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German Pages 137 [146] Year 2012
R D
· Richard Wagner: Siegfried
Bernd Oberhoff
Richard Wagner Siegfried Ein psychoanalytischer Opernführer
Psychosozial-Verlag
Bernd Oberhoff Richard Wagner: Siegfried
IMAGO Psychosozial-Verlag
Bernd Oberhoff
Richard Wagner Siegfried Ein psychoanalytischer Opernführer
Psychosozial-Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. E-Book-Ausgabe 2013 © der Originalausgabe 2012 Psychosozial-Verlag Walltorstr. 10, D-35390 Gießen 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 0641 - 96 99 78- 19 E-Mail: [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung & Satz: Hanspeter Ludwig, Wetzlar www.imaginary-world.de ISBN Print-Ausgabe 978-3-8379-2134-2 ISBN E-Book-PDF 978-3-8379-6538-4
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Inhalt
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Einleitung Die Ouvertüre: Eine »Mentalisierungssinfonie« Mimes Grübelzwang und Siegfrieds Vaterhass Ein Wanderer, von dem eine beängstigende Drohung ausgeht Siegfried als Zauberschmied: Die magische Produktion eines »falschen Phallus« Ein düsteres Szenario kündigt sich an: Der teuflische Tritonus Siegfrieds Ausflug in eine schöne heile Welt Im Märchenland: Siegfried der Drachentöter Siegfrieds zweiter Vatermord Die Sehnsucht nach Rückkehr zur vollkommenen Mutter Wotan trotzt gegen Mutter Erda Wotan und Siegfried – zwei anti-ödipale Kumpane
9 15 19 33 39 49 55 61 71 85 89 97
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13. 14.
W Inhalt X
Brünnhilde, die Muttergeliebte Erste Schatten über dem Liebesglück
Literatur Kurzzusammenfassung der psychologischen Sinnebene des Siegfried Anhang
105 117 127 129 133
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Richard Wagner (1813–1883)
Siegfried Ring des Nibelungen: 2. Tag Libretto: Richard Wagner Uraufführung: 16. August 1876 Festspielhaus Bayreuth Auftretende Personen
Siegfried Mime Wotan (Wanderer) Alberich Fafner (Drache) Brünnhilde Erda
Heldentenor Tenor Heldenbariton Bariton Bass Sopran Alt
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W Siegfried X
Stimme eines Waldvogels Ort und Zeit der Handlung: Mythische Vergangenheit
Sopran
Ur-Wala Ge erati
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tan
(Me sc e fra )
Ur-Wala
1. Einleitung Ge erati
Sie li
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Siegmund
Brünnhilde
Ge erati Siegfried Mit der Oper Siegfried wird ein Spross der nunmehr dritten Generation eingeführt: der junge Siegfried. Wagners Ringdrama erweitert sich damit zu einer mehrere Generationen umfassenden Familiensaga. Da die Beziehungsverhältnisse in der Wotansfamilie etwas verwirrend sind, soll der folgende kleine Stammbaum dabei behilflich sein, den Überblick zu behalten. Ur-Wala 1. Generation
2. Generation
3. Generation
(Menschenfrau)
Sieglinde
Wotan
Siegmund
Ur-Wala
Brünnhilde
Siegfried
Abb. 1: Übersicht über die Beziehungsverhältnisse in der Wotansfamilie
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W Siegfried X
Im familiären Beziehungsnetz schwebt über allem die Ur-Wala, die Urmutter, die Urweise, auch Erda genannt. Ihre genaue Identität ist schwierig auszumachen. Sie kann Vieles sein: die Urmutter der Menschheit, Wotans leibliche Mutter oder eine Gestalt in Wotans Psyche (Mutter-Imago). Fest steht, dass Wotan sich mit dieser UrWala sexuell eingelassen und die Walküre Brünnhilde gezeugt hat. Sollte es so sein, dass Erda zugleich Wotans Mutter ist, so würde die Reihe inzestuöser Vermischungen hier ihren Anfang nehmen. Wotan hat auch mit anderen – göttlichen wie menschlichen – Frauen Kinder gezeugt. Aus einer dieser flüchtigen Beziehungen mit einer Menschenfrau ist das Zwillingspaar Siegmund und Sieglinde hervorgegangen. Durch den Verlust der Eltern wurde dieses Zwillingspaar früh getrennt. Doch als Erwachsene treffen sie wieder aufeinander, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Schwester bereits verheiratet ist. Das hindert die beiden jedoch nicht daran, sich sexuell zu verbinden. Aus diesem inzestuösen Kontakt geht Siegfried hervor, der den Vater bereits vor der Geburt und die Mutter kurz nach der Geburt verliert. Wagners mythisches Bühnenfestspiel Der Ring des Nibelungen wird vom Autor als »Heldenreise des frühen Ichs« verstanden, wobei dieses Ich nicht nur von einer Person dargestellt wird. Es gibt insgesamt vier durchgängige Ich-Protagonisten, das sind
W 1. Einleitung X
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Wotan, Siegmund, Brünnhilde und Siegfried (im Stammbaum fett hervorgehoben). Diese vier werden als sich entwickelnde Personen dargestellt, die um die Bewältigung bestimmter Lebens- und Lernaufgaben bemüht sind, die sich dem frühkindlichen Ich stellen. Für eine erste, kleine Wegstrecke ist auch Alberich hinzuzurechnen, der am Beginn des Rheingold in den Tiefen des Rheins schmerzliche seelische Verletzungen erleidet (vgl. Oberhoff 2011). Dass das Rheingold als »Vorabend« von den dann folgenden drei mythischen Tagen abgetrennt ist, mag seinen Sinn darin haben, dass an diesem Vorabend die problematisch verlaufende Entwicklung des frühkindlichen Wotan-Ichs (also der ersten Generation) in Szene gesetzt wird. Ab der Walküre tritt Wotan dann durchgängig in der erwachsenen Vaterrolle auf, aus der heraus er in ganz spezifischer (leider pathogener) Weise auf seine Nachkommen in der zweiten und dritten Generation einwirkt. Ein besonderes Kennzeichen dieses Familiengeflechts sind unsichere oder fehlende Selbstgrenzen. So fehlen sichere Unterscheidungen, z. B. zwischen Familienmitgliedern einerseits und Sexualpartnern andererseits. Zu den unsicheren sexuellen Grenzen kommt ein Verschwimmen der Grenzen zwischen innen und außen hinzu. Es bleibt in der Schwebe, wann die Ur-Wala eine im Außen auftauchende Urmutter und wann sie eine innere Mutter-Imago ist. Für Fricka gilt dasselbe. Sie ist zweifellos Wotans Ehefrau,
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W Siegfried X
doch sie erscheint in der Walküre zugleich als eine innere Stimme, als ein Introjekt im Innern von Wotans Psyche. Auch Brünnhilde oszilliert zwischen einer äußeren, autonom sich gebärdenden Frau in stählerner Rüstung und einem inneren Selbstanteil von Wotan: Sie beherbergt Wotans externalisierten autonomen Willen, d. h., sie ist Wotans Wille. Auch Alberich muss hier genannt werden. Er erscheint als Wotans äußerer Gegenspieler, den Wotan beraubt und bekämpft, doch er steht in anderen Situationen für jene Triebregungen und Schuldgefühle, die Wotan aus seinem Bewusstsein verbannt hat. Alberich wird auf diese Weise zum Träger aller Schuld und aller bösen Triebregungen, die Wotan bei sich nicht anzuerkennen bereit ist. Er ist gleichsam der dunkle Bruder Wotans, eine Symbolfigur für Wotans Verdrängt-Unbewusstes. Wie lassen sich diese Phänomene von unsicheren oder fehlenden Grenzen verstehen und erklären? Nach allem, was die Säuglingsforscher und die psychotherapeutische Praxis in vielen Jahrzehnten an Erkenntnissen zusammengetragen haben, ist solch eine Grenzunsicherheit für die frühkindliche Erlebniswelt charakteristisch; eine Unsicherheit, die erst ganz allmählich in einem mühsamen Lernprozess überwunden werden kann. Die intensive Projektions- und Introjektionsaktivität des kleinen Kindes schafft innere Objekte nach draußen und äußere Objekte ins Innere der Psyche, wo sie dann im Laufe des Reifungsprozesses zu festen Repräsentanzen
W 1. Einleitung X
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werden. Fehlende Selbstgrenzen können darauf hindeuten, dass der Aufbau solcher Strukturen beim frühen Selbst noch nicht abgeschlossen ist oder aber nicht gelungen ist. Letzteres kann die Folge von traumatischen Erfahrungen sein, die eine gesunde Entwicklung zu einem autonomen Selbst verhindert haben. Ab dem zweiten Lebensjahr beginnt das Kind in der Regel damit, die Gleichsetzung von innerer und äußerer Welt Schritt für Schritt aufzulösen und durch eine differenzierte Realitätswahrnehmung zu ersetzen. Hat das Kind erst einmal entdeckt, dass es bei Vater und Mutter hinter ihrem sichtbaren äußeren Verhalten auch noch eine unsichtbare psychische Welt gibt, beginnt das Abenteuer des Lesens von Gedanken, des möglichst genauen Mentalisierens nicht ausgesprochener Überlegungen, Absichten, Motive und Vorstellungen. Allem Anschein nach führt uns die Ouvertüre zu Siegfried mitten hinein in derartige Mentalisierungsabenteuer.
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2. Die Ouvertüre: Eine »Mentalisierungssinfonie«
Dass es in dieser Ouvertüre um die unsichtbare Welt der Gedanken geht, machen sogleich die ersten Takte deutlich. Es beginnt mit Mimes Grübel-Motiv.
Nr. 37 Grübel-Motiv Nr. 37 Grübel-Motiv
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Der Vorhang hat sich bereits gehoben und der Zuschauer sieht Alberichs Bruder Mime in seiner Schmiedewerkstatt in tiefes Nachdenken versunken. Worüber sinnt Mime nach? Das Orchester erzählt es uns in Form von leitmotivischen Einwortsätzen (die Notenbeispiele zu den genannten Leitmotiven befinden sich im Anhang). Wie Eltern bei ihrem Kleinkind dessen Einwortsätze in ganze Sätze ausformulieren, so machen auch wir einmal Gleiches mit Wagners Leitmotiven. Wir versprachlichen sie und bringen sie
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W Siegfried X
in ein Satzgefüge, um ihren Sinn auszudrücken. Aus der spezifischen Abfolge und Verknüpfung der Leitmotive ließe sich auf diese Weise die folgende Gedankengeschichte konstruieren:
Grübel-Motiv Hort-Motiv Schmiede-Motiv
Mime ist ins Grübeln versunken. Worüber grübelt er? Er denkt an den Hort. Zu gern würde er das Gold schmieden.
Seufzer-/Hort-Motiv
Doch er ist ratlos und verzweifelt, weil er nicht weiß, wie er in den Besitz des Hortes gelangen kann.
Ring-Motiv (8-mal)
Dann ist da noch dieser machtvolle Ring, den er gern besäße.
Grübel-Motiv
Er zermartert sein Hirn, wie man an den Ring kommen könnte.
Schwert-/Schmiede-Motiv
Man müsste das Zauberschwert schmieden können.
Schmiede-/Seufzer-Motiv
Doch Mime ist verzweifelt. So sehr er sich auch bemüht, er vermag es nicht zu schmieden.
Abb. 2: Die Ouvertüre als Gedankengeschichte – leitmotivisch erzählt Wagner betätigt sich hier als ein scharfsinniger Gedankenleser. Man könnte dieses Musikstück mit Fug und Recht als »Mentalisierungssinfonie« bezeichnen. Ebenso ungewöhnlich ist das Übermittlungsmedium, das Wagner wählt. Kleinste musikalische Klanggestalten verwendet er wie eine Begriffssprache, und zwar eine Begriffssprache, die eigentlich nur er selbst versteht, allenfalls
W 2. Die Ouvertüre: Eine »Mentalisierungssinfonie« X
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noch ein exklusives Publikum, das sich zuvor mit dieser Privatsprache vertraut gemacht hat. Es handelt sich also um eine Mentalisierungssinfonie mit Exklusivitätsanspruch. Diese Indienstnahme der Musik als eine Begriffssprache ist etwas absolutes Neues in der Musikgeschichte. Derartiges gibt es nur bei Wagner. Warum erfährt das Mentalisieren in dieser Oper solch eine herausgehobene Bedeutung? Für Menschen, die wie Wotan und Brünnhilde gleichsam grenzenlos mit anderen Menschen verbunden sind und keine Sicherheit darüber besitzen, ob das, was sie denken oder fühlen, dem eigenen Selbst oder dem Selbst des anderen entsprungen ist, ist das Lesen der Gedanken des anderen oftmals die einzige Möglichkeit, um das Eigene vom Fremden zu unterscheiden. Solche Menschen ziehen auf folgende Weise ihre Schlüsse: »Wenn ich weiß, was der andere denkt, dann sind meine Gedanken fremdbestimmt, falls sie mit jenen übereinstimmen; andererseits sind sie mein Eigentum, wenn sie davon abweichen.« Bei einem so hohen Grad an gegenseitiger Beeinflussbarkeit ist es zudem wichtig, die Kontrolle über das Fühlen und Denken des anderen zu gewinnen, um dessen Einflussnahme nicht hilflos ausgeliefert zu sein. So mögen die Motive eines präzisen Gedankenlesens sowie eines Kontrollbedürfnisses über die Innenwelt des anderen dafür verantwortlich sein, dass Wagner an dieser Stelle zu einer derartig ungewöhnlichen Mentalisierungssinfonie gegriffen hat.
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3. Mimes Grübelzwang und Siegfrieds Vaterhass
Die Bühne zeigt das Innere einer Felsenhöhle, zwei ihrer Eingänge münden in den Wald. Eingerichtet ist diese Höhle als eine Schmiedewerkstatt mit Blasebalg, Esse, Amboss und anderen Gerätschaften. Was in der Ouvertüre bereits musikalisch übermittelt wurde, wird nun noch einmal sprachlich bestätigt. Alberichs Bruder Mime ist verzweifelt, weil ihm das Schmieden des Zauberschwertes Nothung nicht gelingen will. Alle bisherigen Schwerter hat ihm sein Ziehsohn, der junge Siegfried, jeweils mit einem Schlag zertrümmert. Eine wirklich unbesiegbare Waffe wäre nur das Schwert Nothung, ehemals ein Geschenk von Wotan an seinen Sohn Siegmund, das jedoch im Kampf an Wotans Speer zerschellte. Die Splitter hat Mime sorgfältig aufbewahrt. Mit dem neu geschmiedeten Schwert könnte Ziehsohn Siegfried den Riesenwurm Fafner erlegen, der in der Neidhöhle den Goldschatz bewacht, wozu auch der machtvolle heiß begehrte Ring gehört. Doch so sehr sich Mime auch bemüht, die Wiederherstellung von Nothung will ihm nicht gelingen. Auch
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W Siegfried X
sein zwanghaftes Grübeln bringt ihn nicht weiter. Strophenartig wiederholt er den Refrain: »Zwanghafte Plage! Müh’ ohne Zweck!« Dann erscheint er, jener schmähliche Knabe, der alle bisherigen Schwerter Mimes »geknickt und entzweigeschmissen« hat: der jugendliche Siegfried. In wilder Waldkleidung, mit einem silbernen Horn an einer Kette, tritt er mit jähem Ungestüm aus dem Wald. Dazu ertönt sein frohgemuter Hornruf.
Nr. 38 Siegfrieds Hornruf Nr. 38 Siegfrieds Hornruf
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Er führt am Seil einen gezähmten Bären mit sich, den er gegen den angstvoll zurückweichenden Mime antreibt. Dazu singt er: »Friß ihn! Friß ihn, den Fratzenschmied! (lachend) Hahahaha!« Man ist als Zuschauer etwas befremdet über diese Begrüßung, die nicht gerade freundlich ausfällt. Als Mime Siegfried sein neuestes Schmiedestück zur Prüfung vorlegt, reagiert dieser übermütige Jüngling erneut verächtlich: Siegfried Hei! Was ist das für müß’ger Tand! Den schwachen Stift nennst du ein Schwert?
FINALE
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W 3. Mimes Grübelzwang und Siegfrieds Vaterhass X
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(Er zerschlägt es auf dem Amboß, daß die Stücken ringsum fliegen; Mime weicht erschrocken aus.) Da hast du die Stücken, schändlicher Stümper: hätt’ ich am Schädel dir sie zerschlagen! […] Wär’ mir nicht schier zu schäbig der Wicht, ich zerschmiedet’ ihn selbst mit seinem Geschmeid, den alten albernen Alb! Mime Nun tobst du wieder wie toll: dein Undank, traun, ist arg! Mach ich dem bösen Buben nicht alles gleich zu best, was ich ihm Gutes schuf, vergißt er gar zu schnell! Willst du denn nie gedenken, was ich dich lehrt’ vom Danke? Dem, sollst du willig gehorchen, der je sich wohl dir erwies. (Siegfried wendet sich unmutig um, mit dem Gesicht nach der Wand, so daß er Mime den Rücken kehrt.) Das willst du wieder nicht hören! Mime bietet Siegfried Speise an. Doch dieser schmeißt ihm den Topf samt Braten aus der Hand.
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W Siegfried X
Mime (mit kläglich kreischender Stimme) Das ist nun der Liebe schlimmer Lohn! Das der Sorgen schmählicher Sold! Als zullendes Kind zog ich dich auf, wärmte mit Kleidern den kleinen Wurm: Speise und Trank trug ich dir zu, hütete dich wie die eigene Haut. Mime zählt noch etliche Liebesdienste mehr auf, die er zu Siegfrieds Wohl geleistet hat, und beklagt sich über den Undank des Ziehkindes: »Für dich nur in Plage, in Pein nur für dich verzehr ich mich alter, armer Zwerg! (Schluchzend) Und aller Lasten ist das nun mein Lohn, daß der hastige Knabe mich quält (schluchzend) und haßt!« Genauso wie Mime muss auch dem Zuschauer das unflätige Verhalten von Siegfried unverständlich erscheinen. Mag der Ziehvater auch seine Verdienste zu sehr herauskehren und zu wehleidig den Dank seines Zöglings einfordern, rechtfertigt dies keineswegs ein derartig freches und respektloses Verhalten. Siegfried schimpft Mime einen »Fratzenschmied«, einen »schändlichen Stümper«, einen »alten albernen Alb«, einen »Schuft« und einen »räudigen Kerl«. Der junge Recke versteigt sich sogar zu offenen Morddrohungen gegen seinen Ziehvater: »[B]eim Genick möchte ich
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den Nicker packen, den Garaus geben dem garstigen Zwicker!« Spricht so ein lang erwarteter Held, der die Götter und die Welt retten soll? Diese unerfreuliche Beschimpfungstirade setzt sich noch eine Weile fort. Siegfrieds aggressive Reden werden von einem Unmutsoder Ärger-Motiv musikalisch untermalt, das manchmal auch als »Siegfrieds jugendliches Stärke-Motiv« bezeichnet wird. Eine solche Namensgebung kommt fraglos einer Verharmlosung des unflätigen Verhaltens gleich.
Nr. 40 Siegfrieds Unmut-Motiv
Nr. 40 Siegfrieds Unmut-Motiv
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Zu Mimes Wortbeiträgen erklingt im Orchester eine Klangfolge, die aus zwanghaft wiederholten kleinsten Figuren besteht und an das Schmiede-Motiv (Nr. 13) erinnert. Pahlen nennt es »Mimes Beharrlichkeit«. Seiner Meinung nach drückt es eine Besessenheit aus: »der nie erlahmende Wunsch Mimes […] nach dem Besitz von Ring und Macht« (Pahlen 1982, S. 26).
