten Köchlin Lithografie Fotosatz Amann, Memmingen

Bibliografische Informa­ tion der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche National­ bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// www.dnb.de abrufbar. © 2023 Stiftung Deutsches Historisches Museum und Verlag C.H.Beck, München, und die Auto­ rinnen und Autoren ISBN Buch 978 3 406 80094 8 ISBN eBook 978 3 406 80894 4 www.dhm.de www.chbeck.de Diese Veröffentlichung ist nach den Regeln der neuen  Recht­schreibung gesetzt. Ausnahmen bilden Texte, bei denen künstlerische, philolo­ gische oder lizenzrecht­ liche Gründe einer Änderung entgegen­ stehen. Die Stiftung Deutsches Historisches Museum bemüht sich um eine geschlechter­ gerechte Sprache. Die Essays folgen dem Votum der jeweiligen Autoren und Autorinnen. Wenn aus Quellen zitiert wurde, wurden die Originalvor­ lagen ohne sprachliche Verände­rungen wieder­ gegeben. Wir bedanken uns bei allen Institutionen und Personen für die Abdruckerlaubnis. Wir haben uns bemüht, alle CopyrightInhaber und -Inhaberinnen ausfindig zu machen und um Abdruck­geneh­­ migung zu bitten. Sollten wir eine Quelle nicht oder nicht vollständig ange­ geben haben, so bitten wir um Hinweise an die Stiftung Deutsches Historisches Museum, Berlin.

Zum Buch

Über die Herausgeberinnen und Herausgeber Fritz Backhaus ist Direktor der Abteilung Sammlungen am Deutschen Historischen Museum. Dan Diner ist Historiker für moderne Geschichte und lehrte an den Universitäten Jerusalem und Leipzig. Er war zuletzt Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur. Julia Frank ist Sammlungsleiterin Alltagskultur am Deutschen Historischen Museum. Raphael Gross ist Historiker und Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum. Zuvor war er Direk­ tor des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main und leitete das Simon-Dubnow-Institut. Stefan Paul Jacobs ist Historiker und Ausstellungs­ dramaturg. Lili Reyels ist Sammlungsleiterin Finanz- und Wirtschaftsgeschichte am Deutschen Historischen Museum.

Es hätte auch anders kommen können: Aus dieser Perspektive betrachtet der Band 14 Zäsuren deutscher Geschichte von 1848 bis 1989. Ausgehend von zen­ tralen Daten werden die tatsächlichen historischen Ereignisse vor dem Hintergrund möglicher anderer Geschichtsverläufe präsentiert, die in entscheidenden, oftmals dramatischen Wendepunkten ebenfalls angelegt waren. Auf diese Weise wird Bekanntes in ein neues Licht getaucht und die grundsätzliche Offen­ heit von Geschichte verdeutlicht. Was wäre gewesen, wenn die Sicherheitskräfte der DDR 1989 mit Gewalt gegen die Demonstrierenden eingeschritten wären? Was wäre gewesen, wenn die USA 1945 Atombomben über Deutschland abge­ worfen hätten? Oder was wäre aus Deutschland geworden, wenn 1848 der Versuch, eine konstitutio­ nelle Monarchie zu begründen, geglückt wäre? Der Titel der Ausstellung »Roads not Taken« im Deutschen Historischen Museum, zu der hier das Begleitbuch vorliegt, ist programmatisch zu verstehen. Nach einem Konzept des Historikers Dan Diner werfen die Autorinnen und Autoren – allesamt ausgewiesene Exper­tinnen und Experten – den Blick auf mögliche historische Alterna­tiven: Welche unerwarteten Zufälle hätten das historische Geschehen verändern können? Welche Rolle spielten Personen bei diesen Ereignissen? Themen wie die deutsche Ostpolitik, Mauerbau und Kalter Krieg, die Machtübernahme der National­sozia­ listen, die Revolution und die Demokratisierung in Deutschland werden auf diese Weise neu vermessen.