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Nr. 39 39 Mimes MimesBeharrlichkeit-Motiv Beharrlichkeit-Motiv Nr.
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Beide Motive, Siegfrieds Unmut-Motiv und Mimes BeharrlichkeitMotiv bestimmen als orchestraler Hintergrund die folgenden Dialoge. Ihre stetige Wiederholung hat etwas ausgesprochen Zwangssymptomartiges an sich. Wenn wir einmal den Versuch unternehmen, Siegfrieds destruktives Verhalten aus einer psychologischen Perspektive zu verstehen, so muss als Erstes ins Auge fallen, dass Siegfried bei der Geburt ein doppeltes Trauma erlitten hat: Vater Siegmund ist bereits vor der Geburt im Kampf umgekommen und Mutter Sieglinde stirbt bei der Niederkunft. Angesichts der Erkenntnis, dass für den Säugling eine liebevoll versorgende elterliche Umwelt extrem wichtig ist, um ein Urvertrauen zu entwickeln und ein gesundes Selbst zu erwerben, muss diese Ausgangslage des kleinen Siegfried als äußerst defizitär eingeschätzt werden. Ohne Eltern aufgewachsen und von®einem Nibelungenzwerg, der in einer Höhle lebt und mit sich selbst und seinen archaischen Affekten von Neid, Gier und Rachsucht genügend zu tun hat, als Ersatzmutter aufgezogen zu werden, könnte
FINALE Demo
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als Ausgangslage im Grunde schlechter nicht sein. Bezüglich all der wichtigen Bedürfnisse nach guter Nahrung, Zärtlichkeit, liebevoller Bestätigung und aufmunterndem Spiel wird Klein-Siegfried nicht wirklich satt geworden sein, so sehr sich Zwerg Mime, der unter der Knute seines Bruders Alberich im Bergwerk Frondienste zu leisten hat, auch Mühe gegeben haben wird, wie er Siegfried immer wieder vorhält: »Als zullendes Kind zog ich dich auf, wärmte mit Kleidern den kleinen Wurm: Speise und Trank trug ich dir zu, hütete dich wie die eigene Haut.« Selbst wenn Mime einige der aufgeführten Liebesdienste wirklich geleistet haben sollte, sie werden nicht ausgereicht haben, um den Verlust von Vater und Mutter aufzuwiegen. Man darf nach Lage der Dinge ohne Zögern davon ausgehen, dass Siegfried eigentlich ein sehr bedürftiges Kind ist, das in vielerlei Hinsicht zu kurz gekommen ist. Doch von der vermuteten Bedürftigkeit ist im Verhalten des pubertären Jünglings nichts zu entdecken. Charakterisiert durch ein tatkräftiges und frohgemutes Horn-Motiv gibt er das Bild eines vor Kraft und Lebensenergie strotzenden Jugendlichen ab. Er gibt sich autark, er kann scheinbar alles allein. Es ist nicht nur bei den Motiv-Benennern, sondern auch beim Dichterkomponisten eine gewisse Tendenz spürbar, über Siegfrieds überaus aggressives Verhalten hinwegzusehen. Wenn Siegfried den Bären auf Mime hetzt,
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ist in der Bühnenanweisung von »lustigem Übermut« die Rede, und wenn er seinen Ziehvater einen »Fratzenschmied« betitelt und dieser zitternd hinter dem Herd Zuflucht sucht, heißt es: »Siegfried setzt sich, um sich vom Lachen zu erholen.« Will man Siegfrieds Boshaftigkeit nicht zur Kenntnis nehmen? Dass familiäre Geborgenheit durchaus ein Thema ist, das den jungen Siegfried beschäftigt, zeigt sich im folgenden Dialog. Nachdem er noch einmal in verletzender Weise kundgetan hat, dass er seinen Ziehvater nicht leiden kann und er Mime am liebsten am »Genick packen« und ihm den »Garaus« machen möchte, beruhigt er sich allmählich und wird nachdenklich. Er beginnt über die Brutpflege in der Tierwelt nachzusinnen. Siegfried Es sangen die Vöglein so selig im Lenz, (zart) das eine lockte das andre: Du sagtest selbst, da ich’s wissen wollt’, das wären Männchen und Weibchen. Sie kosten so lieblich und ließen sich nicht; sie bauten ein Nest und brüteten drin: da flatterte junges Geflügel auf, und beide pflegten die Brut. So ruhten im Busch auch Rehe gepaart,
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selbst wilde Füchse und Wölfe: Nahrung brachte zum Neste das Männchen, das Weibchen säugte die Welpen. Da lernt’ ich wohl, was Liebe sei: der Mutter entwandt’ ich die Welpen nie. Wo hast du nun, Mime, dein minniges Weibchen, daß ich es Mutter nenne? Auch Mime erspürt diesen sehnsuchtsvollen Ton in Siegfrieds Stimme und wagt ihn auf sich zu beziehen: »So lechzt du auch nach mir, so liebst du auch deinen Mime.« Dieser Selbstbezug ist natürlich deplatziert, zeigt er doch wie sehr Mime nach Dank hungert und wie wenig er – zumindest in dieser Situation – in der Lage ist, auf die Sehnsüchte und unerfüllten Wünsche nach einem liebvollen Familienleben beim Ziehsohn einzugehen. Bei so viel eigener Bedürftigkeit des Erziehers wird für Siegfried sicherlich nicht viel an emotionaler Zuwendung übrig geblieben sein. Allem Anschein nach drängt es Siegfried, mehr über seine Herkunft und seine Eltern zu erfahren. Auch ein Interesse an Sexualität und Kinderzeugung lässt sich aus seiner Erzählung herauslesen. Mime gerät in Verlegenheit und will diesem Thema ausweichen. Er bezeichnet sich selbst als »Vater und Mutter zugleich«. Doch
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Siegfried ist damit nicht zufrieden. Als er berichtet, dass er sein Ebenbild im Wasser betrachtet und dabei festgestellt habe, dass er Mime so gar nicht ähnlich sehe, erklingt erstmalig das vollständige Siegfried-Motiv: Nr. 35 Siegfried-Motiv
Nr. 35 Siegfried-Motiv
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Siegfried lässt auch im Folgenden nicht davon ab, Mime zu drangsalieren, ja, er würgt ihn, um ihn zu zwingen, über Vater und Mutter genaue Auskünfte zu geben. Der unnachsichtig Gequälte gibt schließlich zögernd sein Wissen preis. Mime Einst lag wimmernd ein Weib da draußen im wilden Wald: zur Höhle half ich ihr her, am warmen Herd sie zu hüten. Ein Kind trug sie im Schoße; traurig gebar sie’s hier; sie wand sich hin und her, ich half so gut ich konnt’. Groß war die Not! Sie starb, doch Siegfried, der®genas.
FINALE Demo
Siegfried (langsam) So starb meine Mutter an mir?
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Sehr feinfühlig deutet hier der Dichterkomponist an, dass ein Kind, dessen Mutter bei seiner Geburt verstorben ist, sein Leben lang Schuldgefühle mit sich trägt, weil es sich als Verursacher des Todes der Mutter sieht. Diese Schuldgefühle können so unerträglich sein, dass alle zur Verfügung stehenden Abwehren eingesetzt werden, um diese quälenden Emotionen nicht spüren zu müssen. Vielleicht dient auch Siegfrieds Beteuerung, »der Mutter entwandt’ ich die Welpen nie«, dazu, ein latent vorhandenes Schuldgefühl sogleich zu beruhigen und sich als ein »Mutter-Schützer« zu präsentieren, genau so, wie dies sein leiblicher Vater Siegmund am Beginn der Walküre getan hat (vgl. Oberhoff 2011a). Es scheint äußerst wichtig zu sein, sich als jemand zu präsentieren, der keine Aggressionen gegen die Mutter hegt. Die Schuldgefühle wären unerträglich. Für einen kurzen Moment erfasst Siegfried ein melancholisches Gefühl, das in Sehnsucht nach der Mutter übergeht – in berührender Weise von einem Solo-Cello ausgedrückt. Von Mime möchte er wissen, wer ihm den Namen Siegfried gegeben hat. Mime: »So, hieß mich die Mutter, möchte ich dich heißen: als ›Siegfried‹ würdest du stark und schön.« Auch der Name der Mutter, Sieglinde, fällt Mime schließlich ein, doch vom Vater weiß er nur so viel zu berichten, dass dieser erschlagen wurde. Am Ende kommt Mime auf das Schwert zu sprechen.
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Mime (holt nach einigem Besinnen die zwei Stücke eines zerschlagenen Schwertes herbei) Das gab mir deine Mutter: für Mühe, Kost und Pflege ließ sie’s als schwachen Lohn. Sieh her, ein zerbrochenes Schwert! Dein Vater, sagt sie, führt’ es, als im letzten Kampf er erlag. Wie elektrisiert springt Siegfried auf und fordert Mime im Befehlston auf, ihm aus diesen Teilen noch heute ein Schwert zu schmieden. Auf Mimes erschrockene Nachfrage, warum noch heute, tut Siegfried kund, dass er lieber jetzt als gleich hinaus in die Welt ziehen will. Er teilt diesen Entschluss in Gestalt eines markanten Arioso mit: Siegfried Aus dem Wald fort in die Welt zieh’n: nimmer kehr ich zurück! Wie ich froh bin, daß ich frei ward, nichts mich bindet und zwingt! Mein Vater bist du nicht; in der Ferne bin ich heim; dein Herd ist nicht mein Haus,
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meine Decke nicht dein Dach. Wie der Fisch froh in der Flut schwimmt, wie der Fink frei sich davon schwingt: flieg’ ich von hier, flute davon, wie der Wind übern Wald weh’ ich dahin, dich Mime, nie wieder zu sehn! (Er läuft in den Wald.) So schwungvoll dieser Liedvortrag auch ausfällt, so ist angesichts dieses plötzlichen Stimmungsumschwungs doch eine gewisse Skepsis angebracht. Alle Sehnsucht und Entbehrung scheinen wie fortgeblasen. Statt Melancholie ist nun Frohsinn angesagt. Dieses ohne Frage bedürftige Kind stellt sich erneut als eine durch und durch autarke Persönlichkeit dar, die keiner Zuwendung oder Unterstützung bedarf, sondern bestens allein zurechtkommt. Wir sollen ihm glauben, dass ihn »nichts bindet und zwingt« und er »froh wie der Fisch in der Flut« und »frei wie der Fink in der Luft« in die Welt hinaus strebt. Diese Autarkie des jugendlichen Siegfried ist jedoch mit einem Fragezeichen zu versehen. Ist es nicht vielmehr ein illusionäres Wunschbild, das er hier von sich entwirft, welches mit der Realität wenig gemein hat? Mime schaut dem davon springenden Ziehsohn mit gemischten
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W Siegfried X
Gefühlen nach. Er sieht seine eigennützigen Absichten, in den Besitz des Rings zu gelangen, durch Siegfrieds Pläne bedroht. Darüber hinaus quält ihn, dass ihm das Schmieden des Schwertes nicht gelingen will. Da erscheint unverhofft ein fremder Gast, ein Wanderer, am Eingang der Höhle.
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4. Ein Wanderer, von dem eine beängstigende Drohung ausgeht
Der eingetretene Fremde ist in einen langen Mantel gehüllt, seinen Kopf bedeckt ein Hut mit breiter Krempe, außerdem führt er einen Speer als Stab mit sich. Mime ist über diesen Besuch zu unrechter Zeit überhaupt nicht begeistert und fordert den Wanderer auf, nicht länger zu verweilen. Doch dieser denkt nicht ans Weitergehen, sondern macht es sich am Herd bequem. Der Zuschauer hat in diesem merkwürdigen Gast längst Göttervater Wotan erkannt, der im Folgenden Mime zu einem Wettspiel herausfordert. Jeder darf drei Fragen stellen, wer eine Frage nicht beantworten kann, der hat seinen Kopf verwirkt. Man ahnt, dass dieses Fragespiel eine Falle ist. Wotan wird es schon so einzurichten wissen, dass er selbst siegreich aus der Wette hervorgeht. So ist es also Mimes Kopf, dem Gefahr droht. Widerwillig beginnt Mime das Spiel. Seine Fragen, wer in der Erde Tiefe tage (Antwort: Nibelungen), wer auf der Erde Rücken ruhe (Antwort: die Riesen) und wer auf wolkigen Höhen wohne
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W Siegfried X
(Antwort: die Götter), weiß Wotan mühelos zu beantworten. Nun ist die Reihe an Wotan, Mimes Wissen auf die Probe zu stellen. Die ersten beiden Fragen stellen keine übermäßigen Ansprüche. Mime weiß, dass es die Wälsungen sind, die dem Göttervater das Liebste sind, und er weiß, dass das Schwert Siegmunds den Namen Nothung trägt. Beide Fragen stehen sicherlich zugleich im Dienst von Wagners Anliegen, für den unkundigen Zuschauer das Handlungsgeschehen in der Walküre noch einmal zu rekapitulieren. Wie zu erwarten, ist es die dritte Rätselfrage, die Mime ins Straucheln bringt. Sie lautet: »Wer wird aus den starken Stücken Nothung, das Schwert, wohl schweißen?« Mime gerät in äußerste Unruhe, weil ihm dazu partout keine Antwort einfallen will. Da gibt ihm Wotan einen Tipp: »Nur wer das Fürchten nie erfuhr, schmiedet Nothung neu.« Die Übermittlung dieser Botschaft war offenbar Sinn und Zweck dieses Spiels. Auf Mimes Kopf verzichtet der Wanderer großmütig und überlässt die Vollstreckung des Todesurteils demjenigen, der das Fürchten nicht kennt und das Schwert schmieden wird. Während Wotan in den Wald entschwindet, ist Mime »wie vernichtet« auf den Schemel hinter dem Amboss zurückgesunken. Er stiert in den sonnenbeleuchteten Wald hinein, gerät in heftiges Zittern und beginnt angstvolle Wahnbilder zu halluzinieren.
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Mime Verfluchtes Licht! Was flammt dort die Luft? Was flackert und lackert, was flimmert und schwirrt, was schwebt dort und webt und wabert umher? […] Es brummt und braust und prasselt hierher! Dort bricht’s durch den Wald, will auf mich zu! Ein gräßlicher Rachen reißt sich mir auf: der Wurm will mich fangen! Fafner! Fafner! (Er sinkt schreiend hinter dem Amboß zusammen.) Mime sieht sich einem vermeintlichen Angriff des Riesenwurms Fafner ausgesetzt und durchleidet heftigste Vernichtungsängste. Just in diesem Moment bricht Siegfried aus dem Waldgesträuch hervor, wodurch kurzzeitig eine Situation entsteht, in der sich Angstwahn und Realität durchmischen. Ist es der Riesenwurm oder ist es Siegfried, von dem eine tödliche Gefahr ausgeht? In gewohnt aggressiver Weise geht der junge Recke gegen den noch im Schockzustand erstarrten Mime vor: »Heda, du Fauler! Bist du nun fertig? Schnell, wie steht es mit dem Schwert? […] Hehe, Mime, du Memme!« Während Mime wie in Trance den Spruch des Wanderers noch einmal rezitiert, dämmert ihm allmählich, dass es Siegfried ist, der das Fürchten nicht gelernt hat.
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W Siegfried X
Unverhofft kommt dem Nibelung ein kluger Einfall, wie Siegfrieds Fortgehen vielleicht noch verhindert werden könnte. Mime Deiner Mutter Rat redet aus mir; was ich gelobte, muß ich nun lösen: in die listige Welt dich nicht zu entlassen, eh’ du nicht das Fürchten gelernt. Siegfried kann mit dieser Mitteilung wenig anfangen: »Ist’s eine Kunst, was kenn ich sie nicht? Heraus, was ist’s mit dem Fürchten?« Mime befragt Siegfried nahezu suggestiv, ob ihn nicht im finsteren Wald schon einmal das »Grieseln und Grausen« angefallen habe? Doch Siegfried verneint: »Hart und fest, fühl ich, steht mir das Herz.« Immerhin zeigt er sich begierig, das Bangen zu erlernen. Im Orchester klingen zwei Motive an, die Brünnhildes Einschlafen am Schluss der Walküre begleitet haben: Der Feuerzauber (Nr. 12b) und das Entschlummern (Nr. 36). Man mag diese Reminiszenzen als eine prophetische Aussage verstehen, die vorwegnimmt, dass es bei Brünnhilde auf dem Walkürenfelsen sein wird, wo Siegfried erstmals in seinem Leben das Fürchten erfahren wird. Man kann sie aber auch auf Wotans letzte Worte beim Abschied von Brünnhilde beziehen, wo ebenfalls das Fürchten thematisiert wurde:
W 4. Ein Wanderer, von dem eine beängstigende Drohung ausgeht X
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»Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie!« In dieser magischen Formel, wie auch in der Auflösung des Wettspiels, wird beide Male ein Held gesucht, der frei von Ängsten ist, vor allem von denjenigen, die uns Mime gerade eben vorgeführt hat. Offensichtlich ist es die Vorstellung Wotans (vielleicht auch diejenige Wagners?), dass die Erlösung aus aller Not nur durch einen Helden erfolgen kann, der frei von Ängsten ist. Um welche Ängste geht es?
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5. Siegfried als Zauberschmied: Die magische Produktion eines »falschen Phallus«
Mime unterbreitet – nicht ohne Eigennutz – seinem Zögling den Vorschlag, die Fähigkeit des Fürchtens im Kampf mit dem Lindwurm Fafner zu erlernen. Er werde ihn selbst dorthin führen. Siegfried ist erstaunlicherweise einverstanden. Für den Kampf mit dem furchterregenden Drachen ist allerdings das unbesiegbare Schwert Nothung unerlässlich. Doch bislang hat es keiner zu schmieden vermocht. Siegfried ist verärgert über den »Stümper« Mime, der dies nicht fertig bringt. In einem Anfall jugendlichen Übermuts macht sich der junge Recke nun selbst ans Werk. Er, der sich nie zuvor mit Schmiedearbeiten befasst hat, glaubt das Wunder vollbringen zu können, die Splitter des zerschlagenen väterlichen Schwertes neu zusammenzufügen. Mime ist skeptisch und tadelt Siegfried wegen seiner bisher gezeigten mangelnden Lernbereitschaft.
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Mime Hättest du fleißig die Kunst gepflegt, jetzt käm’ dir’s wahrlich zugut’: doch lässig warst du stets in der Lehr’; was willst du Rechtes nun rüsten? Siegfried Was der Meister nicht kann, vermöcht’ es der Knabe, hätt’ er ihm immer gehorcht? (Er dreht ihm eine Nase.) Jetzt mach dich fort, misch dich nicht drein: sonst fällst du mir mit ins Feuer! Eine Lehrzeit erscheint dem Jüngling unnütz und entbehrlich, er ruft sich stattdessen gleich zum Meister aus. Ein kaum zu bändigender Größenwahn scheint Siegfried erfasst zu haben. Zugleich wird Ziehvater Mime entwertet (»Wie wärst du Memme mir Meister?«) und fortgeschickt (»Jetzt mach dich fort, misch dich nicht drein«). Aus sicherer Entfernung darf dieser zuschauen, was das selbsternannte Schmiede-Genie sich Wunderliches erschafft. Dass bei Siegfrieds Künsten mehr Hokuspokus als Sachverstand im Spiel ist, wird schon aus der angewandten Vorgehensweise erkennbar. Er spannt die Schwertstücke in einen Schraubstock und
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beginnt sie zu Spänen zu zerfeilen. Mime ist entsetzt und brummt vor sich hin: Mime Hier hilft kein Kluger, das seh’ ich klar: hier hilft dem Dummen die Dummheit allein! Wie er sich rührt und mächtig regt! Ihm schwindet der Stahl, doch wird ihm nicht schwül! Nun ward ich so alt wie Höhl’ und Wald und hab nicht so was geseh’n! Also, was Siegfried hier praktiziert ist entweder bodenlos dumm oder Zauberei. Offensichtlich Letzteres, denn Siegfried erfindet ein Schmiedelied, das wie eine magische Formel anmutet. Der Refrain lautet jeweils: »Hoho! Hoho! Hohei! Hohei! Hoho! Blase, Balg! Blase die Glut!« Seine magische Prozedur beinhaltet die folgenden Arbeitsgänge: Zunächst zerfeilt er die Schwertstücke in kleinste Späne, die er in einen erhitzten Schmelztiegel schüttet, um sie dort zu einer Masse zusammenzuschmelzen. Siegfried Nothung! Nothung! Neidliches Schwert! Was mußtest du zerspringen?
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Zu Spreu nun schuf ich die scharfe Pracht, im Tiegel brat ich die Späne. Hoho! Hoho! Hohei! Hohei! Hoho! Während Siegfried in sein magisches Tun vertieft ist, sinnt Mime darüber nach, wie er seinem drohenden Schicksal entgehen und seinen Kopf retten kann. Er sieht voraus, dass Siegfried trotz seines handwerklichen Unverstandes das Schwert Nothung wird schmieden können und vermutlich als Sieger aus dem Kampf gegen den Drachen hervorgehen wird. Mime hat also allen Grund, um sein Leben zu fürchten. Der bis dahin überwiegend ängstliche und verzweifelte Zwerg entwickelt sich in dieser Szene Stück für Stück zu einem Giftzwerg, der einen perfiden Mordplan gegen Siegfried entwirft. Wie er verlauten lässt, will er den Ziehsohn zuerst mittels eines Gifttranks in den Schlaf versetzen und ihm dann mit dem Schwert den Kopf abschlagen. Mime (im Vordergrunde für sich) Rang er sich müd’ mit dem Wurm, von der Müh’ erlab’ ihn ein Trunk: aus würz’gen Säften, die ich gesammelt, brau ich den Trank für ihn; wenig Tropfen nur braucht er zu trinken,
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sinnlos versinkt er in Schlaf. Mit der eignen Waffe, die er sich gewonnen, räum ich ihn leicht aus dem Weg, erlange mir Ring und Hort. (Er reibt sich vergnügt die Hände.) Von diesen finsteren Ränken bekommt Siegfried in seiner Geschäftigkeit nichts mit. Er hat den glühenden Inhalt des Tiegels mittlerweile in eine Stangenform gegossen, die er laut zischend in einen Wassereimer taucht. Er hält den Guss erneut in die angefachte Herdglut. Dann legt er den glühenden Stahl auf den Amboss und beginnt, diesen mit dem Hammer zu bearbeiten. Dazu lässt er ein weiteres Schmiedelied ertönen, das den Hammerrhythmus sehr naturalistisch nachbildet: »Hoho! Hoho! Hohei! Schmiede, mein Hammer, ein hartes Schwert!« Das Orchester begleitet ihn dabei mit einem wahrhaft eisernen Rhythmus! Während Mime über seinen geglückten Gifttrank und seinen Mordplan ins Schwärmen gerät, jubelt Siegfried lauthals über seine zauberischen Schmiedekünste: Siegfried Dem sterbenden Vater zersprang der Stahl, der lebende Sohn schuf ihn neu:
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nun lacht ihm sein heller Schein, seine Schärfe schneidet ihm hart. Mime Mime, der kühne, Mime ist König, Fürst der Alben, Walter des Alls! Siegfried (das Schwert vor sich schwingend) Nothung! Nothung! Neidliches Schwert! Zum Leben weckt’ ich dich wieder. Tot lagst du in Trümmern dort, jetzt leuchtest du trotzig und hehr. Siegfried und Mime überbieten sich in Spitzentönen, das Orchester untermalt das euphorische Geschehen mit einem gewaltigen Tosen. Und dann ist es soweit: Siegfried hält das fertig geschmiedete Zauberschwert Nothung stolz in seinen Händen. Dessen übernatürliche Schärfe und Stärke wird sogleich demonstriert. Mit einem wuchtigen Hieb zerspaltet das Schmiedegenie Mimes Amboss in zwei Stücke, die unter großem Gepolter auseinander fallen. Mime, der sich in höchster Verzückung auf einen Schemel geschwungen hatte, fällt vor Schreck rittlings zu Boden. Siegfried hält jauchzend das Schwert in die Höhe. Der Vorhang fällt. Ende des 1. Aktes.
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Ein wahrhaft dramatischer 1. Akt. Alles Denken, Grübeln und alle Sehnsucht galt nur einem einzigen Gegenstand: Dem zauberischen Schwert Nothung. Dieses Schwert taucht hier nicht zum ersten Mal auf, sondern besitzt bereits eine Geschichte. In der Walküre war es ein Geschenk des Vaters Wotan an den Sohn Siegmund. In der sogenannten phallischen Phase erwacht beim Kind – beiderlei Geschlechts – ein nachhaltiges Interesse am männlichen Genitale und die Frage nach dessen Größe und Potenz spielt eine gewichtige Rolle. Dem Kind wird bewusst, dass es letztendlich nur einen allmächtigen Phallus gibt, und das ist jener des Vaters. Es bewundert ihn und wünscht sich in seinen Träumen, solch einen zauberischen Phallus vom Vater geschenkt zu bekommen. In entwicklungspsychologischer Hinsicht bildet diese positive Besetzung des phallischen Bildes die erste Stufe des ödipalen Geschehens, der sogenannte negative Ödipus, bei dem der kleine Sohn sich dem Vater liebevoll annähert und sich mit seiner Stärke zu identifizieren beginnt. Diese Annäherung an den Vater ist deshalb so wichtig, weil sie im Dienst der Realitätswahrnehmung steht und schließlich den Sohn zu der Überzeugung bringen wird, dass das Genitale des Vaters das einzig potente ist, während sein eigenes noch klein und zudem noch nicht zeugungsfähig ist. Diese Idealisierung des väterlichen Genitales hilft ihm dabei, die eigene Kleinheit zu akzeptieren, und indem er dem auf den Vater übertragenen Ideal
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nacheifert, kann er sich sagen, dass er zwar im Moment noch klein ist, in späterer Zukunft jedoch ebenfalls so groß und großartig wie der Vater werden wird. So jedenfalls verläuft die normale Entwicklung. Doch, wie bereits in der Walküre bei Siegmund, so findet auch hier bei Siegfried diese so wichtige Vateridealisierung und Vateridentifizierung nicht statt. Sie scheitert in beiden Fällen »am ›schlechten‹ Charakter seiner Objekte« (Chasseguet-Smirgel 1988, S. 183). So wie Wotan damals enttäuschend war, ja sogar den Tod des Sohnes herbeigeführt hat, so konstelliert sich Gleiches zwischen Mime und Siegfried. Mime ist kein Vater, der zur Idealisierung taugt. So jedenfalls sieht es Siegfried. Er entwertet ihn ununterbrochen und schilt ihn eine Memme, einen Stümper und Versager. Von Siegmund, dem Helden der Walküre, wissen wir, dass er zunächst die Überlegenheit des väterlichen Phallus anerkannt hat. Ihm war klar, dass nur das väterliche Schwert eine unbesiegbare Kraft besitzt. Doch die positive Identifizierung zerbrach, als Wotan sich als ein trügerischer Vater erwies, indem er dem Schwert die Zauberkraft nahm und den Sohn im Stich ließ. Es hat also familiengeschichtlich in der Vergangenheit eine traumatische Vater-Enttäuschung gegeben, die offenbar bis zu Siegfried durchgeschlagen ist, der – so hat es den Anschein – auf keinen Fall den Fehler Siegmunds wiederholen will. Anstatt den Vater und
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dessen Phallus zum Ideal zu erheben, beschreitet dieser junge Held von vornherein einen anderen Weg: Er lenkt die Bewunderung auf das eigene Selbst und erhebt seinen eigenen Phallus zum Ideal. Sein Omnipotenzdenken verführt ihn dazu, die naturgegebene Unterlegenheit und Kleinheit der eigenen genitalen Ausstattung zu leugnen und den selbstfabrizierten Phallus als ein Super-Phallus auszugeben, der demjenigen des Vaters nicht nur gleichwertig, sondern sogar weit überlegen ist. Wir erinnern uns: Alle vom Ziehvater Mime geschmiedeten Schwerter (Phalli) sind vom jungen Siegfried als »müßiger Tand« und »schwacher Stift« abqualifiziert und mit den Worten »Da hast du die Stücken, schändlicher Stümper« zerschlagen worden. Die Vorteile solch einer, den Vater entwertenden, Haltung liegen auf der Hand. Es gibt zum einen keinen Grund mehr, vor dem väterlichen Phallus Ängste zu entwickeln (die Kastrationsängste fallen weg) und zum anderen braucht man nicht zu warten bis man erwachsen ist, um für eine Frau ein potenter sexueller Partner zu sein (die Kleinheitsängste sind gegenstandslos geworden). So befreiend diese Sicht für den Moment erscheinen mag, sie stellt in Wahrheit einen Rückfall in frühkindliches Allmachtsdenken dar. Der dornige Weg in die ödipale Auseinandersetzung wird vermieden, stattdessen verfestigt sich eine Haltung, die man als »Anti-Ödipus« (Chasseguet-Smirgel) bezeichnen kann: Die
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Überlegenheit und das Vorrecht des väterlichen Genitales, und damit des väterlichen Gesetzes (Inzestverbot, Generationenunterschied und Vatermordverbot), wird geleugnet und stattdessen dem Größenwahn gefrönt, den Vater nicht zu benötigen, da man bereits selbst mit allen Attributen eines potenten Mannes ausgestattet ist. Dem erfolgreichen Freien um die Mutter steht dann vermeintlich nichts mehr im Wege. Dass es sich bei dieser anti-ödipalen Haltung um eine Regression mit allen dazugehörigen Konsequenzen handelt, darüber wird uns das folgende Handlungsgeschehen aufklären. Darüber hinaus gibt es noch ein weiteres untrügliches Anzeichen für den Rückfall von der ödipalen auf die davor liegende Stufe heftiger analer Triebregungen. Nach langer Abwesenheit (die Walküre ist ohne ihn ausgekommen!) kehrt der Herrscher über das finstere Reich der Analität und des Sadismus, der Schwarzalbe Alberich, wieder auf die Bühne zurück.
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6. Ein düsteres Szenario kündigt sich an: Der teuflische Tritonus
Als Vorspiel zum 2. Akt wählt Wagner ein extrem düsteres Klangbild. Zu einem säuselnden Tremolo der Bratschen und Celli sind die Pauken mit leisen Schlägen im Tritonus-Abstand zu vernehmen. Nachdem sich träge und schleppend in der Basstuba das Riesenwurm-Motiv (Nr. 18) andeutet, stoßen gestopfte Trompeten in ebenfalls tritonalen Sprüngen in diese unheimliche Stille, bevor auch die Basstuba ihr Umherschweifen in Tritonus-Intervalle einmünden lässt. Das Klanggeschehen ist wahrhaft teuflisch, nicht weil es laut und tosend wäre, sondern ganz im Gegenteil, weil es so leise, schleichend und unheimlich ist. Das Fluch-Motiv (Nr. 19) taucht auf, zehn Mal hintereinander das schnarrende Hass-Motiv (Nr. 20), in dem ebenfalls der Tritonus enthalten ist, dann das Ring-Motiv (Nr. 7) und wieder das Fluch-Motiv. Die beiden Teile des RingMotivs, der nach unten stoßende wie der nach oben drückende Vektor, scheinen insgesamt dieses Vorspiel zu prägen. Nibelheim, jene Welt der Analität und des Sadismus ist wieder präsent. Warum
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an dieser Stelle? Wir werden es gleich erfahren. Kurz vor Schluss, nahezu unbemerkt, schleicht sich noch der Rheingold-Ruf der Rheintöchter (Nr. 6) ins Geschehen, bevor er sogleich wieder vom ersten Teil des Ring-Motivs verdrängt wird. Was mag der Rheingold-Ruf hier bedeuten? Die Bühne öffnet sich: Tiefer Wald, im Hintergrund die Öffnung einer Höhle. Alberich ist zu sehen. Er hält Wacht vor jener Höhle, in der all die Begehrlichkeiten, Ring, Tarnhelm und der Goldschatz, lagern, die ihm von Wotan gewaltsam geraubt wurden und sich nun im Besitz des Riesenwurms Fafner befinden. Auch der Name der Höhle, Neidhöhle, weist auf jene archaischen Affekte hin, die bereits im Vorspiel angedeutet wurden: Neid, Gier, Hass und Rache. Alberich (an der Felswand gelagert, düster brütend) In Wald und Nacht vor Neidhöhl’ halt ich Wacht: es lauscht mein Ohr, mühvoll lugt mein Aug’. Banger Tag, bebest du schon auf? Dämmerst du dort durch das Dunkel her? (Aus dem Walde von rechts her erhebt sich Sturmwind; ein bläulicher Glanz leuchtet von ebendaher.) Welcher Glanz zittert dort auf?
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Näher schimmert ein heller Schein; es rennt wie ein leuchtendes Roß, bricht durch den Wald brausend daher. Naht schon des Wurmes Würger? Ist’s schon, der Fafner fällt? Hier täuscht sich Alberich. Es ist noch nicht der Recke Siegfried, der heranbraust, sondern der Wanderer Wotan, der sich der Neidhöhle nähert. Der Schwarzalbe bricht sogleich in offene Wut gegen sein Alter Ego aus und tituliert Wotan – nicht ganz zu Unrecht – als einen »schamlosen Dieb«. Er unterstellt ihm, dass er hierhergekommen sei, um erneut den Ring an sich zu reißen: »Jagst du auf neue Neidtat umher?« Alberich weiß, dass Wotan den Ring den Riesen nicht wieder abnehmen darf, da er ihn als Entgelt für ihre Bautätigkeit gezahlt hat, was durch eine Kerbe in Wotans Speerschaft verbürgt ist. Entsprechend vermutet er, dass Wotan auf Siegfried setzt, der ihm den Ring zurückerobern soll. Alberich Wie dunkel sprichst du, was ich deutlich doch weiß! An Heldensöhne hält sich dein Trotz, (höhnisch) die traut deinem Blute entblüht. Pflegtest du wohl eines Knaben,
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der klug die Frucht dir pflückte, (immer heftiger) die du nicht brechen darfst? Zur ersten Zeile ertönt im Orchester das Schwert-Motiv (Nr. 24), und zwar ohne dass in Alberichs Worten vom Schwert die Rede ist. Mit anderen Worten: Nicht nur Alberich vermag Wotans Gedanken, sondern Wagner auch diejenigen Alberichs zu lesen, ohne dass dieser sie aussprechen muss. Alberich ist über Siegfrieds Zauberschwert also bereits bestens informiert. Doch Wotan zeigt sich, zum Erstaunen Alberichs, ausgesprochen desinteressiert an Ring und Hort. Er gibt vor, dass es ihm gleichgültig sei, wer ihn für sich gewinnt: »[W]er ihn rafft, hat ihn gewonnen.« Er ist sogar bereit, den Lindwurm zu wecken, damit Alberich mit ihm bezüglich des Rings in Verhandlungen treten kann. Woher kommt plötzlich dieser Großmut Wotans? Wie zwei gute Kumpel rufen Wotan und Alberich abwechselnd in die Höhle hinein, dass ein starker Held naht, um den Schatz zu erobern. Der Drache Fafner reagiert unbeeindruckt: »Mich hungert sein. […] Ich lieg und besitz – laßt mich (gähnend) schlafen.« Diese Aussage erklingt ebenfalls im Tritonus-Intervall, die den aggressiven Hintergrund dieser so harmlos wirkenden Worte andeutet. Alberich macht noch einmal einen Versuch und unterbreitet den Vorschlag, dass Fafner ihm den Ring geben solle, dann würde er
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dafür sorgen, dass er am Leben bleibt. Doch Fafner ist für dieses Angebot nicht zu begeistern und gibt sich gelangweilt wieder dem Schlafe hin. Wotan lacht schadenfroh über diesen missglückten Kuhhandel und entfernt sich zur Musik des Walkürenritt-Motivs (Nr. 32) durch die Lüfte. Was sich im Rheingold bereits andeutete, erhält hier eine erneute Bestätigung: Der Lichtalbe Wotan und der Nachtalbe Alberich gehören zusammen wie die helle und die dunkle oder die bewusste und die unbewusste Seite einer Persönlichkeit. Alberich sind Wotans Gedanken so vertraut, wie dem Unbewussten die Planungen des bewussten Ichs bekannt sind. Mit Alberich treten also erneut die analen Aggressions- und Herrschaftsgelüste an Wotans Bewusstsein heran, denen gegenüber Wotan sich locker gibt, denn er dünkt sich durch seinen Verzicht auf den Ring vor ihnen gefeit. Siegessicher schwingt er sich durch die Lüfte davon. Einen ähnlichen Gleichmut werden wir auch beim Helden Siegfried gegenüber Ring und Tarnhelm erleben. Doch damit ist keineswegs gesagt, dass diese beiden Ichs tatsächlich vor den Triebregungen des Verdrängt-Unbewussten geschützt sind. Hier wird offensichtlich Zuflucht zu einem Wunschdenken genommen.
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7. Siegfrieds Ausflug in eine schöne heile Welt
Mit der 2. Szene des 2. Aktes beginnt sich die Finsternis zu lichten. Ein neuer Tag zieht herauf. Mime und Siegfried treten in die Mitte der Bühne. Mime Wir sind zur Stelle! Bleib hier steh’n! Siegfried (setzt sich unter einer großen Linde nieder und schaut sich um) Hier soll ich das Fürchten lernen? Mime bemüht sich geschäftig, seinen Ziehsohn auf die zu erwartenden gewalttätigen Attacken des Riesenwurms vorzubereiten in der Hoffnung, dass dieser doch noch das Fürchten erlernt.
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Mime Siehst du dort den dunklen Höllenschlund? Darin wohnt ein gräulich wilder Wurm: unmaßen grimmig ist er und groß; ein schrecklicher Rachen reißt sich ihm auf; mit Haut und Haar auf einen Happ verschlingt der Schlimme dich wohl. Siegfried (immer unter der Linde sitzend) Gut ist’s, den Schlund ihm zu schließen; drum biet ich mich nicht dem Gebiß. Alle Versuche Mimes, Siegfried Angst einzuflößen, gehen fehl. Der junge Held will nur noch wissen, wo sich beim Lindwurm das Herz befindet. Dort will er zustoßen. Ansonsten beginnt sich die in den bisherigen Dialogen gezeigte Vertraulichkeit zwischen Mime und Siegfried wieder abzukühlen. Siegfried wird erneut ausfällig. Man hört ihn poltern: »Wann werd’ ich den Albernen los? […] kehre dich weg, so weit du kannst, und komm nie mehr zu mir!« Mit wütender Gebärde treibt er Mime von sich fort. Doch auch Mime hegt im Innern nicht unbedingt liebevolle Gedanken: »Siegfried und Fafner – oh, brächten beide sich um!« brummt er im Weggehen.
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Als Zuschauer geht man davon aus, dass nun der Kampf mit dem Drachen beginnt. Doch zum Erstaunen aller macht es sich der junge Held erst einmal unter der Linde bequem. In seinem Monolog wandern seine Gedanken zurück zu seinen Eltern, die er nie kennen gelernt hat. Siegfried (streckt sich behaglich unter der Linde aus und blickt dem davongehenden Mime nach) Daß der mein Vater nicht ist, wie fühl’ ich mich drob so froh! Nun erst gefällt mir der frische Wald; nun erst lacht mir der lustige Tag, da der Garstige von mir schied und ich gar nicht ihn wieder seh’! (Er verfällt in schweigendes Sinnen.) Wie sah mein Vater wohl aus? Ha, gewiss wie ich selbst! Denn wär’ wo von Mime ein Sohn, müsst’ er nicht ganz Mime gleichen? Grade so garstig, griesig und grau, klein und krumm, höckrig und hinkend, mit hängenden Ohren, triefigen Augen – fort mit dem Alb! Ich mag ihn nicht mehr seh’n.
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Zum Vater fällt ihm nur ein Satz ein, dass er wahrscheinlich wie er, der Sohn, ausgesehen hat. Wie ganz anders fließt sein Gedankenstrom, wenn es um die Mutter geht. Siegfried (Er lehnt sich tiefer zurück und blickt durch den Baumwipfel auf. Tiefe Stille. Waldweben.) Aber – wie sah meine Mutter wohl aus? Das kann ich nun gar nicht mir denken! (sehr zart) Der Rehhindin gleich glänzten gewiss ihr hellschimmernde Augen, nur noch viel schöner! (sehr leise) Da bang sie mich geboren, warum aber starb sie da? Sterben die Menschenmütter an ihren Söhnen alle dahin? Traurig wäre das, traun! Ach möcht’ ich Sohn meine Mutter sehen! Meine Mutter – ein Menschenweib! (Er seufzt leise und streckt sich tiefer zurück. Große Stille.) Wagner gönnt dem Publikum eine idyllische Naturszene mit Waldweben und Vogelgesang. Von den Waldvögeln nimmt Siegfried an, dass sie ihm etwas von der »lieben Mutter« erzählen.
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Zu gern möchte er ihre Sprache verstehen. Er schnitzt sich eigens eine Rohrflöte, um das Zwitschern der Vögel nachzuahmen. Doch diese Bastelarbeit will ihm nicht recht gelingen. Aber allein die wiederholten erfolglosen Versuche lassen dem Orchester und den Zuschauern viel Zeit und Gelegenheit, in Naturschilderungen zu schwelgen und zu vergessen, weswegen Jung-Siegfried an diesem Ort ist. Schließlich greift er zu seinem Horn und lässt den munteren Hornruf (Nr. 38) erklingen. Zur weiteren Ausgestaltung der Naturidylle antwortet die Klarinette mit weichen Klängen, die dem Freia-Motiv (Nr. 11) entlehnt sind. Der Einschub dieser paradiesischen Szene so kurz vor dem dramatischen Kampf mit dem Drachen muss verwundern. In dieser friedvollen Welt begegnet uns ein ganz anderer Siegfried, ein naturverbundener, sensibler und zartfühlender junger Mann. Es ist eine Welt, in der eine schöne Mutter und ein freundlicher Vater existieren und zwischen ihnen Siegfried, der liebe Sohn. Was Siegfried hier in seiner Fantasie ausmalt, ist eine asexuelle narzisstische Triade, die frei ist von allen ödipalen Bedrohlichkeiten. Dieses Imaginieren einer heilen Familienwelt deutet daraufhin, wie sehr dieses Kind vor dem Ödipuskomplex zurückschreckt und sich gedanklich in Welten flüchtet, in denen es keine derartigen Konflikte mit den Eltern und vor allem keine Kastrationsängste gibt. Siegfried zieht sich zurück in eine ideale Welt, die das Böse und Dunkle nicht
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kennt. Es ist eine paradiesische Welt, die in völligem Gegensatz zu jener Realität steht, die – wie sich schon im nächsten Moment zeigen wird – von primitivsten Affekten des Hasses, der Wut und scheußlichster Gewalttätigkeiten angefüllt ist. .
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8. Im Märchenland: Siegfried der Drachentöter
Im Orchester meldet sich in allertiefster Lage das RiesenwurmMotiv (Nr. 18). Und dann ist es soweit: Fafner zeigt sich schnaubend am Höhleneingang. Wie Boxer vor dem Kampf beginnen beide Kontrahenten, sich durch wechselseitige Beleidigungen einzuschüchtern. Fafner: »Trinken wollt’ ich: nun treff’ ich auch Fraß.« Siegfried kontert nicht weniger rüde: »Eine zierliche Fresse zeigst du mir da, lachende Zähne im Leckermaul! Gut wär’ es, den Schlund dir zu schließen; dein Rachen reckt sich zu weit.« Dieser junge Recke ist (scheinbar) weit davon entfernt, Angst vor dem Riesentier zu empfinden. Als Fafner ihn schließlich einen Prahler nennt, kocht die Wut in Siegfried hoch. Er greift zum Schwert und geht auf den Drachen los. Nach Wagners Anweisung soll der Kampf des Kleinen gegen den Großen folgendermaßen vonstattengehen: »Fafner wälzt sich weiter auf die Höhe herauf und sprüht aus den Nüstern auf Siegfried. Siegfried weicht dem Geifer aus, springt näher
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zu und stellt sich zur Seite. Fafner sucht ihn mit dem Schweife zu erreichen. Siegfried, welchen Fafner fast erreicht hat, springt mit einem Satze über diesen hinweg und verwundet ihn in dem Schweife. Fafner brüllt, zieht den Schweif heftig zurück und bäumt den Vorderleib, um mit dessen voller Wucht sich auf Siegfried zu werfen; so bietet er diesem die Brust dar: Siegfried erspäht schnell die Stelle des Herzens und stößt sein Schwert bis an das Heft hinein. Fafner bäumt sich vor Schmerz noch höher und sinkt, als Siegfried das Schwert losgelassen und zur Seite gesprungen ist, auf die Wunde zusammen.«
Das Märchenhafte ist wahrhaftig eingetreten. Der Däumling hat über den bösen Riesenwurm den Sieg davongetragen. Voller Stolz verkündet der junge Held: Siegfried Da lieg, neidischer Kerl: Nothung trägst du im Herzen! Damit ist jene Tat vollbracht, die Siegfried in ganz Germanien berühmt machen wird. Der kleine Siegfried hat, nur mit einem Schwert bewaffnet, den riesigen Drachen getötet. Diese Tat gilt als ein Zeichen für Mut, Furchtlosigkeit und übermenschliche Stärke. Aus dem jungen Siegfried ist damit ein männlicher Held geworden. So sieht es auf jeden Fall der Dichterkomponist, denn
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das jugendliche Horn-Motiv wird von jetzt an durch ein neues, gewichtiges und kraftvolles »Helden-Motiv« abgelöst, das den erwachsenen Siegfried kennzeichnen soll. Es ist aus dem HornrufMotiv (Nr. 38) entwickelt.
Nr. Helden-Motiv Nr. 41 41 Helden-Motiv
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Doch Fafner stirbt nicht sofort, sondern – auch das grenzt ans Märchenhafte – hält stattdessen noch eine längere Rede, in welcher er Siegfried darüber in Kenntnis setzt, unter welchen Umständen er damals in den Besitz des Goldschatzes gelangt ist. Nahezu liebevoll nennt er Siegfried einen »rosigen Helden«. Der Sinn seiner Rede ist dunkel. Doch Anklänge an das Todesverkündigungs-Motiv Brünnhildes (Nr. 31) aus der Walküre lassen Fafner, so kurz vor seinem Dahinscheiden, als Propheten in Erscheinung treten. Siegfried hätte den auskunftsfreudigen Lindwurm gern noch weitere Dinge über seine eigene Herkunft gefragt: »Viel weiß ich noch nicht, noch nicht auch, wer ich bin.« Doch das ist nicht mehr
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möglich, da Fafner dann doch sein träges Leben ausschnaubt. Den Tod Fafners kommentiert Siegfried lakonisch: »Zur Kunde taugt kein Toter.« Fafner hat sich im Sterben zur Seite gewälzt. Siegfried zieht ihm das Schwert aus der Brust. Dabei wird seine Hand vom Blut benetzt. Er fährt heftig mit der Hand auf: »Wie Feuer brennt das Blut!« Er führt unwillkürlich die Finger zum Mund, um das Blut von ihnen abzulecken. Dabei tritt eine Verwandlung mit ihm ein. Siegfried vermag auf einmal die Sprache der Vögel zu verstehen: »Ist mir doch fast, als sprächen die Vöglein zu mir!« Ein Waldvogel hat ihm Wichtiges mitzuteilen: Stimme eines Waldvogels (aus den Zweigen der Linde über Siegfried) Hei! Siegfried gehört nun der Nibelungen Hort! O fänd’ in der Höhle den Hort er jetzt! Wollt’ er den Tarnhelm gewinnen, der taugt ihm zu wonniger Tat: doch wollt’ er den Ring sich erraten, der macht ihn zum Walter der Welt! (Siegfried hat mit verhaltenem Atem und verzückter Miene gelauscht.)
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Neugierig geworden, wendet sich Siegfried dem Eingang der Höhle zu und verschwindet in deren Tiefe. Während Siegfried das Innere der Höhle inspiziert, kehren die beiden finsteren Brüder Alberich und Mime auf die Bühne zurück. In wüsten Schimpfkanonaden gehen sie aufeinander los und prangern die Diebesabsichten des jeweils anderen an. Mime macht einen Vorschlag zur Güte und plädiert für eine Beuteteilung. Doch Alberich wittert eine List und lehnt dieses Ansinnen entschieden ab. Als sie Siegfried nahen sehen, mit Tarnhelm am Gürtel und Ring am Finger, wissen die beiden Nibelungen ihren Neid kaum zu zügeln. Wütend und laut schimpfend verziehen sie sich in den Wald. Siegfried schaut etwas ratlos auf seine Beutestücke. Er weiß nicht so recht, was er mit ihnen anfangen soll. Siegfried Was ihr mir nützt, weiß ich nicht; doch nahm ich euch aus des Hortes gehäuftem Gold, weil guter Rat es mir riet. So taug’ eure Zier als des Tages Zeuge, es mahne der Tand, daß ich kämpfend Fafner erlegt, doch das Fürchten noch nicht gelernt! (Er steckt den Tarnhelm an den Gürtel und den Reif an den Finger. Stillschweigen. Wachsendes Waldweben.
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Siegfried achtet wieder des Vogels und lauscht ihm mit verhaltenem Atem.) Scheinbar ist Siegfried an Tarnhelm und Ring nicht interessiert. Er nimmt diese Gegenstände wie ein Souvenir, wie ein Andenken an den Drachenkampf an sich. Die Verantwortung für die Inbesitznahme dieser Trophäen schiebt er dem Vöglein zu (»weil guter Rat es mir riet«). Doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Auch hier verdient der Einschub mit Mime und Alberich Beachtung. Was sukzessive erzählt wird, ist in Wahrheit als ein simultanes Geschehen zu verstehen. Das hasserfüllte Streiten der Nibelungenzwerge beschreibt in Wahrheit die innere Realität des in der Höhle verschwundenen Drachentöters. Nicht das Vöglein ist die treibende Kraft, sondern jene (verdrängten) aggressiven Triebregungen im Innern Siegfrieds, die projektiv in den beiden finsteren Gestalten des unterirdischen Nibelheim zur Darstellung gelangen. Wir kennen diese Affekte, die bei Alberichs Urfrevel (dem Raub des Rheingolds) das erste Mal aufgetreten sind und sich später bei jedem weiteren Raub des Goldes oder des Ringes wiederholt haben. Wir hatten sie als Aggression gegen den Mutterleib und als Eviszerationsschuld (Ausraubungsschuld) gedeutet. In die Riege dieser schuldigen Aggressoren hat sich de facto nun auch Siegfried eingereiht. Er ist in die Mutterhöhle eingedrungen und
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hat die dort befindlichen Preziösen, Ring und Tarnhelm, an sich genommen. Wir sind damit zu Zeugen des nunmehr 4. Raubes des Rheingolds geworden. Es hilft dem Helden wenig, wenn er seine aggressiven Ausraubungsaffekte durch Verleugnung bzw. Projektion von seinem Bewusstsein fernhält und sich gleichgültig gibt. Dem aufmerksamen psychologischen Blick entgeht nicht, welche mörderische unbewusste Realität sich im Innern des Drachentöters in dieser Szene offenbart. Der schlangenartige Höhlenwurm ist unschwer jenen »Eingeweiden der Erde« (Wagner) zuzuordnen, die wir im Rheingold als die Inhalte des Mutterleibes kennengelernt hatten. Doch hier repräsentiert er etwas Spezifisches. Gemäß dem frühkindlichen Phantasma gibt es im Mutterleib drei Dinge: Goldschätzchen (Babies), wertvolle Nahrung und den Penis des Vaters (vgl. M. Klein 1928). Die beiden zuerst erwähnten Dinge scheinen Siegfried wenig zu interessieren. Er hat es vielmehr auf das väterliche Attribut abgesehen. Dass es Siegfried vordringlich um die Kastration des väterlichen Genitales geht, hat bereits die Bühnenanweisung zum Drachenkampf offenbart. Siegfried setzt merkwürdigerweise als erstes den Schwanz des Drachens außer Gefecht, bevor er zum Todesstoß ins Herz ausholt. Dieser Schwanz scheint der Feind Nr. 1 zu sein. Aber letztlich symbolisiert nicht nur dieses Teilattribut, sondern der
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ganze Riesenwurm den väterlichen Phallus. Bei Freud ist zu lesen: »Der Penis, besonders des kleinen Kindes, kann ohne weiteres als Wurm beschrieben werden« (Freud 1909, S. 433). Folgen wir dieser Symbolisierungslinie, so handelt es sich beim Riesenwurm um den »riesigen« Penis, also den Penis des Vaters. Warum muss dieser riesige Penis bekämpft und kastriert werden? An der Schwelle zum Ödipuskomplex gibt es analog zu jener Eviszeration des Mutterleibes in der früheren Phase ein ähnlich bizarres Phantasma, das nun auf das väterliche Genitale bezogen ist. Allgemein gesagt, geht es in der phallisch-ödipalen Phase um die Hereinnahme der väterlichen Attribute, die eine wichtige Unterstützung bei der Loslösung aus der Mutterdyade darstellen und letztlich zur Identitätsstärkung beitragen. Diese Introjektion des väterlichen Phallus erfährt im kindlich phantasmatischen Raum nun eine spezifisch bildliche Darstellung, und zwar diejenige eines rückwärtigen analen Eindringens des väterlichen Genitals. Ist die Beziehung des kleinen Jungen zum Vater gut, so besitzt dieses Traumbild nichts wirklich Erschreckendes, sondern kann unter Umständen sogar mit einer gewissen Faszination und sexuellen Erregung vermischt sein, beim Vater die Rolle der Mutter einnehmen zu können und ihm vielleicht ein Kind zu schenken. Doch ebenso lebhaft kann man sich vorstellen, welch ein Schrecken
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diese Vorstellung auslöst, wenn der Vater als feindselig erlebt wird. Dann kann dieses Phantasma zu einem Schock werden, zu einer tödlichen Bedrohung, vergleichbar dem Angriff eines geifernden Riesenwurms. Dass Siegfried angstfrei erscheint, ist allein dem Einsatz der primitiven Abwehrmechanismen der Verleugnung und der Projektion zuzuschreiben. In Wahrheit treibt ihn eine tief sitzende Angst vor einer penetrierenden Überwältigung durch den väterlichen Phallus in den Kampf gegen den Riesenwurm. Einen winzigen Rest an Vatersehnsucht mag man aus jenem wunderlichen Geschehen herauslesen, das sich an den tödlichen Streich anschließt. Der Riesenwurm ist nicht sofort tot, sondern wendet sich in zugewandter Haltung mit einer längeren Rede an den jungen Recken. Siegfried hört den Worten des sterbenden Fafner aufmerksam zu, für einen Moment wird er sogar zum gelehrigen Schüler, der seinem weisen Lehrer aufmerksam lauscht. Dass man von einem Vater wichtige und gute Dinge bekommen kann, blitzt noch ein weiteres Mal auf, als Siegfried von Fafners Blut trinkt. Diese Inkorporation des Väterlichen (auf dem weniger bedrohlichen oralen Wege) hat zur Folge, dass ihm eine neue Kompetenz zuwächst und er die Sprache der Vögel zu verstehen beginnt, was man so deuten kann, dass er einen Zugang zu einer inneren Stimme erlangt, die ihm für seinen weiteren Lebensweg eine Richtung weist.
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Am Vater kann der Sohn eine Stärkung seiner Identität erfahren, das spürt dieser Knabe sehr genau, weswegen er Fafner gern noch weiter befragt hätte: »Viel weiß ich noch nicht, noch nicht auch, wer ich bin.« Doch offensichtlich ist Siegfried solch eine gelehrige Unterordnung nur bei einer Vaterfigur möglich, die er selbst beherrscht, die er sogar selbst zuvor vernichtet hat, frei nach dem Motto: nur ein toter Vater ist ein guter Vater. Es ist eine Tragik, dass Siegfried kein gutes Vaterbild aufbauen konnte. Der ermutigende Moment einer Identifizierung mit dem Väterlichen bei der oralen Inkorporierung des Drachenblutes blitzt nur kurz auf, viel zu kurz und ist dann sogleich wieder verschwunden. Dann ist die Gefühlskälte gegen alles Väterliche wieder zurück. Kein Bedauern über Fafners Dahinscheiden, nur die sachliche Feststellung, dass dieser Tote ihm zu nichts mehr nützlich sein kann (»zur Kunde taugt kein Toter«). Auf eine perverse Art wird dieser tote Drache ihm dann doch noch nützlich sein können, wie wir im Anschluss an den nachfolgenden, noch gruseligeren zweiten Vatermord sehen werden.
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Es ist Stille eingetreten und ein weiches Waldweben im Orchester bereitet Siegfrieds erneute Zwiesprache mit dem Waldvogel vor. Siegfried erhofft sich, dass ihn das Vöglein darüber aufklärt, was das alles zu bedeuten hat und wie es weitergeht. Und in der Tat übernimmt der Vogel erneut die Rolle einer intuitiven inneren Stimme, die Siegfried vor den geheimen Absichten Mimes warnt. Mime schleicht heran und wendet sich in übertrieben schmeichlerischen Worten an seinen Ziehsohn. Doch dabei passiert das Ungewöhnliche, dass sich auch Mimes mörderische Absichten ungewollt in seine Äußerungen hineinmischen. Mime Siegfried! Hör doch mein Söhnchen! Dich und deine Art hasst’ ich immer von Herzen; (zärtlich) aus Liebe erzog ich dich Lästigen nicht: dem Horte in Fafners Hut, dem Golde galt meine Müh’.
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(Als spräche er ihm hübsche Sachen.) Gibst du mir das gutwillig nun nicht – (als wäre er bereit, sein Leben für ihn zu lassen) Siegfried, mein Sohn, das siehst du wohl selbst, dein Leben mußt du mir lassen! Siegfried Daß du mich hassest, hör ich gern: doch auch mein Leben muß ich dir lassen? Mime (ärgerlich) Das sagt’ ich doch nicht! Du verstehst mich ja falsch! (Er sucht sein Fläschchen hervor.) Sieh, du bist müde von harter Müh’; Brünstig wohl brennt dir der Leib: dich zu erquicken mit queckem Trank, säumt’ ich Sorgender nicht. Als dein Schwert du dir branntest, braut’ ich den Sud; trinkst du nun den, (beschleunigend) gewinn ich dein trautes Schwert und mit ihm Helm und Hort. (kichernd) Hihihihihihi!
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Diese seltsame Unterhaltung setzt sich weiter fort. Mime klärt Siegfried sogar darüber auf, dass es sich bei seinem Sud um einen Gifttrank handelt, der ihn verderben wird und Mime in den Besitz der Beute bringt. »Mit einer Gebärde ausgelassener Lustigkeit« spricht er dann seine Absicht aus, Siegfried den Kopf abzuschlagen: »dann hab ich mir Ruh’ und auch den Ring! (kichernd) Hihihihihihihi!« Siegfried Im Schlafe willst du mich morden? Mime (wütend ärgerlich) Was möcht‘ ich? Sagt’ ich denn das? (Er bemüht sich, den zärtlichsten Ton anzunehmen.) Ich will dem Kind (mit sorglichster Deutlichkeit) nur den Kopf abhau’n! Schließlich gießt Mime den Saft in das Trinkhorn und drängt Siegfried, es zu leeren. Doch dieses Ansinnen lässt die Wut im Drachentöter schlagartig nach oben schießen. Siegfried verliert die Kontrolle über sich und holt zum tödlichen Schlag aus:
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Siegfried Schmeck du mein Schwert, ekliger Schwätzer! (Er führt wie in einer Anwandlung heftigen Ekels einen jähen Streich nach Mime; dieser stürzt sogleich tot zu Boden.) Alberichs Stimme (hohnlachend aus dem Geklüft) Haha! Haha! Haha! Haha! Hahaha! (Siegfried hängt, auf den am Boden Liegenden blickend, ruhig sein Schwert wieder ein.) Siegfried Neides Zoll zahlt Nothung: dazu durft’ ich ihn schmieden. (Siegfried rafft Mimes Leichnam auf, trägt ihn auf die Anhöhe vor den Eingang der Höhle und wirft ihn dort hinein.) In der Höhle hier lieg auf dem Hort! Mit zäher List erzieltest du ihn: jetzt magst du des wonnigen walten! Einen guten Wächter geb’ ich dir auch, daß er vor Dieben dich deckt. (Er wälzt mit großer Anstrengung den Leichnam des Wurmes vor den Eingang der Höhle,
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so daß er diesen ganz damit verstopft.) Da lieg auch du, dunkler Wurm! Den gleißenden Hort hüte zugleich mit dem beuterührigen Feind: so fandet beide ihr nun Ruh’! (Er blickt eine Weile sinnend in die Höhle hinab und wendet sich dann langsam, wie ermüdet, in den Vordergrund. Er führt sich die Hand über die Stirn.) Heiß ward mir von der harten Last! Brausend jagt mein brünst’ges Blut; die Hand brennt mir am Haupt. Hoch steht schon die Sonne; aus lichtem Blau blickt’ ihr Aug’ auf den Scheitel steil mir herab. Linde Kühlung erkies ich unter der Linde! (Er streckt sich unter der Linde aus und blickt wieder durch die Zweige hinauf.) Bevor wir uns entspannt Siegfrieds neuerlicher Zwiesprache mit dem lieben Vöglein zuwenden können, wird es unerlässlich sein, der soeben erlebten Ungeheuerlichkeit eine eingehende Würdigung zuteilwerden zu lassen. Mit den Worten »Heiß ward mir von der harten Last!« räumt Siegfried das Schlachtfeld. Offenbar ist es auch Richard Wagner
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bei dieser Szene heiß geworden. Ihn befällt eine Arbeitshemmung. Er kann an diesem Werk nicht weiter arbeiten. Franz Liszt lässt er wissen, er habe mit herzlichen Tränen von seinem Manuskript Abschied genommen (Brief vom 28.6.1857). Einige Wochen später schreibt er an Marie von Sayn-Wittgenstein: »Ich war im Siegfried bis dahin gekommen, wo dieser den Mime fortgejagt hat und nun mit dem Ausruf: ›daß der mein Vater nicht ist, wie fühl ich mich drob so froh‹ sich dem Genusse der Einsamkeit überlässt. Bereits hatte ich im Manuskripte von meinem Helden Abschied genommen und jenes weggeschlossen; nach einiger Unterbrechung hatte ich mir eines Morgens schon das Papier zum Konzept für die Tristan-Dichtung zurechtgelegt, als mich plötzlich ein solch sehnsüchtiger Jammer um den Siegfried bewältigte, dass ich ihn wieder hervorholte und mindestens die Vollendung des zweiten Aktes beschloss. Diese ist nun ausgeführt; Fafner ist tot, Mime ist tot und Siegfried ist dem fortflatternden Waldvogel nachgelaufen; und dies, mein liebes Kind, ist alles recht gut vonstatten gegangen, so dass ich meinen Helden jetzt auf ganz gutem Wege weiß« (Wagner 2004, S. 36).
Der »Verschreiber«, dass ihn der Jammer über Siegfried »bewältigte« (statt »überwältigte«), deutet an, dass ihn hier etwas überwältigt hat, das er nicht zu bewältigen wusste. Er behalf sich damit, das Manuskript in der Versenkung verschwinden zu lassen, in der
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Hoffnung, damit der Überwältigung durch das Ungeheuerliche entkommen zu können. Zunächst scheut er also davor zurück, den doppelten Totschlag überhaupt niederzuschreiben. Doch dann ringt er sich doch dazu durch, um alsbald die verübten Taten radikal – d. h. für zwölf Jahre – aus seinem Blickfeld zu entfernen. Dieser doppelte Vatermord hat offenbar auch im Schöpfer dieser Figur soviel an heftigsten Affekten, solchen der Angst und solchen der Schuld, aufgewirbelt, dass nur ein radikales Vergessen und Wegschließen Erleichterung versprechen konnte. Gehen wir noch einmal zurück zum Beginn der geschilderten Szene. Mimes mörderische Gedanken, die er eigentlich unterdrückt halten möchte, geraten außer Kontrolle, sein Ich vermag sie nicht mehr zu bändigen. Dieses pathologische »Gedankenlautwerden« ist ein Anzeichen für eine massive Ich-Funktionsstörung. Man kann sagen, dass Mime in diesem Moment in einen psychotischen Verwirrtheitszustand hineingerät. In seiner wirren Rede offenbaren sich dann seine (nach oben verschobenen) mörderischen Kastrationsabsichten gegen den Ziehsohn, er will ihm »den Kopf abhau’n«. Diese Bedrohung ist dann der Auslöser dafür, dass Siegfried seinerseits seine antiväterlichen mörderischen Affekte nicht mehr zu bändigen vermag und seinen Ziehvater erschlägt. Wie wir bereits festgestellt haben, tut er dies ohne Not. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen,
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den Gifttrank von sich zu weisen und den geistesverwirrten Mime fortzuschicken. Doch Siegfried verliert den Überblick über die Situation. Sein Hass, seine Wut und der »heftigste Ekel«, den er Mime gegenüber empfindet, werden überbordend. Hätte Siegfried den Ausgang der Wette zwischen dem Wanderer und Mime wortgetreu umgesetzt, so hätte er Mime den Kopf abschlagen müssen. Doch das hat Wagner nun doch nicht in Szene zu setzen gewagt. Ein Köpfen des Ziehvaters hätte den latenten Kastrationswunsch des Sohnes gegen den Vater allzu offenkundig werden lassen. Das galt es zu vermeiden. Also blieb es bei einem nicht näher spezifizierten und als Notwehr getarnten »jähen Streich nach Mime«, woraufhin dieser tot zu Boden stürzt. Nach dem Partial-Objekt des väterlichen Genitals (Riesenwurm) ist nun auch das Ganzobjekt des ödipalen Vaters getötet worden. Von ihm ging zwar eine – realistisch betrachtet – nur schwache Kastrationsdrohung aus, die aber ausgereicht hat, um Siegfrieds eigene latenten Kastrationsaggressionen außer Kontrolle geraten zu lassen. Vermeintlich hat er damit alle väterlichen Figuren besiegt, die in ihm eine Kastrationsangst erzeugen könnten. Doch Mime symbolisiert noch ein Zweites. Der »heftigste Ekel«, den Mime bei Siegfried auslöst, bezieht sich wohl auch darauf, dass Mime von Anfang an zum Träger all jener abgespaltenen pri-
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mitiven Affekte ausersehen war, von denen sich Siegfried mittels Projektion zu befreien versuchte. Es hatte sich im Laufe der Zeit eine Menge angehäuft: Grübelzwang, halluzinatorische Kastrationsängste gegenüber Fafner, Kastrationsimpulse, psychotisches Gedankenlautwerden, Gier, Neid und Hass. Mit der Tötung Mimes ist Siegfried den Spiegel seiner eigenen primitiven Affektivität und seiner pathologischen Regungen losgeworden, mit einem einzigen Schwerthieb hat er die Projektionsfläche seiner eigenen unbewussten psychischen Realität vernichtet. Mit dieser doppelten Bluttat glaubt Siegfried von allen Ängsten und allen Finsternissen außen wie innen befreit zu sein. Auch sein Schöpfer und Mentor Richard Wagner ist offenbar dieser Ansicht, denn der Dichterkomponist gibt sich von Siegfrieds makelloser Reinheit geradezu entzückt und berauscht. In einem Brief an seinen Freund Röckl schwärmt er von Siegfried als dem »furchtlosen, stets liebenden Menschen«, dem »vollkommensten Menschen« und dem »gewünschten, gewollten Menschen der Zukunft« (Wagner 1995, S. 265f.). Wagner schwingt sich dazu auf, für Siegfrieds Makellosigkeit eigens ein Leitmotiv zu schöpfen, das sogenannte »Siegfrieds Reinheits-Motiv«. Darüber hinaus fertigt er ein Konzertstück mit dem Titel Siegfried-Idyll an, das er seiner Frau Cosima widmet und ihr zusammen mit Freunden zum Geburtstag als Ständchen vorträgt. Es ist schon verwunderlich, dass Wagner über lange Jahre
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dieses Bild von Siegfried als einem reinen und edlen Helden mit sich herumgetragen hat. Man kommt nicht umhin, diese Überzeugung als eine grobe Wahrnehmungsverzerrung zu bezeichnen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass es sich hierbei um die Sicht des »bewussten Wagner« handelt. Zum Glück werden geniale Werke von der unbewussten Persönlichkeit geschöpft und der »unbewusste Wagner« weiß sehr genau, wie es in den tieferen Schichten von Siegfrieds Psyche aussieht und welche dunklen Triebregungen dort virulent sind. Instinktiv lässt er Alberich, den Herrscher über das Anale und Sadistische, nach langer Abwesenheit genau an diesem Punkt wieder die Bühne betreten. Siegfrieds Verfallenheit an Alberichs anale Triebwelt hat sich nicht erst hier, vor der Neidhöhle, offenbart. Wer unter den Zuschauern sein Sinnesorgan für psychoästhetische Qualitäten bereits früher auf Empfang geschaltet hat, dem wird der Duft des Analen bereits beim Schmieden des Zauberschwertes Nothung in die Nase gestiegen sein. In einer fensterlosen Höhle unterwarf Siegfried die fragmentierten Schwertteile einem dem Verdauungsprozess analogen Vorgang. So wie im Darm die zugeführte Nahrung zerkleinert und in den Zustand einer breiigen Masse überführt wird, aus der schließlich als Endprodukt die Kotstange hervorgeht, nach diesem Modell schmiedete Siegfried sein Schwert. Mit anderen Worten:
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Aus einer homogenisierten analen Schmelzmasse wurde in einer magischen Handlung eine allmächtige Wunderwaffe geformt. Den alten Traum der Alchemisten, aus Abfall Gold zu machen, ließ Siegfried in wundersamer Weise wahr werden. Bei dem Produkt dieser magischen Praktiken kann es sich realiter nur um einen inauthentischen, falschen Phallus handeln, der nur deshalb glänzt und strahlt, weil er zur Verdeckung seiner wahren Natur mit einer glänzenden, idealisierten Patina überzogen wurde. Das Universum des Analen begegnet uns dann im Drachenkampf wieder, beginnend mit der merkwürdigen Ereignisabfolge dieses Kampfes. Sie entspricht genau jenen beiden analen Phasen, die Karl Abraham (1924) aus seiner klinischen Erfahrung abgeleitet hat, und die wir auch im Leitmotiv des Rings ausgedrückt gefunden haben: 1. die eliminatorische Phase und 2. die retentive Phase. In der eliminatorischen Phase wird das bedrohliche Objekt vernichtet. Dies haben wir in Siegfrieds Attacke gegen den Schwanz und den anschließenden Stoß seines Schwertes ins Herz des Riesenwurms wiedergefunden. Doch dies war merkwürdigerweise nicht das Ende des Drachenkampfes, sondern es schloss sich noch die zweite retentive Phase an: Siegfried setze alles daran, sich Fafner als weisen Berater zu erhalten. Nachdem entschieden war, dass Siegfried sein Objekt beherrscht, konnten die bewahrenden Impulse zum Tragen kommen.
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Die anale Objektbeherrschung ist daran zu erkennen, dass das Gegenüber auf den Zustand des Abfalls degradiert und reduziert wird, dem keine eigene Existenz zukommt. Dazu Grunberger: »Das Endziel besteht im Triumph des Subjekts über das Objekt, der für das Objekt bedeutet, dass es angegriffen und nach und nach erniedrigt, schließlich all der wesentlichen Eigenarten, die es zu einem Individuum machten, beraubt wird und zur anonymen Substanz ohne eigene Existenz, zum Abfall herunterkommt. Der Prozess […] verläuft nach dem Muster der Verdauung mit dem Endziel der Fäkalisierung und der Ausscheidung« (Grunberger 1976, S. 177). Eine derartige Fäkalisierung erfahren beide Opfer Siegfrieds. Nicht nur, dass der junge Held keinerlei emotionale Regung nach dem Totschlag seines Ziehvaters zeigt, er lässt auch vor dessen Leichnam jeglichen Respekt vermissen. Er gönnt Mime kein Begräbnis, sondern wirft ihn wie ein Stück Abfall in die Höhle. Diese Fäkalisierung erfährt bei Fafner noch eine Steigerung, indem er dessen leibliche Überreste zur Abdichtung des Höhleneingangs zweckentfremdet. Der Riese Fafner, dessen Blut ihm die übersinnliche Fähigkeit geschenkt hat, die Sprache der Vögel zu verstehen, von dem er noch gerne so viel erfahren hätte, diesem animalischen Wesen mit menschlichen Antlitz hätte Siegfried eigentlich einen gewissen Respekt, vielleicht sogar so etwas wie Dankbarkeit ent-
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gegenbringen können. Stattdessen wird der Leichnam vom jungen Recken zu einem gigantischen Abfallhaufen degradiert und als Dichtungsmasse in die Öffnung der Neidhöhle gestopft. Letztendlich ist es die im Unbewussten verbliebene Angst vor Mimes Rache, die ihn dazu getrieben hat, den toten Ziehvater in der Höhle fest einzuschließen. Doch diese Vorkehrungen werden sich – wie wir noch sehen werden – als zwecklos erweisen. Die Macht der Wiederkehr des Verdrängten ist auch durch gigantische Dichtungsmassen nicht außer Kraft zu setzen. Sie wird andere Wege finden, den Helden an seine destruktiven Taten zu erinnern und zur Rechenschaft zu ziehen. Der Herrscher von Nibelheim höchstpersönlich wird die Aufgabe übernehmen, die Wiederkehr des Verdrängten zu organisieren. Der auserkorene Rächer, Alberichs Sohn Hagen, hat bereits am Oberlauf des Rheins Position bezogen und wartet geduldig auf die Ankunft des sich rein und unschuldig dünkenden Recken. Siegfried hat den Schritt hinein in die ödipalen Auseinandersetzungen nicht geschafft, er ist an diesem so wichtigen Reifungsschritt gescheitert. Er ist in der märchenhaften Welt frühkindlicher Omnipotenzfantasien sowie deren Schattenwelt, dem abgewehrten AnalSadismus, steckengeblieben, weswegen ihm der väterliche Phallus weiterhin als etwas äußerst Bedrohliches erscheinen muss.
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10. Die Sehnsucht nach Rückkehr zur vollkommenen Mutter
Von den Kämpfen erschöpft sucht Siegfried erneut seinen Ruheplatz unter der Linde auf. Um all dem Grauen zu entkommen, leitet Wagners Musik zu einem wohligen Waldweben und zu sehnsuchtsvoller Melodik über. Während Siegfried nach dem Vöglein Ausschau hält, schweifen seine Gedanken wehmütig zurück zu seinen ideal vorgestellten Eltern. Den Totschlag des Ziehvaters stellt er in nüchternen Worten als Notwehr dar. Bei der Feststellung, dass eine liebevolle Beziehung zum Ziehvater nicht gelungen ist, scheint für einen ganz kurzen Moment ein warmes Gefühl einzuschießen. Aber es ist leider nicht mehr als ein kurzer Reflex. Siegfried Meine Mutter schwand, mein Vater fiel; nie sah sie der Sohn! Mein einz’ger Gesell war ein garstiger Zwerg; Güte zwang (warm) uns nie zu Liebe;
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listige Schlingen warf mir der Schlaue; nun musst’ ich ihn gar erschlagen! Siegfried hat nun niemanden mehr. Er ist völlig allein. In dieser Not erschafft er sich in Eigenregie einen Gesprächspartner. Es ist das Waldvöglein. Stimme des Waldvogels Hei! Siegfried erschlug nun den schlimmen Zwerg! Jetzt wüßt’ ich ihm noch das herrlichste Weib; auf hohem Felsen sie schläft, Feuer umbrennt ihren Saal: durchschritt’ er die Brunst, weckt’ er die Braut, Brünnhilde wäre dann sein! Siegfried (fährt mit jäher Heftigkeit vom Sitz auf) O holder Sang! Süßester Hauch! Wie brennt sein Sinn mir sehrend die Brust! Wie zückt er heftig zündend mein Herz! Was jagt mir so jach durch Herz und Sinne? Sag es mir, süßer Freund! (Er lauscht.) Siegfried Fort jagt mich’s jauchzend von hinnen,
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fort aus dem Wald auf den Fels! Noch einmal sage mir, holder Sänger: werd ich das Feuer durchbrechen? Kann ich erwecken die Braut? (Siegfried lauscht nochmals.) Stimme des Waldvogels Die Braut gewinnt, Brünnhild erweckt ein Feiger nie: nur wer das Fürchten nicht kennt! Siegfried (aufjauchzend) Der dumme Knab’, der das Fürchten nicht kennt, mein Vöglein, der bin ja ich! Noch heute vergab ich vergebens mir Müh’, das Fürchten von Fafner zu lernen: nun brenn ich vor Lust, es von Brünnhild zu wissen! Wie find’ ich zum Felsen den Weg? Ein neckisches Spiel mit dem zu Späßen aufgelegten Waldvogel lässt bei Siegfried ein Liebesverlangen entbrennen. Wagners Bühnenanweisung: »Er läuft dem Vogel, der ihn neckend eine Zeitlang nach verschiedenen Richtungen hinleitet, nach und folgt ihm endlich, als dieser mit einer bestimmten Wendung nach dem Hintergrunde davonfliegt.«
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Wir hatten bereits gesagt, dass wenn sich die idealisierende Libido vom väterlichen Phallus ab und dem eigenen Genitale zuwendet, gaukelt der omnipotente Wahn dem kleinen Jungen vor, nun mit Aussicht auf Erfolg um die Mutter freien zu können. Und so macht sich dieser kleine Däumling auch sogleich frohgemut auf den Weg. Doch als Entr’acte vollführt Wagner einen Schwenk zum Wanderer Wotan, der sich zu einer ungewöhnlichen und überraschenden Unternehmung entschlossen hat.
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11. Wotan trotzt gegen Mutter Erda
Es gibt zwei Begegnungen zwischen Wotan und der Ur-Wala: Die erste am Ende des Rheingold und die zweite hier, am Beginn des 3. Aktes in Siegfried, die zugleich die letzte sein wird. Das damalige kurze Auftauchen Erdas sah wie eine Belehrung Wotans durch eine besorgte Urmutter aus. Erst im Nachhinein wurde das Problematische dieser mütterlichen Intervention ersichtlich (vgl. Oberhoff 2011). Indem Erda Wotan vor dem Ring warnte, erteilte sie ihm implizit ein Individuationsverbot, woraufhin Wotan, voller Angst und gehorsam gegenüber den Wünschen der Urmutter, den Ring den Riesen aushändigte. Wotan vermittelte damals den Eindruck, gegenüber den Weisungen Erdas nicht frei zu sein, sondern ihr wie der Stimme eines machtvollen Introjekts gehorchen zu müssen. Dieses Verbot zur Errichtung eines autonomen Willens hat sich dann später im Ehestreit mit Fricka wiederholt, wo Wotan nahezu dekompensierte und sich resigniert dem Ansinnen Frickas fügte, den eigenen Sohn zu opfern.
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Mit den Worten »Was nützt ein eigener Wille« trat er hilflos und ohnmächtig vor seine Tochter Brünnhilde und forderte sie auf, den Forderungen Frickas Folge zu leisten. Es erscheint mir aufschlussreich, die folgende Begegnung Wotans mit Erda vor dem Hintergrund des ersten Zusammentreffens zu betrachten. Damals tauchte Erda aus eigenem Entschluss aus der Tiefe auf. Hier ergreift Wotan die Initiative und weckt die Ur-Wala unsanft aus ihrem Schlaf. Der Zuschauer sieht Wotan (als Wanderer) auf ein gruftähnliches Höhlentor zuschreiten. Dort ruft er in den Eingang der Höhle: Wanderer Wache, Wala! Wala erwach’! Aus langem Schlaf weck’ ich dich Schlummernde auf. Ich rufe dich auf: herauf! Herauf! Aus nebliger Gruft, aus nächt’gem Grunde herauf! Erda! Erda! Ewiges Weib! Aus heimischer Tiefe tauche zur Höh’! Allwissende! Urweltweise! Im bläulichen Lichtschein und glitzerndem Gewand steigt Erda aus der Tiefe empor. Das ewige Weib ist unwillig über die Störung ihres
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Schlafes. Sie verweist Wotan an die Nornen bzw. an Brünnhilde, die ebenfalls weise Frauen seien und zur Beantwortung von Fragen zur Verfügung stünden. Als Wotan berichtet, dass er Brünnhilde wegen ihres Trotzes bestraft habe, reagiert Erda unmutig und tadelt ihn wegen dieser ungerechtfertigten Maßnahme. Daraufhin bringt Wotan sein Anliegen vor. Er begehrt Antwort auf die Frage, wie er die Furcht vor einem schmachvoll feindlichen Ende loswerden könne (»dass ich nun Kunde gewänne, weck’ ich Dich aus dem Schlaf«). Wie schon zu Wotans erster Aufforderung »Erwache, du Wala! Erwache!« so ertönt auch hier lautstark und aggressiv vom Blech vorgetragen das Speer-/Vertrags-/Introjekt-Motiv (Nr. 9). Es macht deutlich, dass Wotan hier zu einer inneren Imago spricht, die als ein machtvolles Introjekt in ihm wirkt. Verwundern muss, dass das leitmotivische Introjekt-Motiv nicht zu den Worten Erdas erklingt, sondern zu Wotans forderndem Verhalten. Man gewinnt den Eindruck, als wolle Wotan in dieser Szene den Spieß einmal umdrehen und dem Introjekt-Ich seine Forderungen diktieren. Es ist ausgesprochen ungewöhnlich und absolut neu, wie ruppig Wotan hier mit Erda umspringt. Als die Ur-Wala zu verstehen gibt, dass sie sich lieber zum Schlafen legen will als Wotan Auskunft zu geben, zwingt er sie zum Bleiben.
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Wanderer Dich, Mutter, laß’ ich nicht zieh’n, da des Zaubers mächtig ich bin. Urwissend stachest du einst der Sorge Stachel in Wotans wagendes Herz; mit Furcht vor schmachvoll feindlichem Ende füllt’ ihn dein Wissen, daß Bangen band seinen Mut. Bist du der Welt weisestes Weib, sage mir nun: wie besiegt die Sorge der Gott? Wotan hatte sich damit gebrüstet, dass er des Zaubers mächtig sei. Auf diese Feststellung scheint sich Erda zu beziehen, indem sie ihn wissen lässt: Erda Du bist – nicht, was du dich nennst! Was kamst du, störrischer Wilder, zu stören der Wala Schlaf? Nicht von ungefähr kommt Wotan der Ur-Wala wie ein »störrischer Wilder« vor, zumal dieser das ehrenrührige Kompliment (»Du bist nicht, was du dich nennst«) postwendend an Erda zurückgibt und sie im Folgenden eine »Unweise« tituliert, auf deren Rat er in Zu-
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kunft zu verzichten gedenkt. Dann zwingt er sie, sich anzuhören, welches seine Pläne sind: Wanderer Du bist nicht, was du dich wähnst! Urmütterweisheit geht zu Ende: dein Wissen verweht vor meinem Willen. Weißt du, was Wotan will? (Langes Schweigen.) Dir Unweisen rufe ich ins Ohr, daß sorglos ewig du nun schläfst! Um der Götter Ende grämt mich die Angst nicht, seit mein Wunsch es will! Was in des Zwiespalt wildem Schmerze verzweifelnd einst ich beschloss, froh und freudig führe ich frei nun aus. Weiht’ ich in wütendem Ekel des Nibelungen Neid schon die Welt, dem herrlichsten Wälsung weis’ ich mein Erbe nun an. Der von mir erkoren, doch nie mich gekannt, ein kühnster Knabe, bar meines Rates, errang des Nibelungen Ring. Liebesfroh, ledig des Neides,
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erlahmt an dem Edlen Alberichs Fluch; denn fremd bleibt ihm die Furcht. Die du mir gebarst, Brünnhild, weckt sich hold der Held: wachend wirkt dein wissendes Kind erlösende Weltentat. Drum schlafe nun du, schließe dein Auge; träumend erschau’ mein Ende! Was jene auch wirken, dem ewig Jungen weicht in Wonne der Gott. Hinab denn, Erda! Urmütterfrucht! Ursorge! Hinab! Hinab zu ewigem Schlaf! (Erda schließt die Augen und versinkt in der Tiefe.) Wotan gibt sich ungewohnt kampfeslustig und konfliktfreudig. Dreimal spricht er von seinem Willen und zu den Worten »weißt du was Wotan will?« und »seit mein Wunsch es will« folgt jeweils ein sehr entschiedener lauter Orchesterschlag. Man reibt sich die Augen. Es kann keine Rede mehr von Resignation und »was frommt mir eigener Wille« sein. Wotan demonstriert eine überraschende Willensstärke und Entschiedenheit. Ist es Mut oder Übermut? Vermutlich ist es Siegfrieds Auftreten vor der Neidhöhle, insbesondere dessen Furchtlosigkeit gegenüber dem Riesenwurm (»denn fremd bleibt ihm die Furcht«), die Wotan begeistert hat und die
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ihn angefeuert hat, auch sich selbst einmal furchtlos zu zeigen und den Ungehorsam gegen die Mutter zu proben. Seine Frage an Erda, »wie besiegt die Sorge der Gott?«, ist keine wirkliche Frage, denn er weiß ja selbst die Antwort, die er Erda hier unter die Nase reibt: Er will Siegfried sein Erbe zuweisen (»dem ewig Jungen weicht in Wonne der Gott«). Wotan stellt es also als seinen freien Willen dar, den eigenen Untergang zu wollen. Und ohne eine Antwort auf die Verkündung seines Willens und seines Entschlusses abzuwarten, schickt er im Befehlston die Urmutter in die ewigen Urgründe zurück (»Hinab denn, Erda! Hinab zu ew’gem Schlaf!«). Erda ist entweder sprachlos ob des ruppigen Verhaltens des störrisch wilden Wotan oder aus Desinteresse bereits eingeschlafen. Lautlos versinkt sie in die Tiefe. Glaubt Wotan, sich mit diesem trotzigen Verhalten von der niederdrückenden Macht der Mutter-Imago befreit zu haben? Ohne Frage gibt er sich im Gegensatz zur ersten Begegnung kämpferisch. Doch was er als großartigen Entschluss seines Willens ausgibt, ist nichts anderes als eine neuerliche Unterwerfung, nur diesmal nicht unter die Urmutter, sondern unter den Enkel Siegfried. Dem jungen Helden, der sich aufmacht, die Mutter zu erobern, kann es nur Recht sein, wenn der ödipale (Groß-)Vater aus freien Stücken den Rückzug antritt und den Weg zur Mutter frei gibt. Doch was ist die
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Konsequenz dieser Kapitulation Wotans für den jungen Recken? Soviel dürfte klar sein: Die Erfüllung der ödipalen Wunschfantasie stellt für das Siegfried-Ich eine Katastrophe dar. Ohne die Unterstützung durch einen Vater als triangulierendem Dritten steht er den festhaltenden Kräften der Mutter hilflos gegenüber. Und Wotan? Welches Schicksal darf man seinem Ich prophezeien? Wotans masochistische Wonnen, dem ewig Jungen zu weichen und sich selbst zu opfern, sind weniger Ausdruck für einen erwachenden autonomen Willen, sondern es handelt sich vielmehr um suizidale Gedanken eines Menschen, dem das Leben zu schwer geworden ist. Wotan hat nicht nur eine große Schuld, nämlich jene am Tod des eigenen Sohnes, auf sich geladen, sondern er hat auch seine Lieblingstochter verloren. Und da diese Lieblingswalküre Trägerin seines autonomen Willens ist, ist mit ihrem Weggehen auch sein Lebenswille entschwunden. Es ist der Lebensüberdruss, der Wotan erfasst hat. Er will nur noch das Ende. Was Wotan die Kraft gibt, der Mutter widerborstig zu begegnen, ist jener finale Triumph des Selbstmörders, selbst sein Ende bestimmt zu haben. Diese Vision vom selbst arrangierten Untergang lässt Wotan für den Augenblick manisch euphorisch sein. Doch es ist abzusehen, wann dieser aufwallende Trotzimpuls wieder in sich zusammenfallen und einer umso heftigeren Depression Platz machen wird.
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12. Wotan und Siegfried – zwei anti-ödipale Kumpane
Auf nächtliche Finsternis folgt Morgendämmerung. Es tritt Siegfried auf, der seinem Waldvogel hinterher läuft. Der Vogel flattert auf den am Höhleneingang wartenden Wotan zu, scheut dann aber ängstlich zurück. Siegfried fragt den ihm unbekannten Wanderer nach dem Weg. Doch Wotan gibt nicht sogleich Antwort, sondern verwickelt den jungen Mann in ein Gespräch nach dem Woher und Wohin. Siegfried erzählt unbekümmert von seinen Kämpfen mit dem Riesenwurm und mit Mime und wie er aus eigener Kraft das Schwert Nothung geschaffen hat. Wotan hört die Heldentaten mit Wohlgefallen und auch mit einem gewissen Stolz auf diesen mutigen Enkel. Gleichzeitig lässt er sich durch Siegfrieds Antworten implizit bestätigen, dass dieser keine Unterstützung durch den Göttervater erhalten, sondern alles aus eigener Kraft und eigenem Willen vollbracht hat. Doch Siegfried missinterpretiert Wotans stille Freude als ein
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Auslachen und reagiert ähnlich frech, wie er es sich gegenüber seinem Ziehvater Mime angewöhnt hatte. Er rät Wotan, ihm entweder den Weg zum Feuerfelsen zu zeigen oder das Maul zu halten. Siegfried Alter Frager! Hör einmal auf: laß mich nicht länger hier schwatzen! Kannst du den Weg mir weisen, so rede: vermagst du’s nicht, so halte dein Maul. Wanderer Geduld, du Knabe! Dünk ich dich alt, so sollst du Achtung mir bieten. Siegfried Das wär’ nicht übel! Solang ich lebe, stand mir ein Alter stets im Wege; den habe ich nun fortgefegt. Stemmst du dort länger steif dich mir entgegen – Sieh dich vor, sag ich, daß du wie Mime (mit entsprechender Gebärde) nicht fährst!
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Siegfried tritt näher an den Wanderer heran und entdeckt dabei, dass diesem ein Auge fehlt. Das veranlasst ihn zu der Drohung: Siegfried Mach dich jetzt fort, sonst könntest du leicht das andre auch noch verlieren. Wanderer Ich seh’, mein Sohn, wo du nichts weißt, da weißt du dir leicht zu helfen. Mit dem Auge, das als andres mir fehlt, erblickst du selbst das eine, das mir zum Sehen verblieb. Diese Aussage erinnert an Brünnhildes Worte in der Walküre, wo sie sich damals als Wotans anderes Auge ausgab, ihm dadurch unerträgliche Schmerzen bereitete und ihn in Widerspruch zu seinem grausamen Introjekt geraten ließ. Nun glaubt Wotan offenbar, sein Introjekt wirklich abgeschüttelt zu haben, denn nun identifiziert er Siegfried mit seinem anderen Auge, so als stünden nun beide, Wotans eigenes und das an Siegfried delegierte Auge, einvernehmlich für Wotans autonomen Willen. Auf tragische Weise hat er Recht. Beide Augen haben nämlich ein gemeinsames Ziel: das väterliche Gesetz aus der Welt zu schaffen.
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Mit Wotans Rede dunklem Sinn weiß Siegfried nichts anzufangen. Er versteht nur, dass dieser komische Frager ein Hindernis auf seinem Weg zu Brünnhilde darstellt. Siegfried Weich von der Stelle, denn dorthin, ich weiß, führt es zur schlafenden Frau. So wies es mein Vöglein, das hier erst flüchtig entfloh. Wanderer (in Zorn ausbrechend und in gebieterischer Stellung) Es floh dir zu seinem Heil! Den Herrn der Raben erriet es hier: weh ihm, holen sie’s ein! Den Weg, den es zeigte, sollst du nicht zieh’n! Siegfried (tritt mit Verwunderung in trotziger Stellung zurück) Hoho, du Verbieter! Wer bist du denn, daß du mir wehren willst? Wanderer Fürchte des Felsens Hüter!
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Verschlossen hält meine Macht die schlafende Maid: wer sie erweckte, wer sie gewänne, machtlos macht er mich ewig! Ein Feuermeer umflutet die Frau, glühende Lohe umleckt den Fels: wer die Braut begehrt, dem brennt entgegen die Brunst. (Er winkt mit dem Speer nach der Felsenhöhe.) […] Bald frißt und zehrt dich zündendes Feuer. Zurück denn, rasendes Kind! Siegfried Zurück, du Prahler, mit dir! Dort, wo die Brünste brennen, zu Brünnhilde muß ich dahin! (Er schreitet weiter, der Wanderer stellt sich ihm entgegen.) Wanderer Fürchtest das Feuer du nicht, so sperre mein Speer dir den Weg! Noch hält meine Hand der Herrschaft Haft: das Schwert, das du schwingst, zerschlug einst dieser Schaft: noch einmal denn
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zerspring es am ew’gen Speer! (Er streckt den Speer vor.) Siegfried (das Schwert ziehend) Meines Vaters Feind! Find ich dich hier? Herrlich zur Rache geriet mir das! Schwing deinen Speer: in Stücken spaltet ihn mein Schwert! Ähnlich kampfeslustig und unbeherrscht wie er gegen Mime das Schwert erhob, gebärdet er sich hier gegenüber dem einäugigen Wanderer. Mit einem Hieb zerschlägt er Wotans Speer in zwei Stücke. Daraufhin fährt ein Blitzstrahl hinauf zur Felsenhöhe, wo von diesem Augenblick an immer hellere Feuerflammen zu lodern beginnen. Die Speerstücke rollen zu des Wanderers Füßen. Wotan sammelt sie ruhig auf und mit den Worten »Zieh hin! Ich kann dich nicht halten!« verschwindet er in der Finsternis. Siegfried schilt ihn einen Feigling. Nach Fafner und Mime hat unser junger AntiÖdipus nun auch diese Vaterfigur aus dem Weg geräumt, indem er dessen Phallus in Stücke schlug. Siegfried hat Recht, wenn er Wotan einen Feigling schilt (»Mit zerfochtener Waffe floh mir der Feige«). Wotan hat sich nur zum Schein dem »Sohn« entgegengestellt. Mit der provozierend unge-
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schickten Geste, mit der er seinen Speer Siegfried entgegenhielt, bettelte er geradezu darum, vom Enkel depotenziert zu werden. Hier hat kein wirkliches Ringen, kein ödipaler Rivalitätskampf stattgefunden, sondern eine heimliche Kumpanei zweier antiödipaler Gesinnungsgenossen. Welche psychischen Folgen hat dieser erfolgreiche Angriff auf die väterliche Potenz und auf das väterliche Gesetz? Es gehört zur Aufgabe des Vaters, darüber zu wachen, dass das Inzestverbot, die Differenz der Generationen und die Differenz der Geschlechter beachtet und für den ödipalen Rebell zu unüberwindlichen Hindernissen werden. Diese aufgerichteten Grenzen haben ihren Sinn darin, dass der Sohn nicht nur seine Triebe zu kontrollieren und seine kindliche Realität richtig einzuschätzen lernt, sondern sie vermögen ihm auch positiv dabei behilflich zu sein, seine narzisstische Wunde zu schließen. Denn ein Grenzen setzender Vater lässt den Sohn erfahren, dass es nicht an seiner Kleinheit und Unreife liegt, dass er die Mutter nicht haben kann, sondern daran, dass er ein Hindernis, nämlich den Vater, vor sich hat. Diese Erkenntnis kann ihn zur Anerkennung der Vorrechte des sich ihm entgegenstellenden Vaters und zur Identifizierung mit ihm verhelfen, wodurch sowohl sein Realitätssinn wie auch seine männliche Identität gestärkt werden. Doch dieser Entwicklungsschritt findet nicht statt; er scheitert an
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Wotans Unfähigkeit, dem jungen Rebell die notwendigen Grenzen zu setzen. So triumphiert Siegfried als ein Anti-Ödipus, der die ödipale Arena gar nicht erst betreten muss, weil der »Vater« bereits im Vorfeld den Schwanz eingezogen hat.
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Aus Siegfrieds naiv kindlicher Sicht ist das letzte Hindernis auf seinem Weg zur Mutter aus dem Weg geräumt. Im Angesicht der hell lodernden Flammen bläst Siegfried in sein Horn und stürmt hinauf zur Felsenburg. In einer strahlenden »Feuersinfonie« (Pahlen) wird Siegfrieds Durchschreiten des Feuers zelebriert. Unter Mitwirkung von sage und schreibe sechs Harfen sowie Triangel, Glockenspiel und Piccoloflöte zaubert Wagner ein Klanggewebe aus zartesten Farben, eine elysäische Landschaft wie sie glitzernder nicht sein könnte. Eine Genealogie an strahlenden Motiven wird präsentiert: Siegfrieds Hornruf-, Waldvogel-, Loge- und Brünnhildes Schlummer-Motiv bis zurück zum Rheingold-Ruf der Rheintöchter. Dem muss sich natürlich auch das Bühnenbild anpassen. Die stürmische Feuersglut wandelt sich zur Morgenröte und schließlich zu einem heiter blauen Tageshimmel, der sich über die Bühne wölbt. Siegfried steht staunend und ergriffen angesichts dieses kosmischen Schauspiels.
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Als erstes entdeckt der Himmelsstürmer das Ross »Grane«, dann erst jene Person, die in Waffenrüstung unter einer weit ausladenden Tanne in tiefem Schlaf versunken liegt. Da in Siegfrieds Monolog jede Einzelheit von Bedeutung ist, sollen seine Worte ungekürzt wiedergegeben werden. Siegfried (langsam näher kommend, hält er verwundert an, als er noch aus einiger Entfernung Brünnhildes Gestalt wahrnimmt) Was strahlt mir dort entgegen? Welch glänzendes Stahlgeschmeid? Blendet mir noch die Lohe den Blick? Helle Waffen! Heb’ ich sie auf? (Er hebt den Schild ab und erblickt Brünnhildes Gestalt, während ihr Gesicht jedoch zum großen Teil vom Helm verdeckt ist.) Ha, in Waffen ein Mann! Wie mahnt mich wonnig sein Bild! Das hehre Haupt drückt wohl der Helm? Leichter würd’ ihm, löst ich den Schmuck. (Vorsichtig löst er den Helm und hebt ihn der Schlafenden ab: langes lockiges Haar bricht hervor. Siegfried erschrickt.)
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Ach! Wie schön! (Er bleibt im Anblick versunken.) […] Von schwellendem Atem schwingt sich die Brust! Brech ich die engende Brünne? (Er versucht mit großer Behutsamkeit die Brünne zu lösen.) Komm, mein Schwert, schneide das Eisen! (Er zieht sein Schwert, durchschneidet mit zarter Vorsicht die Panzerringe zu beiden Seiten der Rüstung und hebt dann die Brünne und die Schienen ab, so daß nun Brünnhilde in einem weichen weiblichen Gewande vor ihm liegt. Er fährt erschreckt und staunend auf.) Das ist kein Mann! (Er starrt mit höchster Aufgeregtheit auf die schlafende hin.) Brennender Zauber zückt mir ins Herz; feurige Angst fasst meine Augen: mir schwankt und schwindelt der Sinn! (Er gerät in höchste Beklemmung.) Wen ruf’ ich zum Heil, daß er mir helfe? Mutter, Mutter! Gedenke mein! (Er sinkt, wie ohnmächtig, an Brünnhildes Busen. Langes Schweigen. Er fährt seufzend auf.) Wie weck ich die Maid, daß sie ihr Auge mir öffne?
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Das Auge mir öffne? Blende mich auch noch der Blick? Wagt’ es mein Trotz? Ertrüg’ ich das Licht? Mir schwebt und schwankt und schwirrt es umher! Sehrendes Sehnen zehrt meine Sinne; am zagenden Herzen zittert die Hand! Wie ist mir Feigem? Ist dies das Fürchten? O Mutter, Mutter! Dein mutiges Kind! Im Schlafe liegt eine Frau: die hat ihn das Fürchten gelehrt! Wie end’ ich die Furcht? Wie fass’ ich Mut? Siegfrieds Annäherung an die schlafende Brünnhilde weist einige Merkwürdigkeiten auf. Zunächst einmal geht Siegfried davon aus, einen Mann in Waffenrüstung dort auf dem Boden unter dem Schild liegen zu sehen. Das muss nicht weiter verwundern, kennt er doch bislang nur Männer. Doch was dann folgt, ist mehr als sonderbar. Mit erstaunlich großer Sorgfalt und en détail schildert der Librettist, welche Kleidungsstücke der junge Held an dieser Frau alle löst. Zunächst wird der Helm geöffnet, und es heißt: »langes lockiges Haar bricht hervor. Siegfried erschrickt.« Er erschrickt über ihre Schönheit, denn es entschlüpft ihm ein: »Ach, wie schön!« Der Anstand würde es gebieten, an dieser Stelle die weitere Neugier zu zügeln. Doch Siegfried ist offenbar nicht zu bremsen und setzt seine Entkleidungsprozedur fort. Er durchschneidet mit seinem
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Schwert die Panzerringe und löst Brünne und Schienen, sodass »nun Brünnhilde in einem weichen weiblichen Gewande vor ihm liegt«. Erst jetzt durchzuckt ihn ein furchtsames Erschrecken: »Das ist kein Mann!« Er gerät in »höchste Aufgeregtheit« und »höchste Beklemmung«, er »schwankt«, ihm »schwindelt der Sinn«. Er ruft um Hilfe: »Wen ruf’ ich zum Heil, daß er mir helfe?« Es kommt ihm überraschenderweise (oder wie zu erwarten) die Mutter in den Sinn, die er nie gesehen hat: »Mutter, Mutter! Gedenke mein!« Darauf sinkt er »wie ohnmächtig, an Brünnhildes Busen«. Langes Schweigen. Man kann mit dieser Szene schnell fertig sein und Siegfrieds merkwürdiges Verhalten als Ausdruck dessen ansehen, dass dieser Kaspar Hauser zum ersten Mal in seinem Leben eine Frau erblickt. Doch bezüglich dieser Erfahrung würde man erwarten, dass Siegfried vielleicht in ein Staunen verfällt und ausschließlich sein Entzücktsein zum Ausdruck bringt. Doch seine Reaktion ist ganz anderer Art: Er reagiert panisch und was er sieht, lehrt ihn erstmalig in seinem Leben das Fürchten! Was bei Siegfried den Schreckensruf »Das ist kein Mann!« auslöst, ist jene überaus ängstigende Entdeckung des kleinen Jungen, der an der entkleideten Mutter feststellen muss, dass diese keinen »Zipfel« hat. Bis dahin war er wie selbstverständlich von der Voraussetzung des Allgemeinvorkommens des Penis ausgegangen.
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Sein Mutterbild war das einer Mutter mit Phallus. Im Zuge seiner kindlichen Sexualforschung macht er nun die beklemmende Entdeckung des Geschlechterunterschiedes. Wir können es uns als Erwachsene kaum noch vorstellen, aber es hat für jeden von uns eine Zeit gegeben, wo die entdeckte Tatsache, dass es zwischen Jungen und Mädchen an einer bestimmten Stelle einen signifikanten Unterschied gibt, zu einer großen Beunruhigung geführt hat. Da beim Kleinkind nur das Quantitative zählt, ist diese Entdeckung für beide Geschlechter schockierend: Beim Mädchen setzt sich der Eindruck fest, offensichtlich zu kurz gekommen zu sein und den Jungen beschäftigt die Angstvision, sein Genitale verlieren zu können. Beim Knaben ist die Kastrationsangst dann besonders groß, wenn die Entdeckung des Geschlechtsunterschiedes in einem sozialen Milieu erfolgt, das von offenen oder latenten Kastrationsdrohungen geprägt ist. Im Familienalltag des 19. Jahrhunderts war man mit derartigen Drohungen durchaus schnell bei der Hand. Um das Kind von der Onanie abzuhalten, drohte man schon einmal damit, ihm den Zipfel abzuschneiden, falls er die manuelle Betätigung am Glied fortsetzen würde. Man spürte sehr richtig, dass diese Angst, wenn sie massiv genug ist, zur gehorsamen Unterordnung unter die elterliche Autorität führt. Folglich hat man sich dieses Diszi-
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plinierungsmittels, ohne größere Bedenken, bedient. Mit anderen Worten, es sind nicht die nackten Tatsachen an sich, sondern erst das Zusammenwirken von Anblick der Penislosigkeit der Mutter und einer offen oder indirekt ausgesprochenen Kastrationsdrohung, die zu jener Erfahrung führt, die Freud für den kleinen Jungen als »das größte Trauma seines Lebens, das die Latenzzeit mit allen ihren Folgen einleitet« (Freud 1938, S. 77) bezeichnet hat. Auch für Wagner hatte diese Erfahrung möglicherweise einen stark traumatischen Charakter, was sich daraus ablesen lässt, dass er Siegfried vor allem deswegen als Helden preist, weil er ihn ohne Kastrationsangst wähnt, was natürlich eine grobe Fehleinschätzung ist. Siegfried ist in Wahrheit voller Kastrationsangst, weswegen er gegen alle Vaterfiguren mordend zu Felde zieht, von denen eine konkrete oder mögliche Kastrationsdrohung ausgeht. Die Drachentötung, der Mord am Ziehvater sowie sein »kastrierendes« Vorgehen gegen Wotans Speer stehen unter diesem Vorzeichen. Wäre Siegfrieds Kastrationsangst nur mäßig ausgeprägt, so dürfte es ihm nicht schwer fallen, die Überlegenheit des väterlichen Phallus anzuerkennen und sich mit dem Vater zu identifizieren. Doch dieser Schritt gelingt ihm nicht. Was wie Angstfreiheit aussieht, ist in Wirklichkeit eine massive Verleugnung von Kastrationsangst, eine Abwehrhaltung, die beim Anblick Brünnhildes nur kurz außer Kraft gesetzt wird.
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Doch dieses kurzfristige Zulassen der Angst führt keine wirkliche Wende herbei. Siegfrieds Abwehr wird anschließend wieder rasch befestigt. Es bleibt alles beim Alten. Sein angstvoller Schrei »O Mutter, Mutter! Dein mutiges Kind! Im Schlafe liegt eine Frau: die hat mich das Fürchten gelehrt!« ist im Grunde ein Hilferuf nach der frühen Mutter mit dem Phallus, also derjenigen Mutter, zu der kein Geschlechtsunterschied besteht, und von der man sich folglich nicht ablösen muss. Damit zurück zur Handlung. Siegfried steht vor einem Problem: Wie soll er die Schlafende wach bekommen? Er versucht es mit Rufen: »Erwache! Erwache! Heiliges Weib!« Doch Brünnhilde reagiert nicht. Dann kommt die Leidenschaft über ihn, die ihn ungewöhnlich wagemutig werden lässt: Siegfried (gedehnt mit gepresstem, drängendem Ausdruck) So saug’ ich mir Leben aus süßesten Lippen, sollt’ ich auch sterbend vergehn! (Er sinkt, wie ersterbend, auf die Schlafende und heftet mit geschlossenen Augen seine Lippen auf ihren Mund.) Die letzte Zeile, »sollt’ ich auch sterbend vergehn« intoniert er auf das Urnarzissmus-Verlust-Motiv (»Weibes Wonne und Wert«,
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Nr. 14). Als Brünnhilde sich daraufhin zu regen beginnt, ist Siegfried am Ziel seiner Wünsche. Die leidenschaftlich Geküsste schlägt die Augen auf und begrüßt den lichten Tag: »Heil dir, Sonne! Heil dir, Licht!« Dazu spielt das Orchester jenes ganz schlichte, nur aus zwei Akkorden bestehende, Erwachens-Motiv.
Nr. 42 Brünnhildes Erwachen
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Nr. 42 Bünnhildes Erwachen
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Dann wird Brünnhilde gewahr, dass es der von ihr erwartete Held Siegfried ist, der sie erweckt hat, was zu weiteren verzückten HeilRufen Anlass gibt. Brünnhilde (hoch aufgerichtet sitzend) Heil euch Götter! Heil dir, Welt! Heil dir, prangende Erde! Zu End’ ist nun mein Schlaf; erwacht seh’ ich: Siegfried ist es, der mich erweckt! Siegfrieds Antwort kann uns nicht mehr überraschen. In »erhabenste Verzückung« ausbrechend, ruft er: »O Heil der Mutter,
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die mich gebar!«, was von Brünnhilde eine spontane Bestätigung erfährt: »O Heil der Mutter, die dich gebar!« Beide sind voll strahlendem Entzücken in ihren gegenseitigen Anblick verloren. Brünnhilde überwindet als Erste die Sprachlosigkeit. Brünnhilde O Siegfried! Siegfried! Seliger Held! Du Wecker des Lebens, siegendes Licht! O wüßtest du, Lust der Welt, wie ich dich je geliebt! Du warst mein Sinnen, mein Sorgen du! Dich Zarten nährt’ ich, noch eh’ du gezeugt; noch eh’ du geboren, barg dich mein Schild: so lang lieb ich dich Siegfried! Spricht so nicht eine Mutter zu ihrem kleinen Sohngeliebten? Und wahrhaftig glaubt der Verzückte, in Brünnhilde seine leibhaftige Mutter gefunden zu haben. Leise und schüchtern wagt er zu fragen: »So starb nicht meine Mutter? Schlief die minnige nur?« Darauf Brünnhilde: Brünnhilde (lächelnd, freundlich die Hand nach ihm ausstreckend) Du wonniges Kind! Deine Mutter kehrt dir nicht wieder.
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Du selbst bin ich, wenn du mich Selige liebst. Was du nicht weißt, weiß ich für dich; doch wissend bin ich nur – weil ich dich liebe! O Siegfried! Siegfried! Siegendes Licht! Dich liebt’ ich immer; Auch wenn Brünnhilde nicht Siegfrieds leibhaftige Mutter ist, so besetzt sie trotzdem diesen Platz in Siegfrieds innerem Erleben. Und Brünnhilde macht keinen Hehl daraus, dass sie diese Rolle nur zu gerne annimmt. Ihr liebevolles »Du wonniges Kind« und ihre Versicherung, dass sie dieses wonnige Kind schon immer, d. h. bereits vor seiner Geburt geliebt und sich um ihn gekümmert hat, und dass ihre Verbundenheit eine symbiotische ist (»Du selbst bin ich«) schafft eine Situation großer Nähe und Glückseligkeit, wie sie am innigsten in der Beziehung von Mutter zu Säugling oder – noch früher – von Mutter zu ihrem ungeborenen Kind besteht. Brünnhilde geht frei damit um, dass sie einer anderen Generation als Siegfried angehört. Sie hat schon ihre schützende Hand über ihn gehalten, als er sich noch im Mutterleib (in Sieglindes Bauch) befand. Und schließlich sollte auch nicht in Vergessenheit geraten, dass Brünnhilde es war, die Sieglinde anwies, dieses heldenhafte Kind Siegfried zu heißen. Sie nimmt damit die Rechte einer Mutter des prähistorischen Matriarchats wahr, ihren Kindern den Namen zu geben.
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Familiengenealogisch ist Brünnhilde Siegfrieds Tante oder sogar Großtante. Doch im Erleben Siegfrieds ist sie seine Mutter oder eine ihr entsprechende Ersatzperson. Mit ihr sich zu verbinden, bedeutet das höchste Glück. Da mit der Kastration Wotans die ödipale Welt beseitigt wurde, hat auch das väterliche Gesetz seine Macht verloren. Inzestschranke und Generationenschranke haben aufgehört zu existieren. Zurück im Urchaos ist alles erlaubt. Brünnhilde gefällt es, sich wie eine Mutter zu gebärden und nennt ihren jungen Liebhaber abwechselnd »wonniges Kind«, »kindischer Held« oder »herrlicher Knabe«. Siegfried scheinen diese kindlichen Kosenamen keineswegs zu stören, ja, sie sind vielmehr dazu angetan, seine Glückseligkeit ins Unermessliche zu steigern. Soll man sich als Zuschauer mitfreuen über diese überschwängliche, inzestuös getönte Liebeseuphorie?
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14. Erste Schatten über dem Liebesglück
Brünnhilde wird nachdenklich darüber, dass sie ihren jungfräulichen Status einer Halbgöttin unwiederbringlich verloren hat, was sie als Schmach empfindet und ihr Angst macht. Brünnhilde (deutet mit der Hand nach ihren Waffen, die sie gewahrt) Dort seh’ ich den Schild, der Helden schirmte; dort seh’ ich den Helm, der das Haupt mir barg; er schirmt, er birgt mich nicht mehr! Und unversehens kommt ihr in den Sinn, dass Siegfried es war, der ihr die Rüstung aufgebrochen hat. Brünnhilde (mit gesteigerter Wehmut) Ich sehe der Brünne prangenden Stahl: ein scharfes Schwert schnitt sie entzwei;
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von dem maidlichen Leibe löst’ es die Wehr; ich bin ohne Schutz und Schirm, ohne Trutz ein trauriges Weib! Während in Siegfried die sinnliche Leidenschaft crescendierend überschäumt und er Brünnhilde heftig umfasst, vermag die Geliebte diese Gefühlsaufwallung zunächst nicht zu erwidern. Brünnhilde wehrt den Geliebten, wie es heißt, »mit höchster Kraft der Angst« ab und »entflieht nach der anderen Seite«. Die leidenschaftliche Annäherung Siegfrieds erfolgt für sie offensichtlich zu schnell und zu stürmisch. Das Lösen der Wehr vom »maidlichen Leibe« erlebt sie wie eine Verwundung, und es wird ihr bewusst, dass sie ohne väterlichen »Schutz und Schirm« dasteht. Der endgültige Verlust ihres jungfräulichen Standes und ihrer Göttlichkeit tritt bedrohlich an sie heran. Wotan hatte damals in seinem Zorn prophezeit: »Die magdliche Blume verblüht der Maid«. Diese beängstigende Vorstellung steht in diesem Moment vor Brünnhildes innerem Auge und lässt sie von der »Entkleidungsszene« nicht loskommen. Brünnhilde Wehe! Wehe! Wehe der Schmach, der schmählichen Not!
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Verwundet hat mich, der mich erweckt! Er brach mir Brünne und Helm: Brünnhilde bin ich nicht mehr! Und während ihre Gedanken zu diesem Ereignis zurückschweifen, wird sie immer stärker von einer äußerst düsteren Vision erfasst: Brünnhilde Trauriges Dunkel trübt meinen Blick; mein Auge dämmert, mein Licht verlischt: Nacht wird’s um mich. Aus Nebel und Grau’n windet sich wütend ein Angstgewirr: Schecken schreitet und bäumt sich empor! (Sie birgt heftig die Augen mit den Händen.) Brünnhilde ahnt hier visionär eine Szene voraus, die sich an eben diesem Ort in der Götterdämmerung ereignen wird, wo Siegfried Brünnhilde (in fremder Gestalt) körperliche Gewalt antun wird. Warnend ertönt in Englischhorn und Klarinetten das Fluch-Motiv (Nr. 19), das möglicherweise ebenfalls auf diesen dunklen Moment in ihrer Beziehung vorausweist.
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Siegfried versteht von alldem nichts. Aber Brünnhildes Ängste und düstere Ahnungen sollten uns veranlassen, noch einmal die Anfangsszene auszuleuchten. Die Beschreibung von Siegfrieds Annäherung an die schlafende Brünnhilde beinhaltet neben »großer Behutsamkeit« und »zarter Vorsicht«, die Siegfried der Schlafenden gegenüber walten lässt, auch etwas derbere Handlungen, wie: »Brech ich die engende Brünne?« und »Komm, mein Schwert, schneide das Eisen!«. Siegfried berichtet im folgenden Dialog freimütig: »Ich erbrach dir den festen Helm« und Brünnhilde lässt den Blick über ihre Waffen schweifen: »dort seh’ ich den Helm, der das Haupt mir barg: er schirmt, er birgt mich nicht mehr.« Doch wenig später schwingt bereits ein leicht vorwurfsvoller Ton in ihrer Stimme: »Ich sehe der Brünne prangenden Stahl: ein scharfes Schwert schnitt sie entzwei; von dem maidlichen Leibe löst’ es die Wehr; ich bin ohne Schutz und Schirm, ohne Trutz ein trauriges Weib!«Und dieser leise Vorwurf erfährt noch eine Steigerung, als Brünnhilde in Angst aufspringt und Siegfried mit aller Kraft von sich wegstößt: »Verwundet hat mich, der mich erweckt! Er brach mir Brünne und Helm: Brünnhilde bin ich nicht mehr!« Es wird deutlich, dass das Vorgehen Siegfrieds und der Einsatz Nothungs von Brünnhilde keineswegs als angenehm und erfreulich, sondern vielmehr als eine Verwundung erlebt wird. Man
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müsste das sich andeutende verletzende Verhalten nicht erwähnen, gäbe es nicht die Tatsache, dass sich in der Götterdämmerung das Unvorstellbare, ein Angriff Siegfrieds gegen Brünnhildes Körper, tatsächlich ereignen wird. Es gibt also bereits hier kleine Anzeichen dafür, dass Siegfrieds Beziehungsaufnahme zu einer sowohl faszinierenden wie mächtigen Muttergestalt auch destruktive Kräfte in sich birgt. Und es ist wohl nicht von ungefähr, dass das Schwert Nothung daran beteiligt ist, jener in einem allmächtigen magischen Ritual fabrizierte Super-Phallus analer Machart. Beginnt bei diesem magischen Phallus bereits der Goldüberzug zu bröckeln und die anal-aggressive Herkunft durchzuschimmern? Und noch einmal klingt etwas Warnendes in Brünnhildes Stimme: Brünnhilde Laß, ach laß, lasse von mir! Nahe mir nicht mit der wütenden Nähe! Zwinge mich nicht mit dem brechenden Zwang, zertrümmere die Traute dir nicht! Doch damit sind bei Brünnhilde die düsteren Bilder verscheucht und sie beteiligt sich ab jetzt daran, das Liebesfeuer zwischen ihr und Siegfried hell auflodern zu lassen. Was hat ihr geholfen, von
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den Angstaffekten loszukommen? Auf Siegfrieds Drängen, sie möge zur Liebesvereinigung bereit sein, antwortet sie ekstatisch: Brünnhilde Wie in Strömen mein Blut entgegen dir stürmt, das wilde Feuer, fühlst du es nicht? Fürchtest du, Siegfried, fürchtest du nicht das wild wütende Weib? (Sie umfasst ihn heftig.) Diese unerwartet heftige Liebeswallung lässt nun wiederum Siegfried einen Schreck in die Glieder fahren. Ihn überkommt wieder das Fürchten. Doch die machtvolle (Ex-)Göttin überrennt Siegfrieds Erschrockenheit und findet zu Bildern, die genauso ekstatisch wie beängstigend sind. Brünnhilde (freudig – wild auflachend) O kindischer Held! O herrlicher Knabe! Du hehrster Taten töriger Hort! Lachend muß ich dich lieben, lachend will ich erblinden, lachend laß uns verderben, lachend zugrunde gehen!
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Was meint Brünnhilde mit »lachend laß uns verderben, lachend zugrunde gehen!«? Spricht hier die ehemalige Todesgöttin, die die Helden auf den Schlachtfeldern einsammelt, um sie in ein jenseitiges Reich zu geleiten? Siegfried versteht wieder einmal nichts, weil er bereits in den Strudeln seiner sinnlichen Triebe untergegangen ist. Im gemeinsam vorgetragenen Schlussduett besingt er jubelnd die zu erwartenden Wonnen mit seiner Muttergeliebten: »Lachend erwachst du Wonnige mir«, »Brünnhilde lebt, Brünnhilde lacht« und »Heil dem Tage, der uns umleuchtet«, »Sie wacht, sie lebt, sie lacht mir entgegen«. Was dem liebestrunkenen Siegfried entgeht, sollte immerhin uns neutralen Beobachtern auffallen. Brünnhilde mag ihrem Sohngeliebten zwar entgegenlachen, aber in ihren Gedanken ist sie nicht bei ihm, sondern mit einer ganz anderen Person beschäftigt. Ihre exaltierten Antworten auf Siegfrieds Überschwang gelten nicht dem jungen Helden, sondern dem Göttervater Wotan, dessen Untergang sie leidenschaftlich herbeiwünscht. Wenn wir einmal Brünnhildes Anteile aus dem gemeinsamen Gesang herausfiltern und getrennt auflisten, so wird offenbar, mit wem ihr Sinn beschäftigt ist und welche Art Gefühle sie Wotan gegenüber empfindet:
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Brünnhilde Fahr hin, Walhalls leuchtende Welt! Zerfall in Staub deine stolze Burg! Leb’ wohl, prangende Götterpracht! End’ in Wonne, du ewig Geschlecht! Zerreißt ihr Nornen das Runenseil! Götterdämm’rung dunkle herauf! Nacht der Vernichtung, neble herein! Diese Ausrufe sind nicht Ausdruck eines Liebesverlangens, sondern ähneln eher einem Rachegesang. Brünnhilde rechnet mit Wotan ab und begibt sich in Distanz zu ihm. Handelt es sich um einen Versuch, die enge Verbundenheit mit dem Vater aufzukündigen, um dem Zwang der identifikatorischen Verschmolzenheit zu entkommen? Weniger liebesselig, als vielmehr mit einem trotzigen Unterton, lässt sie den Götterhimmel wissen: »Mir strahlt zur Stunde Siegfrieds Stern«, eine Aussage, die Siegfried nur zu gern aufgreift, um das abschließende Duett in wechselseitige Liebesschwüre ewiger Verbundenheit einmünden zu lassen: Siegfried Prangend strahlt mir Brünnhildes Stern!
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Sie ist mir ewig, ist mir immer, Erb’ und Eigen, ein und all: Brünnhilde Er ist mir ewig, ist mir immer, Erb’ und Eigen, ein und all: Beide Leuchtende Liebe, lachender Tod! (Brünnhilde stürzt sich in Siegfrieds Arme.) Da ist er wieder, der lachende Tod. Brünnhildes Liebe ist offenbar von einer starken Todessehnsucht durchdrungen. Beginnt hier, wie in alten Tagen, die Identität von Wotans und Brünnhildes Willen (»wer wäre ich, wenn nicht dein Wille«) ihre Wirkung zu entfalten und Wotans (gegenüber Erda geäußerte) Todessehnsucht auch Brünnhilde in Besitz zu nehmen? Das Ende der Oper Siegfried hinterlässt viele offene Fragen, die für den Moment nicht beantwortet werden können. Sie lenken den Blick aber umso begieriger auf das Geschehen in der Götterdämmerung, den letzten mythischen Tag des Ringzyklus.
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Literatur
Abraham, Karl (1924): Die manisch-depressiven Zustände und die prägenitalen Organisationsstufen der Libido. GS Bd. 2, S. 32–123. Frankfurt/M. (S. Fischer), 1982. Chasseguet-Smirgel, Janine (1988): Zwei Bäume im Garten. Zur psychischen Bedeutung der Vater- und Mutterbilder. Psychoanalytische Studien. München-Wien (Verlag Internationale Psychoanalyse). Freud, Sigmund (1909): Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. GW Bd. VII. Frankfurt/M. (S. Fischer). Freud, Sigmund (1938): Abriss der Psychoanalyse. GW Bd. XVII. Frankfurt/M. (S. Fischer). Grunberger, Béla (1976): Vom Narzissmus zum Objekt. Gießen (PsychosozialVerlag), 2001. Klein, Melanie (1928): Frühstadien des Ödipuskonfliktes. GS I,1, S. 291–305. Stuttgart (fromman-holzboog), 1997. Oberhoff, Bernd (2011): Richard Wagner: Das Rheingold. Ein psychoanalytischer Opernführer. Gießen (Psychosozial-Verlag). Oberhoff, Bernd (2011a): Richard Wagner: Die Walküre. Ein psychoanalytischer Opernführer. Gießen (Psychosozial-Verlag). Pahlen, Kurt (1982): Richard Wagner: Siegfried. Kompletter Text und Erläuterung zum vollen Verständnis des Werkes. München (Goldmann-Taschenbuch). Wagner, Richard (1995): Richard Wagner: Briefe. Ausgewählt und herausgegeben von Hans-Joachim Bauer. Stuttgart (Reclam). Wagner, Richard (2004): Werke, Schriften und Briefe. DVD. Bd. 9. Herausgegeben von Sven Friedrich. Berlin (Directmedia).
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Kurzzusammenfassung der psychologischen Sinnebene des Siegfried
Siegfrieds Kampf gegen den väterlichen Phallus Alles Denken und Handeln im 1. und 2. Akt dreht sich um das zersplitterte väterliche Schwert. Symbolsprachlich geht es um den Phallus des Vaters, dem entwicklungspsychologisch in der phallischen und ödipalen Phase alle Aufmerksamkeit des Kindes beiderlei Geschlechts gilt. Der väterliche Phallus hat sich für Siegmund in der Walküre, entgegen seiner anfänglichen Hoffnung, als trügerisch und todbringend erwiesen. Diese Erfahrung lebt offenbar in Siegfried fort und führt dazu, dass der junge Mann zum väterlichen Phallus keine positive Identifikation entwickelt, sondern ihn zusammen mit allen anderen väterlichen Insignien entwertet und bekämpft. Ein Scheitern der Vateridealisierung hat jedoch zur Folge, dass der Weg in die ödipale Reifungsphase und damit in die Realität versperrt ist. Stattdessen kommt es zu einem Rückfall auf das Stadium
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der infantilen Omnipotenzfantasien sowie, auf deren Schattenseite, auf die Welt der Analität und des Sadismus. In einem magischen Akt erschafft sich Siegfried in Eigenregie einen unbesiegbaren Phallus (Schwert Nothung). Mit diesem Zauberphallus vollbringt er nun, wie ein Märchenheld, die größten Taten und wird berühmt als Drachentöter. Schauen wir näher hin, so entpuppen sich seine Kämpfe als kastrierende Attacken gegen das väterliche Genitale. So gilt sein Kampf zunächst dem Schwanz des Drachen, dann dem Ziehvater und schließlich dem Speer Wotans. Siegfried kommt in diesen Szenen der gefürchteten Kastration durch den Vater jeweils durch einen kastrierenden Erstschlag zuvor. In seinem Wunschdenken erliegt der Jüngling dem Wahn, dass sein selbstfabrizierter falscher Phallus dem väterlichen Phallus haushoch überlegen ist. Dieser Irrglaube ist spezifisch für einen Knaben, der dem Ödipuskomplex ausgewichen ist und stattdessen den regressiven Weg eines Anti-Ödipus beschritten hat. Auf dem Walkürenfelsen findet der junge Rebell schließlich die schlafende Brünnhilde und entdeckt im Zuge seiner kindlichen Sexualforschung an ihr den Geschlechtsunterschied, der ihn nun ganz konkret die bislang latente Kastrationsangst erleben lässt. Doch diese Angst weht ihn nur kurz an. Wer den väterlichen Phallus bekämpft, der hält – trotz gegenteiliger Erfahrung – am Bild
W Kurzzusammenfassung X
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der Mutter mit dem Phallus fest, also an derjenigen Mutter, zu der kein Geschlechtsunterschied besteht und von der man sich als Sohn folglich nicht ablösen und entidentifizieren muss. Die phallische Mutter erscheint einerseits stark und attraktiv, wird jedoch zugleich als übermächtig und festhaltend erfahren. Der kleine Junge, der die phallische Mutter zu seiner Geliebten wählt, wird sich aus der Abhängigkeit zu ihr nur schwerlich lösen können, sofern kein hilfreicher, starker Vater ihn dabei unterstützt. Der letzte mythische Tag, die Götterdämmerung, muss es erweisen, ob sich diese psychologische Gesetzmäßigkeit auch an Siegfried erfüllt.
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Anhang
Im Text erwähnte Notenbeispiele aus Rheingold und Walküre
Nr. 4 Seufzer-Motiv
Nr. 4 Seufzer-Motiv
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Nr. 19 Fluch-Motiv
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Nr. 36 Schlummer-Motiv Nr. 36 Schlummer-Motiv
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Die Wahl eines Instruments ist für Musiker der Auftakt einer oft schicksalhaften Beziehung. Wie werden Instrumente erwählt? Wie empfinden Musiker ihre Bindung zum Instrument? Karin Nohr wertet 41 Instrumentalistenautobiografien aus und kommt zu überraschenden Ergebnissen, die auch für Laienmusiker Gültigkeit haben: Ob Zwilling, Partner, Schatten, Feind - immer wird das Instrument zum Spiegel des Selbst, enthält symbolische Vermächtnisse in Form elterlicher Werte, Ansprüche, Ideale, an denen die Musiker wachsen oder scheitern. Das Spielen eines Instruments stellt so eine Herausforderung dar, das Eigene aus dem Aufgetragenen heraus zu entwickeln. Vier Einzelfallstudien (Casals, Kremer, Galway, Paderewski) veranschaulichen den theoretischen Bezugsrahmen, der die akademische Musikpsychologie mit der psychoanalytischen Kreativitätsforschung verbindet. Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 www.psychosozial-verlag.de · [email protected]
0SYCHOSOZIAL 6ERLAG
Richard Wagners vierteiliges Musikdrama Der Ring des Nibelungen führt den Zuschauer in eine archaische Zeit zurück, die vor aller bewusster Erfahrung liegt. In vier psychoanalytischen Opernführern folgt Bernd Oberhoff Wagner in die Klüfte und Untiefen dieser archaischen Welt und kommt zu der überraschenden Entdeckung, dass der Opernbesucher zum Zuschauer einer »Heldenreise des frühen Ichs« wird. Das Rheingold bildet den Auftakt des von Richard Wagner auf drei Tage und einen Vorabend angelegten Bühnenfestspiels. In der Walküre setzt sich die im Rheingold gestartete Heldenreise fort. Die Opernführer zu Siegfried und zur Götterdämmerung vervollständigen schließlich die psychoanalytische Auseinandersetzung mit Wagners Ring.
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Die Oper macht uns zu Zeugen erfolgreicher wie erfolgloser Versuche der Protagonisten, ihr Schicksal voller konflikthafter Verstrickungen zu wenden. Doch durch diese Dramen erwachsener Menschen schimmern die Dramen der Kindheit hindurch, jene Ereignisse im phantasmatischen Raum unserer kindlichen Seele. Dieser Sammelband zeugt davon, dass das Operngeschehen eminent psychologisch ist und wie entwicklungs- und persönlichkeitspsychologische, ja, psychopathologische Phänomene in den Opern von Monteverdi bis Britten thematisiert werden. Mit Beiträgen von Anja Guck-Nigrelli, Peter Kutter, Sebastian Leikert, Eckhart Neumann, Antje Niebuhr, Karin Nohr, Bernd Oberhoff, Dieter Ohlmeier und Claudia Rapp-Neumann. Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 www.psychosozial-verlag.de · [email protected]
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Die Essenz der Opernhandlung lässt sich auf der Ebene der erwachsenen Bühnenprotagonisten Orest und Iphigenie formulieren, die den Weg aus einer archaischen Welt des Hasses und der mörderischen Wut hin zu Gefühlen von Reue und Mitleid finden. Und doch handelt es sich präzise um den frühkindlichen Prozess des Durchschreitens der »depressiven Position« (M. Klein). Diese Tatsache verweist auf den genialen Doppelsinn dieser mythischen Erzählung. In C.W. Gluck hat dieser Mythos einen Musikschöpfer gefunden, der das emotionale Geschehen in eine Musik zu kleiden vermochte, die nicht nur die Trauer und die Schuldgefühle von Orest und Iphigenie als Erwachsenen ausdrückt, sondern die den Zuschauer unmerklich an jenen Ursprung dieser Gefühle zurückführt, der als eine tiefste Ebene des Erlebens in uns allen schlummert.
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Mozart muss in Hochstimmung gewesen sein, als er diese Oper schrieb. Von laut lärmender türkischer Musik bis hin zu sensibler, inniger Liebessehnsucht ist alles enthalten. Auffallend und bemerkenswert ist, dass Mozart den Möchtegern-Kastrator Osmin ins Zentrum des Geschehens gerückt hat. Damit ist eine Fährte zu einem tiefer liegenden Drama gelegt.
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»Così fan tutte« – »So machen es alle« ist bis heute die rätselhafteste Oper Mozarts. Irritierend ist vor allem, dass das Libretto und die Musik nicht wirklich zueinander zu passen scheinen. Da Pontes zynisches, ja teuflisches Libretto hat Mozart mit einer wunderschönen, himmlischen Musik versehen. Hat also Mozart den Text missverstanden und ihn mit einem unangemessenen affektiven Ausdruck bedacht? Im vorliegenden Band wird der Versuch unternommen, aus einer psychoanalytischen Perspektive heraus zu einer Aufklärung dieser rätselhaften Zusammenhänge beizutragen.
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Wo hat man so etwas schon einmal erlebt, dass ein Dramma giocoso mit einem derartig markerschütternden Akkordschlag beginnt? Als Zuschauer schrickt man unwillkürlich zusammen und fürchtet Schreckliches. Als sich der Vorhang hebt, wird es offenbar, dass Don Giovanni zu nächtlicher Stunde in das Schlafgemach der Donna Anna eingedrungen ist. Als Donna Anna um Hilfe ruft, eilt der Vater herbei und fordert den Eindringling zum Duell. Im folgenden Kampf bleibt Don Giovanni Sieger und versetzt dem Vater den tödlichen Stich. Wer wollte hier nicht an Ödipus denken? Es ist die archaische Qualität der Musik wie auch das bedrohliche Wiederauftauchen des ermordeten Vaters als ein steinerner Geist am Ende der Oper, die erahnen lassen, dass unterhalb ödipaler Anklänge in dieser Oper noch ein früheres, archaischeres Drama zur Darstellung gelangt. Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 www.psychosozial-verlag.de · [email protected]
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Bernd Oberhoff, PD Dr., Dipl.-Psych., arbeitet als Musikpsychoanalytiker, Gruppenanalytiker und Supervisor in freier Praxis in Münster. Er lehrt Soziale Therapie an der Universität Kassel. Viele Jahre war er als Kammerchor-Leiter tätig. Im Psychosozial-Verlag erschienen zahlreiche seiner psychoanalytischen Opernführer zu Gluck, Mozart und Weber sowie verschiedene von ihm herausgegebene Bände zum Thema Musik und Psychoanalyse, zuletzt Opernanalyse zusammen mit Sebastian Leikert (2009).
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· Richard Wagner: Siegfried
ichard Wagners vierteiliges Musikdrama Der Ring des Nibelungen führt den Zuschauer in eine archaische Zeit zurück, die vor aller bewusster Erfahrung liegt. In vier psychoanalytischen Opernführern folgt Bernd Oberhoff Wagner in die Klüfte und Untiefen dieser archaischen Welt und kommt zu der überraschenden Entdeckung, dass der Opernbesucher zum Zuschauer einer »Heldenreise des frühen Ichs« wird. Das Rheingold bildet den Auftakt des von Richard Wagner auf drei Tage und einen Vorabend angelegten Bühnenfestspiels. In der Walküre setzt sich die im Rheingold gestartete Heldenreise fort. Die Opernführer zu Siegfried und zur Götterdämmerung vervollständigen schließlich die psychoanalytische Auseinandersetzung mit Wagners Ring.
Richard Wagner Siegfried Ein psychoanalytischer Opernführer